Metamorphosen des Kapitals: Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu [1. Aufl.] 9783839424018

Welche Triebkräfte und Möglichkeitsräume gesellschaftlicher Veränderung verbinden sich mit den Dynamiken des modernen Ka

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German Pages 674 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
I Einleitung
1 Problemaufriss
2 Struktur und Aufbau der Arbeit
II Theoridispositionen und Problembezüge
1 Ein Forschungsgegenstand – Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung
2 Drei Forschungsprogramme
2.1 Marx’ Programm des historischen Materialismus
2.2 Foucaults archäologisch-genealogisches Programm im Verhältnis zu Marx
2.3 Kapital als Ding gewordenes Sozialverhältnis.Bourdieus Soziologie der ökonomischen Praktiken
3 Familienähnlichkeiten. Die Ansätze von Marx, Foucault und Bourdieu als Theorien der Praxis
3.1 Praxis als theoretischer Leitbegriff
3.2 Anthropologiekritik und methodischer Antiindividualismus
3.3 Historizität, Diskontinuität und Kontingenz
3.4 Praxeologie als Überwindung theoretischer Dichotomien
3.4.1 Subjektivismus/Objektivismus oder Freiheit/Zwang
3.4.2 Materielle und symbolische Dimensionen der Praxis
3.4.3 Die Verschränkung von Sach- und Sozialdimension
3.4.4 ‚Dispositiv‘ und ‚Habitus/Feld‘ als Beispiele einer antidualistischen Begriffsarbeit
3.5 Praxeologie als Wissenschaftstheorie
4 Ansätze einer kritisch-funktionalen Analyse
4.1 Normative und postnormative Formen der Kritik
4.1.1 ‚Lernprozesse‘ einer normativ ‚kritischen Theorie‘ bei Jürgen Habermas
4.1.2 Postnormative Formen der Kritik
4.2 Die kritisch-funktionale Analyse als postnormative Form der Kritik
4.3 Funktionale Analyse und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx
4.4 Funktionale Analyse und Kritik bei Foucault und Bourdieu
4.5 Wissenschaft und praktische Kritik. Marx, Bourdieu und Foucault als Intellektuelle
4.6 Kritik als wissenschaftliche Desillusionierungsarbeit
III Der Kapitalismus im ‚ideellen Durchschnitt‘: Funktionslogiken und Entwicklungsdynamiken nach Karl Marx
1 Wertform, Mehrwert, Profit. Kernmomente in Marx’ Theorie der kapitalistischen Produktionsweise
1.1 Der ‚Wert‘ als soziologische Kategorie
1.2 Quantitative und qualitative Fragestellung der Wertformanalyse
1.3 Der absolute Mehrwert und die Kritik an der Mehrwerttheorie
1.4 Relativer Mehrwert oder die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkräfte
1.5 Profitrate, Transformation der Werte in Preise und Verteilung des Mehrwerts
2 Prozessierte Widersprüche – Endogene Krisendynamiken, exogene Schocks und (k)ein Ende des Kapitalismus
2.1 Prozessierte Widersprüche und Marx’ Methode ihrer Entfaltung
2.2 Der tendenzielle Fall der Profitrate und seine gesellschaftlichen Effekte
2.3 Zyklische Ausgleichungskrisen und Wachstumsdynamik
2.4 „Erwartet euch nicht zuviel vom Weltuntergang“ – Die Grenzen des Kapitalismus
3 Ideeller Durchschnitt und historische Formen der kapitalistischen Produktionsweise
IV Genealogien kapitalistischer Vergesellschaftung – Produktionsverhältnisse, Dispositive und Regierungsrationalitäten (Foucault und Marx)
1 Genealogien und Dynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung (Einleitung)
2 Genealogien der Disziplin und die Genesis der kapitalistischen Gesellschaftsformation
2.1 Disziplin und ‚ursprüngliche Akkumulation‘ – Die Geburt des Kapitalismus
2.2 Die kapitalistische Organisation der Arbeitskräfte und die Fabrikdisziplin
2.3 Übergänge: Zum transistorischen Charakter der Disziplin
3 Genealogien und Grenzen der Biopolitik in der Konstitutionsphase des Kapitalismus
4 Freiheit für Arbeit und Kapital. Der klassische Liberalismus
4.1 Der Liberalismus und die Herstellung der ‚natürlichen‘ Ordnung
4.2 Die bedrohte ‚Lebenswurzel‘. Die Krise des klassischen Liberalismus
5 Dispositive der Sicherheit: Die Geburt des Sozialstaates
6 Die Regulation der ‚natürlichen‘ Kreisläufe. Fordismus und Keynesianismus
6.1 Lohn – Konsum – Subjektivierung. Ein Rückblick auf Marx
6.2 Die Rückkopplung von Massenproduktion und Konsum oder die Normalisierung des Lohnsubjekts. Das Projekt des Fordismus
6.3 Die keynesianische Synthese von sozialer Sicherheit und Marktprinzip
6.4 Krise und Transformation des fordistisch-keynesianischen Modells
7 Formen „neoliberaler“ Gouvernementalität im entwickelten Kapitalismus
7.1 Vorbemerkung: Neoliberalismus und Gouvernementalitätsstudien
7.2 Vitalpolitik und Soziale Marktwirtschaft. Das Experiment des deutschen Neoliberalismus
7.3 Die Universalisierung des Marktprinzips. Neoliberale Metamorphosen des Kapitalverhältnisses
8 Normalisierung und Postdisziplin
V Dynamische Reproduktion. Funktionen und Metamorphosen der kapitalistischen Klassenverhältnisse (Bourdieu und Marx)
1 Die allgemeine ‚Ökonomie der Praxisformen‘ als soziologische Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie (Vorbemerkung)
2 Die theoretische Konzeption ökonomischer, soziologischer und sozialer Klassen
2.1 Verwirrungen um den Klassenbegriff
2.2 Genese und Konstruktionsprinzipien von Klassentheorien
2.3 Kapitalverfügung, Kapitalverwertung und die Bestimmung sozioökonomischer Klassenlagen
2.4 Symbolische Formen der Klassenverhältnisse: Habitus, Distinktion und Lebensstil
2.5 Klassenverhältnisse als objektive Herrschaftsverhältnisse
3 Gesellschaftsstruktur und Klassenstruktur: Funktionale- und soziale Differenzierung in kapitalistischen Gesellschaften
3.1 Beobachtungen funktionaler Differenzierung (Marx, Bourdieu und Luhmann)
3.1.1 Die komplementäre Ausdifferenzierung ökonomischer, politischer und rechtlicher Formen (Marx und Luhmann)
3.1.2 Sachliche Funktionslogiken und die Autonomie der Felder
3.2 Soziale Differenzierung und der ‚blinde Fleck‘ der Systemtheorie
3.3 Der Funktionszusammenhang von Kapital und Klassenstruktur bei Marx
3.4 Die Funktionslogiken der Felder und die dynamische Reproduktion der Klassen
3.4.1 Die soziale Produktion des feldspezifischen Fetischismus
3.4.2 Feldstrukturen und Klassenstrukturen
3.4.3 Die Funktionen der Felder für die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse
3.4.4 Funktionale Autonomie und die Dynamik sozialer Kämpfe: Marx und Bourdieu zwischen Utopie und Soziologie historischer Möglichkeitsräume
4 Kontinuität im Wandel. Die kapitalistische Klassengesellschaft nach Marx und Bourdieu
4.1 Funktionale Rekonfigurationen der Klassenverhältnisse
4.2 Transversale Mobilität und soziokulturelle Modernisierungen
4.3 Rückkehr oder Neufiguration der Klassen? Aktuelle Diagnosen und Konstellationen
4.4 Möglichkeitsräume: Wissenschaftliche Kritik und soziale Kräfteverhältnisse
VI Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
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Metamorphosen des Kapitals: Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu [1. Aufl.]
 9783839424018

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Tino Heim Metamorphosen des Kapitals

Sozialtheorie

Tino Heim (Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Theorien sozialer Ungleichheit, Kapitalismusgeschichte, Geschlechtersoziologie sowie die Kunst- und Kultursoziologie.

Tino Heim

Metamorphosen des Kapitals Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu

Die vorliegende Publikation ist eine überarbeitete Fassung einer an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden unter dem Titel »Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung. Perspektiven einer kritischfunktionalen Analyse bei Marx, Foucault und Bourdieu« angenommenen Dissertation. 1. Gutachter: Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg (TU Dresden) 2. Gutachter: Prof. Dr. Jan Spurk (Université Paris Descartes) Tag der Disputation 11.02.2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Tino Heim, Anja Weber Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2401-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung | 9

I E inleitung 1

Problemaufriss | 17

2

Struktur und Aufbau der Arbeit | 37

II Theoridispositionen und Problembezüge 1

Ein Forschungsgegenstand – Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung | 43

Drei Forschungsprogramme | 51 2.1 Marx’ Programm des historischen Materialismus | 51 2.2 Foucaults archäologisch-genealogisches Programm im Verhältnis zu Marx | 57 2.3 Kapital als Ding gewordenes Sozialverhältnis. Bourdieus Soziologie der ökonomischen Praktiken | 62

2

3

Familienähnlichkeiten. Die Ansätze von Marx, Foucault und Bourdieu als Theorien der Praxis | 71

3.1 Praxis als theoretischer Leitbegriff | 71 3.2 Anthropologiekritik und methodischer Antiindividualismus | 75 3.3 Historizität, Diskontinuität und Kontingenz | 81 3.4 Praxeologie als Überwindung theoretischer Dichotomien | 85 3.4.1 Subjektivismus/Objektivismus oder Freiheit/Zwang | 86 3.4.2 Materielle und symbolische Dimensionen der Praxis | 95 3.4.3 Die Verschränkung von Sach- und Sozialdimension | 98 3.4.4 ‚Dispositiv‘ und ‚Habitus/Feld‘ als Beispiele einer antidualistischen Begriffsarbeit | 103 3.5 Praxeologie als Wissenschaftstheorie | 107 Ansätze einer kritisch-funktionalen Analyse | 119 4.1 Normative und postnormative Formen der Kritik | 119 4.1.1 ‚Lernprozesse‘ einer normativ ‚kritischen Theorie‘ bei Jürgen Habermas | 121 4.1.2 Postnormative Formen der Kritik | 129 4.2 Die kritisch-funktionale Analyse als postnormative Form der Kritik | 132 4.3 Funktionale Analyse und Kritik der bürgerlichen Gesellschaft bei Marx | 138 4

4.4 Funktionale Analyse und Kritik bei Foucault und Bourdieu | 147 4.5 Wissenschaft und praktische Kritik. Marx, Bourdieu und Foucault als Intellektuelle | 154 4.6 Kritik als wissenschaftliche Desillusionierungsarbeit | 161 III Der Kapitalismus im ‚ideellen Durchschnitt‘: Funktionslogiken und Entwicklungsdynamiken nach Karl Marx 1

Wertform, Mehrwert, Profit. Kernmomente in Marx’ Theorie der kapitalistischen Produktionsweise | 167

Der ‚Wert‘ als soziologische Kategorie | 167 Quantitative und qualitative Fragestellung der Wertformanalyse | 177 Der absolute Mehrwert und die Kritik an der Mehrwerttheorie | 183 Relativer Mehrwert oder die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkräfte | 192 1.5 Profitrate, Transformation der Werte in Preise und Verteilung des Mehrwerts | 202

1.1 1.2 1.3 1.4

2

Prozessierte Widersprüche – Endogene Krisendynamiken, exogene Schocks und (k)ein Ende des Kapitalismus | 211

2.1 Prozessierte Widersprüche und Marx’ Methode ihrer Entfaltung | 213 2.2 Der tendenzielle Fall der Profitrate und seine gesellschaftlichen Effekte | 211 2.3 Zyklische Ausgleichungskrisen und Wachstumsdynamik | 228 2.4 „Erwartet euch nicht zuviel vom Weltuntergang“ – Die Grenzen des Kapitalismus | 244 3

Ideeller Durchschnitt und historische Formen der kapitalistischen Produktionsweise | 259

IV Genealogien kapitalistischer Vergesellschaftung – Produktionsverhältnisse, Dispositive und Regierungsrationalitäten (Foucault und Marx) 1

Genealogien und Dynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung (Einleitung) | 265

2

Genealogien der Disziplin und die Genesis der kapitalistischen Gesellschaftsformation | 277

2.1 Disziplin und ‚ursprüngliche Akkumulation‘ – Die Geburt des Kapitalismus | 277 2.2 Die kapitalistische Organisation der Arbeitskräfte und die Fabrikdisziplin | 291 2.3 Übergänge: Zum transistorischen Charakter der Disziplin | 298

3

Genealogien und Grenzen der Biopolitik in der Konstitutionsphase des Kapitalismus | 303

4

Freiheit für Arbeit und Kapital. Der klassische Liberalismus | 313

4.1 Der Liberalismus und die Herstellung der ‚natürlichen‘ Ordnung | 313 4.2 Die bedrohte ‚Lebenswurzel‘. Die Krise des klassischen Liberalismus | 321 5

Dispositive der Sicherheit: Die Geburt des Sozialstaates | 331

6

Die Regulation der ‚natürlichen‘ Kreisläufe. Fordismus und Keynesianismus | 343

6.1 Lohn – Konsum – Subjektivierung. Ein Rückblick auf Marx | 343 6.2 Die Rückkopplung von Massenproduktion und Konsum oder die Normalisierung des Lohnsubjekts. Das Projekt des Fordismus | 346 6.3 Die keynesianische Synthese von sozialer Sicherheit und Marktprinzip | 360 6.4 Krise und Transformation des fordistisch-keynesianischen Modells | 366 7

Formen „neoliberaler“ Gouvernementalität im entwickelten Kapitalismus | 377

7.1 Vorbemerkung: Neoliberalismus und Gouvernementalitätsstudien | 377 7.2 Vitalpolitik und Soziale Marktwirtschaft. Das Experiment des deutschen Neoliberalismus | 381 7.3 Die Universalisierung des Marktprinzips. Neoliberale Metamorphosen des Kapitalverhältnisses | 390 8

Normalisierung und Postdisziplin | 405

V Dynamische Reproduktion. Funktionen und Metamorphosen der kapitalistischen Klassenverhältnisse (Bourdieu und Marx) 1

Die allgemeine ‚Ökonomie der Praxisformen‘ als soziologische Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie (Vorbemerkung) | 423

2

Die theoretische Konzeption ökonomischer, soziologischer und sozialer Klassen | 429

2.1 Verwirrungen um den Klassenbegriff | 429 2.2 Genese und Konstruktionsprinzipien von Klassentheorien | 436 2.3 Kapitalverfügung, Kapitalverwertung und die Bestimmung sozioökonomischer Klassenlagen | 447 2.4 Symbolische Formen der Klassenverhältnisse: Habitus, Distinktion und Lebensstil | 454 2.5 Klassenverhältnisse als objektive Herrschaftsverhältnisse | 457

3

Gesellschaftsstruktur und Klassenstruktur: Funktionale- und soziale Differenzierung in kapitalistischen Gesellschaften | 467

3.1 Beobachtungen funktionaler Differenzierung (Marx, Bourdieu und Luhmann) | 469 3.1.1 Die komplementäre Ausdifferenzierung ökonomischer, politischer und rechtlicher Formen (Marx und Luhmann) | 470 3.1.2 Sachliche Funktionslogiken und die Autonomie der Felder | 483 3.2 Soziale Differenzierung und der ‚blinde Fleck‘ der Systemtheorie | 492 3.3 Der Funktionszusammenhang von Kapital und Klassenstruktur bei Marx | 499 3.4 Die Funktionslogiken der Felder und die dynamische Reproduktion der Klassen | 513 3.4.1 Die soziale Produktion des feldspezifischen Fetischismus | 514 3.4.2 Feldstrukturen und Klassenstrukturen | 523 3.4.3 Die Funktionen der Felder für die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse | 523 3.4.4 Funktionale Autonomie und die Dynamik sozialer Kämpfe: Marx und Bourdieu zwischen Utopie und Soziologie historischer Möglichkeitsräume | 538 4

Kontinuität im Wandel. Die kapitalistische Klassengesellschaft nach Marx und Bourdieu | 551

4.1 Funktionale Rekonfigurationen der Klassenverhältnisse | 554 4.2 Transversale Mobilität und soziokulturelle Modernisierungen | 563 4.3 Rückkehr oder Neufiguration der Klassen? Aktuelle Diagnosen und Konstellationen | 574 4.4 Möglichkeitsräume: Wissenschaftliche Kritik und soziale Kräfteverhältnisse | 587 VI Fazit und Ausblick | 603 Literaturverzeichnis | 621

Vorbemerkung

Die hier vorgelegte Studie ist die in Teilen überarbeitete und vor allem im V. Teil leicht erweiterte Fassung meiner Dissertation, die 2011 unter dem Titel „Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung. Perspektiven einer kritischfunktionalen Analyse bei Marx, Foucault und Bourdieu“ im Fachbereich Soziologie an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden angenommenen wurde. Ohne dass dies zum Zeitpunkt des ersten Entwurfs des Promotionsprojektes im Jahr 2007 vollständig abzusehen war, überschnitt sich die Arbeit daran mit einer ausgeprägten und immer noch anhaltenden Krise, die nicht nur die Ökonomie, sondern zunehmend die jüngste Formation kapitalistischer Vergesellschaftung insgesamt betrifft. Solche ausgeprägten Krisenphasen, die die kapitalistische Gesellschaftsformation auf der Grundlage inhärenter Strukturantagonismen und Paradoxien immer neu (wenn auch nie in identischer Form) durchlaufen muss, verleiten die auf Marx aufbauenden Analytiker und Kritiker des Kapitalismus oft dazu, sich für Vorwürfe der Ewiggestrigkeit, denen sie in den auf die Krisen folgenden Prosperitätsphasen ausgesetzt sind, durch triumphierende Verweise auf aktuelle Phänomene und nicht mehr zu leugnende Probleme zu entschädigen. Dieser Versuchung soll hier ausdrücklich widerstanden werden. Schließlich kann es einer mit sozialwissenschaftlichem Anspruch auftretenden Kritik nicht primär darum gehen, offenkundig problematische Erscheinungen und Effekte der Produktionsweise und der ihr entsprechenden Gesellschaftsformation vorzuführen, anzuprangern oder normativ zu verurteilen. Die besondere Funktion wissenschaftlicher Kritik ist es vielmehr, die hinter solchen Einzelerscheinungen stehenden Funktionslogiken, Mechanismen und Tendenzgesetze zu bestimmen und sie auch mit jenen Phänomenen in eine ursächliche Beziehung zu setzen, die die anhaltende Attraktivität kapitalistischer Vergesellschaftung begründen. Zugleich sollte der Beitrag der Sozialwissenschaft darin liegen, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, Strategien und Machtbeziehungen zu entschlüsseln, in denen sich

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in keineswegs determinierter Weise entscheidet, in welcher Form sich verschiedene, einander widerstreitende Tendenzen und Mechanismen gesellschaftlich konkret auswirken. Die analytische und kritische Kraft der dafür zu erarbeitenden theoretischen und methodischen Instrumente entscheidet sich nicht an der Skandalisierbarkeit aktueller Phänomene, sondern nur am Beitrag zu einem besseren Verständnis der hinter diesen Phänomenen wirksamen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Dies aber setzt die auf den folgenden Seiten entwickelte theoretische und analytische Arbeit voraus und kann ihr daher nicht vorweggenommen werden. Während insofern den Argumenten und Erträgen der Studie nicht weiter vorgegriffen werden soll, scheinen einige Bemerkungen zum veränderten Titel der Publikationsfassung angebracht, die gleichzeitig zum Verständnis der Zielstellung und der Vorgehensweise dieses Bandes beitragen sollen. Offenbar bezieht sich der Titel auf eine Reihe grundlegender Veränderungen, welche die kapitalistische Wirtschaftsform, erst recht aber die mit ihr verbundenen Modi der Vergesellschaftung seit ihren Anfängen durchlaufen haben. Das Wort Metamorphosen, das im Griechischen für eine Umgestaltung bzw. Formwandlung steht, spielt dabei vor allem auch auf die botanische Begriffsbedeutung an, in der die Formund Gestaltwandlungen eines Organismus auf evolutive Variations- und Selektionsprozesse zurückgeführt werden, in denen sich eine Adaption an veränderliche Umweltbedingungen durchsetzt. Entgegen häufiger Missverständnisse meint Evolution aber in der Biologie wie auch in sinnvollen soziologischen Begriffsverwendungen keinen zielgerichteten Prozess, der automatisch zu einem unvermeidbaren Ergebnis führt, vielmehr geht es um in ihrem historischen Ablauf wie in ihren konkreten Ergebnissen kontingente Prozesse, die zudem als gesellschaftliche Prozesse (im Unterschied zur biologischen Evolution) zahlreiche Freiheitsgrade des bewussten Eingreifens einschließen (auch wenn solche Eingriffe meist zu nicht intendierten Ergebnissen führen). Warum dies nicht anders sein kann wird deutlich, wenn man genauer betrachtet, was im Titel mit dem Gegenstand der Metamorphosen gemeint ist. Die Metamorphosen des Kapitals meinen in dieser Studie nicht so sehr die Formwandlungen dessen, was Marx die physischen Elemente des Kapitals nannte – also nicht die Evolution der Produktionsmittel und Technologien – und auch nicht primär den von Marx als „Metamorphosen des Kapitals“ bezeichneten Gestaltwechsel der Erscheinungsformen des Kapitals im Zirkulationsprozess, in dem das Kapital mal als Geldkapital, mal als Warenkapital, mal als produktives Kapital fungiert (vgl. MEW 24, 31-152). Vielmehr geht es hier Titelgebend um die Umgestaltungen und Formwandlungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die hinter den verschiedenen Erscheinungen des Kapitals als einem sich verwertenden Wert stehen. Kapital meint dabei im Anschluss an den Kapitalbegriff bei Marx und Bourdieu kein Ding und keine Ressource, auch keine universelle Gestalt der Produktionsmittel oder des Eigentums, sondern in letzter Instanz eine Summe historisch spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich in verdinglichter, fetischisierter Form darstellen (vgl. u.a. MEW 25 822; Bourdieu 1976, 362 & 1987, 226f.). Kapital ist in diesem Sinne kein Substanzbegriff, sondern bezeichnet ein System von Relationen: eine spezifische Konfiguration von Produktions- und Austauschbeziehungen – und einer ganzen Reihe anderer, dieser Konfiguration vorausgesetzter sozialer und gesellschaftlicher Beziehungen (der Ausbeutung, der Macht und Herrschaft, der Hegemonie und Aner-

V ORBEMERKUNG

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kennung etc.). In Differenz zu verschiedenen Spielweisen des strukturalen Marxismus, in dem das so verstandene Kapitalverhältnis als eine fixierte Struktur oder als eine Art automatisches Subjekt auftritt, das sich nach notwendigen und mechanisch ablaufenden Gesetzmäßigkeiten von selbst wandelt und entwickelt, geht es dabei um einen dynamischen und veränderbaren organischen Zusammenhang gesellschaftlicher Wechselwirkungen. Dabei beruhen die mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundenen Dynamiken auf einer Vielzahl von ambivalenten und widersprüchlichen Erfordernissen und Tendenzen, deren konkrete Ausschläge und Ausformungen sich erst in vielfältigen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Konfliktdynamiken entscheiden, die weit über die unmittelbar ökonomischen Beziehungen hinaus die Gesamtheit der Modi der Vergesellschaftung betreffen – von Politik, Kultur und Bildung bis hin zu den Geschlechterverhältnissen oder den Formen der Individualität und der Subjektformierung. Um dieser Komplexität, Dynamik und Variabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer historischen Wandlungen gerecht zu werden, ist im Untertitel auch nicht von ‚der kapitalistischen Gesellschaft‘, sondern von ‚kapitalistischer Vergesellschaftung‘ die Rede. Dieser Begriff erfasst den prozessualen Charakter wie auch die Freiheitsgrade und Kontingenzen der Ausformung gesellschaftlicher Verhältnisse (durch die auch Kritik überhaupt erst einen Sinn hat). Die „Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft“, von denen im Untertitel die Rede ist, müssen in mehrfacher Hinsicht auf diese konkreten Modi kapitalistischer Vergesellschaftung bezogen sein. Wenn sozialwissenschaftliche Kritik, statt Phänomene zu be- oder verurteilen, ursächliche Zusammenhänge und Wirkmechanismen verschiedener Formen der Vergesellschaftung wie auch die jeweiligen Potenziale und Ansatzpunkte ihrer Veränderung aufklären soll, muss sie beides in den konkreten Konfigurationen kapitalistischer Vergesellschaftung finden. Die jeweiligen Modi kapitalistischer Vergesellschaftung sind daher nicht einfach der Gegenstand eines außen stehenden kritischen Besserwissens, sondern vielmehr auch die realistische Basis, auf deren Grundlage eine über die gegebenen Formen der Vergesellschaftung hinausweisende Kritik erst formuliert werden kann. Denn wie schon Marx wusste, wären alle Kritiken und Überwindungsversuche „Donquichoterie“, wenn „wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse“ für andere Formen der Vergesellschaftung „verhüllt vorfänden“ (MEW 42, 93). Dass es sich dabei um Perspektiven einer Analyse und Kritik nach Marx, Foucault und Bourdieu handelt, ist im doppelten Sinne des Wortes ‚nach‘ zu verstehen. Es handelt sich um eine Untersuchung in der Nachfolge der genannten Bezugstheorien, aber eben auch um eine Arbeit, die historisch nach ihnen ansetzt. Letzteres bedeutet, dass sich sowohl der Gegenstandsbereich als auch der Entwicklungsstand der Instrumente wissenschaftlicher Analyse und Kritik verändert hat. Jede Rezeption und erst recht jeder Gebrauch der unter solchen veränderten Bedingungen von überkommenen Analyserastern gemacht wird, ist immer auch ein explizites oder stillschweigendes ‚Update‘. So erhalten Marx’ Ausführungen zur Entwicklung der subjektiven Produktivkräfte und des „capital fixe being man himself“ (MEW 42, 607), wenn sie in dieser Studie auf spätere Formen kapitalistischer Vergesellschaftung bezogen werden, Implikationen, von denen der Autor noch nichts wissen konnte. Dies gilt erst recht, wenn Analysewerkzeuge verschiedener Provenienz, die zwar mitein-

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ander kompatible aber eben nicht identische sind, so miteinander verschaltet werden, dass sich Beobachtungsmöglichkeiten ergeben, die keiner der jeweiligen Ansätze für sich genommen hatte. Insofern geht es nicht unbedingt um eine werkgetreue Rekonstruktion der Bezugstheorien, sondern um einen analytischen Gebrauch, der sich – wie auch Bourdieu (vgl. 1992b, 68) das Verhältnis seines Ansatzes zu Marx bestimmte – dessen bedient, was eine andere Theorie geschaffen hat, um darüber hinauszugehen. In diesem Sinne spielen die ‚Metamorphosen des Kapitals‘ auch auf die Formwandlungen an, die sich im Hinblick auf die Theorie des Kapitals im Zuge eines solchen Projekts ergeben. Ein letztes Wort betrifft eine Empfehlung an den Umgang mit diesem Band. Selbstverständlich hofft jeder Autor, dass der potenzielle Leser seiner Argumentation von der ersten bis zur letzten Zeile folgt. Ebenso selbstverständlich weiß er als Leser, dass dieses Schicksal Fachbüchern – vor allem wenn sie so umfangreich ausfallen wie das vorliegende – angesichts einer stetig beschleunigten Produktion wissenschaftlicher Literatur und einer stetig schrumpfenden Zeit zur geduldigen Lektüre wohl immer seltener beschieden sein wird. Das vorliegende Buch ist daher zwar als ein ganzes komponiert, wobei jeder einzelne Teil die vorangegangenen Argumente und Erläuterungen voraussetzt und weiterführt, gleichwohl können die vier Hauptteile (II-V) und in diesen wiederum einzelne Unterkapitel auch als in sich geschlossene Arbeiten zu einem jeweiligen Teilgebiet eines umfassenderen Problemfeldes gelesen werden. Der Teil II versteht sich dabei – über die Klärung des Verhältnisses der drei zentralen Referenzansätze zueinander und des Gebrauchs, der in dieser Arbeit von diesen Ansätzen gemacht wird, hinaus – als ein Beitrag zur Debatte um eine den Sozialwissenschaften angemessene Wissenschaftstheorie, wobei der Frage nach dem Sinn und den möglichen Formen wissenschaftlicher Kritik jenseits normativer Urteile eine besondere Stellung eingeräumt wird. Teil III klärt – in Auseinandersetzung mit Marx’ analytischem Modell der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem ‚ideellen Durchschnitt‘ – grundlegende Funktionslogiken, Widersprüche und Strukturparadoxien kapitalistischer Gesellschaften und die daraus resultierenden historischen Entwicklungsdynamiken. Auf dieser Grundlage ist in den Teilen IV und V die Frage zu verfolgen, in welchen konkreten historischen und soziologischen Formen – der Machtverhältnisse, der Regierungsrationalitäten, der je konkreten Konfiguration der Klassenverhältnisse etc. – sich entsprechende Entwicklungstendenzen historisch konkret (d.h. keineswegs linear oder deterministisch) durchgesetzt haben. Gleichwohl kann der dritte Teil auch als eigenständige Einführung in die marxsche Kritik der politischen Ökonomie gelesen werden, deren Relevanz für die Analyse sehr aktueller gesellschaftlicher Erscheinungen zugleich herausgearbeitet wird. Ebenso sind die Teile IV und V als eigenständige Beiträge zu einer Kritik verbreiteter Engführungen in der Rezeption der Ansätze von Foucault und Bourdieu und als produktive Neubestimmung ihrer analytischen Potenziale hinsichtlich der Untersuchung der Metamorphosen des Kapitalverhältnisses angelegt. In der Verbindung foucaultscher und marxscher Analyseraster geht es dabei im IV. Teil primär um eine Rekonstruktion der historischen Genese der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Kapitalismus und der konkreten Formwandlungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung bis in die Gegenwart. Der V. Teil konzentriert sich auf die den grundlegenden Logiken des Kapitalverhältnisses wie den konkreten Modi kapitalistischer Vergesellschaftung

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funktionell vorausgesetzten Klassenverhältnisse und ihre verschiedenen Rekonfigurationen. Dabei geht es zugleich um einen Beitrag zur Überwindung der Trennung von Theorien und Analysen der funktionalen und der sozialstrukturellen Differenzierungsformen moderner Gesellschaften, die in einem Großteil der gegenwärtigen soziologischen Literatur eine wesentliche Erkenntnisblockade darstellt. Die Klassentheorien von Marx und Bourdieu werden als Theorien der dynamischen Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse profiliert, in denen die Analyse funktionaler Differenzierungsformen und ihrer evolutiven Entwicklungsdynamiken mit der Analyse sozialstruktureller und soziokultureller Klassenverhältnisse und der Analyse sozialer Bewegungen und Kämpfe einen untrennbaren theoretischen und analytischen Zusammenhang bilden. Obwohl der hier vorgelegte Band somit auch als eine Art Kompendium zu verschiedenen Aspekten des Problemfeldes kapitalistischer Vergesellschaftung gebraucht werden kann und durchaus zu einer von den Schwerpunktsetzungen des Lesers abhängigen selektiven Lektüre einlädt, sind einige Abschnitte vorausgesetzt, um den (von gängigen Rezeptionsmustern teilweise abweichenden) Gebrauch, der hier von den drei Bezugstheorien gemacht wird, sowie auch das dieser Arbeit zugrunde gelegte Verständnis von Sozialwissenschaft und wissenschaftlicher Kritik, die als ‚kritisch-funktionale Analyse‘ jenseits normativ verkürzter Urteile operiert, adäquat zu verstehen. Hierfür sei insbesondere auf die Kapitel II.1, II.2 und II.4 verwiesen. Obwohl für die Stärken wie für die Schwächen des vorliegenden Bandes in letzter Instanz selbstverständlich nur der Autor verantwortlich zeichnet, bleibt die individualisierende Zurechnung wissenschaftlicher Argumente und Ergebnisse auf Einzelpersonen eine Fiktion. Gerade auch das, was retrospektiv als ureigenster Gedanke wahrgenommen und weiterverfolgt wird, ist eingebunden in ein Netz aus intellektuellen und lebenspraktischen Bedingungen, Anregungen und stillschweigenden Prägungen, und viele Argumente in dieser Arbeit wären ohne solche Anregungen, aber auch den Streit oder den Zwang, einen Gedanken näher zu erklären und zu begründen, nie entstanden. In dieser Hinsicht schulde ich zu vielen Menschen dank, als das ich sie hier alle nennen könnte. Besonders gedankt sei indes Karl-Siegbert Rehberg nicht nur als geduldigem Betreuer meiner Promotion, sondern auch für vielfältige und intensive Anregungen, die mein eigenes Verständnis von Wissenschaft und meinen eigenen Umgang mit scheinbar verstaubten Theorien stärker geprägt haben, als es die Zahl der Zitate in diesem Band zum Ausdruck bringt. Jan Spurk danke ich für spannende Diskussionen und sein ebenso anerkennendes wie in der Sache kritisches und kontroverses externes Gutachten, dessen Einwände in der Überarbeitung für die Publikation eine wichtige Anregungsquelle boten, um einige Argumente zu präzisieren oder weiter auszubauen. Großen Dank schulde ich darüber hinaus Dominik Schrage für seine einmalige Art, andere dabei zu unterstützen, eine zunächst noch wenig geordnete und überkomplexe Vielzahl von Ideen, Interessen und Mutmaßungen durch wenige Nachfragen und punktgenaue Einwände zu konkreten Forschungsfragen und Begriffen zu bündeln. Ohne entsprechende Gespräche hätte ich zwar sicher die Idee, aber vielleicht niemals den Begriff einer ‚kritisch-funktionalen Analyse‘ entwickelt. Nicht vergessen seien all jene, die an der einen oder anderen Stelle die Mühen auf sich genommen haben, Teile dieser Arbeit Korrektur zu lesen und die dafür Tage und Näch-

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te geopfert haben namentlich Maike Bußmann, Daniela Kölling, Silke Pohl, Adina Schütze, Claudia Schumann und Anke Woschech. Schließlich und keineswegs zuletzt möchte ich Anja Weber danken – für gemeinsame kritische Lektüren, die geteilten Bemühungen, einen anderen und produktiveren Umgang mit Foucault zu finden, für die kontinuierlichen Mahnungen, überkomplex werdende Gedanken noch einmal etwas herunterzubrechen und auf den Punkt zu bringen, für vielfältige Korrekturen und Anmerkungen und für noch viel mehr. Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, die die Paradoxien kapitalistischer Vergesellschaftung, von denen hier nur theoretisch und analytisch die Rede ist, in ihrem Alltag oft weit unmittelbarer erleben mussten.

I Einleitung

1 Problemaufriss

„Kapitalismus […] ist wie Windows, ein Betriebssystem, das von niemandem geliebt, aber von (fast) allen genutzt wird.“ GERHARD WILLKE (2006, 9 [Hervh. i.O.])

Die jüngste Konjunktur von Tagungen, Positionierungen und Publikationen zum ‚Kapitalismus‘ zeigt, dass die Finanzkrise seit 2008 auch einer sich bereits seit den 1990er Jahren abzeichnenden Renaissance der soziologischen Kapitalismusdebatte einen neuen Schub verliehen hat. Damit kehrte ein Themenkomplex, der für so unterschiedliche Klassiker wie Weber, Sombart und Simmel noch den Charakter eines für das Verständnis der modernen Gesellschaft insgesamt entscheidenden Schlüsselproblems hatte,1 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber tendenziell marginalisiert worden war, wieder verstärkt in den Aufmerksamkeitshorizont der Disziplin zurück. Jüngste Positionierungen beschränkten sich jedoch in vielen Fällen auf die bloße Benennung und Skandalisierung besonders offenkundiger Effekte jüngster Formen kapitalistischer Vergesellschaftung, die der Rede von einer „Rückkehr des Kapitalismus“ (vgl. u.a. Bauch 2010, 190ff.) eine hinreichende Evidenz zu garantieren schien: Die voranschreitende Privatisierung vormals öffentlicher Güter und Leistungen, die De-Regulierung2 der globalen Kapital- und der nationalen Arbeitsmärkte, die wieder deutlicher hervortretenden soziökonomischen Spaltungen, eine zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, die auch in den Zentren der europäischen Industrienationen wieder sichtbarer werdenden Armutserscheinungen oder eine zunehmende Abhängigkeit der Politik von realen oder konstruierten ökonomischen Zwängen gaben Anhaltspunkte für Diagnosen einer allgemeinen ‚Ökonomisierung‘ des gesellschaftlichen Lebens.3 Bereits die Formulierungen ‚Rückkehr des Kapitalismus‘ oder ‚Ökonomisierung‘ zeigen jedoch die deutlichen theoretischen und begrifflichen Defizite der jüngsten

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Weber (1986) wies „dem Kapitalismus“ bekanntlich die Rolle „der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens“ zu (ebd., 4; vgl. ebd., 203f.). Sombart (1922; 1927) baute die Kultur- und Sozialgeschichte ganzer Epochen um die Frage nach der Genese des Kapitalismus auf. Simmel (1989a) sah den geldvermittelten Austausch als zentralen Katalysator für nahezu alle kulturellen und sozialen Charakteristika der Moderne. Der Begriff der De-Regulierung wird im Folgenden in dieser Schreibweise gebraucht, um zu markieren, dass sich hinter der Vorsilbe kein bloßer Abbau politischer Regulationen verbirgt, sondern eine neue Form der Regulierung. Vgl. zu Diagnosen einer ‚Ökonomisierung‘ als Auflösung funktionaler Differenzierung u.a. Richter 2009; aber auch schon Rosa 2005, 441ff., 306f. & 328f.; Schroer 2004.

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Debatten, suggerieren sie doch, die kapitalistische Wirtschaftsform oder ihre prägende Bedeutung für andere gesellschaftliche Bereiche seien zuvor irgendwann verschwunden gewesen. Gerade die neue Hochkonjunktur des Wortes ‚Kapitalismus‘ ließ insofern eine systematische Wiederaneignung des Begriffs vermissen.4 Erst recht galt dies für journalistische Verwendungen des Wortes, die oft primär die bloße Ablehnung jüngster Spielweisen dieser Wirtschaftsform markierten, die mit pejorativen Zusätzen als „Raubtierkapitalismus“ oder „Turbokapitalismus“ bezeichnet wurden.5 Auch Vertreter der Soziologie, die bislang kaum als ‚Kapitalismustheoretiker‘ in Erscheinung getreten waren, beteiligten sich an solchen Verbalattacken, boten aber selten Analysen der gesellschaftlichen Funktions- und Wirkungszusammenhänge des Kapitalismus oder der aktuellen Krise. Stattdessen überwog ein moralisierender Ton, der sich im Anprangern von Charaktereigenschaften der Wirtschaftssubjekte (Gier, Maßlosigkeit etc.) oder im Verweis auf politische Fehler und den Verfall ‚normativer Orientierungen‘ erschöpfte.6 Will man den oben zitierten Vergleich mit Windows aufgreifen, scheint also auch im Fall des Kapitalismus kaum ein User die unterhalb der Benutzeroberfläche vorgehenden Prozesse oder die strukturellen Ursachen der auf der Oberfläche periodisch angezeigten ärgerlichen ‚Ausnahmefehler‘ zu verstehen, was in der hier vertretenen und kritisierten Disziplin auch die medienerprobten ‚Experten‘ einschließt. Dass gerade soziologische Stellungnahmen zur Krise derart defizitär blieben, rechtfertigt die Diagnose, dass es der Disziplin „nicht gelungen“ sei, sich mit dem „zuletzt offen kri-

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In jüngerer Zeit wurde von sehr verschiedener Seite ein diesbezüglicher Klärungsbedarf angemahnt. Vgl. u.a. im Kontext einer ‚Marx-Renaissance‘: Henning 2006b; aus dem Umfeld der ‚Mainstream‘-Soziologie: Volkmann/Schimank 2006, 221f.; aus der Perspektive einer Kapitalismus-Kritik: Dörre/Lessenich/Rosa 2009. Wegweisend für diese Debatten war Helmut Schmidt, der unter dem Titel „Das Gesetz des Dschungels“ (in: Die Zeit 50/2003 vom 4.12.2003) den Begriff „Raubtierkapitalismus“ prägte und diesen als Bedrohung für die „offene Gesellschaft“ geißelte, um ihn zugleich von der deutschen Variante abzugrenzen: „Tatsächlich hat in Deutschland immer[!] eine Art ‚moralischer Kapitalismus‘ existiert“, wofür etwa Bosch und Krupp beispielhaft seien. Wie stets bediente Ulrich Beck die Medien an vorderster Front mit Diagnosen, die sich der je aktuellen Stimmungslage anschmiegten (vgl. u.a.: „Die Finanzkrise hat aus Schurken Helden gemacht.“ Soziologe Beck im Interview mit Hannes Koch. In: Der Spiegel vom 15.10.2008; „Soziologe Ulrich Beck geißelt die nostalgische Politik von Kanzlerin Merkel – und die Ökonomie als Ursache der Finanzkatastrophe“, Interview mit A. Hagenlücken und A. Mülhauer. In: Süddeutsche Zeitung vom 12.2.2010; „Die Spaltung wird sich verschärfen“, Ulrich Beck im Interview mit Zeit Online vom 29.12.2009). Der Soziologe Hans Joas mahnte, zur Finanzkrise befragt, „Glaube, Liebe, Hoffnung als christliche Tugenden“ gegen „rein individualistische, nicht auf das Gemeinwesen bezogene“ Kräfte zu reanimieren („Unterwegs ohne Illusionen“, Hans Joas im Interview mit Evelyn Finger. In: Die Zeit, 20/2010 vom 12.5.2010). Auch die Äußerungen von Jürgen Habermas weckten den Eindruck, Soziologie sei im 21. Jahrhundert vor allem eine Morallehre, die vom „Universum des Kapitalismus“ nur noch weiß, dass es daraus „kein Ausbrechen mehr“ gibt, weshalb nur eine „politische Kultur“, die in einer neuen „normativen Orientierung“ einen „Resonanzboden“ hat, das Sich-Einrichten im Unabänderlichen erträglich machen könne („Nach dem Bankrott“, Jürgen Habermas im Interview mit Thomas Assheuer. In: Die Zeit, 46/2008 vom 6.11.2008; vgl. auch Jürgen Habermas: „Wir brauchen Europa.“ In: Die Zeit 21/2010 vom 20.5.2010). Nüchternere und präzisere Kommentare fanden sich selbstverständlich auch: Vgl. u.a. „Der Symbolvorrat ist aufgezehrt“, Oskar Negt im Interview mit U. Schulte und E. Völpel. In: taz vom 12.10.2009.

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senhaften Wandel der kapitalistischen Gesellschaftsformation in einer Weise auseinanderzusetzen, die einem kritisch-aufklärerischen Selbstverständnis gerecht würde“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 10). Eine solches Selbstverständnis würde voraussetzen, den Kapitalismusbegriff hinsichtlich grundlegender gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge der so bezeichneten Wirtschaftsform zu klären oder, um in der Windows-Metapher zu bleiben, den gesellschaftlichen Quellcode zu objektivieren, der unter den verschiedenen historischen Updates identisch geblieben ist. Darüber hinaus wären Analyseraster erforderlich, die es erlauben, die krisenhaften Wandlungsprozesse zu erklären, in denen sich die historisch konkreten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung veränderten und verändern. Das hier erforderte begrifflich-systematische Instrumentarium ist einer Soziologie, die ihre Daseinsberechtigung über lange Zeit dem Ausstoß griffiger Gegenwartsdiagnosen und dem Ausrufen neuer Bindestrich-Gesellschaften im Jahresrhythmus zu verdanken schien, allerdings vielfach abhanden gekommen.7 Wenn zudem, wie Ulrich Beck es tat, jede Frage nach möglichen Vergleichsaspekten der gegenwärtigen Krise mit früheren Krisen des Kapitalismus von vornherein abgelehnt wurde, da damals „global ganz andere Verhältnisse“ herrschten, weshalb in der gegenwärtigen, absolut „neue[n] Situation“ generell von einem „Zustand des NichtWissen-Könnens“ auszugehen sei,8 so muss man der Disziplin bzw. ihren prominenten Vertretern wohl ein gestörtes Langzeitgedächtnis bescheinigen und demgegenüber an Analyseperspektiven anknüpfen, die zum Verständnis wesentlicher Strukturund Funktionsprinzipien des modernen Kapitalismus, der Genese ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und auch der jüngsten Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung mehr beizutragen vermögen als ein durch moralisierende Deutungen kompensiertes ‚Nicht-Wissen‘. Zu einer solchen Wiederaneignung und Verbesserung des analytischen Instrumentariums soll die folgende Arbeit in einer systematischen und zugleich gegenstandsbezogenen Auseinandersetzung mit drei auf den ersten Blick heterogenen, bei genauerer Betrachtung aber durch grundlegende Gemeinsamkeiten verbundenen Ansätzen einen Beitrag leisten. Dabei wird aufgezeigt, dass die Verknüpfung der Theorieansätze sowie der soziologischen und historischen Analysen von Marx, Foucault und Bourdieu ein produktiveres und differenzierteres Verständnis moderner (kapitalistischer) Gesellschaften und ihrer historischen Entwicklungslinien und Transformationen bis in die Gegenwart ermöglicht, als zahlreiche soziologische ‚Gesellschaftsdiagnosen‘ der letzten Jahrzehnte. Über eine weitere ‚Rekonstruktion‘ dreier nomi-

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Für einige prominente Diagnosen (Wissensgesellschaft, Konsumgesellschaft etc.) wird noch zu zeigen sein, dass das, was dort als absolut neuartiger Wesenszug der Gegenwartsgesellschaf postuliert wurde, bereits von den soziologischen Klassikern oder von deren Vorläufern in der Politischen Ökonomie als Moment einer kapitalistischen Gesellschaft diskutiert und analytisch oft prägnanter erfasst wurde (s.u. V.4). Ulrich Beck: „Handeln im Zustand des Nichtwissens“. In: Frankfurter Rundschau vom 5.11.2008. Man fragt sich, wie diese Apotheose des Nichtwissens damit zusammengeht, dass Beck noch wenige Jahre zuvor in seiner Neuen weltpolitischen Ökonomie (Beck 2002) die „Umkehrung des Marxschen Grundsatzes“ ausrief, da heute nicht mehr das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, sondern das „Bewusstsein der neuen Situation“ das Sein gestalte. Wahrscheinlich herrschten auch 2002 global ganz andere Verhältnisse als 2008.

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nell sehr bekannter sozialwissenschaftlicher Positionen hinaus wird dabei auch eine kritische Korrektur verbreiteter Rezeptionslinien angestrebt, die gerade im Bezug auf die ‚Klassiker‘ des Faches oft ein von den Autoren und Texten unabhängiges Eigenleben führen. Die leitende These ist es, dass die Auseinandersetzung mit bei Marx aufgeworfenen, aber ungelösten Problemstellungen, die die sozialen und historischen Voraussetzungen des Kapitalismus und die historisch veränderlichen Modi der Reproduktion von der kapitalistischen Produktionsweise entsprechenden gesellschaftlichen (Klassen-)Verhältnissen betreffen, bei Foucault wie bei Bourdieu eine systematisch zentrale Rolle spielen. Zahlreiche Verkürzungen und Missverständnisse in der Rezeption dieser beiden Positionen beruhen darauf, dass die Bedeutung entsprechender Fragestellungen und Analyseraster nur bedingt erfasst wurde. Dies liegt auch daran, dass – außerhalb spezialisierter und marginalisierter Zirkel – das Marxbild der Disziplin auf einem Konglomerat aus tradierten und sich wechselseitig bestätigenden Vorurteilen beruht, das adäquate Kenntnisse marxscher Begriffe und Analysemethoden vermissen lässt. Selbst wo oberflächliche Marxreminiszenzen bei Foucault und Bourdieu erkannt wurden, sind daher geteilte Gegenstandsbezüge und grundlegende Gemeinsamkeiten in den Begriffskonstruktionen und den Formen der Analyse kaum wahrgenommen worden. Stattdessen findet sich vielfach eine Tendenz, Foucault und Bourdieu von einem schematisierten Marxbild abzugrenzen, was dann aber auch dazu führt, dass die Konstruktion der Analyseinstrumente und der analytische Gehalt foucaultscher und bourdieuscher Untersuchungen verzerrt rezipiert werden. Im Bezug auf Bourdieu, der betonte, dass „Marx [...] hinreichend für sich den Titel eines Wissenschaftlers in Anspruch genommen“ habe, „damit die einzige Würdigung“ darin bestehen könne, „sich dessen zu bedienen, was er geschaffen hat […], um darüber hinauszugehen, was er zu schaffen glaubte“ (Bourdieu 1992b, 68), ist der daraus resultierende Effekt, dass bereits Grundbegriffe wie Kapital, Reproduktion oder Ökonomie auf ein grundlegendes Unverständnis treffen. Während etwa Bourdieus erweiterter Kapitalbegriff Kapital (in Kontinuität zu Marx) als ein an historisch spezifische Bedingungen gebundenes gesellschaftliches Verhältnis definiert, also als ein System von „objektiven Beziehungen“ die sich nur in einem bestimmten „Produktionssystem […] herstellen“ (Bourdieu 1976, 362; vgl. 1987, 226f.), wird ihm in der Rezeption meist ein Kapitalbegriff unterstellt, der an den ahistorischen Wortgebrauch des Rational Choice erinnert, obwohl Bourdieu solche Verwendungsweisen des Begriffs, die Kapital auf eine Ressource von miteinander konkurrierenden Individuen verkürzen, stets kritisierte (s.u. II.2).9 Aufgrund solcher Missverständnisse war dann aber auch ein adäquates Verständnis von Bourdieus einzelnen Untersuchungen oder gar ihres systematischen Zusammenhangs nur mehr bedingt möglich. Seine Analysen der über sachlich-funktionelle Mechanismen vermittelten dynami-

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Besonders prekär ist dies, wenn Volkmann und Schimank (2006) ausgerechnet in einen Aufsatz, der beansprucht, Bourdieus Beitrag zum Verständnis der modernen Gesellschaft als kapitalistischer Gesellschaft zu klären, unterstellen, Bourdieu habe den gleichen Kapitalbegriff wie der Rational-Choice-Theoretiker Hartmut Esser (vgl. ebd., 224). Wenn derart aber nicht einmal die Grundbegriffe adäquat erfasst werden, bleibt vom Kapitalismusverständnis Bourdieus wenig mehr übrig als das Postulat eines steten Konkurrenzkampfes und einer „Logik des Kommerziellen“, von der mehr oder weniger alle Felder geprägt seien (ebd., 231; vgl. ähnlich Nassehi 2004; Rehbein 2006).

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schen Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse (s.u. V) erschienen in der Rezeption dann als Verallgemeinerung eines utilitaristischen Paradigmas der Interessenkonkurrenz (vgl. u.a. Honneth 1989, Nassehi 2004) oder als bloße Kulturtheorie sozialer Ungleichheit. In dieser Arbeit soll daher herausgearbeitet werden, dass nicht nur Bourdieus (2000a) frühe Untersuchungen zu den historischen und sozialen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaftsform am Beispiel der Transformationen der Wirtschaftsweisen und Wirtschaftsgesinnungen in Algerien,10 sondern auch seine großen Studien zur Transformation der Reproduktionsmechanismen der Klassenverhältnisse im Nachkriegsfrankreich oder die Einzeluntersuchungen zu verschiedenen funktional ausdifferenzierten Feldern gesellschaftlicher Praxis im Kontext einer Theorie und Analyse der sich verändernden Reproduktionsmodi genuin kapitalistischer Gesellschaften stehen.11 Die Kontinuität dieser Analysen zu Marx’ Modell der dynamischen Reproduktion des Kapitalverhältnisses bildet als ‚roter Faden‘ verschiedener Einzeluntersuchungen den Schlüssel zu einem adäquaten Verständnis von Bourdieus Ansatz. Auch in der Foucaultrezeption – so die These – resultieren wesentliche Missverständnisse daraus, dass die Rolle, welche die historische Analyse der Herausbildung der kapitalistischen Gesellschaftsformation in seinen Analysen zur Disziplinar- und Bio-Macht spielte, nicht adäquat berücksichtigt wurde. Foucault, der von sich selbst sagte, er verhalte sich zu Marx wie ein Physiker zu Newton oder Einstein, indem er marxsche Begriffe und Analyseraster verwende, ohne Marx ausdrücklich zu zitieren (vgl. Foucault 1976, 46), wollte die von ihm untersuchte „Veränderung der Machttechnologien“ als „Teil der kapitalistischen Entwicklung“ (Foucault 2005, 243) verstanden wissen. Indem in weiten Teilen der Rezeption dieser wechselseitige Bedingungszusammenhang zwischen der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Entstehung der modernen Machtdispositive durchtrennt wurde, konnte es dann so erscheinen, als habe man es bei Foucaults Analyseraster einer ‚Mikrophysik der Macht‘ mit einer Art ‚Metaphysik der Macht‘ zu tun, die historische Entwicklungen und Subjektivierungsformen aus einem Auf und Ab abstrakter Machtprozesse erklärt.12 Noch in Sarasins (vgl. 2005) differenzierter Foucaulteinfüh-

10 Dies entkräftet dann auch die Kritik, Bourdieu habe sich in späteren Positionierungen zum Neoliberalismus intellektuell zu ökonomischen Problemen geäußert, von denen er nichts verstehe (vgl. Mackert 2006; Herkommer 2004). 11 Bourdieu verortet diese Untersuchungen, zu denen auch Die feinen Unterschiede gehören, explizit im Kontext einer „Umstrukturierung des ökonomischen Feldes [...]. Sie führt über eine Veränderung im Modus der Kapitalprofite zu einer Umstrukturierung des Systems der Beziehungen zwischen Wirtschaftsbereich und dem System der Reproduktionsinstrumente, insbesondere auch dem Bildungssystem. Dies wiederum bedingt nicht nur einen tiefgreifenden Funktionswandel des gesamten Felds der Institutionen, die speziell der Reproduktion der herrschenden Klasse dienen, sondern auch einen Strukturwandel dieses Feldes selbst“ (Bourdieu et al. 1981a, 44 [Hervh. i.O.]). Erst in diesem Kontext werden auch die Studien zum Bildungssystem (Bourdieu/Passeron 1971; 1973; Bourdieu 1973; 2004a) oder zu den Feldern kultureller Produktion (Bourdieu 2001a) verständlich. 12 Habermas (1988a) etwa unterstellt Foucault einen „transzendentaltheoretischen Machtbegriff“ (ebd., 316; vgl. 298), dem als „transzendental-historische[m] Grundbegriff“ (ebd.) die Funktion „eines konstitutionstheoretischen Grundbegriffs“ (ebd., 317) zukäme. Die Genealogie erkläre demzufolge das „auf und ab“ historischer Prozesse mit „einer einzigen Hypothese – daß das einzige was währt, die Macht ist“ (ebd., 297f.) – und sei einem monisti-

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rung zeigt sich diese Ausblendung des gesellschaftlichen Kontextes der Transformationen der Machttechnologien und Subjektivierungsformen. Wo Foucaults Genealogie „die Beziehungen zwischen den diskursiven und den sozialen und ökonomischen Formationen“ (Foucault 2003b, 191) systematisch erfassen sollte, blendet Sarasins (vgl. 2005, 128-146) Rekonstruktion von Überwachen und Strafen alle Bezüge auf die Genese der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Foucaults Darstellung ab, so dass man es mit einer Selbstbewegung von Machtformen zu tun zu haben scheint, welche die Gesellschaft ‚irgendwie‘ umgestalten, ohne dass die konkreten Zusammenhänge benannt würden. Ähnliche Verkürzungen treten im Forschungsfeld der Gouvernementalitätsstudien auf, also gerade in jenen Anschlüssen an Foucault, die ausgehend von dessen Analysen (neo-)liberaler Regierungstechniken jüngste Transformationen des Kapitalismus erschließen wollen, dabei aber neoliberale Diskurse oft derart dekontextualisieren, dass es am Ende die Programme selbst zu sein scheinen, welche die Gesellschaft und die Subjekte ad libitum umformen.13 Auch in diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, dass sich Foucaults Analysen nur im Kontext historischer Veränderungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung erschließen lassen und eine weiterführende Anwendung seiner Begriffe und Analyseraster nur möglich ist, wenn den Interdependenzen zwischen den Programmen und den strukturellen und funktionellen Gegebenheiten und Problemlagen kapitalistischer Gesellschaften, auf die die Regierungstechniken in je spezifischer Form reagieren, Rechnung getragen wird. Im Einzelnen ist dabei herauszustellen, wie Foucaults Untersuchungen mit bei Marx aufgeworfenen Fragen der Genese und der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zusammenhängen. Neben den sich in diesem Zusammenhang ergebenden systematischen und gegenstandsbezogenen Fragestellungen ist es schließlich das Ziel dieser Studie herauszuarbeiten, dass sich in den Selbstverständnissen wie in der Durchführung der Theoriekonstruktionen und Analysen bei Marx, Foucault und Bourdieu eine Form kritischer Gesellschaftstheorie abzeichnet, die sich von einer normativen Kritik wie auch von einem (den Autoren oft unterstellten) ‚Kryptonormativismus‘14 grundlegend unterscheidet. Die Form dieser Kritik wird hier mit dem Neologismus ‚kritischfunktionale Analyse‘ bezeichnet. Dies meint eine kritische Analyse, die – jenseits normativer Werturteile und ohne den Anspruch praktische Handlungsanweisungen zu geben – Funktionszusammenhänge und Strukturprinzipien aufklärt, die sich aus

schen Erklärungsprinzip des „Willens zur Macht“ (ebd.) verpflichtet (vgl. ähnlich Honneth 1989). Habermas’ Lektüre ist zwar das Extrembeispiel einer verzerrten Rezeption, allerdings finden sich tatsächlich auch in Teilen der positiven Foucaultrezeption Tendenzen, ‚die Macht‘ als ein grammatisches Subjekt auftreten zu lassen und ihr so die Rolle eines abstrakten Allerklärungsoperators zuzuweisen (vgl. etwa phasenweise die Analysen von Butler 1991 oder auch von Bublitz 1999 & 2000). 13 Diese Tendenzen treffen nicht das gesamte Forschungsfeld gleichermaßen. Lemke (vgl. u.a. 2007) bezieht gesellschaftliche Bedingungsgeflechte oft ausführlich mit ein, hingegen finden sich bei Bröckling (vgl. v.a. 2002 & 2007), aber auch bei Duttweiler (vgl. 2004; 2005; 2007) teilweise krasse Kurzschlüsse von den analysierten Programmen auf reale gesellschaftliche Veränderungen. Auf daraus resultierende Probleme wird unten (IV.7) noch zurückzukommen sein. 14 Entsprechende Kritiken bei Habermas (vgl. 1988a) oder Honneth (vgl. 1989 & 1999) werden unten (II.4) zu diskutieren sein.

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objektivierbaren gesellschaftlichen Zusammenhängen ergeben. Kritisch wird dies nicht durch den Geltungsanspruch eines normativ-moralischen Besserwissens, sondern dadurch, dass die Analyse ein positives Wissen über die in einer bestimmten Gesellschaftsformation wirksamen, aber den Akteuren oft nicht bewussten Bedingungsrelationen und die sich daraus ergebenden Zwänge und Tendenzgesetze bereitstellt. Indem so ein reflexives Verhältnis zur gegebenen Wirklichkeit ermöglicht und Ansatzpunkte ihrer möglichen Veränderung aufgezeigt werden, kann eine solche Analyse auch Mittel an die Hand geben, um den sich sonst in der Praxis blind durchsetzenden gesellschaftlichen Tendenzen entgegenzuwirken. Genauer wird dieses Verständnis einer dezidiert nicht normativ argumentierenden kritischen Wissenschaft, das Foucault und Bourdieu in explizitem Anschluss an Marx entwickeln, in Kapitel II.4 herausgearbeitet. Damit geht es auch um einen Beitrag zur Neubestimmung der Potenziale und Grenzen einer kritischen Sozialwissenschaft, die sich jenseits der Extrempole einer als Gleichgültigkeit missverstanden Werturteilsfreiheit und einer sich in normative Selbstbegründungen ihrer eigenen Universalität verflüchtigenden ‚kritischen Theorie‘ positioniert. Bei all dem geht es im Folgenden allerdings weniger um eine werkgetreue Interpretation der Analysen der Bezugsautoren, sondern vielmehr um einen systematischen Gebrauch der von ihnen angebotenen Analyseinstrumente. Dieser Gebrauch wird in den gegenstandsbezogenen Untersuchungen wie auch auf der konzeptionellen Ebene notwendig über die Perspektiven von Marx, Foucault und Bourdieu hinausgehen. Das konkrete Verhältnis der drei Referenzansätze, der Beitrag den eine genauere Bestimmung dieses Verhältnisses zu ihrem besseren Verständnis leistet und die Potenziale, die eine Verschränkung der drei Perspektiven für eine (kritische) Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft hat, können erst im Verlauf der Arbeit herausgestellt werden. Allerdings sind im Vorfeld einige Bemerkungen zur Vermeidung grundlegender Missverständnissen angebracht, die den Gebrauch des Terminus Kapitalismus, das Verhältnis dieser Arbeit zu Marx und ihre Verortung im Kontext aktueller Marx- und Kapitalismusdebatten betreffen. Das Substantiv „Kapitalismus“ und das Adjektiv „kapitalistisch“ fungierten seit dem 19. Jahrhundert nicht nur als wissenschaftliche Kategorien, sondern auch als politische Kampfbegriffe, deren bloße Verwendung oft bereits als ‚ideologisch‘ galt. Aufgrund der engen Verbindung mit sozialistischen Bewegungen haftete den Worten aus manchen Perspektiven ein „Schwefelgeruch“ (de Man 1931, 65) an, der es erschwerte, „sich eine vernünftige Ansicht“ über die so bezeichnete Wirtschaftsform zu bilden (Schumpeter 1949, 107). Im akademischen Sprachgebrauch wurde der Terminus „Kapitalismus“ erst Anfang des 20. Jahrhunderts hoffähig15 und blieb es nur kurze Zeit, da eine wissenschaftlich neutralisierte16 Begriffsverwendung nach den öko-

15 Werner Sombart (vgl. 1922, Bd. I.1, 319f.) verlieh dem (von Marx kaum gebrauchten) Wort 1902 eine bis heute prägende begriffliche Bestimmung. In soziologischen und historischen Kontexten zitationsfähig wurde der Begriff vor allem durch Max Weber. Vgl. zur Begriffsgeschichte v.a.: Hilger 1982, 442-454 & Braudel 1986, Bd. 2, 254ff. 16 Das meint nicht, dass der wissenschaftliche Begriffsgebrauch ‚weltanschaulich‘ neutral wurde. Die Verhängnisvisionen am Ende der Protestantischen Ethik (vgl. Weber 1986, 202ff.) oder die emphatische Schilderung des protestantischen Unternehmertypus zeigen, dass auch Webers Analysen Werturteile evozieren. „Neutralisiert“ meint, dass es in der

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nomischen und politischen Krisenerfahrungen, die der Weltwirtschaftskrise ab 1929 folgten, und angesichts der Systemkonfrontation mit dem staatssozialistischen Lager nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut blockiert war. Das galt vor allem in der bundesdeutschen Soziologie, wo ein Aufgreifen des Begriffs zu gegenwartsanalytischen Zwecken auch dadurch erschwert wurde, dass das Modell der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ explizit als Gegenentwurf zum ‚Kapitalismus‘ auftrat (vgl. Erhard 1948b, 47f.; Röpke 1944, 248f.; s.u. IV.7). In dieser historischen Konstellation von Kapitalismus zu sprechen, markierte schon eine Distanz zur geltenden semantischen Ordnung und war mit der – je nach Gusto anrüchigen oder reizvollen – Konnotation der ‚Systemkritik‘ verbunden. In den 1970er und 80er Jahren führten vielfältige Strömungen einer an Marx und die klassische kritische Theorie17 anschließenden Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation weitgehend eine Parallelexistenz18 im Schatten neuer Großtheorien und einer blühenden Zeitdiagnostik, die aus verschiedenen Gründen den Begriff des Kapitalismus für ungeeignet hielten, um die moderne Gesellschaft zu beschreiben.19 Allerdings zeigen gerade diese Konstellationen, dass die Nicht-Verwendung des Wortes ‚Kapitalismus‘ ebenso wenig weltanschaulich ‚neutral‘ war wie seine Verwendungen. Schon deshalb werden in dieser Arbeit systematische Diskussionen entsprechender Begriffe unverzichtbar sein um zu klären, in welchem Sinne gesellschaftliche Verhältnisse analytisch (und nicht normativ) als ‚kapitalistisch‘ gekennzeichnet werden können. In einer Minimaldefinition meint Kapitalismus zunächst ein Wirtschaftssystem, das durch „eine verkehrswirtschaftliche Organisation“ gekennzeichnet ist, „bei der regelmäßig zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen: die Inhaber der Produktionsmittel, die gleichzeitig die Leitung haben, Wirtschaftssubjekte sind und besitzlose Nurarbeiter (als Wirtschaftsobjekte), durch den Markt verbunden zusammenwirken“. Beherrscht wird dieses sachlich-unpersönliche Verhältnis durch das „Erwerbsprinzip“, in dem nicht mehr die „Bedarfsbefriedigung“ lebender Individuen, „sondern ausschließlich die Vermehrung einer Geldsumme […], also die Erzielung von Gewinn […] den objektiven Zweck“ wirtschaftlicher Aktivität bildet, und den „ökonomischen Rationalismus“, also eine sachlich-instrumentelle Organisation der ökono-

akademischen Welt möglich wurde, über Weltanschauungen hinweg zu verstehen, was in der Sache mit ‚Kapitalismus‘ gemeint war, was ja auch der „Sinn der ‚Wertfreiheit‘“ bei Weber (vgl. 1968, 489-540) war (s.u. II.4). 17 Als ‚klassische‘ wird hier die kritische Theorie vor der kommunikationsmetaphysischen Kehre bei Habermas bezeichnet. Eher in Kontinuität zur ‚klassischen‘ Form stehen etwa Oskar Negt, Alex Demiroviü oder Klaus Dörre. 18 Neben den zahllosen Publikationen der 1970er Jahre, die marxexegetische Bemühungen mit Gegenwartsanalysen verbanden, von denen einige gehaltvoller und differenzierter sind als der Ruf, der dieser Textsorte heute anhaftet (vgl. u.a. in Ritsert [Hg.] 1976; Meschkat/Negt [Hg.] 1973; Backhaus et al. [Hg.] 1974), wären hier etwa auch Analysen zur Entstehung ‚postfordistischer‘ Akkumulationsformen zu nennen (vgl. u.a. Hirsch/Roth 1986). 19 Als Großtheorien figurierten vor allem Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und Luhmanns Systemtheorie, die nach anfänglichen Grenzscharmützeln (vgl. Habermas/Luhmann 1973) in friedlicher Koexistenz die Theoriedebatten dominierten. Zeitdiagnostisch fanden die Risikogesellschaft (Beck 1986) sowie verschiedene Strömungen der „Neuen sozialen Ungleichheitsforschung“ (vgl. u.a. Hradil 1987) große Beachtung. Hinzu kamen verschiedene Fassungen von Wissens-, Informations- und Kommunikationsgesellschaftsthesen. (s.u. V.4)

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mischen Beziehungen, die diesem Zweck planmäßig, zweckmäßig und rechnungsmäßig dienen (Sombart 1922, Bd. I.1, 319f. [Hervh. i.O.]). An dieser idealtypischen Definition wären zwar einige Präzisierungen nötig,20 insgesamt scheint sie aber weiterhin geeignet, wesentliche Charakteristika der Wirtschaftsform moderner Gesellschaften in ihrer Differenz zu vormodernen Wirtschaftsweisen zu charakterisieren. Nachdem mit der Implosion der staatssozialistischen Gegenentwürfe die globale ‚Systemkonkurrenz‘ wegfiel, war es auch wieder möglich, einen so verstandenen Kapitalismusbegriff zur Kennzeichnung einer spezifischen Wirtschaftsordnung und zur Analyse ihrer verschiedenen, historisch heterogenen Erscheinungsformen zu verwenden (vgl. u.a. Willke 2006; Hall/Soskice 2001). Jenseits des Gebrauchs in den Spezialfeldern der Wirtschaftsoziologie und Wirtschaftsgeschichte blieb es jedoch strittig (und tendenziell eher bestritten), ob sich die Gegenwartsgesellschaft insgesamt als ‚kapitalistische‘ kennzeichnen ließe.21 Die Rede von einer ‚kapitalistischen Gesellschaft‘ impliziert die Annahme, dass auch andere Momente der modernen Gesellschaft in einem ursächlichen Zusammenhang mit dieser Wirtschaftsform stehen, sich also etwa die Sozialstruktur, die Strukturen des Zeitbewusstseins (Bourdieu 2000a, 32-144; Rosa 2005, 256-310) oder die Form von nicht unmittelbar ökonomischen Bereiche gesellschaftlicher Praxis (Politik, Recht, Bildung etc.) ursächlich aus den Charakteristika der Produktionsverhältnisse erklären lassen. Sinnvoll wäre die Kennzeichnung der Gesellschaft als kapitalistisch‘ tatsächlich nur, wenn eine entsprechende analytische Perspektivierung es ermöglicht, für die in anderen Gesellschaftsdiagnosen in den Vordergrund gerückten Merkmale moderner Gesellschaften – etwa als Risiko-, Chancen-, Wissens-, Kontroll-, Erlebnis- oder Konsumgesellschaft – eine differenziertere Erklärung zu geben. Dies meint keineswegs, dass sich alle gesellschaftlichen Phänomene oder die konkreten rechtlichen, politischen und kulturellen Formen einer Gesellschaft direkt aus der Wirtschaftsform ableiten lassen, sehr wohl aber, dass die grundlegenden ökonomischen Verhältnisse einen Bedingungsrahmen bilden, aus dem die variablen Ausprägungen anderer Momente der gesellschaftlichen Verhältnisse besser verstehbar werden, und dass innerhalb der vielfältigen gesellschaftlichen Interdependenzgeflechte die unmittelbar mit der kapitalistischen Wirtschaftsform verbundenen Zusammenhänge und Funktionsprinzipien eine „tendenzielle Dominanz“ (Bourdieu 1985, 11) haben. Die konkreten Formen und Funktionen von Recht, Kultur, Politik oder die Modi der Subjektivierung und der Machtbeziehungen sind dabei nie auf die Wirtschaftsform reduzierbar, sie können aber in ihren relativ autonomen Funktionslogiken auch nicht ohne Rekurs auf den gesellschaftlichen Zusammenhang der Produktionsverhältnissen begriffen werden.22

20 So treten auf Seiten der Wirtschaftssubjekte nomineller Kapitalbesitz und Kapitalfunktionen (wie die Leitung) seit dem 19. Jahrhundert zunehmend personell getrennt auf. Vgl. bereits: MEW 25, 400f.; zu den damit verbundenen strukturellen und soziokulturellen Verschiebungen: Bourdieu/Boltanski 1981; Boltanski 1990; s.u. V.3-4. 21 Hier war ein Hauptargument, dass der Begriff „Kapitalismus“ allenfalls „Merkmale eines der Funktionssysteme“ beschreiben kann (Luhmann 1998, 1088), aber nicht die Einheit der Gesellschaft. Bei Marx und Bourdieu geht es allerdings auch nicht um die Repräsentation einer Einheit, sondern um die latente Dominanz der Ökonomie in der Interdependenz funktional ausdifferenzierter ‚Sphären‘ (Marx) oder ‚Felder‘ (Bourdieu) (s.u. V.3). 22 Man kann aus abstrakten und formalen Bestimmungen von Grundcharakteristika der kapitalistischen Produktionsverhältnisse keine konkrete wissenschaftliche Entdeckung und kei-

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Gerade wenn die entsprechende Kennzeichnung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs als kapitalistisch hier in diesem Sinne als sinnvoll erachtet wird, ist jedoch zu beachten, dass es ‚den Kapitalismus‘ ebenso wenig gibt wie ‚den Feudalismus‘. Bereits Marx betonte die Varities of Capitalism (vgl. Hall/Soskice 2001), da reale kapitalistische Gesellschaften immer durch kulturelle, historische, politische etc. Besonderheiten geprägt sind, die auch über die konkrete Ausgestaltung der Produktionsund Akkumulationsprozesse entscheiden (vgl. u.a. MEW 19, 28f.). Wenn daher in dieser Arbeit vom Kapitalismus oder der kapitalistischen Gesellschaftsformation die Rede ist, so ist damit wie bei Marx stets der begrifflich konstruierte „ideale Durchschnitt“ (MEW 25, 839) dieser Produktionsweise gemeint.23 Solche abstrakten begrifflichen Konstruktionen von funktionellen Zusammenhängen, Strukturprinzipien und Tendenzgesetzen haben ihren Sinn darin, eine Möglichkeit der Analyse und Erklärung von Phänomenkomplexen zu eröffnen, die sich in sehr verschiedenen historischen Ausformungen konkreter kapitalistischer Gesellschaften immer wieder durchsetzen. Sie können aber weder eine konkrete Gesellschaft oder deren Wirtschaftsform beschreiben, noch die historische Genese und die verschiedenen historischen Transformationen der mit diesem Analyseraster erfassbaren konkreten gesellschaftlichen Zusammenhänge (im Sinne eines ‚Geschichtsgesetzes‘) vorhersagen. Statt von ‚der kapitalistischen Gesellschaft‘ wird daher hier überwiegend von kapitalistischer Vergesellschaftung gesprochen. Der Vergesellschaftungsbegriff, wie er in die Soziologie v.a. von Georg Simmel eingeführt wurde, bietet den Vorteil, dass er gegen das Bild einer klar fixierten Entität ein jeweiliges Ensemble von verschiebbaren Verhältnissen und Kräften setzt. Bezeichnet wird so eine jeweilige Summe von Wechselwirkungen, um „das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzulösen und in allem Sein den historischen Prozeß seines Werdens zu erkennen“ (Simmel 1989b, 130; vgl. 1992, 19ff.). Es handelt sich um einen dynamischen und relationalen Begriff, der der Form des Denkens von Foucault und Bourdieu, aber auch von Marx24 besser entspricht als der zur Substantialisierung verleitende Begriff ‚Gesellschaft‘. Zudem hat der Begriff in der anders gelagerten weberschen Fassung (deren Zurechnung auf eine intentionale Zweckrationalität hier allerdings nicht geteilt wird) den Vorteil, eine genuin sachlich-abstrakt vermittelte Form von Beziehungen zu bezeichnen, deren „(Arche-)Typos […] die Vergesellschaftung durch Tausch auf dem Markt“ ist (Weber 1984, 382). Es geht hier also nicht um unmittelbar soziale ne Kommunikationstechnologie wie das Internet ‚herleiten‘. Erfindungen und ihre gesellschaftliche Durchsetzung sind von komplexen, je konkreten gesellschaftlichen Konstellationen abhängig. Das marxsche Modell erlaubt es jedoch zu erklären, warum z.B. Wissenschaft und Information in kapitalistischen Gesellschaften überhaupt eine so zentrale Rolle spielen (s.u. III). 23 Wie noch zu zeigen ist, bedient sich Marx im Kapital einer Methode der Idealisierung. Vgl. v.a. Nowak 1976, v.a. 20-39; Jasinska/Nowak 1976; zu einem Vergleich mit Webers Methodik der Idealtypologie: Zodel 1990, v.a. 83-106. 24 Marx wurde oft unterstellt, er behandele Gesellschaft als quasi substantiellen Kollektivsingular. Demgegenüber wird noch zu zeigen sein, dass es sich um eine auf Relationalbegriffen aufgebaute Theorie handelt: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.“ (MEW 42, 189; Hervh. T.H.) Daher ist auch die kapitalistische Gesellschaft „kein fester Kristall, sondern ein […] beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus“ (MEW 23, 16).

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Beziehungen, sondern um versachlichte, abstrakte Relationen, die über objektivierte Mechanismen vermittelt werden – nicht umsonst nehmen, wie noch im Anschluss an Foucault herauszuarbeiten ist, auch die ‚sozialen‘ Kompensations- und Absicherungsmechanismen, die Tendenzen der kapitalistischen Marktökonomie entgegenwirken, die Form sachlicher Vergesellschaftungen an: rechtliche Regulierung, Sozialversicherung, Sozialstaat (s.u. IV).25 Ebenso wie zum Kapitalismusbegriff sind einige Bemerkungen zum Autor Marx angebracht. Die vorliegende Arbeit will unter anderem zeigen, dass die marxschen Ansätze nach wie vor ein produktives Instrumentarium zur Analyse der Gegenwartsgesellschaften und ihrer historischen Entwicklungen bieten, ja dass sie für ein adäquates Verständnis gerade der jüngsten Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung eine notwendige (wenn auch keineswegs hinreichende) Voraussetzung sind. Dabei stellt sich aber das Problem, dass trotz einzelner produktiver Anschlüsse eine ernsthafte und systematische Auseinandersetzung mit der marxschen Theorie (die nicht aus dem Manifest der kommunistischen Partei zu erschließen ist) in der Soziologie nach wie vor aussteht. Das liegt nicht nur in der politischen Aufladung des Namens begründet, die die Positionierung zu Marx oft eher zu einer Frage ideologischer Bekenntnisse als zu einer Frage wissenschaftlicher Urteile machte, sondern auch in den Paradigmenwechseln der ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Theorie nach Marx, die ein Verständnis zentraler Fragestellungen und Analysemethoden erschwerten. Marx hatte Problemstellungen der klassischen politischen Ökonomie (Quesnay, Smith, Ricardo) in einen gesellschaftstheoretischen Kontext gerückt und ein analytisches Modell der kapitalistischen Wirtschaftsform entwickelt, das diese Linie der ökonomischen Theorie in doppelter Hinsicht an ihr Ende führte. Einerseits bot er für einige Probleme und Widersprüche in den Ansätzen seiner Vorgänger begrifflich konzise Lösungen an und lieferte ein analytisches Instrumentarium zum Verständnis von Entwicklungsdynamiken und Konjunkturzyklen, von dem indirekt auch die spätere ‚bürgerliche Ökonomie‘ (etwa bei Keynes und Schumpeter) zehrte. Andererseits vollzog sich in der ökonomischen Theorie kurz nach dem Erscheinen des Kapitals ein radikaler Paradigmenwechsel, der (unabhängig von den unliebsamen Antworten) schon die klassische Frage nach den gesellschaftlichen Ursprüngen und Formen der Wert(ab)schöpfung verunmöglichte. Das neoklassische Paradigma, das seinen Aufstieg in den 1870er Jahren begann und die akademische Wirtschaftswissenschaft bis heute bestimmt, markierte gegenüber der klassischen Ökonomie einen radikalen Perspektivwechsel, der die auf der Smith-Ricardo-Marx-Linie entwickelten klassischen Problemstellungen suspendierte. Im Horizont des neuen Paradigmas, das auf einer „imaginären Anthropologie“ (vgl. Bourdieu 1998a, 168ff.) des rationalen Marktakteurs und der Grenznutzenlehre aufbaute, waren Fragen nach den gesellschaftlichen

25 Weber wies diesbezüglich auf die Sinnlosigkeit karitativer Appelle hin: „Rationale ökonomische Vergesellschaftung ist immer Versachlichung […], und einen Kosmos sachlich rationalen Gesellschaftshandelns kann man nicht durch karitative Anforderungen […] beherrschen. Der versachlichte Kosmos des Kapitalismus [] bietet dafür gar keine Stätte. An ihm scheitern die Anforderungen der religiösen Karitas nicht nur […] an der Widerspenstigkeit und Unzulänglichkeit der konkreten Personen, sondern sie verlieren ihren Sinn überhaupt.“ (Weber 1984, 353)

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Bedingungen der zur überhistorischen Universalie erklärten Wirtschaftsweise ebenso ausgeschlossen wie die nach der gesellschaftlichen Quelle der Wertschöpfung und nach den Zusammenhängen von Kapital und (Lohn-)Arbeit in den Produktions- und Distributionsprozessen. Insgesamt wurden gesellschaftstheoretische und produktionsbezogene Implikationen der klassischen Theorie in einer individualistischen und tauschfixierten Perspektive durch Fragen nach subjektiven Faktoren der Preisbildung ersetzt.26 Wie tief der Einschnitt im Kontinuum der ökonomischen Theorieentwicklung war, zeigt sich darin, dass auch ein unvoreingenommener Rückgriff auf nominelle Säulenheilige wie Adam Smith und David Ricardo unmöglich wurde. Selbst eine Neuauflage von Smiths Wealth of Nations bedurfte 1978 eines einleitenden Beipackzettels mit nachdrücklicher Warnung, dass der Autor auf der Suche nach einem objektiven „Wertmesser […] in die Irre [geriet]“, damit „Ricardo verwirrte“ und „Marx’ Ideologie ein gefundenes Fressen“ bot (Recktenwald 1978, LV). Am Ende des „Holzwegs“ (ebd.) stünden „Marx’ absurde“ Visionen (ebd., LXXIII), etwa der „Ausbeutung“, die „einfach unhaltbar“ seien (ebd., LV, Fn. 5). Gegen die Verkehrung der „friedliche[n] Botschaft“ Smiths „zum inhumanen Klassenkampf bei Karl Marx“, der „verdreht von Smith beeinflußt“ (ebd., XV) sei, könne nur Smiths legitimes „Erbe, die neoklassische Theorie, Eckpfeiler der gesamten Disziplin“ (ebd., LXXII), beim „eiligen Leser“ die „Verwirrung und Verdrehung vermeiden“, da dort alle Analysen, die Smith den Fragen der Wertschöpfung und den Klassenverhältnissen gewidmet hatte, „völlig überflüssig für seine Theorie der Marktwirtschaft“ seien (ebd., LV). Paradigmenwechsel können in diesem Sinne bestimmte Fragen und Analyseraster a priori ausschließen. Zwar kehrten in Krisenphasen, in denen die Diskrepanz zwischen ökonomischen Realitäten und neoklassischen Modellen offenkundig wurde, Probleme, die „verstohlen […] in den Unterwelten von Karl Marx“ (Keynes 1936, 28) weiterlebten, an die Oberfläche ökonomischer Debatten zurück und gerade die Konjunktur- und Krisentheorie verdankte Marx wichtige Anstöße (vgl. Schumpeter 1971, 336ff.), doch obwohl (oder gerade weil) Versatzstücke marxscher Analysen in den mit dem neoklassischen Paradigma leichter zu vereinbarenden ‚Adaptionen‘ von Schumpeter (vgl. v.a. 1961) oder Keynes (1936) indirekt in die Lehrbuchöko-

26 Vgl. kritisch dazu: Bourdieu 1998a, 162-204; 2000a, 7-31; Thielemann 1997; Heinrich 1991, 57-71; Henning 2005, 130-152. Es ist eine eigene Frage, in welchem Zusammenhang der Paradigmenwechsel mit Marx’ Theorie steht. Auffällig ist, dass die für den Paradigmenwechsel grundlegenden Werke wenige Jahre nach dem Kapital (1867) erscheinen. W. S. Jevons (1871), Carl Menger (1871), Leon Walras (1874) markieren die Scheidelinie von ‚Klassik‘ und ‚Neoklassik‘. Alfred Marshall (1890), der Lehrer von Keynes, vollzog dann die Systematisierung und Kanonisierung. Aus der Koinzidenz der Daten zu folgern, dass der „Zusammenhang [...] kaum zu bestreiten“ sei (Henning, 2005, 131), ist übertrieben, zumindest sollte man ihn nicht als intendierte Ideologieproduktion interpretieren. Da die konkurrierenden Optionen der objektiven (Arbeits-)Werttheorie und der subjektiven Werttheorie (Nutzenkalkül) aber lange parallel existierten und bis in die 1860er Jahre der Ricardianismus dominierte, ist „[e]rklärungsbedürftig […,] warum sich diese Theorie ausgerechnet in den [18]70er und 80er Jahren […] durchsetzte, warum nicht früher oder später“ (Heinrich 1991, 57ff.). Sicher ist, dass sich neben der sich aus der objektiven Werttheorie ergebenden Konsequenz der Ausbeutung viele andere ‚unangenehme‘ Konsequenzen, v.a. die kapitalistische Krisendynamik, mit dem neoklassischen Paradigma ‚erledigten‘ (wenn auch nur in der Theorie). Vgl. auch Ziegler 1998.

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nomie Eingang fanden, blieb eine systematische Wiederanknüpfung an die klassische Ökonomie und Marx weiterhin blockiert (vgl. Heinrich 1991, 57ff.; Ziegler 1998). Auch in der Soziologie fand eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit Marx, die Fragestellung und Methodik seiner Analysen systematisch nachvollzogen und geprüft hätte, außerhalb spezialisierter Zirkel kaum statt. Wo die Soziologie sich mit Marx beschäftigte, meist zwecks handstreichartiger Totalwiderlegung, verwendete man Zerrbilder einer „populären Ausdeutung“ (Schelsky 1965, 339), die wohl selbst der reflexionsärmste ‚Vulgärmarxist‘ nicht vertreten hätte (s.u. V.2). Hinzu kam, dass die Soziologie nach Weber – der in dieser Hinsicht noch einen erheblichen Reflexionsaufwand betrieb (vgl. Weber 1968, 384-399) – im Sinne einer schlecht verstandenen wissenschaftlichen Arbeitsteilung in ökonomischen Fragen oft schlicht die je geltende neoklassische Lehrmeinung übernahm, vor deren Hintergrund marxsche Analysen weitgehend unverstanden bleiben mussten.27 Damit ging eine wesentliche Qualität der marxschen Theorie verloren, nämlich der Ansatz, ökonomische Prozesslogiken als gesellschaftliche Zusammenhänge zu analysieren und aus der soziologischen Analyse der Ökonomie Interdependenzen der Wirtschaftsform mit anderen Charakteristika der Gesellschaftsformation zu erschließen. Marx’ Problemstellungen und Erklärungsansätze fielen gleichsam zwischen einer Ökonomie, die ihre gesellschaftstheoretische und historische Reflexionsebene eingebüßt hatte, und einer Soziologie, die sich nicht mehr selbständig mit ökonomischen Fragen auseinandersetzte, hindurch. Indem Marx’ Analysen eine wissenschaftliche Auseinandersetzung weitgehend verwehrt blieb, konnte der Name Marx umso mehr als Projektionsfläche in öffentlichen Debatten fungieren, wahlweise um ihm die Verantwortung für den Staatsozialismus zuzuschreiben oder um ein Unbehagen an problematischen Erscheinungen des Kapitalismus auszudrücken. Wie schon Hirsch und Roth (1986) feststellten, bewegte sich die Konjunktur der Marxpopularität in letzterem Sinne in umgekehrtem Verhältnis zum ökonomischen Konjunkturverlauf. In der aktuellen Wirtschaftskrise nach dem Platzen der Immobilienblase baute sich prompt die jüngste „Marx-Bubble“ auf (vgl. Nuss/Steckner/Stützle 2008). Während der Dietzverlag seine Bestände des Kapitals ausverkaufte, überlegte ein entnervter SPD-Finanzminister – mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem die Partei in Bad Godesberg ihren Abschied von Marx besiegelt hatte –, ob „gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind“.28 Marx feierte sein ‚Comeback‘ in allen Zeitungssparten. Der Financial Times galten manche Analysen des ökonomischen Klassikers als „remarkably fresh to this day“29 und die Boulevardpresse entdeckte den „Charme“ des Trierer Philosophen: „Wer im Elend dieser Tage bei Marx nach Antworten sucht, liegt jedenfalls nicht

27 Vgl. zum Problem der disziplinären Spaltung von Soziologie, Ökonomie und Historiographie: Bourdieu 1998a, v.a. 162-173; Braudel 1992, 99-131; zur Übernahme der Neoklassik in die Soziologie Henning 2005, v.a. 190-250. 28 „In einen Abgrund geblickt“, Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Spiegelgespräch mit Thomas Tuma und Wolfgang Reuter. In: Der Spiegel 40/2008 vom 29.9.2008. Nach einigem Sinnieren über „Dialektik“ und „Antithese“ fand Steinbrück aber auf den bewehrten „Mittelweg der sozialen Marktwirtschaft“ zurück. 29 Tony Barber: „Red Alert. Communism has long been discredited – but is there still mileage in the theories of Marx and Engels?“ In: Financial Times vom 16.5.2009.

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falsch.“30 Solche Konjunkturen sagen viel über Mentalitätslagen und wenig über marxsche Analysemodelle, die hier ebenso wenig diskutiert wurden, wie in den Flauten der Marxkonjunktur, die folgen, sobald der Akkumulationsmotor wieder auf Touren kommt – worauf man sich nach Marx verlassen kann (s.u. III.2). Marx wurde nicht als Theoretiker behandelt, sondern als das, was auch staatsozialistische Ideologien aus ihm machten, als Prophet: „Er beschrieb die Gesellschaft, in der wir heute leben - die jetzige Finanzkrise eingeschlossen“.31 Selbstverständlich konnte Marx in den 1860er Jahren die heutige Gesellschaft und die jüngste Finanzkrise nicht ‚beschreiben‘. Allerdings lassen sich mit seinem analytischen Modell der kapitalistischen Wirtschaftsform eine Reihe von Phänomenen, die die Gegenwartsgesellschaft betreffen, erklären. Wo die Auseinandersetzung mit Marx zu mehr führen soll, als zum Auffinden oberflächlicher Gegenwartsanalogien in entsprechenden Aufmerksamkeitskonjunkturen müsste das Erkenntnisinteresse diesem Modell und den damit möglichen Analysen und Schlussfolgerungen gelten. Ein solches Interesse liegt der längerfristigen Marx-Renaissance zugrunde, die sich in den Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren abzeichnet. Einerseits ließ das Zusammenspiel staatlicher De-Regulierungen und neuer ‚Globalisierungsschübe‘ in Folge der Auflösung des staatsozialistischen Lagers und des ökonomischen Aufstiegs der ‚Schwellenländer‘ manchem Aspekt des marxschen Modells wieder unmittelbare lebensweltliche Evidenz zuwachsen (vgl. Rehberg 2004; 2005 & 2007), zumal schon seit Ende der 1990er Jahre die Krisendynamik innerhalb dieser Akkumulationsschübe deutlich war. Andererseits trug gerade der oft beschworene ‚Tod des Marxismus‘ und der Zerfall der marxistischen Sekten dazu bei, dass man sich dem Klassiker Marx jenseits ideologischer Lagerbildungen wieder nähern konnte. Neben der Rückkehr der Kapital-Lesekreise im studentischen Milieu sowie einer Reihe neuer Einführungstexte (vgl. u.a. Rohbeck 2006) und Gegenwartsanalysen (vgl. u.a. Altvater 2005) von ‚altgedienten‘ Marxkennern, entstanden in diesem Kontext zahlreiche Arbeiten, die, aus anderen Theorieschulen oder Forschungszusammenhängen kommend, Marx’ Rolle für den soziologischen Diskurs der Moderne (Nassehi 2006a, vgl. v.a. 73f., 80ff., 94f., 263f., 327f.) frei von alten Vorurteilen neu bestimmten oder ihn für Problemfelder fruchtbar zu machen suchten, in denen Marx bislang allenfalls als Negativfolie zur Ablehnung von Ökonomismus und Determinismus diente. Im Feld der Arbeits- und Organisationssoziologie – aus dem Marx allerdings nie ganz verschwunden war und in Spezialfragen technisch-organisatorischer Innovationsdynamiken stets ein Bezugsautor blieb (vgl. u.a. Türk/Lemke/Bruch 2002) – entstanden eine Reihe von Studien, die jüngere Veränderungen in der Arbeitswelt (Stichwort ‚Subjektivierung von Arbeit‘; s.u. IV.7), welche bislang eher zur ‚Marxwiderlegung‘ herhielten, unter Rückgriff auf marxsche Analyseinstrumente erschlossen (vgl. v.a. Pongratz/Voß 2003). Selbst die Kommunikations- und Mediensoziologie, ein Feld in dem Marx bislang denkbar fern lag, entdeckte nun ihren Media-Marx (Schröter/ Schwerin/Stäheli 2006). Diese ersten Ansätze zu einer soziologischen Wiederaneig-

30 Ralf Dorschel: „Hatte Karl Marx doch Recht?“. In: Hamburger Morgenpost vom 11.10.2008. 31 Franziska Augstein: „Im Weltwirtschaftsgewitter. Marx ist aktuell“. In: Süddeutsche Zeitung vom 26.11.2008.

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nung von Marx dürften der Disziplin gut tun, wenn sie zwischen essayistischen Augenblicksdeskriptionen und selbstreferentieller Theorieproduktion, die sich in autopoietischer Schließung nur mehr mit endogenetisch erzeugten Bezugsproblemen beschäftigt, wieder zu einer theoretisch und methodisch reflektierten, aber gleichwohl gegenstandsbezogenen Gesellschaftsanalyse finden will. Allerdings müssen dabei auch Probleme und Grenzen der jüngsten Marxkonjunktur reflektiert werden, die hier an zwei exemplarischen Publikationen verdeutlicht werden sollen. In vielen Neuanknüpfungen an marxsche Texte, setzt sich letztlich eine Rezeptionsstrategie fort, die schon die ‚Widerlegungen‘ der Nachkriegszeit kennzeichnete. Die Theorieangebote werden eher als Phänomendeskriptionen denn als analytische Instrumente begriffen – „sie beschreiben Gegenwart“ (Schröter/Schwerin/Stäheli 2006, 11). Nun macht es fraglos einen Teil des Lektürereizes aus, dass Marx in den 1840er Jahren über Telegraph, Dampfschiff und Eisenbahn in einer Weise zu schreiben vermochte, dass man 160 Jahre später meint, von Internet, Flugzeug und TGV zu lesen. Jedoch kann die Faszination für solche Analogien auch dazu führen, dass die Schriften im gleichen Zug in ihrem Potenzial für eine Beschreibung der Gegenwart überschätzt und hinsichtlich ihrer Erklärungskraft unterschätzt werden. Überschätzt werden sie, wenn Texte von Marx zu Assoziationsräumen werden, in denen durch wechselnde Projektion der Gegenwart auf Texte (die einen anderen Kontext haben) und der Texte auf eine Gegenwart (die der Autor nicht kannte) suggestive Kurzschlüsse hergestellt werden. Die literarischen Potenziale und analytischen Grenzen dieser Technik werden nirgends deutlicher als in den Arbeiten von Deleuze und Guattari, die insofern einen passenden Abschluss von Media-Marx bilden (vgl. Deleuze/Guattari 2006). Unterschätzt wird das gesellschaftsanalytische Potenzial, da der systematische Kern von Marx’ wissenschaftlichen Arbeiten, die Konstruktion eines idealisierten Funktionsmodells der kapitalistischen Wirtschaftsform, gar nicht berührt wird. Vielmehr wird die Annahme, dieser Teil des Werkes sei längst ‚widerlegt‘ und bedürfe keiner Diskussion mehr, schlicht vorausgesetzt.32 Übergangen wird, dass Marx nur auf Grundlage dieses Modells so schreiben konnte, als hätte er Phänomene gegenwärtiger Gesellschaften bereits gekannt. Der Eindruck, der Kapitalismus nähere sich erst am Beginn des 21. Jahrhunderts der Gestalt, die Marx darstellte (vgl. Altvater 2005; Fetscher 2000; Hobsbawm 2005), liegt nicht in einer ‚prophetischen Gabe‘ des Autors begründet, sondern in einer analytischen Konstruktionsarbeit, die Zusammenhänge begreifen und nicht Gegenwart beschreiben wollte – Marx hatte keine

32 „Ist nicht spätestens seit 1989/90 die ganze[!] mit dem Namen ‚Marx‘ verknüpfte […] politisch-ökonomische Analyse der historischen Falschheit überführt? […] Die Herausgeber teilen diese Einwände […] uneingeschränkt, nicht aber zugleich die Annahme, damit sei das Werk von Marx in toto erledigt.“ (Schröter/Schwerin/Stäheli 2006, 12). Wenn man aber den theoretischen Gehalt von Marx’ Werk, der von seinen politisch-ökonomischen Analysen nicht zu trennen ist, für obsolet hält und Marx nur als essayistischen ZeitBeobachter gelten lässt, stellt sich die Frage, warum man sich ausgerechnet mit Marx beschäftigen soll. Der Fairness halber sei bemerkt, dass einige Beiträge des erwähnten Bandes weit über das in der soziologischen Marxrezeption übliche Maß an systematischer Lektüre hinausgehen, etwa wo sie den medientheoretischen Gehalt der Waren- und Geldanalyse ‚entdecken‘ (Scholz 2006; Gernalzick 2006). Die Formenanalyse ist bei Marx aber nur die grundbegriffliche Ouvertüre und wenn man bei diesem Einstieg stehen bleibt, könnte man ebenso gut (oder besser) Simmel (1989a) lesen.

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‚Visionen‘, sondern ein Funktionsmodell. Das heißt noch nicht, dass Marx’ analytische Darstellungen ‚wahr‘ sind, sehr wohl aber, dass sie eine systematische Prüfung verdienen. Zugespitzt bliebe einer Soziologie, die diese systematische Prüfung unterließe, nichts übrig, als in einem Moment zu sagen, die marxsche Theorie sei wahr, weil sie den Kapitalismus als krisenhaft beschreibt und gerade eine Krise zu verzeichnen ist, um im nächsten Moment zu sagen, sie sei falsch, da die Wirtschaft ja gerade wieder prosperiert. Selbstverständlich gab es in der jüngsten Marxrenaissance auch eine Reihe von Publikationen, die sich um systematische Rekonstruktionsarbeit bemühten. Neben den Arbeiten von Heinrich (vgl. 1991; 2004) war es das Verdienst von Henning (vgl. 2005; 2006a; 2007), weit über übliche Verteidigungen der marxschen Theorie hinausgehend verschiedene Schichten ihrer Verdrängung und Verdrehung in politischen, ökonomischen, soziologischen und philosophischen Diskursen seit dem 19. Jahrhundert in einer systematischen Dekonstruktionsarbeit abzutragen, um dahinter die Konstruktionsprinzipien und Gehalte der marxschen Theorie wieder freizulegen. Problematisch ist jedoch, dass Henning, wohl aus einer Überreaktion gegen manche Absurditäten im Marxbild der untersuchten Disziplinen, mit 130 Jahren Marxrezeption auch 130 Jahre sozialwissenschaftlicher Entwicklung oft pauschal verwirft und dazu neigt, zwischen Verdikten und analytisch begründeten konstruktiven und daher weiterführenden Kritiken nicht hinreichend zu differenzieren. Ebenso ausgeblendet wird, dass Ansätze, deren Marxbild man zu Recht kritisieren kann, in anderen Punkten ein Verständnis von Aspekten der Gegenwartsgesellschaft ermöglichen, das von Marx ausgehende Analysen sinnvoll ergänzen könnte und vice versa. Wenn zudem Untersuchungen der ideellen, kulturellen, politischen etc. Bedingungen der Genese der kapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer historischen Variationen pauschal mit dem Verdikt des ‚Idealismus‘ abgewiesen werden, droht dies in ein Materialismusverständnis zurückzuführen, das Marx gerade überwinden wollte. Im Einzelnen trifft Hennings (vgl. 2005, 190-410) Idealismus-Vorwurf etwa Simmel, Schelsky, Luhmann, aber auch Weber, Sombart, Bourdieu, Foucault etc. Bei Weber und Sombart gründet sich das Idealismusverdikt allein darauf, dass sie nach kulturellen Dispositionssystemen fragen, die die Entstehung des Kapitalismus historisch beförderten und in an religiösen Weltbildern orientierten Praktiken eine Quelle der historischen Ausformung der Wirtschaftsform ausmachen (vgl. ebd., 234ff.). Dies aber ist auch im Kontext eines historischen Materialismus eine wichtige, von Marx selbst aufgeworfene Frage (s.u. II.1 & IV). Schließlich ging es Marx – ebenso wie Weber (vgl. nur Weber 1986, 205f.) – gerade nicht um eine Entgegensetzung von ‚Materialismus‘ und ‚Idealismus‘, sondern um eine Analyseperspektive, die ideelle, kulturelle und ökonomischen Formen im gesellschaftlichen Zusammenhang erfasst. So wichtig Hennings Arbeit ist, um eine sozialwissenschaftliche Wiederaneignung marxscher Forschungsfragen und Analyseinstrumente jenseits verfestigter Marx-Stereotype zu ermöglichen, so sehr blockiert dieses Vorgehen eine Marxrenaissance, die über eine ‚Rückkehr zu den Ursprüngen‘, die sich mit der Gewissheit der besseren Marxkenntnis gegen die übrige Sozialwissenschaft abkapselt, hinausreicht. Dies kann auch für eine fruchtbare Weiterführung marxscher Analysen kaum sinnvoll sein. Marx hat mit der Form seiner Fragestellungen im 19. Jahrhundert ein neues „epistemologisches Feld“ eröffnet (Foucault 2001, 753; vgl. Wallerstein 1995,

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7f.), das zahlreiche, keineswegs auf (s)eine Theorie beschränkte Varianten sozialwissenschaftlicher Forschung ermöglicht und dabei auch eine Grundlage bietet, um die epistemologischen Grenzen, in denen weite Teile des sozialwissenschaftlichen Denkens (einschließlich vieler Marxismen) befangen blieben, „kaputt zu denken“, wie Wallerstein (vgl. 1995, v.a. 181-323) dies im Anschluss an Marx und Braudel versuchte. Das sollte aber nicht vergessen machen, dass auch Marx’ Werk in historischen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Position, die es in diesen einnahm, bedingt ist. Wie das Manifest der kommunistischen Partei angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse und eines veränderten theoretischen Instrumentariums zu ihrer Analyse noch zu Marx’ Lebzeiten „ein geschichtliches Dokument“ (MEW 18, 96) geworden war, ist auch das Kapital heute ein historisches Dokument, bei dem eine Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Vergesellschaftung und ihrer historischen Genese, nicht stehen bleiben kann. Selbst wenn Marx’ analytisches Instrumentarium weiterhin geeignet ist, um „die Gesellschaft, nach ihrer ökonomischen Struktur betrachtet“ (MEW 25, 827), hinsichtlich basaler Prozesslogiken und Entwicklungstendenzen zu verstehen, wäre dies doch, wie Marx stets betonte (vgl. u.a. ebd., 800), keine hinreichende Voraussetzung, um konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und die Auswirkungen, die diese wiederum auf die Ausprägung der konkreten Form der Kapitalakkumulation haben, zu begreifen. Marx bietet ‚nur‘ die abstrakte Theorie eines bestimmten Typus historischer Produktionsverhältnisse, aus dem sich einige Schlussfolgerungen ableiten lassen, wie sich andere Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens (kulturelle, politische und juristische Formen, die Modi der Wissensproduktion und der historische Ausformung von Subjektivität etc.) entwickeln könnten, insofern sie den durch die Produktionsweise definierten Bedingungen entsprechen. Wenngleich Marx diesbezüglich eine Reihe zutreffender Prognosen formulierte (s.u. IV), bietet er keine umfassende Gesellschaftstheorie, die geeignet wäre, diese Dimensionen der gesellschaftlichen Verhältnisse – denen Marx ja eine relative Autonomie zusprach (s.u. V.3) – in ihren Eigendynamiken und in ihren konkreten Ausprägungen zu analysieren. Eine solche Analyse ist aber gerade nach Marx auch unabdingbar, um die je konkrete Ausformung der kapitalistischen Ökonomie zu verstehen, die sich erst in Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Faktoren ergibt. Das Kapital, das Marx analysiert, ist ja kein mystisches Subjekt und kein irgendwie gearteter Entwicklungsautomat, der aus sich selbst konkrete gesellschaftliche Formen und Prozesse heraussetzen würde, es ist ein gesellschaftliches Verhältnis, ein in sachliche Formen gekleidetes System von Relationen zwischen aktiven Individuen „in Beziehung aufeinander“ (MEW 42, 608; vgl. v.a. MEW 25, 822-839). In diesem Sinne ist das Kapitalverhältnis stets von einer Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen abhängig, die erst in historischen Konflikten und Kämpfen ihre Ausprägung finden. Für die Analyse dieser Beziehungen und Kämpfe ist es unerlässlich, Perspektiven einzubeziehen, die sich an marxschen Perspektiven und Analysen abarbeiten, statt sie einfach zu übernehmen,33 um mit Marx und gegen Marx marxsche Problem-

33 Allein dies wäre auch im Sinne von Marx, der sich noch zu Lebzeiten gegen dogmatische Lesweisen seiner Arbeiten verwahrte und sich vom beginnenden Marxismus abgrenzte – „je ne suis pas marxiste“ (MEW 22, 69).

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stellungen weiter zu verfolgen. Eben dies möchte die vorliegende Untersuchung anhand zweier wichtiger Ansätze tun. Es seien noch einige Bemerkungen zur Vorgehensweise vorangestellt. Es handelt sich nicht um eine Rezeptionsgeschichte, die die Marxrezeption bei Foucault und Bourdieu oder die Verdrängung dieser Rezeption in der Rezeption der Texte von Foucault und Bourdieu systematisch analysieren will. Es genügt vielmehr, entsprechende Rezeptionsverläufe anzuskizzieren. Es handelt sich auch nicht um ein ‚textexegetisches‘ Projekt. Die diskutierten Ansätze haben den fragmentarischen Charakter eines anwendungsbezogenen work in progress: Sie verlassen ausgetretene Erkenntnispfade, versuchen Forschungsfelder neu zu kartieren und stellen dabei immer wieder fest, dass sie sich verlaufen oder verzeichnet haben, um noch einmal anders anzusetzen. Das führt zu grundlegenden Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Inkohärenzen innerhalb der jeweiligen Analysen und Theorieansätze, vor deren Hintergrund auch ein textexegetisches Projekt nie etwas anderes sein könnte, als eine mögliche und immer selektive Interpretation, die bestimmte Linien der Argumentation oder der Problemgenese pointiert und andere vernachlässigt. In dieser Arbeit werden einige Argumentations- und Entwicklungslinien problembezogen diskutiert und konturiert, aber es wird weder nach der ‚wahren Lehre‘ von Marx, Foucault oder Bourdieu gesucht, noch wird ein unterstellter konziser Entwicklungsgang ihrer verschiedenen Denk(um)wege (re)konstruiert.34 Schließlich geht es auch nicht um einen systematischen Theorievergleich, in dem Begriffe von Foucault, Bourdieu und Marx gegeneinander gehalten werden, um ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen, auch wenn solche Aspekte eine Rolle spielen werden. Was diese Arbeit primär versucht, ist einen von den drei Autoren geteilten Gegenstand zu erschließen, indem verschiedene Analyseraster, die hinreichende Gemeinsamkeiten aufweisen, um eine Verknüpfung zu gestatten, in ebenso konstruktiver wie experimenteller Form verschaltet werden. Da im Zentrum dieser Arbeit eine spezifische Problemstellung steht – die Genese, die Funktionsprinzipien und die Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung –, werden in diesem Kontext bei den Autoren nur angedeutete und keineswegs ausgeführte Zusammenhänge weiterverfolgt, die innerhalb der jeweiligen Analysen oft nicht den systematischen Stellenwert hatten, der ihnen hier verliehen wird. Schon deshalb ist der Anspruch nicht der einer buchstabengetreuen Wiedergabe, vielmehr geht es darum, die Ansätze im Bezug auf das Problemfeld so stark wie möglich zu machen. Die Frage, an der diese Arbeit bemessen werden sollte, ist daher auch nicht in erster Linie, ob ihre Interpretationen in jedem Punkt ‚richtig‘ sind, sondern ob sie in Bezug auf das Problemfeld möglich, sinnvoll und erkenntnisfördernd ausfallen. Eine letzte Vorbemerkung sei zum sprachlichen Duktus der Arbeit erlaubt. Die teilweise ‚technizistisch‘-kalte Darstellung bestimmter Zusammenhänge kapitalisti-

34 Entsprechende Untersuchungen werden hier als ein Hintergrund vorausgesetzt. Vgl. zu Marx v.a. die vorzügliche systematische Rekonstruktion der Verschiebungen und Bruchstellen sowie der noch in vielen Bereichen unausgeschöpften Potenziale der marxschen Theorie bei: Heinrich 1991; etwas zu stark um die (Re)konstruktion einer konzisen Theoriegenese bemüht, aber gleichwohl einer der besten Überblicke zu Foucault stammt von Lemke 1997. Eine der besten Durchdringungen der Binnenlogik von Bourdieus Theorie (leider ohne Marx-Bezüge) bietet: Schwingel 1993.

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scher Vergesellschaftung, bei denen man normative Urteile erwarten würde, mag manchen Analysen eine ‚zynisch‘ erscheinende Form geben – die ja auch den Texten von Marx, Bourdieu und Foucault oft vorgehalten wurde (vgl. Honneth 1989; 1999; Habermas 1988a). Aber in den Sozialwissenschaften sollte die Frage nicht lauten, ob eine Darstellung ‚schön‘ oder normativ wünschenswert ist, sondern ob sie ihren Gegenstand erfasst. Gegen alle sozialphilosophischen Klagen über Reduktionen des vermeintlich ‚Höheren‘ auf das ‚Niedere‘ oder über die Depotenzierung ‚normativer Gehalte‘ sei der im Einzelnen immer streitbare, in punktuellen Formulierungen aber kaum zu übertreffende Sombart zitiert: „Die Tatsache, daß ein großer Teil des frühkapitalistischen Reichtums auf der rücksichtslosesten Ausplünderung […] aufgebaut ist, ist so offenkundig, daß man nur den Mut haben muß, sie festzustellen. Gewiß gilt für diese Seite der kapitalistischen Entwicklung […] das wilde Wort, mit dem Marx das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation abschließt: ‚Wenn das Geld, nach Augier, ‚mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt‘, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.‘ Nur daß für den Geschichtsforscher nicht der geringste Grund vorliegt, sich darüber zu entrüsten. Staaten werden nicht in der himmelblauen Atmosphäre von Damentees gegründet und Kulturblüten gedeihen mit Vorliebe in Sümpfen […]. Ekelhaft wird die Sache erst dann, wenn man die Greueltaten der Vergangenheit (und Gegenwart!) beschönigen will und Geschichte in Schäferspiele umlügt, etwa von der ‚süßen Mission des Handels‘ (‚doux commerce‘) zu fabeln anfängt, wie es seit dem 18. Jahrhundert Mode wurde.“ (Sombart 1922, Bd. II.2., 1073)

Dies gilt auch im Bezug auf zahllose jüngere soziologische Darstellungen der modernen Gesellschaft und ihrer Genese, in denen die Vermischung der Analyse mit normativen Implikationen dazu führt, dass „fast nie über die soziale Welt gesprochen wird, um zu sagen wie sie ist, sondern fast immer, um zu sagen, wie sie sein sollte“ (Bourdieu 1993, 39). Gegen die daraus resultierenden normativen Erkenntnisblockaden, die in dieser Arbeit noch verschiedentlich zu kritisieren sein werden, kann das obige Sombart-Zitat als ein Wahlspruch genommen werden.

2 Struktur und Aufbau der Studie

Im ersten Teil der Untersuchung (II.) soll es zunächst darum gehen, grundlegende Gemeinsamkeiten in den Forschungsgegenständen und den Analysemethoden von Marx, Bourdieu und Foucault herauszuarbeiten. Der relativ umfangreiche theoriesystematische Vorlauf ist notwendig, um einerseits die Beziehungen und Vergleichsperspektiven zwischen diesen im Einzelnen recht unterschiedlichen Ansätzen zu bestimmen, andererseits aber auch, um zahlreiche Missverständnisse auszuräumen, denen jede dieser Perspektive im Einzelnen und erst recht ihr Verhältnis zueinander in der soziologischen Rezeption oft ausgesetzt waren. Dazu wird zunächst (II.1) die theoretische Bestimmung des Gegenstandes ‚Kapitalismus‘ in den einzelnen Ansätzen rekonstruiert. Bei Marx wird dabei vor allem die Form, in der er seinen Gegenstand definierte, zu klären sein. Bei Foucault und Bourdieu wird stärkeres Gewicht darauf gelegt herauszuarbeiten, in welchem Sinne die kapitalistische Gesellschaftsformation bzw. konkrete Formen kapitalistischer Vergesellschaftung überhaupt ein zentraler Gegenstand ihrer Forschung waren. Ein zweiter Abschnitt (II.2) dient dazu, grundlegende Konturen der drei Forschungsprogramme zu skizzieren, die hinter allen heterogenen Einzelanalysen der Autoren einen roten Faden der Untersuchungen bilden. Dabei werden auch die Bestimmungen wesentlicher Begriffe sowie die Beziehungen, in die sich Foucault und Bourdieu selbst zur marxschen Theorie stellten, aufgezeigt. Im Anschluss (II.3) werden zentrale Theoriedispositionen herausgearbeitet, um die grundlegenden Kategorien und Formen des Denkens herauszustellen, in denen die Analyseperspektiven organisiert sind. Dabei lassen sich eine ganze Reihe von „Familienähnlichkeiten“ (i.S. von Wittgenstein 1984, 278ff.) aufweisen, die unter dem Begriff ‚Theorien der Praxis‘ subsumiert werden. Hier ist auch herauszuarbeiten, inwiefern diese Ansätze geeignet sind, grundlegende Dichotomien in den Sozialwissenschaften aufzulösen. Abschließend (II.4) wird das spezifische Verständnis einer kritischen Wissenschaft zu klären sein, das Marx, Foucault und Bourdieu miteinander teilen. Dies wird einerseits von einem normativen Kritikverständnis, wie es v.a. in der jüngeren Frankfurter Schule vertreten wurde, abgegrenzt, andererseits wird aufgezeigt, warum das, was bei vielen Rezipienten als dem kritischen Duktus der Analysen widersprechender ‚Funktionalismus‘ und ‚Determinismus‘ missverstanden wurde, gerade eine Form funktionaler Analyse darstellt, die aufgrund ihrer theoriesystematischen Anlage als kritisch verstanden werden kann. Der daran anschließende Teil (III) dient einer Rekonstruktion des marxschen Modells einer kapitalistischen Ökonomie im ideellen Durchschnitt, wie es in den

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Texten zur Kritik der Politischen Ökonomie entwickelt wurde. Auch dieser Abschnitt muss ausführlich ausfallen, denn obwohl es sich hier um Marx’ unvollendetes Hauptwerk handelt, sind gerade diese Arbeiten in der soziologischen Rezeption außerhalb marxistischer Fachzirkel kaum oder nur in äußerst reduzierter und verzerrter Form berücksichtigt worden. Gegen den häufigen Vorwurf, Marx’ Theorie sei eine „Extremreduktion der Gesellschaft auf Wirtschaft“ (Luhmann 1988a, 235), ist herauszuarbeiten, dass es sich um ein soziologisch voraussetzungsreiches, gesellschaftstheoretisches Analysemodell handelt, welches – weit davon entfernt Gesellschaft auf Ökonomie zu reduzieren – gerade umgekehrt die gesellschaftliche Formen und sozialen Verhältnisse aufklären soll, die den besonderen ökonomischen Prozesslogiken und Funktionsmechanismen moderner kapitalistischer Gesellschaften vorausgesetzt sind und ihnen entsprechen. Aus dieser soziologischen Analyse der Wirtschaftsform und der ihr vorausgesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse sind zahlreiche Entwicklungstendenzen ableitbar, die für weitere Entwicklungen realer kapitalistischer Vergesellschaftungsformen seit Marx (entgegen aller Rede von einer historischen Widerlegung) oft recht präzise Prognosen und Erklärungen ermöglichen. Um dies im Einzelnen zu erschließen, muss aber Marx’ Konstruktion begrifflicher Zusammenhänge in ihren verschiedenen Stufen der Idealisierung und Konkretisierung systematisch nachvollzogen werden. Damit gelangt man allerdings nicht zu einer dialektischen Deduktionsmaschine, aus der sich in irgendeiner Form konkrete historische Entwicklungslinien oder konkrete gesellschaftliche Formen (der Arbeitsorganisation, des Konsums, der Regierung, der Subjektformung etc.) ableiten ließen, sondern lediglich zur idealisierten Darstellung einer dynamischen gesellschaftlichen Prozesslogik, die sich unter der Bedingung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse einstellt. Da diese Prozesslogik und die sie hervorbringenden gesellschaftlichen Verhältnisse aber eine Reihe widersprüchlicher Tendenzen einschließen, entscheidet es sich erst im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren in konkreten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, in welche Richtung und in welcher Form sich einzelne Tendenzen auswirken und welche konkrete historische Form der kapitalistische Akkumulationsprozess und die ihm entsprechenden Formen der Vergesellschaftung jeweils annehmen. Um dies zu verstehen, sind konkrete historische und soziologische Analysen und Theorieansätze erforderlich. In den folgenden Teilen der Arbeit (IV & V) soll es darum gehen herauszuarbeiten, wie sich in diesem Problemkontext die genealogischen Analysen Foucaults und Bourdieus Theorien und Analysen dynamischer gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse mit marxschen Ansätzen verbinden lassen. Dabei geht es weniger um eine bloße Zusammenfassung von Analysen der jeweiligen Bezugsautoren, vielmehr soll auch die Anwendung ihrer Analyseraster auf Problemfelder, Zusammenhänge und historische Abschnitte kapitalistischer Vergesellschaftung, die bei ihnen nicht oder nicht hinreichend systematisch analysiert worden sind, eine umfassendere Skizze des Gegenstandsbereichs der Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung ermöglichen als sie die Bezugsansätze bieten. Der genaue Argumentationsgang dieser Teile der Studie wird jeweils in einer einleitenden Skizze erläutert. Im Zusammenhang mit Foucault werden dabei neben dem Beitrag, den seine Analysen der Disziplinarpraktiken zum Verständnis der historischen Genese des Kapitalismus leisten, vor allem die verschiedenen, oft krisenhaften Metamorphosen des Kapitalismus und die jeweils konkreten Formen der Vergesellschaftung,

STRUKTUR UND A UFBAU DER A RBEIT

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die in ihrem Kontext entstanden, zu diskutieren sein. Im Zusammenhang mit Bourdieu steht zwar die Reproduktionstheorie im Vordergrund, es wird aber dabei auch herausgearbeitet, dass die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse alles andere als statisch ist, sondern vielmehr radikale Wandlungsprozesse umfasst, indem gerade durch tiefgreifende Veränderungen einzelner Mechanismen und Strategien (im Bereich von Bildung, Kultur, Konsum etc.) die grundlegenden, einer kapitalistischen Gesellschaft funktional vorausgesetzten Klassenverhältnisse (in immer neuer Form) reproduziert werden. In diesem Kontext ist auch herauszuarbeiten, dass die Theorien von Marx und Bourdieu Elemente einer Theorie funktionaler Differenzierung enthalten, die zu den Klassentheorien gerade nicht im Widerspruch stehen. Vielmehr handelt es sich um Theorien einer über sachlich-funktionale Mechanismen vermittelten Reproduktion sozialstruktureller Ungleichheit, die soziale und funktionale Differenzierungsformen moderner (kapitalistischer) Gesellschaften in ihrem systematischen Zusammenhang erfassbar machen. Inwiefern diese hier zunächst nur äußerst abstrakt gefassten Hauptlinien der Argumentation dazu beitragen können, Analyseperspektiven von Marx, Foucault und Bourdieu besser zu erschließen als in der bisherigen Rezeption und inwiefern darüber vermittelt ein besseres Verständnis konkreter historischer Genealogien und immanenter Zusammenhänge der modernen Gesellschaft eröffnet wird, kann nur schrittweise im Verlauf der folgenden Arbeit geklärt werden.

II Theoriedispositionen und Problembezüge

1 Ein Forschungsgegenstand Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung

„Ich habe […] zu zeigen versucht, dass die Veränderung der Machttechnologie Teil der kapitalistischen Entwicklung ist. Und zwar insofern, als die Entwicklung des Kapitalismus die veränderte Machttechnologie erforderlich macht, und umgekehrt diese Veränderung erst die kapitalistische Entwicklung ermöglicht hat, so dass beide sich gleichsam gegenseitig hervorgebracht haben.“ MICHEL FOUCAULT (2005, 243) „Aber der wichtigste Beitrag dieser Forschungen […] besteht darin sichtbar zu machen, daß alles, was die ökonomische Orthodoxie als rein Gegebenes nimmt […], Produkt einer sozialen Konstruktion, eine Art historisches Artefakt ist, wovon nur die Geschichte Rechenschaft ablegen kann.“ PIERRE BOURDIEU (1998a, 165f.)

Da im Folgenden davon ausgegangen wird, dass die Theorien und Analysen von Marx, Foucault und Bourdieu – jenseits aller noch zu klärenden Affinitäten und Familienähnlichkeiten der Forschungs- und Theorieprogramme – zumindest einen geteilten Gegenstandsbezug und ein gemeinsames Problemfeld haben, ist zunächst zu klären, um welchen Gegenstand es sich handelt und wie er im Einzelnen von den jeweiligen Autoren bestimmt wird. Für Marx steht außer Frage, dass der im 19. Jahrhundert Konturen gewinnende moderne Kapitalismus der zentrale Gegenstand seiner Forschung war. Die interessantere Frage ist, wie dieser Gegenstand bestimmt wird. Betrachtet man die theoretischen und methodischen Selbstverständigungen, fällt auf, dass in Marx’ Analysen der kapitalistischen Gesellschaftsformation „zwischen zwei verschiedenen theoretischen Objekten“ zu unterscheiden ist: „zwischen dem historischen Werden des Kapitals, das auf äußere Bedingungen angewiesen ist und dem gewordenen Kapital, das seine Voraussetzungen selbst reproduziert“ (Heinrich 1991, 145). Marx selbst hob diese Differenz klar hervor und betonte, dass seine Analyse vor allem den immanenten Zusammenhängen des entwickelten Kapitalverhältnisses galt, das als prozessual

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reproduziertes System strukturierter gesellschaftlicher Beziehungen zwischen verschiedenen Elemente zu fassen ist. Diese Problemstellung sei unterschieden von der Analyse der historischen Verlaufsketten und Interdependenzen zwischen denselben Elementen, die zur Entwicklung dieses gesellschaftlichen Systems geführt haben.1 Der Anspruch des Kapitals war es daher nicht, die „Genesis der kapitalistischen Produktion“ (MEW 23, 765) zu schreiben oder eine konkrete kapitalistische Gesellschaft in allen Facetten zu rekonstruieren, vielmehr sollten grundlegende Strukturen und Tendenzen, die sich aus den „innern Zusammenhängen des kapitalistischen Produktionsprozesses“ (MEW 25, 324) ergeben, herausgearbeitet werden, um eine Theorie der „innere[n] Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt“ (ebd., 839) zu gewinnen. Das heißt auch, dass die theoretische Darstellung von konkreten Strategien und Kämpfen oder von den vielfältigen Formen politischer und rechtlicher legislativer Einmischung abstrahiert, die auf den realen Wirtschaftsprozess in unvorhersehbarer Weise einwirken und in denen sich realitär erst entscheidet, in welcher Form sich die in der durchschnittlichen Logik der Kapitalverwertung angelegten Tendenzen gesellschaftlich auswirken. Obwohl Das Kapital auch viele illustrative Detailanalysen zur Wirtschaftsgeschichte und Zeitdiagnostik enthält, blieb sein primärer Gegenstand die endogene Prozesslogik einer ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie, nicht ihre historische Ausdifferenzierung und nicht ihre konkrete gesellschaftliche Gestalt, die durch Wechselwirkungen der Kapitalverwertung mit sozialen, politischen und rechtlichen Praktiken, Verhältnissen und Konflikten bestimmt ist. So ist es ein grundlegendes – in der marxistischen ebenso wie in der marxkritischen Rezeption verbreitetes – Missverständnis, die Abfolge der Kategorien im Kapital als Darstellung der Genese des Kapitalismus zu betrachten, oder schlimmer, aus der formalen Darstellung eines entwickelten ökonomischen Systems (in Analogie zu Hegels Wesenslogik) die Geschichte oder gar die Zukunft kapitalistischer Gesellschaften deduzieren zu wollen.2 Marx’ Darstellung sollte –

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Bereits im Elend der Philosophie wendet sich Marx gegen eine Darstellung, die immanente Strukturen einer Gesellschaft aus einer unterstellten ‚Logik der Geschichte‘ ableitet: „Wie kann […] die logische Formel der Bewegung, der Aufeinanderfolge […] den Gesellschaftskörper erklären, in dem alle Beziehungen gleichzeitig existieren und einander stützen?“ (MEW 4, 131) „Es handelt sich nicht um das Verhältnis, das die ökonomischen Verhältnisse in der Aufeinanderfolge […] historisch einnehmen. Noch weniger um ihre Reihenfolge ‚in der Idee‘ […] Sondern um ihre Gliederung innerhalb der modernen bürgerlichen Gesellschaft.“ (MEW 42, 41; vgl. ebd., 40ff. & 372ff.) Bereits Kautsky (1887) missverstand das Kapital als „wesentlich historisches Werk“ (ebd., XI) und Lenin (1913) meinte, Marx verfolge die Entwicklung des Kapitalismus von der „einfachen Warenproduktion“ zur „Großproduktion“ (ebd., 7). In den Kopfgeburten des Hegel-Marxismus galt die Werttheorie als „materialistische Dechiffrierung des Hegelschen Weltgeistes“ (Reichelt 1970, 76), oder man glaubte, „der systematische Zusammenhang der Widersprüche untereinander ergibt sich aus der spekulativen Methode der Hegelschen Logik“ (Bubner 1973, 60). Ging man gar vom Zusammenfallen von „Wesens-“ und „Entwicklungslogik“ in einem einheitlich „logisch-historischen Verfahren aus“ (Holzkamp 1974, 57f.), war eine spekulative Geschichtsphilosophie in marxscher Terminologie möglich. Dass „die im ‚Kapital‘ angewandte Methode wenig verstanden“ wurde (MEW 23, 25), dürfte auch daran liegen, dass Marx mit der „eigentümlichen Ausdrucksweise“ Hegels „kokettierte“ (ebd., 27). Trotz aller Wertschätzung für Hegels begriffliche Systematik, die für Marx ein Orientierungspunkt wissenschaftlicher Praxis blieb, kritisierte er stets die „mystifzierende Seite der Hegelschen Dialektik“ (ebd.), die daraus resultiert, dass Hegel

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weit entfernt von solchen philosophischen Ansprüchen – ‚nur‘ die Zusammenhänge des theoretischen Objekts ‚entwickeltes Kapitalverhältnis‘ begrifflich so fassen, dass der empirische Gegenstand ‚Kapitalismus‘ möglichst adäquat erklärt werden kann.3 Daher muss die theoretische Darstellung des Kapitals eine von der historischen Analyse verschiedene Form haben: „Es wäre also untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben[.]“ (MEW 42, 41 [Hervh. T.H.])

Auf der Grundlage dieser klaren Differenzierung konzentrierte Marx sich zunächst darauf, das die Elemente des Kapitalverhältnisses innerlich verknüpfende „Band aufzuspüren“ und diese Analyse zu einer kohärenten begrifflichen „Darstellung“ zu verarbeiten (MEW 23, 27). Es sei „nicht nötig, um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben.“ Jedoch führe „die richtige Anschauung […] derselben als selbst historisch gewordne Verhältnisse“ immer „auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit“ zurück. Diese zu analysieren sei „eine Arbeit für sich, an die wir hoffentlich auch noch kommen werden.“ (MEW 42, 373 [Hervh. T.H.]) Marx konnte das Vorhaben, solche Fragen anzugehen, wenn er mit der „ganzen ökonomischen Scheiße“ (MEW 27, 228) fertig wäre, bekanntlich nicht verwirklichen. Über historische Skizzen zur Genese einzelner Elemente der kapitalistischen Wirtschaftsform4 hinaus blieb die detaillierte Rekonstruktion ihrer historischen Genese ein unausgefülltes Programm. Erst recht gilt dies für die Analyse der vielfältigen späteren Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung, deren Tendenzen Marx zwar oft überraschend präzise prognostizierte (s.u. III-V), deren konkrete Verläufe sich aber aus der abstrakten Darstellung des Kapitals nicht deduzieren lassen. Da „dieselbe

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die (kantianische) Ebenendifferenzierung zwischen Denken und Sein, zwischen „der Sache der Logik“ und der „Logik der Sache“ (MEW 1, 216), zwischen begrifflicher Konstruktion und Gegenstand einzog. Marx betonte daher früh, dass „Begreifen […] nicht, wie Hegel meint, darin [besteht], die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen“ habe. (ebd., 296 [Hervh. i.O.]; vgl. MEW 40.1, 582f.; MEW 42, 35ff.). Diese Kritik trifft letztlich jeden Versuch, aus der Logik eines begrifflichen Zusammenhangs (etwa der Wertformanalyse) unmittelbar gesellschaftliche Realitäten oder historische Entwicklungen abzuleiten, also auch jeden Deduktionsmarxismus. Vgl. zum Verhältnis von Marx zu Hegel und zur Kritik des Hegelmarxismus: Heinrich 1991; Henning 2005, 328-343. Da für Marx die historische Analyse andere Methoden erfordert als die Darstellung der inneren Systematik des Kapitals, ist die Logik des Kapitals ebenso wenig aus der Geschichte wie die Geschichte aus dieser Logik ‚abzuleiten‘. Es handelt sich um unterschiedene Forschungsgegenstände, die verschiedene Taxonomien der theoretischen Darstellung erfordern. Marx sah seine Methode als „direktes Gegenteil“ von Hegels Dialektik (MEW 23, 27): Wo dort die dialektische Selbstbewegung des Begriffs die Wirklichkeit setzt, geht es Marx um die „Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe“ (MEW 42, 36). Er hat daher „immer mit einem äußeren Gegenstand zu tun. Seine Darstellung muß den Zusammenhang des Materials zum Ausdruck bringen“ (Heinrich 1991, 148). Vgl. die (von der systematischen Analyse des Kapitalverhältnisses klar abgegrenzten) historischen Exkurse im Kapital: MEW 23, 741-802; MEW 25, 335-349, 607-626, 790-821.

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ökonomische Basis – dieselbe den Hauptbedingungen nach – durch zahllos verschiedne empirische Umstände, [...] von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann“, sind ihre konkreten Ausformungen und Formwandlungen „nur durch Analyse dieser empirisch gegebnen Umstände zu begreifen“ (MEW 25, 800). Marxistische Eklektiker waren der damit gestellten Aufgabe oft nicht gewachsen, auch weil sie programmatische Thesen oft als unumstößliche Wahrheiten ansahen. So blieb es, mit Ausnahme etwa Sombarts und Gramscis, Autoren wie Weber (die sich eher in Distanz zum Marxismus positionierten) überlassen, diesen historisch-soziologischen Forschungsgegenstand jenseits direkter Anknüpfungen an Marx zu erschließen. Ein Ziel der vorliegenden Studie ist es zu zeigen, dass die Ansätze Foucaults und Bourdieus wichtige Beiträge zu diesem von Marx definierten zweifachen Problemhorizont der Genese und/oder der immanenten Strukturen und Prozesslogiken kapitalistischer Gesellschaften leisten. Dazu ist zunächst zu klären, inwiefern diese verschiedenen Theorie- und Analyseperspektiven überhaupt einen mit Marx geteilten Gegenstandsbezug aufweisen. Foucault verstand sich sicher nicht primär als Theoretiker oder Analytiker ‚des Kapitalismus‘ und gab als verbindendes Moment seiner Arbeiten eher die Frage an, wie Subjekte historisch als Objekte des Wissens, als Zielpunkte auf sie einwirkender Praktiken und zugleich als Wissens- und Handlungssubjekte konstituiert wurden (vgl. Foucault 2005, 536f.; 1987a, 243ff.). Überschneidungen mit dem Problemfeld kapitalistischer Vergesellschaftung ergeben sich aber schon aus dem zeitlichen Fokus seiner Analysen auf das 18. und 19. Jahrhundert: „Es ist eine Periode ohne feste Datierung und mit vielen Eingängen, denn man kann sie ebenso durch die Formierung des Kapitalismus, die Konstituierung der bürgerlichen Welt, die Installierung der staatlichen Systeme, die Gründung der modernen Wissenschaft mitsamt ihren technischen Entsprechungen […] definieren.“ (Foucault 1992, 28)

Aus gutem Grund wird die Forschung nicht a priori auf den Eingang der ‚Formierung des Kapitalismus‘ festgelegt. Zwar lassen sich die Techniken von Disziplin und Kontrolle oder die positiven Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts „ganz allgemein der Entwicklung des Kapitalismus zuordnen“, für die sie konstitutiv waren, genauer betrachtet aber „erkennt man, dass es sich um Prozesse handelt, die zahlreiche Ursprünge hatten und die sich Schritt für Schritt vereinigten“ (Foucault 2003b, 486). Statt wie die „feierlichen Theoriegebäude“ (ebd., 488) des Marxismus alles aus der ‚Formation des Kapitalismus‘ abzuleiten, gilt diese selbst als erklärungsbedürftig, kann also der Analyse nicht vorausgesetzt werden.5 Obwohl „die ökonomische Ebene“ in Foucaults Untersuchungen „sehr präsent ist“ (Eribon 1991, 154), verweigern sie sich daher jedem ökonomistischen Reduktionismus. Allerdings geht bereits Die Geburt der Klinik, in der sich folgenreiche Weichenstellungen für viele spätere Ar-

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Übrigens betonte Foucault (2003b), dass die Unbrauchbarkeit der „herkömmlichen Analysen des Marxismus“ nicht bedeute, dass man Marx „wie einen alten Trottel“ aufgeben kann. Vielmehr müsse man sich um „sehr viel größere Treue“ gegenüber der von Marx gestellten Aufgabe der Analyse auf „Grundlage einer realen Geschichte“ bemühen, statt die Analyse immer schon „in den Rahmen einer kohärenten Theorie einzubetten“ (ebd., 288).

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beiten Foucaults finden, auf Veränderungen der politisch-ökonomischen Konstellationen ein, in denen sich die Neuordnung des medizinischen Milieus und der medizinischen Diskurse seit Ende des 18. Jahrhunderts vollzog. Bei aller Ablehnung ökonomistischer Monokausalität zeigt sich hier ein ausgeprägtes Gespür für komplexe Interdependenzen zwischen den ökonomischen und politischen Formen und der Konfiguration des Wissens und der Machttechnologien (vgl. Foucault 1991, 35ff., 43ff., 54ff. & 79ff.). Im Kontext einer „Geschichte der Gegenwart“ (Foucault 1994, 43), die die kontingenten Verkettungen verschiedener Entwicklungslinien herausarbeitet, bilden Genese und Wandel der kapitalistischen Wirtschaftsform mithin in vielen Einzeluntersuchungen Foucaults einen zentralen Knotenpunkt, da die veränderten Machttechniken dazu beitrugen, historische Voraussetzungen des Kapitalismus zu schaffen. Umgekehrt entstanden die Sicherheits- und Kontrolldispositive im 19. und 20. Jahrhundert auch in Reaktion auf die von dieser Wirtschaftsform induzierten gesellschaftlichen Problemlagen (vgl. u.a. Foucault 2003b, 243f. & 284ff.; s.u. IV). Thomas Lemke wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Foucaults Analysen weniger als Gegenpol und eher als „Fortsetzung des Marxschen Projekts“ zu sehen sind, wobei die Untersuchungen zur Subjektformierung als „Ergänzung und Vertiefung“ marxscher Ansätze erscheinen, und zwar als Versuch einer Antwort auf die Frage: „Welche Art einer Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft [...] notwendig und hinreichend?“ (Lemke 2002a, 20; vgl. 1997, 73ff.) Auch Foucaults einzige größere Untersuchung mit unmittelbarem Gegenwartsbezug, die Vorlesungen zur neoliberalen Gouvernementalität, stehen in diesem Kontext. Hier ging es um die Bewältigung des „Problem[s] des Überlebens des Kapitalismus“ nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und im Kontext der Stagflation der 1970er Jahre, um die Frage „des Möglichkeitsraums, den der Kapitalismus noch hat“ (Foucault 2004b, 232 s.u. IV.6). Foucaults Genealogie, die in diesem Sinne auch eine Genealogie des modernen Kapitalismus ist, zeigt hier primär Affinitäten zum ersten Gegenstand der marxschen Theorie, dem ‚historischen Werden des Kapitalismus‘. Sie bietet aber, wie zu zeigen ist (s.u. IV), im Einzelnen oft auch hellsichtige Analysen zum zweiten Gegenstand, zu den immanenten Beziehungen der Elemente einer kapitalistischen Ökonomie, aus denen sich erst die Erfordernisse und Entwicklungspotenziale ergaben, vor deren Hintergrund historische Strategien, Programme und Praktiken im 19. und 20. Jahrhundert in oft unerwarteter Weise funktional wurden. Wie oben zitiert, will Foucault ja auch zeigen, wie die „Entwicklung des Kapitalismus die veränderte Machttechnologie erforderlich macht“ (Foucault 2005, 243 [Hervh. T.H.]), wie also aus einer sich entwickelnden Struktur der ökonomischen Beziehungen heraus bestimmte Machttechnologien anschlussfähig und erforderlich werden. Da die Machttechnologien aber nicht von dieser Struktur ‚erzeugt‘ wurden, sondern sich historisch in konkreten Praktiken entwickelt haben, müssen sie auch historisch untersucht werden. Bourdieu seinerseits hat sich wie Foucault gegen voreilige Festlegungen des Gegenstands seiner Untersuchungen auf ‚die kapitalistische Gesellschaft‘ verweigert, da dies die Gefahr eben jenes verkürzten, die Logik einer ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie als Allerklärungsoperator verwendenden Ökonomismus birgt, den

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er stets kritisierte.6 Ebenso kritisierte er jene „Marxisten [...], die im Rahmen scholastischer Diskussionen über die Typologie von Produktionsweisen“ den vorkapitalistischen Gesellschaften eine Freiheit von ökonomischen Interessen unterstellen. Dies beruhe auf „einer eingeschränkten Definition des ökonomischen Interesses“, die selbst „das historische Produkt des Kapitalismus ist“ (Bourdieu 1976, 344 [Hervh. i.O.]), da erst die Ausdifferenzierung ökonomischer Praktiken die komplementäre Vereinseitigung ‚sozialer‘ oder ‚kultureller‘ Praktiken ermögliche (s.u. V.3). Jedoch boten schon die frühen Untersuchungen zur Transformation der ökonomischen Strukturen und Praktiken der „algerischen Übergangsgesellschaft“ (Bourdieu 2000a) wichtige – explizit an Marx und Weber anschließende – Beiträge zur Genese der kapitalistischen Wirtschaftsform. Diese Analysen galten als „Fallbeispiel“ eines der ökonomischen Form der Gesellschaft vorausgesetzten „geschichtlich-kulturellen Zusammenhangs“ und sollten „in Erinnerung [rufen], was eine alleinige Betrachtung fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften leicht vergessen ließe, nämlich, daß das Funktionieren jedes Wirtschaftssystems von Dispositionen […] gegenüber der Welt“ abhängig ist, die selbst ein „von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen“ abhängiges historisches Produkt sind (ebd., 30f.). Auf dieses Problem der Genese der kapitalistischen Wirtschaftsweise kamen spätere Analysen zur „Genese des ökonomischen Feldes“, d.h. zur „Geschichte des Differenzierungs- und Verselbstständigungsprozesses, der zur Konstituierung dieses spezifischen […,] seinen Eigengesetzen gehorchenden Kosmos [...] führt“ (Bourdieu 1998a, 167), zurück. Den Hauptgegenstand von Bourdieus späteren Untersuchungen bilden jedoch die grundlegenden Strukturen und Reproduktionsmechanismen einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft am Beispiel Frankreichs. Seine Analysen beziehen sich dabei kaum auf die immanenten Zusammenhänge der Kapitalverwertung, wie sie Marx als Gegenstand seiner Analyse bestimmte, sie rücken vielmehr primär jene soziokulturellen Prozesse und Mechanismen in den Blick, die Marx gegenüber der ‚inneren Logik‘ des Kapitalverhältnisses vernachlässigt hatte. Das markiert einerseits eine Differenz, andererseits aber auch eine Kontinuität im Verhältnis zum von Marx umrissenen Problemhorizont. Die Ausklammerung solcher Fragen im Kapital meinte ja nicht, dass entsprechende Faktoren für das Verständnis kapitalistischer Gesellschaften irrelevant wären, vielmehr, dass es sich um Bedingungen dieser historischen Wirtschaftsform handelt, die in der ‚ökonomischen Basis‘ nicht aufgehen, d.h. nicht allein aus der grundlegenden Form der Produktions- und Distributionsprozesse erklärbar sind. Wie Marx selbst betonte, können konkrete kapitalistische Gesellschaften nicht allein aus ihrer ökonomischen Logik heraus verstanden werden. Wenn Bourdieu die vielfältigen gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse in den kulturellen und politischen Praktiken und Kämpfen untersucht, die in der ökonomischen

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Bourdieu kritisierte die „von Neo-Marginalisten und Strukturmarxisten geteilte objektivistische Abstraktion“, welche dazu tendiere, ökonomische „Akteure zu einfachen Reflexen objektiver Strukturen zu degradieren und darauf zu verzichten, die Frage nach der Genese ökonomischer Haltungen wie auch […] nach den sozialen Voraussetzungen eben dieser Genese zu stellen“ (Bourdieu 2000a, 21). Im Übrigen zeigt sich in dieser Kritik eine mit Foucault geteilte Absetzung vom marxistischen Diskursfeld: Beide teilen eine Wertschätzung des strukturalistischen Marxismus Althussers bei gleichzeitiger Ablehnung des Strukturdeterminismus, in den ein rein strukturaler Marxismus zu führen droht.

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Grundstruktur der Gesellschaft nicht aufgehen, kann dies letztlich auch als eine Umsetzung jener Analyse der empirischen Umstände verstanden werden, durch die die konkrete Form, welche eine kapitalistische Gesellschaft unter variablen historischen Umständen annimmt, laut Marx (vgl. MEW 25, 800) erst begreifbar wird. Im Zentrum der Untersuchungen stehen dabei einerseits die symbolischen Mechanismen der Reproduktion der Klassenverhältnisse in kulturellen Distinktionspraktiken, andererseits die relativ eigenlogischen und eigendynamischen Reproduktionsprozesse in verschiedenen Feldern gesellschaftlicher Produktion (Politik, kulturelle Produktion, Bildung, Religion etc.), die sich als „Ensemble von relativ autonomen Spielräumen […] nicht unter eine einzige gesellschaftliche Logik, ob Kapitalismus, Moderne oder Postmoderne, subsumieren lassen“ (Wacquant 1996, 37) (s.u. V.3.4). Dabei ist auffällig, dass auch die Analysen des ökonomischen Feldes bei Bourdieu (1998a) weit intensiver auf die kulturellen, sozialen und symbolischen Dimensionen ökonomischer Praktiken eingehen, als dies bei Marx der Fall war. Damit wird aber keineswegs die materielle Grundierung verwertungsorientierter Produktionsprozesse aus dem Gegenstandsbereich der Theorie ausgeschlossen, so dass „das Klassenverhältnis nicht mehr als ein soziales Verhältnis […], das auf der ökonomischen Ausbeutung fremder Arbeit beruht“, erfasst werden könne, wie Koch (1994, 105) kritisierte. Bourdieu will vielmehr zeigen, wie jener „Schleier der symbolischen Verhältnisse, ohne den die Klassenverhältnisse in ihrer ‚objektiven‘ Wahrheit als Ausbeutungsverhältnisse vielfach nicht Wirklichkeit werden könnten“ (Bourdieu 1987, 248f.), gesellschaftlich erzeugt wird. Dazu muss mit dem marxistischen Reduktionismus gebrochen werden, der nur die ‚Ausbeutung‘ als objektive Wahrheit des Kapitalismus anerkennt und aus seinem Gegenstandsbereich die „Unwahrheit ausgrenzt“ (ebd.) – auch um zu begreifen wie das, was aus marxistischer Perspektive als ‚Unwahrheit‘ erscheint, eine reale Voraussetzung dessen bildet, was dort als ‚Wahrheit‘ postuliert wird. Gegen jene dualistischen Entgegensetzungen gilt es, das dialektische Verhältnis zwischen den materiellen Produktions- und Verteilungsverhältnissen und den kulturell-symbolischen Wahrnehmungsschemata zu verstehen, die ihrerseits Produkt und Voraussetzung bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse sind (vgl. u.a. ebd., 255ff.). So zeigen sich bei Bourdieu wie bei Foucault zwar erhebliche Aufmerksamkeitsverschiebungen im Verhältnis zu marxistischen Diskursen, gerade dies ermöglicht es aber, von Marx definierte Gegenstandsbereiche und Problemhorizonte in neuer Form zu erschließen und jenseits einer marxistischen ‚Weltanschauung‘ an marxsche Fragestellungen anzuknüpfen: an Fragen nach der historischen Genese und den gesellschaftlichen Funktion von Systemen „der Produktion von Produzenten“ (Bourdieu 1976, 362) bzw. nach den Genealogien und Funktionen von Techniken der Subjektformierungen, die dem kapitalistischen Verwertungsprozess vorausgesetzt sind (u.a. Foucault 1994; vgl. auch Butler 1998, 40ff.), an Fragen nach den historischen „Akzeptabilitätsbedingungen“ solcher Systeme der Subjektformierung und nach „den Bruchlinien ihres Auftauchens“ (Foucault 1992, 35) und nicht zuletzt an Fragen nach den sozialen Konflikten und Kämpfen, die innerhalb gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse auf deren Verstetigung oder Veränderung zielen. Im Folgenden ist zu diskutieren, inwiefern sich über solche geteilten Problemhorizonte hinaus auch Über-

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schneidungen in den Forschungsprogrammen (2.) und Theoriedispositionen (3.) der verschiedenen Ansätze feststellen lassen.

2 Drei Forschungsprogramme

2.1 M ARX ’ P ROGRAMM

DES HISTORISCHEN

M ATERIALISMUS

„Daß Marx so meisterhaft zu fragen verstand, machte sein größtes Talent aus. Von seinen Fragen leben wir heute noch.“ WERNER SOMBART (1927, Bd. III.1, XIX)

Der von Marx hinterlassene inkohärente, durch zahllose Abbrüche und Neubestimmungen des Forschungsfeldes bestimmte Textkorpus enthält keine geschlossene Weltanschauung, durchaus aber ein bei aller Offenheit präzise umrissenes Forschungsprogramm. Engels betonte 1894 in einem Brief an Sombart, dass die „historische Darstellung“ des Kapitalismus noch ausstehe, für die Marx’ Auffassung nicht als Doktrin verstanden werden dürfe. Sie gibt „keine fertigen Dogmen, sondern Anhaltspunkte zur weiteren Untersuchung und die Methode für diese Untersuchung“ (F.E., MEW 39, 427ff.).1 Hier sind solche Anhaltspunkte herauszuarbeiten, um dann das Verhältnis der Forschungsprogramme Foucaults und Bourdieus zu den von Marx gesetzten Orientierungsmarken zu bestimmen. Überblicksartig lassen sich in Marx’ Forschungsprogrammatik drei Dimensionen der Problemstellung unterscheiden, von denen zwei mit den oben definierten theoretischen Objekten bereits umrissen sind: Die historisch-genetische Analyse der Voraussetzungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation und die Analyse der immanenten Zusammenhänge einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie. Diese Dimensionen sind eng verschränkt mit einer dritten Dimension: der Kritik des politischökonomischen Wissens, das selbst Gegenstand der Analyse ist. Programmatisch will Marx dabei nicht einfach zeigen, dass dieses Wissen falsch ist, vielmehr soll es als ideelles Moment gesellschaftlicher Verhältnisse untersucht und auf seine Genese, seine immanenten Zusammenhänge und die historisch-gesellschaftlichen Bedingungen seiner Möglichkeit befragt werden. Durch diese wissenshistorische und wissenssoziologische Stoßrichtung bilden, wie Foucault betonte, Marx’ Analysen „nicht eine neue politische Ökonomie“, die sich in den existierenden Diskurs der bürgerlichen und sozialistischen Ökonomien einschreiben würde, es handelt sich vielmehr um die Analyse der Bedingungen, „unter denen der Diskurs der Ökonomen sich vollzieht“,

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Sombart sah auch nach seinem Bruch mit dem Marxismus sein Werk als „Fortsetzung […] des Marxschen Werkes […]. Alles was etwa gutes in meinem Werk ist, verdankt es dem Geist von Marx.“ (Sombart 1927, Bd. III.1, XIX)

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weshalb Marx’ Ansatz gleichzeitig als „Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie gelten kann“ (Foucault 1981, 251). Wie sich der dafür vorausgesetzte „Bruch“ mit dem Theoriefeld der politischen Ökonomie vollzog und inwiefern Marx’ „Gesellschaftstheorie [...] ein neues epistemologisches Feld geschaffen“ hat (Foucault 2001, 753), ist später zu klären. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass Marx’ Forschungen durch eine soziologisch-epistemologische Analyseebene, die die Bedingungen des ökonomischen Wissens selbst zum Gegenstand macht, von der klassischen Ökonomie unterschieden sind, und zwar auch dort, wo von der politischen Ökonomie definierte Problemstellungen aufgegriffen werden. Diese drei Dimensionen der Problemstellung, die Marx innerhalb des Projekts einer ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ seit den 1850er Jahren verfolgte, ordnen sich dem umfassenderen Forschungsprogramm eines ‚historischen Materialismus‘ ein, das Marx in Kooperation mit Engels nach dem Bruch mit Anthropologie und Philosophie um 1845/46 entwickelte. Definiert war das Programm des historischen Materialismus wesentlich als historisches (vgl. MEW 3, 18). Dies gilt für die Analyse der historischen Formationsprozesse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs ebenso wie für die der inneren Zusammenhänge einer Gesellschaftsformation, die als nie endgültig verfestigte Struktur, sondern als veränderbarer und ständig in Veränderung begriffener Zusammenhang erscheint (vgl. MEW 23, 17). Materialistisch kann dieses Programm also nicht in dem Sinne sein, dass es eine materiell fixierte Bestimmtheit der Dinge oder ‚des Menschen‘ voraussetzt, sondern nur, insofern sein Gegenstand die materielle Tätigkeit vergesellschafteter Individuen in ihrer Beziehung aufeinander ist – eine gesellschaftliche Praxis, in der die materiellen Dinge ebenso wie die Ordnungen der gesellschaftlichen Praktiken und des Wissens und nicht zuletzt die historischen Formen der Individualität/Subjektivität produziert werden:2 „Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform […] als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann“ (MEW 3, 37f. [Hervh. T.H.]).

Innerhalb des so abgesteckten Forschungsprogramms wird zwar – in polarisierender Abgrenzung zum Idealismus – ein Forschungsansatz privilegiert, der bei der ‚Produktion des materiellen Lebens‘ ansetzt, das heißt aber keineswegs, dass die Forschung a priori auf Kausalerklärungen festgelegt wäre, die alle weiteren (politischen, kulturellen, ideellen) Aspekte gesellschaftlicher Verhältnisse linear aus dieser ‚Basis‘

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„Die gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie […] wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind.“ (MEW 3, 25)

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ableiten. Die Analyse soll unter der Voraussetzung, dass die ‚Idee‘ oder ‚der Staat‘ nicht mehr als Grundlage der Erklärung unterstellt werden, vielmehr die „Wechselwirkung zwischen den verschiednen Momenten“, durch die nach Marx jeder gesellschaftliche Zusammenhang gekennzeichnet ist (vgl. MEW 13, 631), analysieren. Bereits diese häufige Verwendung des Begriffs der Wechselwirkung zeigt, dass es Marx nicht um monokausale Determination ging.3 Marx selbst hat eine systematische Analyse dieser Wechselwirkungen jedoch nicht geleistet. Selbst die im anfänglichen Plan von Zur Kritik der Politischen Ökonomie noch vorgesehene Analyse der Rolle des Staates (vgl. ebd., 7 & 639) blieb unverwirklicht. Gleichwohl finden sich in seinen Arbeiten nicht nur produktive Ansätze zur Analyse solcher Interdependenzen (s.u. III & IV), sondern vor allem auch Anhaltspunkte zu ihrer weiteren Untersuchung. Einen Orientierungspunkt bieten dabei jene Begriffe, die in zahlreichen Arbeiten von Marx eine zentrale Rolle spielen: Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte.4 Entscheidend ist, dass diese analytischen Grundbegriffe nicht nur ein Wechselverhältnis bezeichnen, sondern selbst streng relationale Begriffe sind. Verhältnisse sind „durch eine Struktur mit variablen Elementen und Zuordnungen“ charakterisiert; Kräfte „durch ein mehr oder weniger [...], durch Intensitätsgrade und Qualitäten“ (Brieler 2002, 53). Produktivkräfte sind das den Grad der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit bestimmende Zusammenwirken verschiedener wissenschaftlich-technischer und organisatorischer Mittel der Produktion. Insofern sind sie bedingt durch spezifische gesellschaftliche Verhältnisse von Arbeitsteilung, Kooperationen, Abhängigkeit und hierarchischer Organisation, die der Entwicklung und Anwendung der technischen Mittel vorausgesetzt sind. Sie sind aber zugleich Bedingung der Möglichkeit bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse.5 Produktionsverhältnisse haben, auch wo der Begriff nur auf „die ökonomische Struktur der Gesellschaft“ (MEW 13, 8) bezogen ist, stets juristische, politische, soziale, kulturelle Dimensionen, da sie Verhältnisse des Eigentums, der Produktion und Verteilung, der Abhängigkeit und Ausbeutung, der Herrschaft und Anerkennung implizieren. So wäre es ein Unding, etwa das Eigentum an Produktionsmitteln allen weiteren Verhältnissen als causa sui vorauszusetzen, da umgekehrt, „das bürgerliche Eigentum definieren [...] nichts anderes [heißt], als alle gesellschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Produktion darstellen“ (MEW 4, 165). Ebenso ist das Geld „nur ein einzelnes Glied in der ganzen Verkettung der ökonomischen Verhältnisse“ (ebd., 107), es kann der Erklärung also nicht vorausgesetzt werden, sondern muss seinerseits erklärt werden. Vor allem aber sind Verhältnisse kein die Praxis äußerlich de-

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Vgl. u.a.: MEW 13, 629; 638; MEW 5, 425; MEW 1, 97; MEW 26.2, 522; MEW 25, 229, 498; MEW 6, 515. Ein Verdienst von Brieler (2002) ist es, gegen die ‚scholastische‘ Auslegung dieses Begriffspaars, die die „Formen der Vergesellschaftung deterministisch an die technischökonomischen Notwendigkeiten fesselt“, daran zu erinnern, dass „Marx’ zentrale gesellschafts- und geschichtstheoretischen Kategorien [...] relationistischer Natur [sind]. Sie entbehren jeder geschichtsmetaphysischen Finalität und Statik, da sie vorgebliche Substanzen als Verhältnisse definieren und durch den doppelten Modus von Bewegung und Beweglichkeit bestimmt sehen.“ (Ebd.,53f.) So werden marktvermittelte Produktionsverhältnisse erst mit einem gewissen Entwicklungsstand der Transport- und Kommunikationsmittel möglich, ermöglichen und erfordern dann aber ihrerseits deren weitere Entwicklung.

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terminierendes Bedingungsgefüge, sondern eine stets nur vorläufige Konfiguration sozialer Kräfte, deren Form sich im Zusammenprall heterogener Strategien, Konflikte und Koalitionen verschiedener sozialer Gruppierungen in praxi permanent neu entscheidet. Statt als Elemente einer schematischen Geschichtsphilosophie zu fungieren, bezeichnen diese Grundbegriffe ein komplexes Interdependenzgeflecht relationaler Bedingungsverhältnisse, die je konkret untersucht werden sollen. So sind Produktionsverhältnisse gerade im Hinblick auf die ‚ökonomische Basis‘ keine fixierte und andere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens einseitig determinierende Struktur, sondern ein Komplex sozialer Beziehungen, in denen die Modi der Produktion und Verteilung mit sämtlichen anderen Dimensionen des sozialen Lebens interagieren: „Die Industrie und der Handel, die Produktion und der Austausch der Lebensbedürfnisse bedingen ihrerseits und werden wiederum in der Art ihres Betriebs bedingt durch […] die 6 Gliederung der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen“ (MEW 3, 43f.).

Als Klassenverhältnisse umfassen die Produktionsverhältnisse die weit über die unmittelbaren Produktionsbeziehungen hinausreichende Gesamtheit der Lebensbedingungen, Interessen und Beziehungen heterogener Gruppen und sind zudem unaufhebbar mit Konflikten (um Fragen von Arbeitszeit und Lohn, von Gesundheit und Bildung, von Schutz und Sicherheit, von sozialer und politischer Teilhabe etc.) verknüpft. Dieser umkämpfte Charakter verleiht ihnen ein hohes Maß an Entwicklungsoffenheit. Gegen die Suggestion simpler Basis-Überbau-Schemata ist dabei die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungsverläufe, in denen Ideen über die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Entstehung hinausweisen oder kulturelle Hinterlassenschaften längst vergangener Epochen unter ganz anderen Verhältnissen neue Bedeutung gewinnen, ebenso zu berücksichtigen, wie die Kontingenz des Zusammentreffens verschiedener Entwicklungspfade und Ereignisse. Marx’ zeithistorische Analysen der revolutionären Kämpfe in Frankreich, die Foucault besonders schätzte,7 erklären entsprechend historische Verläufe nie kausal durch auf die ‚ökonomische Basis‘ zurückführbare Klasseninteressen, sondern analysieren Wechselwirkungen, die heterogene und ambivalente Strategien und Koalitionen zahlloser gesellschaftlicher Gruppierungen in ihrem Aufeinandertreffen entfalten. In welcher Form die zu analysierenden Bedingungsverhältnisse zwischen ökonomischen, politischen, rechtlichen, künstlerischen, wissenschaftlichen Aspekten gesellschaftlicher Praxis bei Marx zu verstehen sind, hat Heinrich pointiert zusammengefasst: Wenn laut Marx „die Produktionsweise des materiellen Lebens den politischen und geistigen Lebensprozeß ‚bedingt‘ [vgl. MEW 13, 8], so ist damit eine strukturelle Abhängigkeit der verschiedenen Ebenen und keine Determination eines Ereignisses durch ein anderes gemeint.“ (Heinrich 1991, 138) Strukturelle Abhängigkeiten implizieren nicht, dass ein philosophisches System, ein ästhetischer Stil

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Vgl. hierzu etwa die historischen Analysen zum Arbeitstag in: MEW 23, 245-320). Vgl. MEW 7, 9-107 & MEW 8, 111-207. Foucault bezeichnete diese Arbeiten als das, was ihn „an Marx persönlich anzieht. […] Die hier von Marx durchgeführten Analysen, auch wenn man sie nicht alle für völlig korrekt halten kann […], gehen unbestreitbar in […] ihren analytischen Qualitäten weit über diejenigen seiner Zeitgenossen und […] radikal über die nachfolgenden Untersuchungen hinaus.“ (Foucault 2003b, 768; vgl. auch 2001, 759)

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oder eine politische Verfassung von einer ökonomischen Ereignisfolge kausal bestimmt sind. Als gesellschaftliche Produkte sind Philosophie, Kunst oder Politik aber sehr wohl bedingt, d.h. ihre Ausbildung und Ausprägung vollzieht sich in einem von historischen Verhältnissen, deren Moment sie bilden, vorgeprägten Möglichkeitsraum. Ohne dass jedes Element oder alle Beziehungen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs ökonomisch determiniert wären, ist doch in „allen Gesellschaftsformen“ eine bestimmte Form der Produktion grundlegend, weshalb „deren Verhältnisse […] allen übrigen Rang und Einfluß anweis[en]. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert […,] ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.“ (MEW 42, 40) Schon auf der Ebene der unmittelbaren Produktion heißt das nicht, dass die tendenzielle strukturelle Dominanz des Kapitalverhältnisses den Fortbestand vorkapitalistischer Produktionsformen – wie Handwerksbetriebe oder agrarische Subsistenzwirtschaft – ausschlösse, aber die relationale Stellung dieser Elemente ist in der dominanten Struktur der Produktion bedingt. Kaufmännisches und Bankenkapital, Privat- und Gemeineigentum etc. sind Elemente des Kapitalismus wie des Feudalismus, ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung und Funktion ist aber eine andere (vgl. ebd., 40f.). Erst recht diktiert die Produktionsform nicht direkt die politische Form der Gesellschaft. Kapitalismus kann sich mit den politischen Formen von Demokratie, Monarchie, Faschismus, Militärdiktatur oder (wie heute in China) Staatsozialismus verbinden. Jedoch entsprechen einige politische Formen – namentlich der „demokratische Repräsentativstaat“ (MEW 2, 121) – der Produktionsform besser als andere8 und die konkrete Gestalt der Demokratie hat in den kapitalistischen Nationalstaaten, die auf freier Lohnarbeit und dem marktwirtschaftlichen Tausch zwischen gleichen Rechtssubjekten aufbauen, notwendig eine andere Form als in den auf Sklavenhaltung und hauswirtschaftlicher Produktion beruhenden antiken Stadtstaaten. Wie die gesellschaftlichen Verhältnisse aber im Einzelnen beschaffen und wie sie entstanden sind, lässt sich nicht geschichtsphilosophisch beantworten. Marx’ Forschungsprogramm ist keine „irgendwie geartete dialektische Entwicklungsmaschine“ (Heinrich 1991, 151), die präjudizierte Ergebnisse generiert, es legt nur spezifische Forschungsfragen und Perspektivierungen nahe. Auf dieser Grundlage aber muss die „empirische Beobachtung [...] in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen“ (MEW 3, 25).9 Die Form, in der Marx dies tut, zeigt eine untergründige Verwandtschaft zu den Programmen Bourdieus und Foucaults: Einerseits werden die in einer konkreten Gesellschaft bestehenden Zusammenhänge zwischen verschiedenen, relativ autonomen Dimensionen gesellschaftlicher Praxis herausgearbeitet. Statt eines linearen Kausalnexus werden dabei Homologien im Sinne Bourdieus (vgl. 1999, 131 & 286-404), also strukturelle und funktionale Entsprechungen politischer, ökonomischer und ästhetischer Verhältnisse,

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Es kann z.B. keine kapitalistische Stammesgesellschaft geben, da dort die Privateigentumsverhältnisse ebenso wenig gegeben sind, wie die Waren- und Geldform. Ein ‚Deduktionsmarxismus‘ wäre Marx wohl als „schlechter Hegelianismus“ (Heinrich 1991, 139) erschienen.

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aufgewiesen. Andererseits ist die Genese der Verhältnisse in der Wechselwirkung verschiedener Faktoren herauszuarbeiten. In Marx’ konkreten historischen Analysen wird dabei keineswegs die ökonomische ‚Basis‘ als unabhängige Variable privilegiert, der der kulturelle und politische ‚Überbau‘ als abhängige Variable zu folgen hätte. Statt generalisierter Spekulationen finden sich Rekonstruktionen der historischen Verkettung heterogener Wirkungslinien, die in der Genese einer Gesellschaftsformation zusammentreffen.10 Eine solche Interpretation mag eher an Sombart, Weber oder Foucault erinnern als an marxistische Stereotype. Dafür, dass sie Marx’ Forschungsprogramm angemessen ist, spricht, dass dieser, wo er Zusammenhänge der Ökonomie mit Religion, Kultur, Politik aufzeigt, keine Terminologie klarer Kausalität, sondern eine der Entsprechungen verwendet.11 Bereits für die eng zusammenhängenden Formen von Produktion und Distribution bevorzugt Marx Begriffe, die eine Beziehung der Adäquatheit und Bedingtheit, nicht aber der linearen und automatischen Verursachung zum Ausdruck bringen: „Im allgemeinen[!] entspricht die Art des Austausches der Produkte der Produktionsweise.“ (MEW 4, 105) Erst recht gilt das aber für Zusammenhänge von politischen, religiösen und kulturellen Formen mit der Produktion. Wird etwa „das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus“, als die einer „Gesellschaft von Warenproduzenten […] entsprechendste Religionsform“ (MEW 23, 93 [Hervh. T.H.]) bezeichnet, heißt das nicht, diese Religion zum ‚Überbaureflex‘ des Kapitalismus zu erklären. Ein solcher Kausalnexus wäre für Marx vielmehr unsinnig, da der historisch ältere „Protestantismus […] eine wichtige Rolle in der Genesis des Kapitals“ (ebd., 292, Fn. 124) spielte, also der Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise als eine ihrer historischen Bedingungen vorausgesetzt war. Sehr wohl aber lassen sich Homologien zwischen der inneren Logik der von dieser Religionsform geförderten Dispositionen und der kapitalistischen Wirtschaftsform aufweisen, wie dies dann etwa auch Weber (1986) ausführlich tat: „Der Geldkultus hat seinen Asketismus, seine Entsagung, seine Selbstaufopferung – die Sparsamkeit und Frugalität, das Verachten der weltlichen, zeitlichen und vergänglichen Genüsse; das Nachjagen nach dem ewigen Schatz. Daher der Zusammenhang des englischen Puritanismus oder auch des holländischen Protestantismus mit dem Geldmachen.“ (MEW 42, 158)

Solche Entsprechungen implizieren, dass die Elemente und Strukturen verschiedener Dimensionen gesellschaftlicher Praxis miteinander vereinbar sind, sich ergänzen, stützen und funktional ineinander greifen. Die gesellschaftliche Form der Produktionsweise beeinflusst dabei den historischen Möglichkeitsraum gesellschaftlicher Praxis, der die Durchsetzung und Ausprägung spezifischer Formen von Politik, Recht, sozialen Beziehungen, individuellen Selbstverhältnissen etc. begünstigen oder

10 Deutlich ist das etwa in der kontingenten Konvergenz heterogener Ereignisse und Entwicklungslinien, die Marx in der Untersuchung der ursprünglichen Akkumulation skizziert (vgl. MEW 23, 741-789; s.u. IV.2). 11 Vgl. zur Terminologie der Entsprechung u.a. auch: MEW 4, 105; MEW 13, 635f.; MEW 23, 315 & 422; MEW 25, 630, 799f. & 809.

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hemmen kann. Das impliziert jedoch nicht, dass die einander entsprechenden gesellschaftlichen Formen und Techniken direkt aufeinander zurückgeführt werden können, sondern nur, dass zwischen ihnen stets Bedingungsverhältnisse, Wechselwirkungen und funktionale Zusammenhänge bestehen. Diese detailliert zu untersuchen ist die in Marx’ Forschungsprogramm des historischen Materialismus gestellte aber nicht gelöste Aufgabe.

2.2 F OUCAULTS ARCHÄOLOGISCH - GENEALOGISCHES P ROGRAMM IM V ERHÄLTNIS ZU M ARX „Wenn Sie einen Schritt weiter gehen, sind Sie kein Archäologe, kein Archäologe des Wissens mehr. Wenn Sie einen Schritt weiter gehen, verfallen sie in den historischen Materialismus.“ EINWAND EINES HÖRERS ZU EINEM VORTRAG FOUCAULTS 1976 (in: Foucault 2005, 239) „Ich zitiere Marx oft […] ohne Anführungszeichen zu setzen. Da die Marxisten nun nicht imstande sind, die Marxtexte zu kennen, gelte ich als einer, der Marx nicht zitiert. Verspürt denn ein Physiker das Bedürfnis Newton oder Einstein ausdrücklich zu zitieren? Er verwendet sie einfach und braucht […] keine Lobrede, die seine Treue gegenüber dem Denken des Meisters unter Beweis stellt.“ MICHEL FOUCAULT (1976, 46)

Foucaults Verhältnis zu Marx ist von gegensätzlichen Positionierungen geprägt. Zu Marx befragt reagierte er teils mit harscher Ablehnung, um dann wieder dessen enormen Einfluss auf seine Forschungen zu betonen, der auch dort vorhanden sei, wo er Marx aus Verweigerung gegen marxistische Diskurse nicht zitiere.12 So markieren die Distanzierungen faktisch eher den Bruch mit dem zeitgenössischen Marxismus. Nach dem Ende seiner Liaison mit der KPF löste sich Foucault nicht nur vollständig von den marxistischen Argumenten seiner frühen Texte,13 er trat auch als „heftiger Antikommunist“ (Eribon 1991, 214) auf, der die „Machteffekte“ eines „Polizeimarxismus“ (Brieler 2002, 43) wie den Duktus marxistischer Intellektueller ablehnte.14

12 So antwortete Foucault 1975 auf die Frage nach Marx: „Verschonen Sie mich mit Marx. […] Wenden Sie sich an die, deren Beruf das ist. […] Ich bin mit Marx vollkommen fertig.“ (Zit. in: Defert 2001, 74) In der vierbändigen Ausgabe der „Schriften“ ist Marx jedoch neben Nietzsche der am häufigsten erwähnte Autor, wie schon ein Blick ins Register zeigt. Vgl. zur Bedeutung der Auseinandersetzung mit Marx u.a.: Foucault 1976, 46; 2005, 255. 13 Vgl. zu Foucaults Zeit in der KPF (1950-53): Eribon 1991, 68ff. & 89ff. Die erste Fassung von Maladie mentale et personalité (1954) erklärt Geisteskrankheit noch nahezu vulgärmarxistisch aus ökonomischen Widersprüchen. In der überarbeiteten Fassung von 1962 ist der gesamte ‚marxistische‘ zweite Teil durch ein Resümee der Grundthesen von Wahnsinn und Gesellschaft ersetzt (vgl. ebd., 118ff.). 14 Vgl. zur Kritik am Marxismus: Foucault 1978, 44; 2003b, 748-775. Auch hier betont Foucault jedoch, es sei nicht „sachdienlich, mit Marx selbst Schluß zu machen. Marx’ Leistungen sind unbestreitbar“ (Foucault 2003b, 753).

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Viele Analysen stellen sich in einen expliziten Gegensatz zu marxistischen Kausalerklärungen, denen Foucault etwa die Reduktionen komplexer und ambivalenter Machtbeziehungen auf eine vorausgesetzte „Klassenherrschaft“ vorwarf (vgl. u.a. Foucault 1978, 69; 1976, 132-143). Andererseits verwies er gerade dann positiv auf Marx, wenn er betonte, dass Machtbeziehung nicht einseitig aus dem Kapitalismus erklärbar sind, sondern dessen historische Voraussetzung bilden; dass vielfältige lokale Wechselwirkungen erst das konstituieren, was als ökonomische Struktur der Gesellschaft erscheint; dass nicht eine bestimmte Klasse der eindeutige Träger der Herrschaft ist, sondern dass die Herrschaftsbeziehungen das stets nur temporäre Produkt heterogener Praktiken und Kräfteverhältnisse sind.15 Während die verfeindeten intellektuellen Clans, die entweder Foucault oder Marx zu ihrem Totem machten, in wechselseitiger Ablehnung auch die beiden Autoren einander entgegensetzten,16 zeigt daher ein genauerer Blick auf die Texte enge Verbindungen zwischen den Problemstellungen und Denkhaltungen, worauf Balibar (1991), Brieler (2002) und Lemke (1997, 73ff.) hingewiesen haben.17 Dass Foucaults Problemstellungen, Leithypothesen und Methoden von einer Affinität zu marxschen Phänomenanalysen und Theorieansätzen geprägt blieben, scheint, wie Foucault (1976) selbst betonte, unvermeidlich: „Man kann heute nicht Historiker sein, […] ohne sich in einem Horizont zu bewegen, der von Marx […] definiert worden ist.“ (Ebd., 46) Schließlich war es Marx, der vor Nietzsche die Rede vom ‚Menschen‘ als überhistorischem Wesen radikal in Frage gestellt und gegen die Subjektphilosophie eine „Geschichtsanalyse [...], die die Konstitution des Subjekts in geschichtlichen Zusammenhängen zu erklären vermag“ (Foucault 1978, 32), angestrebt hatte. Foucault, der Marx noch vor Nietzsche rezipierte, fand in dieser Perspektive, die auf der Grundlage eines Bruchs mit der Anthropologie die Bedingungen des Wissens und Erkennens, der Praktiken und Interessen als historisch gesellschaftliche Produkte behandelte, Anstöße für eigene Forschungen (vgl. u.a. Eribon 1991, 60 & 100). So treten in den prägnantesten Skizzen jenes epistemologischen Horizonts, in dem die archäologische und genealogische Geschichtsanalyse möglich wird, „Marx oder Nietzsche“ (Foucault 1981, 26; vgl. 2001, 727-743) als beinahe synonyme Bezugspunkte auf, wobei Foucaults Modus von „Kritik in der Dimension der Historizität“ (Brieler 2002, 46) mehr mit Marx teilt als mit Nietzsche.

15 Vgl. zu positiven Bezügen u.a.: Foucault 2001, 727-737; 1983, 23-27; 1978, 180. Hinsichtlich der Machtanalytik betont Foucault (2005), dass Marx gezeigt habe, dass „es nicht nur Macht im Singular gibt, sondern Mächte, das heißt Formen der Herrschaft und Unterdrückung, die lokal funktionieren, zum Beispiel in der Fabrik“, die „eigene Funktionsweisen, eigene Verfahren, eine eigene Technik besitzen“ und „nicht einfach als Ableitung oder Folge einer als ursprünglich zu denkenden zentralen Macht verstanden werden“ können. „Marx verwirft dieses Schema ausdrücklich.“ (Ebd., 228ff.) Foucault knüpft so gerade in der Kritik an Postulaten des Marxismus an Marx an. Die Schemata, von denen er sich absetze, könne man „bei diversen Leuten finden, aber niemals bei Marx“ (ebd., 244). 16 Der „Anschein, als ob endlich etwas Neues seit Marx auftauchte“ (Deleuze 1992, 47), ließ Foucault die Funktion zuwachsen, eine sich vom Marxismus abgrenzende neue Form von Gesellschaftskritik zu rechtfertigen (vgl. Lemke 2002a, 20; Eßbach 1991, 74-85). Ältere Marxisten lehnten Foucault daher im Gegenzug pauschal ab (vgl. u.a. Améry 1978). 17 Dies geschieht mitunter mit bezeichnenden einleitenden Rechtfertigungen dafür, die „Frage nach der Beziehung zwischen Foucault und Marx“ überhaupt zu thematisieren (Balibar 1991, 39f.; vgl. auch Brieler 2002, 42ff.).

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Foucault – der seinen eigenen Ansatz in eine „erkenntnistheoretische Veränderung“ einordnete, deren „Ursprung [man] bis auf Marx zurückführen kann“ (Foucault 1981, 22, vgl. ebd. 9-27) – interessierte an Marx und Nietzsche gleichermaßen die „Dezentrierung“ des Geschichts- und Subjektverständnisses. Foucault teilt dabei mehr mit Marx als mit Nietzsche, da er von Nietzsche zwar den Begriff ‚Genealogie‘ übernimmt, nicht aber dessen biologistische und metaphysische Hintergrundkonzeptionen. Gegen eine „Metaphysik der Macht schlechthin“ sieht er es als Ziel seiner Analysen zu zeigen, wie ein konkretes Machtgeflecht „zu einer bestimmten Zeit entstehen konnte. Woraus? Aus jenen ökonomischen und demographischen Prozessen, die sich Ende des 16. Jahrhunderts deutlich abzeichnen.“ (Foucault 2003b, 790) Solche Bezüge sind nicht nur von ideengeschichtlichem Interesse, sie sind systematisch aufschlussreich, insofern Foucaults Analysen einige von Marx nur skizzierte Voraussetzungen und Tendenzen des Kapitalismus präziser zu fassen erlauben und umgekehrt marxsche Perspektiven helfen können, Foucaults Analysen zu ‚unterfüttern‘. Beide Ansätze lassen sich in ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung bringen. Das gilt nicht nur für gegenstandsbezogene Analysen (s.u. IV), sondern auch für die Forschungsprogramme, wie sich an den Bestimmungen des archäologischen und genealogischen Projekts zeigen lässt. Der von Foucault seit Die Geburt der Klinik gebrauchte Begriff der Archäologie und der diesem später komplementär zur Seite gestellte Begriff der Genealogie, bieten wohl die umfassendste Bestimmung seines Forschungsprogramms.18 Die Archäologie zielt auf das Freilegen historisch aufeinander folgender und sich überdeckender Wissensformationen, die durch je eigene Logiken der Organisation des Wissens gekennzeichnet sind. Die jeweiligen „in der Zeit gebildeten Apriori“ (Foucault 1974, 261; vgl. 1981, 183ff.), die als „stumme Ordnung“ der Konstitution der Gegenstände des Wissens und den als wahr erachteten Aussagen vorausgesetzt sind, sollen dabei zunächst durch eine Art Analytik der „Oberfläche“ erschlossen werden, die die immanenten Zusammenhänge eines Aussagengebiets – also die Relationen und Positionen von Aussagen in ihrem Verhältnis zueinander – bestimmt, statt von vornherein eine dahinter liegende Ursache anzunehmen.19 Die damit verbundene Entscheidung, Diskurse zunächst auf jene praktischen Formationsregeln hin zu befragen, die einer diskursiven „Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifität definieren“ (Foucault 1981, 71), also „in der Dimension des Diskurses“ zu bleiben (ebd., 112), wird dabei aber als methodische Entscheidung gekennzeichnet, die nicht mit der ontologischen Setzung einer absoluten Autonomie und Unbedingtheit der diskursiven Formationen zu verwechseln ist. Sie führt nicht notwendig in einen „‚archäologischen‘ Zirkel“ (Lecourt 1975, 96), der den Ursprung der Formationssysteme einzig im Diskurs selbst sucht, wie dies oft moniert wurde (vgl. Dreyfus/Rabinow 1982, 110f.; Lemke

18 Die Genealogie soll die Archäologie nicht ersetzen, sondern ergänzen. Es handelt sich nicht um unterschiedliche Forschungsprogramme, sondern um „simultane Dimensionen derselben Analyse“ (Foucault 1992, 39). 19 Foucault (vgl. 1981, 174ff.) wendet sich damit gegen die Unterstellung eines hinter den Diskursen liegenden cogito, einer werdenden Totalität, etwa im Sinne von Hegels ‚Weltgeist‘, eines verborgenen Ungesagten oder eines jenseits des Diskurses liegenden Signifikats. Das impliziert auch eine Selbstkritik an Vorstellungen einer „ursprünglichen dumpfen, kaum analysierten Erfahrung“ (ebd., 71f.), wie sie Wahnsinn und Gesellschaft prägten.

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1997, 48ff.). Wenn Foucault dafür votiert, Wissensformationen auf die immanente Logik ihrer Regelmäßigkeiten zu befragen, impliziert das zwar eine Absage an schematische Erklärungen der Diskurse zu ‚Überbaureflexen‘ einer ‚ökonomischen Basis‘,20 verleiht ihnen aber „kein Statut reiner Idealität und völliger [...] Unabhängigkeit“ (Foucault 1981, 235). Statt Diskurse ‚aus sich selbst‘ zu verstehen, soll die Archäologie, wenn die immanenten Zusammenhänge herausgearbeitet sind, die „Verhältnisse zwischen den diskursiven Formationen und den nichtdiskursiven Bereichen [...] (Institutionen, politische Ereignisse, ökonomische Praktiken und Prozesse)“ untersuchen, um zu bestimmen, wie „die Formationsregeln“ eines Wissens mit „nichtdiskursiven Systemen verbunden“ sind. Statt sich aber darauf festzulegen zu zeigen, wie „die ökonomischen Prozesse das Bewußtsein des Wissenschaftlers [...] bestimmen“, soll im Einzelnen geklärt werden, „wie und in welchen Eigenschaften“ politisch-ökonomische Verhältnisse für einen bestimmten Diskurs „Bedingungen seines Auftauchens, seiner Einbeziehung und seines Funktionierens“ bilden (ebd., 231).21 Dies ist jenem Verständnis der gesellschaftlichen Bedingtheit von „Ideenformationen“ (MEW 3, 38), wie es oben an Marx gezeigt wurde, affin. Foucault selbst kündigt am Ende der Archäologie des Wissens an, dass die Archäologie, wo sie „die Formation der Gegenstände, die Felder in denen sie auftauchen und sich spezifizieren, und auch die Aneignungsbedingungen der Diskurse untersucht, […] der Analyse der Gesellschaftsformationen [begegnet]“, ja dass eine die Archäologie „umfassende Theorie“ eine „allgemeine Theorie der Produktion“ wäre (Foucault 1981, 295 [Hervh. i.O.]). ‚Gesellschaftsformation‘ ist nicht nur ein marxscher Begriff, Foucault wird in den genealogischen Arbeiten, in denen diese Begegnung stattfindet, gehäuft auf Marx zurückgreifen (s.u. IV). Obwohl die Diskontinuität zwischen Diskurs- und Machtanalytik, zwischen Archäologie und Genealogie vor diesem Hintergrund keineswegs so scharf ausfällt wie in der Rezeption oft dargestellt, markieren die in den 1970er Jahren entstandenen Texte in mehrfacher Hinsicht eine Transformation gegenüber dem rein archäologischen Ansatz. Auffällig ist dies bereits an den Gegenständen. Der Analyse der Denksysteme und Wissensformationen treten nun Analysen von im engeren Sinne ‚materiellen‘ Ordnungsarrangements an die Seite, die den menschlichen Körper und den ‚Gesellschaftskörper‘ in Gestalt von Bevölkerung, Territorium und Ökonomie betreffen.22 Zwar war der Körper schon in der Geburt der Klinik zentral und Bevölkerung

20 Foucault (vgl. 2001, 727-743) sieht in Marx einen „Entdecker“ der „Oberfläche“ im so verstandenen Sinne, da er in seiner Kritik des Idealismus wie in den Analysen des politischökonomischen Wissens in einem „Spiel mit der Flachheit“ (ebd., 731) auch die inneren Zusammenhänge und Widersprüche der behandelten Wissensformen vorführt. 21 Foucault (1981) betont ausdrücklich, dass er eine „kausale Analyse in der Schwebe hält […], nicht, um die souveräne […] Unabhängigkeit des Diskurses“ zu behaupten, sondern um zunächst „den Existenz- und Funktionsbereich einer diskursiven Praxis zu entdecken“. Erst auf dieser Grundlage ist zu bestimmen, wie Diskurse, die ihre eigene „Historizität haben [...,] mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen“ (ebd., 235). 22 „Das große Buch vom Menschen als Maschine wurde gleichzeitig auf zwei Registern geschrieben: auf dem anatomisch-metaphysischen Register […]; und auf dem technisch politischen Register, das sich aus einer Masse von Militär-, Schul-, und Spitalreglements sowie aus […] Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten angehäuft hat.“ (Foucault 1994, 174) Beide „Register“ sind unterschieden, aber aufeinander bezogen.

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und Ökonomie spielen in der Ordnung der Dinge eine große Rolle (vgl. Foucault 1974, 211-268 & 310-322), jedoch ging es dort primär um ihre Konstitution als Gegenstände des Wissens. Demgegenüber versucht Foucault nun, die „Archäologie […] auf die Erforschung der Machtmechanismen [zu] gründen, die Körper, Gesten und Verhalten besetzt haben“ (Foucault 1976, 111). Wie der Ausdruck ‚gründen‘ nahe legt, wird über die Freilegung der historischen Schichten des Wissens hinaus eine Analyse der historischen Genese der Systeme diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken angestrebt, in denen auch die Wissensformationen bedingt sind und aus denen sie erklärt werden sollen. Damit treten der Körper – als materieller Gegenstand disziplinarischer Techniken zur Steigerung der körperlichen (Produktiv-)Kräfte (vgl. Foucault 1994) – oder Bevölkerung, Territorium und Ökonomie als Objekte einer aktiven „Biopolitik“ (vgl. Foucault 1983) und neoliberaler Regierungspraktiken (vgl. Foucault 2004b) ins Zentrum der Analysen. Hierfür wird der Archäologie eine Genealogie an die Seite gestellt, die nicht mehr die inneren Zusammenhänge diskursiver Formationen herausarbeitet, sondern nach ihrer „Herkunft“ fragt (Foucault 2002, 171). In dieser Genealogie ist, wie bei Nietzsche, dem der Begriff entlehnt ist, die Analyse der Machtbeziehungen und Kämpfe zentral. Jedoch ist allenfalls die erste Skizze dieses Konzepts im 1971 publizierten Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie von jener nietzscheanischen Terminologie der Gewalt und Überwältigung getragen (vgl. u.a. ebd., 176f.), auf die spätere Kritiker (vgl. u.a. Habermas 1988a) die gesamte Machtanalytik Foucaults reduzierten. Gegenüber solchen Verkürzungen hat Foucault nicht nur ein originelles, differenziertes und von Nietzsche unterschiedenes Machtkonzept entwickelt, schon die Einführung der Genealogie ist keinem blinden Nietzscheanismus geschuldet, sondern bildet eine Reaktion auf die Grenzen des archäologischen Programms, das „die Beziehungen zwischen den diskursiven und den sozialen und ökonomischen Formationen […] nicht systematisch gefasst“ (Foucault 2002, 191) habe und dadurch die „Wurzel“ der Brüche an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert „nicht genau zu lokalisieren“ (ebd., 199) vermochte. Das Ausgangsproblem der Machtanalytik erinnert so eher an marxsche als an nietzscheanische Fragestellungen. Die Genealogie soll in diesem Kontext im „Gegensatz zur Zurückführung einer vielfältigen Nachkommenschaft auf eine einzige gewichtige Ursache“ (Foucault 1992, 37) die vielfältigen Wechselwirkungen heterogener Problemlagen, Strategien und Praktiken, in deren Effekt bestimmte historische Singularitäten (diskursive, ökonomische und soziale Formationen, Formen der Subjektformierung, Machtdispositive etc.) entstanden sind, möglichst differenziert nachzeichnen. Sie kann damit nur eine „Einsichtigmachung“ dieser kontingenten Entwicklungslinien erreichen, nicht aber eindeutige Kausalschlüsse anbieten, da die „Basis dieses Netzes einsichtiger Beziehungen […] in der eigenen Logik eines Spiels von Interaktionsbeziehungen mit seinen ständig wechselnden Margen von Ungewißheit liegt“ (ebd., 37f.). Es handelt sich also um ein extrem offenes Forschungsprogramm, das jede Präjudizierung auf eine absolute Ursache (egal ob man diese ‚die Ökonomie‘ oder ‚die Macht‘ nennt) ausschließt. Auch die anfängliche Fokussierung der Analysen auf Phänomene von Kampf, Krieg und Schlacht, die noch Überwachen und Strafen deutlich prägte und der Darstellung konkreter Machtbeziehungen entgegen des programmatischen Anspruchs, wechselseitige Verhältnisse zu analysieren, mitunter das Gepräge einseitiger

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Überwältigungs- und Zurichtungsvorgänge gab, wird später zugunsten differenzierterer Analysen aufgegeben, die dem Umstand Rechnung tragen, dass „Herrschaftsprozesse [...] komplexer und vieldeutiger sind als Krieg“ (Foucault 2003b, 205f.).23 Vor diesem Hintergrund erscheint die Genealogie als gänzlich ‚unmarxistisches‘ Forschungsprogramm. Gerade dadurch aber, dass sie ‚Erklärungen‘ aus einer von vornherein als Urgrund vorausgesetzten ‚ökonomischen Basis‘ oder aus den Interessen und Strategien der ‚herrschenden Klasse‘ ausschließt, wie sie von einem „etwas schlichten Marxismus“ (Foucault 2002, 650) oft angeboten wurden, kann sie unerwartete Wechselwirkungen und Bedingungsverhältnisse in den Blick bekommen, die zum Verständnis der Genese und Transformationen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung mehr beitragen als viele marxistische Studien (s.u. IV).

2.3 K APITAL ALS D ING GEWORDENES S OZIALVERHÄLTNIS . B OURDIEUS S OZIOLOGIE DER ÖKONOMISCHEN P RAKTIKEN „Die ganze Religionssoziologie von Weber hätte eigentlich Marx machen müssen. Weber steht keineswegs in einem unauflöslichen Gegensatz zu Marx. […] Das umgekehrte lässt sich nicht minder sagen […]; man könnte […] auf Webersche Projekte verweisen, die Marx […] in der ‚Deutschen Ideologie‘ glänzend eingelöst hat. […] Man muß die Autoren auf eine bestimmte Fragestellung hin lesen, um ihnen das Beste abzufordern, was sie geben können.“ PIERRE BOURDIEU (1992a, 44f.)

Ungeachtet mancher Affinitäten zu marxschen Fragestellungen und Analyseperspektiven stand Bourdieu kaum in Verdacht, Marxist zu sein. Seine Polemiken gegen eine „marxistische Vulgata, die weit über die politischen Gruppierungen hinaus die Gehirne mehr als eine Generation umnebelte“ (Bourdieu 2001c, 16), und die umgekehrte Skepsis, die noch die posthumen Annährungen einer marxistischen Linken auf der Suche nach Neuorientierung prägte, verraten ein ausgeprägtes wechselseitiges Misstrauen.24 Äußerungen, denen zufolge die marxistische Theorie heute „das stärkste Hindernis darstellt für die Weiterentwicklung einer adäquaten Theorie der sozialen Welt – zu der sie doch einst mehr als jede andere beigetragen hat“ (Bourdieu 1985, 41f.), zeigen jedoch, dass sich Bourdieus „heftige Ablehnung des Marxismus“ mit „distanzierter Wertschätzung des soziologischen Klassikers Marx“ verband (Lauermann 2007, 93). Seine häufigen Bezugnahmen auf Marx sind jedoch, wie das einleitende Zitat deutlich zeigt, keiner Logik der ‚Textexegese‘ und keinem rückhaltlosen

23 Vgl. zu einer differenzierten Rekonstruktion dieser Verschiebungen im Werk Foucaults und zu ihren Ursachen in Problemen, die aus der anfangs zugrunde gelegten, an Nietzsche orientierten „Kriegshypothese“ resultieren: Lemke 1997, 126-150. 24 Vgl. zum ambivalenten Verhältnis von Bourdieu und ‚der Linken‘ auch die Beiträge in: Böhlke/Rilling 2007.

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‚Bekenntnis‘ zum ‚Totem Marx‘25 verpflichtet, sondern konkreten Problemstellungen, an denen die Potenziale der Theorie geprüft werden, um dort, wo sie an ihre Grenzen stößt, mit ihr zu brechen und in ihr unausgereifte oder übersehene Fragen anders zu akzentuieren. Die Anspielung, dass eigentlich Marx die Religionssoziologie Webers hätte formulieren müssen, verdeutlicht, dass es Bourdieu darum geht, an die von Marx aufgeworfene, aber nie systematisch bearbeitete Frage nach den kulturellen und symbolischen Voraussetzungen der kapitalistischen Wirtschaftsform anzuknüpfen und dabei Webers Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen als eine Anregungsquelle zu sehen. Auch Weber hatte ja „Marx nicht […] eine idealistische Geschichtstheorie entgegenstellt, sondern die materialistische Denkweise auf Gebiete an[ge]wendet, die der Marxismus faktisch dem Idealismus überließ“ (Bourdieu 1987, 37; vgl. auch 1992b, 51f.; vgl. Weber 1986, 205f.).26 Statt monokausal Wirtschaftsweisen aus Wirtschaftsgesinnungen abzuleiten, sollen Wechselwirkungen und Interdependenzen zwischen ökonomischen und kulturellen Dimensionen der Praxis herausgearbeitet werden, um die kulturellen Voraussetzungen spezifischer Wirtschaftsweisen ebenso wie die „wirtschaftlichen Bedingungen des Wandels der Wirtschaftsgesinnungen“ (Bourdieu 2000a, 104-139) aufzuzeigen. Ähnlich sollen spätere Arbeiten zu den symbolischen Mechanismen der Reproduktion der Klassenverhältnisse die materialistische Klassentheorie nicht durch eine kulturalistische ersetzen, sondern erweitern (s.u. V). Über einige leitmotivische Marxzitate hinaus (vgl. u.a. Bourdieu 1976, 137), zeigen Bourdieus Grundbegriffe und Fragen dabei im Kern der Definitionen ein ‚marxsches Erbe‘. Deutlich wird dies bei genauerer Betrachtung der Kennzeichnung des Forschungsprogramms als „allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft“, die „das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen” (Bourdieu 1992a, 52) innerhalb der jeweiligen Ökonomie der Praxisformen erfassen soll. Dieser ‚Ökonomismus‘ wurde in der soziologischen Rezeption oft dahingehend verstanden, dass er alle sozialen Phänomene in das Einerlei einer ökonomischen Theoriesprache auflöse, die ausschließlich um utilitaristische Zweck-Kalküle zentriert sei (vgl. Honneth 1999, 177-202; Nassehi 2006a, 261-271). Bourdieus Ansatz wurde so als Verallgemeinerung eines neoklassischen Markt-Paradigmas interpretiert, demzufolge Akteure in allen Praxisfeldern der modernen Gesellschaft wie auch in allen anderen historischen Formen der Vergesellschaftung als ihre Interessenkalküle verfolgende atomistische Individuen in Konkurrenz um „knappe Güter“ stünden und versuchten, das Beste für sich herauszuholen.27 So verstanden wäre das Konzept eine merkwürdige französische Variante des Rational Choice, die nur den ‚modus operandi‘ des rationalen Kal-

25 Bourdieu vermied solche ‚Bekenntnisse‘, um von „den Grenzscharmützeln zwischen Marxisten, Durkheimianern usw. in Frieden gelassen zu werden“. Diese „theoretischen Auseinandersetzungen“ seien meist „totemistische Spielereien, Klankämpfe: mein Totem ist Marx, deins ist Weber“ (Bourdieu 1992a, 44). 26 Auf die positive Verbindung von Marx und Weber ging Bourdieu (vgl. u.a. 2000b, 11-37 & 110-129) oft ein und bezog sich besonders auf den Abschnitt „Stände, Klassen und Religion“ in Wirtschaft und Gesellschaft, der eine überaus materialistische Erklärung des Zusammenhangs der Ausprägung religiöser Interessen und Bedürfnisse mit den sozioökonomischen Lagen und den herrschenden Produktionsweisen gibt (vgl. Weber 1984, 285-314). 27 Vgl. u.a.: Fley 2006, 182-190; Rehbein 2006; Nassehi 2004 & 2006a; Volkmann/Schimank 2006, 224f.

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küls vom Bewusstsein in den Habitus verlegt, im Übrigen aber ein ähnliches Grundmodell individueller Akteure verwendet, die auf Märkten strategisch ihre Interessen verfolgen. Tatsächlich gab es sowohl Anschlussversuche aus dieser Richtung (vgl. u.a. Volkmann/Schimank 2006) als auch provokante Fragen, was Bourdieus ‚allgemeine Ökonomie‘ eigentlich von Theorien ‚rationaler Wahl‘ unterscheide, gegen die er so heftig polemisierte (vgl. Kieserling 2000, 382).28 An dieser Interpretation orientierten sich auch von Marx ausgehende Kritiken, die bei Bourdieu die Merkmale kapitalistischer Gesellschaften „jeder gesellschaftlichen Spezifik enthoben und zur anthropologischen Konstante aufgestiegen“ sahen (Koch 1994, 105), also diesem Ansatz eben das zum Vorwurf machten, was Bourdieu (vgl. u.a. 1998a, 162-204) am ‚Rational Choice‘ kritisiert hatte. Nun sind Begriffe von Markt, Kalkül und Konkurrenz fraglos ein integraler Aspekt von Bourdieus Theoriesprache. Betrachtet man die Ansätze – von den frühen Studien zur kabylischen Ökonomie über die Analyse sozialer Reproduktionsmechanismen im Bildungssystem und in Distinktionspraktiken bis zu den Analysen ausdifferenzierter gesellschaftlicher Felder29 – aber genau, so erweist sich der erweiterte Ökonomiebegriff weit eher Fragestellungen und Analysemustern der klassischen politischen Ökonomie und der marxschen Kritik dieser Ökonomie verpflichtet. Märkte und Marktkalkül fungieren hier nicht als vorausgesetztes Explanans, sondern bezeichnen Momente von (Re-)Produktionszyklen moderner Gesellschaften, die bezüglich der konkreten Gestalt der ökonomischen, kulturellen und symbolischen Produkte entwicklungsoffen sind, aber stets die ihnen vorausgesetzten (Klassen-)Verhältnisse und (Verwertungs-)Logiken reproduzieren müssen. Die theoriesystematisch zentralen Metaphern sind dabei nicht die des Marktes und des Kalküls, sondern solche der Produktion und Reproduktion. So sind etwa Felder bei Bourdieu nicht einfach ‚Märkte‘, sondern ausdifferenzierte Sondersphären der Produktion und Distribution bestimmter Güter; „Produktionsfelder“ (Bourdieu 2001a, 274), in denen „die Charakteristiken der Produzenten definiert sind durch deren Stellung in Produktionsverhältnissen“ (Bourdieu 1993, 80). Statt einer allgemeinen Theorie der Verteilungskämpfe steht der Doppelprozess von Produktion und Distribution im Zentrum der Analysen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Frage, wie nicht nur Ressourcen, sondern auch die Modi des Austauschs, die Individuen und ihre ökonomischen Dispositionen, die für eine bestimmte Organisation von Produktion und Austausch vorausgesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen etc. produziert werden. Statt das historische Schema des marktvermittelten Tauschs oder des Individuums als Marktakteur als transhistorische Universalien einem allgemeinen Modell der Praxis zugrunde zu legen, gelten Märkte 28 Bourdieus Kritik am Rational Choice wäre kaum verständlich, wenn dem Modell des bewussten Kalküls, der perfekten Information und des idealen Wettbewerbs nur entgegengesetzt würde, dass Kalküle unbewusst, Informationen unvollständig und Chancen ungleich sind, denn all dies ist im Rational Choice längst integriert. Seine Kritik zielt aber (wie Marx’ Kritik der ‚Vulgärökonomie‘) auf die Grundlagen einer Theorie, die als universell gegeben voraussetzt, was erklärungsbedürftig ist. Vgl. Bourdieu 1998a, 162-204; 1987, 8696; 1999, 173f.; 2000a, 17ff. 29 Vgl. zur kabylischen Ökonomie: Bourdieu 2000a; 1976; 1987; zur Bildung: Bourdieu/Passeron 1973; Bourdieu 2004a; zur Distinktion: Bourdieu 1999; zu einzelnen Feldern: Bourdieu 1988; 1998a; 1998c; 2010b; 2001a).

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und Marktakteure als erklärungsbedürftiges historisches Produkt.30 Dass der theoriesystematische Vorrang der Produktionsmetaphorik vor der Verteilungsmetaphorik in der Rezeption trotz der produktionszentrierten Terminologie Bourdieus oft übersehen wurde, mag einerseits an der unreflektierten Prägung der Soziologie durch die neoklassische Ökonomie liegen, die dazu führt, dass jede ökonomische Terminologie automatisch in diesem Schema interpretiert wird (vgl. Henning 2005, 190-250), andererseits an popularisierenden Darstellungen, die im Bemühen um Anschlussfähigkeit und Vereinfachung die Trinität von Akteur-Markt-Konkurrenz stärker akzentuieren. Problematisch ist aber auch, dass Bourdieus grundlegende frühe Arbeiten zur kabylischen Ökonomie vergleichsweise wenig rezipiert wurden.31 Prägend für den erweiterten Ökonomiebegriff sind aber eben diese frühen Analysen einer Gesellschaft, deren Ökonomie in ein Gefüge sozialer, kultureller und religiöser Praktiken eingebettet bleibt, deren Ziel das ist, „was Marx die einfache Reproduktion nannte, also in ein und demselben Zuge und untrennbar die Produktion der Güter, die es der Gruppe ermöglichen zu überleben und sich biologisch zu reproduzieren, und die Reproduktion der Bindungen, Werte und Glaubensvorstellungen, die die Gruppe zusammenhalten“ (Bourdieu 2000a, 43). Diese Ökonomie ohne verselbständigte ökonomische Praxis und ohne „selbstregulierten Markt“ – im Sinne von Polanyi (vgl. 1997, 75ff.) – bleibt unverständlich, wenn sie unabhängig von der Reproduktion der sozialen und symbolischen Ordnungen analysiert wird, deren Moment sie ist. Bourdieu arbeitet dabei heraus, dass die in einer kapitalistischen Ökonomie erforderten Wirtschaftsgesinnungen, aber auch die alltäglichen Dispositionen hinsichtlich Zeit, Arbeit und Eigentum in diesen vorkapitalistischen ökonomischen Formen ebenso ausgeschlossen sind wie das Marktkalkül rationaler Eigennutzenmaximierer (vgl. Bourdieu 2000a, v.a. 32-60; 2010a, v.a. 94-125 & 303-335). Die zentrale Frage von Bourdieus späteren Analysen der französischen Gesellschaft wird sein, wie die Reproduktion sozialer und kultureller Voraussetzungen der Ökonomie – einschließlich der (symbolischen) Machtverhältnisse zwischen den Klassen – unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Ökonomie verläuft. Um die Reproduktion der Klassenverhältnisse, die in einer kapitalistischen Gesellschaftsform zentrale ökonomische Funktionen haben, adäquat zu verstehen, muss nach

30 Vgl. v.a. Bourdieu 1998a, 162-204; 1992b, 111-118; 2000a, 7-31. Zu den wenigen Rezipienten, die dies in angemessener Weise bemerkten, gehört Michael Vester (vgl. 2002, 61121), der eine Ausnahme von den hier kritisierten Tendenzen der Bourdieu-Rezeption bildet. Vester bringt allerdings auch die ungewöhnliche Voraussetzung mit, nicht nur ein differenzierter Kenner des bourdieuschen, sondern auch des marxschen Ansatzes zu sein, und verfügt zudem über breite Kenntnisse des Frühsozialismus und der klassischen politischen Ökonomie (vgl. Vester 1970a & 1970b). Vester (2002) betont entsprechend – gegen Ansätze, die Bourdieu wie eine „Variante der ‚rational choice‘ Theorie“ verwenden und Klassenlagen aus Interessen und Verteilungskämpfen ableiten oder schlicht als gegeben hinnehmen –, dass die Kapitalverteilung nur Indikator, nicht Ursache der Klassendifferenzen ist, während die Ursachen in den „gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen“ und „Feldbedingungen“ zu suchen sind (ebd., 69f.). 31 In Deutschland war dies auch ein Problem der späten Übersetzung. So erschien etwa Algérie 60. Structures économique et structures temporelles hier erst im Jahr 2000 mit dem Titel Die zwei Gesichter der Arbeit. Bourdieu (vgl. 2000a, 7-22; 2008, 9-14; 1998a; 1992b, 21-27) wies jedoch oft darauf hin, dass in den frühen Studien zur Transformation der algerischen Ökonomie die wichtigsten Weichenstellungen seiner Theorie erfolgten.

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Bourdieu auch die kulturelle und symbolische Ökonomie der nicht im engeren Sinne ökonomischen Reproduktionsprozesse analysiert werden, die zur Verstetigung und Anerkennung der gegebenen Verhältnisse beitragen. Hier hat die Differenzierung und Erweiterung der Kategorie des Kapitals ihren systematischen Grund: Sie soll einerseits Zusammenhänge von Lebenslagen und Lebensstilen durch eine differenziertere Konstruktion der Klassenverhältnisse besser erfassen und andererseits Mechanismen der Durchsetzung, Perpetuierung oder Veränderung der Produktions- und Herrschaftsordnung erklären helfen. Auch diese Verwendung des Kapitalbegriffs ist in der Rezeption wenig verstanden worden, wie schon die häufige Synonymisierung des Terminus mit ‚Ressourcen‘ oder ‚Gütern‘ zeigt. Bekannt ist, dass Begriffe wie Arbeit, Kapital und Produktion von Bourdieu durch multifaktoriale Konstruktionsarbeit weiter gefasst werden als in der marxistischen Tradition: Auch die Produktion kultureller Güter und Kompetenzen, soziale Aktivitäten und – ähnlich wie in Ecos (1991) Begriff „semiotische Arbeit“ – die symbolische Konstruktion und Verstetigung sozialer Realität (etwa im distinktiven Konsum) werden hier als gesellschaftliche Arbeit und ihr in objektivierter und habitualisierter Form akkumuliertes Produkt als Kapital verstanden. Vom ökonomischen Kapital unterscheidet Bourdieu (1992a) ein durch „unaufhörliche Beziehungsarbeit“ (ebd., 67) zur Einbindung in Gruppen oder Netzwerke akkumuliertes soziales Kapital; ein kulturelles Kapital, das objektiviert in Gütern (Bücher, Kunstwerke, Instrumente) eine materielle Komponente beinhaltet, seine kulturelle Eigenlogik aber erst in Verbindung mit dem zum „festen Bestandteil der ‚Person‘, zum Habitus“ (ebd., 56) gewordenen inkorporierten kulturellen Kapital entfaltet (vgl. auch Bourdieu 1999, 358f.); schließlich das symbolische Kapital als besondere Funktionsund Erscheinungsweise, die die Kapitalformen annehmen, wo sie durch gesellschaftliche Anerkennungsarbeit auf Dauer gestellt und legitimiert werden, etwa im institutionalisierten kulturellen Kapital von Bildungstiteln, die zur Einnahme bestimmter Positionen autorisieren (vgl. Bourdieu 1999, 48ff.; Bourdieu/Boltanski 1981). Zudem werden je spezielle, in differenzierten Praxisfeldern akkumulierte, zirkulierende und investierbare Sonderformen definiert und ad-hoc neue Kapitalbegriffe gebildet.32 Angesichts dieses inflationären Gebrauchs sahen viele Kritiken den spezifischen Gehalt des Kapitalbegriffs überdehnt, verwischt oder ganz verloren.33 Genau besehen liegt Bourdieus formale Bestimmung von Kapital jedoch sehr nahe an Marx’ Verständnis, denn wie für diesen ist der Anschein, als sei das, was mit Kapital bezeichnet wird, eine Sache oder Ressource, eben nur ein Anschein, hinter dem sich eine historisch bestimmte Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen Individuen bzw. Klassen von Individuen verbirgt. Kapital gilt zunächst als „akkumulierte Arbeit“, wobei die „universelle Wertgrundlage, das Maß aller Äquivalenz, [...] nichts anderes als die Arbeitszeit im weitesten Sinne des Wortes“ (Bourdieu 1992a, 71; vgl. 2001a, 273f.) sei. Als symbolischer Ausdruck dieses Wertes fungieren generalisierte Medien, neben dem Geld etwa institutionalisierte Bildungstitel. Diese dienen der

32 Z.B. „religiöses Kapital“ (vgl. Bourdieu 2000b); „politisches Kapital“ (vgl. Bourdieu 2010b); „wissenschaftliches Kapital“ (vgl. Bourdieu 1998c). Darüber hinaus spricht Bourdieu (vgl. 1990) auch von „sprachlichem Kapital“ etc. 33 Vgl. etwa Rehbein 2006, 113ff.; 2003, 77-95; Rehberg 2007, 34ff.; Koch 1994, 101-106.

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Zirkulation und Distribution von Werten, vor allem aber garantieren sie die „Verfügungsmacht über das in der Vergangenheit erarbeitete Produkt (insbesondere Produktionsmittel)“ und damit „über die Mechanismen zur Produktion einer bestimmten Kategorie von Gütern“ (Bourdieu 1985, 10). Als Kapital wirkt das akkumulierte Produkt auch hier nur in der besonderen Form eines auf Verwertung angelegten Wertes. ‚Knappe Güter‘ sind nicht notwendig Kapital, sondern nehmen nur in spezifischen Produktionsverhältnissen die Form eines ausdifferenzierten Kapitals an: „Wie der ökonomische Reichtum nur in Verbindung mit einem ökonomischen Apparat als Kapital fungieren kann, so wird auch die kulturelle Kompetenz in all ihren Formen als kulturelles Kapital nur im Rahmen jener objektiven Beziehungen gebildet, die sich zwischen dem ökonomischen Produktionssystem und dem System der Produktion der Produzenten (das selbst in der Beziehung zwischen Schulsystem und Familie geschaffen wird) herstellen.“ (Bourdieu 1976, 362; vgl. 1987, 226f.)

Die enge Bindung des Kapitalbegriffs an ein ausdifferenziertes Produktionssystem oder Produktionsfeld teilt Bourdieu ebenfalls mit Marx, und es wird unten (V.3) herauszuarbeiten sein, dass beide Ansätze ‚Kapital‘ zugleich als Funktionsbegriff zur Analyse bestimmter Produktionsverhältnisse und als sozialen Differenzierungsbegriff verwenden, wobei es nicht nur um eine sozialstrukturelle Klassifikation nach der Kapitalverfügung geht, sondern um Relationen, in denen verschiedene Klassen von Individuen vermittelt über die funktionellen Prozesse der Produktion und Distribution aufeinander bezogen sind. Wie für Marx ist daher das Kapital für Bourdieu keine dingliche oder sachliche Kategorie, sondern ein „einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich an einem Ding darstellt und diesem Ding einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter gibt“ (MEW 25, 822; s.u. III). Ein Kunstwerk etwa gilt Bourdieu nur als kulturelles Kapital insofern es der objektivierte Ausdruck eines „zum Ding gewordenen Distinktionsverhältnisses“ ist, das „selber ein soziales Verhältnis darstellt, und zwar anders als die Illusion kultureller Gleichheit sich das vormacht, ein soziale Unterschiede implizierendes Verhältnis“ (Bourdieu 1999, 357). Der dem Kunstwerk aufgeprägte Kapitalcharakter hat dabei – auch dies ist eine Parallele zu Marx – nichts mit seinen stofflichen Eigenschaften oder mit dem subjektiven Gebrauchswert zu tun, sondern beruht auf seiner Funktion in einem gesellschaftlichen Verhältnis, in dem die Verfügung über die materiellen und symbolischen Mittel des legitimen Umgangs mit Kulturgütern einen Distinktionsgewinn gestattet, der der Markierung und Legitimierung sozialer und ökonomischer Unterschiede dient. Diese Funktion wiederum kann das Kunstwerk, ebenso wie eine besondere Qualifikation, nur erfüllen, insofern das soziale Verhältnis, das in ihm ausgedrückt und in seinem Gebrauch reproduziert wird, ein Verhältnis der Aneignung und Enteignung ist. Dass Kulturprodukte oder Qualifikationen die gesellschaftliche Form von Kapital annehmen, setzt eine „ursprüngliche Akkumulation des kulturellen Kapitals als totale oder teilweise Monopolisierung der symbolischen Mittel“ und „Werkzeuge“ (Bourdieu 1987, 227f. [Hervh. i.O.]) voraus, die den Zugang zu religiösen, kulturellen oder wissenschaftlichen Produktionsprozessen und Praktiken regulieren. Zwischen dem durch die Schriftkultur ermöglichten und im modernen Bildungssystem vollendeten Prozess, in dem die Mittel zur Produktion und Distribution kultureller Werte von bestimmten gesellschaftlichen Klas-

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sen angeeignet werden, was zugleich den Ausschluss anderer Klassen impliziert, und der bei Marx als historische Aneignung und Enteignung der Verfügungsmacht über die ökonomischen Produktions- und Distributionsmittel rekonstruierten „ursprünglichen Akkumulation“ (vgl. MEW 23; 741-791; s.u. IV.2) verzeichnet Bourdieu also eine Homologie. Dies unterscheide die „legitime Kultur der Klassengesellschaften“, die dazu dient, „Herrschaft auszudrücken und zu legitimieren“, von der „Kultur wenig oder nicht klassendifferenzierter Gesellschaften“: Da dort „die Aneignungsinstrumente für die überlieferte Kultur mehr oder weniger Allen zugänglich sind, […] kann Kultur […] nicht die Funktion von kulturellem Kapital […] einnehmen, oder doch nur in sehr engen Grenzen und in einem sehr hohen Grad von Verschleierung“ (Bourdieu 1999, 359). Inwieweit diese von Bourdieu hergestellten Analogien zwischen ökonomischen und kulturellen Kapitalverhältnissen ein tragfähiges Analyseinstrument zum Verständnis gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse in der modernen (kapitalistischen) Gesellschaftsformation darstellen, kann erst unten (V) geklärt werden. Hier sollte zunächst herausgestellt werden, dass Bourdieus Kapitalbegriff dem marxschen Kapitalbegriff soweit folgt, wie dies in der Übertragung auf nicht im engen Sinne ‚ökonomische‘ Phänomenbereiche überhaupt möglich ist. Aus dieser Bestimmung des Kapitalbegriffs resultiert zudem ein verbindendes Moment der bourdieuschen Forschung, eine geteilte Perspektive und Vorgehensweise, durch welche alle – auf heterogene Aspekte der sozialen Welt bezogene – Einzelanalysen gekennzeichnet sind: Stets wird die Frage nach der Verbindung der Klassenverhältnisse moderner Gesellschaften mit funktionalen Relationen mitgeführt um zu analysieren, wie eine jeweils eigene, autonome Sachlogik (der Kunst, der Bildung, der Politik etc.), die nicht unmittelbar mit der Sozialstruktur der Gesellschaft verbunden ist, innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs objektive Funktionen für die Reproduktion der Klassenverhältnisse und damit für grundlegende Ausbeutungs-, Abhängigkeits- und Dominanzbeziehungen hat (was nicht heißt, dass die jeweiligen Sachlogiken auf diese Funktion reduziert würden) (s.u. V.3). Als Kontrastfolie werden dabei stets die frühen ethnologischen Analysen zu den sozialen, ökonomischen und symbolischen Praxisformen in vorkapitalistischen Gesellschaften mitgeführt, in denen sich die ökonomischen oder kulturellen Dimensionen der Praxis wie auch die Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen eben nicht in Form ausdifferenzierter ökonomischer oder kultureller Kapitalverhältnisse darstellen. Solange die ökonomische, kulturelle und soziale Reproduktion der gesellschaftlichen Existenzbedingungen untrennbar verbunden bleibt, existiert weder ein differenziertes ökonomisches oder kulturelles Kapital, noch ein auf dessen Verwertung zielendes individuelles Nutzenkalkül, beides ist in entsprechenden Verhältnissen, in denen auch die Ausbeutungs- und Unterdrückungsbeziehungen der Logik von Ehre, Gabe und wechselseitiger Verpflichtung folgen, vielmehr ausgeschlossen. Der berechtigte Einwand, ökonomisches Kapital habe in vorkapitalistischen Gesellschaften einen anderen Stellenwert als in kapitalistischen (vgl. Swartz 1997, 74f.), wird von Bourdieus historischer Relativierung des Kapitalbegriffs überboten, da er zeigt, dass ein ökonomisches Kapital in den kabylischen Wirtschaftspraktiken überhaupt nicht existiert.34

34 Auch „Produktionsmittel“ (Nutztiere, Boden, Werkzeuge) werden in der kabylischen Praxis „nie als Kapital angesehen und behandelt“ (vgl. Bourdieu 2000a, 49ff.). Um zu beste-

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In modernen Gesellschaften ist demgegenüber nicht nur das ökonomische, sondern auch das kulturelle Kapital durch eine spezifische Verwertungslogik gekennzeichnet: Es kann als Qualifikation direkt in den ökonomischen Verwertungsprozess eingehen. Es kann die Akkumulation weiteren kulturellen Kapitals befördern und schließlich „symbolische Profite“ in Form gesellschaftlicher Anerkennung einbringen, die zur Reproduktion der Verhältnisse und der Stellung der Akteure in ihnen beitragen. Würde der Kapitalbegriff wieder für „ökonomisches Kapital“ reserviert, um sonst von „Ressourcen“ zu sprechen, wie Rehbein (2006, 114; vgl. 2003, 77-95) zur Vermeidung eines äquivoken Kapitalbegriffs vorschlägt, würde das die für Bourdieu zentrale (Re-)Produktions- und Verwertungslogik überdecken. Auch die These, Bourdieus Klassenmodell wirke selbst als „Verdeckung“ der Klassengesellschaft, da „Kapital“ hier nur als eine Art „Geldquelle der Konsumption“ erscheine, die „nicht im Hinblick auf die profitorientierte Strukturierung von Prozessen der gesamtgesellschaftlichen [...] Verteilung von Arbeit, von Produktivität und Wert(ab)schöpfung“ behandelt würde (Rehberg 2007, 35), sitzt so betrachtet einer typisch deutschen Fehlrezeption auf: Nicht nur sind die jeweiligen Logiken der ausdifferenzierten Felder gesellschaftlicher Produktion, in denen Kapitalien akkumuliert und verwertet werden, mit der Reproduktion der Klassenverhältnisse verknüpft (s.u. V.3). Die Pointe von Bourdieus Forschungsprogramm liegt vielmehr darin, selbst die scheinbar interessenlose Verausgabung ökonomischen Kapitals im Kulturkonsum als Investition in eine gesellschaftliche Euphemisierungsarbeit zu analysieren, die einen „symbolischen Mehrwert“ (Bourdieu 1976, 375) erzeugt, indem sie „die Bedingungen für die mittelbare und dauerhafte Aneignung der Arbeit, der Dienste und der Ehrbezeugung anderer Individuen“ (ebd., 357 [Hervh. i.O.]) schafft.35 In diesem Sinne macht Bourdieu keinen deren genuinen Gehalt verfälschenden Gebrauch von marxschen Termini, er verwendet sie vielmehr innerhalb eines Forschungsprogramms, das marxsche Fragestellungen nach den Voraussetzungen und Reproduktionsmechanismen kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse systematisch weiterverfolgt, dabei aber Dimensionen der gesellschaftlichen Praxis einbezieht, die bei Marx nicht oder nur am Rande behandelt wurden.

hen müssen diese Produktionsformen auch jede individuelle Akkumulations- und Verwertungslogik ausschließen: „Die Besitzgemeinschaft verbietet das Kalkül und umgekehrt ist das Verbot des Kalküls die Grundlage für den Fortbestand […] der auf ihr beruhenden sozialen Organisation“ (ebd., 44). So konnte schon die durch Verallgemeinerung des Geldverkehrs erhöhte Verrechenbarkeit von Leistungen die Auflösung von Besitzgemeinschaften vorantreiben (vgl. ebd.; vgl. auch Bourdieu 1987, 224ff.). 35 Auch der berühmteste Aspekt von Bourdieus Werk, die Analyse der symbolischen Dimension der Klassenbeziehungen und -kämpfe in den distinkten und distinktiven Habitusformen und Lebensstilen, muss in diesem Kontext einer Funktion für die Reproduktion der (ökonomischen) Klassenstruktur verstanden werden, nicht etwa als eine ephemere ständische Überformung der Klassen (so u.a. Rehberg 2007, 34ff.; s.u. V).

3 Familienähnlichkeiten Die Ansätze von Marx, Foucault und Bourdieu als Theorien der Praxis

3.1 P RAXIS

ALS THEORETISCHER

L EITBEGRIFF

„Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung […] im Begreifen dieser Praxis.“ KARL MARX (MEW 3, 7 [Hervh. i.O.])

Nachdem einige Affinitäten der Gegenstände und Forschungsprogramme von Marx, Foucault und Bourdieu skizziert worden sind, soll hier diskutiert werden, inwiefern sich auch in den jeweiligen Theorieanlagen Gemeinsamkeiten aufweisen lassen. Dabei wird keine geteilte Gesellschaftstheorie unterstellt, da diese problemorientierten Theorieansätze eine solche nicht bieten. Sie sind nicht als geschlossene Theoriesysteme, sondern als „Werkzeugkisten“ (Foucault 1976, 53; vgl. Bourdieu/Passeron/ Chamboredon 1991, 5) konzipiert, als entwicklungsoffene Sets von Theoriebausteinen. Angestrebt werden auch weder ein systematischer Vergleich einzelner Werkzeuge noch eine synthetische Zusammenführung. Zu klären ist vielmehr, ob sich geteilte Theoriedispositionen finden, also Gemeinsamkeiten in der Form, in der Probleme formuliert und angegangen werden. Zur Kennzeichnung dieser Affinitäten wird Wittgensteins Terminus der Familienähnlichkeit verwendet, der Äquivalenzrelationen bezeichnet, die sich nicht im Sinne einer hierarchisch systematischen Taxonomie formulieren lassen. Bei Familienähnlichkeiten können keine scharfen Grenzen der Zuordnung gezogen werden. Es geht um Analogien mit unscharfen Grenzen, die nicht durch die Identität einer bestimmten Menge von Eigenschaften gekennzeichnet sind, sondern durch „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen” (Wittgenstein 1997, 278). Solche Einordnungen genügen keinem logischen Klassifikationsideal, da sie nur einige notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen angeben können, um die Zugehörigkeit zu einer Kategorie zu formulieren. Sie haben aber einen Gebrauchswert, um vielfältige Affinitäten und Entsprechungsverhältnisse sichtbar zu machen.1

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Vgl. zum Begriff der Familienähnlichkeit und seiner wissenschaftstheoretischen Verwendung: Krüger 1994; Stegmüller 1970.

72 | M ETAMORPHOSEN DES K APITALS

Diese Familienähnlichkeiten werden hier unter der Kategorie ‚Theorien der Praxis‘ oder ‚Praxeologie‘2 subsumiert. Sehr abstrakt gefasst meint das eine Theorieanlage, die weder ein konstituierendes Subjekt, noch eine vorausgesetzte Struktur als Ausgangspunkt der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse annimmt, sondern einen dynamischen Zusammenhang von Wechselwirkungen zwischen Praktiken, in dem konkrete Subjekte ebenso wie die Struktur- und Funktionszusammenhänge, in die diese eingebunden sind, erst produziert werden. Praxistheorien teilen mit struktur- und systemtheoretischen Theorieanlagen die Ablehnung einer substanzontologischen Bestimmung ihrer Gegenstände, die stattdessen als relationale Systeme von Beziehungen konzipiert werden, um „soziale Formationen in der Weise zu behandeln, wie es die moderne Geometrie tut, d.h. als Systeme, die nicht durch irgendeinen substantiellen ‚Gehalt‘, sondern allein durch die Kombinationsgesetze ihrer konstitutiven Elemente bestimmt sind“ (Bourdieu 1970, 11f.). Sie unterscheiden sich von strukturalistischen Ansätzen jedoch durch eine operative Theorieanlage, die, statt solche Kombinationsgesetze vorauszusetzen, danach fragt, wie sie in praxi erzeugt und rekursiv stabilisiert, variiert und transformiert werden. In Differenz zu handlungstheoretischen Kritiken an Strukturtheorien verzichten praxeologische Ansätze aber zugleich auf ein der Praxis vorausgesetztes Erzeugungssubjekt, auf dessen Motive und Kognitionen die Praktiken zugerechnet werden, um stattdessen die Aktivitäten, Dispositionen und Intentionen der Akteure, oder besser Agenten3 ihrerseits als Effekt eines relationalen Bedingungsgefüges zu behandeln. Was in ‚postmodernen‘ Diskursen etwas dramatisierend als „Tod des Subjektes“ diskutiert wurde, meint hier nur, dass es methodisch sinnvoll ist, wenn „die Frage nach dem Subjekt der Praxis unterlassen“ wird (Bourdieu 1999, 187; vgl. Foucault 1981, 284ff.), da nur so jene Systeme von Beziehungen objektivierbar werden, die als Produkt der Wechselwirkungen von Praktiken ein Feld objektiver Kräfteverhältnisse konstituieren, die den ‚Subjekten‘ nicht transparent sind, aber die Formen und Effekte des Agierens jenseits ihres Wissens und Wollens mitbedingen.4

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Einen – gerade durch die Distanz des systemtheoretischen Autors zu ‚Praxistheorien‘ gelungenen – Überblick zu dieser Theorieanlage und zu den Besonderheiten von Bourdieus Praxeologie bietet Nassehi (2006a, 227-271; 2004). Einen Überblick über Anwendungsperspektiven der Praxeologie auf verschiedene soziologische Problemfelder (v.a. Technik-, Organisations- und Geschlechtersoziologie) bieten die Beiträge in: Ebrecht/Hillebrand 2002. Wichtig für die Popularisierung des Begriffs und die Propagierung eines Practical Turn in der deutschen Soziologie war Reckwitz (2003b; 2000). Dieser zieht allerdings m. E. die wissenschaftstheoretische Reflexionsebene praxistheoretischer Ansätze teilweise zu stark ein und neigt so mitunter zu einer Perspektive, die ‚authentische‘ Praktiken eher nachvollziehen will, als dass sie die Zusammenhänge gesellschaftlicher Praxis theoretisch adäquat konstruiert. Marx bevorzugte den Begriff ‚Agent‘, um kenntlich zu machen, dass es ihm nicht um Personen geht, sondern um Vertreter bestimmter Positionen und Funktionen innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, der unabhängig von subjektiven Willensäußerungen ist (vgl. MEW 23, 16). Bourdieu benutzt aus ähnlichen Gründen den Begriff ‚agent‘, der in der deutschen Übersetzung allerdings oft (missverständlich) als Akteur übertragen wird. In ähnlicher Form wollte auch Foucault (1981) das „Problem des Subjekts nicht ausschließen“, hielt es aber nicht für sinnvoll, im Subjekt „den dunklen Ursprung“ der Praxis zu sehen, und wollte stattdessen „die Position und Funktion definieren“ (ebd., 285), die Subjekte im Zusammenhang diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken einnehmen.

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Bei Marx und Bourdieu mag die Zuordnung zu einer praxistheoretischen Theorieanlage unmittelbar einleuchten. Schließlich hatte Marx seine doppelte Abgrenzung vom Idealismus wie vom mechanischen Materialismus wesentlich um den Begriff der Praxis aufgebaut (vgl. MEW 3, 5ff.) und später eine Reihe von unter dem Label ‚Praxisphilosophie‘ (vgl. u.a. Urbanþiþ 1976) firmierende Ansätze inspiriert. Bourdieu, der Marx’ Feuerbachthesen oft zitierte, bezeichnete seinen Ansatz als Praxeologie, als Entwurf zu einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1976). Bei Foucault, der als Theoretiker der Diskurse und Denksysteme oft eher in eine Gegensatzspannung zu praxeologischen Perspektiven gestellt wurde (vgl. u.a. Reckwitz 2003b, 289), liegt diese Zuordnung weniger nahe. Gleichwohl lassen sich seine Arbeiten einem sozialwissenschaftlichen Diskursstrang zurechnen, für den die „Entdeckung der Praxis“ konstitutiv ist (Nassehi 2006a, 227 [Hervh. i.O.]). Nicht nur, weil seine „materialen Analysen“ zur Disziplin oder Biopolitik „immer wieder auf Praktiken zu sprechen“ kommen (ebd. [Hervh. i.O.]) oder praxisbezogene Begriffe (Strategie, Technologie, Produktion etc.) verwenden, sondern vor allem, weil die Termini ‚Praktiken‘ und ‚Praxis‘ bei ihm sehr ähnliche Funktionen erfüllen wie bei Bourdieu oder Marx. Wenn Foucault in der Archäologie des Wissens – seiner vielleicht konzisesten Theorie- und Methodenreflexion – fordert, Diskurse „nicht […] als Gesamtheiten von Zeichen […,] sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Regeln bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981, 74), und als Gegenstand der Archäologie nicht ‚den Diskurs‘, sondern eine „diskursive Praxis“ (ebd.) bezeichnet, so hat dies die systematische Funktion, jeden Rekurs auf eine den Praktiken äußerlich vorausgesetzte Ursache – sei es ein Subjekt, eine Regel, ein äußerer Gegenstand – zu vermeiden, um stattdessen Formationsbedingungen von Gegenständen, Regeln oder Subjekten in der historischen Praxis aufzuweisen. Wie bei Bourdieu impliziert der Praxisbegriff so eine doppelte Distanzierung von einem (phänomenologischen) Subjektivismus wie vom Strukturalismus, dem zwar das Denken in Relationen entlehnt wird, dessen zu einer Geschichtslosigkeit der Modelle führende Regel- und Kohärenzfixiertheit aber vermieden werden soll. Die Bevorzugung des Begriffs der in einer Menge von Praktiken objektivierbaren „diskursiven Regelmäßigkeiten“ (ebd., 57, 72 & 177 [Hervh. i.O.]) gegenüber dem Begriff der Regel soll jene „Illusion der Formalisierung“ (Foucault 2001, 927f. [Hervh. i.O.]) vermeiden helfen, die auch Bourdieu (1976) als „Illusion der Regel“ (vgl. ebd. 203-227; 1987, 57-78) kritisierte. Die strukturalistische Vorstellung, dass regelhafte Praktiken auch auf ihnen zugrunde liegende, explizierbare Regeln zurückführbar wären, die als transzendentale Erzeugungsbedingung die Praktiken leiten würden, ist einem „Gesetz der Kohärenz“ verpflichtet, das die Suche nach einem wissenschaftlichen Idealen entsprechenden geschlossenen Regelwerk zum „Zwang der Forschung“ macht (Foucault 1981, 213). Die daraus resultierende Fiktion einer „ein für alle mal global gegebenen Synchronie“ (ebd., 212) führt dazu, dass die Varianz und die historische Dynamik gesellschaftlicher Zusammenhänge durch einen formalen Automatismus ersetzt werden, der einzelne Praktiken mechanisch zu determinieren scheint. Demgegenüber will Foucault mit dem Begriff der Praxis daran erinnern, dass diskursive Formationen ebenso wie Gesellschaftsformationen nicht Ausdruck einer globalen Regel oder einer fixierten Struktur sind, sondern ein relationales Bedingungsgeflecht von aufeinander bezogenen Praktiken, deren Beziehungen zueinander keiner austarierten Harmonie

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entsprechen, sondern stets Inkohärenzen und „Widersprüche“ einschließen (vgl. ebd., 213-224).5 Insofern Foucault bereits in dieser frühen, diskursanalytischen Werkphase den Diskurs als „Praxis unter Praktiken“ (Lemke 1997, 48) behandelt und nach den Bedingungsverhältnissen zwischen diskursiver und nichtdiskursiver Praxis fragt (vgl. Foucault 1981, 68ff., 232ff. & 295f.), kann man nicht erst den „späteren, praxistheoretischen Foucault“ (Nassehi 2006a, 225) der Machtanalysen, sondern schon jenen ‚Diskurs-Foucault‘, der oft als eine Art strukturalistischer Idealist gelesen wurde,6 einer Familie von praxeologischen Ansätzen zuordnen. Die kritische Abgrenzung vom Strukturalismus bei Foucault und Bourdieu oder von der spekulativen Philosophie bei Marx bedeutet allerdings nicht, dass Praxistheorien den Verweis auf eine irgendwie geartete ‚Authentizität‘ der Praxis gegen realitätsferne Theoriekonstruktionen ins Feld führen, wie das von der antiken Unterscheidung von Theorie und Praxis über den neuzeitlichen Empirismus bis in die aktuellen Sozialwissenschaften oft geschah.7 Bereits bei Marx, der sich gegen ein Wissenschaftsverständnis wendete, das in der Beschränkung auf bloße Deskription und Systematisierung des unmittelbar Gegebenen jeden Erklärungsanspruch opfert (s.u. 3.5), steht der Praxisbegriff im Kontext eines theorieintensiven Unternehmens. Da ‚Praxis‘ komplexe und dynamische gesellschaftliche Zusammenhänge bezeichnet, die den Individuen nicht luzide sind, macht das geforderte „Begreifen dieser Praxis“ (MEW 3, 7) eine wissenschaftlicher Konstruktionsarbeit unabdingbar. Da „die Praxis selbst, so wie sie sich empirisch zeigt, in Mystifikationen befangen“ ist, ist sie „gerade nicht der transparente Erklärungsgrund, auf den alles zurückzuführen ist, sondern selbst ein Erklärungsgegenstand“ (Heinrich 2001, 278). ‚Praxistheorie‘ verweist so nicht auf unmittelbare Evidenz, sondern auf eine besondere Theorieanlage. Einige der von Bourdieu und Foucault geteilten Theoriedispositionen sind im Folgenden detailliert zu diskutieren: eine Ablehnung der Erklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge aus

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Foucault räumt selbstkritisch ein, dass seine früheren Arbeiten von dieser Struktur und Regelfixierung nicht frei waren (vgl. Dreyfus/Rabinow 1982, 110f.; Lemke 1997, 49f.). Tatsächlich sollen erst die späteren Arbeiten, die stärker auf die Bedingtheit der Diskurse in nichtdiskursiven Praktiken achten, den durch die Suche nach immanenten Formationsregeln begünstigten Kurzschluss von Regelmäßigkeit auf Regeln konsequent überwinden. Vgl. u.a. Reckwitz 2003b, 288f. Entgegen solcher Missverständnisse negierte Foucault (1981) nie die äußeren Bedingungen diskursiver Praxis. Er betonte nur, dass die „Formation der Gegenstände“ (ebd., 61-74) als Diskursgegenstände und die innere „Konsistenz“ und „Komplexität“ der „Objekte, die sich im Diskurs abzeichnen“ (ebd., 72), nicht durch den bloßen Rekurs auf äußere Bedingungen verstanden werden können. Vgl. zur Kritik der Authentizitätssuggestion von ethnomethodologischen und symbolischinteraktionistischen Verwendungen des Praxisbegriffs: Nassehi 2006a, 228-242. Noch Reckwitz (2003b) verfällt teilweise in einen solchen Gestus. Die Berufung auf Praxis gegen spekulative Theoriekonstruktion hat eine lange Tradition. Idealtypisch findet sich die Theorie/Praxis-Differenz bereits in Platons (vgl. 1998, 200ff.) Gorgias, in dem Kallikles gegen die Philosophie einwendet, dass sie die Menschen von praktischen Lebensaufgaben durch unnützes Wissen abhalte, während Sokrates’ Antwort die Theoria als den höheren, dem Göttlichen verwandten Teil des Menschenwesens über die praktischen Geschäfte stellt und zum Richtmaß der wahren Praxis erhebt. Hielt es die spätere Philosophie eher mit Sokrates, findet im neuzeitlichen Empirismus eine „Umstülpung“ der Hierarchie von „Theorie und Praxis“ (Arendt 2002, 367ff.) statt. David Hume (1967) etwa kritisierte eine Philosophie, „die keinen Zugang zum praktischen Leben hat“ und die verschwinden müsse, „sobald der Philosoph aus dem Dunkel ins Tageslicht tritt“ (ebd., 19).

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einem vorausgesetzten ‚Wesen des Menschen‘ oder aus den Interessen und Kalkülen der Individuen (3.2); ein Verständnis von Historizität, das die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Formationen betont und historische Diskontinuitäten und Brüche untersucht (3.3); eine Tendenz, grundlegende dichotome Gegensatzpaare sozialwissenschaftlicher Theoriebildung (Subjekt/Objekt; Freiheit/Zwang; Struktur/Handlung; materiell/ideell; Sachdimension/Sozialdimension etc.) aufzulösen (3.4); und ein Wissenschaftsverständnis, das auf die konstruktivistischen Freiheitsgrade wie auf gesellschaftliche Bedingungen und Grenzen wissenschaftlicher Praxis reflektiert (3.5). Auf der Grundlage des so gewonnenen Verständnisses dieser Theoriedispositionen lässt sich dann auch die besondere Form der Kritik (4.) in den diskutierten Analyseperspektiven angemessen erschließen.

3.2 ANTHROPOLOGIEKRITIK UND ANTIINDIVIDUALISMUS

METHODISCHER

„‚Der‘ Mensch? Ist hier die Kategorie ‚Mensch‘ gemeint, so hat er überhaupt keine Bedürfnisse […]; wenn ein in irgendeiner Form der Gesellschaft schon befindlicher Mensch – und dies unterstellt Herr Wagner, da ‚der‘ Mensch bei ihm, wenn auch keine Universitätserziehung, doch jedenfalls Sprache besitzt –, so ist als Ausgangspunkt der bestimmte Charakter dieses gesellschaftlichen Menschen vorzuführen, d.h. der bestimmte Charakter des Gemeinwesens, worin er lebt, da hier die Produktion, also sein Lebensgewinnungsprozeß schon irgendeinen gesellschaftlichen Charakter hat.“ KARL MARX (MEW 19, 362 [Hervh. i.O.])

Die hier als ‚Anthropologiekritik‘ und ‚methodischer Antiindividualismus‘ bezeichnete Perspektive setzt weder die Leugnung der Existenz von Menschen oder von ‚anthropologischen Konstanten‘ voraus, noch bestreitet sie die Relevanz historisch spezifischer individueller Interessen und Kalküle für die Reproduktion oder Veränderung der Formen gesellschaftlicher Praxis. Es geht einzig darum, dass die historisch konkreten Formen ‚des Menschen‘ oder der Interessen als Produkt gesellschaftlicher Praktiken diesen nicht einseitig als Erklärungsgrund vorausgesetzt werden können.8 Für eine Zurückweisung jeder überhistorischen Wesensbestimmung des Menschen ist Foucault ein zentraler Referenzautor. Schließlich war es Foucault, der den so verstandenen ‚Menschen‘ als eine epistemologische Konstruktion von Diskursen seit dem 18. Jahrhundert (vgl. Foucault 1974) oder als ein materielles Produkt von Machttechniken (vgl. Foucault 1994) analysierte. Auch Bourdieu (vgl. u.a. 2000a, 7f. & 20) hat früh die historischen und klassenspezifischen Differenzen der sozialen und

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Das wäre durchaus mit einer Anthropologie vereinbar, die das ‚Wesen des Menschen‘ darin ausmacht, dass er kein Wesen hat, wie Gehlen (vgl. 1993) sie vertrat. Dort bildeten ‚anthropologische Konstanten‘ nur einen allgemeinen Bedingungsrahmen, der konkrete Formen der Praktiken wie die historischen Formen der Individuen, die diese Praktiken vollziehen, nicht erklären kann.

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ökonomischen Praktiken und der Habitusprägung gegen jede Wesensbestimmung herausgekehrt und die Naturalisierung gesellschaftlicher Unterschiede – der Bildung, des Geschmacks oder des Geschlechts – konsequent dekonstruiert. Auch hier wird der ‚Mensch‘ als vorausgesetztes konstituierendes Subjekt entthront um zu zeigen, „daß der Sinn“ selbst „der persönlichsten und ‚durchsichtigsten‘ Handlungen nicht dem Subjekt gehört, das sie ausführt, sondern dem kompletten System von Beziehungen, innerhalb dessen und durch das sie sich vollziehen“ (Bourdieu 1970, 18f.).9 Demgegenüber scheint die Zuordnung von Marx zu einer anthropologiekritischen Theoriedisposition strittig. Vielen gilt Marx als Begründer eines „marxistischen Humanismus“ oder als Prophet des „Kommunismus als Verwirklichung des sittlichen Grundgehaltes der Menschlichkeit“ (Danglmayer 1979, 362), was eine positive Wesensbestimmung ‚des Menschen‘ voraussetzt. Hingegen sah Althusser gerade den Bruch mit Anthropologie, Humanismus und Subjektphilosophie als Voraussetzung der Theorie des „reifen“ Marx und jeder genuin marxistischen Wissenschaft (vgl. Althusser 1972a, 176f.; 1973a). Diese konträren Einschätzungen machen Marx’ Position besonders geeignet, die theoretischen Konsequenzen eines Bruchs mit anthropologischen Erklärungsmustern zu verdeutlichen. Foucault (vgl. 1974, v.a. 320f.) formulierte in der Ordnung der Dinge eine Kritik an geschichtsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Implikationen bei Marx und im Marxismus, die völlig in den Grenzen der modernen Episteme und in deren Anthropologie befangen seien. Hingegen wird in der Archäologie des Wissens gerade Marx gegen einen Marxismus ins Feld geführt, der „[g]egen die Dezentrierung, wie Marx sie vornahm“, auf der Suche „nach einer globalen Geschichte“ ist und versucht, „Marx zu anthropologisieren, […] in ihm das Vorhaben des Humanismus zu finden“ (Foucault 1981, 24f.). Marx gilt hier als Vorläufer des auch von Foucault vollzogenen epistemologischen Bruchs mit dem Feld der anthropologischen Denktradition. Dem Bewertungswechsel bei Foucault entspricht ein Einschnitt im Werk von Marx. Dieser bezog in den Frühschriften, die etwa für Sartres Marxismus ein primärer Bezugspunkt waren (vgl. Sartre 1990), unter dem Einfluss Feuerbachs tatsächlich eine anthropologische Position.10 Die frühe Kritik des Idealismus, der Politik und der Nationalökonomie sowie die geschichtsphilosophischen Ansätze beriefen sich auf ein menschliches „Gattungswesen“. Dieses war zwar als „gesellschaftliches Wesen“ bestimmt, das seine Form im Austausch mit der Natur und in wechselseitiger Betätigung der Individuen finde (MEW 40.1, 536 & 451f.), gleichwohl fungiert ‚der Mensch‘ auch hier als „empirisch-transzendentale Dublette“ (Foucault 1974, 384ff.), als empirisch anschaulicher Garant der transzendentalen Bedingungen von Erkennen, Handeln und Geschichte. Zwischen der Gesellschaftlichkeit des ‚Menschen‘ und der Berufung auf sein vorgesellschaftliches Wesen liegt 1844 also noch eine deutliche Spannung: Wenn „der Mensch […] kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“, sondern „die Welt des Menschen, Staat, Sozietät“ ist, handelt es sich um ein ge-

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Insofern ist es wenig verwunderlich, wenn Bourdieu (2000b) die Versuche der „Rettung einer Philosophie des Subjekts […] immer ziemlich bescheuert [fand], ich selbst war nie auf diesem trip“ (ebd., 129 [Hervh. i.O.]). 10 So vermerkt Marx, die „positive Kritik […] der Nationalökonomie“ verdanke ihre „Begründung den Entdeckungen Feuerbachs“, die „erst die positive humanistische und naturalistische Kritik“ ermöglicht habe (MEW 40.1, 468 [Hervh. i.O.]).

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sellschaftliches Produkt. Zugleich wird der „Sozietät“ vorgeworfen, sie produziere „ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt“ sei, in der „das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt“ (MEW 1, 378 [Hervh. i.O.]). Damit erscheint der Mensch wieder als empirisches Wesen, in dem die transzendentalen Bedingungen der Kritik liegen und von der Selbsterzeugung des Menschen durch die Arbeit (vgl. MEW 40.1, 546) bis hin zum Menschen als Garant normativer Imperative und als Ausgangspunkt und Telos aller Emanzipation11 werden Denkfiguren der zeitgenössischen Anthropologie zwar materialistisch tiefergelegt, aber prinzipiell übernommen. Marx’ frühe Kritik des Idealismus und der politischen Ökonomie bezieht so selbst noch eine anthropologische Position. Demgegenüber markiert die 1845 ansetzende Kritik an Feuerbachs Anthropologie, die implizit auch eine Kritik der eigenen Frühphilosophie ist, einen Bruch.12 Gegen Feuerbachs Auflösung des religiösen Wesens „in das menschliche Wesen“ betont Marx nun: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (MEW 3, 6 [Hervh. T.H.]) An die Stelle eines universell-abstrakten Wesens des Menschen tritt hier ein historisches Produkt, das „einer bestimmten Gesellschaftsform“ angehört (ebd., 7): „Diese Summe von Produktionskräften […] und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ‚Substanz‘ und ‚Wesen des Menschen‘ vorgestellt, was sie apotheosiert und bekämpft haben“ (MEW 3, 38).

Wenn das, was in Philosophie und politischer Ökonomie als anthropologisch vorausgesetzte Ursache galt, selbst ein Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse ist, können diese Verhältnisse nicht mehr anthropologisch erklärt und kritisiert werden (vgl. ebd., 48f.). Gegen jede Rede vom ‚Menschen‘ müssen gesellschaftliche Zusammenhänge aus sich selbst heraus verstanden werden, wobei der Mensch keine Grundlage, sondern nur ein zu erklärendes Moment bildet (vgl. MEW 19, 362). Der Bruch mit der Anthropologie ist eine Voraussetzung der konsequenten Soziologisierung von Marx’ Kategorien und Modellen, die auch der Geschichtsphilosophie des Frühwerks ihre Grundlage entzieht.13 Zwar finden sich einzelne geschichtsphilosophische Implikati-

11 So schrieb der junge Marx 1843: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“ (MEW 1, 370; vgl. ebd., 385) Auch der anfangs zentrale Begriff der Entfremdung setzt ein irgendwie bestimmtes Wesen, von dem der Mensch sich entfremdet, voraus (vgl. auch Heinrich 1991, 98-111). 12 Die Deutsche Ideologie diente Marx und Engels dazu, mit „unserm ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen“ (MEW 13, 10). Vgl. zum Bruch in dieser Werkphase: Althusser 1972a, 176f.; Heinrich 1991, 112-129. 13 Die frühe Geschichtsphilosophie begründete ihren Ausgangs- und Endpunkt aus der Anthropologie des ‚Gattungswesens‘. Dieser Phantasie einer „Selbsterzeugung der Gattung“, in der „Gesellschaft als Subjekt“ gefasst wird, womit die „aufeinanderfolgende Reihe von im Zusammenhange stehenden Individuen als ein einziges Individuum vorgestellt [wird], das das Mysterium vollzieht, sich selbst zu erzeugen“, erteilt die Deutsche Ideologie eine klare Absage. Die Geschichte zeige, „daß die Individuen allerdings einander machen, physisch und geistig, aber nicht sich machen“ (MEW 3, 37). Damit ist dem Geschichtsprozess so-

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onen noch im Kapital, sie haben aber dort keine systematische Stellung mehr, dienen also weder der Erklärung noch der Kritik der Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise. Der Praxisbegriff erlaubt es weiterhin, gesellschaftliche Strukturen als historisch geworden und in praxi veränderbar aufzufassen, die Anlässe und Potenziale der Veränderung müssen aber nun aus den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen, aus ihren inhärenten Widersprüchen und Möglichkeitsräumen erklärt werden.14 Dieser epistemologische Bruch schafft die Voraussetzungen der Konstruktion eines neuen Forschungsfeldes und neuer Erklärungsinstrumente, die sich bei Marx wie später bei Bourdieu wesentlich mit dem Begriff der Praxis verbinden. Hier mag man einwenden, Praxis setze selbst wieder Handlungen und damit Menschen als aktive Grundlage der Reproduktion oder der Veränderung und Überschreitung gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse voraus. Der theoretische Ausschluss des ‚Menschen‘ als Erklärungsgrundlage negiert aber weder bei Foucault, noch bei Marx oder Bourdieu, dass es ‚Menschen gibt‘,15 durch deren Handeln auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen stets vermittelt sind. Beides sind jedoch banale Feststellungen. Die theoretisch relevante Frage ist, ob gesellschaftliche Zusammenhänge ausgehend von den Menschen oder Individuen verstanden und erklärt werden können. Marx hat dabei früh auf jene spezifische Verkehrung der Beziehung von Ursache und Wirkung hingewiesen, die auch Bourdieu (vgl. 2005, 11f.) an anthropologischen oder individualistischen ‚Erklärungen‘ des gesellschaftlich Gewordenen kritisierte. In der ökonomischen Theorie fungiere ‚der Mensch‘ als Erklärungssubstitut. Indem für eine bestimmte Gesellschaftsform charakteristische Phänomene einfach zu entsprechenden Eigenschaften ‚des Menschen‘ erklärt werden, würden „ganz unter der Hand“ spezifische „Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto untergeschoben“ (MEW 42, 22). Ähnlich verfährt jede ‚Erklärung‘, die die für die Individuen einer bestimmten Gesellschaftsform typischen Interessen als

wohl das Subjekt, als auch die der Subjektphilosophie entlehnte Richtung genommen. Vgl. zu dieser Konsequenz: Heinrich 1991, 140; Althusser 1973b. 14 In der Debatte um die Frage, ob der ‚reife‘ Marx mit der Geschichtsphilosophie wirklich gebrochen habe, wurde oft betont, dass die geschichtsphilosophischen Überschüsse einzelner Textpassagen (vgl. v.a. MEW 23, 791) und ihre Kontinuität zur Frühphilosophie kaum bestreitbar sind. Für den hier betonten epistemologischen Bruch ist aber nicht ausschlaggebend, ob der Autor Marx sich von allen Elementen seiner frühen Geschichtsphilosophie gelöst hat, sondern ob die Stellung solcher Elemente im Zusammenhang der Analyse und Erklärung dieselbe geblieben ist. Selbst wenn man einzelne Passagen in ideengeschichtlicher Kontinuität zum Frühwerk deuten kann, besteht der Bruch darin, dass die anthropologisch grundierte Geschichtsphilosophie dort eine explanatorische Funktion hatte, während entsprechende Implikationen im Spätwerk den Charakter bloßer Überschüsse haben, die für den Begründungszusammenhang des analytischen Modells keine Rolle spielen. 15 Die Rede vom Verschwinden des Menschen am Ende der Ordnung der Dinge (vgl. Foucaults 1974, 462) bezog sich nur auf eine Denkfigur historischer Diskurse über den Menschen. Geschichte gilt Foucault als infiniter Prozess, in dem Menschen „niemals aufgehört haben […], sich in einer […] vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstruieren, die […] uns niemals etwas gegenüberstellen, das der Mensch wäre“, ein „Prozeß, der indem er Objekte definiert“ auch den Menschen „transformiert und ihn als Subjekt umgestaltet“ (Foucault 1996, 85).

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ahistorische Voraussetzung jeder Gesellschaft nimmt.16 Zwar setzt jeder gesellschaftliche Prozess auch Individuen, Motive und Dispositionen voraus, aber diese sind selbst erklärungsbedürftig, vor allem dann, wenn sie nur in bestimmten historischen Zusammenhängen auftreten. Diese Zusammenhänge bleiben in ihrer Besonderheit unverstanden, wo sie als Ausdruck des allgemein Menschlichen gedeutet werden. Aus diesem Grund hielt es auch Foucault (vgl. 1981, 283ff.) für unfruchtbar, die Frage nach den Formationsbedingungen von Praktiken vom Subjekt her zu beantworten. Auf den Punkt gebracht müssen anthropologische ‚Erklärungen‘ entweder historisch besondere gesellschaftliche Formen als Ausdruck des menschlichen Wesens unterstellen, dann sind sie bloße Projektionen; oder aber sie abstrahieren von allen historischen Besonderheiten, dann gelangen sie – wie die differenzierten anthropologischen Reflexionen bei Simmel (1992) oder Gehlen (1993) – zu formalen Bestimmungen, die zur Klärung der allgemeinen Bedingungen von Gesellschaft durchaus sinnvoll sein können, aber eben deshalb nichts zur Erklärung der je besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen.17 Die Abgrenzung gegen einen methodischen Individualismus oder Subjektivismus, der gesellschaftliche Zusammenhänge aus den Motiven und Kognitionen der Handelnden erschließen will, begründet sich daraus, dass gesellschaftliche Verhältnisse, etwa zwischen durch ihre Stellung und Funktion im gesellschaftlichen Produktionsprozess bestimmten Klassen, unabhängig von den Motiven und Vorstellungen der Individuen bestehen und daher aus diesen weder erklärt noch qua veränderter individueller Motive und Vorstellungen verändert werden können, wie Marx in Kritik an Stirner formulierte (vgl. MEW 3, 422f.). Marx betonte daher: „Die Gesellschaft

16 Schon der junge Marx warf einer Ökonomie, der „als letzter Grund das Interesse der Kapitalisten“ gilt, vor: „[S]ie unterstellt, was sie entwickeln soll.“ (MEW 40.1, 510) Ähnlich kritisiert Bourdieu (2000a) eine Ökonomie, die „wie eine universelle Gabe der menschlichen Natur behandelt“, was „Produkt einer spezifischen kollektiven und individuellen Geschichte“ ist (ebd., 20; vgl. auch: Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 22ff.). 17 Im Sinne der Bestimmung von Vorbedingungen gesellschaftlicher Existenz hat die Klärung allgemeiner anthropologischer Voraussetzungen und Charakteristika von Produktion, Arbeit, Bewusstsein etc. auch im Kapital einen systematischen Stellenwert. Allgemeine Möglichkeitsbedingungen können aber keine der besonderen gesellschaftlichen Formbestimmungen dieser Kategorien erklären. Die Anthropologiekritik richtet sich so nicht prinzipiell gegen die anthropologische Reflexion, sondern – wie später übrigens auch Gehlen (vgl. 1993, 454f.) – gegen die Projektion gesellschaftlicher Gegebenheiten auf die menschliche Natur und gegen die Ableitung historisch gegebener Verhältnisse aus Naturvoraussetzungen. Wird der Warentausch aus einer „menschlichen Neigung“ (Smith 1978) abgeleitet, so sind damit weder die inneren Zusammenhänge des Potlatsch (vgl. Mauss 1989b, 9-144) noch die des modernen Weltmarkts, erst recht nicht ihre Ursachen und Funktionen in gesellschaftlichen Zusammenhängen verstehbar. Marx karikierte die Methode, durch die die „modernen Ökonomen […] die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse“ beweisen: „z.B. Keine Produktion möglich ohne ein Produktionsinstrument, wäre dies Instrument auch nur die Hand. Keine möglich ohne vergangne, aufgehäufte Arbeit, wäre diese Arbeit auch nur die Fertigkeit, die in der Hand […] durch wiederholte Übung angesammelt […] ist. Das Kapital ist unter andrem auch Produktionsinstrument, auch vergangne, objektivierte Arbeit. Also ist das Kapital ein allgemeines, ewiges Naturverhältnis; d.h., wenn ich grade das Spezifische weglasse.“ (MEW 42, 21) Ebenso bleiben Ausprägung, Form und Funktion der um den Sex zentrierten Diskurse und Praktiken unverstanden, wenn Sex und Begehren als anthropologische Invarianten gelten, wie Foucault (vgl. 1983) mit einem in der Form ähnlichen Argument zeigt.

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besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.“ (MEW 42, 189) Solche Beziehungen sind „auf Verhältnisse zwischen Subjekten mit Absichten oder ‚Motivationen‘ deshalb nicht zu reduzieren, weil sie sich zwischen sozialen Lagern und Positionen herstellen“, zwischen denen sich objektive Kräfteverhältnisse entfalten, die in gewissem Sinne „mehr Realität haben als die Subjekte, die sie verbinden“. Insofern ließe sich „Marx’ Kritik an Stirner […] auf jene […] Soziologen erweitern, die die sozialen Beziehungen auf die Vorstellungen zurückführen, welche die Subjekte von ihnen haben“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 21; vgl. Bourdieu 1970, 23f.). Der Bruch mit anthropologischen und individualistischen Erklärungsmustern gibt noch keine Erklärungen, eröffnet aber ein neues Feld von Forschungsfragen und Methoden.18 Zugleich ermöglicht er ein kritisches Verhältnis zu jenen Naturalisierungen, die wenig dazu beitragen, gegebene Verhältnisse zu begreifen, aber sehr viel, um sie zu rechtfertigen (vgl. u.a. MEW 42, 21f.):19 „Marx hat oft dargestellt, daß sich die Eigenschaften und Auswirkungen eines sozialen Systems der Natur nur zuschreiben lassen, wenn seine Entstehungsgeschichte und seine historische Funktion ausgeklammert werden, das heißt all das, wodurch es sich als System von Beziehungen ausweist; er zeigt, genauer gesagt, daß dieser methodische Fehler deshalb so häufig ist, weil er ideologische Funktionen erfüllt, indem er, zumindest in der Vorstellung, erfolgreich ‚Geschichte eliminiert‘.“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 133)

Ob als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analyse oder als kritische Waffe gegen die Naturalisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge, der epistemologische Bruch mit der Anthropologie ist eng mit einer besonderen Form von historischer Analyse verbunden, die die „Enthistorisierungsarbeit“ (Bourdieu 2005, 144ff.), mit der gesellschaftliche Verhältnisse zu Naturverhältnissen erklärt werden, unterminiert, indem sie „durch Historisierung das entnaturalisiert, was als das allernatürlichste an der gesellschaftlichen Ordnung erscheint“ (ebd., 12).

18 Für Foucault (1974) war die „Leere des verschwundenen Menschen“ „kein Manko“, „keine auszufüllende Lücke“, sondern Bedingung der „Entfaltung eines Raums“ (ebd., 412), in dem ein neues Denken möglich wird. 19 Anthropologisierung und Naturalisierung präsentieren gesellschaftliche Verhältnisse „als vom Einfluß der Zeit unabhängige Naturgesetze“, als „ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben“ (MEW 4, 139f.) – ein Mechanismus, der nicht nur in theoretischen Begründungen, sondern auch in den alltäglichen Wahrnehmungsdispositionen und Praktiken eines der wirksamsten Mittel der Reproduktion bestehender Verhältnisse bildet. Vgl. am Beispiel des Geschlechts: Bourdieu 2005, 43-62; am Beispiel der Klassenverhältnisse: Bourdieu 1999, 727-755.

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3.3 H ISTORIZITÄT , D ISKONTINUITÄT

UND

K ONTINGENZ

„Die Weltgeschichte wäre […] sehr mystischer Natur, wenn ‚Zufälligkeiten‘ keine Rolle spielten.“ KARL MARX (MEW 33, 209)

Obwohl die im engeren Sinne historischen Analysen in den hier diskutierten Werkzusammenhängen ein unterschiedliches Gewicht haben, teilen sie die Betonung des genuin historisch variablen Charakters gesellschaftlicher Zusammenhänge und sozialer Phänomene, die gegen jede Anthropologisierung und Naturalisierung gerichtet wird. Es ist im Folgenden genauer zu prüfen, ob dahinter auch ein geteiltes prinzipielles Grundverständnis von Historizität steht, dass es rechtfertigt, von einer Familienähnlichkeit entsprechender Theorie- und Analysedispositionen zu sprechen. Foucaults Analysen räumten in Absetzung von einer Historiographie, für die das „Diskontinuierliche gleichzeitig das Gegebene und Undenkbare“ (Foucault 1981, 17; vgl. 2001, 890) war, den Diskontinuitäten einen großen Stellenwert ein. Die Archäologie der Humanwissenschaften kennzeichnet die historischen Wissensformationen durch ein je eigenes „historisches Apriori“ (Foucault 1974, 27), das mitunter auch als „konkretes Apriori“ (Foucault 1991, 13) bezeichnet wird. Dies meint eine bestimmte Konfiguration und „Struktur“ des Wissens (ebd., 67), die das Erkennen und Sprechen in verschiedenen Diskursfeldern (Biologie, Ökonomie, Sprachwissenschaft etc.) in historisch spezifischer Form organisiert (vgl. Foucault 1981, 183ff.). Die historischen Verschiebungen dieser Wissenskonfigurationen fügen sich nicht in einen linearen Entwicklungsgang, vielmehr ist ihre diachrone Abfolge jeweils „durch eine Diskontinuität gebrochen“, die bewirkt, „daß die Dinge plötzlich nicht mehr auf die gleiche Weise perzipiert, beschrieben, genannt, charakterisiert, klassifiziert, gelernt werden“ (Foucault 1974, 269). Die Konfigurationen, in denen die Gegenstände des ökonomischen, biologischen oder linguistischen Wissens und die Zusammenhänge seiner verschiedenen Elemente konstituiert werden, sind in der Episteme der Moderne andere als in der der Klassik und nicht aufeinander zurückführbar. Dieses Bild der Diskontinuität wiederholt sich in Foucaults späteren Analysen der Machtdispositive und Regierungspraktiken (s.u. IV). Wie andere Untersuchungen zu den Verschiebungen der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972, XVf.), also jener Periode zwischen ca. 1750 und 1850, welche die begriffs-, sozial- und wirtschaftshistorische Epochenschwelle zur okzidentalen Moderne markiert,20 postulieren Foucaults Analysen jedoch keinen ‚Epochenbruch‘ im Sinne einer klaren Schnittlinie, an der alle Elemente früherer Formationen des Wissens oder der Praktiken verschwänden und durch andere ersetzt würden. Schon die Archäologie diskutiert Übergänge und Verschiebungen zwischen den Epistemen (Foucault 1974, v.a. 31-45, 78ff.), und die spätere Genealogie widmet ihre besondere Aufmerksamkeit gerade langfristigen Entwicklungslinien. Diskontinuität meint daher nicht, dass

20 Vgl. zur Begriffsgeschichte die Beiträge in: Brunner/Conze/Koselleck 1972ff.; zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausführlich: Sombart 1922 & Braudel 1986, Bd. I-III. Auch Luhmanns (vgl. 1980) Untersuchungen zu Gesellschaftsstruktur und Semantik legen den Schwerpunkt auf diese Periode.

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es zwischen verschiedenen Formationen keine Kontinuitäten einzelner Begriffe, Techniken und Phänomene gäbe, sondern dass die Zusammenhänge, in denen diese Elemente konfiguriert sind und in denen sie ihre historische Funktion haben, grundverschieden sind, wobei das Wissen „weniger seine Inhalte als seine systematische Form geändert hat“ (Foucault 1991, 15).21 Wie in Marx’ Bestimmung der Differenz zwischen verschiedenen Gesellschaftsformationen (vgl. MEW 42, 40ff.) geht es um eine „Transformation der Beziehungen“, die „nicht unbedingt alle Elemente verändert“ (Foucault 1981, 246). Während damit die Betonung der diachronen Diskontinuität diskursiver oder gesellschaftlicher Formationsprinzipien die chronologische Analyse kontinuierlicher Entwicklungen keineswegs ausschließt und die genealogischen Untersuchungen ihr Augenmerk gerade auf die Identifikation der Verlaufsketten und Pfadabhängigkeiten richten, die spezifische historische Transformationen ermöglicht haben (s.u. IV.), wendete sich Foucault doch stets gegen jede Teleologie und gegen jede Form universaler Entwicklungsschemata und Geschichtsgesetze. Seine Darstellungen sind daher schon in den ‚archäologischen‘ Texten durch die Betonung der Kontingenz historischer Verläufe geprägt, in denen erst das Zusammentreffen heterogener Praktiken und Ereignisse jene Konfigurationen hervorbringt, die spezifische Formationen kennzeichnen. In dieser Geschichte ohne Ziel, die von Sprüngen, Zufällen und Rückfällen bestimmt ist, können minimale Veränderungen einzelner Praktiken oder Wissenselemente oder ihre zufällige Neukombination gänzlich neue Konfiguration ermöglichen, ohne dass dies eine notwendige Konsequenz der vorangegangenen Geschichte wäre.22 Diese Form der Analyse, die, statt eine globale Kontinuität der Entwicklung (oder des Verfalls) zu konstruieren, das unerwartbare Zusammentreffen heterogener Linien genetisch nachzeichnet, in denen gesellschaftliche Formationen emergieren, die nur retrospektiv als notwendig erscheinen, prägt auch Foucaults ge-

21 „Zu sagen, daß eine diskursive Formation an die Stelle einer anderen tritt, heißt nicht, dass eine ganze Welt von Gegenständen, Äußerungen, Begriffen […] auftaucht“, sondern dass die „Formationsregeln“ sich verändert haben (Foucault 1981, 246f.). Foucault betonte daher, er suche keinen Punkt „totaler Revolution“, an dem „alles einstürzt“, sondern versuche vielmehr die „verschiedenen historischen Verknüpfungen“ festzuhalten (ebd., 208), die sich innerhalb stets verschiebbarer Systeme von Relationen ausmachen lassen: „Die Episteme ist kein allgemeines Stadium der Vernunft, sie ist ein komplexes Verhältnis sukzessiver Verschiebungen“ (Foucault 2001, 863). Viele Argumente gegen einen ‚Epochenbruch‘ im 18. Jahrhundert, den neben Foucault etwa auch Koselleck (1989) und Luhmann (1980) verzeichnen, sind so nur bedingt treffend. Dass sich einzelne institutionelle Praktiken, die das historische Schema der ‚Moderne‘ prägen, schon in mittelalterlichen Ordensregeln oder in frühneuzeitlichen Polizeyordnungen finden (vgl. u.a. die Beiträge in: Melville 2001), bezweifeln weder Foucault – der die Genese moderner politisch-ökonomischer Praktiken, die auf den Körper und die Subjekte oder auf die Demographie und den ‚Gesellschaftskörpers‘ zielen, bis in kirchlich-religiöse Praktiken des Spätmittelalters zurückverfolgt (s.u. IV) – noch Luhmann oder Koselleck. Die von ihnen aufgeworfene Frage ist jedoch, ob die Zusammenhänge, in denen diese Elemente figuriert sind und fungieren, dieselben sind oder kausal auseinander abgeleitet werden können. 22 So liegt eine Pointe der Geburt der Klinik darin, dass die dem modernen medizinischen Blick zugrunde liegende Neufiguration des medizinischen Wissens und der ärztlichen Praxis gerade durch den Rückgriff auf die weit ältere Praxis des Sezierens möglich wird, die aber im Zusammenspiel mit den inzwischen entwickelten Techniken der Taxonomie und Klassifikation eine gänzlich neuartige Funktion gewinnt (vgl. Foucault 1991).

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nealogische und machtanalytische Untersuchungen, dort aufs engste verknüpft mit einer Geschichte der Strategien und Kämpfe, in denen sich eine spezifische Form des Wissens und der Praktiken durchsetzt. Neben den neuen Perspektivierungen ist es dabei vor allem die Achtsamkeit auf das Unerwartete und scheinbar Unbedeutende, die dazu führt, dass Foucault hinsichtlich der – von Autoren wie Sombart, Weber, Braudel oder Wallerstein weit ausführlicher behandelten – Genese des modernen Kapitalismus originäre Akzente setzten kann (s.u. IV). Bourdieu, der ohne vergleichbare historische Detailanalysen zu bieten doch stets eine historische Reflexionsebene mitführte, setzte in ähnlicher Form die Diskontinuitäten verschiedener Formationen gesellschaftlicher Praxis und die Kontingenz ihrer Genese gegen allgemeine Entwicklungstheorien.23 Die im ethnologischen Frühwerk (vgl. Bourdieu 2000a; 2008; 2010a) herausgearbeiteten Diskontinuitäten zwischen vorkapitalistischen und kapitalistischen Praxisformen und Logiken, die in den Eigentums-, Familien- und Herrschaftsverhältnissen ebenso sichtbar werden, wie in den Dispositionen der Individuen, dienten dabei späteren Untersuchungen zur modernen Gesellschaft oft als Kontrastfolie. Auch die Studien zur Ausdifferenzierung verschiedener (religiöser, politischer, kultureller etc.) Produktionsfelder arbeiten die Kontingenz des Zusammentreffens historischer Ereignisse und Strategien heraus, in denen sich feldspezifische Logiken und Kräfteverhältnisse ausgebildet haben (s.u. V.3). Eine vergleichbare Betonung von Diskontinuität und Kontingenz scheint aber kaum mit jenem Marx vereinbar, dem schon Engels zuschrieb, die „allgemeinen Bewegungsgesetze“ entdeckt zu haben, „die sich in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft […] durchsetzen“ (F.E., MEW 21, 296).24 Nun finden sich bei Marx durchaus Passagen, die sich geschichtsphilosophisch deuten lassen und dies verleitete sowohl manche Ausprägungen des Marxismus als auch die Marxkritik dazu, die Rede von Gesetzmäßigkeiten im Sinne einer teleologischen Kausalmechanik zu missdeuten.25 Wo Marx aber beansprucht, wissenschaftliche Gesetze aufzustellen, finden sich keine derartigen universalhistorischen Spekulationen. Der„letzte Endzweck“ des Kapitals ist es, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“ zu formulieren (MEW 23, 16 [Hervh. T.H.]). Das grenzt den Gegenstandsbereich doppelt ein: auf eine historische Gesellschaftsformation und auf deren Ökonomie. Indem die Analyse dieses begrenzten Bereichs als Endzweck gekennzeichnet ist, werden keine Universalgesetze ‚der Gesellschaft‘ oder ‚der Geschichte‘ postuliert, sondern Gesetzmäßigkeiten einer historisch besonderen Wirtschaftsweise. Solche Gesetze lassen sich auf Grundlage der im Kapital konstruierten Strukturen und Zusammenhänge dieses ökonomischen Systems aufstellen und gelten, wie Marx oft betonte, aufgrund der komplexen Interdependenzen der immanenten Zusammenhänge sowie zahlloser äußerer Einflussfaktoren stets nur der „Tendenz nach“ (MEW 25, 184), meinen also keine monokausalen Entwicklungslinien. Michael Heinrich betont

23 Vgl. Bourdieu 2000a, 7-31; zum Verhältnis von Soziologie und Historiographie: 2004b. 24 Auch Engels, der in seiner späteren allgemeinen „Dialektik der Natur“ (F.E., MEW 20, 307-369) ein deterministischeres Geschichtsbild vertrat als Marx, negierte damit nicht die Rolle des Zufalls, sah diesen aber als Oberflächenphänomen, unter dem doch ein allgemeines Geschichtsgesetz wirke (vgl. F.E., MEW 21, 296ff.). 25 Für diese konventionelle Deutung siehe u.a.: Dahrendorf 2000, 58-73; Eucken 1959; Willke 2008, 88-97.

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entsprechend, dass Gesetze bei Marx „bloße Strukturgesetze sind, aus denen keine Ereignisfolgen abgeleitet werden können.“ Daher bestehe „auch kein Widerspruch zwischen der Annahme solcher Bewegungsgesetze und dem Aufruf zur revolutionären Tat. Die wirkliche Geschichte muss immer von Menschen gemacht werden und ist in ihrem Ausgang offen.“ (Heinrich 1991, 139f. [Hervh. i.O.]) 26 Marx selbst insistierte gegen die „Auffassung“ der Geschichte „als notwendige Entwicklung“ auf die „Berechtigung des Zufalls“ (MEW 13, 640 [Hervh. i.O.]) und verwahrte sich dagegen, in den historischen Passagen des Kapitals einen „Universalschlüssel der Geschichte“ zu suchen: Die „historische Skizze der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges [zu] verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen [...,] heißt mir zugleich zu viel Ehre und zu viel Schimpf antun“ (MEW 19, 111).

Betrachtet man diese ‚historische Skizze‘ genauer, so erweist sie sich nicht nur inhaltlich als kompatibel mit Foucaults differenzierteren Analysen der historischen Voraussetzungen des Kapitalismus, sie zeigt auch ein ähnliches Herangehen: Statt eine Kausalabfolge von Ereignissen als „notwendig“ darzustellen, werden heterogene Entwicklungslinien und Brüche identifiziert, die erst in ihrem Zusammentreffen zu einem historischen Resultat führen (vgl. MEW 23, 741-791; s.u. IV.1-3). Stets sind es „unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ergebnis – hervorgeht“ (F.E., MEW 37, 464). In diesem Sinne mahnte Bourdieu, dem ebenso wie Marx oft eine deterministische Theorie unterstellt wurde, dass wissenschaftliche Analysen, gerade wo sie die Strukturen historischer Praxisformen und sich daraus ergebende Entwicklungstendenzen objektivieren, nie vergessen dürfen, dass die „mechanistischen Verkettungen zwangsläufiger Handlungen [...] allein in der antiken Tragödie ihre Existenz führen“, in der Realität aber, selbst bei weitgehender Passung habitualisierter und objektivierter Strukturen, „der Ausgang einer Interaktion solange ungewiß [bleibt], wie die Sequenz noch nicht beendet ist“ (Bourdieu 1976, 226). Gegen Kurzschlüsse, die aus gesellschaftlichen Strukturgesetzen eine lineare Kausalität ableiten, wird so an die prinzipielle Variabilität und Ereignisoffenheit gesellschaftlicher Praxis erinnert. Diese von Marx, Foucault und Bourdieu geteilte analytische Disposition, in der die Objektivierung struktureller Zusammenhänge und sich daraus ergebender Tendenzen, Prozesslogiken und Pfadabhängigkeiten nicht im Widerspruch zur Analyse und Betonung der Kontingenz ihrer Genese, der Freiheitsgrade ihrer Veränderung und der Offenheit geschichtlicher Prozesse steht, ist zugleich ein Beispiel für die Auflösung gesellschaftstheoretischer Dichotomien.

26 Dies zu übersehen war für Bourdieu (vgl. 1987, 77f.) der Fehler des strukturalistischen Marxismus Althussers.

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3.4 P RAXEOLOGIE D ICHOTOMIEN

ALS

Ü BERWINDUNG

THEORETISCHER

Wie viele Einführungen in die Soziologie zeigen, ist das soziologische Wissen um grundlegende Dichotomien organisiert: Individuum/Gesellschaft; Handlung/Struktur; materiell/symbolisch bilden solche Begriffspaare, die oft auch zu Entgegensetzungen von Freiheit und Zwang, von objektiv zu erklärender Funktion und subjektivem Sinn, von instrumentell-funktionaler Sachdimension und sinnhafter Sozialdimension führen. Zwar lässt sich keine soziologische Strömung auf eine Seite dieser Bipolaritäten reduzieren, jedoch zeigen theoretische Zugriffe und Erklärungsmuster oft die Dominanz eines Pols und selbst integrative Theorieansätze gehen von grundlegenden Gegensätzen aus, zwischen denen zu vermitteln wäre.27 Bourdieu zielte demgegenüber mit seiner Theorie der Praxis auf eine Analyseperspektive, die solche das soziologische Wissen präfigurierenden Dualismen schon in der Konstruktion der Grundbegriffe überwinden sollte. Diese grundlegend antidualistische Theoriedisposition, die sich auch bei Foucault und Marx findet, muss hier schon deshalb etwas genauer herausgearbeitet werden, weil viele Missverständnisse bezüglich der Ansätze und Aussagen von Marx, Bourdieu und Foucault darauf beruhen, dass Analysen, die jenseits solcher Polarisierung argumentieren, in der Rezeption wieder auf entsprechende Gegensatzpaare reduziert werden, so dass dann z.B. Foucault als Theoretiker von Zwang und Repression oder als eine Art objektivistischer Idealist erscheint, bei dem Diskurse die materielle Wirklichkeit setzen, während Bourdieu als Determinist und Marx als radikaler Ökonomist, bei dem die Produktion einseitig alle anderen Momente der gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, eingeordnet werden. Bourdieu wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „Anstrengungen zur Erarbeitung einer neuen Sicht“ auf die soziale Welt oft „dadurch hintertrieben“ würden, dass „auf die neuen Konzepte die Kategorien des Spontandenkens appliziert werden, gegen die jene entwickelt wurden.“ (Bourdieu 1989b, 71) Auch um die Reproduktion solcher – fruchtbare Analysen stets blockierenden – schematischen Gegensätze im gegenstandsbezogenen Teil dieser Studie zu vermeiden, soll daher an einigen Begriffspaaren die praxeologische Auflösung zentraler soziologischer Dichotomien illustriert werden.

27 Kritisch weisen etwa Engler und Zimmermann (2002, 36ff.) darauf hin, dass die häufige Klassifikation von Bourdieu als einem Vermittlungstheoretiker dessen Ansatz verfehlt, da damit immer schon unterstellt wird, dass es voneinander klar unterschiedene Sphären gäbe, zwischen denen zu vermitteln wäre, was Bourdieu gerade bestreitet.

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3.4.1 Subjektivismus/Objektivismus oder Freiheit/Zwang „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus“. PIERRE BOURDIEU (1987, 49)

Bourdieu unterschied (teils etwas zu holzschnittartig)28 subjektivistische und objektivistische Modi sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, um seine praxeologische Perspektive in Abgrenzung zu beiden zu konturieren (vgl. Bourdieu 1976, 146ff.; 1987, 49ff.). Als ‚subjektivistisch‘ werden Theoriedispositionen der Phänomenologie, des symbolischen Interaktionismus oder der Ethnomethodologie bezeichnet, die darauf zielen, die Primärerfahrungen der sozialen Welt, wie sie sich den Akteuren darbieten, und den Sinn, der ihr Handeln orientiert, in einer ‚Konstruktion zweiten Grades‘ oder durch aktive Irritation der praktischen Gewissheiten, etwa in ‚Krisenexperimenten‘, explizit zu machen.29 Für dieses interpretativ-verstehende Herangehen sind weitere Fragen nach den gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen oder den objektiven Funktionen des im Wahrnehmen und Handeln konstituierten Sinns ebenso wie Fragen nach den Bedingungen des eigenen Erkenntnisstandpunkts tendenziell ausgeschlossen (vgl. Bourdieu 1987, 50; 1976, 147). Demgegenüber vollzieht der objektivistische Zugriff strukturalistischer und funktionalistischer Ansätze einen epistemologischen Bruch mit den lebensweltlichen Primärverständnissen und versucht, die in objektiven Zusammenhängen emergierenden Strukturen und Funktionen zu objektivieren, die als Realität sui generis (jenseits der Sinnsetzungen der Handlungsagenten) erst durch wissenschaftliche Konstruktionsarbeit erschließbar sind. Beide Modi soziologischer Wissensproduktion haben ihre Berechtigung und Produktivität. Ihre Auswahl muss sich an konkreten Forschungsfragen entscheiden. Problematisch werden entsprechenden Schemata aber dort, wo eine dieser Erkenntnisweisen absolut gesetzt wird oder ihre impliziten Vorannahmen unreflektiert auf den Gegenstand übertragen werden. Der ‚subjektivistische‘ Zugriff impliziert in der Fokussierung auf die sinnhaft vorerschlossene Lebenswelt die Annahme einer Kontinuität zwischen praktischem und theoretischem Wissen, die nur durch den Grad der Explizitheit unterschieden sind. Das nährt eine „Illusion der Transparenz“ (Bourdieu/Chamboredon/ Passeron 1991, 17), also die Annahme, dass den Sinn konstituierenden Akteuren ihre Praxis prinzipiell durchschaubar ist. Praktisch agierenden Individuen wird so die Position von idealen Theoretikern unterstellt, die ihre Sinnkonstruktionen permanent re-

28 Um die Theoriedispositionen möglichst scharf zu konturieren, neigt Bourdieu zu Überpointierungen, die der Ambivalenz der zugeordneten Autoren und Theorieströmungen nicht gerecht wird. So ist der Terminus ‚Subjektivismus‘ unglücklich gewählt, da die hier subsumierten Ansätze (etwa Schütz, Garfinkel, Goffmann) nicht notwendig von einem transzendentalen Subjekt ausgehen und oft gerade die den subjektiven Wahrnehmungen und Handlungen vorausgesetzten objektiven ‚Sinnsedimente‘ (Schütz) zum Gegenstand haben. 29 Vgl. zur ‚Konstruktion zweiten Grades‘: Schütz 1971, 68f. Während hier der Theoretiker den vorerschlossenen Sinn systematisiert und expliziert, soll das ethnomethodologische Krisenexperiment die Akteure selbst durch Irritation der Erwartungen und Gewissheiten dazu veranlassen, diese explizit zu machen.

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flektieren und methodisch kontrollieren.30 Die dadurch begünstigte Überschätzung der Freiheitsgrade praktischen Agierens zeigt sich nicht nur an Bourdieus (vgl. u.a. 1987, 79-96) bevorzugtem Beispiel, der Philosophie Sartres, sondern auch in der Form, in der etwa Berger und Luckmann (vgl. 1980, 56-64) sich die Konstitution institutioneller Ordnung vorstellen: Individuen erklären sich gegenseitig das Was, Wie und Warum ihres Handelns. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt zur realsatirischen Qualität, die Habermas (vgl. 1995, Bd. II, 185ff.) erreicht, wenn er in einem ‚lebensweltlichen‘ Beispiel den zum Bier holen geschickten Lehrling mit den älteren Bauarbeitern Geltungsansprüche, Situationsdefinition und normative Hintergründe dieses Ansinnens aushandeln lässt. Indem sich die interpretativen Ansätze der Phänomenologie oder auch die Erklärungsmodelle des Rational Choice auf die Ebene des Bewusstseins und des explizierbaren Sinns konzentrieren, ebnen sie die Differenz zwischen akademischer Reflexion und anderen Praxisformen ein und blenden tendenziell aus, dass Sinn und Kommunikation objektive Bedingungen und Funktionen in gesellschaftlichen Verhältnissen haben, die strukturelle Asymmetrien, Dominanzbeziehungen und Zwänge einschließen. Im Grenzfall erscheint dann als Ausdruck freier Wahl oder als Ergebnis herrschaftsfreier Kommunikation, was Effekt des zwingenden Charakters „soziologischer Tatbestände“ (Durkheim 1976, 105-116) oder des „stumme[n] Zwang[s] der ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 23, 764) ist. Die zentrale theoretische Bedeutung, die Bourdieu wie Foucault dem Körper verleihen, stellt dieser intellektualistischen Illusion eines sich selbst transparenten Handelns ein Modell des nicht-intentionalen Charakters sinnhaften Verhaltens entgegen.31 Als Objekt gesellschaftlicher Zurichtung wie als Subjekt praktischen Agierens, als Objekt von Sinnzuschreibungen wie als Subjekt des praktischen Erkennens und Erzeugens von Sinn, sind der Körper und die ihm eingeschriebenen Verhaltens- und Wahrnehmungsdispositionen den Handlungen wie den Intentionen und Reflexionen präreflexiv vorausgesetzt. Indem die Subjektformierung – sei es auf der Grundlage gezielter „Prozeduren zur Kontrolle oder Korrektur der Körpertätigkeiten“ (Foucault 1994, 174), sei es durch die Wirkung der „‚trägen Gewalt‘ der ökonomischen und sozialen Strukturen und der ihrer Reproduktion dienenden Mechanismen“ (Bourdieu 2001c, 181) – am Körper festgemacht wird, wird die soziale Genese von Dispositionen jenseits bewusstseinsfixierter Modelle der rationalen Wahl oder des rationalen Diskurses analysierbar.32 Zugleich wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Handlungen einen sozialen Sinn (Bourdieu 1987) jenseits der Kognitionen, der Moti-

30 Es handelt sich um ideale Theoretiker, da Bourdieus (vgl. 1987; 1988; 2001c) Kritik der theoretischen oder scholastischen Vernunft zeigt, dass die Bedingungen und Grenzen sozialwissenschaftlichen Wissens und die impliziten Vorannahmen, die auf den Gegenstand projiziert werden, gerade den realen Theoretikern oft keineswegs transparent sind. 31 Vgl. Bourdieu 1987, 122-146; 2001c, 165-209; Foucault 1994, 173-292; 1976, 105-113; 1978, 104-117. Vgl. zu dieser theoriesystematischen Stellung des Körpers auch: Nassehi 2004, v.a. 168ff.; Bublitz 1999b, 192-222. 32 Dies, wie das Interesse für den Körper, teilen die Ansätze Bourdieus und Foucaults mit dem objektivistischen Vorgehen des Strukturalismus – schließlich war es Levi-Strauss (1999), der eine „Archäologie[!] der körperlichen Gewohnheiten“ und der „Techniken des Körpers“ (ebd., 11) gefordert hatte.

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ve und des Wissens der Akteure implizieren.33 Die Dominanz der körperbezogenen Terminologie dient so bei Foucault wie bei Bourdieu der „Unterwanderung“ des erkenntnistheoretischen Subjekt/Objekt-Dualismus (vgl. Bublitz 1999b, 210), auf die auch die Praxistheorie von Marx zielte (vgl. Labica 1998, 46f.; Wohlrapp 1975, 160f.). Zum praktischen Subjekt des Agierens wird der Körper nur, insofern er Objekt einer Formierung ist und die von diesem Subjekt-Objekt generierten Handlungen haben objektive Voraussetzungen und Effekte, die sich dem subjektiven Bewusstsein entziehen. Dies theoretisch zu objektivieren ist unabdingbar, weil die Beschränkung auf die Rekonstruktion subjektiver Sinnsetzungen und Motive dazu tendiert, die Soziologie „einer Bestandsaufnahme des krud Gegebenen, kurz, der herrschenden Ordnung, gleichzustellen“ (Bourdieu 1976, 150). Schon Marx fragte gegen Theorien, die nur die Formen reproduzieren, in der die gesellschaftliche Praxis den in ihr befangenen Agenten erscheint: „Wozu dann überhaupt Wissenschaft?“ (MEW 32, 553) Insofern setzt eine praxeologische Perspektive den Bruch „mit allen ‚präkonstruierten‘ Repräsentationen“ (Bourdieu 1976, 149) ebenso voraus wie eine theoretische Konstruktion objektiver Systeme von Beziehungen, in denen die Individuen unabhängig von ihrem Wissen positioniert sind (vgl. Bourdieu/Passeron/Chamboredon 1991, 15-64; s.u. 3.5). Jedoch kritisiert Bourdieu am Objektivismus die Tendenz, „vom Modell der Realität zur Realität des Modells“ (Bourdieu 1987, 75) überzugehen, also theoretisch objektivierte Strukturen, Funktionen und Gesetzmäßigkeiten zu die Praktiken mechanisch determinierenden Ursachen zu erklären. Damit erscheint ein Modell der Praxis dann als eine „Macht, die diese Praktiken tatsächlich bestimmen kann“ (ebd., 71). So würden „strukturalistische Marxleser“, in ihrer „Gegenposition zum Subjektivismus“, „zu Fetischisten sozialer Gesetzmäßigkeiten“, die das „‚schöpferische Subjekt‘ […] durch einen Automaten“ ersetzten. Die Folge sei eine „emanistische Sicht, die aus Struktur, aus Kapital oder Produktionsweise eine Entelechi macht, die […] in einem Prozess der Selbstverwirklichung entsteht“. Die Akteure werden damit im Grenzfall zur Randbedingung einer mysteriösen „Fähigkeit der Struktur, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren“ (ebd., 78): „Kurz, der Objektivismus ist, da er die Praxis nicht anders denn negativ, d.h. als Ausübung/Ausführung zu entwerfen vermag, dazu verdammt, die Frage nach dem Erzeugungsprinzip der Regelmäßigkeiten gänzlich fallen zu lassen […], oder aber verdinglichte Abstraktionen dank eines Fehlschlusses hervorzubringen, der darin besteht, die von der Wissenschaft konstruierten Objekte wie ‚Kultur‘, ‚Struktur‘‚ ‚soziale Klasse‘, ‚Produktionsweisen‘ usw. wie autonome Realitäten zu behandeln, […] die in der Lage sind, zu handeln als verantwortliche Subjekte sozialer Aktionen oder als Macht, die fähig ist, auf die Praxis Zwang auszuüben“ (Bourdieu 1976, 158f. [Hervh. i.O.]).

Diese Tendenzen hat in ganz ähnlicher Form auch E. P. Thompson (vgl. 1980a, v.a. 133-176) am strukturalen Marxismus Althussers kritisiert und eindrücklich visualisiert (siehe Abb. 1).

33 Wie Bourdieu (1987) prägnant formulierte: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen.“ (Ebd., 127)

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Abb. 1: Mechanistische Geschichts- und Gesellschaftsbilder des strukturalen Marxismus nach E.P. Thompson

Vulgärmarxismus oder Ökonomismus. H=Basis; A – B – C = Überbau. Der Apparat wird mittels der Klassenkampf-Zugleine (K) bedient. Zur Beachtung: Dieses Modell repräsentiert den primitiven Zustand des Marxismus vor Althusser.

Althussers marxistisches Planetarium. Zur Beachtung: Während dieser Apparat einfach dadurch in Bewegung gebracht werden kann, daß die Kurbel der theoretischen Praxis (Theoretical Practice) gedreht wird, besteht auch die Möglichkeit, diese durch einen Motor zu ersetzen: siehe nächste Tafel.

Der Motor der Geschichte: Klassenkampf. Der Motor, der an das Planetarium angeschlossen werden kann, wird mittels vier einfacher Hebel an der Basis bedient. Diese aktivieren jeweils einen der vier Gänge Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Proletariat und Bauern. Bei automatischem Betrieb werden die Abläufe durch die vier Kugeln (zwei oben, zwei an der Basis) des richtigen und falschen Bewusstseins der Bourgeoisie und des Proletariats gesteuert. In beiden Fällen wird die Spannung zwischen richtiger und falscher Kugel von einer Feder (Ideologie) gehalten, und die daraus resultierende Torsion reguliert den Motor.

Produktionsweise / Gesellschaftsformation X = die Basis der Produktivkräfte. Auf ihr ruhen die Produktionsverhältnisse (W & T), die von der Schraube der Mehrwertauspressung (V) reguliert werden. Der lange wagerechte Arm stellt die Ökonomie dar oder genauer, das Kapital, das seine Reproduktionsbedingungen festsetzt. Dieser Arm zeichnet Gestallt und Grenzen der Gesellschaftsformation (die Wand, Y) nach. Der hohe senkrechte Arm stellt den Staat dar, von dem zwei Zugleinen abgehen: der repressive Staatsapparat (R) und der ideologische Staatsapparat (Q).

Abbildungen und Text nach: Thompson, Edward Palmer: Das Elend der Theorie. Frankfurt a.M./New York 1980, S. 150-153.

Nicht nur in den so karikierten Spielweisen des Marxismus, sondern auch in ihnen politisch denkbar fern stehenden Ansätzen gibt es die Tendenz, ‚die Gesellschaft‘ als automatisches „Subjekt im Großformat“ (Ebrecht/Hillebrand 2002, 9) zu behandeln,

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während die Akteure entweder zu bedingungslos in ihren Rollen aufgehenden ‚interaction fools‘ werden (wie im Strukturfunktionalismus), oder zur zu vernachlässigenden Größe in der Umwelt sozialer Systeme, die als Quasi-Subjekte ihre Bezugsprobleme und Strukturen selbst konstituieren, wie in der Systemtheorie Luhmanns. Indem die Theorie ‚das System‘ oder ‚die Gesellschaft‘ als grammatisches Subjekt ‚agieren‘ lässt, gerät sie in die aparte Position, alles und nichts zu erklären, denn die „Gesellschaft [ist], wie der Gott des Aristoteles, mit sich selber beschäftigt. Sie tut, wie der Gott der Christen, alles was sie tut, um ihrer selbst willen.“ (Luhmann 1998, 1127)34 Marx bezeichnete diese Rede von der „Gesellschaft als Person“ oder „Subjekt“ als „absonderliche“ philosophische Abstraktion (MEW 4, 136). „Die Gesellschaft als ein einziges Subjekt betrachten, ist, sie [...] falsch betrachten – spekulativ.“ (MEW 13, 625) Spekulativ wird dieses Denken, da ‚die Gesellschaft‘ oder ‚das System‘ hier als Wesen behandelt wird, „das das Mysterium vollzieht, sich selbst zu erzeugen“ (MEW 3, 37), also Bedingungen zu setzen, ohne selbst bedingt zu sein. ‚Gesellschaft‘ nimmt so nicht nur bei Luhmann jene Funktionsstelle ein, die in traditionellen philosophischen Systemen ‚das Ich‘, ‚der Geist‘ oder ‚Gott‘ besetzten.35 Demgegenüber setzen praxeologische Erkenntnisperspektiven weder beim Individuum noch bei der Gesellschaft als vorausgesetztem Subjekt an, sondern bei den Relationen, die sich zwischen immer schon vergesellschafteten Individuen im wechselseitigen Einwirken ihrer Handlungen aufeinander herstellen. Solche gesellschaftlichen Verhältnisse sind zwar jedem individuellen Handeln vorausgesetzt, sie bilden den Bedingungsrahmen des jeweils möglichen und unmöglichen Handelns und können zu einer systematischen Logik der Verknüpfungen und Wirkungen aggregierter Handlungszusammenhänge führen, die vom Willen der Individuen unabhängig sind, sie bleiben aber bei all dem Systeme objektiver Beziehungen, denen sich, anders als den autopoietischen Systemen Luhmanns, kein selbständiges Agieren zuschreiben lässt. Diese nur theoretisch konstruierbaren Relationssysteme sollen die „regelmäßige Periodizität“ (MEW 26.2, 498) der für eine Gesellschaftsformation charakteristischen Phänomene, etwa der kapitalistischen Konjunktur- und Krisenzyklen, in der Form einer „gesetzmäßigen Periodizität“ (ebd., 500) erklären. Neben der missverständlichen Zurechnung solcher Gesetzmäßigkeiten auf das Wirken von Quasi-Subjekten (wie Hegels ‚Weltgeist‘ oder Luhmanns autopoietische Systeme) ist dabei aber auch ein juridischer Kurzschluss zu vermeiden, der aus den zur Erklärung statistischer „Regelmäßigkeiten“ konstruierten Modellen folgert, die Praktiken seien „Ergebnis einer Unterwerfung unter Regeln“ (Bourdieu 2008, 165), nach denen die Akteure wie „Ma-

34 Luhmann (1987) war sich des Problems bewusst: „Es gehört zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache […,] die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so […] zu suggerieren […], daß es um Dinge gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden.“ Dadurch würde seine „Gesamtdarstellung der Systemtheorie […] inadäquat, ja irreführend“ (ebd., 115). Allerdings ist das nicht nur ein grammatisches Problem. Luhmann entlehnt viele Modelle aus Husserls Theorie des transzendentalen Subjekts und transponiert so Denkfiguren der Bewusstseinsphilosophie in die Gesellschaftstheorie (vgl. ebd., 594ff.). 35 Deutlich wird das bei Durkheim, dem das „Göttliche“ als „transfigurierte und symbolisch gedachte Gesellschaft“ (Durkheim 1985, 105), Gott als „der bildhafte Ausdruck der Gesellschaft“ (Durkheim 1981, 309; vgl. ebd., 590) galt. Im Umkehrschluss gilt „Gesellschaft“ dann als zeitgemäßer Ausdruck für „Gott“ (Durkheim 1985, 72).

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rionetten in einem Spiel, dessen Regeln sie nicht kennen“, in „Bewegung versetzt werden“ (ebd., 121). Einen solchen „naiven Juridismus“, der Praktiken wie die Ausführung juristischer Vorschriften behandelt (ebd., 165ff.; vgl. Bourdieu 1987, 75f.),36 hat auch Foucault (vgl. 1981, 209ff.; 1983, 84-92) stets kritisiert. Die geteilte Kritik an juridischen und formalistischen Konzepten regelhafter Praktiken weist auch darauf hin, dass der Zwang zur logischen Kohärenz wissenschaftlicher Modelle zu einem Bild der logischen Schlüssigkeit sozialer Prozesse tendiert, welches die Varianz, Widersprüchlichkeit und Entwicklungsoffenheit gesellschaftlicher Praxis ignoriert (vgl. Foucault 1981, 213f.). Bourdieu (vgl. u.a. 1987, 52) fordert daher, in einem „zweiten Bruch“ diesmal mit den objektivistischen Konstruktionen die Besonderheiten des Agierens in praxi zu berücksichtigen, das einer anderen Logik gehorcht als jener, die die theoretische Konstruktionsarbeit bestimmt.37 Die aus komplexen Beziehungen und Wechselwirkungen aufgebauten Relationensysteme erreichen in praxi nie den Grad systematischer Logik, der in einem am Schreibtisch entworfenen Theoriesystem möglich ist. Schon deshalb bilden sie nur einen Bedingungsrahmen, der bestimmte Praktiken wahrscheinlich macht, ohne sie aber im Sinne juridischer Anweisungen zu determinieren. „Unsre Regeln lassen Hintertüren offen, und die Praxis muß für sich selber sprechen“, betonte Wittgenstein (1970, 44f.) gegen eine Philosophie, die die Sprachpraxis nach Maßgaben der Logik behandelt. Bourdieu, dem bei seinen frühen, strukturalistischen Studien auffiel, dass jede Regel und Handlungsmaxime ihre Gegenmaxime hat, so dass praktisches Agieren stets strategische Freiheitsgrade einschließt, forderte, man müsse „der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die der Logik, damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat“, oder ihr „eine erzwungene Schlüssigkeit“ überstülpt (Bourdieu 1987, 157; vgl. 1976, 248). Gegen scholastische Trugschlüsse, die die Situation praktisch agierender Akteure mit der des informierten theoretischen Zuschauers verwechseln, ist zudem zu berücksichtigen, dass theoretische und praktische Einstellungen differente Verhältnisse zur Zeit aufweisen. Während die Theorie zeitliche Entwicklungen überschauen kann und Zeit hat, Systeme funktioneller Beziehungen zu konstruieren, sind die von der Praxis okkupierten Akteure gezwungen, ohne Wissen über die vollständigen Zusammenhänge und potenziellen Wirkungen zu agieren.38 So sind strategische Reaktionen, etwa auf Krisen, nicht an theoretischer Schlüssigkeit, sondern an praktischer Wirksamkeit interessiert, und ihre unintendier36 Bourdieu (vgl. 1987, 75ff.; 1976, 153ff.; 2008, 166f.) sieht dieses juridische Bild im Strukturalismus in der Metapher des Unbewussten restituiert. Werden Modelle in ein Unbewusstes der Akteure projiziert, können theoretische Regeln, auch wenn sie nicht gewusst werden, als reale, die Praxis bestimmende Regeln verstanden werden. 37 Es ist entscheidend, dass dieser zweite Bruch in der „Hierarchie der Erkenntnisakte“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 65ff.) erst an zweiter Stelle steht. Zwar gehören auch die Vorstellungen und Strategien der Akteure dem zu objektivierenden Gegenstandsbereich an, um diese Akteursperspektive aber nicht nur zu reproduzieren, sondern verstehen und erklären zu können, bleibt die objektivistische Konstruktionsarbeit vorausgesetzt (vgl. auch Bourdieu 2008, 9ff.). 38 Es gibt „eine Zeit der Wissenschaft, die nicht die der Praxis ist. Für den Analytiker ist die Zeit aufgehoben: nicht nur […], weil er immer erst analysiert, wenn alles schon vorbei ist, und daher nicht im Ungewissen über das mögliche Geschehen sein kann, sondern auch, weil er die Zeit hat zu totalisieren, d.h. Zeiteffekte zu überwinden” (Bourdieu 1987, 149; vgl. 1976, 217f.).

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ten Folgen erzwingen stets neue Strategien mit ebenso unvorhersehbaren Effekten (vgl. Foucault 1978, 120f.). Praxis ist daher nie auf die Ausführung von Strukturgesetzen reduzierbar und bringt als Erzeugungsprinzip von Strukturen nie jene perfekt austarierten, selbstläufigen Mechanismen hervor, die an Gleichgewichtszuständen orientierte soziologische oder ökonomische Theorie unterstellen. Deshalb sind praxeologische Grundbegriffe nicht nur streng relational, sondern auch dynamisch angelegt, um gegen das Bild der zirkulären Reproduktion eines Gleichgewichts Momente der Widersprüchlichkeit und Veränderung zu integrieren. Das gilt für Marx’ Begriffspaar Produktionsverhältnisse/Produktivkräfte (s.o. 2.1), für Bourdieus Begriffspaar Feld/Habitus oder für Foucaults Begriff des Dispositivs (s.u. 3.4.4) wie auch für den Macht- oder Kapitalbegriff.39 In dieser Perspektive wird die Dichotomie von Struktur und Handlung zum Scheingegensatz: Strukturen sind nichts als die Relationen, die sich in einem System von Elementen (Handlungen, Aussagen etc.) herstellen – was vielleicht Elias’ Begriff der Figuration am besten erfasst.40 Handlungen sind in relational definierten Möglichkeitsräumen strukturell bedingt. Indem sie auf andere Elemente einwirken, produzieren und verschieben sie aber die Relationen, so dass ihre Wechselwirkungen ihrerseits die ‚Struktur‘ bedingen. So ist „eine ‚Opposition‘ von Struktur und Werden […] weder für die Definition des historischen Feldes noch [...] für die Definition einer strukturalen Methode zutreffend“ (Foucault 1981, 22). Praxis ist durch „eine immerwährende Beweglichkeit“ und eine „Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung und Prozeßumformung“ gekennzeichnet (Foucault 1992, 39), wobei jede praktische Reproduktion historisch gewordener ‚Strukturen‘ Möglichkeiten der Veränderung impliziert. Daher wird es notwendig, vom „akademischen Gegensatz zwischen Beharrung und Veränderung Abschied“ zu nehmen (Bourdieu et al. 1981a, 71), da z.B. die Beharrlichkeit von Klassenstrukturen radikale Veränderungen der Merkmale der Klassen wie der sozialen Beziehungen zwischen ihnen einschließt (s.u. V.4). Hier lösen sich auch die im Schema von Struktur vs. Handeln konstruierten Gegensätze auf, die der Althusser-Schüler Balibar zwischen Marx und Foucault ausmacht, da sich Foucaults „Logik der Kräfteverhältnisse auf die Idee einer Plastizität“ stütze, „während die marxistische Logik des […] Widerspruchs untrennbar ist von einer Immanenz der Struktur“ (Balibar 1991, 59). Dieser Gegensatz besteht nur zwischen einem Struktur-Marxismus und einer komplementär verkürzten Foucaultinterpretation. Denn die widersprüchliche Logik des Kapitalverhältnisses bezeichnet bei Marx keine fixe Strukturdeterminante, welche allen sozialen Kämpfen eine klar polarisierte Form gibt und die Gesellschaft auf der historischen Einbahnstraße eines prädeterminierten Entwicklungsprozesses halten würde. Sie ist ein Moment dynamischer Kräfteverhältnisse, in denen sich erst im Zusammenspiel plastischer Strategien und Kämpfe entscheidet, in welche Richtung und in welcher Form die in der kapitalistischen Produktionsweise angelegten Tendenzen wirken und welche konkrete Gestalt

39 Gerade diese oft als Substanz- oder Subjektbegriff missverstanden Termini bezeichnen in den hier diskutierten Theorien keine ‚Ressource‘, die ein Individuum ‚besitzen‘ könnte, erst recht keine metaphysischen Quasisubjekte, sondern dynamische Verhältnisse zwischen Individuen, die erst in praxi produziert werden (s.o. 2.3; s.u. III). 40 Vgl. zur wissenschaftstheoretischen Begründung des Figurationsbegriffs: Elias 1986, v.a. 11ff.; 139-145.

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die Produktionsverhältnisse jeweils annehmen. Marx’ Begriff der ‚Verhältnisse‘ entzieht sich dem Dualismus von plastischer Dynamik und fixer ‚Struktur‘, da er „Gesellschaft“ immer nur als vorläufiges Resultat eines seinerseits plastischen „gesellschaftlichen Produktionsprozesses“ erfasst: „Alles, was feste Form hat […], erscheint nur als Moment, verschwindendes Moment in dieser Bewegung, der unmittelbare Produktionsprozeß selbst erscheint hier nur als Moment“ (MEW 42, 608). Und innerhalb dieses historischen Prozesses gibt es weder einen strukturellen Automatismus, noch ein Subjekt im Singular, denn „als die Subjekte desselben erscheinen nur die Individuen, aber die Individuen in Beziehungen aufeinander, die sie ebenso reproduzieren wie neu produzieren. Ihr eigner beständiger Bewegungsprozeß, in dem sie sich ebensosehr erneuern als die Welt […], die sie schaffen.“ (Ebd.) Bei Marx, für den Gesellschaft „kein fester Kristall, sondern ein […] beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist“ (MEW 23, 16), schließt so die widersprüchliche Logik, die er in der ideellen Form des Kapitalverhältnisses identifizierte, eine Plastizität der konkreten Kräfteverhältnisse keineswegs aus. Umgekehrt kennt auch Foucault die temporäre Erstarrung der „Kraftverhältnisse“, die „sich zu Systemen verketten“, oder „institutionelle Kristallisierungen“ der Strategien, die sich „in gesellschaftlichen Hegemonien41 verkörpern“ (Foucault 1983, 93). Und wie Lemke betont, hat Foucault im Hinblick auf das „Problem der Regierung seine Konzeption sozialer Konflikte in die von Marx vorgezeichnete Richtung […] weiterentwickelt“ (Lemke 1997, 142, Fn. 16). Das zeigt sich etwa, wenn die Frage aufgeworfen wird, wie die neoliberalen Regierungs- und Subjektivierungsformen auf den tendenziellen Fall der Profitrate (also auf eine nach Marx in der Logik des Kapitalverhältnisses angelegte Tendenz) reagieren und wie sie diese Tendenz temporär umkehren könnten (vgl. Foucault 2004b, 321ff.; s.u. IV.7). Schon diese Frage lässt sich nur verstehen, wenn man das, was Balibar als ‚Immanenz der Struktur‘ und ‚Plastizität der Kräfteverhältnisse‘ bezeichnet, nicht als substantielle Gegensätze ansieht, sondern als zwei komplementäre Seiten eines Analyserasters, das auf die historische Veränderungsdynamik von gesellschaftlichen Verhältnissen gerichtet ist. In beiden Theorien geht es, wie bei Bourdieu, um eine Praxis, in der „die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen“ (MEW 3, 38), so dass an keinem Punkt ein Prinzip der Struktur und ein Prinzip der Plastizität einander gegenüberstehen. Individuen in Beziehung aufeinander sind stets zugleich historische Produkte und Produzenten ihrer historisch je einzigartigen Beziehungen, Objekte wie Subjekte plastischer Verhältnisse. Trotz einiger Parallelen, die sich aus der operativen Anlage von Theorien der Praxis zur Theorie autopoietischer Systeme ergeben (vgl. Nassehi, 2006a; 2004; s.u. V.3), wäre es daher auch unsinnig, ‚die Praxis‘ selbst als Subjekt oder autopoietisches System zu setzen und etwa Foucaults Analyse der systematischen Verkettung von Disziplinarpraktiken im 19. Jahrhundert als „Systemtheorie“ zu interpretieren (so etwa Honneth 1989, 196-223; 1999, 80ff.). Praxis kann nur der Name für den dynamischen Zusammenhang sein, in dem sich Regelmäßigkeiten, sachliche Bezugsprobleme und Funktionserfordernisse, soziale, ökonomische und politische Kräfteverhältnisse und historische Subjekte aus dem interdependenten

41 Foucault verwendet hier einen Begriff Gramscis, worauf unten (IV.1) noch zurückzukommen sein wird.

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Zusammenwirken von Praktiken ergeben, nicht die Bezeichnung für ein konstituierendes Subjekt, das diese Relationen herstellt. Durch die theoretische Auflösung dessen, was als verselbständigte Struktur oder konstituierendes Subjekt erscheint, kann eine praxeologische Perspektive auch jene Kurzschlüsse vermeiden, in denen gegensätzliche Modelle, die aus subjektivistischen und objektivistischen Theoriedispositionen resultieren, zu eigenständigen und im Widerstreit liegenden Prinzipien und Kräften hypostasiert werden, wie etwa in Habermas’ (1995) System/Lebenswelt-Dualismus. Die in solchen Konzepten vorausgesetzte Bipolarität von Freiheit/Zwang, instrumentell/kommunikativ wird unhaltbar, wo die Individuen und ihre Dispositionssysteme als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse gelten und die Gesellschaft umgekehrt nicht als eigentätiges System auftritt, sondern als Ensemble von Beziehungen zwischen Individuen. Ein ‚authentisches‘ Subjekt, das durch gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt würde, ist hier ebenso ausgeschlossen, wie eine den Praktiken der Individuen äußerliche Macht. Daher müssen auch die Formen gesellschaftlichen Wandels jenseits des Gegensatzes von freier Setzung – sei es durch ein Subjekt, sei es durch eine ‚Diskursgemeinschaft‘ – und einer von Systemimperativen erzwungenen Transformation verstanden werden. So sind bei Marx Revolutionen weder emanzipatorisches Aufbegehren einer ursprünglichen Freiheit noch der vorprogrammierte Effekt eines Strukturantagonismus. Sie sind eine mögliche Form der Praxis, deren historische Bedingungen in den gegebenen Verhältnissen angelegt sein müssen (s.u. V.3.4.4). Die Konstitution potenzieller revolutionärer Subjekte setzt darüber hinaus konkrete gesellschaftliche Praktiken und Konflikte, Erfahrungen und Lernprozesse voraus, in denen Formen der Kommunikation, Organisation und Repräsentation gefunden werden müssen, die eine Bewegung erst in praxi konstituieren.42 Auf der Grundlage dieses Verständnisses, in dem Subversion, Kritik oder Revolution weder auf ein Subjekt, noch auf einen Automatismus zurückführbar sind,43 müssen praxeologische Perspektiven auch die Möglichkeiten der Kritik oder der Veränderung gegebener Verhältnisse in diesen Verhältnissen selbst suchen (s.u. 4).

42 Vgl. gegen aktivistische oder deterministische Verkürzungen von Marx’ Revolutionsverständnis: MEW 4, 464-474; MEW 42, 93; s.u. III & V. 43 Vgl. in Bezug auf die Klassentheorie: Bourdieu 1997, 102-159; 1985, 9-46. Vgl. an einem ganz anderen historischen Beispiel etwa: Foucault 1983, 47 & 100f.

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3.4.2 Materielle und symbolische Dimensionen der Praxis „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus […] ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher [wurde] die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt[.]“ KARL MARX (MEW 3, 5)

Während die Überwindung des Gegensatzes von ‚Materialismus‘ und ‚Idealismus‘ oft als ein Verdienst der Soziologie Bourdieus gewürdigt wurde, da dort die ‚symbolischen Formen‘ als bedingt in gesellschaftlichen Verhältnissen aber auch als bedingendes Moment dieser Verhältnisse behandelt werden, wurden die Theorien von Marx und Foucault gerade zur Illustration dieses Gegensatzes gebraucht (vgl. u.a. Ebrecht/Hillebrand 2002, 10f.). Demgegenüber wurde oben gezeigt, dass Marx’ ‚Materialismus‘ die ‚ideellen‘ bzw. kulturellen und symbolischen Formen des gesellschaftlichen Lebens nicht einseitig auf Reflexe des ‚Materiellen‘ reduziert und umgekehrt Foucault keinen Erzeugungsidealismus vertritt, in dem ‚die Diskurse‘ die materielle Wirklichkeit bestimmen. Insofern lässt sich gerade an diesen Ansätzen herausarbeiten, wie praxeologische Theoriedispositionen die Bipolarität von materiell/ideell auflösen. Obwohl bei Marx einige polemisch gegen den Idealismus gerichtete Termini wie ‚Reflex‘ und ‚Widerspiegelung‘ eine materialistische Reduktion nahe legen, zeigt sein Verständnis der je gegebenen Gegenstände und Verhältnisse als Produkt einer konstituierenden Tätigkeit Kontinuitäten zum deutschen Idealismus, dem er anrechnete, die vom Materialismus vernachlässigte ‚tätige Seite‘ entwickelt zu haben.44 Der Materialismus übergehe, dass die Objekte der Anschauung ebenso Produkte einer Tätigkeit sind wie die Kategorien der Wahrnehmung, die Humes Empirismus unterschlug, während der Materialismus des 18. Jahrhunderts (Le Roy, La Mettrie) sie auf unwandelbare „mechanische Bewegungen“ eines materiellen Substrats psychischer Vorgänge in Analogie zur „kartesischen Konstruktion des Tiers“ (MEW 2, 133) reduzierte. Der Idealismus erfasse hingegen die tätig-konstruktive Seite, aber, da ihm „der Mensch“ als „nicht-gegenständliches, spiritualistisches Wesen galt“ (MEW 40.1, 575), erscheint sie nur in abstrakter Form, nicht als praktische, die materiellen und ideellen Grundlagen der Gesellschaft produzierende Tätigkeit. Gegen diese komplementären Verkürzungen betont Marx, dass „dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktivität gestalten, […] auch die

44 Das galt bereits für Fichte, der der ‚Tathandlung‘ des sich selbst setzenden Ichs ein Primat vor dem je gegebenen Sein und vor den Gedanken und Vorstellungen zusprach. An Hegel würdigte Marx, dass er „die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen […] als Resultat seiner eignen Arbeit begreift“ (MEW 40.1, 574 [Hervh. i.O.]). Vgl. zu Marx’ Beziehung zum Idealismus: Eßbach 1983; 1988; Richter 1978; Dangelmayr 1979.

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Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen“ produzieren (MEW 4, 130). Statt die idealistische Auffassung von Tätigkeit gegen den Materialismus zu kehren, gilt es hier, „dem Idealismus […] die ‚aktive Seite‘ des praktischen Erkennens zu entwenden, die ihm die materialistische Tradition […] überlassen hatte“ (Bourdieu 2001a, 286). Die Kritik am Idealismus, der das Bewusstsein oder die Idee zur die Wirklichkeit erzeugenden Entität hypostasierte, zielt damit nicht darauf, diese Kausalität einfach umzudrehen, um Ideen zum bloßen Effekt der vorgängigen materiellen Realität zu erklären. Dass die Produktion der Ideen den Verhältnissen gemäß ist, meint keine mechanische Kausalität, sondern vielmehr, dass ideelle und materielle Tätigkeit konstitutiv zusammenhängende und nur in der Abstraktion zu trennende Momente derselben gesellschaftlichen Praxis sind. Gegen den Idealismus gilt das Bewusstsein als bedingt. In dieser Bedingtheit aber ist es „(als Moment realer Tätigkeit) stets schon in die von ihm erkennend reproduzierte Wirklichkeit eingegangen“ (Schmidt 1974, 279) und impliziert Freiheitsgrade der aktiven Gestaltung dieser Wirklichkeit. In Fortsetzung des in Hegels Phänomenologie entwickelten Gedankens, dass die Entäußerung in der Arbeit konstitutiv für die Bewusstseinsbildung ist (vgl. Hegel 1986, 153ff., 170ff., 508ff.), arbeitet Marx im Frühwerk heraus, dass Bewusstsein sich überhaupt erst im praktischen Umgang mit der materiellen Welt ausbildet; dass das Begreifen im Wortsinne genetisch mit dem praktischen Hantieren verbunden ist. Dieses Konzept findet sich differenziert ausgebaut auch bei Gehlen (1993, 149-385), der zeigt, wie die Fähigkeiten zu Symbolgebrauch und Abstraktion erst in „sensomotorischen Kreisprozessen“ im praktischen Umgang mit den Dingen erworben werden45 In diesem Sinne ist das Bewusstsein der Praxis nicht vorgängig, bildet aber sehr wohl eines ihrer Moment, da jede Produktion auch Bewusstsein impliziert (vgl. MEW 40.1, 516f.; MEW 23, 193). Wo aber der Idealismus mit dem „Setzen des Menschen=Selbstbewußtsein“ (MEW 40.1, 575) das Bewusstsein zum Subjekt machte, fungiert es hier als Prädikat (vgl. ebd., 213 & 305), als nähere Bestimmung aktiv aufeinander bezogener Individuen, die nur als solche „auch ‚Bewußtsein‘“ (MEW 3, 30) haben. Insofern auch die „Sprache, in der der Denker tätig ist[,] als gesellschaftliches Produkt“ (MEW 40.1, 538f.) dem Denken vorausgesetzt ist, ist das „Bewußtsein […] von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren“ (MEW 3, 30f). Symbolische Faktoren spielen so bei Marx durchaus eine Rolle, nur ist auch die Sprache kein frei fluktuierendes ideelles System interessenloser Verständigung, sondern ein soziales Produkt, das nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen und den Formen seines Gebrauchs verstehbar ist46 – ein Argument das Bourdieu (vgl. 1990, 73ff.) später gegen Habermas’ Kommunikationsphilosophie wenden sollte.

45 Vgl. zur Beziehung von Gehlen zu Marx’ auch: Rehberg 1993 & 2000. 46 „In Bezug auf den einzelnen ist z.B. klar, daß er selbst zur Sprache als seiner eignen sich nur verhält als [...] Mitglied eines menschlichen Gemeinwesens. Sprache als das Produkt eines einzelnen ist ein Unding. [...] Die Sprache selbst ist ebenso das Produkt eines Gemeinwesens, wie sie in andrer Hinsicht […] das selbstredende Dasein desselben ist.“ (MEW 42, 398; vgl. MEW 40.1, 537 & 544) Dies nimmt Argumente vorweg, die Wittgenstein (vgl. 1997, 356-368) später gegen die Möglichkeit privater Sprache formulierte.

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Unter Berücksichtung dieser Bedingtheit umfasst das „gesellschaftliche Sein“ nicht nur die „Produktionsweise des materiellen Lebens“, sondern auch den „sozialen, politischen und geistigen[!] Lebensprozeß überhaupt“ (MEW 13, 8f.), der trotz seiner Bedingtheit nicht mechanisch aus der Ökonomie folgt, sondern innerhalb eines Bedingungsrahmens variabel ist. Auch hat die Produktion von Ideen Einfluss auf die Praxis – sei es in der Perpetuierung, sei es in der Überschreitung gegebener Verhältnisse. Dass die Geschichte der Ideen Inkongruenzen zur Geschichte der gesellschaftlichen Verhältnisse aufweist und etwa die Ideen des Protestantismus weit über die Verhältnisse ihrer Entstehung hinauswiesen (vgl. MEW 1, 385f.), heißt aber nicht, dass die reale Geschichte Effekt der Ideen wäre: „Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.“47 (MEW 2, 126 [Hervh. i.O.]) Letztlich beharrt dieser Materialismus nur auf der simplen, im Vergleich zum Idealismus aber innovativen Einsicht, dass Vorstellungen aus sich heraus nichts bewirken und dass das voraussetzungsreiche praktische Handeln auch eine Bedingung der Veränderung von Gedanken und Vorstellungen ist. Für einen solchen „rationalen Materialismus“, der nicht von einer gegebenen Materie ausgeht, sondern von einer Praxis, in der Individuen „denkend und arbeitend mit der Welt von vorn“ anfangen (Bachelard, zit. in: Canguilhem 1991, 97), ist es kein Widerspruch, wenn Marx (lange vor Weber) historische Wurzeln des Kapitalismus in den Gesinnungen des Protestantismus ausmachte oder wenn in der Darstellung des entwickelten Kapitalismus die symbolischen Formen von Geld und Kredit breiten Raum einnehmen.48 Am konträren Pol des (Schein-)Gegensatzes von idealistischer und materialistischer Sozialwissenschaft wurde Foucault teilweise auf eine idealistische Erklärung verkürzt, die ‚den Diskurs‘ zur Ursache gesellschaftlicher Ordnung und gesellschaftlichen Wandels hypostasiere. Demgegenüber hat Foucault oft betont, dass schon in seinen frühen Arbeiten (mit Ausnahme der Ordnung der Dinge) „das zentrale Thema die Relationen“ sind, „die zwischen einem Wissen und jenen sozialen, ökonomischen, politischen und historischen Bedingungen bestehen können, unter denen dieses Wissen sich konstituiert“ (Foucault 2001, 838). Seine Kritik an materialistischen Erklärungen richtete sich nur dagegen, einem Moment relationaler Bedingungsgeflechte – etwa den unmittelbaren Produktionsverhältnissen – eine „wundertätige Schöpferrolle“ zuzuschreiben, in der es die jeweils anderen Momente „vollständig

47 Wirksam sind Ideen als Moment des „gesellschaftlichen Seins“, das „keine erstarrte oder dynamische Substanz, auch keine transzendentale Entität, unabhängig von der gegenständlichen Praxis, sondern der Prozeß der Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist (Kosík 1967, 101 [Hervh. i.O.]). Hätte Marx anders gedacht, hätte er sich sein praktisches Engagement und auch seine wissenschaftliche Arbeit sparen können. 48 So weist Eco darauf hin, dass Marx’ Analyse der Warenform und der ökonomischen Beziehungen, die „in beständigem Flusse […] auf der ganzen Oberfläche der Gesellschaft“ als „System von Tauschakten“ wirken (MEW 42, 119), genuin semiotische Analysen sind (vgl. Eco 1991, 49ff.). Erst recht gilt das für die relative Eigendynamik und Eigenlogik des an den Finanz- und Aktienmärkten gehandelten „fiktiven Kapitals“ (MEW 25, 413f.). Erst aus den Wechselwirkungen dieser symbolischen Eigenwelt aus „Seifenblasen von nominellem Geldkapital“ (ebd., 486) mit der Sphäre der realen Produktion werden Phänomene wie die Finanzkrisen verständlich (s.u. III.2).

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entstehen“ lässt. Das gilt aber für jede Monokausalerklärung, sei sie materialistisch oder idealistisch. Sehr wohl nämlich transformieren politisch-ökonomische Einflüsse „die Existenzbedingungen und die Systeme des Funktionierens des Diskurses. Diese Transformationen sind weder arbiträr noch ‚frei‘, sie vollziehen sich in einem Bereich, der seine Gestalt besitzt und folglich nicht unbegrenzte Möglichkeiten der Modifikation bietet“ (ebd., 881). Diese Analyse der wechselseitigen Bedingtheit materieller und ideeller, diskursiver und nichtdiskursiver Dimensionen von Praktiken und Ordnungsverhältnissen prägt erst recht die späteren Analysen zu Disziplin und BioMacht. Weit entfernt von einem Bild, in dem Diskurse oder Programme die gesellschaftliche Wirklichkeit formen, geht es um Wechselwirkungen, in denen Diskurse und Programme in Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse geformt werden und auf diese in praxi zurückwirken. Schließlich ist etwa die Zielscheibe der Disziplin nicht das ‚gelehrige Bewusstsein‘, sondern der „gelehrige Körper“ (Foucault 1994, 173ff.), also eine Einheit von bio-physischem und Bewusstseinsapparat, die nicht durch Aussagen, sondern durch Praktiken und materielle Ordnungsarrangements geformt wird, und zwar in einem Sinne, der bei Foucault eng mit den Veränderungen der Produktionsweise des materiellen Lebens verbunden ist (s.u. IV).

3.4.3 Die Verschränkung von Sach- und Sozialdimension Die von Luhmann eingeführte Unterscheidung von Sach- und Sozialdimension bezeichnet zunächst verschiedene Sinndimensionen, auf die hin sich ein soziales Geschehen beobachten lässt.49 Sie eignet sich aber auch für eine Zuordnung von theoretischen Objekten der Soziologie. So lässt sich bei Luhmann selbst „ein konzeptioneller Vorrang der Sachdimension“ (Nassehi 2004, 174) feststellen, da für die funktional differenzierte Gesellschaft „die Ausdifferenzierung von sachlichen Logiken [...], um die herum sich Funktionssysteme ausbilden“, als dominantes Strukturmerkmal, als „Grundkonstituens der polykontexturalen Moderne“ (ebd., 177) unterstellt wird. Umgekehrt ordnete Luhmann einer „von der Sachordnung unterscheidbaren […] Semantik des Sozialen“ (Luhmann 1987, 121) nicht nur Moral und Moraltheorie zu, sondern kennzeichnete auch wichtige theoretische Objekte der Soziologie als auf die Sozialdimension bezogen. Eingeordnet werden hier etwa Schicht- oder Klasseneinteilungen (vgl. Luhmann 1985, 139), Strategien einzelner Akteure, Konkurrenz- oder Konfliktbeziehungen zwischen Individuen oder Gruppen (vgl. Luhmann 1987, 521ff.) und „Hierarchievorstellungen“ (ebd., 633).

49 Der Sachdimension ordnet Luhmann die sachlichen Bezugsprobleme einer Kommunikation zu. Der Sozialdimension, die eine „gegenüber jeder sachlichen Artikulation von Sinn […] auf alles durchgreifende Eigenständigkeit“ (Luhmann 1987, 119) besitzt, werden demgegenüber die an einem sozialen Geschehen beteiligten sinnkonstitutiven Kommunikationspartner zugerechnet. Ego und Alter Ego meinen dabei keine vorausgesetzten Subjekte, sondern Zurechnungsadressen einer Kommunikation: Personen, Gruppen, Organisationen, Systeme etc. (vgl. ebd., 125) oder auch Haustiere und Artefakte (wie Luhmanns Zettelkasten), soweit ihnen in einer Sinnprozession ein Mitteilen oder Verstehen zugerechnet wird. Vgl. zu dieser Differenzierung grundlegend: ebd., 112-134; Luhmann 1998, 1035ff.

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So sinnvoll diese Unterscheidung analytisch mit Bezug auf bestimmte Problemkonstellationen sein mag, so problematisch ist die Aufteilung von Forschungsfeldern auf jeweils eine Seite dieses Begriffspaars und die Suggestion eines Gegensatzes zwischen eher auf die Sach- und eher auf die Sozialdimension bezogenen Soziologien sowie die Tendenz, einen der unterschiedenen theoretischen Zugriffe für die Analyse moderner Gesellschaften a priori zu privilegieren. Bei Luhmann führt die Privilegierung der Sachdimension zu einer theoriesystematischen Blockierung der Frage nach den Funktionen sozialstruktureller Ungleichheit oder der Relevanz sozialer Konflikte und Kämpfe für funktionale Differenzierungsprozesse, da die der Sozialdimension zugewiesenen sozialen Asymmetrien qua Definition für das Operieren der ausdifferenzierten Teilsysteme „funktional ohne Bedeutung“ sind (Luhmann 1985, 151). Umgekehrt wurde aus systemtheoretischer Perspektive Bourdieus Theorie – aufgrund der Dominanz der Klassen- und Konfliktsemantik – unterstellt, „Sinn [...] ausschließlich in der Sozialdimension sehen zu können“ (Nassehi 2004, 176), da sie „gesellschaftliche Praxis ausschließlich als Kampf um knappe Ressourcen“ darstelle (ebd., 173), womit sie den „Zugzwängen einer funktional differenzierten Gesellschaft, die eben nicht primär in der Sozialdimension strukturiert“ sei, nicht gerecht werde (ebd., 177). Dieses systemtheoretische Missverständnis auf das noch ausführlich zurückzukommen sein wird (s.u. V.3), ist nur ein Beispiel für die Tendenz zur Polarisierung von Theorien nach Sach- vs. Sozialdimension, die unterschwellig die Binnendifferenzierung des soziologischen Theoriefeldes an zahlreichen Stellen prägt. Sie findet sich in der tendenziellen Gegnerschaft von Strukturfunktionalismus und Konflikttheorie50 sowie in der wechselseitigen Ignoranz von auf soziale bzw. funktionale Differenzierung fokussierten Perspektiven. Sozialstrukturanalysen und Theorien sozialer Ungleichheit stellen selten die Frage nach den funktionalen Zusammenhängen, die sozialstrukturelle und kulturelle Ungleichheitsverhältnisse mit den ökonomischen und politischen Organisationsformen einer Gesellschaft verbinden. Umgekehrt erweist sich Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung als inhaltsarm, wo es um die Analyse und Erklärung sozialstruktureller Differenzen geht, die allenfalls als für sachliche Funktionen irrelevanter „Nebeneffekt“ (Luhmann 1998, 633) des Operierens der Funktionssysteme in den Blick kommen.51 Wie stark entsprechende Differenzen theoretische Diskurse vorstrukturieren, zeigt sich noch darin, dass sowohl Foucault als auch Bourdieu oft auf die eine oder andere Seite dieser Unterscheidung sortiert wurden, wobei abwechselnd eine Reduktion aller ‚sachlichen‘ Bezugsprobleme funktionaler Differenzierung auf die Sozialdimension von

50 Der Strukturfunktionalismus tendierte dazu, dem sozialen Handlungsraum grundlegende sachliche Funktionserfordernisse und -prinzipien zu entziehen und soziale Konflikte nur als exogene Störung zu behandeln, auf die Systeme adaptiv reagieren. Konflikte kommen so nur als Durchgangspunkte der Systemanpassung in einer letztlich zielgerichteten Entwicklung in Betracht (vgl. kritisch: Stark 2003; s.u. 4.2). Konflikttheorien positionierten sich entsprechend eher in Abgrenzung zu strukturfunktionalistischen Paradigmen (vgl. u.a. Dahrendorf 1961, 112-131). 51 Beide Seiten ziehen sich in der Konsequenz auf deskriptive Perspektiven zurück und verzichten auf weitergehende Erklärungsansprüche. Zu den theoriesystematischen Ursachen und Folgen der komplementären Blindheit von Ungleichheits- und Systemtheorie: s.u. V.3.

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Kampf, Unterwerfung, Ausbeutung52 und ein funktionalistischer Determinismus, für den gesellschaftliche Funktions- und Strukturgesetze sich als blinde Sachlogik durchsetzen, unterstellt wurde.53 Auch die Binnenspannung sich befehdender marxistischer Strömungen beruht auf dieser Entgegensetzung einer – auf die Sozialdimension fokussierten – voluntaristisch-aktivistischen Theorie der Klassenkämpfe und eines sachlogisch-strukturalen Ansatzes, der soziale Konflikte und Kämpfe auf einen bloßen Ausdruck objektiver Sachgesetze gesellschaftlicher Entwicklung reduzierte.54 Was in diesen komplementären Vereinseitigungen als Widerspruch erscheint, ist in den Ansätzen von Marx, Foucault und Bourdieu als genetische und strukturelle Verschränkung sachlich-funktionaler Momente des gesellschaftlichen Zusammenhangs mit sozialen Strategien, Kämpfen und Ungleichheitsverhältnissen konzipiert. Wenn für Marx und Bourdieu das Kapital kein Sachding mit besonderen Eigenschaften, auch kein rein sachlich-funktionaler Verwertungsprozess, sondern ein soziales Verhältnis zwischen bestimmten Klassen von Individuen ist, so bedeutet dies, dass die Sachlogik der kapitalistischen Ökonomie die Existenz bestimmter sozialer Klassen und bestimmter Beziehungen zwischen ihnen voraussetzt, die als konstitutives Element des Kapitalverhältnisses prozessual reproduziert werden müssen (vgl. v.a. MEW 23, 640-740). Ebenso bedeutet es umgekehrt, dass die sozialen Kräfteverhältnisse und Konflikte auf die ‚Sachlogik‘ der Erhaltung oder Variation ökonomischer Funktionsarrangements zurückwirken (vgl. ebd., 279-320). In diesem Sinne einer Verknüpfung von Sozial- und Sachdimension gesellschaftlicher Praxis muss der Klassenbegriff auch in der Theorie Bourdieus verstanden werden, welche die Reproduktion und Variation von Klassenverhältnissen mit den funktional nach sachlichen Bezugsproblemen differenzierten Logiken verschiedener Felder gesellschaftlicher Produktion in Ökonomie, Politik oder kultureller Produktion in einem Verhältnis der wechselseitigen Bedingtheit verschränkt sieht. Geteilt ist dabei die Annahme, dass

52 Vgl. zur Kritik an Bourdieu: Nassehi 2004, 177ff. Foucault wurde unterstellt, er könne durch die Reduktion der Funktion von Wissen auf die Sozialdimension von Macht und Unterwerfung nicht erklären, wie „unter dem Gesichtspunkt sozialer Machtgewinnung gewonnene Erkenntnisse von praktischem Erfolg in offenbar anders gerichteten Handlungskontexten […] sein können“ (Honneth 1989, 191). Gegen Marx wurde angeführt, seine Reduktion des Kapitalismus auf „Klassenherrschaft“ übersehe das neue „Niveau der Systemdifferenzierung […] mit ungeheuren evolutionären Vorteilen gegenüber […] staatlich organisierte[n] Gesellschaften“ (Habermas 1990, 126; vgl. dagegen: MEW 4, 463-468). 53 Vgl. u.a. Reckwitz 2003a; 69f.; Miller 1989; Honneth 1989, 196-223; 1999, 80ff.; Biebricher 2005, 135ff. 54 Idealtypisch lassen sich diesen Positionen der existentialistische Marxismus Sartres einerseits und der strukturalistische Marxismus Althussers andererseits zuordnen. Sartre warf den von Funktionszusammenhängen ausgehenden Positionen vor, sie reduzierten den Menschen auf eine „Summe bedingter Reflexe“ und ließen „keinerlei Unterschied zwischen einem handelnden Menschen und einer Maschine“ (Sartre 1990, 94). Er forderte demgegenüber eine marxistische Anthropologie, welche die „menschliche Dimension (d.h. den existentiellen Entwurf) zur Grundlage“ nimmt, um „den Menschen in der sozialen Welt“ als konstituierendes Subjekt, das die Praxis auf die „sozialen Möglichkeiten hinwirft“, zu finden (ebd., 194). Umgekehrt erklärte Althusser (vgl. 1972a, 176f.) gerade den Bruch mit Subjektphilosophie und Anthropologie zur Voraussetzung einer marxistischen Wissenschaft, die objektive Strukturgesetze formuliert, wobei auch die Revolution zum Effekt struktureller Antagonismen wird. Vgl. zu dieser Binnenspannung: Bourdieu 1993, 86ff.; Spurk 1986, 15ff.

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die um sachliche Bezugsprobleme – etwa die gewinnorientierte Verwertung von Wert – aufgebauten funktionalen und sozialen Strukturen und Prozesslogiken und ihnen entsprechende Habitusformen sich nicht einer Logik der Sache folgend durchgesetzt haben, sondern in Strategien, Kämpfen und Interessenkoalitionen historisch durchgesetzt wurden (s.u. V). Dies ist die tragfähige Grundanlage von Marx’ Skizze zur „sogenannten ursprünglichen Akkumulation“ (MEW 23, 741-791). In expliziter Anknüpfung an die dort aufgeworfenen Problemstellungen ging auch Foucault davon aus, dass etwa die unscheinbaren Techniken der Disziplin, die eine sachliche Voraussetzung des Kapitalismus bilden, „nicht nur in den Zusammenhang einer Funktion, sondern auch in das Zusammenspiel einer Taktik einzuordnen“ (Foucault 1994, 178) sind, und dass hinter der „Fabrikation des Disziplinarindividuums“ als einer für die Konstitution des Kapitalismus funktionalen Subjektform „das Donnerrollen der Schlacht“ (ebd., 397) hörbar gemacht werden kann (s.u. IV.2). Das impliziert aber keine nietzscheanische Verkürzung der sozialen Genese funktionaler Ordnungen auf eine Geschichte der willkürlichen Überwältigung und Unterwerfung, wie sie diesem Werk oft vorgeworfen wurde (vgl. u.a. Habermas 1988a; Honneth 1989), da Foucault differenziert auch jene funktionellen Problemlagen im Kontext der Genese des Kapitalismus identifiziert, auf die die Techniken und Strategien der Disziplin funktional reagierten (vgl. Lemke 1997, 110-193; s.u. IV). Auch Bourdieus Studien zur Transformation der algerischen Ökonomie zeigen, dass die für die kapitalistische Wirtschaftsform funktional erforderten sozialen Beziehungen und individuellen Dispositionen sowie entsprechende Normen und Wertvorstellungen nicht in selbstläufigen funktionalen Entwicklungsprozessen entstehen. Sie setzen ökonomische, politische und soziale Machtverhältnisse, Dominanz- und Abhängigkeitsbeziehungen voraus, die die Durchsetzung dieser Transformation gestatten. Daher gilt es, „die Herrschaftsbeziehungen in Rechnung zu stellen, die den Kolonisierten zwingt, das Gesetz des Kolonialherren anzuerkennen und zu übernehmen und dieses sowohl in Wirtschaftsfragen als auch in Fragen des Lebensstils“ (Bourdieu 2000a, 105). Dass dies keine einseitige Reduktion sachlicher Funktionslogiken auf die soziale Logik von Kampf und Unterwerfung impliziert, zeigt sich schon darin, dass Macht- und Herrschaftsbeziehungen wiederum nicht nur unmittelbar als soziale Befehls- und Gehorsambeziehungen verstanden werden, sondern auch in der Form des sachlichen „Drucks der ökonomischen Notwendigkeit“ einer bestimmten Produktionsweise auftreten, die die damit unvereinbaren Formen ökonomischer und sozialer Beziehungen der kabylischen Dorfgemeinschaften zersetzen und den „Zusammenbruch der Normen und Muster [herbei]führen, die traditionellerweise die wirtschaftlichen Verhaltensweisen regelten“ (ebd.), wofür schon die Einführung der Sachlogiken von Geldverkehr und Lohnarbeit als dominante ökonomische Praxisformen genügen. Für Theorien, die gerade die Entpersonalisierung und Versachlichung sozialer Verhältnisse einschließlich der Macht- und Herrschaftsbeziehungen als Grundcharakteristikum der kapitalistischen Moderne behandeln, kann die Frage nach den der Sozialdimension zuordenbaren Relationen ebenso wenig ohne Rekurs auf die sachlichen Bezugsprobleme und Funktionsprozesse beantwortet werden, wie umgekehrt diese der Sachdimension zuordenbaren Forschungsgegenstände nicht ohne Bezug auf soziale Verhältnisse und Beziehungen analysierbar sind.

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Dafür, dass sachliche Funktionen und Bezugsprobleme nicht als dem sozialen Handlungsraum entzogene Entitäten, sondern als in sozialen Strategien und Kämpfen konstituierte Momente einer bestimmten Gesellschaftsformation behandelt werden können, wobei die Struktur und Form ‚sozialer Beziehungen‘ ihrerseits ‚sachliche‘ Funktionen hat, ist die Grundkategorie der Praxis als Ausgangspunkt der Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge einmal mehr von zentraler Bedeutung. Praktiken sind stets in gegebenen strukturellen und funktionalen Verhältnissen bedingt und haben sachlich-funktionale Bezugsprobleme, gleichwohl aber kann „Praxis nicht ursächlich auf Funktionen zurückgeführt werden“ (Ebrecht/Hillebrandt 2002, 9). Da Funktionserfordernisse keine Invarianten sind, die (wie im Strukturfunktionalismus) in einer der Gesellschaft vorgängigen „conditio humana“ (vgl. Parsons 1978) verortet wären, sondern stets das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsformation darstellen, müssen sie ihrerseits erst in praxi konstituiert und reproduziert werden. Das impliziert strategische Dimensionen, die sich zu alternierenden funktionalen und strategischen Orientierungen konfliktiv verhalten, so dass es auch eine Frage sozialer Kräfteverhältnisse ist, welche sachlichen Funktionserfordernisse in welcher Form bestimmend für einen gesellschaftlichen Zusammenhang werden. Gegenüber dem am Entwurfscharakter des Handelns orientierten Handlungsbegriff hat der Begriff der Praxis dabei den Vorteil, funktionale Zusammenhänge genetisch auf soziales Handeln zurückführen zu können, ohne dabei Funktionen und Strukturen auf den Ausdruck einer Intention (etwa eines Klasseninteresses) reduzieren zu müssen. Indem so immer auch die Gegenfinalität des Handelns in den Blick genommen wird, dürfen die wechselseitigen Bedingtheiten, die in der Verschränkung von Sach- und Sozialdimension objektivierbar sind, nicht so verstanden werden, dass bestimmte gesellschaftliche Funktionserfordernisse kausal bestimmte Formen sozialer Verhältnisse und Beziehungen verursachen oder umgekehrt bestimmte soziale Verhältnisse und Interessen die Ausbildung einer bestimmten funktionalen Ordnung der Gesellschaft hervorbringen. Eher erinnern die Analysen bei Marx, Foucault und Bourdieu an das, was Gehlen (1993; 2004a) in seiner pragmatistischen Institutionentheorie mit den Begriffen „sekundäre Zweckmäßigkeit“ und „Rückwärtsstabilisierung“ bezeichnete. Diese Begriffe richteten sich gegen biologistisch-funktionalistische Erklärungen von Institutionen aus der funktionalen Erfüllung basaler Bedürfnisse55 und tragen der Kontingenz und Variabilität symbolischer Ordnungen Rechnung. Sie verweisen darauf, dass gerade auch materiell funktionale Institutionen wie Arbeitsteilung oder Tierzucht und Ackerbau nicht unmittelbar aus den materiellen Bedürfnissen, die sie befriedigen, erklärt werden können. „Man kann nämlich“, wie Gehlen 1954 in einem Brief an den Marxisten Wolfgang Harich formulierte, „jahrtausendelang gejagt und gefressen haben, ohne den hochabstrakten Begriff der ‚Ernährung‘ zu konzipieren“ (zit. in: Rehberg 2000, 456), erst recht ohne diese Ernährung jenseits der Zufälligkeit des Jagens und Sammelns praktisch auf Dauer zu stellen. Gehlen suchte die Grundlage der Ausbildung funktionaler Institutionen in sozialen Praktiken magisch-rituellen 55 So etwa in der Erklärung von Institutionen aus „basic needs“ bei Summner (1940) oder Chapin (1935). Gehlen verwarf mit der Distanzierung von der problematischen direkten Verbindung zwischen biologischer Konstitution und „Führungssystemen“ in der ersten Fassung von Der Mensch den Versuch, Institutionen direkt aus der funktionalen Erfüllung von Bedürfnissen abzuleiten (vgl. Gehlen 1993, v.a. 452-480).

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Charakters, die für sich genommen nichts zur Ernährung oder zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität beitrugen, aber eine „Kapazität für das Bewusstwerden sozialer Bedürfnisse“ und vor allem „sekundäre Zweckmäßigkeiten überraschender Art“ (ebd.) hervorriefen, objektive Funktionalitäten, von denen her das Verhalten dann rückwärts stabilisiert wurde (vgl. Gehlen 1993, 474ff.; 2004a, 213ff.). Es geht hier weniger um den Inhalt des im Rückgang auf den fingierten Urzustand nicht nachprüfbaren Arguments, sondern um die Form der Analyse, die funktionelle Ordnungen aus ihrem kontingenten Zusammenhang mit sozialen Praktiken erklärt und vice versa. So ist, um mit Bourdieu zu sprechen, „die soziale Welt von Institutionen bevölkert, die niemand erdacht noch gewollt hat, von denen die scheinbar ‚Verantwortlichen‘ selbst [...] nicht zu sagen wissen, wie ‚die Formel gefunden‘ wurde“, so dass es oft unerklärlich scheint, wie Institutionen „so gut angepaßt an Zwecke, die ihre Gründer niemals explizit formuliert haben“, funktionieren können (Bourdieu 1997, 40f.). Ähnliche Analysemuster finden sich wiederum auch bei Marx und Foucault in Bezug auf die historische Genese des Kapitalismus (s.u. IV).56 Diese Verschränkung von Sach- und Sozialdimension und die Achtsamkeit auf ‚sekundäre Zweckmäßigkeiten‘ ist eine Grundlage dafür, dass Marx, Foucault und Bourdieu einige Spezifika moderner Gesellschaften konziser analysieren und erklären können, als klassische funktionalistische Ansätze oder auch als eine „jede Verquickung von Sozialdimension und Sachdimension zu vermeiden“ (Luhmann 1987, 119) bemühte Systemtheorie. Inhaltlich kann dies erst im weiteren Verlauf dieser Studie herausgestellt werden, hier soll zunächst lediglich noch einmal die Form entsprechender theoretischer Perspektivierungen an drei grundlegenden Begriffen illustriert werden.

3.4.4 ‚Dispositiv‘ und ‚Habitus/Feld‘ als Beispiele einer antidualistischen Begriffsarbeit Die Verkopplung von objektivistischen und subjektivistischen Analyseperspektiven, von materiellen und ideellen Momenten sozialer Praxis, von sachlichen Funktionen und sozialen Kräfteverhältnissen liegt den bereits ausführlich diskutierten Begriffen der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bei Marx oder dem Kapitalbegriff bei Marx und Bourdieu zugrunde (s.o. 2.1 & 2.3). Sie lässt sich prägnant aber auch am theoretischen und analytischen Grundbegriff des Dispositivs bei Foucault und an Bourdieus Begriffspaar Habitus/Feld aufzeigen. Der im Französischen vor allem in militärischen, juristischen und medizinischen Kontexten gebrauchte Begriff ‚dispositif‘ bezeichnet bestimmte (materielle) Vorkehrungen, die die Durchführung strategischer Operationen erlauben, und impliziert so bereits jene Verknüpfung von funktionalen und strategischen Momenten, die auch Foucaults Verwendungsweise prägen. Bei Foucault meint der Begriff des Dispositivs

56 Foucault (vgl. 1994, 340-378) hat solche objektiven Funktionalitäten, die sich erst in praxi herauskristallisieren und dazu führen, dass eine Institution, die den Sinn, der ihr explizit zugedacht war, kaum erfüllt, gleichwohl über Jahrhunderte stabilisiert und ausgebaut werden kann, prägnant am Beispiel des Gefängnisses illustriert.

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ein „entschieden heterogenes Ensemble“ (Foucault 1978, 119) verschiedenster Elemente (Diskurse, Gesetze, Architektur, Institutionen, Aussagen), die in relationalen Verknüpfungen methodisch und funktional zusammenwirken und sich dabei wechselseitig stützen. Diese vielfältigen Elemente, die materiellen wie ideellen, sachlichen wie sozialen Dimensionen gesellschaftlicher Ordnungsbildung zugeordnet werden können, bilden erst in ihren Verschränkungen und Wechselwirkungen in einer historischen und dynamischen Praxis ein Dispositiv wie etwa jenes der Disziplin.57 Genealogisch handelt es sich um das Produkt fallweiser Reaktionen „auf einen Notstand“ (ebd., 120) – wie ihn das Zusammentreffen ökonomischer, demographischer, politischer und kultureller Faktoren im Frühkapitalismus mit sich brachte (s.u. IV) –, zu dessen Bewältigung verstreut entstandene Techniken und Praktiken zu strategischen Bündeln zusammengefasst werden. Krisenreaktionen sind bekanntlich selten kohärent und können, selbst wo sie stabilisierend wirken, neue Probleme, Konflikte und Veränderungspotenziale mit sich bringen. So bleiben Dispositive „wesentlich strategischer Natur“, sind also Medien der „Manipulation von Kräfteverhältnissen“ und erlauben ein „Eingreifen in diese Kräfteverhältnisse, sei es, um sie zu blockieren oder zu stabilisieren“ (ebd., 122f.). Der Begriff dient einerseits einer funktionalen Analyse, insofern Dispositive auf Dysfunktionen und Funktionserfordernisse eines gesellschaftlichen Zusammenhangs reagieren und eine relative Stabilität nur erreichen, wenn sie eine Funktionalität für diesen gewinnen – sei es in der strategisch intendierten Form, sei es im Sinne unerwarteter sekundärer Zweckmäßigkeit. Andererseits sind diese funktionalen Ensembles von „einer funktionellen Überdeterminierung“ geprägt, da jede „Wirkung in Einklang oder Widerspruch mit den anderen treten muß und […] eine Readjustierung der heterogenen Elemente […] verlangt“ (ebd., 121). Auch wenn sich daher auf der Ebene einer funktionalen Analyse in der Genese von Dispositiven objektive Pfadabhängigkeiten und Entwicklungstendenzen ausmachen lassen, sind sie stets auch Produkt und Medium sozialer Kämpfe, in denen sich erst entscheidet, ob und in welcher Form die Thematisierung von und die Reaktion auf gesellschaftliche Problemlagen erfolgt, wobei die jeweils herausgebildeten funktionalen und methodischen Ensembles von Techniken und Praktiken ihrerseits zu neuen Problemlagen führen, neue Strategien und Kämpfe ermöglichen, so dass auch ihre sachlichen Funktionen Gegenstand einer sozialen Logik der Interessen, Strategien und Konflikte bleiben. In ähnlicher Weise ist das bei Bourdieu zentrale Begriffspaar Habitus/Feld auf die Vermeidung von Dichotomien ausgerichtet. Der in expliziter Kontinuität zu der von Marx formulierten Aufgabe eines theoretischen Begreifens der Praxis stehende Begriff des Habitus58 bezeichnet „Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte

57 Das Dispositiv meint so keine substantiellen Eigenschaften, die die verschiedenen Elemente teilen müssten, sondern vielmehr „das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“ (Foucault 1978, 120). Das meint wiederum keine statische Struktur, sondern ein permanentes „Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen“ (ebd.). Ob einzelne Elemente materiellen oder ideellen, diskursiven oder nichtdiskursiven, funktionalen oder sozialen Dimensionen zugeordnet werden, hielt Foucault dabei für wenig relevant (vgl. ebd., 125). 58 „[E]ine materialistische Theorie zu konstruieren, die, wie Marx in den Thesen über Feuerbach forderte, vom Idealismus die ‚tätige Seite‘ der praktischen Erkenntnis übernimmt, die

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Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken” (Bourdieu 1976, 165). Er entzieht sich damit der Opposition zwischen einem objektivistischen Strukturdeterminismus und einer subjektivistischen Konstitutionstheorie sozialer Ordnung ebenso, wie der sich damit überschneidenden Opposition zwischen einem mechanistischen Materialismus und einem um intentionale Setzungsakte zentrierten subjektivistischen Idealismus. Als Produkt einer weniger intellektuellen und bewussten als materiellen, körperlich-praktischen Einprägungsarbeit sind Habitusformen objektiv bedingt in der „Struktur des Systems der Existenzbedingungen [...], wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt” (Bourdieu 1999, 279). Als ein „System generativer Schemata“ (ebd.), das geregelte Improvisationen ermöglicht, die prinzipiell ebenso unvorhersehbar bleiben wie die Situationen, mit denen der Habitus konfrontiert wird, sind Habitusformen zugleich ein Erzeugungsprinzip kreativer Handlungen und wirken so als generativer Motor der Strukturierung einer Praxis, die durch die in Dispositionen sedimentierte Geschichte von „begrenzter Verschiedenartigkeit“ bleibt (Bourdieu 1987, 104). Als Produkt und Produzent von Geschichte fungiert der Habitus zugleich als opus operatum und als modus operandi von Praktiken (vgl. ebd., 98ff. & 1999, 281) und lässt sich so weder auf die Seite einer Struktur-, noch auf die einer Handlungstheorie sortieren. Vielmehr folgt er der Logik einer operativen Theorie, für die die Emergenz von Handlungen und die Emergenz von Strukturen Moment derselben dynamischen Praxis sind (vgl. Nassehi 2004, 163ff.). Dabei sind Genese wie generative Wirkung von Habitusformen stets zugleich und untrennbar mit der Sach- und der Sozialdimension sozialer Praxis verbunden. Die Ausprägung habitueller Dispositionen, etwa im Hinblick auf Zeit oder Arbeit, ist in den sachlichen Funktionserfordernissen, Bezugsproblemen und Logiken einer bestimmten historischen Form der Ökonomie ebenso bedingt wie in den Positionen der Individuen im sozialen Raum, also in einem relationalen System objektiver Klassenverhältnisse (vgl. Bourdieu 1985, 7-46). Ebenso sind Ausrichtung und Wirkung der vom Habitus generierten Praktiken stets gleichermaßen auf die Bewältigung sachlicher Anforderungen und auf die Stellung im sozialen Raum bezogen. Der Begriff des Feldes, das als Produkt einer objektivierten Geschichte das objektive Korrelat der im Habitus inkorporierten subjektiven Geschichte darstellt, bezeichnet bei Bourdieu historisch ausdifferenzierte „Spielräume“ besonderer Praxisformen zur Produktion und Distribution einer spezifischen Art von (materiellen oder symbolischen) Gütern, die durch Relationen zwischen spezifischen sozialen Positionen sowie durch je eigene Institutionen und Funktionsgesetze bestimmt sind. Ein Feld ist insofern ein relativ eigenständiges „Universum, in dem die Charakteristiken der Produzenten definiert sind durch deren Stellung in Produktionsverhältnissen, durch den Platz, den sie in einem bestimmten Raum von objektiven Beziehungen innehaben“ (Bourdieu 1993, 80). Es handelt sich auch hier um einen strikt relationalen Begriff, der weder von einer fixen Struktur noch von einem vorausgesetzten Subjekt ausgeht. Die Positionen innerhalb eines Feldes sind nicht durch die substantiellen Eigenschaften der Individuen bestimmt, die diese Positionen besetzen, erst recht nicht

die materialistische Tradition ihm überlassen hatte. Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus.“ (Bourdieu 2001c, 175)

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durch subjektive Intentionen, sondern durch ein System von Relationen, welche als „Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse [...] allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen“ (Bourdieu 1985, 10), so dass die jeweiligen Akteure als „Ausgeburt des Feldes“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 138) erscheinen. Umgekehrt haben Felder oder die sie kennzeichnenden Funktionsprinzipien nicht jene Substanzoder Subjekteigenschaften, die ein „sich selbst missverstehender Strukturalismus“ ihnen zuschreibt, wenn er Strukturen als „statisches Gerüst oder ‚System‘“ auffasst (Vester 2002, 64). Felder lassen sich nicht als Quasi-Subjekte im Sinne autopoietischer Systeme verstehen, da sie nie etwas anderes sind als Systeme von Beziehungen, die sich in den Wechselwirkungen zwischen den agierenden Individuen herstellen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, 133ff.). Für diesen strikt relationalen Ansatz, den Vester (vgl. 2002, 63ff.) als ‚soziologische Relativitätstheorie‘ charakterisierte, ist es kein Widerspruch, Individuen durch ihre Stellung in den feldspezifischen Produktionsverhältnissen bestimmt zu sehen und Felder zugleich als durch Aktionen und Konflikte zwischen Individuen bestimmte dynamische Kräftefelder aufzufassen. Felder unterstehen objektiven Gesetzmäßigkeiten, sind aber zugleich „Kampffelder“, in denen „um Wahrung oder Veränderung“ der diesen zugrunde liegenden „Kräfteverhältnisse gerungen wird“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 74). In diesem Kontext dient das Feldkonzept auch dem Versuch, die besondere Form der Verschränkung von Sach- und Sozialdimension, oder genauer von funktionalen und sozialen Differenzierungsformen in modernen kapitalistischen Gesellschaften, zu erfassen. Felder sind durch Sachkategorien (Produkte, Produktionsformen, Funktionsgesetze) und sachliche (ökonomische, kulturelle, politische etc.) Bezugsprobleme bestimmt und folgen insofern der Logik einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft.59 Zugleich hängen aber die Positionierung, die Beteiligung und der Erfolg der Individuen in feldspezifischen Praxisformen von klassenspezifischen Faktoren ab. Die Übereinstimmung von Kapitalstruktur und -volumen der Akteure mit den im Feld geforderten Einsätzen, ihre besonderen habituellen Dispositionen oder der Glaube an den Wert der feldspezifischen Produkte und den Sinn für das Spiel (illusio) bleiben genuin sozialstrukturelle und soziokulturelle Bestimmungsgrößen. Darüber hinaus sind auch die sachlichen Funktionen der Produktionsfelder, sei es in der Ökonomie, in der Kulturproduktion oder in der ‚Produktion der Produzenten‘ durch das Bildungssystem (vgl. Bourdieu/Passeron 1971), untrennbar mit der Reproduktion der Klassenstruktur der Gesellschaft verbunden. Diese Dimension der Feldtheorie und die sich aus der Verhältnisbestimmung von funktionalen und sozialen Differenzierungsformen ergebenden Differenzen zu anderen Theorien funktionaler Differenzierung werden unten (V.3) ausführlich herauszuarbeiten sein. Hier sollte zunächst nur an einigen theoretischen Grundbegriffen die konstitutive Verschränkung von in der Soziologie sonst oft dualistisch getrennten gesellschaftstheoretischen Dimensionen und Prinzipien gezeigt werden.

59 Vgl. Bohn/Hahn 1999; Krais/Gebauer 2002, 55ff.; Nassehi 2004; Rehbein 2006, 105ff.

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3.5 Praxeologie als Wissenschaftstheorie „Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung.“ KARL MARX (MEW 16, 129) „Die Theorie ist keine wörtliche Übersetzung, die auf einer Wort-fürWort Entsprechung mit der Realität beruht, keine einfache Replik, die nach Art der einfachen mechanischen Modelle der alten Physik die augenfälligen Elemente und die Eigenschaften des Gegenstandes reproduzierte; die Struktur der Symbole symbolisiert vielmehr die Struktur der experimentell aufgestellten Beziehungen.“ PIERRE BOURDIEU (1970, 17) „Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker.“ MICHEL FOUCAULT (1996, 24)

Insofern es sich, wie oben deutlich wurde, bei praxeologischen Ansätzen um theorieintensive Unternehmen handelt, ist es unsinnig, Bourdieus (1987) Kritik der theoretischen Vernunft auf einen „materialistisch grundierten Anti-Intellektualismus“ (Matthiesen 1989, 226) zurückzuführen oder Foucaults Analysen der Bedingungsverhältnisse zwischen Macht und Wissen als Ausdruck eines „bekennenden Irrationalismus“ (Habermas 1988a, 327) abzuweisen. Beide Ansätze wenden die Instrumente einer theorieintensiven Wissenschaftsarbeit an, beziehen diese aber auch reflexiv auf die Möglichkeitsbedingungen und Grenzen wissenschaftlicher Praxis. Dass die – bei Bourdieu ausführlich explizierten, bei Foucault eher implizit mitgeführten – wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisse bei allen Differenzen der konkreten Forschungsmethoden Affinitäten aufweisen, ist nicht zuletzt Ergebnis der geteilten Prägung durch die Epistemologie Gaston Bachelards und Georges Canguilhems, denen Foucaults Archäologie ihren Namen, grundlegende Fragestellungen und manche Ermutigung verdankt und zu denen auch Bourdieus Wissenschaftstheorie in expliziter Kontinuität steht.60 Das Diktum, dass Wissenschaft „gegen die Erfahrung, gegen die Wahrnehmung, gegen jeden gewohnten technischen Betrieb gemacht“ werde (Canguilhem 1991, 94) und die Forderung, dass in der Wissenschaft „das Unmittelbare vor dem Konstruierten zu weichen“ habe (Bachelard 1980, 164 [Hervh. i.O.]), sind bei Bourdieu wissenschaftstheoretische Grundaxiomen (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 13f.). Auch Foucault, der die epistemologische Annahme einer klaren Diskontinuität zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem

60 Sowohl Foucault (vgl. 2005, 947f.), für dessen Dissertation Canguilhem als Gutachter fungierte, als auch Bourdieu (vgl. 2002a, 34-38) sahen sich als Schüler Canguilhems und verwiesen auch auf dessen Rolle für das Verständnis des jeweils anderen Ansatzes: „[N]ehmen sie Canguilhem weg und […] Sie begreifen nicht mehr, was das besondere an Soziologen wie Bourdieu, Castel, Passeron ausmacht, was sie im Feld der Soziologie charakterisiert“ (Foucault 2005, 944). Vgl. Eribon 1991, 427f., 189, 196, 163ff. & 236f.; Schwingel 1998. Die Ablehnung jedes Substantialismus und das Denken in Relationen lässt sich auf Bachelard (vgl. 1980, 67-122) zurückführen.

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Wissen schärfer hinterfragte,61 stellte sich in diese Tradition, indem er forderte, sich gegen die „Illusion der Erfahrung“ (Foucault 2001, 928 [Hervh. i.O.]) von den gegeben Einteilungsprinzipien, die diese Erfahrung organisieren, „frei zu machen, um zwischen [Diskursen] und anderen externen Systemen ein Spiel von Beziehungen zu beschreiben“, von „unsichtbaren Relationen“, die erst „durch eine Gesamtheit kontrollierter Entscheidungen“ (ebd., 901) auf konstruktivem Weg sichtbar gemacht werden müssen. Dass es sich insofern um konstruktivistische Ansätze handelt, dürfte für Bourdieu, der seinen Ansatz als ‚konstruktivistischen Strukturalismus‘ bezeichnete (Bourdieu 1992b, 135) und die Bedeutung einer kontrollierten Konstruktionsarbeit für den Forschungsprozess oft genug erörterte,62 ebenso außer Frage stehen wie für Foucault, der mit seinem Konstruktivismus kokettierte, wenn er hervorhob, „niemals etwas anderes geschrieben“ zu haben „als fictions“, die aber darauf zielten, „die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktions-Diskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, ‚fabriziert‘, was noch nicht existiert“ (Foucault 1978, 117; vgl. 2001, 758).63 Dies ist nur ein offenes Bekenntnis zu dem, was Wissenschaft stets getan hat: Phänomene, statt sie den Voreinstellungen entsprechend wahrzunehmen, durch eigene Konstruktionsarbeit in neue Zusammenhänge einzuordnen, um sie dadurch anders beobachten und erklären zu können. Wie sehr die in Narrativen und Metaphern verborgenen Fiktionen gerade in den mit positivistischem Anspruch auftretenden Geschichtswissenschaften eine Voraussetzung der „historischen Einbildungskraft“ sind, hat etwa Haydn White (vgl. 1994) herausgearbeitet. Wie bei diesem zielt auch bei Foucault und Bourdieu die Dekonstruktion wissenschaftlicher Konstruktionen weder darauf, andere Theorien als bloße Fiktionen zu desavouieren, noch darauf, aus der Zerschlagung der Konstruktionen heraus in eine Lichtung unmittelbarer Wesensschau zu treten, sondern vielmehr auf einen bewussten und reflexiven Umgang mit dem Konstruktionscharakter allen wissenschaftlichen Wissens. Demgegenüber liegt Marx’ Konstruktivismus weniger offen zutage, nicht zuletzt, da sein wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis zahlreiche Brüche und Diskon-

61 Foucault hielt die Tendenz der Epistemologie, ein selbst historisches Verständnis von Wissenschaftlichkeit und dessen klare Unterscheidungskriterien zur Nichtwissenschaft zu tradieren, insbesondere für den Gegenstandsbereich der ‚Humanwissenschaften‘ für problematisch. Er bevorzugte daher überwiegend den allgemeineren und neutraleren Begriff ‚Wissen‘, um den Gegenstand seiner Archäologie zu kennzeichnen. Vgl. Foucault 2001, 917-923. Vgl. auch Lemke 1997, 41f. und zum Verhältnis Foucaults zur Epistemologie: Lecourt 1975; Gutting 1989, 9-54. 62 Vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991; Bourdieu 1987; 1976; 1970, 7-41. Dabei ist eine Verpflichtung auf die von Bachelard (1991, 100ff.) definierten drei Grade epistemologischer Wachsamkeit kennzeichnend: Aufmerksamkeit für das erwartete und unerwartete empirische Ereignis, Überwachung der Methoden, die dieses Ereignis als wissenschaftlichen Tatbestand konstituieren und schließlich Überwachung der Bedingungen und der Grenzen der theoretischen und methodischen Konstruktionsarbeit. 63 Bourdieus methodische Kontrolliertheit und Foucaults spielerischer Konstruktivismus zeigen eine – wohl auch der Differenz der sozialen Laufbahnen geschuldete – Diskrepanz, aber keinen grundlegender Widerspruch. Es handelt sich um verschiedene Gewichtungen der in Bachelards Epistemologie verwobenen Dimensionen von ‚wissenschaftlichem‘ und ‚poetischem Geist‘ (vgl. Kopper 1980).

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tinuitäten aufweist, wie Heinrich (1991, 135-151) differenziert rekonstruiert hat. So zeigen einige Frühschriften problematische Tendenzen zur Ontologisierung des proletarischen Erkenntnisstandpunktes, dem per Definition die ‚richtige‘ Anschauung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugeschrieben wird.64 Noch das methodische Selbstverständnis der Deutschen Ideologie blieb einem Ideal „positiver Wissenschaft“ verpflichtet, das sich (in Absetzungsemphase von der spekulativen Philosophie) auf einen theoriefreien Empirismus beruft. Das stand in klarem Widerspruch zum Projekt einer Ideologiekritik, die die dafür vorausgesetzte Opakheit und Transparenz gesellschaftlicher Zusammenhänge gerade bestritt.65 Luhmann (vgl. 1990a, 90ff; 1990b, 46) würdigte Marx’ Ideologiekritik daher als erste Gesellschaftstheorie, die an die Stelle ‚ontologischer‘ Beobachtung die Beobachtung der den anderen Beobachtungen vorausgesetzten Latenzen setzte, monierte aber eine mangelnde Reflexion auf den methodischen Status der dafür erforderten (konstruktivistischen) Theorieanlage. Eben diese Reflexion hat Marx in den Texten zur Kritik der politischen Ökonomie nachgeholt und dabei den konstruktiven Charakter wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse herausgestellt. Gegen die Berufung auf empirische Evidenzen wie gegen die Identifikation der Theorie mit dem vermeintlich privilegierten Erkenntnisstandpunkt einer Klasse66 betont Marx nun, „daß wissenschaftliche Erkenntnis einer nicht-empirischen Theorieebene bedarf“ (Heinrich 1991, 144 [Hervh. i.O.]). Wenn die „fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klarzuwerden suchen, [...] sehr verschieden von […] ihrer innern […] Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff“ (MEW 25, 219) ist, muss das „Werk der Wissenschaft“ jene „sehr ausführliche Arbeit“ sein, welche „die sichtbare, bloß erscheinende Bewegung auf die innere wirkliche Bewegung zu reduzieren“ sucht (ebd., 324). Das setzt einen Bruch mit der

64 Vgl. dazu u.a. MEW 1, 109-147 und kritisch: Sherover-Marcuse 1986. 65 „Positive Wissenschaft“ soll sich hier noch auf „empirisch konstatirbare Voraussetzungen“ und einen „empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß“ beschränken (MEW 3, 26f.). Die Beteuerung, diese Ebene „keinen Augenblick“ zu verlassen (ebd., 27), ist ebenso unhaltbar wie die Behauptung, „jedes tiefsinnige philosophische Problem“ ließe sich „einfach in ein empirisches Faktum“ auflösen (ebd., 43). Begriffe wie „notwendig falsches Bewusstsein“ oder „Widerspieglung“, die ein durch die Verhältnisse selbst verzerrtes, auf den Kopf gestelltes Bild meinen (vgl. ebd., 26), implizieren, dass den Akteuren die gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen ihres Handelns und Denkens undurchsichtig sind. So stellt sich die Frage, wie Marx, der als vergesellschaftetes Individuum Teil der Verhältnisse ist, die ‚richtige‘ Anschauung haben kann, die die ‚Wirklichkeit‘ rein empirisch erfasst, um das ‚falsche Bewusstsein‘ auf sie zurückzuführen. Im Text ermöglicht erst eine intensive Konstruktionsarbeit die Konzeption gesellschaftlicher Zusammenhänge, was aber hier noch nicht hinreichend reflektiert wird (vgl. ebd., 27f.). 66 Ein richtiges ‚Klassenbewusstsein an sich‘ (Lukács) kann dem Proletariat als Element der kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht zugerechnet werden. Urbanþiþ (1976) bemerkt: „Die Behauptung, Marx stehe auf dem Standpunkt des Proletariats“, hieße „ipso facto [...], er stehe auf dem Standpunkt der bestehenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse“ (ebd., 112). Dass die Identifikation von Theorie und Klassenstandpunkt problematisch ist, war Marx und Engels früh bewusst, wofür die Selbstdeutung als „theoretische Kommunisten“ (MEW 3, 229) spricht. Althusser (1973b) betonte, dass eine „theoretische Position“ erfordert ist, „damit das, was vom proletarischen Standpunkt aus sichtbar ist, in seinen Ursachen und Mechanismen konzipiert“ werden kann (ebd., 87).

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Voranschauung und eigenständige Konstruktionsarbeit voraus. Marx’ Differenzierung von „Wesen“ und „Erscheinung“ ist dabei kein Rückfall in die spekulative Philosophie, sondern formuliert die Aufgabe, erscheinende Phänomene durch „nichtempirische theoretische Strukturen“ zu erklären (Heinrich 1991, 150). „Wesen“ meint nichts anderes, als das dem Prozess der Produktion und Reproduktion einer Gesellschaftsform zugrunde liegende „Ganze der Beziehungen, worin sich die Träger dieser Produktion zur Natur und zueinander befinden […], dies Ganze ist eben die Gesellschaft, nach ihrer ökonomischen Struktur betrachtet“ (MEW 25, 826f.). In diesem Sinne bezeichnet auch bei Marx „Wesen [...] eine Funktion der Relation“ (Bachelard, zit. in: Canguilhem 1991, 96), d.h. keine Substanz, sondern ein System von Beziehungen, deren Analyse auf theoretische Konstruktionsakte angewiesen ist, da relationale Bedingungsverhältnisse auf der Phänomenebene nicht sichtbar sind.67 Das intuitiv richtige Vorgehen, empirisch „mit dem Realen und Konkreten […] zu beginnen“, erscheint so „bei näherer Betrachtung falsch“, da das so Angeschaute nur die „chaotische Vorstellung eines Ganzen“ (MEW 13, 631) wäre, die mit den unverstandenen Abstraktionen alltäglicher Deutungsmuster durchsetzt ist. Erst die Reduktion der gegebenen Komplexität durch analytische Rückführung auf „einfachere Begriffe […], auf immer dünnere Abstrakta“ (ebd.) ermöglicht eine Bestimmung der Elemente und ihrer Beziehungen, die es gestattet, den „Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren“ (MEW 23, 27). Erst auf dieser Grundlage wird es möglich, wieder „zum Konkreten aufzusteigen“, das nun als reiche „Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen“ (MEW 13, 631) konzipierbar ist.68 Dieser „Prozeß der Zusammenfassung“ (ebd., 632), auf dem Marx’ Methode der Darstellung beruht, ist selbst „ein konstruktiver Akt“ (Heinrich 1991, 143), in dem die „begriffliche Entwicklung“ erst in ihrem „Fortgang den Zusammenhang der dargestellten Kategorien“ entwirft (ebd., 151). Daher ist das in der theoretischen Darstellung konstruierte „Gedankenkonkretum“ vom empirischen Gegenstand wie vom Forschungsprozess notwendig unterschieden: „[E]in Gedankenkonkretum [ist] in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens […]; keineswegs aber des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern der Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe. Das Ganze, wie es im Kopfe als Gedankenganzes erscheint, ist ein Produkt des denkenden Kopfes, der sich die Welt in der ihm einzig möglichen Weise aneignet, einer Weise, die verschieden ist von der künstlerisch-, religiös-, praktisch-geistigen Aneignung dieser Welt.“ (MEW 13, 632f.)

67 Das ist keine Metaphysik, wie Popper (vgl. 1974) sie Marx vorwarf. Auch das physikalische Gravitationsgesetz ist ein Konstrukt und nicht unmittelbar anschaulich, es erlaubt nur, das sichtbare Verhalten von Körpern zu erklären. Marx’ Parallelisierung ökonomischer Gesetze mit Naturgesetzen bezog sich auf deren konstruktivistischen Charakter, der erst eine (gegenüber der empirischen Erfahrung oft kontraintuitive) Erklärung von Phänomenen ermöglicht (vgl. MEW 16, 128ff.). 68 „Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn.“ (MEW 13, 631).

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Betont wird damit die relative Eigenständigkeit theoretischer Konstruktion gegenüber dem empirischen Gegenstand wie auch gegenüber anderen Formen geistiger Konstruktion. Gegen die sich aus der Besonderheit theoretischer Praxis ergebende idealistische „Illusion, das Reale als Resultat des […] aus sich selbst sich bewegenden Denkens“ (ebd.) aufzufassen, erfordert das Begreifen jedoch ein dynamisches Verhältnis zwischen Denken und Gegenstand, in dem das Material der geistigen Tätigkeit wie die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit dem Denken immer schon vorausgesetzt sind (vgl. ebd.). Marx’ Methode impliziert so eine doppelte Absetzung vom reinen Empirismus wie vom spekulativen Konstruktivismus, da die „Konkreta aus sich heraus nicht begreifbar sind, [...] aber Spekulieren kein Begreifen ist“ (Eberle/Hennig 1974, 66). Damit kann Marx nun das wissenschaftliche Defizit der ‚Vulgärökonomie‘ gerade in der Beschränkung auf einen Empirismus sehen, der nur die „praktischen Illusionen“ (MEW 1, 248 [Hervh. i.O.]) der Gesellschaft reproduziert, um „die Vorstellungen der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologetisieren“ (MEW 25, 826). Ebenso abgelehnt wird jedoch eine Selbstimmunisierung der Theorie gegen empirische Überprüfung, die der Idealismus oder der radikale Konstruktivismus dort erreichen, wo sie einen äußeren Gegenstand negieren und verlangen, die „Theoriekonstruktion aus sich selbst heraus zu beurteilen“ (Luhmann 1998, 1149). Denn anders als für Hegel, dem seine theoretische Methode als „von ihrem Gegenstand nichts Unterschiedenes“ (Hegel 1986, 50) galt – und zumindest darin folgt ihm Luhmann69 – bleibt für Marx der zu erklärende Gegenstand „nach wie vor außerhalb des Kopfes in seiner Selbständigkeit bestehn“ (MEW 42, 36). Marx’ Darstellung ist daher auch keine sukzessive Zurücknahme von Abstraktionen, die in einer letzten ‚Stufe‘ die Deckung von Theorie und Empirie erreichen könnte.70 Das als ‚Gedankenkonkretum‘ entwickelte Begriffssystem bleibt eine von der Wirklichkeit unterschiedene theoretische Konstruktion (vgl. Heinrich 1991, 150), die weitere empirische Forschung und Prüfung nicht suspendieren kann. Marx’ Theorie ist daher „als konzeptioneller Entwurf“ gekennzeichnet, der sich durch die offene „Beziehung zur Forschung vom spekulativen Idealismus unterscheidet“ (Eberle/Hennig 1974, 78; vgl. MEW 3, 27; MEW 25, 800). Allerdings kann mit der kategorialen Trennung von theoretischer Konstruktion und Anschauung eine empirische Verifikation – im Sinne der Deckung von Theorie und Empirie – nicht mehr beansprucht werden, womit ein anderes Verständnis empirischer Prüfung erfordert ist. Man kann dafür die zweite Feuerbachthese wissenschaftstheoretisch wenden: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (MEW 3, 5 [Hervh. i.O.])

69 Laut Selbstauskunft findet die Systemtheorie „die Letztgarantie des Realitätsbezugs ihrer Kognition allein in der Faktizität ihres eigenen Operierens“ (Luhmann 1998, 1120). 70 Vgl. zu dieser verbreiteten marxistischen Deutung kritisch: Heinrich 1991, 149ff.

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Dies impliziert eine „Revolution in der Erkenntnistheorie“ (Labica 1998, 46), da der traditionelle epistemologische Subjekt/Objekt-Dualismus, in dem die Wahrheit entweder im Rekurs auf die Objekte der Anschauung (wie im Empirismus und Realismus) oder im Rekurs auf die kategoriale Bestimmung des Erkenntnissubjekts entschieden werden sollte, unterlaufen wird, um stattdessen ein dynamisches und approximatives Kriterium der Bewährung in praxi einzuführen. Theorien können weder auf der Objekt- noch auf der Subjektseite endgültig verifiziert, sondern nur „im Gebrauch nach vorwärts“ (Gehlen 1993, 349) geprüft und falsifiziert werden.71 Freilich kann weder die ‚revolutionäre Praxis‘, noch das pragmatische ‚true is what works‘ als Garant wissenschaftlicher Wahrheit fungieren,72 über die nur fallweise in der wissenschaftlichen Praxis durch die Prüfung der Erklärungskraft einer Theorie entschieden werden kann. Dabei ist es nicht sinnvoll einzelne Begriffe und Axiome auf ihre empirische Deckung zu befragen. Prüfen lassen sich nur die auf der Grundlage theoretisch konstruierter Begriffssysteme möglichen Hypothesen, Erklärungen und Prognosen über empirische Phänomene. Letztlich geht es hier um einen richtig verstandenen Falsifikationismus,73 der prüft, inwiefern der theoriesystematische Zusammenhang der Begriffe geeignet ist, anschauliche Phänomene zu integrieren und zu erklären, auch solche, die der Theoretiker weder kannte noch erwartete. Da „hypothetisch konstruierte Begriffe [...,] statt empirisch und konkret unmittelbar greifbare Daten zu reproduzieren, die sich in isolierter Form in einem objektiven Korrelat verifizieren ließen, nur in ihren wechselseitigen Relationen symbolisch ihren Gegenstand“ abbilden (Bourdieu 1970, 17), können theoretische Konstrukte (etwa des ‚objektiven Werts‘ oder der ‚Klasse‘) nur in Anwendung des theoretischen Modells, in dem sie fungieren, ihre Erklärungskraft oder ihre Defizite erweisen.74 Zahlreiche Momente des marxschen Wissenschaftsverständnisses werden in der Wissenschaftstheorie Bourdieus weitergeführt. Wenn auf der Ebene alltäglicher Evidenzen die für eine Gesellschaftsform konstitutiven „Beziehungen und realen Konfigurationen [...] in Verschlingungen scheinbarer Beziehungen verloren, verschmolzen,

71 Gehlen – dessen Wissenschaftsverständnis mit dem von Marx vieles teilt – betonte, dass „Erkenntnistheorie nicht das Verhältnis unserer Vorstellungen zur Wirklichkeit reflektieren [darf], weil diese Reflexion gerade die Handlung umgeht, in der jenes Verhältnis allein zu bestimmen ist“ (Gehlen 1965, 44). Die Unfruchtbarkeit des Wahrheitsproblems (vom Platonismus bis zum radikalen Relativismus) folge aus der Ausblendung dieses Handlungsbezugs. Jede Erkenntnis beruht auf Konstruktion, da „bloße Wahrnehmung […] höchstens Bekanntschaft“ vermittelt und konstruierte Zusammenhänge (z.B. Naturgesetze) „im Wissen, [...] nicht jedoch in der anschaulichen Welt“ bestehen (Gehlen 1993, 341ff.). Jedoch müssen die Konstruktionen „in Bewegung gebracht werden“, um zu prüfen, ob die ihnen entsprechenden Erwartungen eintreten. Wahrheit ist nur „eine Funktion des Ausfalls dieses Versuchs“ (ebd., 349). Vgl. zum Verhältnis von Gehlen und Marx: Rehberg 1993; 1999. 72 Der marxistische Glaube, „die Richtigkeit der Lehre“ sei durch die russische Revolution „in der Praxis endgültig bestätigt“ (Vorwort zu MEW 1, XIII), beruht ebenso auf einem Kategorienfehler, wie alle Rede von ihrer historischen Widerlegung durch das Ende des Staatssozialismus. 73 Vgl. zu einer falsifikationistischen Lesweise von Marx: Simon-Schäfer 1974, 207-229; 1977, 365-382. 74 Dass jede Falsifikation von Theorien ein Verständnis ihres systematischen Zusammenhangs voraussetzt, muss betont werden, da viele Kritiken an den Theorien von Marx und Bourdieu darauf beruhen, dass theoretische Konstrukte mit empirischen Aussagen verwechselt werden (s.u. III & V).

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ertränkt, annulliert und verformt sind“ (Bourdieu 1970, 25), dann wird für die Soziologie, stärker als für andere Wissenschaften, die „Vertrautheit mit der sozialen Welt“ zum „Erkenntnishindernis schlechthin“, da diese „unablässig nicht nur fiktive Konzeptionen und Systematisierungen hervorbringt, sondern auch die Bedingungen ihrer Glaubwürdigkeit“.75 Gegen diese „blindmachenden Evidenzen“, die zu einer die Ansichten der Akteure reproduzierenden „Spontansoziologie“ verleiten, wird mit Bachelard daran erinnert, „daß die wissenschaftliche Tatsache gegen die Illusion des unmittelbaren Wissens errungen werden muß“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 14f. [Hervh. i.O.]). Wissenschaft erfordert daher einen epistemologischen Bruch (vgl. ebd., 15-36), der Durkheims Forderung erfüllt, „alle Vorbegriffe systematisch auszuschalten“, die als „von der Praxis und für die Praxis geschaffene“ Produkte einer „Vulgärerfahrung“ zwar praktische Funktionen erfüllen, aber ein wissenschaftliches Verständnis des Gegenstandes blockieren (Durkheim 1976, 116ff.). Wie Marx, auf den sich auch Durkheim hinsichtlich dieses Verständnisses der Voraussetzungen der Soziologie bezog,76 geht es Bourdieu um ein „Aufbrechen“ von Vorbegriffen und Voranschauungen, die als das „hauptsächliche Transportmittel von allgemein herrschenden Vorstellungen über die Gesellschaft“ wirken, um „neue Systeme von Beziehungen zwischen den Elementen sichtbar zu machen“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 16f.), die sich der Wahrnehmung bislang entzogen. Das erfordert eine epistemologische Wachsamkeit gegenüber der scheinbaren Evidenz der „durch die Alltagsprache präkonstruierten Gegenstände“, die systematisch dekonstruiert werden müssen, um die Macht der in sprachlichen Wendungen und Metaphern sedimentierten „versteinerte[n] Philosophie des Sozialen“ unter Kontrolle zu bringen (ebd., 24ff.; vgl. 24-34).77 Dies gilt gerade im Umgang mit Begriffen, die „in den

75 Marx’ Einfluss ist deutlich, wenn Marx-Texte zur Illustration des epistemologischen Bruchs und der Konstruktion des Objekts dienen (vgl. Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 133ff. & 161f.). Bourdieu teilt Marx’ Verständnis von Ideologie als einem System von in den gesellschaftlichen Beziehungen „wohlbegründeten Irrtümern“, die „soziale Funktionen“ erfüllen, aber ein Begreifen des Zusammenhangs, in dem sie fungieren, blockieren. Dies stellt die Soziologie aufgrund ihres Gegenstands vor besondere Probleme, markiert aber keine grundlegende Differenz zu den Naturwissenschaften. Auch in der Physik präjustieren soziale Erkenntnisdispositionen die Forschung, so dass „Hypothesen wie die der Trägheit nur in einer Art theoretischem Putsch gewonnen werden“ konnten, der durch „Erfahrung in keiner Weise gestützt war und sich lediglich durch den Widerstand legitimierte, den die Einbildungskraft […] den naiven und gelehrten Vorstellungen entgegensetzte“ (ebd., 57; Bourdieu 1970, 25). 76 Durkheim hielt Marx’ „Gedanken für fruchtbar, daß das gesellschaftliche Leben nicht durch die entsprechende Vorstellung der an ihm Beteiligten erklärt werden soll, sondern durch tiefer liegende Ursachen, die sich dem einzelnen Bewußtsein entziehen“ (Durkheim, zit. in: Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 18). 77 Bei Bourdieu finden sich solche Dekonstruktionen alltagssprachlicher und akademischer Begriffe (wie ‚Bevölkerung‘, ‚Klasse‘ oder ‚öffentliche Meinung‘) und impliziter Sozialtheorien, die Worte wie ‚Begabung‘ und ‚Leistung‘ oder Begriffspaare wie männlich/weiblich, hoch/niedrig etc. transportieren, in fast allen Untersuchungen. Darin folgt er neben Marx auch Wittgenstein, den Bourdieu (vgl. u.a. 1992b, 28f.) als wichtige philosophische Anregungsquellen seines Denkens benannte. Nach Wittgenstein schwächt nur die „genaue Untersuchung der Grammatik eines Wortes [...] die Position bestimmter festgelegter Normen unseres Ausdrucks, die uns davon abhielten, Tatsachen vorurteilsfrei zu sehen“. Erst so wird es möglich, das „Vorurteil, das uns zwingt zu denken, daß die Tatsachen bestimmten in unserer Sprache verankerten Bildern entsprechen müssen, zu beseitigen“

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Evidenzen des Alltagsverstandes“ als „Abfälle früherer und von der Wissenschaft dort abgelagerter Theorien“ (ebd., 27) fortleben. So wird eine wissenschaftliche Konstruktion von Klassenverhältnissen erst möglich, wo sie sich nicht von den dem Wort „Klasse“ historisch zugewachsenen Präkonstruktionen leiten lässt.78 Dies wendet sich auch gegen einen naiven „Positivismus, der wissenschaftliche Tatbestände wie empirische Gegebenheiten behandelt“ und dessen „Gebot der Unterwerfung unter die Fakten schlicht zur Kapitulation vor dem empirisch Gegebenen“ führe (ebd., 41), da es den Soziologen dazu verurteilt, ein „explikatives System zu übernehmen“, das ihm vom „Gegenstand aufgezwungen wird“ (Bourdieu 1970, 27). Gegen ein empiristisches „Dogma von der unbefleckten Erkenntnis“ (ebd., 26) ist daher die aktive „systematische Konstruktion eines Systems von Beziehungen und explikativen Schemata“ eine Grundbedingung wissenschaftlicher Praxis (ebd., 9). Eine Wissenschaft, deren theoretische Objekte „Relationen“ sind, „also etwas, das man nicht sieht“ (Bourdieu 1991b, 276), kann nicht auf „mimetischen Modellen, die nur die phänomenalen Eigenschaften des Gegenstandes“ wiedergeben, beruhen, sondern muss mit „analogen oder strukturalen Modelle[n], die allem Anschein entgegen auf abstraktivem Weg [...] konstruiert wurden, eine intelligible Relation zwischen konstruierten Beziehungen“ aufstellen, um die „Betriebsweise“ und die „generativen Prinzipien“ des Gegenstandes erfassen zu können. Solche Modelle lassen „sich nur aus ihrer Irrealität heraus vollständig, d.h. auf deduktivem Weg entfalten“, und erst auf dieser Grundlage ist es möglich, „die Konsequenzen, die sich aus dieser Konstruktion heraus vollständig, weil fiktiv, entfalten lassen, mit der Realität zu konfrontieren“ (Bourdieu 1970, 32f. [Hervh. i.O.]).79 Damit bleibt, wie für Marx, das theoretische Konstrukt von der Realität, die es erklären soll, verschieden. Um „den Preis eines Bruchs mit dem Erscheinungsbild der Phänomene konstruiert, findet es zu keiner spontanen und einfachen Verifikation, wie die Tatsachen auf ihrer Oberflächenseite […] sie liefern“ (ebd., 14). Ein theoretisches Modell – etwa der Reproduktion von Klassenverhältnissen – kann daher nicht durch Verweise auf Phänomene sozialer Mobilität oder veränderte soziokulturelle Erscheinungen ‚widerlegt‘ werden, wie das in der Bourdieu-Rezeption oft praktiziert wurde. Ebenso wenig aber kann es apriorische Geltung beanspruchen, zumal wo es selbst im Ergebnis von Fragen konstruiert wurde, die a priori nicht hätten gestellt werden können. Erfordert ist somit eine Form der Prüfung, welche die „Stimmigkeit des vollständigen Systems der Tatsachen, die durch – und nicht für – die theoretischen Hypothesen geschaffen wurden“, und die „Kohärenz des konstruierten Tatsachensystems“ ebenso berücksichtigt, wie sie „den Teilbeweisen, die der Positivismus als dijecta membra handhabt, ihre Geltung sichert“ (ebd.), solange diese auf den Zusammenhang der Theorie bezogen werden.

(Wittgestein 1984, 73f.). Wittgenstein verdankte „die folgenreichsten Ideen“ (Wittgenstein 1997, 232) seiner praxisorientierten Spätphilosophie dem Ökonomen Piero Sraffa, mit dem er die marxschen Frühschriften gelesen und diskutiert hatte. 78 Das erfordert auch einen Bruch mit den im Zuge einer marxistischen Tradition hervorgebrachten Vorverständnissen. Vgl. dazu v.a.: Bourdieu 1985, 9-46; 1997, 102-129; 1999, 171-209; s.u. V.1f. 79 Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass die so konstruierten Modelle sich auf sehr verschiedene „Bereiche der Realität übertragen lassen, die ihrem Erscheinungsbild nach sehr voneinander abweichen“ (Bourdieu 1970, 32).

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In diesem Wissenschaftsverständnis gibt es ebenso wenig einen Nullpunkt der Induktion wie einen Endpunkt der Verifizierung deduktiver Theorien. Vielmehr setzt jede Empirie methodische Konstruktion voraus, während die in ihrer Konsequenz gewonnen Fakten wieder in konstruierte Zusammenhänge eingepasst werden müssen. Insofern bewegt der Soziologe sich notwendig „in einem Zirkel, wenn er die von der Forschung erzeugten Fakten in der Weise untersucht, daß er von der Gesamtheit der Antworten […] den Sinn einer jeden Frage, mit denen er die Antworten erst hervorrief und konstruierte, so zu entschlüsseln versucht, daß er in jedem Moment den Sinn der gesamten Antworten mittels dessen, was er aus jeder einzelnen lernt, aufs neue in Frage stellt“ (ebd., 15). ‚Wahrheit‘ ist weder durch die Erfahrung noch durch ihr vorausgesetzte Kategorien garantiert, sie ist der im Sinne Bachelards stets vorläufige und „angenäherte“ Ausfall „der Wissenschaft als Prozeß“ (Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 10 [Hervh. i.O.]), in dem Konstruktions- und Anwendungsarbeit mit der Reflexion auf den Konstruktionscharakter der Instrumente der Beobachtung verzahnt sind. Die „genuin erkenntniskritische Aufgabe“ besteht dann darin, „in der fortwährend dem Irrtum ausgesetzten wissenschaftlichen Praxis selbst die Bedingungen auszumachen, unter denen das Wahre dem Falschen entrissen werden kann“, um „von einem weniger wahren zu einem wahreren Wissen zu gelangen“ (ebd.). Dabei haben gerade die Irrtümer eine wissenskonstitutive Funktion. Nicht nur weil sie im Sinne eines naiven Falsifikationismus wenigstens zeigen, wo man falsch lag, sondern weil oft erst die retrospektiv als Irrtum erkannten theoretischen Perspektivierungen zu den ‚richtigen‘ Fragen führen. „Wahres auf einem Untergrund von Irrtum, das ist die Form des wissenschaftlichen Denkens.“ (Bachelard, zit. in: Canguilhem 1991, 95) Foucault gab einem solchen pragmatischen, auf Versuch und Irrtum beruhenden Verständnis wissenschaftlicher Arbeit in anderer Form Ausdruck: „Ich versuche meine Instrumente über die Objekte zu korrigieren, die ich damit zu entdecken glaube, und dann zeigt das korrigierte Instrument, dass die von mir definierten Objekte nicht ganz so sind, wie ich gedacht hatte. So taste ich mich voran und stolpere von Buch zu Buch.“ (Foucault 2003b, 522)

Indem dieser Konstruktionscharakter und die gesellschaftliche Bedingtheit jeden Wissens, auch auf die eigenen Analysen bezogen werden, implizieren die Ansätze von Bourdieu, Foucault und Marx den von Luhmann (1998, v.a. 16f. & 1118ff.) als Grundbedingung jeder Gesellschaftstheorie geforderten „autologischen Schluß“, d.h. die Selbstanwendung der theoretischen Werkzeuge auf die Theorie als Teil des Gegenstandsbereichs.80 Da dabei auch die sozialstrukturelle Position der Forscher, ihre Stellung innerhalb des Kräftefeldes alternierender wissenschaftlicher Positionen und in den gesellschaftlichen Produktions- oder Machtverhältnissen als Bedingungsfaktoren theoretischer Konstruktionen analysiert werden, stellt sich das Autologieproblem sogar deutlich komplexer als in einer Systemtheorie, die Fragen nach praktischen Bedingungen theoretischer Konstruktionsarbeit theoriesystematisch ausschließt und

80 Luhmann (vgl. 1998, 1080, Fn. 350) sprach Marx eine autologische Perspektive ab. Demgegenüber wurde oben gezeigt, dass Marx den konstruktivistischen Charakter und die Bedingungen seiner Theoriebildung reflektiert hat.

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in die Umwelt der Autopoiesis des Wissenschaftssystems verweist.81 Während bei der ausschließlichen Bestimmung der Wissenschaft über eine spezifische, rekursiv geschlossen-operative Form der Kommunikation der Eindruck entsteht, Wissenschaft sei nur an „Selbstkonditionierung gebunden, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit einrichtet“ (Luhmann 1990a, 300),82 kommt wissenschaftlicher Praxis bei Bourdieu, Marx und Foucault nur eine relative Autonomie zu. Damit fallen auch Fragen nach außerwissenschaftlichen Bedingungsfaktoren theoretischer Praxis unter das Autologieproblem.83 Wenn eine soziologische Wissenschaftstheorie auch eine Soziologie der Soziologie einschließen muss,84 wird der Forderung nach „Distanz zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags“ und nach der Explikation der „theoretischen Strukturen“ (Luhmann 1998, 1133ff.) die Forderung nach der Explikation der genetischen Bedingungen der Theoriekonstruktion zur Seite gestellt. Statt die Autonomie wissenschaftlicher Praxis mit einem bestimmten Verständnis funktionaler Differenzierung definitorisch als gegeben zu setzten, soll diese selbstreflexive ‚Objektivierung der Objektivierungen‘ (vgl. Bourdieu 1987) reale Autonomiegrade wissenschaftlicher Praxis steigern, indem sie die durch externe und interne Einflussfaktoren bestimmten Bedingungen und Grenzen der Wissenschaft einem bewussten Umgang zugänglich macht.85

81 „Die Finanzierung des Systems mag von außen gelenkt […] sein, die Operationen des Systems können effektiv eingeschränkt […] werden. Die mitwirkenden Personen mögen eigene Interessen“ einbringen, „Massenmedien mögen bestimmte Themen favorisieren und anderen die Aufmerksamkeit entziehen. Das alles ändert nichts daran, daß die Wissenschaft, wenn sie als System operiert, autonom operiert“ (Luhmann 1990a, 293). Ist dies qua theoretischer Setzung festgelegt, gibt es in der Wissenschaft auch „keine fundierenden Asymmetrien. Weder spielt der soziale Rang des Sprechers […] eine Rolle, noch die Nähe eines Themas zu außerwissenschaftlicher Wertschätzung“ (ebd., 295). Auch wenn an die Ergebnisse „gesellschaftliche Verwertungsinteressen angeschlossen werden“ (ebd., 298), sei wissenschaftliche Kommunikation ein rein endogenes Produkt selbstreferentieller Operationen. Da so alle Fragen nach konkreten externen Einflussfaktoren ausgeschlossen sind, reduziert sich das Autologieproblem darauf, dass Soziologie „nur innerhalb des Gesellschaftssystems kommuniziert werden kann“, also selbst „eine Operation des Gegenstands“ (Luhmann 1998, 16f.) ist, da „was kommuniziert wird, [...] in der Gesellschaft kommuniziert“ wird (Luhmann 1990a, 716), womit keiner Theorie eine „Selbstexemption“ zusteht (Luhmann 1998, 1132f.). Das ist ebenso richtig wie trivial. 82 Luhmann (1990a) lagert nicht-wissenschaftliche Faktoren, „durch die die Umwelt auf das System auf struktureller Ebene einwirkt“ (ebd., 305) aus der Systemtheorie aus, was theorieintern durch Reduktion der theoretischen Objekte und Kategorien auf Sinn und Kommunikation plausibilisiert wird. Dass aber Zahlungen oder Befehle keine Argumente sind und wissenschaftliche Anschlussfähigkeit nur durch eine entsprechende Form der Kommunikation ereicht wird (vgl. ebd., 294f. & 300f.), sagt nichts darüber aus, ob und wie sehr Inhalt und Form wissenschaftlicher Kommunikation in praxi durch ökonomische, politische oder religiöse Einwirkungen bedingt sind. 83 Relevant sind die Position der Forscher in den Klassenverhältnissen oder in einem gegebenen Macht-Wissen-Nexus, aber auch der Stand der strukturellen Dominanzverhältnisse zwischen den Feldern ökonomischer und kultureller Produktion. Vgl. u.a. Bourdieu 1987; 1988; 1998c; 2002a; Foucault 1992; 1976, 52ff. 84 Vgl. u.a. Bourdieu 1993, 77-90; Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991, 80-89. 85 Es geht dabei gerade nicht darum, akademische Kontrahenten auf die soziale Bedingtheit ihrer Position zu reduzieren oder Wissenschaft per se auf ein Macht- und Interesseninstrument zu verkürzen, wie dies stereotype Kritiken an Bourdieus Wissenschaftstheorie oft unterstellen (vgl. Celikates 2006; Nassehi 2004, 181ff.).

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Für Theorien, die sich nicht in der neutralen und passiven Position des Beobachters sehen, sondern ihre Theoriearbeit als praktisch mit ihrem Gegenstand verstrickte „kritische“ Sozialwissenschaften begreifen, muss sich die Selbstanwendung auch auf die Form und – eingedenk der Einsicht, dass auch „Gesellschaftskritik Teil des kritisierten Systems“ (Luhmann 1998, 1118) ist – auf die Bedingungen der Möglichkeit, die Grenzen und den Status der Kritik beziehen. Dabei implizieren die hier diskutierten Ansätze ein besonderes Verständnis wissenschaftlicher Kritik, das von anderen, normativen Kritikverständnissen unterschieden ist.

4 Ansätze einer kritisch-funktionalen Analyse

4.1 N ORMATIVE

UND POSTNORMATIVE

F ORMEN

DER

K RITIK

„Wissenschaftliche Praxis an sich impliziert meiner Meinung nach eine kritische Haltung; nur bin ich der Ansicht, daß […] das, was ich etwas abschätzig ‚Sozialphilosophie‘ nenne, ihren kritischen Anspruch nicht […] einlösen kann, und zwar deshalb, […] weil sie über alles und nichts redet, und das mit scheinbar radikalen, in Wirklichkeit aber formalen und leeren Begriffen.“ PIERRE BOURDIEU [zur ‚kritischen Theorie‘] (1992a, 42)

Dass es sich bei Marx, Bourdieu und Foucault um kritische Sozialwissenschaftler handelt, ist bekannt. Weniger deutlich liegt zutage, aus welcher Position und in welcher Form ihre Kritik erfolgt, wie sie theorieintern begründet wird und wie sie sich zur wissenschaftlichen und intellektuellen Praxis verhält. Habermas hat in der Sache zu Recht, wenn auch in Unverständnis der alternierenden Position, an Foucault moniert, dessen Kritik könne infolge ihrer theoretischen Dispositionen kein ‚normatives Fundament‘ beanspruchen. Es handele sich daher um eine „kryptonormativistische Scheinwissenschaft“ (Habermas 1988a, 324 [Hervh. i.O.]); um eine „normativ verworrene“ (Fraser 1994, 50) Theorie, die ihren kritischen Duktus durch die Reduktion normativer Gehalte auf ihre gesellschaftliche Genese und Funktion widerlege und sich so im „relativistischen Selbstdementi“ (Habermas 1988a, 330) von selbst erledige.1 Auch Bourdieu zersetze durch den „antibürgerlichen Affekt“ (Honneth 1999, 184) und den „bösartigen Blick“, mit dem er „die Welt der symbolischen Formen, denen die Bewunderung der Ethnologie seit jeher gegolten hatte, in eine Sphäre des sozialen Kampfes“ (ebd., 182) auflöse, die Grundlagen seiner Kritik (vgl. auch Miller 1989, 218f.). Ausdehnen müsste man diesen Vorwurf auch auf Marx (s.u. 4.3). In dem sich in solchen Einwänden ausdrückenden Kritikverständnis, kann Kritik nur in Kopplung mit Werturteilen formuliert werden, die denn auch in die Texte hineingelesen wurden. Habermas (1985; 1988a) kennzeichnet in seinen freien Foucault-Interpretationen ‚die Macht‘ mit starken Adjektiven wie „brutal“, „heimtückisch“, „bösartig“, die sich in den Texten Foucaults so nicht finden. Für Fraser ist

1

Das pauschale Verdikt steht im Kontext des in den 1980er Jahren mit großer Schärfe geführten ‚Kampfs um die kritische Vernunft‘. Vgl. zu einer differenzierten Analyse: Neumeister 2000.

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die Quintessenz von Überwachen und Strafen, dass „‚Disziplin‘ eine schlechte Sache ist“ (Fraser 1994, 67) und „der Erfinder des Panopticons“ (also Jeremy Bentham) der „größte Bösewicht“ (ebd., 72) gewesen sei. Indem Foucault jene Repressionshypothesen unterstellt wurden, von denen er sich explizit distanzierte (vgl. Foucault 1983, 57-76), erscheint es als Mangel, dass er „keine Kriterien der Unterscheidung der annehmbaren von den unannehmbaren Formen der Macht“ festlegt. Kritik setze eine klare binäre Differenz voraus, einen „zweipoligen normativen Gegensatz […], der mit Habermas’ Gegensatz von partieller und einseitiger instrumenteller Rationalität einerseits und vollständiger, praktischer, politischer Rationalität andererseits vergleichbar wäre“ (Fraser 1994, 53).2 Tatsächlich können praxeologische Analysen durch ihre antidualistische Ausrichtung (s.o. 3.3) eine solche Dichotomie von instrumenteller vs. kommunikativer Rationalität nicht behaupten. Und jenes „Moment Unbedingtheit“, das Habermas in formalen Kriterien gelingender Verständigung suchte, um ein zum „Verfahren verflüssigtes Absolutes“ (Habermas 1988b, 13) als normatives Fundament zu postulieren, wird bei Foucault (vgl. u.a. 2005, 720ff.) und Bourdieu – teils mit explizitem Rekurs auf Marx – dekonstruiert. So kritisierte Bourdieu (2001c, 84ff.) an Habermas, dass dessen „angeblich ‚soziologische‘ Theorie“ (ebd. 85) reale politische Ideen und Verhältnisse aus einem idealisierten Bild symmetrischer Kommunikation zu erklären suche, das von allen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen der Kommunikation abstrahiere. Darin gleiche sie „der von Marx beschriebenen deutschen Philosophie“ (ebd., 85), die Ideen der französischen Bourgeoisie aus allen realen Bedingungen herauslöste, um sie in „eine Äußerung ‚des Willens, wie er sein muß, des wahrhaft menschlichen Willens‘ [MEW 4; 486] zu verwandeln“ (Bourdieu 2001c, 324). In beiden Fällen führt die Abspaltung einer Sphäre vermeintlich ‚reiner Geltung‘ von den ökonomischen und politischen Bedingungen und Funktionen der Ideen oder Sprechakte zu einem „ideologischen Effekt der Verabsolutierung des Relativen“ (Bourdieu 1990, 19, Fn. 9). Insofern droht der von Fraser geforderte ‚zweipolige normative Gegensatz‘ unreflektiert Funktionen der Ausübung und Legitimation von Herrschaft zu übernehmen – und zwar gerade indem eine vermeintlich herrschaftsfreie kommunikative Vernunft von der instrumentellen Zweckrationalität und von den vielfältigen Formen der „Herrschaft“, die „aus den gesellschaftlichen Kommunikationsbeziehungen niemals herauszuhalten“ sind (Bourdieu 2001c, 84), abgegrenzt wird: „Aus der Idealisierung“ einer reinen kommunikativen Intersubjektivität „folgt praktisch selbst dann, wenn sie […] nur dazu bestimmt [ist], die ‚Untersuchung der Deformation der reinen Intersubjektivität zu ermöglichen‘, eine Ausklammerung der Machtverhältnisse, die in den Kommunikationsbeziehungen in veränderter Form wirksam sind.“ (Bourdieu 1990, 19, Fn. 9 [Hervh. i.O.], vgl. ebd., 73ff.)

2

Dass Fraser (vgl. 1994, 87f.) Foucaults Texte so „abscheulich“ erscheinen, beruht, wie sie selbst bemerkt, auf ihren Werturteilen. Habermas und Honneth fällt auf, dass ihre Unterstellungen am Text nicht zu belegen sind, was daraus erklärt wird, dass die „eigentliche Substanz“ von Foucault verborgen (Honneth 1989, 196), in irreführende „Terminologie gehüllt“ (ebd., 175), „verkleidet“ (ebd., 174), „kaschiert“, „verheimlicht“ (Habermas 1988a, 317) werde – eine „paranoide Interpretation“ im Sinne Ecos (vgl. 1999, 119f. & 76f.): Dass der Text nicht sagt, was dem Autor zugeschrieben wird, beweist, wie perfide dieser seine ‚eigentliche‘ Absicht verbirgt.

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Vor diesem Hintergrund fehlt den kritischen Analysen von Bourdieu, Foucault und Marx tatsächlich der von Habermas geforderte ‚normative Ausweis‘. Dies führt aber nicht notwendig in einen Selbstwiderspruch oder zur Unmöglichkeit einer kritischen Perspektive, sondern zu einem alternierenden Verständnis kritischer Wissenschaft, das sich vom normativen Modus von Kritik systematisch unterscheidet. Um die Differenzen im Hinblick auf das Normativitätsproblem zu verstehen, ist es zunächst sinnvoll, Habermas’ Verständnis einer kritischen Gesellschaftstheorie zu beleuchten, um vor diesem Hintergrund den anders gelagerten Status und Anspruch wissenschaftlicher Kritik bei Marx, Foucault und Bourdieu herauszuarbeiten.

4.1.1 ‚Lernprozesse‘ einer normativ ‚kritischen Theorie‘ bei Jürgen Habermas „‚Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. […] In dieser Vorstellung erscheint daher nicht die reale gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft […], sondern bloß was sie in der abgelösten Sphäre bedeutet, wo sie unter historischen Bedingungen erzeugt wird.‘3 Demgegenüber wird sich die kritische Gesellschaftstheorie der Selbstbezüglichkeit ihres Geschäfts inne“. JÜRGEN HABERMAS (1995, Bd. 2, 590 [unter Einbeziehung eines Zitats von Max Horkheimer])

Habermas’ Verständnis einer kritischen Wissenschaft, die Werturteile formuliert und dabei die universelle Geltung ihrer normativen Maßstäbe beansprucht, ist in der Tradition der ‚kritischen Theorie‘ der Frankfurter Schule verwurzelt. Max Horkheimer (1937) wollte mit der Abgrenzung der kritischen von der traditionellen Theorie sowohl in der erkenntniskritischen Reflexion auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Theorien als auch in der theoretischen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft an Marx anknüpfen.4 Allerdings ging er davon aus, dass eine gesellschaftskritische Theorie erst auf der Grundlage normativer Urteile kritisch sei. Jede „Trennung von Wert und Forschung, Wissen und Handeln“, also jedes Bemühen um Wertfreiheit in der Wissenschaft, galt hingegen als Ausdruck einer „Entfremdung“ (Horkheimer 1965, 260). Daher erschien etwa auch die Wissenssoziologie Mannheims nur als ein bürgerliches Verfallsprodukt, das „man aus der kritischen Theorie herausgenommen und als besondere Disziplin etabliert“ habe (Horkheimer 1937, 157f.). Gegen jeden Anspruch auf „Wertfreiheit“ müsse in einer „Theorie der Gesellschaft, der es um das Richtige zu tun ist“, das „was bei Weber mit dem […] Begriff des Wertes gemeint

3 4

Zitat von Max Horkheimer (1937), zit. in: Habermas 1995, Bd. 2, 590. Die Absetzung von einem gegenüber den gesellschaftlichen Bedingungen und Präkonstruktionen blinden Empirismus und das Verständnis der Objekte wie der Subjekte wissenschaftlicher Beobachtung als gesellschaftlich-historische Produkte teilt Horkheimer (vgl. 1937, 138-160) mit Marx, aber auch mit Bourdieu und Foucault.

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ist, in jeden Schritt der Erkenntnis“ hineinspielen. „Im Ganzen wie in jeder Einzelheit besteht theoretische Leistung überall zugleich in unbeirrbarer Hingabe ans Tatsächliche und in stets erneuerten Werturteilen.“ (Horkheimer 1965, 260) So folge „die kritische Theorie in […] allen Phasen ihres Fortgangs ganz bewußt dem Interesse an der vernünftigen Organisation der menschlichen Aktivität, das aufzuhellen und zu legitimieren[!] ihr selbst aufgegeben ist“ (Horkheimer 1937, 193). Übersehen wurde, dass die Wertfreiheitsmaxime Wissenschaft keineswegs auf einen kruden Positivismus festlegen oder auf eine Dienstleistung für den ökonomisch-administrativen Betrieb reduzieren sollte.5 Weber selbst trat für eine engagierte, parteiische Wissenschaft ein und betonte, dass die Auswahl der Gegenstände und der Gebrauch der Ergebnisse stets von Werturteilen geleitet sind. Jedoch müsse sich Wissenschaft in dem Sinne um ‚Wertfreiheit‘ bemühen, dass Forschungsprozess, Theoriebildung und wissenschaftliche Argumente unabhängig von diesen Wertungen nachvollziehbar bleiben. Die sinnkriteriale Differenzierung verschiedener Aussagetypen sollte es ermöglichen, über Parteigrenzen hinweg zu verstehen, was in der Sache gemeint ist.6 Zugleich sollte sie Formen des Dogmatismus vermeiden helfen, in denen wissenschaftliche Argumente durch den Verweis auf die vermeintlich ‚universelle Geltung‘ von Werten gegen Einwände immunisiert oder umgekehrt Werturteile mit dem Anschein wissenschaftlicher Objektivität als unumstößliche Wahrheiten präsentiert werden: „Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile, und ein Werturteil ist absolut keine kausale Erklärung.“ (Weber 1968, 225) Da Webers Differenzierung von Werturteilen und wissenschaftlichen Urteilen – die sich mit einem aufklärerischen Impetus sehr wohl hätte verbinden lassen7 – prinzipiell ausgeschlagen wurde, waren die Texte der ‚Frankfurter Schule‘ von Berufun-

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Dies ist die Assoziation, welche die ‚kritische Theorie‘ immer wieder mit Webers Maxime der Wertfreiheit verbindet. Vgl. auch entsprechende Positionierungen im Positivismusstreit bei: Adorno 1995, 309ff. & 345ff. Weber vertrat nie die Fiktion, Sozialwissenschaft sei wertneutral, sondern formulierte eine orientierende Maxime für die wissenschaftliche Praxis (vgl. Weber 1968, 498f.). Dabei steht fest, dass die „‚Werte‘ des praktischen Interesses für die Richtung, welche die ordnende Tätigkeit des Denkens […] jeweils einschlägt, von entscheidender Bedeutung“ sind. Jedoch müsse „eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung […], wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig anerkannt werden“ können, dem „für unsere ethischen Imperative das ‚Gehör‘ fehlen kann“ (ebd., 155f.; vgl. 158ff. & 499f.). Es geht um eine klare Differenzierung wissenschaftlicher und normativer Argumente. In diesem Sinne sei „deutlich zu machen, […] wo der denkende Forscher aufhört und der wollende Mensch anfängt zu sprechen“ (ebd., 157; vgl. 490f. & 498). Das richtet sich gegen die „Vermischung“ von Aussagetypen, „nicht etwa gegen das Eintreten für die eigenen Ideale“ (ebd., 157 [Hervh. i.O.]). Gerade ‚wertfreie‘ Argumente sollen helfen, verschiedene Werte in ihrer historischsozialen Bedingtheit zu analysieren und so zur Aufklärung ihrer Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen beitragen. Webers „Polytheismus der Werte“, zwischen denen es keine gültige Entscheidung gebe, sondern nur einen „Kampf der Wertordnungen“ (Weber 1968, 507ff.), war keine metaphysische Annahme, sondern bezog sich soziologisch auf den Umstand, dass historisch verschiedene Formen des ökonomischen und kulturellen Lebens auch zu verschiedenen Werturteilen führen. So führen schon die Unterschiede der „Klassenlagen“ und Interessen dazu, dass es keine ‚objektiv‘ begründeten Werturteile in der Wirtschaftspolitik gibt, da, was vom Standpunkt der Kapitalrentabilität ‚gut‘ und ‚richtig‘ ist, es für Lohnarbeiter und Konsumenten durchaus nicht sein muss und vice versa (vgl. ebd., 527ff.).

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gen auf normative Maststäbe durchzogen, wie die häufige Verwendung von Termini wie menschlich/unmenschlich; vernünftig/unvernünftig oder gerecht/ungerecht zeigt, wobei die ‚kritischen Theorie‘ jeweils die normativ positiv markierte Seite der Unterscheidungen zu vertreten beanspruchte. Schließlich „existiert nur eine Wahrheit, und die positiven Prädikate der Ehrlichkeit und inneren Konsequenz, der Vernünftigkeit […] sind nicht im gleichen Sinne irgendeiner anderen Theorie und Praxis zuzusprechen“ (Horkheimer 1937, 171). Spätestens im Positivismusstreit trat die ‚kritische Theorie‘ daher als vollständig einwandsimmun auf (vgl. Adorno 1995, 334f.). Die normativen Grundlagen der Wertungen sollten aus der bestehenden Gesellschaft selbst entlehnt werden, um die „bürgerliche Gesellschaft an den Ideen zu messen, zu denen sie sich selbst bekennt, an Freiheit, Gerechtigkeit, der Achtung vor dem Einzelnen“. Kritik hätte so „die Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit auszudrücken“ (Horkheimer 1965, 260; vgl. Adorno 1995, 306). Dieser Ansatz erfreut sich bis heute anhaltender Beliebtheit in normativ ansetzenden Kapitalismuskritiken.8 Allerdings führte er bei Horkheimer und Adorno in ein von Habermas (1995, Bd. 1, 455-534; 1988a, 130-158) präzise herausgearbeitetes aporetisches Dilemma. Da der kritisierte Verdinglichungs- und Verblendungszusammenhang der Gegenwartsgesellschaft als total bestimmt wurde, gab es keinen Ort mehr, an dem die für die Kritik in Anspruch genommene vernünftige Geltung der ‚normativen Gehalte‘ verankert werden konnte, wie Horkheimer resigniert feststellte: „Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, all die Begriffe, die […] in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnten […,] haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zwecke, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. […] Wer kann sagen, dass irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil?“9 (Horkheimer 1991, 44; vgl. ebd., 48f.)

Der abgelehnten Totalität ließ sich nicht entnehmen, was ‚richtig‘, ‚menschlich‘ und ‚vernünftig‘ ist, und da in der Dialektik der Aufklärung der kritisierte Verdinglichungszusammenhang geschichtsphilosophisch weit hinter die kapitalistische Gesellschaftsformation in die Anfänge der Kultur zurückverlegt und letztlich mit der (instrumentellen) Vernunft identifiziert wurde,10 bot auch ‚die Vernunft‘ keine universellen Geltungskriterien mehr. Damit scheiterte das Projekt einer normativ-kritischen Theorie der Gesellschaft in dreifacher Hinsicht: Wo die positive Wissenschaft insgesamt als Ausdruck instrumenteller Weltbeherrschung abgelehnt und „jedwede fachwissenschaftliche Arbeit […] als ‚positivistisch‘, ‚instrumentalistisch‘ etc. diskreditiert“ wurde (Dubiel 1978, 125), war der Anspruch einer Gesellschaftstheorie auf der

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Sie prägt z.B. noch Hartmut Rosas jüngsten Versuch, „den Kapitalismus an seiner ethischen Wurzel zu packen“ (Rosa 2009a, 125), indem die Verletzung oder systematische Behinderung der individuellen und kollektiven Realisierung von „Grundversprechen“ der kapitalistischen Moderne aufgezeigt wird (vgl. ebd., 87-125). 9 Erst Habermas sollte dies wieder sagen können. 10 „Verdinglichung ist ein Prozeß, der bis auf die Anfänge der organisierten Gesellschaft und den Gebrauch von Werkzeugen zurückverfolgt werden kann.“ (Horkheimer 1991, 59, vgl. ebd., 105ff.; Horkheimer/Adorno 1988, 9-49)

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Grundlage eines ‚interdisziplinären Materialismus‘ gescheitert.11 Wo jedes Handeln dem kritisierten instrumentellen Zusammenhang von Zweck und Mittel zugehörte, wurde die proklamierte Einheit von Theorie und Praxis unhaltbar, weshalb die Theorie Züge einer „die Bezüge zur Praxis verleugnenden Kontemplation“ (Habermas 1995, Bd. 1, 489) annahm, in der weder die Reflexion noch das Handeln, sondern nur mehr eine Haltung der Mimesis und ästhetische Erfahrungen über die kritisierte Totalität hinauswiesen (vgl. ebd., 505-518). Bei all dem gelang es dieser Theorie nicht, „über ihre eigenen normativen Grundlagen Rechenschaft zu geben“ (ebd., 500). Den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma sah Habermas in einer philosophischen Fundierung, „die die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie aufklärt“ (ebd., Bd. 2, 583). Die Philosophie des kommunikativen Handelns sollte dazu das von Horkheimer und Adorno ausgeschlagene Erbe einer „Metaphysik der Versöhnung“ (ebd., Bd. 1, 518 [Hervh. i.O.]) im neuen Gewand des „Paradigmas der Sprachphilosophie, der intersubjektiven Verständigung oder Kommunikation“ antreten. Nur eine Philosophie, die „Versöhnung in Begriffen einer unversehrten Intersubjektivität beschreibt, die sich allein herstellt und erhält in der Reziprozität der auf freier Anerkennung beruhenden Verständigung“, könne „explizit angeben, worin die Zerstörung besteht“ (ebd., 522f. [Hervh. i.O.]), die die kritische Theorie beklage, und zugleich den universellen Maßstab der Kritik aufzeigen. Dazu werden „die Ideen der Versöhnung und der Freiheit als Chiffren für eine wie auch immer utopische Form der Intersubjektivität entziffert“, die in einer umfassenden „kommunikativen Rationalität“ angelegt sei (ebd., 524f. [Hervh. i.O.]; vgl. 518-534). Das ‚empirische Korrelat‘ dieser kommunikativen Rationalität hatte Habermas (1962) zuvor in ein idealisiertes Bild des Besitz- und Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts projiziert, dem nun ein aus Derivaten entwicklungspsychologischer, sprachphilosophischer und soziologischer Theorien gewonnenes anthropologisch-gattungsgeschichtliches ‚Fundament‘ untergebaut wurde.12 Dabei wurden allgemeine Kriterien einer ‚kommunikativen Vernunft‘ von der instrumentellen Zweckrationalität und von ‚niederen‘ Formen menschlichen Daseins im Arbeiten und strategischen Handeln klar geschieden.13 Die11 Die verschärfte Positivismuskritik bei Horkheimer (vgl. 1991, 75-104) und Adorno (vgl. 1995, 280-353) führt zwar nicht notwendig in die „totale Entwertung der Sozialwissenschaften“ (Habermas 1995, Bd. 1, 517), jedoch rückt die Dialektik der Aufklärung von einer „Fortführung fachlicher Lehren“ der „traditionellen Disziplinen“ ab: In der Gegenwart sei „der Sinn von Wissenschaft fraglich“ (Horkheimer/Adorno 1988, 1). Vgl. zur „Rephilosophisierung“ der ‚kritischen Theorie‘: Dubiel 1978, u.a. 125ff., 51ff., 81ff. & 113ff. 12 Vgl. zu dieser „Rekonstruktionsarbeit“ und den aus anderen Theorien gezogenen „Synthesen“ v.a.: Habermas 1995, Bd. 1, 369-455; Bd.2, 7-293. Habermas kritisiert die Unhaltbarkeit von Geschichtsphilosophien, vertauscht aber faktisch nur die fatalistische Variante Adornos gegen eine versöhnliche Variante, in der die im verständigungsorientierten Handeln angelegte Vernunft sich sukzessive in der Wirklichkeit entfaltet, wenn auch im Konflikt mit der ‚Zweckrationalität‘. Die Spannung, in der sich Habermas’ (1962) interessenloser Kaffeehausbürger zu seinem anderen Ich in der Geschäftswelt bewegte, wird hier zum weltgeschichtlichen Prinzip aufgebläht. 13 Indem Habermas (1968; 1970), Hannah Arendt (2002, 98-160) folgend, den Arbeitsbegriff auf eine Kategorie zur Bestimmung der niedersten Form menschlicher Tätigkeit reduzierte, konnte er das ‚Höhere‘ (Interaktion, Kommunikation) von der Vermittlung mit der Materie und den Interessen abtrennen. Die so gewonnene rein ‚kommunikative Rationalität‘ darf dann die Lebenswelt behausen und schafft sich dort eine kommunikative Infrastruktur zum interessenfreien Aushandeln von Geltungsansprüchen (vgl. Habermas 1995, Bd. 2, 9-296).

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se kommunikative Rationalität bildete fortan auch den Bezugspunkt, um der eigenen Theorie universelle „Rechtsgründe der Kritik […,] die nicht kontingent in geschichtlicher Tradition festgemacht werden können“ (Habermas 1971, 306 [Hervh. i.O.]), zu bescheinigen. Indem Habermas so „den normativen Theorieüberbau renovierte“ (Henning 2005, 354), bot er einer selbstbezüglichen Sozialphilosophie ein flexibles, da formales und inhaltlich unterbestimmtes Begriffsinstrumentarium. Sieht man das primäre Bezugsproblem kritischer Theorie in der Selbstvergewisserung über ihre eigene Universalität, ist dies anschlussfähig. Es ist allerdings eine andere Frage, was diese Gesellschaftstheorie zur Erklärung konkreter Phänomene leistet und im Bezug auf was und inwiefern sie eigentlich kritisch ist. Habermas kritisiert an den Arbeiten Horkheimers und Adornos zu Recht einen ‚Pseudonormativismus‘, der bevorzugt dann aktiviert wurde, wenn Aussagen durch empirische oder analytische Argumente nicht gedeckt waren, worin Albert im Positivismusstreit eine Ausflucht in einen methodischen „Irrationalismus“ (Albert 1969, 339) sah. Dieses Problem hätte jedoch auch durch eine Verbesserung des gesellschaftsanalytischen Begründungszusammenhangs der Kritik angegangen werden können. Gerade dies tat Habermas nicht, er tauschte vielmehr in der gesellschaftstheoretischen ‚Basis‘ die Kritik der politischen Ökonomie gegen einen Mix aus neoklassischer Ökonomie und Systemfunktionalismus aus.14 Für letzteres bezog er sich nicht auf Luhmanns kontingenztheoretisch gewitzte Variante, sondern auf Parsons’ teleologischen Strukturfunktionalismus. Als Gesellschaftsanalyse nahm die ‚kritische Theorie‘ so eine Variante des Funktionalismus in sich auf, die gegenüber dem Zusammenhang von Rechtsstaat und Kapitalismus, der hier als das der ‚Conditio Humana‘ am besten adaptierte funktionale Optimum gilt, theorieimmanent nicht kritisch sein kann (vgl. Stark 2003; s.u. 4.3). Nachdem im gesellschaftsanalytischen Unterbau der Theorie ein systemkritisches Modell gegen ein Modell mit systemaffirmativen Implikationen ausgewechselt ist, kann die ‚kritische Theorie‘ auf der funktionalistischen Argumentationsebene die immanenten Struktur- und Funktionsprinzipien moderner kapitalistischer Gesellschaften nicht mehr kritisieren.15 Schließlich hat der „systemische Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaft und moderner Staatsverwaltung“ in sich „evolutionären Eigenwert“ (Habermas 1995, Bd. 2, 499 [Hervh. i.O.]), da in ihm jeder „Autoritätsanspruch reflexiv gebrochen und kommunikativ verflüssigt“ werde (ebd., 507) und sich nur hier, „auf einer Basis, die aus Klassenschranken hervorgetreten[!] ist […,] das Potential eines freigesetzten kulturellen Pluralismus voll entfalten kann“ (Habermas 1992, 374).16

14 Vgl. zu den Stufen der Marx-Verdrängung in der kritischen Theorie ausführlich auch: Henning 2005, 343-410. 15 Vgl. Habermas 1995, Bd. 1, 295-444. Er verwahrt sich gegen Entwürfe eines „keimfreien, von Sozialpathologien gereinigten Bildes entwickelter kapitalistischer Gesellschaften“, das der Spannung von System und Lebenswelt nicht gerecht wird (ebd., 443f.), übernimmt es aber in der Beschreibung der Funktionssysteme. Pathologien haben nichts mit systemimmanenten Logiken zu tun, sondern nur mit Reibungen von System und Lebenswelt. 16 „Der Kapitalismus hat zum ersten Mal die Einlösung des republikanischen Versprechens der gleichberechtigten Inklusion aller Bürger […] ermöglicht“; zumindest „wenn wir den Text[!] unserer Verfassung in diesem materiellen[!] Sinn der Verwirklichung[!] einer sozial gerechten Gesellschaft verstehen“ (Habermas 1999, 426ff.). Hier verschwimmen die Ebenen von Text, Interpretation und realen Verhältnissen vollständig, so dass die ‚kritische

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Kritik kann nun nur noch dort ansetzen, wo Konflikte an „Nahtstellen von System und Lebenswelt“ (Habermas 1995, Bd. 2, 581) entstehen, d.h. wo instrumentelle, funktionale Steuerungsfunktionen in einen (von diesen als frei imaginierten) kommunikativen Zusammenhang eingreifen. Da im Falle der „materiellen Reproduktion“ der Rückzug der Lebenswelt und die Delegierung der Funktionen an ausdifferenzierte „mediengesteuerte Handlungssysteme schmerzlos abgehen kann“ (ebd., 549),17 richtet sich das nicht gegen Auswirkungen der kapitalistischen Ökonomie, sondern gegen Auswüchse sozialstaatlicher Fürsorge, die die Freiheit der Betroffenen gefährde, sowie gegen die rechtliche Gleichstellung der Frauen, die auf instrumentellem Wege in die ‚kommunikative Infrastruktur‘ familiärer Aushandlungsprozesse eingreift, was die symbolische Reproduktion der Lebenswelt störe (vgl. ebd., 530-547). Angesichts dieser Bedrohung bürgerlicher Ideale und der bürgerlichen Familie ist es das Ziel der ‚kritischen Theorie‘, „sich der normativen Gehalte der bürgerlichen Kultur […] zu versichern“, was „nicht mehr auf indirektem Weg, nämlich ideologiekritisch“ geschehen darf, sondern „wiederum systematische Aufgabe“ der „Philosophie“ wird (ebd., 583f.). Damit hat die ‚kritische Theorie‘ den letzten marxschen Ballast, die wissenssoziologische Erkenntniskritik, abgeworfen und kann sich, so gereinigt, ganz der „Selbstbezüglichkeit ihres Geschäfts inne“ werden (ebd., 590). Die „Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie“ (ebd., 548ff.), den normativen Gehalten der bürgerlichen Kultur nebst deren irdischer Gestalt in Deutschland die Geltung aus universellen Vernunftgründen nachzuweisen, hatte zunächst die Kommunikationsphilosophie wahrgenommen, die sich ihres „vernünftigen Gehalts“ aus „anthropologisch tiefsitzenden Strukturen in einer […] unhistorisch ansetzenden Analyse vergewissern“ (ebd., 561f.) konnte. Das knüpfte an die Tradition bürgerlicher Legitimationsphilosophien an, die geltende Ordnung und die sie rechtfertigenden Werte noch einmal im ‚Menschen‘ letztzufundieren, kleidet sie aber ins neue Gewand einer Intersubjektivitätsmetaphysik. Faktizität und Geltung überführte dies dann in eine rechtsphilosophisch-verfahrenstheoretische Begründung des bürgerlichen Verfassungsstaates, in dem die ‚normativen Gehalte‘ der Kommunikationsphilosophie aufgehoben seien.18

Theorie‘ aus freier Textinterpretation direkt ‚gesellschaftliche Wirklichkeit‘ ableitet. Da die Verfassung nicht von Klassen spricht, hat auch die Gesellschaft ihre Klassenstruktur abgestreift (vgl. auch Habermas 1992, 374f. & 104ff.). 17 Die Diagnose mag angesichts der krisenhaften Erscheinungen der Frühphase der kapitalistischen Ökonomie, die Habermas ja selbst schildert, zunächst überraschen, ist aber in den normativen Grundannahmen universell begründet: Da „die Befriedigung des Hungers“, anders als „die Errichtung der Freiheit“, keine „moralische Kategorie“ (Habermas 1970, 122) ist und leibliche Misslichkeiten die Dignität der freien und gleichen Teilhaber kommunikativer Praktiken nicht berühren, ist selbst drastische Verelendung ‚schmerzlos‘ zu verkraften, da sie die kommunikative Infrastruktur der Lebenswelt nicht direkt angeht und so eine rein „äußere Not“ bleibt, während sozialstaatliche Maßnahmen zur Behebung äußerer Misslichkeiten den inneren Kern der „symbolischen Reproduktion der Lebenswelt“ angreifen und daher zur „inneren Not“ werden (Habermas 1995, Bd. 2, 513). 18 Ausgehend von der bundesdeutschen Variante einer verfassungsstaatlichen Repräsentativdemokratie wird eine „Metaphysik der Versöhnung“ (Habermas 1995, Bd. 1, 518 [Hervh. i.O.]) auch für die Spannung der Schubladenbegriffe System und Lebenswelt formuliert. Indem das Recht als „Transmissionsriemen“ (Habermas 1992, 102, vgl. ebd., 108 & 662) zwischen beide Instanzen geschaltet wird, vermittelt es zwischen der normativistisch ver-

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Als Schlussstein der ‚kritischen Gesellschaftstheorie‘ schlug diese „transzendentale Deduktion der Bundesrepublik“ (Henning 2005, 453) den Bogen hinter die Anfänge der Gesellschaftstheorie zurück. Begann der studierte Jurist Marx in der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie seine gesellschaftstheoretischen Analysen mit dem Argument, dass Rechtsformen weder aus sich selbst noch aus einer Idee zu verstehen seien, sondern nur aus historisch-konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. MEW 1, 203-333; MEW 13, 8), beendet Habermas (1992) sein kritisches Geschäft mit der Kritik dieses ‚Reduktionismus‘19 und der Reformulierung einer rechtsphilosophischen Metabegründung. Enthielt aber Hegels Rechtsphilosophie mit dem System der Bedürfnisse eine gesellschaftsanalytische Dimension,20 transzendiert Habermas sich über alles hinweg, was an den rechtlichen Formen an konkrete gesellschaftlich-ökonomische Inhalte erinnern könnte, um sich der Reinheit ihrer normativen Gehalte zu versichern.21 Kehrt die ‚kritische Gesellschaftstheorie‘ so gesellschaftstheoretisch hinter Hegel zurück, muss ihr ‚kritischer‘ Gehalt hinter Kants Kritik der praktischen Vernunft zurückgehen. Dort sollten prozessuale, sinnkategoriale Krite-

kürzten Lebenswelt und der funktionalistisch verkürzten Systemrationalität. Die Lebenswelt wird so von der Aushandlung der Geltungsgründe „entlastet“. Da das „entschränkte kommunikative Handeln die ihm zufallende Bürde sozialer Integration weder abwälzen noch ernstlich tragen kann“, ist das Recht „ein plausibler Ausweg aus der Sackgasse“ (ebd., 56). Als instrumentelles „Zwangsrechts“ (ebd., 51) garantiert es die Ordnung auch ohne Diskurs, hat aber vermittelt an der „Idee“ kommunikativer Rationalität teil (vgl. Habermas 1992, 146; 1999, 426ff.). Schließlich haben sich die Bürger (laut einiger Staatsrechtsphilosophien) selbst ihre Verfassung gegeben, mit der die legislativen Akte kompatibel bleiben. Dies garantiert, dass die Individuen, obwohl in der Faktizität ohne Einfluss, sich hinsichtlich der Geltung als Autoren des Rechts „verstehen dürfen“ (Habermas 1992, 52). Da so jeder das Recht so verstehen darf, als hätte er ihm zugestimmt, ist es normativ begründet, denn „[g]ültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ (ebd., 138 [Hervh. i.O.]). So hat alles, was seit 1949 nach geltenden Verfahrensregeln Recht war, ist und sein wird auch Geltungsgründe in der kommunikativen Vernunft. Habermas verhält sich hier weitgehend parasitär zu Luhmanns (1983) Legitimation durch Verfahren. Was dort aber nur die funktionale Analyse eine Prozesslogik war, wird hier normativ eingehüllt. 19 Die Marxkritik reduziert sich darauf, dass Marx das Recht zum „bloßen Schein“ herabwürdige (Habermas 1992, 66). Das ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Das Recht gehört, als Verkehrsform der unmittelbaren Produktionsverhältnisse, zur ‚ökonomischen Basis‘ und die Verallgemeinerung bürgerlicher Rechte, für die Marx praktisch engagiert eintrat, kann politisch sehr reale emanzipatorische Effekte haben. Marx’ soziologisches Argument war aber, dass all dies nicht unabhängig ist von den gesellschaftlichen Inhalten und Funktionen der Rechtsformen und den sozialen und politischen Kämpfen, in denen sie durchgesetzt werden (vgl. MEW 23, 299; s.u. V.3). 20 Es fehlt damit auch das, was Hegel (vgl. 1995, v.a. 339-390) als höchsten Ausdruck der Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Marktgesellschaft und als einen Grund für die Notwendigkeit des Staates als diese Gesellschaft zusammenhaltendes und integrierendes Ganzes schilderte. 21 Nach Habermas haben sich selbst die „liberalen Rechte […] nur historisch[!] […] um die gesellschaftliche Stellung der privaten Eigentümer kristallisiert“ (Habermas 1992, 104f.). Eigentumsverhältnisse erscheinen hier nur als Eintrittspunkt eines von ihnen unbedingten normativen Gehalts in die Welt. Da das normativ fundierte Recht von seiner Verschränkung mit ökonomischen und staatlich administrativen Zusammenhängen unabhängig sein soll (vgl. ebd., 100), tauchen konkrete Fragen des Eigentums-, Vertrags-, Erb- und Familienrechts (immerhin Kerninhalte des BGB) kaum auf. Im Zentrum stehen die ‚reinen‘ Sphären allgemeiner Staatsbürgerrechte (vgl. u.a. ebd., 101-112).

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rien die Kritik je empirisch-kulturell gegebener Handlungsmaximen ermöglichen. Der kategorische Imperativ musste inhaltlich unterbestimmt sein, da er nicht der Begründung ‚normativer Gehalte‘ diente, sondern der Bestimmung von Minimalkriterien, die der Vernunft „als Richtschnur zur Kritik alles[!] ihres Gebrauchs“ (Kant 1977, 120) innewohnen. Dieses kritisch-reflexive Verhältnis sollte helfen, „die empirisch-bedingte Vernunft von der Anmaßung[!] abzuhalten, ausschließlicherweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen“ (ebd., 120f.). Wurde so ein kritisches Verhältnis zur je empirisch bedingten (d.h. gesellschaftlich-kulturellen) Vernunft begründet, will Habermas (1995, Bd. 2, 583) den „normativen Gehalten der bürgerlichen Kultur“, also einer empirisch vorgefundenen Vernunft, universelle Geltung bescheinigen. Entsprechend wird jeder Versuch, diese empirisch bedingte Vernunft einer historisch-soziologischen Analyse zu unterziehen, als „Irrationalismus“ abgewiesen (vgl. Habermas 1988a, 279-343). Nachkantianische Kritiken gelten als Ausdruck einer „Gegenaufklärung“ (ebd., 13), „die die mit sich selbst zerfallende Moderne ihres vernünftigen Gehalts und ihrer Zukunftsperspektiven beraubt“ (Habermas, 1995, Bd. 2, 583). Wo Habermas (1988a) aber die Kritik historischer Vernunftformen, von den Linkshegelianern und Marx über Nietzsche, Horkheimer und Adorno bis zur letzten ‚Verfallsform‘ in Foucaults „Scheinwissenschaft“ (ebd., 324), die sich in ein „paradoxes Unternehmen“ der „vernunftkritischen Geschichtsschreibung“ (ebd., 292f.) hineinsteigere, als Degenerationsstufen der Gegenaufklärung abweist, wird die Permanenz der Kritik, mit der Kant „das vernunftgeschichtliche Drama“ an der „Schwelle zur Moderne“ eröffnete (ebd., 285), in einer rückhaltlosen Affirmation der bestehenden Wertordnung und der ihr zugrunde liegenden Gesellschaftsformation still gestellt (vgl. ebd., 390-425). Habermas antizipiert, dass „eine derart affirmative Rolle der Philosophie“ leicht „metaphilosophischen Bedenken gegen Ursprungs- und Letztbegründungstheorien verfallen“ könnte (ebd., 586). Daher wird eine „indirekt vorgenommene Überprüfung“ gestattet, allerdings nur, wo die Konstruktionen „allgemeiner und notwendiger Präsuppositionen des verständigungsorientierten Handelns […] in empirische Theorien eingehen, die andere Phänomene erklären sollen“. Dabei müsse die „Kohärenz“ gewahrt bleiben, denn „die Theorien, ob sozialwissenschaftlicher oder philosophischer Herkunft, müssen zueinander passen; sonst rückt eine die andere in ein problematisches Licht“ (ebd., 587f.). Positionen, die die angebotenen Präsuppositionen nicht übernehmen, können vor diesem scholastischen, dezidiert vormodernen Wissenschaftsverständnis erst am Sanktnimmerleinstag Gehör finden: „Der Testfall einer Theorie der Rationalität, mit der sich das moderne Weltverständnis seiner Universalität versichern möchte, träte allerdings erst dann ein, wenn sich die opaken Gestalten des mythischen Denkens lichten“ und sich „die bizarren Äußerungen fremder Kulturen aufklären […] ließen“ (ebd., 588). Auch dann aber behält sich das moderne Weltverständnis, das sich in der ‚kritischen Theorie‘ seiner Universalität versichert, die Schiedsgewalt vor, denn die ‚fremden Kulturen‘ werden sich vor ihm zu erklären haben „und zwar so […,] daß wir nicht nur die Lernprozesse begriffen, die ‚uns‘ von ‚ihnen‘ trennen, sondern daß wir uns auch dessen inne würden, was wir im Zuge unserer Lernprozesse verlernt haben.“ (Ebd., 588 [Hervh. i.O.] Wo das sich im majestätischen Plural auslegende moderne Weltverständnis sich aber inne würde, dass es in all seiner Universalität etwas ‚verlernt‘ hat – und die „Gesellschaftstheorie“ will

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„diese Möglichkeit […] nicht a priori ausschließen“ – dort wird es „also für Selbstkritik[!] offen sein“ (ebd.). Zu den ‚bizarren Äußerungen fremder Kulturen‘ gehört wohl auch die von Bachelard und Canguilhem sowie von Marx beeinflusste französische Tradition einer kritischen Epistemologie, in der Bourdieu und Foucault stehen. Letzterem warf Habermas (vgl. 1988a, 279-343) ja Mystizismus, Irrationalismus, Kryptonormativismus etc. vor. Die sekundäre Zweckmäßigkeit der universalistischen Kommunikationsund Rechtsmetaphysik lag darin, dass jedes Ansinnen einer kritischen Gesellschaftstheorie am Frankfurter Gerichtshof der ‚kommunikativen Vernunft‘ bis zur Aufklärung der ‚normativen Fundamente‘ abschlägig beschieden werden konnte. Nun traf es zu, dass Foucaults wie Bourdieus Analysen ‚normative Fundamente‘ schuldig blieben und dasselbe lässt sich von Marx sagen: „Für Marx’ Strukturalismus haben Normen keinen explanatorischen Wert: die gesellschaftlich relevanten Bezugsgrößen sind soziale und ökonomische Klassen“, deren Beziehungen und Handlungen durch objektive, gesellschaftliche Zwänge bedingt werden, die „nicht primär moralisch sind“ (Henning 2005, 439 [Hervh. i.O.]). Da diese Theorie „nicht als ‚normative‘ konzipiert“ war, „ist auch die Suche nach höherstufigen normativen Begründungen dafür sehr einfach: es gibt sie nicht“ (ebd., 429). Zu klären wäre die Frage, ob das Fehlen normativer Begründung eine kritische Gesellschaftstheorie tatsächlich verunmöglicht, oder ob es ein anderes, keine metaphysische Zusatzkonstruktion universeller Geltung voraussetzendes Verständnis von Kritik gibt, das Habermas’ ‚kritische Theorie‘ im Laufe ihrer Lernprozesse verlernt hat.

4.1.2 Postnormative Formen der Kritik „[V]on natürlicher Gerechtigkeit hier [im Bezug auf ökonomische Vorgänge, T.H.] zu reden, ist Unsinn. Die Gerechtigkeit der Transaktionen, die zwischen den Produktionsagenten vorgehn, beruht darauf, daß diese Transaktionen aus den Produktionsverhältnissen als natürliche Konsequenz entspringen. Die juristischen Formen […], können als bloße Formen diesen Inhalt selbst nicht bestimmen. Sie drücken ihn nur aus. Dieser Inhalt ist gerecht, sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist.“ KARL MARX (MEW 25, 352f.)

Man könnte die von Habermas’ Kritikverständnis abweichende Form der Kritik bei Marx, Foucault und Bourdieu zunächst als ‚postnormativ‘ kennzeichnen. Die inflationär gebrauchten Post-Begriffe sind zwar eine Plage der gegenwärtigen Sozialwissenschaften, haben aber den Vorteil zu markieren, dass sie sich von dem mit dem Präfix ‚post‘ versehenen Begriff in deutlicher Hinsicht unterscheiden, gleichzeitig aber in einem für ihre eigene Bestimmung konstitutiven Verhältnis zu diesem stehen. ‚Postnormative‘ Kritik meint also zunächst, dass diese Form von Kritik normative Kritiken in mehrfacher Hinsicht als Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzt, aber zugleich nur auf der Grundlage eines Bruchs mit normativen Argumentationsstrategien möglich wird. Vorausgesetzt ist die normative Kritik zunächst, da sie weit älter

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als etwa die ‚Erkenntniskritik‘ des 18. Jahrhunderts ist, an die das, was hier als ‚postnormative Kritik‘ bezeichnet wird, in mehrfacher Hinsicht anschließt.22 Andererseits sind auch Sozialwissenschaftler vergesellschaftete Individuen und als solche von sozialen Wertvorstellungen der Gesellschaft affiziert, und das bleibt in der Wahl der Profession wie der Forschungsgegenstände nicht ohne Einfluss.23 Das Präfix ‚post‘ rechtfertigt sich dadurch, dass die hier interessierenden Ansätze davon ausgehen, dass eine normative Kritik, die ihrer Darstellung „das moralische Geschwätz [...], den guten Willen, die humanistische Nettigkeit“ zugrunde legt, das größte Hindernis für jenen „distanzierten Blick auf die Realität“ (Bourdieu 1991, 274) bildet, der vorausgesetzt werden muss, damit die als kritisch verstandene Wissenschaft nicht nur Unbehagen oder Ablehnung ausdrückt, sondern ein positives Wissen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, über ihre Genese und die sie bestimmenden Wirkungszusammenhänge verfügbar macht. Als Hindernis erscheint die normative Kritik, weil sie die Kategorien, die sie in ihrem Gegenstandsbereich vorfindet, unreflektiert verwendet, also den von Marx, Bourdieu und Foucault geforderten ‚epistemologischen Bruch‘ nicht vollzieht und so das gesellschaftliche Vorwissen reproduziert statt es zu analysieren (s.o. 3.4). Dieser Bruch ist insbesondere dann notwendig, wenn die Normen und Werte selbst nur als ein Moment jener gesellschaftlichen Zusammenhänge gelten, die einer kritischen Analyse unterzogen werden sollen. Bereits Marx ging davon aus, dass die bürgerlichen Freiheits-, Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen ein ideeller Ausdruck der bürgerlichen Produktions- und Austauschverhältnisse sind, der zugleich die Funktion hat, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verschleiern und zu legitimieren (vgl. MEW 42, 170ff.; s.u. 4.3). Dieses Verständnis der Normen und Wertesysteme als ein nicht nur historisch bedingtes, sondern zugleich funktionales Moment eines zu analysierenden gesellschaftlichen Zusammenhangs teilen auch Bourdieu und Foucault. Bourdieu betont etwa, dass eine Forschung, die „das System der verborgenen Relationen zwischen dem Bildungssystem und dem System der sozialen Klassen“ untersucht, sich nicht „für irgendeine Vorstellung von Chancengleichheit ent-

22 Bereits bei Aristoteles fand sich die doppelte Bedeutung der Kritik als Unterscheidungskraft, die erkenntnistheoretische Implikationen hat, und der Kritik als Fähigkeit zu praktischem, ethischem Urteilen, die ein Wissen über das normativ Angemessene voraussetzt, was in späteren philosophischen Verwendungen des Begriffs stets mitgeführt wurde (vgl. Tonelli/v. Bormann 1974, 1249ff.) Demgegenüber blieben die auf Staat, Regierung, Gesellschaft bezogenen Kritikformen seit dem 17. Jahrhundert primär auf als authentisch, unbedingt und universell gedachte ‚normative Fundamente‘ im Sinne von Habermas bezogen, sei es die heilige Schrift im Protestantismus oder ‚der Mensch‘ in Naturrechtslehre und politischer Ökonomie (vgl. Foucault 1992, 12ff.). 23 An den hier behandelten Positionen sind solche Einflüsse erkennbar: Foucaults Unbehagen am ‚geschwätzigen Diskurs‘ der Psychiatrie war ein Anlass für Wahnsinn und Gesellschaft und Überwachen und Strafen ist verknüpft mit seiner Aktivität in der Gruppe ‚GefängnisInformation‘ (vgl. Eribon 1991, 76-122 & 318-375). Bourdieu (vgl. 1987, 8ff.; 2002a, 4575) gab Erfahrungen in Algerien oder mit dem französischen Bildungssystem als einen Hintergrund seiner Forschung an. Marx’ Studium der Ökonomie war nicht nur theoretisch motiviert, sondern auch aus einer Parteinahme. All dies ist nicht unabhängig von normativen Urteilen, die Frage ist, ob die Analyse von ihnen geleitet ist und ob sich Kritik auf Normen beruft. Dazu Bourdieu (1991b): „Man macht nicht Soziologie, […] wenn man mit den Leidenden leidet. Man muß den Mut haben, zu all dem Nein zu sagen.“ (Ebd., 274)

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scheiden“ müsse, sondern wissen sollte, dass „diese Vorstellungen […] ebenfalls kulturell und historisch bedingt sind und ihre ideologische Funktion mit der Beschaffenheit der Relationen variiert“, die es zu analysieren gilt (Bourdieu/Passeron 1971, 15). Ebenso sah Foucault es als erste Bedingung einer kritischen Analyse an, die vermeintlich universellen normativen Maßstäbe auf ihre historische Genese und ihre gesellschaftlichen Funktionen hin zu hinterfragen.24 Marx kritisierte daher an früheren sozialistischen Theorien, dass sie nur einzelne Elemente des gesellschaftlichen Zusammenhangs normativ beurteilten, die Beziehungen dieser Elemente untereinander, die ihnen erst Sinn und Funktion verleihen, einschließlich der Stellung und Funktion der Wertvorstellungen, nicht begreifen und sich so auch nicht reflexiv zu ihnen verhalten konnten.25 Ähnlich begründete Foucault seinen Bruch mit jenen Diskursen, die normativ zur Befreiung ‚des Menschen‘ oder ‚der Sexualität‘ aufriefen und dabei nicht verstünden, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen die Referenzpunkte ihrer normativen Kritik konstruiert und produziert werden.26 Bourdieu schließlich setzte den normativen Forderungen nach ‚Chancengleichheit‘ Analysen entgegen, die auch zeigten, wie die Norm der ‚Chancengleichheit‘ als notwendige Illusion in den gesellschaftlichen Reproduktions- und Legitimationsprozessen fungiert und welche ökonomischen und politischen Ursachen und Konsequenzen die Forderung nach ‚Chancengleichheit‘ in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen der 1960er und 70er Jahre hatte (vgl. Bourdieu/Passeron 1971 & 1973; Bourdieu 1999, 221-276; s.u. V.3). In diesem Sinne meint ‚postnormative Kritik‘ auch, dass es sich um eine Kritik handelt, die vorgefundene Normen und normative Kritiken erst post-factum als Teil ihres Gegenstandes untersucht, so dass die Kritik den Normen auch zeitlich nachgeordnet ist. Aufgabe einer kritischen Wissenschaft ist es in diesem Verständnis nicht, neue normative Urteile zu fällen oder zu begründen, sondern im Sinne einer historischen oder soziologischen Erkenntniskritik die gesellschaftlichen Bedingungen und Funktionen vorhandener Normen und Werturteile aufzuklären. Als Objekt der Analyse werden die Normen und Werte dabei „als ‚seiend‘, nicht als ‚gültig‘, behandelt“ (Weber 1968, 530f.). Mit allen ‚Post-Begriffen‘ teilt der Begriff einer ‚post-normativen Kritik‘ natürlich das Problem, dass er zunächst nur diffus eine Bedeutungsverschiebung im Verhältnis zum Bezugsbegriff anzeigt, ohne eine positive Definition zu bieten.27 Auch um ein besseres Verständnis der späteren, gegenstandsbezogenen Teile dieser Arbeit zu ermöglichen, ist es unumgänglich, eine positive Bestimmung der Gemeinsamkeiten in den Formen und Verständnissen von Kritik in den verschiedenen Ansätzen von Marx, Foucault und Bourdieu aufzuzeigen. Dies kann sich nicht auf konzise Selbstdarstellungen der jeweiligen Kritiken, sehr wohl aber auf eine Reihe von Aussagen, vor allem aber auf die in den kritischen Analysen erkennbare Form der Kritik stüt-

24 Wo „alle Regime im Osten wie im Westen ihre verdorbene Ware unter dem schützenden Dach des Humanismus feilbieten“ können, wird es unverzichtbar, „all diese Mystifikationen“ aufzulösen (Foucault 2001, 668). 25 Vgl. u.a. MEW 42, 168-175; MEW 4, 125-145 & 488f.; s.u. 4.3. 26 Vgl. Foucault 1994, 25-43, v.a. 42f.; 1983, 7-53; 1978, 179ff.; s.u. 4.4 & IV. 27 So war der als ‚postmodern‘ klassifizierte Foucault verblüfft, dass die Moderne vorbei sein soll, und ratlos, was damit gemeint sei: „Was heißt Postmoderne? Ich bin nicht auf dem Laufenden.“ (Foucault 2005, 541f.)

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zen. Im Folgenden soll zunächst approximativ skizziert werden, wie eine solche Perspektive, die hier mit dem Neologismus „kritisch-funktionale Analyse“ bezeichnet wird, definitorisch bestimmt werden kann. Dazu wird die besondere Form eines „neuen Funktionalismus“, die Deleuze (1992, 39) bei Foucault ausmachte und die sich auch bei Marx und Bourdieu finden lässt, zunächst vom Strukturfunktionalismus abgegrenzt, um dann Gemeinsamkeiten und Differenzen zum Verständnis einer „funktionalen Analyse“, wie sie Luhmann vertrat, herauszuarbeiten. Daran anschließend werden thesenartig einige Punkte angeführt, die es rechtfertigen, von einer kritisch-funktionalen Analyse zu sprechen (4.2). In den folgenden Unterkapiteln wird herausgearbeitet, inwiefern sich Ansätze einer solchen Perspektive in den Theorien von Marx (4.3), Foucault und Bourdieu (4.4) finden lassen, um abschließend (4.5) das Verhältnis von Theorie und praktischer Kritik im Selbstverständnis dieser Autoren als engagierte Wissenschaftler zu skizzieren.

4.2 D IE

KRITISCH - FUNKTIONALE POSTNORMATIVE F ORM DER

ANALYSE K RITIK

ALS

„Was hat Marx getan, als er […] auf das Problem des Arbeiterelends stieß? Er hat die übliche Erklärung abgelehnt, die aus diesem Elend die Wirkung einer natürlichen Knappheit oder eines abgekarteten Diebstahls machte. Stattdessen hat er gesagt: so wie die grundlegenden Gesetze der kapitalistischen Produktion aussehen, muß sie einfach Elend produzieren. Es ist nicht der Zweck des Kapitalismus die Arbeiter auszuhungern, aber er kann sich nicht entwickeln, ohne sie auszuhungern. Marx hat die Anklage des Diebstahls durch die Analyse der Produktion ersetzt. Mutatis mutandis ist das ungefähr das, was ich machen wollte.“ MICHEL FOUCAULT [zu Sexualität und Wahrheit Bd. 1] (1978, 180 [Hervh. i.O.])

Das einleitende Zitate zeigt ein Verständnis kritischer Wissenschaft, das sich von einer moralisierenden Kritik an ‚den Verhältnissen‘ distanziert, um stattdessen in der präzisen Objektivierung der Genese und der inneren Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse selbst eine kritische Kraft auszumachen. Für ein solches Kritikverständnis, das statt anzuklagen Analysen bereitstellt, die auch die Möglichkeiten aktiver Praxis verändern, gibt Foucault (vgl. 1978, 180) Marx’ Kritik der politischen Ökonomie als Modell an. Bourdieu bemerkte (ebenfalls mit Bezug auf Marx), dass die wissenschaftlichen „Waffen der Kritik“ nicht im Arsenal ‚normativer Gehalte‘ zu suchen sind, sondern im methodischen und analytischen Rüstzeug. Normativ ließen sich etwa viele „Banalitäten“ über „die Familie“ formulieren (z.B. als Repressionsinstanz), aber vielleicht läge eine „wirklich radikale Kritik“ darin, dass „man Verwandtschaftsstrukturen analysiert“ oder die „Kräfteverhältnisse zwischen den Generationen“ (Bourdieu 1992a, 42f.). Als ‚Waffe der Kritik‘ gilt hier eine solide wissenschaftliche Arbeit, die, statt moralisch über einen Gegenstand zu befinden, „durch die Darstellung [die] Kritik desselben“ vollzieht (MEW 29, 550; vgl. Bourdieu/Passeron

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1971, 15). Auch die praktisch-kritischen Potenziale der Wissenschaft liegen nicht in Werturteilen die einzelne Wissenschaftler formulieren mögen, sondern darin, dass „eine exakte theoretische Analyse der Funktionsweise ökonomischer, politischer und ideologischer Strukturen“ Voraussetzungen eines „politischen Handelns“ schafft, das „an Strukturen ansetzt und sie […] umstürzen oder transformieren soll“ (Foucault 2001, 836). Ähnlich kann nach Bourdieu (1996) soziologische Analyse „realistische Mittel anbieten, um den der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegen zu wirken. Und wer das deterministisch nennt, sollte sich eines in Erinnerung rufen: Das Gesetz der Schwerkraft musste erst kennen, wer Flugmaschinen baute, die eben dieses Gesetz wirksam überwinden.“ (Ebd., 70) Den auf dieser Grundlage artikulierten kritischen Perspektiven fehlen die Substantive eines moralischen (Besser-)Wissens – ‚Gleichheit‘, ‚Freiheit‘, ‚Gerechtigkeit‘ oder ‚Mensch‘, ‚Menschlichkeit‘ und ‚Menschheit‘ – ebenso wie wertende Adjektive oder utopische Entwürfe der ‚guten‘ Gesellschaft. Stattdessen ist in der Kritik, die einige Werke programmatisch im Titel tragen, von ‚Mechanismen‘, ‚Strukturen‘, ‚Elementen‘, ‚Funktion‘ oder „funktionalen und methodischen Ensembles“ (Foucault 1978, 60f.), ‚Prozess‘, ‚Zirkulation‘, ‚Kreislauf‘, ‚Reproduktion‘ etc. die Rede. Insofern ist das kritische Wissen hier kein moralisches, sondern ein analytisches Wissen über Funktionsprozesse und über die ihnen zugrunde liegende strukturierten gesellschaftlichen Beziehungen. In der Rezeption blieb der ‚heimliche Funktionalismus‘ solcher Sprachfiguren nicht unbemerkt, galt aber meist als eklatanter Widerspruch zur kritischen Intention der Autoren.28 Tatsächlich wäre nach einem verbreiteten Verständnis von ‚Funktionalismus‘ die Wortfolge ‚kritischer Funktionalismus‘ ein Oxymoron, wird doch mit diesem Begriff eine theoretische Sicht verbunden, die gesellschaftliche Phänomene entweder aus einer vorausgesetzten prästabilierten Funktionslogik deduziert oder Geschichte als Prozess ansieht, in dem ‚die Gesellschaft‘ durch Anpassung an quasinatürliche Funktionserfordernisse „evolutionäre Universalien“ (Parsons 1971) ausbildet, um sich teleologisch dem Finalzustand eines funktionalen Optimums zu nähern.29 Nach Stark (2003, 220ff.) können so verstandene funktionalistische Ansätze methodologisch nicht kritisch sein, da sie als fundamental gesetzte Funktionsprinzipien als überhistorische, in der Grundstruktur menschlichen Handelns angelegte Universalien bestimmen, denen sich Gesellschaften in einem selbstläufigen evolutiven 28 Vgl. zum ‚Funktionalismus‘ Bourdieus und Foucaults Reckwitz 2003a, 69f.; Miller 1989; Honneth 1989, 196-223; 1999, 80ff.; Biebricher 2005, 135ff.; Elster 1983, 102ff. Als einziger der mir bekannten Autoren hat Deleuze (vgl. 1992, 39f.) auf den kritischen Charakter dieses ‚Funktionalismus‘ verwiesen. 29 Parsons (1970) sah sein AGIL-Schema fundiert „in the essential nature of living systems in all levels of [...] evolutionary development, from the unicellular organism, to the highest human civilization” (ebd., 26). Vgl. zur Orientierung an der Biologie: Münch 2003; kritisch: Stark 2003, 225f. Indem Evolution als Prozess der Adaption an diese als universell vorausgesetzte Grundstruktur gilt, scheint Geschichte eine notwendige Richtung und einen Endpunkt in der optimalen (funktionellen) Anpassung an diese Strukturvorgabe zu haben. Eine radikale Ausprägung bietet Fukuyama (1992). Stark (2003) sieht eine (explizite oder implizite) Teleologie jedoch als „Notwendigkeit jeder funktionalistischen Gesellschaftstheorie [...]. Das Ende der Geschichte ist erreicht, wenn sich der [...] empirische Status der Gesellschaft den erkenntnistheoretisch gesetzten Funktionserfordernissen […] angeglichen hat.“ (Ebd., 221)

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Prozess annähern. Indem so grundlegende Entwicklungsprinzipien „dem sozialen Handlungsraum entzogen“ werden, erscheint Geschichte „als Verwirklichung eines höheren Prinzips“ (ebd., 244). Da zentrale theoretische Kategorien zudem mit der definitorischen Bestimmung der (westlichen) „Moderne“ zusammenfallen, ist diese einer prinzipiellen Kritik nicht mehr zugänglich: In der Teleologie der „Conditio Humana“ kann es keine „vernünftigere (funktionalere) Gesellschaftsordnung geben als die der Moderne“, die „den natürlichen Voraussetzungen menschlichen Handelns am besten angepasst“ ist (ebd., 234). Auf solche teleologischen Narrative, die an verschiedenen Varianten des Strukturfunktionalismus kritisiert wurden,30 bezog sich auch der Vorwurf, die Analysen Foucaults oder Bourdieus müssten, indem sie „insgeheim auf ähnlichen funktionalistischen Elementen“ (Reckwitz 2003a, 61) aufbauen, ihre kritischen Intention ad absurdum zu führen (vgl. Honneth 1989, 196-223). Letztlich läge die Differenz zu Parsons nur in den unterschiedlichen Wertungen, insofern der eine die funktionale Teleologie als „wohlwollende“, die anderen sie als „maliziöse“ beschrieben (Reckwitz 2003a, 60 [Hervh. i.O.]), wobei sie aber dem gleichen Funktionalismus der Schilderung eines unausweichlichen „Systemprozesses“ (Honneth 1989, 216) verpflichtet blieben. Gegenüber solchen Einwänden wird hier die These vertreten, dass das verbindende Element und die Grundlage der kritischen Methoden bei Marx, Foucault und Bourdieu gerade in einer besonderen Form funktionaler Analyse liegt, die vom von Reckwitz oder Honneth unterstellten ‚teleologischen Funktionalismus‘ nicht durch die impliziten Werturteile, sondern durch explizite Theoriedispositionen grundlegend verschieden ist. Mit der Kritik an Anthropologisierung und Naturalisierung, dem die Kontingenz, Ungerichtetheit und Diskontinuität historischer Verläufe betonenden Geschichtsverständnis und der Vermeidung einer Trennung der ‚Sachdimension‘ funktionaler Zusammenhänge von der Sozialdimension der Konflikte und Kämpfe (s.o. 3.4.3), wird jeder funktionalistischen Teleologie und jeder ‚Erklärung‘ der Funktionserfordernisse einer gegebenen Gesellschaft aus ‚allgemeinen Prinzipen‘ die Grundlage entzogen. Zugleich werden (gegen die funktionalistische Orientierung an harmonischen Gleichgewichtsmodellen) Ungleichgewichte, Widersprüche und damit Konfliktdynamiken und Veränderungspotenziale als unhintergehbares Moment funktionaler Zusammenhänge analysiert. Auf dieser Grundlage ist gerade die Objektivierung der für eine bestimmte Form der Vergesellschaftung funktionalen Mechanismen – ohne die keine Analyse gesell-

30 Vgl. etwa schon die Kritik bei Dahrendorf 1967. Tatsächlich gilt es Strukturfunktionalisten wie Richard Münch als „zwangsläufige Konsequenz“ (ihrer anthropologischen Prämissen), „dass die moderne westliche Kultur die Herrschaft über die ganze Welt angetreten hat“ (Münch 1991, 294; vgl. 2003, 21f. & 34). Luhmann karikierte die optimistische Teleologie von Parsons’ Soziologie: „Sie copiert geradezu die Story des amerikanischen Films: daß der Gute es zwar schwer hat, an allen möglichen Widerwärtigkeiten fast scheitert, aber am Ende doch mit einem glänzenden neuen Auto vorfahren kann und den verdienten Kuss erhält. Parsons selbst war es offenbar nie in den Sinn gekommen, daß die L-Funktion an der Spitze der kybernetischen Hierarchie vom Teufel besetzt sein könnte.“ (Luhmann 1998, 1130) Allerdings kritisiert Stark (2003), dass auch bei Luhmann die allgemeine Theorie des Sozialen mit der „Kennzeichnung der Moderne und ihrer Differenzierungsform“ zusammenfällt (ebd., 237). Funktionale Differenzierung gilt zwar nicht als naturnotwendig, entspricht aber am besten den systemtheoretischen Prinzipien.

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schaftlicher Zusammenhänge auskommt31 – aufs engste mit einer spezifischen Form von Kritik verzahnt. Kritik wird dabei nicht als normative Zusatzunterscheidung der Analyse hinzugefügt, so dass „offen bleiben [kann] ob die funktionale Betrachtungsweise ‚kritisch‘ gemeint ist“ (Luhmann 1998, 1125), vielmehr wird der Analyse selbst eine von der Be- oder Verurteilung des Gegenstandes unabhängige kritische Funktion zugesprochen. Diese kritische Funktion beruht auf dem, was auch Luhmann als Charakteristikum seiner sich vom teleologischen Funktionalismus distanzierenden und die Kontingenz der Genese emergenter Funktionszusammenhänge betonenden32 „funktionalen Analyse“ angibt: Sie „benutzt Relationierungen mit dem Ziel, Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen“ (Luhmann 1987, 83), was auch dazu dient, „das Vorhandene für den Seitenblick auf andere Möglichkeiten zu öffnen“ (ebd., 85). Die durch einen epistemologischen Bruch und wissenschaftliche Konstruktionsarbeit gewonnene, dem Gegenstand „inkongruente Perspektive“ macht dabei „mehr Komplexität sichtbar“, als aus der Binnenperspektive eines „konkreten Milieuwissens und der laufenden Selbsterfahrung“ beobachtbar ist. Dadurch „überfordert sie die selbstreferentielle Ordnung ihres Gegenstandes. Sie untergräbt seine intuitive Evidenz. Sie irritiert, verunsichert, stört und zerstört möglicherweise, wenn die natürliche Lethargie ihren Gegenstand nicht ausreichend schützt“ (ebd., 88 [Hervh. T.H.]). Das gilt besonders, wenn Analysen „über ‚latente‘ Strukturen und Funktionen aufklären“, also „Relationen behandeln, die für das Objektsystem nicht sichtbar sind und vielleicht auch nicht sichtbar gemacht werden können, weil die Latenz selbst eine Funktion hat“ (ebd., 89). Was bei Luhmann wie ein, an ähnliche Formulierungen Gehlens erinnernder,33 Beipackzettel ‚Zu Risiken und Nebenwirkungen funktionaler Analyse‘ mit besonderer Warnung vor den „toxischen“ und „zersetzenden“ Qualitäten einer Beobachtung zweiter Ordnung (Luhmann 1995, 156f.) erscheint, lässt sich auch in ein Kritikverständnis wenden, das von jener „kritischen Soziologie“ unterschieden ist, die Luhmann (1992) mit der „Fuchtel der moralischen Ermahnung“ (ebd., 211) identifizierte, um ihr den Totenschein auszustellen. Kritik wurde bei Luhmann meist mit „zur Ablehnung aufrufen“ (Luhmann 1998, 1125) gleichgesetzt. „Kritische Soziologie“ geriere sich als „konkurrierender Beschreiber, mit tadelfreien moralischen Impulsen und besserem Durchblick“ und trete mit „Attitüden des Besserwissens“ (ebd., 1115) auf – die eine Attitüde des Nochbesserwissens in der „Reflexionsform der romanti-

31 Davis (1959) erklärte den Funktionalismus als besondere Methode zum Mythos, der sich nur dem esoterischen Vokabular der „Funktionalisten“ und der Ablehnung durch die Gegner verdanke. Die Analyse funktionaler Zusammenhänge sei grundlegend für jede Soziologie, sogar „synonymous with sociological analysis“ (ebd., 757) 32 Vgl. zu den Differenzen zwischen teleologischem (Parsons) und kontingenztheoretischem (Luhmann) Funktionalismus: Jensen 2003, 177-203; Reckwitz 2003a, 57-81. 33 Gehlen (2004a) mahnte, „mit dem gefährlichsten aller Medien, der Reflexion“ (ebd., 301) nur in der sicheren Sphäre der Wissenschaft zu hantieren. Sonst löse sie „die Treuepflicht zu außerrationalen Werten auf, hebt die Bindungen durch Kritik ins Bewußtsein, wo sie zerarbeitet“ würden (Gehlen 1975, 102). Luhmann (1990a) fordert, die „auflösungsstärkere Eigenwelt“ der Wissenschaft „als nicht alltagstauglich“ zu behandeln (ebd., 328). Beide schätzten die Gefahren der Soziologie aber geringer ein als Schelsky (vgl. 1975). Der „Relativismus“, der alles „unter die geschichtlichen Bedingungen“ subsumiert, treffe nur jene, die in „die Tiefe der Forschung streben“ (Gehlen 2004b, 595f.).

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schen Ironie“ (ebd., 1129) wohl überbieten soll (vgl. auch Luhmann 1991a, 147ff.). Eine solche Form der moralischen und moralisierenden Kritik lehnten Marx, Foucault und Bourdieu allerdings expressis verbis ab und knüpften eher an jene (kantianische) Wortbedeutung an, die in anderer Form auch die Systemtheorie fortzuführen beansprucht: Kritik als „Reflexion“ auf den „Gebrauch von Unterscheidungen“ (Luhmann 1998, 1109), die als Bedingung der Möglichkeit bestimmten Formen des Wahrnehmens, der Kommunikation oder des Handelns zugrunde liegen. Luhmanns Vorschlag, „als Weiterentwicklung der kritischen Soziologie, die mit ‚Kritik‘ bezeichnete Unterscheidung durch die Unterscheidung von Beobachtung zu ersetzen“ (ebd., 1117), öffnet durchaus Möglichkeiten, Aspekte von Marx’ Ideologiekritik, von Bourdieus Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft oder von Foucaults Archäologie in die Semantik von Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung zu übersetzen, ebenso wie diese in „Kritik“ zurückübersetzt werden können. 34 Allerdings würden dabei zu viele originäre Dimensionen dieser kritischen Perspektiven verloren gehen, die nicht mit Luhmanns Einschränkung des Gegenstandsbereiches auf Sinn und Kommunikation kompatibel sind, da sie nicht-sinnhafte gesellschaftliche Bedingungen des Sinns und nicht auf Kommunikation reduzierbare Dimensionen der Praxis betreffen. Zudem verfehlt die sublimierende Übersetzung von ‚Kritik‘ in den neutralen und passiven Begriff ‚Beobachtung‘ die praxeologische Selbstverortung der genannten Autoren, die davon ausgehen, dass wissenschaftliche Beobachtungen ihrerseits Bedingungen und Effekte in gesellschaftlichen Praktiken und Verhältnissen haben, mit denen sie in aktiver Wechselwirkung stehen (s.o. 3.5). Für eine Perspektive, die Wissenschaft nicht nur in der Distanz-Perspektive des Beobachters, sondern als praktisch mit ihrem Gegenstand verstrickt sieht, wird eine Analyse, die „was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt“ als „etwas Artifizielles und Kontingentes“ (Luhmann 1998, 1119) aufzeigt, in mehrfacher Hinsicht theoretisch und praktisch kritisch:35 Erstens verhält sich eine solche Analyse kritisch zu anderen Formen des (Primär-)Wissens über die gesellschaftlichen Verhältnisse, das sie auf die ihm zugrunde liegenden Latenzen zurückführt, um so die Bedingungen seiner Möglichkeit, wie seine Sicht(un)möglichkeiten aufzuzeigen. Dies setzt die klassische ‚Erkenntniskritik‘ in wissenssoziologischer Form fort. Zweitens ist dies mit einer Historisierung verbunden, die nicht nur konkrete Funktionsmechanismen und Effekte, sondern die funktionalen Notwendigkeiten selbst als kontin-

34 Vgl. zu einer solchen „Übersetzung“ von Bourdieu in Luhmannianisch: Saake 2004, 85117, die auch auf entsprechende Parallelen in Foucaults Diskursanalyse hinweist (vgl. ebd., 102); vgl. ähnlich auch: Nassehi 2004, 158. Luhmann (1998) überließ die Unterstellung eines „kritischen Potentials“ der Systemtheorie dem „Beobachter [...], sofern er selbst mit der Unterscheidung kritisch/affirmativ beobachten will“ (ebd., 1125, Fn. 404); jedoch läge in der Beobachtung des Beobachters immer auch „eine Korrekturmöglichkeit“ (Luhmann/Fuchs 1989, 10). Vgl. zu ‚kritischen‘ Wendungen von Luhmanns Ansatz u.a.: Kneer 1996, 387ff.; Schroer 2004, 257-264. 35 Selbst für Luhmann (1987) scheint weniger die kritische und eher die affirmative und stabilisierende Verwendung von Wissenschaft auf außerwissenschaftliche Zusatzannahmen angewiesen, welche „die Verunsicherung des Bestehenden durch Vergleich mit äquivalenten anderen Möglichkeiten vermeiden bzw. durch Wertsetzung blockieren“ oder „funktionale Äquivalente in die Form von ‚unmöglichen Alternativen‘ bringen und sie so zur Legitimation des immer schon praktizierten Handelns benutzen“ (ebd., 87).

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gentes, historisch gewordenes Produkt betrachtet und so Funktionsmuster und deren Bezugsprobleme gegen den Anschein universeller Notwendigkeiten als partikulare, gesellschaftlich konstruierte behandelt. Drittens wird dies kritisch, da hier, anders als in der funktionalen Analyse Luhmanns, keine nur auf die Sachdimension fokussierte historische Genese herausgearbeitet wird, sondern vielmehr die Sachdimension stets in ihrer Verschränkung mit der Sozialdimension sozialer Strategien und Kämpfe untersucht wird (s.o. 3.4.3). Damit wird gezeigt, wie sich bestimmte Funktionszusammenhänge nicht nur selbstläufig der ‚Logik der Sache‘ folgend durchgesetzt haben, sondern wie sie in sozialen Kämpfen durchgesetzt wurden, was stets den Ausschluss und die Blockierung alternierender Entwicklungspfade impliziert. Ein Wissen, das dies wieder präsent macht und die Notwendigkeitssuggestionen der Sachlogik reflexiv unterminiert, kann – unter der Bedingung, dass die Sozialdimension in praxi weiterhin auf die Sachdimension einwirkt – in aktuellen Konflikten auch praktisch kritisch verwendet werden. Viertens stellt die Analyse ein Wissen über funktionale Zusammenhänge bereit, die dem gesellschaftlichen Primärwissen nicht nur „verborgen“ sind, sondern deren Latenz ihrerseits Funktionen hat. Insofern wird die Benennung bereits in dem Sinne potenziell kritisch, dass sie eine Bedingung ihres Gegenstandes untergräbt. Wenn die Analyse zudem kein Optimum gesellschaftlicher Harmonie zeigt, vielmehr heterogene Bündel von Praktiken, deren Elemente nicht nur in Beziehungen der Funktionalität, sondern auch in solchen der latenten Dysfunktion und des Widerspruchs miteinander verbunden sind, zeigt sie auch Anknüpfungspunkte für Transformationen auf. Fünftens ist diese theoretische Kritik immer auch eine Form praktischer Gesellschaftskritik, da sie innerhalb der gesellschaftlichen Praktiken und Kämpfe, als deren Moment sich die Theorien verstehen, eine reflexive Funktion erfüllt, die eine reale Veränderung der Kräfteverhältnisse ermöglicht, wo sie entsprechende Praktiken motiviert. Insofern kann Wissenschaft zur Stimulation praktischer Veränderungsdynamiken beitragen. In all diesen Dimensionen beruht die kritische Funktion der Wissenschaft nicht auf einer normativen Kritik und ist nicht auf sie angewiesen. Im Folgenden sollen zunächst Formen und Funktionen einer solchen wissenschaftlichen Kritik in den jeweiligen Ansätzen aufgezeigt werden, um anschließend ihr Verhältnis zu einer praktischen Gesellschaftskritik zu diskutieren.

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4.3 F UNKTIONALE ANALYSE UND K RITIK DER BÜRGERLICHEN G ESELLSCHAFT BEI M ARX „Marx hat aufwendige und zum Teil verwirrende Reproduktionsschemata entwickelt, um zu beweisen, daß der Kapitalismus tatsächlich funktionieren kann. Er hatte Sorge um seinen Gegner“. OSKAR NEGT/ALEXANDER KLUGE (1993, Bd. 3, Vorwort [o.S.]) „Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind […]. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt [...] den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ KARL MARX (MEW 23, 16)

Marx’ Kritik der politischen Ökonomie lässt ein Vorgehen erkennen, bei dem sich der gesellschaftskritische Impetus von normativen Bewertungen ablöst. „Die marxsche Gesellschaftskritik kommt ohne ein moralisches Urteil über die Kapitalisten aus“ (Luhmann 1998, 957) und bedarf, wie zu zeigen ist, auch keines normativen Urteils über ‚das System‘. Auch wo Beschreibungen sozialer Effekte des Kapitalismus normative Urteile evozieren, beruht die Analyse nicht darauf. Marx selbst sprach sich explizit gegen eine „moralisierende Kritik“ aus (vgl. MEW 4, 331-359; MEW 19, 359; MEW 23, 189) und forderte, anders als viele Marxisten, eine Werturteilsfreiheit der Wissenschaft, die dem Verständnis Webers (vgl. 1968, 498ff., 155f. & 158ff.) entsprach. Wissenschaftliche Arbeit kann aus normativen Impulsen motiviert sein und ihre Ergebnisse lassen sich in den Dienst politischer Interessen stellen, die wissenschaftliche Analyse müsse aber diesen Motiven und Interessen gegenüber „rücksichtslos“ verfahren (MEW 26.2, 110), was jedes Vorgehen ausschließt, das „die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst […], sondern von außen, ihr fremden, äußerlichen Interesse entlehnten Standpunkt zu accomodieren sucht“ (ebd., 112 [Hervh. i.O.]). Kritische Wissenschaft soll, statt Phänomene zu bewerten, die ökonomischen und politischen Beziehungen, die Klassenverhältnisse und -kämpfe, das Verhalten der Handlungsagenten und nicht zuletzt die Wertvorstellungen als Moment gesellschaftlicher Funktionsprozesse und der Reproduktion und Variation der ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse erklären. Diese funktionalistische Dimension in Marx’ Theorie hat Habermas (vgl. 1995, Bd. 2, 492ff.) herausgestellt und dabei ihren im späteren Funktionalismus „fehlenden kritischen Sinn“ (ebd., 497) betont, der in Habermas’ Sicht allerdings auf der normativen Ablehnung des Kapitalismus beruhen soll. Stellt man jedoch in Rechnung, welchen Status Marx sozialen Normen zumaß, kann seine Kritik nicht ethisch, moralphilosophisch oder normativ verfahren und begründet sein. Normative und ethische Deutungen der Kritik der politischen Ökonomie (vgl. u.a. auch Dangelmayer 1979) übertragen insofern den Gestus moralischer Empörung, der in Marx’ Frühphilosophie

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mitunter hervorgetreten war, kurzschlüssig auf eine Gesellschaftstheorie, deren ganze Anlage diesen Gestus systematisch ausschließt.36 Als „Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse“ (MEW 4, 477 [Hervh. i.O.]) gelten Marx etwa die Postulate der Gleichheit und Freiheit nicht als diesen Verhältnissen äußerliche Regulative, sondern als ein ihnen immanentes Moment: Sie entsprechen der Realität eines Marktes, auf dem, unter den Bedingungen des freien Tauschs und der freien Konkurrenz, tatsächlich „nur Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“ herrschen (MEW 23, 189): „Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer [...] sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. […] Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem […] ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie […] in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes [...]. Und eben weil so jeder nur für sich […] kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie [...], nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils […], des Gesamtinteresses.“ (Ebd., 189f.)

Im Tausch der Waren (einschließlich der Ware Arbeitskraft) gegen Geld und des Geldes gegen Waren, bildet die Übervorteilung (dank des Konkurrenzdrucks) schon vor aller rechtlichten Kodifizierung die Ausnahme. Die Tauschobjekte sind hier einander ebenso gleichgesetzt wie ihre Besitzer, die sich im auf ihrem freiem Willen beruhenden Tausch „stillschweigend als Personen und Eigentümer“ anerkennen (MEW 19, 377 [Hervh. i.O.]) und im Verfolgen ihrer eigenen Zwecke den Zwecken der Allgemeinheit dienen.37 „Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die produktive, reale Basis aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer andren Potenz.“ (MEW 42, 170 [Hervh. i.O.])

Die Vorstellung, dass Marx hier „den normativen Gehalt der bürgerlichen Ideale einklagt“ (Habermas 1988a, 332; vgl. 1963, 114f.), also als biederer Bürger vor dem Gerichtshof der kommunikativen Vernunft auf die universelle Geltung der ohnehin praktizierten Normen pocht, verwandelt nicht nur die Forderung des Umsturzes der bestehenden Verhältnisse in die Forderung ihrer Entfaltung, sie verkehrt auch den epistemologischen Bruch, der mit der Rückführung der Normen auf gesellschaftliche

36 Auch wenn man konzediert, dass Marx zwar „nirgendwo [sagt], der Kapitalismus sei ungerecht“, seine Analysen aber „doch offenbar etwas Ungerechtes“ bezeichnen (Wildt 1986, 150), liegt darin kein normatives Dilemma und keine „Paradoxie“ (Wildt 1997), solange der sachliche Gehalt der Analyse sich unabhängig von den Gerechtigkeitsvorstellungen erschließen lässt. Die Analyse der Ausbeutung etwa erschließt sich auch, wenn diese nicht als ‚böse‘ gekennzeichnet wird (vgl. Henning 2005, 431f.). 37 Auch Kants kategorischem Imperativ entspricht dieser Austausch vollständig (vgl. Urbanþiþ, 1977, v.a. 99-108).

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Verhältnisse und Praktiken vollzogen ist, in ein konventionelles philosophisches Projekt der Explikation und Begründung normativer Ansprüche.38 Das abweichende Vorgehen von Marx kann seine Kritik an der ihm von Habermas unterstellten Position verdeutlichen: Die „Albernheit der Sozialisten“, die „den Sozialismus als Realisation der von der französischen Revolution ausgesprochnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen wollen“, bestehe darin, dass sie nicht verstünden, „daß der Tauschwert oder näher das Geldsystem in der Tat das System der Gleichheit und Freiheit ist und daß, was ihnen in der näheren Entwicklung des Systems störend entgegentritt, ihm immanente Störungen sind, eben die Verwirklichung der Gleichheit und Freiheit“ (MEW 42, 174 [Hervh. i.O.]; vgl. MEW 4, 488f.). Es geht hier nicht darum, den Kapitalismus zu ‚denunzieren‘ (vgl. Habermas 1995, Bd. 2, 497), indem lebensweltliche Erscheinungen an bürgerlichen Normen bemessen werden, vielmehr darum, diese Normen als ideelles Moment eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zu bestimmen, in dem jene Effekte produziert werden, die der normativen Kritik als Normbruch erscheinen. Ein Funktionselement sind die Normen einerseits, da ein ihnen entsprechendes Verhalten für den Verwertungsprozess funktional ist, und da sie andererseits als dem Tauschverhältnis der einfachen Zirkulation, in dem „alle immanenten Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft ausgelöscht erscheinen“, adäquater Ausdruck die reale Grundlage der ideellen „Apologetik der bestehenden ökonomischen Verhältnisse“ (MEW 42, 166) bilden, also Funktionen der Legitimation des bestehenden gesellschaftlichen Zusammenhangs erfüllen. Normative Gehalte einzuklagen ist unsinnig, wo der kritisierte Zusammenhang ihre Einlösung impliziert. Als Ideen sind ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ nur Abstraktionen, in ihrer Realität sind sie „ohne den Widerspruch, der ihr Wesen ausmacht und der von ihnen unzertrennlich ist“ (MEW 4, 118), nicht zu haben.

38 Habermas baut wohl darauf, dass die Kapitalisten – als brave Bürger über die strukturelle Ausbeutung belehrt – ausrufen: „Wart ihr für meine Worte taub! / Tausch wollt’ ich, wollte keinen Raub“ (Goethe: Faust II, 5. Akt, Tiefe Nacht), um den Kapitalismus im Konsens abzuschaffen. Wird dem von Habermas rephilosophisierten Marx unterstellt, es wäre ihm um die „Organisation der Gesellschaft auf der ausschließlichen Grundlage herrschaftsfreier Diskussion“ (Habermas 1968, 76) gegangen, stellt sich die Frage, wie aus der Diskussion Nahrung, Industrie und Technik hervorgehen und wie sie die keineswegs herrschaftsfreien Verhältnisse umstürzt. Laut Habermas’ (in der Sozialphilosophie einflussreicher) Interpretation will Marx’ Kritik „der kapitalistischen Modernisierung ihre Kosten vorrechnen“, indem sie „die Zerstörung, die das verselbständigte kapitalistische Wirtschaftssystem in einer seinen Imperativen unterworfenen Lebenswelt hinterläßt“, beklagt (Habermas 1995, Bd. 2, 497f.). Demgegenüber findet sich selbst im Manifest keine Anklage, sondern die „hymnische Beschreibung der Dynamik der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft“ (Fetscher 2000, 79). „Die Bourgeoisie hat […] kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, […] ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (MEW 4, 467) Auch die Zerstörung der lebensweltlichen „Idylle“, der „buntscheckigen Feudalbande“, der „heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut“ wird begrüßt, da so die Menschen „endlich gezwungen [sind], ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (ebd., 465f.).

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Da der je konkret zu führende Nachweis der gesellschaftlichen Genese und Funktion von Normen und damit die Kritik ihrer vermeintlich universellen Geltung für alle Wertsysteme unterstellt wird, ein externer Referenzpunkt transzendentaler Begründungen (‚die Vernunft‘, ‚der Mensch‘, ‚die Kommunikation‘ etc.) ausgeschlossen ist und die Kritik von alternierenden Idealen her als „utopischer Sozialismus“ (MEW 4, 489ff.) abgelehnt wird, müssen dem Projekt der Kritik der politischen Ökonomie andere Ansprüche und Verfahren zugrunde liegen. Hier eröffnet eine genaue Betrachtung der Implikationen dieses programmatischen Titels ein besseres Verständnis. Als Gegenstand der Kritik wird nicht ‚Ausbeutung und Elend der Arbeiter‘ bestimmt, sondern die politische Ökonomie. Das meint einerseits eine seit dem 18. Jahrhundert ausdifferenzierte Wissenschaftsdisziplin, deren Kategorien und Modelle Gegenstand der Kritik sind; andererseits einen politisch-ökonomischen Gegenstand, nämlich die Elemente und systematischen Zusammenhänge des historisch besonderen gesellschaftlichen Verhältnisses der Kapitalverwertung.39 Der Titel Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie wäre aber auch dahingehend verstehbar, dass ‚politische Ökonomie‘ hier eine nähere Bestimmung der Position und Form einer Kritik im Medium der politischen Ökonomie ist. Einer Kritik, die statt auf normativer Wertung auf politisch-ökonomischen Methoden beruht und deren Gegenstand das Kapital ist – als fetischisierte Erscheinungsform eines Systems gesellschaftlicher Zusammenhänge und Beziehungen. Schließlich kann der Titel auch so verstanden werden, dass hier durch eine präzise Analyse des Kapitals (als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses) eine Kritik des Theoriefeldes der politischen Ökonomie und des ökonomischen Systems einer spezifischen Gesellschaftsformation geleistet wird. Für letzteres spricht ein Brief an Lassalle vom 22.5.1858, der Marx’ kritisches Verfahren auf folgenden Punkt bringt: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien, oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (MEW 29, 550 [Hervh. T.H.])

Kritik ist hier keine der analytischen Darstellung vorausgesetzte oder nachgeordnete Beurteilung, vielmehr ein ihr immanentes Moment. Ganz unabhängig vom Anspruch auf Werturteilsfreiheit ist schon die titelgebende Bestimmung von Gegenstand und Methode der Kritik mit einem normativen Herangehen unvereinbar. Zwar ließe sich auch ein ökonomisches System in dem Sinne normativ bewerten, dass Kapitalismus ‚schlecht‘ sei, weil er für große Teile der Weltbevölkerung zu Ausbeutung und ‚Entfremdung‘ führt, oder ‚gut‘, da er insgesamt den Reichtum der Gesellschaft steigert. Damit würde aber immer nur ein Epiphänomen des gesellschaftlichen Zusammenhangs verabsolutiert und beurteilt, während der Zusammenhang selbst, die ihn strukturierenden Beziehungen und die Interdependenz der als ‚gut‘/‚schlecht‘ bewerteten Erscheinungen unverstanden blieben, wie Marx den früheren sozialistischen Ökono-

39 Einerseits wird „die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft“, welche „in der politischen Ökonomie zu suchen sei“ (MEW 13, 8), als empirischer Gegenstand bezeichnet. Andererseits geht es dabei immer auch um eine Kritik der „bürgerlichen Wissenschaft der politischen Ökonomie“ (MEW 23, 21; vgl. ebd., 94ff.).

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men vorwarf.40 Bei Marx wird daher auch die Ausbeutung – die nicht notwendig physisches Elend impliziert (s.u. III.1.3) – nicht moralisch verurteilt. Ausbeutung ist ein notwendiges Strukturmoment kapitalistischer Produktion, das aus der Formbestimmung der Arbeitskraft als Ware in ihrem sachlichen Verhältnis zum Kapital innerhalb des kapitalistischen Verwertungsprozesses folgt. Da ein Austausch zwischen Individuen „gerecht [ist], sobald er der Produktionsweise entspricht, ihr adäquat ist“ (MEW 25, 352), haben Kategorien wie gerecht/ungerecht in der Analyse ökonomischer Verhältnisse keinen Sinn. Marx lehnte daher auch Forderungen nach einem „gerechten Lohn“ ab (MEW 16, 132 & 152; s.u. III.1.3f.). In diesem Sinne wird „die Anklage des Diebstahls durch die Analyse der Produktion ersetzt“ (Foucault 1978, 180). Zu klären ist nun, wodurch dieser Analyse kritischer Charakter zukommt. Bezüglich der Kritik des Theoriefeldes der politischen Ökonomie betont Heinrich, die Darstellung könne nur als Kritik fungieren, „wenn sich zeigt, daß die kategorialen Formen, die von der politischen Ökonomie als evident vorausgesetzt werden, etwas anderes sind als das, was die politische Ökonomie meint“ (Heinrich 1991, 245). Marx geht dabei davon aus, dass die ökonomischen Kategorien (‚Arbeit‘, ‚Kapital‘, ‚Wert‘ etc.) durchaus realen Verhältnissen entsprechen. Sie sind „gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion“ (MEW 23, 90). Da aber die Ökonomie den gesellschaftlichen Charakter dieser Formen nicht begreift und sie als ahistorische, aller Produktion vorausgesetzte Elemente auffasst, werden ihre Kategoriensysteme zu Systemen „verkehrter“ und „verrückter“ (ebd.) Formen. Gegen die Verrückung der Formen aus ihrem gesellschaftlichen Erzeugungszusammenhang in einen hypostasierten Zusammenhang dinglicher Eigenschaften, in dem sich die Dependenzbeziehungen verkehrt darstellen, da Effekte gesellschaftlicher Verhältnisse diesen als äußerer Bestimmungsgrund vorausgesetzt werden, will Marx zeigen, dass das ‚Kapital‘, anders als die Ökonomie meint, nicht einfach das akkumulierte Produkt vergangener Arbeit ist, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem akkumulierte Arbeit in der Form des Kapitals fungiert (als Eigentum an Produktionsmitteln, die im historisch spezifischen System der Warenproduktion zur Aneignung eines auf fremder Arbeit basierenden Mehrwerts verwertet werden). Ebenso sind die Kategorien von Arbeit und Wert, die der Ökonomie als ahistorische Universalien gelten, ihrerseits besondere, historisch voraussetzungsreiche gesellschaftliche Formen (von freier Lohnarbeit und Tauschwert), die nur im Zusammenhang kapitalistischer Produktionsverhältnisse gültig sind (s.u. III.1.1). Wenn so die ökonomischen Kategorien als „Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise“ entschlüsselt werden, als das Ergebnis einer „Verdinglichung“ gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch „das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit“ eine „verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt“ (MEW 25, 838) hervorbringt, ist die „Darstellung zugleich Kritik einer in dieser Verkehrung befangenen Wissenschaft. Eine solche Kritik benötigt keine normative Grundlage.“ (Heinrich 1991, 246 [Hervh. i.O.]) Vorausgesetzt ist lediglich ein epistemologischer Bruch mit dem Theoriefeld der klassischen politischen Ökonomie, der sich nicht normativ,

40 Vgl. Marx’ Kritik an Proudhons gut/schlecht-Unterscheidungen: MEW 4, v.a. 132ff.

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sondern durch Wissenszuwachs legitimiert. Marx’ Kritik ist auch nicht in dem Sinne normativ, dass sie der politischen Ökonomie Ideologieproduktion ‚anlasten‘ würde (ein marxistisches Missverständnis, vgl. kritisch: ebd., 247f.). Wenn die „trinitarische Formel“ Arbeit, Kapital, Boden „zugleich dem Interesse der herrschenden Klassen [entspricht], indem sie die Naturnotwendigkeit und ewige Berechtigung ihrer Einnahmequellen proklamiert“ (MEW 25, 839), meint das eine objektive Funktion, eine sekundäre Zweckmäßigkeit, die ökonomische Theorien gesellschaftlich gewinnen, keinen Vorwurf an die Adresse der politischen Ökonomen.41 Es handelt sich hier um einen wissenssoziologischen Strang der Kritik, der – in Fortsetzung der Ideologiekritik – eine neue Darstellung des Gegenstands durch eine Auseinandersetzung mit den latenten Voraussetzungen und ‚blinden Flecken‘ anderer Beobachtungen entwickelt. Indem die klassische Ökonomie als entwickeltster Ausdruck, sozusagen als Medium der Selbstbeschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse, behandelt wird, gilt diese Disziplin als Teil des politisch-ökonomischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft, aus dessen immanenten Zusammenhängen heraus sie kritisiert wird. Die entsprechende Form der Vergesellschaftung wird dazu nicht an einem Ideal bemessen; vielmehr will die kritische Darstellung zeigen, wie und warum die Gesellschaftsformation anders erscheint, als sie ist. Soll dies aber mehr sein als nur spekulative Konstruktion, muss sich auch zeigen, dass Marx’ Analyse dem klassischen Theoriefeld der politischen Ökonomie im Verständnis des geteilten Forschungsgegenstandes überlegen ist, dass die „Inkonsequenzen, Halbheiten und ungelösten Widersprüche“, in die die „besten Wortführer“ dieser Disziplin geraten (MEW 25 838), darauf beruhen, dass ihnen im Vergleich mit der Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie ‚etwas fehlt‘.42 Hier setzt auch die wissenssoziologische Kritik eine Tiefendimension historisch-genetischer und funktionaler Analyse voraus, die einerseits zeigt, wie sich die Formen des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses von denen anderer Gesellschaftsformationen unterscheiden, wie sie sich herausgebildet haben und wie dies mit der Entwicklung der ökonomischen Kategorien zusammenhängt,43 und die andererseits eine Darstellung der immanenten Strukturzusammen41 Statt eine Produktion falschen Bewusstseins zu unterstellen, sah Marx es ja gerade als „Verdienst der klassischen Ökonomie“, die „Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse, diese Religion des Alltagslebens“ partiell „aufgelöst zu haben“, wo sie Zins, Profit und Rente auf Modi der Verteilung des Mehrwerts und diesen auf ein Produkt gesellschaftlicher Arbeit reduzierten (ebd., 838). 42 Ein Kritiker ist nach Luhmann (1995) jemand, der ausfindig macht, „woran es fehlt – in der Metaphysik oder bei der Müllabfuhr“ (ebd., 164), oder eben hier im Theoriefeld der bürgerlichen politischen Ökonomie. 43 So verdanke sich die analytische Klarheit von Smith und Ricardo dem historischen Kontext einer „Bourgeoisie, die, noch im Kampf mit den Resten der feudalen Gesellschaft, nur daran arbeitet, die ökonomischen Verhältnisse von den feudalen Flecken zu reinigen, die Produktivkräfte zu vermehren und der Industrie und dem Handel neue Triebkraft zu geben.“ Es genügt hier zu zeigen, „wie der Reichtum unter den Verhältnissen der bürgerlichen Produktion erworben wird, diese Verhältnisse […] in Gesetze zu formulieren und nachzuweisen, um wieviel diese [...] der feudalen Gesellschaft“ überlegen sind (MEW 4, 142). Demgegenüber sind die Ökonomen des 19. Jahrhunderts mit Verelendung, Krisen und Arbeitskämpfen konfrontiert und suchen „die politische Ökonomie des Kapitals in Einklang […] mit den nicht länger zu ignorierenden Ansprüchen des Proletariats“ zu bringen. „Daher ein geistloser Synkretismus, wie ihn John Stuart Mill am besten repräsentiert.“ (MEW 23, 21; vgl. ausführlich MEW 26).

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hänge der kapitalistischen Gesellschaftsform bietet, die konzisere Erklärungen ermöglicht als die ökonomische ‚Klassik‘. Diese Dimension der historisch-genealogischen und funktionalen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse hat ihrerseits kritischen Charakter. Schließlich zielte Marx’ Kritik nicht nur auf eine Wissensformation, sondern auf die Gesellschaftsformation, der dieses Wissen angehört. Kritik heißt auch hier zunächst, die historischgesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit des Kapitalismus aufzuzeigen. Diese Argumentation verhält sich kritisch zu jeder Hypostasierung und Naturalisierung der Gesellschaftsordnung, zeigt so auch die Möglichkeit anderer Verhältnisse auf (vgl. MEW 23, 790f.) und betont, dass „die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist“ (ebd., 16). Das Kapital gilt nicht als maliziöser Verwertungsautomat, sondern als Ensemble heterogener Strukturbeziehungen und Mechanismen, dessen Tendenzgesetze untrennbar verbunden sind mit dem jeweiligen Feld sozialer Kräfteverhältnisse zwischen Interessengruppen, politischen, kirchlichen und juridischen Institutionen etc. (vgl. MEW 16, 148). Da sich erst in Strategien und Kämpfen entscheidet, in welche Richtung eine Tendenz ausschlägt,44 bietet ein Wissen über ökonomische Mechanismen und Kräfteverhältnisse auch Orientierungspunkte eines praktisch-kritischen Agierens. Werden dabei Erscheinungen des Kapitalismus, wie die Innovations-, Wachstums- und Krisendynamik, die zeitweilige Verelendung des Proletariats oder wachsende Arbeitslosigkeit aus den Zusammenhängen der Wirtschaftsform als für den kapitalistischen Verwertungsprozess funktionale Mechanismen erklärbar (s.u. III.2), ist das nicht nur kritisch gegenüber einem ökonomischen Wissen, das diese Erklärung nicht bietet, sondern auch mit Bezug auf soziale und politische Verschleierungen dieser Funktionselemente, die Individuen (‚den Arbeitslosen‘ oder ‚den Bankern‘) anlasten, was Moment eines Systemzusammenhangs ist. In diesem Kontext besteht ein Kernpunkt der Kritik darin, innerhalb der analysierten Funktionslogik latente Dysfunktionen aufzuzeigen, die daraus folgen, dass der Zusammenhang des kapitalistischen Produktionsorganismus immanente Widersprüche aufweist. Gemeint sind hier keine sozialen oder moralischen Antagonismen (z.B. von Reichen und Armen oder von Gleichheitspostulaten und Ungleichheit), sondern sachliche Widersprüche – zum Beispiel der Widerspruch, dass die zur Produktion des Mehrwerts erforderten antagonistischen Distributionsverhältnisse die Konsumtionskraft der Lohnarbeitenden (und damit der Bevölkerungsmehrzahl) beschneiden, die zum Absatz der Waren und zur Realisierung des Mehrwerts auf dem Markt erfordert ist, was zu Krisen führt (s.u. III.2.3). Marx ging nicht davon aus, dass solche Widersprüche zum ‚Systemzusammenbruch‘ führen, da gerade die Krisen einen Ausgleichsmechanismus bilden und für die Innovationsdynamik kapitalistischer Gesellschaften ihrerseits funktional sind, sehr wohl aber davon, dass ihre Effekte soziale Gegenbewegungen begünstigen (s.u. III.2.4). Praktisch kritisch wird die Theorie, indem sie solchen sozialen Bewegungen ein Wissen über die Ursachen und Wirkungszusammenhänge zur Verfügung stellt (s.u. 4.5).

44 Marx hat das am Kampf um „die Normierung des Arbeitstages“ (MEW 23, 249) gezeigt und dabei auch die Bedeutung „legislative[r] Einmischung“ (MEW 16, 148 [Hervh. i.O.]) betont. Vgl. MEW 23, 249-320.

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Auch in diesem Bereich muss die Kritik nicht nach einem „normativen Fundament der Ökonomie“ (Kambartel 1975) suchen,45 da sie nicht beansprucht, eine gesellschaftliche Wirklichkeit „im Lichte ewiger menschlicher Werte oder irgendeiner normativen Idee [zu] beurteilen“, sondern nur im „Bereich des wissenschaftlichen Denkens eine Kritik zum Ausdruck bringen“ will, die „in der zu untersuchenden Wirklichkeit selbst virulent ist“ (Goldmann 1966, 252f.). Diese Virulenz der Kritik sah Marx bekanntlich in den Widersprüchen zwischen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und den in ihnen entwickelten Produktivkräften angelegt. Demnach impliziert die kapitalistische Produktionsweise – wo sie sich in reiner Form entwickelt – eine Tendenz, langfristig die sozialen und ökologischen46 Grundlagen ihres eigenen Prozessierens zu untergraben, da eine um das Abstraktum der Verwertung eines exponentiell wachsenden Kapitals zentrierte Produktionsform keine Begrenzung der Ausbeutung und Vergeudung sozialer und natürlicher Ressourcen kennt.47 Die wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte schlagen so, innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Anwendung, in Destruktivkräfte um. Zugleich wird in anderen Aspekten ihre Entfaltung und gesellschaftliche Nutzung behindert. Die im Kapitalismus entwickelten Methoden und Mittel der gesellschaftlichen Produktion, Organisation und Kommunikation schaffen aber auch die Bedingungen der Möglichkeit anderer Formen der Vergesellschaftung, die die Schranken und Widersprüche der kapitalistischen Verhältnisse überwinden könnten – nicht im Sinne eines geschichtsphilosophischen Automatismus, sondern im Sinne der Eröffnung eines historischen Möglichkeitsraumes (s.u. III.2.). Ebenso wie in der wissenssoziologischen Linie der Ideologiekritik werden so auch in Marx’ Gesellschaftskritik nicht normative, sondern funktionsanalytische Argumente in Anschlag gebracht. Statt mit der Kennzeichnung des Kapitalismus als ‚ungerecht‘ zur Revolution aufzurufen, wird gezeigt, dass dessen immanente Funktionslogik autodestruktive Tendenzen einschließt, während die in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen entwickelten Produktivkräfte – die Produktionsmethoden, die Technologien, die Formen von Kooperation und Arbeitsorganisation, die Kommunikationsmittel etc. – auch „einen Ausgangspunkt, eine Basis“ (MEW 25, 647) möglicher anderer Formen der Vergesellschaftung bieten können. Letzteres setzt eine Umwälzung der bestehenden Verhältnisse voraus, die in dem Maße wahrscheinlich wird, wie die Effekte der Kapitalverwertung reale gesellschaftliche Gegenbewegun45 Die Suche nach den ‚normativen Fundamenten‘ scheint auch hier v.a. geeignet, nicht nur jede Kritik, sondern jede Analyse auf unabsehbare Zeit zu blockieren: „Ökonomische Probleme können […] nur auf der Basis einer schon geleisteten Bestimmung gerechtfertigter Bedürfnisse angemessen diskutiert werden“ (Kambartel 1975, 117). Wann wäre dies gegeben und wer bestimmt, welche ‚Bedürfnisse‘ gerechtfertigt sind? 46 Produktivkräfte haben bei Marx nicht nur eine gesellschaftlich variable Seite, sondern auch natürliche Voraussetzungen. Insofern die gesellschaftlichen Produktivkräfte in ihrer kapitalistischen Anwendung gegenüber diesen Voraussetzungen in Destruktivkräfte umschlagen, gehören auch ökologische Konsequenzen des Kapitalismus in diesen von Marx formulierten Grundwiderspruch von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften (s.u. III.2.4). 47 „Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck […]. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ (MEW 23, 167; vgl. MEW 23, 529ff.; MEW 25, 781ff.; MEW 24, 246f.; Fetscher 2000, 123ff.; s.u. III.2.)

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gen motivieren. Das ist bereits die grundlegende Argumentation des Manifests und wird in der späteren Kritik der politischen Ökonomie (differenzierter und weniger deterministisch als dort) weiter ausgeführt.48 Wie Marx das Verhältnis seiner Theorie zum Proletariat als potenzielle Kraft einer revolutionären Umwälzung bestimmte, ist später (s.u. 4.5) zu klären. Hier sollte zunächst herausgestellt werden, dass der kritische Gehalt der Theorie nicht in irgendwelchen normativen Postulaten begründet ist, sondern sich nur im Verhältnis von Analyse und Gegenstand herstellt. Urbanþiþ (1976) betonte entsprechend, dass für Marx das „kritische Wissen [...] nur in Bezug [...] zu der bestehenden Basis [der Produktionsverhältnisse, T.H.] und dem positiven Wissen [der politischen Ökonomie, T.H.] als dem ideellen Ausdruck dieser Basis“ kritisch ist und, wo die formulierten Widersprüche keinen realen Bezugspunkt haben, „überhaupt auf[hört], kritisches Wissen zu sein“ (ebd., 117 [Hervh. i.O.]). Das müsste auch eine Kritik an Marx’ Theorie, die deren Geltungsanspruch wirklich treffen will, berücksichtigen: Es genügt hier nicht, eine positive Bewertung des Kapitalismus gegen eine vermeintlich negative Bewertung zu setzen, um an die „marxistischen Herzen“ zu appellieren, „dem Kapitalismus zu geben was des Kapitalismus ist“, wie Habermas (1985, 194) forderte, vielmehr wäre den wissenschaftlichen Hirnen nachzuweisen, dass Marx’ analytische Darstellung keine adäquate Erfassung und Erklärung ihres Gegenstands leistet. Die Kritik an Marx’ Kritik müsste, kurz gesagt, ebenso die Form wissenschaftlicher Kritik haben.49

48 Dass eine überspitzte These des Manifest, nämlich die, dass der Kapitalismus im Proletariat seinen „Totengräber“ produziere (MEW 4, 474), von dieser „sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ (ebd., 465) gezwungenen Produktionsweise überholt wurde, ist daher noch keine ‚historische Widerlegung‘ der gesamten Theorie. 49 „Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung, der ich nie Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners: Segui il tuo corso, e lascia dir le genti! [Geh deinen Weg, und laß die Leute reden!]“ (MEW 23, 17)

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4.4 F UNKTIONALE ANALYSE UND B OURDIEU

UND

K RITIK

BEI

F OUCAULT

„Die sozialen Regelmäßigkeiten treten als wahrscheinliche Verkettungen auf, die man nur bekämpfen kann, falls man das für notwendig befindet, wenn man sie kennt.“ PIERRE BOURDIEU (1992a, 173) „Ich lege eine Interpretation der Geschichte vor, und die Frage – die ich nicht beantworte – lautet, wie sich diese Analysen für die gegenwärtige Situation nutzen lassen. […] Es ist vollkommen richtig, dass ich mich weigere, mich – wenn ich ein Buch schreibe – als Prophet aufzuführen und den Leuten zu sagen was sie tun sollen. Ich sage ihnen lediglich, dass die Dinge sich in meinen Augen etwa in dieser Weise abgespielt haben, aber ich beschreibe sie so, dass die eingeschlagenen Wege sichtbar werden.“ MICHEL FOUCAULT (2003b, 794)

Foucault und Bourdieu haben, wie oben (2.) gezeigt, bei aller Distanz zum Marxismus ihre Forschungsprogramme und Methoden durchaus in Kontinuität zu Marx gestellt. Mit diesem teilen sie auch jenes Verständnis von Kritik, das, statt gesellschaftliche Zusammenhänge ex negativo von normativen Ansprüchen her zu kritisieren, die gesellschaftlichen Erzeugungskontexte und die funktionalen Mechanismen herausarbeitet, auf denen auch Wissen und Normen beruhen. Wenn dabei der Rekurs auf ein universelles Vernunftsubjekt abgeschnitten und die Sphären ‚reiner Geltung‘ depotenziert werden, ist das nicht notwendig Ausdruck eines „Irrationalismus“, einer „Antiwissenschaft“ oder der „Gegenaufklärung“.50 Foucault verstand seine kritische Haltung vielmehr als andere Form der Anknüpfung an den von der Aufklärung eröffneten Denkhorizont. Gegenüber früheren kritischen Haltungen zeichne sich die spezifisch moderne Denkhaltung der Aufklärung vor allem durch ein neuartiges Verhältnis zur Gegenwart, zur Aktualität der Situation aus, das sich mit der Frage verbinde, was wir sind und wie wir geworden sind, was wir sind (vgl. v.a. Foucault 1992) An dieses „große Problem […] des kritischen Denkens“, das sich seit dem 18. Jahrhun-

50 Vgl. Habermas 1988a, 284, 292, 298 & 324. Foucault sprach von Ethnologie, Marxismus und Strukturalismus als „Gegenwissenschaften“, aber nur im „Verhältnis zu den Humanwissenschaften“, denen sie „entgegenarbeiten und [die] sie auf ihre epistemologischen Fundamente zurückführen“ (Foucault 1974, 447-462, hier 454 [Hervh. T.H.]; vgl. 2002, 205f.). Hier geht es um alternierende Theorien, mit denen ein anderes Theoriefeld kritisierbar ist. Den Verdacht der „Komplizenschaft mit […] der Gegenaufklärung“ (Habermas 1988a, 12f.) evozieren Anleihen bei Nietzsche, die angeblich zu einer „ins deutsche Dunkle abgleitenden Vernunftkritik“ (Habermas 1985, 119) führen, was Mystifikation und Nähe zum rechten Denken unterstellt. Bourdieu bemerkte hierzu, bevor man sich mit „gewissen Deutschen über den Gebrauch, den […] Deleuze und Foucault von Nietzsche gemacht haben, tugendhaft entrüstet, müsste man die Funktion verstehen, die Nietzsche – und welcher Nietzsche? Derjenige der Genealogie der Moral bei Foucault – in einem philosophischen Feld ausüben konnte, das […] durch einen subjektivistisch-spiritualistischen Existentialismus beherrscht wurde“ (Bourdieu 2004d, 43; vgl. ebd., 42ff.).

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dert mit der Frage verband, wie „die Vernunft [...], die wir benutzen“, beschaffen ist, sollen seine Untersuchungen in neuer Form anschließen, um „die Fragestellung von Mendelson und Kant auf der Ebene einer allgemeinen Geschichte der Gesellschaft wieder aufzunehmen“ (Foucault 2005, 947; vgl. ebd., 530ff.). Das knüpft an die von Kant gestellte Aufgabe einer „Erkenntnis der Erkenntnis“ (Foucault 1992, 18) an, bricht aber mit dem Anspruch, allgemeine Bedingungen des Erkennens, Handelns und Urteilens als Voraussetzung der Kritik im Subjekt auszuweisen.51 Wenn so der „Rekurs auf eine Grundlegung“ ebenso abgelehnt wird, wie die „Ausflucht in eine reine Form“ (ebd., 36) (etwa der prozeduralen Einheit der ‚kommunikativen Vernunft‘), kann Kritik keine universellen ‚Geltungsgründe‘ mehr behaupten, die als Maßstab einer „Legitimitätsprüfung“ (ebd., 30) von Geschichte, Wissen oder Gesellschaft fungieren könnten. Sie kann und soll ihren Gegenstand nicht bewerten und beansprucht stattdessen, für das, was „die verschiedenen Rationalitätsformen als für sie notwendig ausgeben, […] die Geschichte [zu] schreiben und die Netze von Kontingenzen wieder [zu] finden, aus denen dies entstanden ist; was dennoch nicht heißt, dass diese Rationalitätsformen irrational wären“ (Foucault 2005, 545). Das steht einerseits in Kontinuität zu Kants Projekt einer Kritik von Erkenntnisvermögen, Handlungspraxis und Urteilskraft, verschiebt aber zugleich das Analysefeld vom transzendentalen Subjekt auf die variablen Strukturen des je historisch-konkreten Erkennens, Handelns und Urteilens. Diese Gleichzeitigkeit von Kontinuität und epistemologischem Bruch im Verhältnis zur klassischen Erkenntniskritik teilt Foucault mit Bourdieu, der in ähnlicher Weise auf „eine – im Sinne Kants – kritische und reflexive Soziologie und Sozialgeschichte“ (Bourdieu 2004b, 45) zielte.52 Wie bei Marx beansprucht diese historisch-soziologische Erkenntnis- und Gesellschaftskritik keine Bewertung. Foucaults Offenlegung der „Verschränkung von Zwangsmechanismen und Erkenntnisgehalten“ soll, statt eine universelle „Scheidelinie zwischen Legitimität und Illegitimität“ oder „Wahrheit und Irrtum“ zu ziehen, eine „Ereignishaftmachung“ bewirken, die – ohne ein Wissen, eine Technik oder eine Norm als falsch, illusorisch, missbräuchlich zu disqualifizieren – den MachtWissens-Nexus in einem „Möglichkeitsfeld und folglich in einem Feld der Umkehrbarkeit“ (Foucault 1992, 40 [Hervh. i.O.]) verortet. Statt den analysierten MachtWissens-Komplexen eine Alternative entgegen zu stellen, wird in ihnen ‚nur‘ ein „Feld von möglichen Öffnungen und Unentschiedenheiten, von eventuellen Umwendungen und Verschiebungen, welches sie fragil und unbeständig macht“ (ebd.), auf-

51 Kant hatte diesen Letztgrund definiert, indem er die drei wesentlichen Fragen seines Lebenswerks – ‚Was kann ich wissen?‘; ‚Was soll ich tun?‘; ‚Was darf ich hoffen?‘ – schließlich in der einen Frage zusammenfasste: ‚Was ist der Mensch?‘ An einem solchen Unbedingten hielten auch jene Formen der Kritik fest, die (von den Linkshegelianern bis zur Frankfurter Schule) die Form des „Misstrauens“ gegen die „Machtsteigerungen“, für welche die „Vernunft selbst verantwortlich ist“, annahmen (Foucault 1992, 18ff.). 52 Bei Bourdieu wird dieses Verhältnis zu Kant bereits in den Titeln zentraler Publikationen markiert. So trägt die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit und den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis den Untertitel Kritik der theoretischen Vernunft (Bourdieu 1987), die Feinen Unterschiede treten als Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft an und enthalten in der abschließenden „‚Vulgärkritik‘ der ‚reinen‘ Kritiken“ (Bourdieu 1999, 756-783) eine Verhältnisbestimmung zu Kant.

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gezeigt.53 Diese Form von Kritik, in der sich, wie Schwingel (1993) betonte, Bourdieu und Foucault treffen, setzt nicht mehr ethisch, moralisch oder utopisch an, sondern ist „epistemologisch begründet“ (ebd., 183 [Hervh. i.O.]). Sie rechtfertigt sich nicht normativ, sondern durch den Zuwachs an Kenntnissen. Auch hier liegt der wissenssoziologischen Dimension der Kritik eine Dimension der Analyse jener Mechanismen zugrunde, die eine bestimmte Form des Wissens und Handelns bedingen. Das Projekt, die „verborgenen Mechanismen der Macht“ zu „enthüllen“ (Bourdieu 1992a, 81), die „in die Haltung, die Falten des Körpers und die Automatismen des Gehirns eingegraben sind“ (ebd., 82), verhält sich dabei kritisch zu diesen Mechanismen, für deren Reproduktion die Latenz selbst eine Funktion hat (vgl. Jurt 2004, 122).54 Solche Analysen gehen von der von Luhmann (1995, 245ff.) als Kennzeichen kritischer ‚Enthüllungssoziologie‘ ausgewiesenen Frage „Was steckt dahinter?“ aus, unterscheidet sich aber vom ‚Enthüllungsjournalismus‘ oder von der vulgärmarxistischen Vorstellung vom ‚Klasseninteresse‘ dadurch, dass sie keine Trägergruppe der Machtausübung und ihrer ‚Verschleierung‘ sucht, sondern den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem latente Machtbeziehungen eine Funktion gewinnen. So entspricht „dem Funktionalismus Foucaults [...] eine moderne Typologie, die nicht länger einen privilegierten Ort als Quelle der Macht bezeichnet“ (Deleuze 1992, 42). Der Begriff ‚Macht‘ bezeichnet nicht eine in einer ‚herrschenden Klasse‘ lokalisierbare Potenz, sondern „Verhältnisse“ (Foucault 1987b, 251), die „tief im gesellschaftlichen Nexus wurzeln, und nicht über der ‚Gesellschaft‘ eine zusätzliche Struktur bilden“ (ebd., 257). Insofern sind Machtbeziehungen mit den sachlichen Funktionserfordernissen einer Gesellschaft (Produktion, Wissenschaft, Gesundheit, Bildung, Sicherheit etc.) ebenso verschränkt, wie mit den individuellen Selbstverhältnissen, weshalb die strukturell Herrschenden diesen Mechanismen ebenso ‚unterworfen‘ sind, wie die Beherrschten „durch eine Beziehung hingenommener Komplizenschaft“

53 Es geht um die Frage, wie die „Zwangswirkungen, die jenen Positivitäten eignen – […] anstatt durch Reflexion auf ihr transzendentales […] Wesen verflüchtigt zu werden – innerhalb des konkreten strategischen Feldes, das sie herbeigeführt hat, umgekehrt oder entknotet werden“ können (Foucault 1992, 33). Die Frankfurter Deutung, derzufolge Foucault hier „Theorie in Theoriepolitik“ verwandele, um in einem dezisionistischen Gewaltstreich „selbst eine neue Hierarchie des Wissens“ zu errichten (Habermas 1988a, 328 & 330), dies aber „erkenntnistheoretisch nicht [...] rechtfertigen“ könne, weshalb sich sein Analysen „als bloße Reflexionsform strategischen Handelns zu entlarven hätte[n]“ (Honneth 1989, 192), ist aus diesem Anspruch nicht ableitbar und verrät insofern mehr über die Interpreten. Dass eine Analyse statt nach ihrer rekursiven Selbstrechtfertigung auch nach ihrer am Gegenstand zu prüfenden Erklärungskraft beurteilt werden kann und ein Text nicht geschrieben ist, um eine Wissens-Hierarchie zu errichten, sondern um ein Sachproblem zu erschließen, scheint in Frankfurt undenkbar. 54 Latenz meint nicht das Produkt gezielter Verschleierung, mit der die ‚Herrschenden‘ ihre ‚wahren Interessen‘ verbergen, sondern vielmehr das, was dem Offenkundigen zugrunde liegt: „Das Verborgenste ist das, worüber alle Welt sich einig ist“ (Bourdieu 1993, 80; vgl. 2004d, 55-62). Foucault (1976) lehnte daher eine Art von ‚Ideologiekritik‘ ab, die „das ‚Nicht-Gesagte‘ […], das ‚Unbewußte‘ des System“ in den Interessen der Bourgeoisie sucht. „Sieht man sich [...] die Dokumente an, ist man überrascht, mit welchem Zynismus die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts sehr genau sagte, was sie tat, was sie tun wollte und warum.“ (Ebd., 52) Die Frage ist, welche Form das Selbstverständliche annimmt, und warum etwas in bestimmten Zeiten in so hohem Maße fraglos wird.

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(Bourdieu 1992a, 82) zu ihrer Reproduktion beitragen – ob in den Geschlechterbeziehungen oder in den Klassenverhältnissen. Kritisch wird eine Analyse solcher Verhältnisse, die nicht auf die Denunziation von Personen,55 sondern auf die Aufklärung funktionaler Mechanismen und struktureller Zwänge zielt, durch die oben (3.4.3) aufgezeigte Verschränkung der Sach- und Sozialdimension gesellschaftlicher Zusammenhänge. Wenn Bourdieu etwa in den frühen Arbeiten zur Transformation der algerischen Ökonomie zeigt, dass die Einführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise keine Weiterentwicklung der früheren Wirtschaftsformen durch bessere funktionale Adaption darstellt, sondern dass hier eine radikal andere Funktionslogik gegen „eine Vielzahl kultureller Widerstände“ (Bourdieu 2000a, 105) durchgesetzt werden muss, verhält sich dies kritisch zu einer Soziologie, für deren „implizite Geschichtsphilosophie […] die kapitalistische Gesellschaft in ihrer amerikanischen Spielweise eine Art universellen Fluchtpunkt“ (ebd., 64) aller Entwicklung bildet, aber auch zu jeder politischen Rhetorik, die eine jenseits oder vor aller gesellschaftlichen Praxis liegende ‚Sachdimension‘ als unbeeinflussbar und alternativlos darstellt. Wie Bourdieu (v.a. 2004c; s.u. V.4) im Hinblick auf die ‚Sachzwang-Rhetorik‘ hervorhob, mit der die ‚neoliberalen‘ Umbauten des Sozialstaates aus scheinbar unhintergehbaren Marktimperativen legitimiert wurden, bleibt es eine soziale und politische Frage, was als ‚Sachzwang‘, dem ‚gehorcht‘ werden muss, interpretiert wird und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Gegenüber solchen ‚Sachzwangargumenten‘ kann, wie Foucault (1978) betonte, ein „historische[s] Wissen der Kämpfe“ helfen, die „unterworfenen Wissensarten [...], die im Inneren der funktionalen und methodischen Ensembles präsent und verschleiert waren“ (ebd., 60f.), wieder sichtbar zu machen, um so auch die im Zuge eines bestimmten historischen Entwicklungspfades systematisch blockierten und ausgeschlossenen Alternativen den aktuellen Kämpfen zur Verfügung zu stellen. Dies heißt nicht, dass diese Kritik gesellschaftliche Funktionslogiken auf die alle Differenzen vereinheitlichende Sozialdimension von „Kampf“ und „Durchsetzung“ reduziert und, wie Bourdieu vorgeworfen wurde, den „sachlichen Sinn der Felder sozialer Praxis“, die „Frage der Logik der unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben“ übergeht (Nassehi 2004, 177ff. [Hervh. i.O.]). Das Argument liegt vielmehr darin, dass die Reinheit sachlicher Funktionen eine Fiktion ist, die zwar als Praktiken orientierende feldspezifische illusio oder als politisches Sachzwangargument wichtige Funktionen für die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse haben kann, in der Theorie aber nicht reproduziert werden soll. Das Aufzeigen der Verschränkung funktionaler Mechanismen mit sozialen Asymmetrien, Machtverhältnissen, Strategien und Kämpfen ignoriert nicht die gesellschaftliche Relevanz sachlicher Bezugsprobleme, erinnert aber daran, dass funktionale Mechanismen dem sozialen Handlungs-

55 „Wenig geeignet für eine kritische Soziologie“ scheint der damit verbundene Verzicht darauf, „klare Fronten aufzubauen und eindeutige Gegner zu benennen“ (Schroer 2004, 252), nur dann, wenn man die kritische Frage ‚was steckt dahinter‘ mit der verschwörungstheoretischen Frage ‚wer steckt dahinter‘ verwechselt. In den systemtheoretischen Abgrenzungen bleibt übrigens meist unklar, welche „kritische Soziologie“ eigentlich mit so simplen binären gut/böse oder Freund/Feind Schemata arbeitet, die sich ja auch der klassischen ‚kritischen Theorie‘ Frankfurter Provenienz nicht unterstellen lassen.

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raum nicht äußerlich sind und als Momente gesellschaftlicher Verhältnisse in ihren Formen und Konsequenzen variabel bleiben.56 In dieser Betonung der Veränderbarkeit sah die Rezeption oft einen Widerspruch zum von Foucault und Bourdieu gezeichneten Bild des funktionalen Ineinandergreifens heterogener Praktiken innerhalb der gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhänge und Machtdispositive, in denen noch die Subversion ihren Platz als bedingtes und bedingendes Element hat, das für die Stabilisierung des Gesamtzusammenhangs funktional werden kann. So dementiere Foucault die Kampfsemantik, auf die sich seine Kritik stützte, durch eine „einseitig auf Steuerungsprozesse zugeschnittene Systemtheorie“ (Honneth 1989, 217), für deren Funktionalismus der „unbegrenzten Effektivität der modernen Disziplinargewalt“ (ebd., 195) soziale Kämpfe nur „die alltäglichen Niederungen, über die hinweg der Systemprozess sich seinen Weg bahnt“ (ebd., 216), seien.57 Ähnlich sah Reckwitz (2003a) „bei Bourdieu, teilweise auch bei Foucault […] eine kaum reflektierte Tradierung von Denkfiguren […] des teleologischen Funktionalismus“ (ebd., 70), die zum Postulat der „Hyperstabilität“ gesellschaftlicher Verhältnisse und ihrer „unendlichen Reproduktion“ (ebd., 63f.) hinter dem Rücken der Akteure führe. Demzufolge stünde hier eine aktivistische Rhetorik unvermittelt neben einem funktionalistischen Determinismus, für den die Subjekte als Produkt von Verhältnissen, auf die ihre Dispositionssysteme abgestimmt sind, keine andere Möglichkeit haben, als die Verhältnisse 1:1 zu reproduzieren. Elster (1990) sah hier einen „Fatalismus“, der auf einer „umgekehrten Soziodizee“ beruhe, auf der Annahme also, „daß alles zum schlechtesten stehe in der schlechtesten aller möglichen Welten“ (ebd., 113). Der in solchen Einwänden unterstellte und von Bourdieu explizit zurückgewiesene „Funktionalismus zum schlechteren“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 110) setzt eine mit einer praxeologischen Perspektive unvereinbare Dichotomie des voluntaristischen Subjekts auf der einen und der deterministischen Übermacht gesellschaftlicher Zwänge auf der anderen Seite voraus. In einer funktionalen Analyse, die keine invarianten Funktionserfordernisse und -mechanismen kennt, sondern beides als kontin-

56 Dass es dabei um ein analytisches Argument und nicht um ‚revolutionäre Rhetorik‘ geht, zeigt sich darin, dass Foucault und Bourdieu hier in der Sache einmal mehr mit einem konservativen Autor wie Gehlen übereinstimmen. Dieser bezeichnete die „unpersönliche, funktionelle Herrschaft aus dem Zwang der Sachen heraus“ (Gehlen 1963, 206) und die Legitimation durch einen „Sachzwang“ (ebd., 255f.) als Typus moderner Herrschaft, betonte aber zugleich, dass hinter den „Sachen“ immer „auch Personen standen, die sie vertraten“ (Gehlen 2004a, 78). Zudem gelten durch die „Sachzwänge“ der Wirtschaftsweise, „die Belange und Interessen der Industrie heute gesamtgesellschaftlich als die maßgebenden“ und ihre „Forderungen ohne weiteres als legitimiert […], während alle anderen Volksteile ihre Lebensinteressen bedeutend mühsamer behaupten“ (Gehlen 2004b, 393). 57 Vgl. Honneth 1989, 196-223; 1999, 80ff.; ähnlich Biebricher 2005, 135ff. Dass Foucault „offenbar auf Basis einer Systemtheorie“ argumentiere, die „Gesellschaft als […] Komplex von Machtstrategien begreift, mit der die als invariant gedachten Bezugsprobleme des demographischen Wachstums und der ökonomischen Reproduktion bewältigt werden“ (Honneth 1989, 214), ist unhaltbar. Demographie und Ökonomie sind genuin neuzeitliche Ansatzpunkte von Machttechniken, keine historischen Invarianten. Ebensowenig ist für Foucault „der Wirtschaftsprozess ein bloßes Umfeld des gesellschaftlichen Machtsystems“ (ebd., 216). Statt einer System/Umwelt-Analyse bietet Foucault die Analyse der wechselseitigen Bedingtheit von Machttechniken und kapitalistischer Ökonomie (s.u. IV).

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gentes Produkt einer dynamischen Praxis analysiert, in der die Mechanismen nie unabhängig von den sozialen Kämpfen sind, die um sie und mit ihnen geführt werden, können in diachroner Perspektive auch die zu einem gegebenen Zeitpunkt der Formierung der subjektiven Dispositionen vorhergehenden gesellschaftlichen Zusammenhänge als durch die Effekte von Handlungen produziert und entsprechend durch die Effekte des Handelns veränderbar begriffen werden.58 Das „konstitutive Paradox […] einer Kritik, die einen allgemeinen sozialen und ökonomischen Konditionierungsprozeß“, der zudem „zwangsläufig und systematisch verkannt werde, gegen diese Prozesse […] zu erkennen glaubt“ und dabei den „kritischen Intentionen“ durch die „eigenen Analysen de[n] Boden entzogen“ habe, welches Miller (1989, 218) bei Bourdieu oder Honneth bei Foucault ausmacht, ist nur ein Paradox, wenn die für beide Autoren zentrale Dimension der Zeit ebenso wie die reflexiven Freiheitsgrade theoretischer Beobachtung und eines irritierbaren praktischen Handelns vernachlässigt und gesellschaftliche Strukturgesetze mit der sozialen Praxis äußerlich vorausgesetzten Automatismen verwechselt werden. Zudem meinen funktionale Mechanismen in einer praxistheoretischen Perspektive keinen perfekt austarierten Mechanismus nach Art eines Schweizer Uhrwerks oder eines idealen Systems im Gleichgewichtszustand. Als vorläufiges Produkt einer kontingenten Geschichte, sind gesellschaftliche Zusammenhänge in sich widersprüchlich und durch immanente Krisen- und soziale Konfliktdynamiken geprägt und bleiben daher für Transformationen offen.59 Darin liegt eine radikale Differenz zum teleologischen Funktionalismus, aber auch zu Luhmanns funktionaler Analyse, mit der diese Ansätze die Aufmerksamkeit für die historische Kontingenz der Genese von Bezugsproblemen, Funktionen und Strukturen teilen. Wo sich bei diesem Kontingenz in ein Narrativ des unwahrscheinlichen Aufbaus emergenter Strukturmuster als eigensystemischer Leistung fügt und so eine von Sach-Problemen getragene und aus Sach-Prinzipien zu erklärende Evolutionsgeschichte erzählt wird (vgl. Luhmann 1998, 413-594 & 707-775), bleiben für praxeologische Perspektiven die ‚Sachdimension‘ der Funktionen und die ‚Sozialdimension‘ der Konflikte und Strategien verschränkt. Dadurch kann diese Form funktionaler Analyse nicht nur den Anschein der Selbstläufigkeit der Prozesslogiken theoretisch in Frage stellen, sie kann auch die praktische Relevanz funktionaler Analyse als Kritik anders beurteilen. Luhmann betonte, dass auch wo die Analyse „Latenzen, Ideologien [...] und Sichtunmöglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung mit einschließt“ oder zeigt, „daß die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum erträglichen Folgen führen“, damit doch „kein Rezept für die Herstellung eines anderen Gegenstandes Ge-

58 Saake (2004), die eine kontingenztheoretische Lesweise Bourdieus vorschlägt, betont, der Vorwurf, sein Ansatz sei „deterministisch“, beruhe darauf, „dass die theoretische Debatte entsprechend vorstrukturiert ist und nur dieses Entweder-oder wahrnehmen kann. Geht man – wie Bourdieu – von einer empirisch verfassten Praxis aus, die sich als Gegenteil der Theorie versteht, verliert diese Streitigkeit an Bedeutung.“ (Ebd., 96, Fn. 10) 59 Foucault zeigt, wie einst funktionale Praktiken der Disziplin in veränderten historischen Kontexten Dysfunktionen und Konflikte hervorrufen und Ansatzpunkte für praktische Kämpfe bieten, die ihrerseits für veränderte Funktionserfordernisse einer sich transformierenden Gesellschaft anschlussfähig sind (s.u. IV). Auch Bourdieus als deterministisch gedeutete Darstellung der Klassenverhältnisse bezieht sich primär auf Veränderungsdynamiken (s.u. V).

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sellschaft“ gegeben werden könne, „sondern nur eine Verlagerung von Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der Gesellschaft“ (ebd., 1119 [Hervh. T.H.]) möglich wird. In den hier interessierenden Ansätzen verleiht aber gerade dieses ‚nur‘ den theoretischen Analysen den Charakter einer praktisch relevanten Kritik. Die Verlagerung von Aufmerksamkeiten kann auch ohne ‚Rezept‘ zur Veränderung von Praktiken führen. Indem Wissenschaft in einem „empirisch wirksamen Diskurs manifest macht, was […] unausgesprochen oder verdrängt [war], verändert sie die Vorstellung […] und damit auch die soziale Welt selbst, zumindest in dem Maße, wie sie Praxen möglich macht, die dieser veränderten Vorstellung entsprechen“ (Bourdieu 1990, 109f.). Solche ‚Theorie-Effekte‘, in denen Theorien Wirkung auf ihren Gegenstand zeigen, machen die klare Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis in den Sozialwissenschaften als Fiktion sichtbar. In praxi wirken Analysen gesellschaftlicher Phänomene (unabhängig von den Intentionen) zurück auf die Gesellschaft und sind Teil ihres Gegenstands. Das meint nicht nur ein Paradox, das es theorieimmanent zu reflektieren gilt, vielmehr kann die Aufklärung der Genese und Funktion gesellschaftlicher Mechanismen, indem sie gesellschaftliche Wahrnehmungen irritiert und verschiebt, auch dazu beitragen, die Freiheitsgrade des praktischen Handelns zu erhöhen (vgl. Bourdieu 1992a, 46f.).60 Dass solche Analysen „ihrem Objekt Freiheitsgrade [unterstellen], die ihm selbst nicht zur Verfügung stehen“, ist mithin keine bloße „Realitätsüberschätzung“, die als „Differenz von Selbstreferenz im Objekt und Selbstreferenz in der Analyse“ theoretisch „kompensiert“ werden muss – wie Luhmann (1987, 89) meinte. Die Unterstellung bisher unverfügbarer Freiheitsgrade kann sie einer veränderten Praxis verfügbar machen. In historischen Konstellationen, in denen die „Dinge, Institutionen, Praktiken und Diskurse in einem […] ausufernden Maße kritisierbar“ und die scheinbar festen „Böden […] brüchig geworden“ sind, kann auch eine nicht mit globalen Geltungsansprüchen auftretende und „nicht zentralisierte theoretische Produktion“ praktische Wirkung in „partikularen und lokalen Kritiken“ entfalten (Foucault 1999, 13f.). Dabei gibt das „Sichtbarmachen der Funktions- und Reproduktionsmechanismen keine normativen Maßstäbe zur Be- und (gegebenenfalls) Verurteilung der sozialen Welt an die Hand“, durchbricht aber den „Schein der […] Unumstößlichkeit“ und zeigt Optionen, „die den Handelnden objektiv gegeben sind und die sie zu Strategien der Veränderung der sozialen Welt ebenso führen können wie zu Strategien der Bewahrung“ (Schwingel 1993, 18 [Hervh. i.O.]). Erst vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Verhältnis von wissenschaftlicher und intellektueller Praxis bei Marx, Foucault und Bourdieu verstehen.

60 In diesem Sinne weiß auch Luhmann (1996) dass Theorie, wo sie „nicht verstecktes Buchwissen bleibt […,] die Gesellschaft, die sie beschreibt“, verändert (ebd., 67).

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4.5 W ISSENSCHAFT UND PRAKTISCHE K RITIK . M ARX , B OURDIEU UND F OUCAULT ALS I NTELLEKTUELLE „Ist die soziale Welt auch weitgehend von Menschen gemacht, so haben sie doch nur eine Chance, sie in ihrer alten Form niederzureißen, um sie dann neu aufzubauen, sofern sie über ein realistisches Wissen verfügen, was sie ist und wie weit sie auf sie einwirken können – eingedenk ihrer Stellung in ihr.“ PIERRE BOURDIEU (1985, 28) „Mein Diskurs ist selbstverständlich der [...] eines Intellektuellen und funktioniert als solcher in den bestehenden Machtnetzen. Aber ein Buch ist dazu da, um Zwecken zu dienen, die von dem, der es geschrieben hat, nicht festgesetzt sind. [...] Alle meine Bücher [...] sind [...] kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute, die sie aufmachen [...,] diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwenden, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demontieren oder zu sprengen, einschließlich vielleicht derjenigen, aus denen diese meine Bücher hervorgegangen sind – nun gut, umso besser.“ MICHEL FOUCAULT (1976, 53)

Form und Anspruch der theoretischen Kritik bei Marx, Foucault und Bourdieu können von den praktisch-kritischen Ambitionen kaum isoliert werden. Die „neutralisierende Betäubung“ einer rein akademischen Marxrezeption, die bereit wäre, „die Rückkehr zu Marx zu akzeptieren“, solange „mit Schweigen übergangen wird, was da nicht zu entziffern gebietet, sondern zu handeln, aus der Entzifferung […] eine Transformation zu machen, die ‚die Welt verändert‘“ (Derrida 1996, 59f.), würde nicht nur die politische Praxis, sondern auch die Theorie von Marx verfehlen. Derridas Kritik ist auch auf den Umgang mit den Ansätzen Bourdieus und Foucaults übertragbar. Wie Umberto Eco betonte, ist die reine Objektivität und Neutralität wissenschaftlicher Praxis eine Fiktion: „Theoretische Forschung ist eine Form sozialer Praxis. Jeder, der etwas wissen möchte, möchte es wissen, um etwas zu tun. Behauptet er, er möchte es nur wissen um ‚zu wissen‘ […], so bedeutet das, daß er es wissen möchte, um nichts zu tun, und das ist in Wahrheit eine versteckte Art etwas zu tun, nämlich die Welt so zu lassen, wie sie ist (und – wie er durch sein Verhalten zu erkennen gibt – seiner Meinung nach auch sein sollte).“ (Eco 1991, 55f.)

Wissenschaft folgt zwar einer eigenen Logik, hat eigene Freiheitsgrade und Grenzen, sie existiert aber nicht unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Für Ansätze, die gesellschaftliche Bedingungen und Funktionen des Wissens (einschließlich des eigenen) zu objektivieren suchen, ist Theorie auch ein Moment gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, in denen der Theoretiker – ob er will oder nicht – positioniert ist. Das Aufdecken der Historizität und Variabilität der Verhältnisse, die Rückführung der „sozialen Funktionen“ auf ihren Charakter als „soziale Fiktionen“ (Bourdieu

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1985, 76), die erst im Handeln Realität gewinnen, gilt so auch praktisch als „per se kritisch“ (Bourdieu/Passeron 1971, 15). Marx, für den es die „religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen“ waren, in denen sich Individuen eines „Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“ (MEW 13, 9), wollte die „versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt“ (MEW 1, 381), und sah seine Theorie als „revolutionär“, da sie „jede gewordene Form im Flusse der Bewegung also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt“ (MEW 23, 28). Foucaults Versuche, „den Einschnitt der Zusammenstöße und Kämpfe“ zu finden, die ein bestimmtes Wissen und Handeln hervorbrachten, zielte auf die „Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Verhältnissen […], die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe […] in aktuelle Kämpfe einzubringen“ (Foucault 1999, 15ff.). Für beide ist das „historische Wissen keine Beruhigungspille, es ist ein Aufputschmittel“, das „die Dynamik der Veränderung“ anreizt (Brieler 2002, 51). Auch Bourdieus Analysen von gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen, die stets auch „Effekte ihrer eigenen Verschleierung“ produzieren (Bourdieu 1999, 390), zielt auf „Aufklärung, Entmystifizierung“ (Bourdieu 1985, 65 [Hervh. i.O.]), um „den gesellschaftlichen Subjekten die Herrschaft über jene trügerischen Transzendenzen wieder zu überantworten, die durch Verkennung und Verleugnung stets aufs neue produziert werden“ (ebd., 81). Wenn theoretische Praxis aber als Element von Gesellschaftskritik nicht abstrakt bleibt, sondern aktiv in gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingebracht wird, stellt sich die Frage, ob nicht zumindest dafür eine ‚normative Ausweiskontrolle‘ angebracht ist. Aufschlussreich sind hier die Selbstverständnisse als kritische Wissenschaftler und Intellektuelle, die erneut in vielen Punkten bei Marx angelegt sind und in Foucaults (vgl. 1978, 44-55) und Bourdieus Konzepten des „spezifischen“ oder „partikularen Intellektuellen“ im Gegensatz zum „totalen Intellektuellen“ (vgl. Bourdieu 2001a, 209-214 & 333-339) begrifflich verdichtet erscheinen. Es mag überraschen, wenn hier auch und gerade Marx als spezifischer Intellektueller gekennzeichnet wird. Schließlich wurde diesem oft eine Perspektive unterstellt, in der die „wahre theoretische Theorie die Anweisungen für die Praxis gibt und sowohl deren Verlauf wie ihren Endzweck in sich als solchen begreift“ (Dangelmayr 1979, 369).61 Marx habe es sich demnach zur Aufgabe gemacht, die „Kräfte des industriellen Proletariats unter Führung einer theoretisch aufgeklärten Avantgarde zu einer Bewegung [zu] formieren“ (Habermas 1995, Bd. 2, 500). Entgegen der in solchen Lesweisen unterstellten (leninistischen) Vorstellung der revolutionären Avantgarde, die aus der ‚wahren Theorie‘ die „Anleitung zum Handeln“ bezieht und Praxis zum „field of application einer dinghaft außerhalb ihrer angesiedelten Theorie“ (Schmidt 1974, 270 [Hervh. i.O.]) macht, erklärte sich aber bereits der junge Marx gegen Theorien, die glauben, „die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte“ zu haben. „[N]amentlich der Kommunismus“ sei eine „dogmatische Abstraktion“. Als Teil sozialer Bewegung kann Theorie nicht die „Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten“ beanspruchen (MEW 1, 344f.). Die 3. Feuerbachthese unter-

61 Dies ist eine idealistische Selbstüberschätzung der praktischen Rolle von Theorie, wie sie sich etwa auch bei Bloch und einige Vertretern der ‚kritischen Theorie‘ findet.

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zog die Vorstellung der Führung der Massen durch die Theorie einer (Selbst-)Kritik. Der dem ‚utopischen Sozialismus‘ (Helvetius, Saint-Simon, Fourier), dem Elitismus der Junghegelianer und Teilen der eigenen Frühschriften62 gemeinsamen Tendenz, „die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – [zu] sondieren“, setzte Marx die These vom „Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen […] Selbstveränderung […] als revolutionäre Praxis“ (MEW 3, 5 [Hervh. i.O.]) entgegen. Kritik wird dabei zur Funktion einer dynamischen Praxis, die vor aller Theorie durch den Wechsel praktischer Bewährung und kritischreflexiver Prüfung ihrer Effekte gekennzeichnet ist. Sie ist nicht fixierte Weisheit einer Führungselite, sondern immanentes Moment sozialer Kämpfe, die ihre konkreten Ziele erst entwickeln.63 Theorie soll als reflexives Moment gesellschaftlicher „Selbstveränderung“ fungieren, aber kein Telos formulieren. Gerade die Position des Theoretikers wird als partikular begriffen, sie bleibt approximativ und falsifizierbar, wobei der Praxis selbst ein erkenntniskritischer Gehalt zukommt, von dem her die Theorie immer wieder zu korrigieren ist.64 Die Aufgabe kann somit nicht in der ‚Führung‘ der Massen bestehen, sondern nur darin, ihnen ein besseres Verständnis der Situation zu ermöglichen. So fragwürdig Illusionen des Aufgehens der Intellektuellen in der revolutionären Masse sind, lässt Marx’ Verständnis ihrer Tätigkeit als einer Teilfunktion zumindest keinen „Platz für eine besondere politische Führungsfunktion. Parteien haben Doktrinen, sie verbreiten die ‚wahre Parole des Kampfes‘, der in der Masse aufgelöste Intellektuelle zeigt ‚nur‘ Gründe auf, die ihrer Bewegung nie äußerlich sein können“ (Eßbach 1988, 278). Statt den proletarischen Bewegungen ein fertiges Gesellschaftskonzept oder universelle Geltungsansprüche anzudienen, in deren Dienst sich der Kampf zu stellen hätte, geht es hier darum, ein positives Wissen über die gesellschaftliche Situation und Stellung des Proletariats und über realistische Taktiken zur Durchsetzung von Interessen (auch innerhalb der gegebenen Verhältnisse) in den Dienst dieser Kämpfe zu stellen.65 Marx verhielt sich zum Proletariat daher nicht normativ, sondern parteiisch. Statt im Namen der ‚Gerechtigkeit‘ für die ‚ungerecht Behandelten‘ einzutreten,

62 Der junge Marx hatte die „Klasse mit radikalen Ketten“ (MEW 1, 390) als „materielle Grundlage“ (ebd., 386) einer Emanzipation bezeichnet, deren „Kopf“ die Philosophie sei (ebd., 392). Das implizierte eben jene Vorstellung einer Führungsfunktion der Intellektuellen, die er später dem utopischen Sozialismus und den Junghegelianern vorwarf (vgl. MEW 4, 489ff.; MEW 2, 82-148; vgl. auch Eßbach 1988, 200ff.). 63 „Proletarische Revolutionen [...] kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen.“ (MEW 8, 118) Das ist eine idealisierende Zuschreibung, die aber Marx’ Verständnis ‚revolutionärer Praxis‘ verdeutlicht. 64 Dem entspricht auch das „Utopieverbot“ (vgl. MEW 1, 344ff.), das sich Marx in Abgrenzung zu anderen sozialistischen Theorien auferlegte. Ob es ihm stets gelang, diesem Anspruch zu folgen, ist eine andere Frage. In jedem Fall blieben Aussagen über die Form einer kommunistischen Gesellschaft stets unbestimmt und bezogen sich meist auf Auseinandersetzungen mit realen Bewegungen wie der Pariser Kommune von 1871 (vgl. MEW 17). 65 Deutlich ist das etwa im Vortrag Lohn, Preis, Profit vor dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation 1865 (vgl. MEW 16, 103-152). Marx mahnt zwar, das revolutionäre Fernziel nicht aus den Augen zu verlieren, entwickelt aber v.a. eine Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge, um zu zeigen, welche Forderungen und Strategien in der gegebenen Situation möglich und realistisch sind und welche nicht.

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oder ihnen Freiheits- und Gleichheitsideale zu explizieren, soll gezeigt werden, wie und warum in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung Interessen des Proletariats verletzt werden. Parteiisch ist diese Positionierung, da wissenschaftliche Ergebnisse in den Dienst einer sozialen Bewegung gestellt werden.66 Nicht-normativ kann diese Verwendung eines Wissens im Dienst politischer Kritik sein, da ein Interesse faktisch keine übergeordneten Geltungsgründe voraussetzt (auch wenn es mit diesen aufgeschmückt und legitimiert werden kann).67 Diese Parteinahme mag von gegebenen Normen affiziert sein, solange sie ein partikulares Wissen in den Dienst eines kenntlich gemachten Interesses stellt, müssen diese Normen aber nicht zusätzlich als universell behauptet werden, was nur nötig ist, wenn die Theorie mit totalitärem Anspruch auftritt. Foucaults und Bourdieus Bestimmungen der praktisch kritischen Funktionen der Wissenschaft und der Rolle des Theoretikers als Intellektuellem führt dieses marxsche Verständnis fort. Bourdieu (1991b) betont, er habe in seinen Texten und Stellungnahmen lieber „mit dem Wort ‚Interesse‘ gearbeitet“, um sich von einer gewissen „Sorte Humanismus abzusetzen“ und daran „zu erinnern, daß es den Humanisten eben auch befriedigt, wenn er sagt, er ist Humanist“ (ebd., 274). Foucault sprach bevorzugt von Strategien und Taktiken. Auch hier gilt Kritik nicht als Refugium einer ‚freidrehenden Intelligenz‘68, die Kraft ihrer selbstgesetzten theoretischen Fundamente den Anspruch auf universell gültige Bewertung erheben könnte. Vielmehr stellt ein „radikaler Abstand keine Vorbedingung für Gesellschaftskritik“ (Walzer 1990, 47) dar, die immer schon Element einer dynamischen Praxis ist; eine Form der „individuellen und zugleich kollektiven Haltung“ zum aktuell Gegebenen (Foucault 1992, 41), die das „historische Schema unserer Modernität“ wesentlich prägt (ebd., 28).69 In

66 Gut herausgearbeitet ist dies bei Heinrich (1991, 244ff.), der u.a. betont: „Für eine politische Kritik lassen sich die wissenschaftlichen Resultate von Marx insofern verwenden, als sie zeigen, daß der kapitalistische Produktionsprozeß, indem er als Verwertungsprozeß organisiert ist, zwangsläufig auf Kosten der Arbeiter von statten geht“. Damit „intendiert Marx jedoch keine moralische Kritik am Kapitalismus, es geht ihm nicht um ‚Gerechtigkeit‘, sondern um die Verletzung elementarer Interessen der Arbeiterklasse. Wissenschaftlich will Marx zeigen, daß diese Verletzung untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist.“ Indem dieses Wissen dem Proletariat zur Verfügung gestellt wird, kann es, „so die Hoffnung von Marx, zur politischen Aktion führen, – nicht im Namen der Gerechtigkeit, sondern des eigenen Interesses.“ (Ebd., 248 [Hervh. i.O.]) 67 Habermas fordert, dass das anders sein sollte. Darüber kann man sich verständigen. Das Sollen aber auf eine Bestimmung der faktischen Position und Funktion des Intellektuellen zu beziehen, ist ein Kategorienfehler. Als Strategie kann die Berufung auf Höheres im Dienst eines Interesses sinnvoll sein. Die Analyse sollte aber an Folgendes erinnern: „Die ‚Idee‘ blamierte sich immer, soweit sie von dem ‚Interesse‘ unterschieden war. Anderseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes […] sich durchsetzende ‚Interesse‘ […] in der ‚Idee‘ […] weit über seine wirklichen Schranken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt.“ (MEW 2, 85 [Hervh. i.O.]) 68 Der Neologismus ‚freidrehende Intelligenz‘ wird hier vorgeschlagen, um zu erfassen, dass ein Zustand des Freischwebens über den Verhältnissen und Interessen auch näherungsweise unerreichbar ist, dass es aber in der Gesellschaft Räume sozialer Praxis gibt, die es gestatten freizudrehen, d.h. Diskurse zu produzieren, die sich weitgehend frei von der Reibung mit sonstigen sozialen Realitäten in zirkuläre Selbstbegründung hineindrehen. 69 Foucault (1992) sieht die Wurzeln dieser kritischen Haltung schon vor Kant in den verwickelten „religiösen Kämpfen und geistlichen Haltungen der zweiten Hälfte des Mittelalters“ (ebd., 44).

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diesem Sinne bedarf „Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen der Soziologie nicht“ (Schwingel 1993, 182 [Hervh. i.O.]). Allerdings kann die relative Autonomie, die soziologische Forschung und Reflexion gegenüber anderen Praxisformen auszeichnet, die Produktion eines Wissens fördern, das die Selbstverständigung sozialer Bewegungen und die sozialen Kämpfe zu unterstützen vermag. Vor diesem Hintergrund verband Bourdieu eine Kritik an dem seit Zola entwickelten Typus des Intellektuellen, der „– gegen die eigentümlichen Gesetze […] der Realpolitik und der Staatsräson – als Verteidiger universaler Prinzipien [auftritt], die nichts anderes sind als das Ergebnis der Universalisierung spezifischer Prinzipien seines eigenen Universums“ (Bourdieu 2001a, 211), mit einer Verteidigung und Neubestimmung der Rolle des Intellektuellen. Der „Mythos“ des „freien Intellektuellen […] als Widersacher jeder Macht“ (Bourdieu 1992a, 41) und einer „Politik der Reinheit“, die als „perfekte Antithese zur Staatsräson“ im Namen eines ethischen „Universalismus“ (Bourdieu 2001a, 527 [Hervh. i.O.]) auftritt, wird durch die Analyse der Genese und der Bedingungen intellektueller Positionierung und ihrer „symbolischen Macht“ konterkariert.70 Gleichwohl forderten sowohl Bourdieu als auch Foucault eine intellektuell engagierte Wissenschaft und traten – teilweise gemeinsam (vgl. Eribon 1991, 427-444) – als Intellektuelle auf. In beiden Fällen wird dabei (in expliziter Abgrenzung zum in Frankreich von Sartre verkörperten Typus) ein neues (Selbst-)Verständnis des Intellektuellen entwickelt. Foucault (vgl. 1978, 44ff.) illustrierte dies mit dem Konzept des „spezifischen Intellektuellen“, was kein normatives Ideal meint, sondern einen historischen Typus, der durch „die Ausweitung der wissenschaftlich-technischen Strukturen in der Ökonomie“ (ebd., 49) möglich und wahrscheinlich wird. Spezifische Intellektuelle begründen ihr Engagement nicht aus universellen Werten oder aus dem Anspruch einer globalen Philosophie, sondern aus einem partikularen Wissen und einer spezifischen Betroffenheit. Sie verorten ihre Position „nicht mehr im ‚Allgemeinen‘ und ‚Exemplarischen‘, in dem was ‚für alle wahr und gerecht‘ ist“, sondern vielmehr „an spezifischen Punkten“, an „denen sie in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind“ (ebd., 44). An die Stelle des traditionellen Intellektuellen, der als eine Art über den Niederungen des Alltags und der Einzelwissenschaften schwebendes „universelles Gewissen“ auftrat, treten hier verschiedene Träger eines „Fachwissens“ (Foucault 2003b, 670f.), die ihre besonderen Kompetenzen für bestimmte Interessen und Bewegungen verfügbar machen.71 Universelle Ansprüche werden dabei nicht formuliert, sehr wohl aber können „sich Querverbindungen von Wissen zu Wissen, von einem Ort der Politisierung zum anderen herstellen“ (Foucault 1978, 45). Allgemeine Relevanz gewinnt ein solches spezifisches Wissen im Dienst spezifischer Aktionen dadurch, dass es in ein Netz gesellschaftlicher Zusammenhänge eingreift und damit auch Wirkungen „auf der allgemeinen Ebene dieser Ordnung der Wahrheit“ hervor-

70 Bourdieu (vgl. 2001a, v.a. 205-214, 333-339 & 524-528; 1991a) hat diesen Typus und seine Genese ausführlich analysiert. Foucaults intensive Auseinandersetzung mit der Rolle des Intellektuellen ist stärker von eigenen Verortungen im intellektuellen Feld geprägt. 71 Foucault nennt hier v.a. die Biologen, Physiker und andere Professionen, „die im Dienst des Staates oder gegen ihn, über Machtbefugnisse verfügen, die das Leben erleichtern oder definitiv auslöschen können. Nicht mehr Sänger der Ewigkeit, sondern Strategen des Lebens und des Todes.“ (Foucault 1978, 49)

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ruft, „die für die Struktur und das Funktionieren unserer Gesellschaft fundamental ist“ (ebd., 53). Der Typus des spezifischen Intellektuellen teilt mit dem Typus der technokratischen Intelligenz (vgl. Bourdieu 1991a, 59f.; 1992b, 161) eine Beschränkung auf seine partikularen Kompetenzen, die er im Unterschied zum technokratischen Typus aber in den Dienst politischer Kämpfe stellt oder zur Beförderung eines reflexiven Verhältnisses zur bestehenden Ordnung einzusetzen sucht: Die Funktionsträger, die „mit dem Netz des Wissens und der Macht in Verbindung stehen“, können auch helfen, „Informationen zu verbreiten, die bisher als Expertenwissen geheim waren“, um so dazu beizutragen, „die Wirkungsweise der Macht zu kontrollieren“ (Foucault 2003b, 670). Dabei schützt der Status des ‚spezifischen Intellektuellen‘ weder vor politischen Irrtümern und Fehlgriffen noch garantiert er die Wirksamkeit des Engagements, da vielmehr gerade der partikulare Anspruch auch sektiererische Abschließungen begünstigen kann (vgl. u.a. Foucault 1978, 50). Bourdieu vertrat mit seiner Vorstellung eines „partikularen Intellektuellen“ im Gegensatz zum „totalen Intellektuellen“, wie ihn Sartre verkörperte, ähnliche Ansprüche und sah eine weitere Aufgabe des Intellektuellen darin, den Akteuren seine speziellen unter besonderen Bedingungen gewonnenen Fähigkeiten als „Geburtshelfer“ der Formulierung ihres eigenen impliziten Wissens zur Verfügung zu stellen (Bourdieu 1991a, 20ff.), wofür die – nach wissenschaftlichen Kriterien mitunter fragwürdigen72 – Interviews in Das Elend der Welt (Bourdieu et al. 1997) ein Beispiel sind. Allerdings vertraten seine Aufrufe zu einem „Korporatismus des Universellen“ (Bourdieu 2001a, 523ff.), zu einer Vereinigung der „Kompetenzen und [...] Talente, der Gesamtheit der spezialisierten Intellektuellen“ zum „kollektiven Intellektuellen“ (Bourdieu 1991a, 61),73 auch deutlich darüber hinausreichende Ambitionen. Hierunter verstand er die Ausbildung „kritischer Netzwerke […], in denen ‚spezifische Intellektuelle‘ (im Foucaultschen Sinne also fach- und sachkundige Gelehrte)“ ihre Fachkompetenzen koordiniert in den Dienst „kollektiver Projekte“ stellt (Bourdieu 2004c, 155). Entgegen den Suggestionen von Habermas, Bourdieu habe sich hier am Ende seines Lebens der Philosophie des ‚kommunikativen Handelns‘ angenähert,74 zeigen dessen Forderungen aber wenig Gemeinsamkeiten mit der Vor-

72 Wissenschaftlich fragwürdig ist etwa die Tendenz, den Interviewten mit Suggestivfragen ‚auf die Sprünge zu helfen‘. Dies ist der Anlage der Studie geschuldet, die weniger wissenschaftliche Datenaufnahme und eher ein Versuch ist, denen zu Wort zu verhelfen, die sonst kaum gehört werden, und sie – in Analogie zu einem Diagnosegespräch – bei der möglichst präzisen Formulierung der Symptome und Ursachen ihres „Leidens an der Gesellschaft“ zu unterstützen (vgl. Bourdieus Postskriptum in: Bourdieu et al. 1997, 823-826). 73 Es handelt sich hier um eine klar markierte „normative Stellungnahme“ (Bourdieu 2001a, 523) und ein Dokument einer realpolitischen Ambition. Die „Internationale der Intellektuellen“ (ebd., 530 [Hervh. i.O.]), für deren Vernetzung in Europa sich Bourdieu in den 1990er Jahren aktiv einsetzte, blieb freilich eher ein frommer Wunsch. 74 Habermas’ Nachruf auf Bourdieu (Frankfurter Rundschau vom 25.01.2002) suggerierte dies. Die Diskursstrategie gleicht dem Nachruf auf Foucault: Das Urteil wird milder und wägt Leistungen und tiefe Irrtümer des Verschiedenen ab, um abschließend zu suggerieren, dieser habe am Ende doch noch auf den rechten Weg gefunden, der zur Philosophie des ‚kommunikativen Handelns‘ geführt hätte, wenn ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen wäre. So sei selbst Foucault am Ende „in den Bannkreis des philosophischen Diskurses der Moderne, den er doch sprengen wollte, eingeholt“ worden (Habermas 1985, 131). Anhän-

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stellung einer der Aushandlung universeller Geltungsgründe verschriebenen Diskursgemeinschaft. Es geht stattdessen um einen politischen Aufruf an die Intellektuellen in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Felder kultureller Produktion zunehmend heteronom gegenüber privatwirtschaftlichen und politischen Imperativen werden, im eigenen Interesse „die Verfügungsgewalt der Kulturproduzenten über ihre Produktions- und Distributionsmittel“ zu verteidigen (Bourdieu 2001a, 530 [Hervh. i.O.]), sich also „für die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen der Autonomie jener privilegierten Welten einzusetzen, in denen die materiellen und intellektuellen Instrumente dessen produziert werden, was wir Vernunft nennen“ (ebd., 535). Ob es sich dabei um „bloß korporatistische Interessen“ oder um „einen Korporatismus des Universellen handelt“, kann sich nicht im Diskurs erweisen, sondern nur durch „die Ziele, in deren Dienst“ die Intellektuellen die „Instrumente ihrer Autonomie“ stellen (ebd.). Unabhängig von manchen problematischen Ungereimtheiten und Widersprüchen zur praxeologischen Position, die sich in den – nicht als wissenschaftliche Texte, sondern als „Gegenfeuer“ zu ökonomischen und politischen Entwicklungen angelegten – Positionierungen der 1990er Jahre finden,75 bleibt deutlich, dass die Intellektuellen auch hier nicht auf die Suche nach ‚normativen Fundamenten‘ in die ewigen Geltungsgründe geschickt werden. Sie sollen Interessen vertreten, zunächst die eigenen und im besten Falle auf dieser Grundlage auch solche, die sie in der gegebenen Situation als universelle gesellschaftliche Interessen ansehen. Das entscheidet sich nicht am Gehalt der Sprechakte, sondern an den praktischen Zielen, in deren Dienst sie sich stellen.76 Eine Form von Kritik, die durch ihren „lokalen Charakter“ gekennzeichnet ist, insofern sie ein besonderes historisches und theoretisches Wissen über Funktionsmechanismen und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in den Dienst einer politischen Kritik oder Strategie stellt, muss – solange sie Parteinahmen und Interessen als solche kenntlich macht – „ihre Gültigkeit nicht mit dem Visum eines allgemeinen Nor-

gern der Irrlehren der Verstorbenen soll das vielleicht eine Warnung sein, ihr Leben nicht ebenfalls in den „Untiefen der Rationalitätskritik“ (ebd., 132-140) zu vergeuden. 75 Die Emphase, mit der Bourdieu zwar nicht die Existenz eines ‚universalen Standpunkts‘, aber die Notwendigkeit ‚universalistischer Ansprüche‘ der Intellektuellen, die als ‚Anwalt des Allgemeinen‘ auftreten, vertrat, steht teilweise im Widerspruch zur praxeologischen Annahme, dass es zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstandpunkt und Praxis eine zwar reflexiv einholbare, aber nie gänzlich überbrückbare Differenz gibt, so dass Wissenschaft ihre spezifische Objektivierung von ‚Wahrheit‘ nie als praxisverbindliche Wahrheit deklarieren könnte (vgl. kritisch: Schwingel 1998, 140-159). 76 Die Ziele von Bourdieus „Realpolitik der Vernunft“ bestehen so nicht im Postulieren von Universalien, sondern in der Verteidigung und Universalisierung besonderer historischgesellschaftlicher Bedingungen des Vernunftgebrauchs. „Wohl dürfte es keine überhistorischen Universalien geben, dafür aber gesellschaftliche Organisationsformen des kommunikativen Austausches, die die Hervorbringung des Universellen begünstigen.“ Um sich für diese einzusetzen, bedürfe es nicht der „moralischen Ermahnung “, sondern der „Verbreitung von Waffen zur Abwehr jener symbolischen Schläge, die […] im Namen der Wissenschaft verübt werden“, etwa in Form der „‚Experten‘-Urteile“. Es gelte, „statt sich in verbale Exorzismen der ‚Moderne‘ zu stürzen, allen die Mittel an die Hand [zu] geben, mit denen sich die ambivalenten, für die widersprüchlichsten Verwendungsweisen offenen Ressourcen […] meistern lassen“. (Bourdieu 1992a, 106f.) Dafür wäre freilich auch ein „Kampf für die Universalisierung der privilegierten Existenzbedingungen“ (Bourdieu 1991a, 65) erfordert.

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mensystems nachweisen“ (Foucault 1999, 14). Eine kritische Analyse, die sich nicht anmaßt, universelle Urteile oder verbindliche Handlungsanweisungen zu geben,77 kann in diesem Sinne darauf verzichten, sich selbst in einem „Willkürakt kontrafaktischer Setzung“ (Schwingel 1993, 181) einen ‚normativen Ausweis‘ auszustellen, der ihr universelle „Rechtsgründe“ bescheinigt (Habermas 1971, 306). Sie muss allerdings, auch wo sie Forschungsresultate parteiisch verwendet oder Forschungsgegenstände parteiisch wählt, in der Forschung selbst gegenüber diesen Interessen rücksichtslos verfahren – nicht nur, um Minimalstandards des Wissenschaftsfeldes zu genügen, sondern auch, um der praktischen Kritik ein möglichst präzises Wissen an die Hand zu geben. Eine definitive ‚Lösung‘ gesellschaftlicher Problemlagen, die sich auf, wenn nicht moralisches, so doch positives Besserwissen berufen könnte, wird dabei, das haben Foucault wie Bourdieu betont,78 nicht angeboten.

4.6 K RITIK ALS WISSENSCHAFTLICHE D ESILLUSIONIERUNGSARBEIT Das vorstehend skizzierte Verständnis einer kritischen Wissenschaft ist zentral, um die folgenden Rekonstruktionen der Perspektiven von Marx, Bourdieu und Foucault und die darauf aufbauenden Analysen zu Struktur, Genese und Transformationsdynamiken kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen. Diese werden im Einzelnen des Öfteren geeignet erscheinen, jenen Eindruck des „Fatalismus“ zu wecken, der den Autoren oft vorgeworfen wurde. Marx’ Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem ideellen Durchschnitt bietet, wie zu zeigen sein wird, keine Heilsgewissheit der unvermeidbaren Umwälzung. Statt einer Verkündung des notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus, der für Generationen von Marxisten „historisch immer eine Entlastungsfunktion“ hatte, da „egal wie schlimm die aktuellen Niederlagen auch waren, das Ende des Gegners [...] letztlich doch gewiss“ blieb (Heinrich 2004, 175f.), zeigen Marx’ Analysen, wie selbst noch die zyklischen Krisen zur dynamischen Reproduktion des kapitalistischen Zusammenhangs beitragen, so dass auch 140 Jahre nach der Veröffentlichung des Kapitals gerade vor dem Hintergrund der marxschen Theorie vieles dafür spricht, dass der Kapitalismus ‚erst angefangen‘ hat (vgl. Heinrich 2008a & 2007b). Foucaults historische Analysen von Machttechniken und Regierungsformen zeigen, wie noch die scheinbar unmittelbars-

77 Foucault (2003b) betont etwa, dass seine Analysen nur Verhältnisse und Möglichkeiten aufzeigen, „damit zwinge oder dränge ich niemanden etwas zu tun“ (ebd., 794). 78 Bourdieu (1992a) antwortete auf die Frage, ob er eine Lösung hätte: „Nein. Eins ist indes sicher, durch bloße Reformen […,] die samt und sonders auf einer nahezu vollständigen Unkenntnis der wirklichen Einsätze und der wirklichen Mechanismen basieren, wird man die Schaukel, gestern die oberflächliche egalitaristische Demagogie, heute der Kult um die ‚Leistung‘ […,] nicht zum Stehen bringen können.“ (Ebd., 98) Und Foucault (2005) konstatiert: „Ich habe keine Lösungen anzubieten. Aber ich halte es für vergeblich, dass man den Blick abwendet. Man muss versuchen, den Dingen auf den Grund zu gehen“ (ebd., 455). In ihrer intellektuellen Praxis zeigen beide die Charakterzüge jenes Typus, den Rorty (1989) als „liberalen Ironiker“ kennzeichnete, dessen Kritik „Engagement mit dem Sinn für die Kontingenz des Engagements verbindet“ (ebd., 111). Dabei sind bei Foucault die auch verbal ironischen Züge sicher stärker ausgeprägt.

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ten Refugien unverstellter Subjektivität oder ‚Intersubjektivität‘ bedingt sind in den „funktionalen und methodischen Ensembles“ (Foucault 1978, 60f.) einer historischgesellschaftlichen Formation der Subjektivierung und wie noch Subversionen und Kämpfe, statt zu einer ganz anderen Form der Vergesellschaftung zu führen, Regierungs- und Subjektivierungsformen zuarbeiten, die für veränderte Modi kapitalistischer Vergesellschaftung ihrerseits funktional werden. Bourdieu depotenziert nicht nur die Ideale einer Unbedingtheit und Herrschaftsfreiheit der ‚höheren Sphären‘ von Kunst und Wissenschaft, indem er die Bedingtheit ihrer Formen und Kategorien in gesellschaftlichen Klassen- und Dominanzverhältnissen und ihren Beitrag zur Reproduktion und Affirmation dieser Verhältnisse objektiviert, er desillusioniert auch alle soziologischen und politischen Illusionen, dass sich etwa via Bildung Chancengleichheit herstellen oder gar die Klassengesellschaft überwinden ließe. Gerade eine solche gründliche Desillusionierung soll wissenschaftliche Kritik aber auch bewirken. Statt politische Illusionen und Mythen zu formulieren, deren Effekte im Marxismus schon Gramsci (1991ff.) mit „der Anwendung von Drogen“ verglich (ebd., 1294), die kurzfristig die Kräfte steigern, langfristig aber eine realistische Einschätzung der gesellschaftlichen Situation verhindern und so auch die revolutionären Kräfte schwächen, muss die wissenschaftliche Forschung und Analyse auch und gerade im Bezug auf die Hoffnungen der Bewegungen, die sie unterstützen will, „rücksichtslos und nicht rücksichtvoll“ (MEW 26.2, 110) verfahren. Wo Kritik sich primär als Aufklärung versteht, wird sie immer auch als eine Desillusionierungsarbeit wirken. In Bezug auf soziale Bewegungen mag das überzogene Hoffnungen auf eine Umwälzung der sozialen Welt relativieren, dafür aber ein pragmatischeres und vielleicht auch enttäuschungsresistenteres Engagement erlauben. In Bezug auf die wissenschaftliche Arbeit ist Desillusionierung eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Erforschung und Interpretation sozialer Wirklichkeit nicht von Hoffnungen, Wünschen und normativen Leitbildern des Forschers determiniert werden. Letzteres scheint in Bezug auf eine Soziologie entscheidend, die allzu oft den Idealen und Illusionen gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen verhaftet bleibt. Wird auf dieser Grundlage etwa die Reproduktion von Klassenstrukturen und die Klassenbedingtheit individueller Habitusformen und Lebenschancen als „konservative These“ Bourdieus (so Eder 1989, 9) abgewiesen, ist das nicht nur ein Kategorienfehler, der einer mentalen Einstellung des Forschers anlastet, was überprüfbares Ergebnis der Forschung ist, es zeigt auch eine in der deutschen Soziologie merkwürdig hartnäckige Tendenz zu einer Art subjektivem Idealismus, für den es wesentlich von den Kategorien der wissenschaftlichen Wahrnehmung abzuhängen scheint, wie die soziale Welt ist. Für kapitalistische Gesellschaften typische und funktionale Muster sozialstruktureller Ungleichheit und die Mechanismen ihrer Reproduktion erscheinen dann als Effekt falscher Theorien, insbesondere solcher, die irrigerweise an „der Zentralität der sozialen Organisation und materiellen Folgen des Produktionsprozesses festzuhalten“ suchten, und Akteure als „inflexible Kreaturen“ darstellten, „die sich in singuläre, dezidierte Strukturen sozialer Ungleichheit verstrickt finden, [...] die oft über Generationen hinweg dem Einzelnen, den Haushalten oder Familien ihren Rhythmus aufzwingen“ (Stehr 1994, 200). Es genügt dann, so scheint es, eine „neue Sprache“, die die „Handlungskapazitäten der Akteure, die Flexibilität, Heterogenität, Volatilität sozialer

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Strukturen betonen“ soll, um eine reale „Umkehrung in der Relation zur Ungleichheit – vom passiven Akteur zum aktiven Mitgestalter“ (ebd.) zu bewirken. Solche auf einer „Korrektur der soziologischen ‚Brille‘“ (Hradil 1992, 20) beruhenden, Ausblendungen statistisch relativ eindeutiger Befunde zur dynamischen Reproduktion der für kapitalistische Gesellschaften charakteristischen Klassenstrukturen79 sind nur ein Beispiel für zahlreiche Fälle, in denen gegen die als zynisch abgewiesene Analyse gesellschaftlicher Zusammenhänge andere soziologische Interpretationen gesetzt werden, die den normativen Illusionen und Hoffnungen des Forschers eher entsprechen. Vielleicht ist dies der letzte Fluchtpunkt der Soziologie, um die Ansprüche, die sie noch immer an ihren Gegenstand hat, wenigstens in der Interpretation zu verwirklichen, nachdem sie der Anmaßung, ihn realitär zu verändern, entsagt hat. Die andere Interpretation des Bestehenden läuft freilich auch hier noch darauf hinaus, „es vermittelst einer anderen Interpretation anzuerkennen“ (MEW 3, 20). Demgegenüber eröffnen die oft als deterministisch und fatalistisch kritisierten Analysen von Marx, Foucault und Bourdieu – gerade weil sie nicht von Akteuren und deren ‚Motiven‘ und Handlungen ausgehen, sondern von objektiven Relationen, Prozessen und sich daraus ergebenden Zwängen – auch Möglichkeiten eines aktiven Verhältnisses, das auf wirkliche Veränderung zielt: „Jeder neue Bestimmungsfaktor, der erkannt wird, eröffnet einen weiteren Freiheitsspielraum.“ (Bourdieu 1992a, 46)

79 Vgl. zu solchen Korrekturen der Erkenntnisinstrumente in der Soziologie, die sich teilweise explizit daraus begründeten, dass man die Klassenstruktur der Gesellschaft nicht mehr sehen wollte, kritisch: Ritsert 1998; Heim 2007, v.a. 136-146; Henning 2007; s.u. V.

III Der Kapitalismus im ‚ideellen Durchschnitt‘: Funktionslogiken und Entwicklungsdynamiken nach Karl Marx

1 Wertform, Mehrwert, Profit Kernmomente in Marx’ Theorie der kapitalistischen Produktionsweise

1.1 D ER ‚W ERT ‘

ALS SOZIOLOGISCHE

K ATEGORIE

„Im graden Gegenteil zur sinnlich groben Gegenständlichkeit der Warenkörper geht kein Atom Naturstoff in ihre Wertgegenständlichkeit ein. Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding. Erinnern wir uns jedoch, daß die Waren nur Wertgegenständlichkeit besitzen, sofern sie Ausdrücke derselben gesellschaftlichen Einheit, menschlicher Arbeit, sind, daß ihre Wertgegenständlichkeit also rein gesellschaftlich ist, so versteht sich auch von selbst, daß sie nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Ware erscheinen kann.“ KARL MARX (MEW 23, 62 [Hervh. T.H.]) „Das Geschwätz über die Notwendigkeit den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit […]. Daß jede Nation verrecken würde, die […] für ein paar Wochen die Arbeit einstelle, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die den verschiedenen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen.“ KARL MARX (MEW 32, 552)

Es ist bekannt, dass Marx der Arbeit die Rolle des wertbildenden Moments zuwies, welches in seiner Analyse der Kapitalverwertung auch als Quelle von Mehrwert und Profit gilt. Oft vernachlässigt wurde jedoch, in welchem Sinn dies geschah. In vielen Interpretationen scheint es so, als habe Marx mit Hilfe der ‚Arbeitswerttheorie‘ lediglich den Kapitalismus als Ausbeutungszusammenhang denunzieren wollen (vgl. u.a.: Recktenwald 1978; Löw 2000; Habermas 1995, Bd. 2, 494ff.). Damit wäre er nur ein „minor post-Ricardian“ (Samuelson, zit. in: Recktenwald 1971, 299), der lediglich das skandalisierte, was Ricardo und zuvor bereits Adam Smith mit sachlicher Nüchternheit formuliert hatten. Tatsächlich lässt sich aber in Marx’ Fassung des Wertbeg-

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riffs eine von Ricardo unterschiedene Problemstellung feststellen, die auch weit über eine bloße Ausbeutungstheorie hinausweist. Da der Wertbegriff zugleich eine Schlüsselkategorie der marxschen Analyse darstellt, bietet seine Klärung einen guten Einstieg in die Besonderheiten dieser analytischen Darstellung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Um verbreitete Missverständnisse auszuschließen, ist vor allem Weiteren festzuhalten, dass der theoretische Begriff des objektiven Werts, um den es in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie ging, keine Universalie aller Produktion meint. Der ‚Wert‘ ist also keine ‚natürliche‘ oder anthropologische und erst recht keine ethische oder moralische Kategorie.1 Es handelt sich ebenso wenig um eine logische oder um eine rein ökonomische Kategorie, sondern genau verstanden um eine soziologische. Soziologisch ist Marx’ Wertbegriff einerseits auf der Ebene des Gegenstandsbereichs, da der ‚Wert‘ hier als rein gesellschaftliches Verhältnis und als eine historisch bestimmte gesellschaftliche Form, in der sich dieses Verhältnis ausdrückt, definiert wird. Andererseits und zugleich handelt es sich aber auch auf der Ebene der Methodologie um eine soziologische Kategorie. Methodisch ist die Wertformanalyse bei Marx als eine Kritik des Wertbegriffs der klassischen Ökonomie angelegt, wobei durch diese Kritik des ökonomischen Begriffs hindurch ein neues, genuin soziologisches Problemfeld erschlossen wird: Im Kontext der Klärung des Werbegriffs wird im Kapital eine historisch besondere gesellschaftliche Funktionslogik und Struktur der Produktions- und Austauschbeziehungen spezifiziert. Dabei wird der Wert als eine Analysekategorie entwickelt, die es erlaubt, hinter den ökonomischen Formen das Problemfeld einer selbstregulativen Koordination und Reproduktion eines Komplexes sozialer Verhältnisse und Beziehungen sichtbar zu machen.2 Marx, der den Naturalismus und den „grobe[n] Materialismus der Ökonomen, die gesellschaftliche Produktionsverhältnisse […] als natürliche Eigenschaften“ (MEW 42, 588 [Hervh. i.O.]) ansahen, stets kritisiert hatte (vgl. MEW 4, 139), fasste den Wert nicht als allen Arbeitsprodukten anhaftende Eigenschaft und auch nicht (wie Smith und Ricardo) als eine jedem Austausch von Gütern vorausgesetzte Größe, sondern als wissenschaftliche Kategorie zur Entschlüsselung der Austausch- und Produktionsverhältnisse einer spezifischen Gesellschaftsformation. Statt auf eine reine Wertmengentheorie, die wie die klassische Ökonomie primär nach quantitativen

1

2

Bereits Engels (vgl. F.E. in: MEW 25, 905-916) hatte gegen Sombart (vgl. 1894), der den historisch-soziologischen Charakter von Marx’ Werttheorie hervorhob, den Wertbegriff renaturalisiert. Er gelte seit „einer Zeit, die vor aller geschriebenen Geschichte liegt“ (F.E. in: MEW 25, 909, vgl. auch MEW 20, 288ff.). Dem folgten viele Marxisten, die den Wert als überhistorisch-objektiven Mengenbegriff behandelten und so Marx’ wesentlichen Schritt über Ricardo hinaus ignorierten (vgl. dazu kritisch: Brentel 1989, 138-153; Heinrich 1991, 166ff.; Vincent 2001, 8, 36f. & 80ff.; Streckeisen 2008, 251ff.). Normativ-ethisch interpretiert u.a. Habermas (1995, Bd. 2, 494ff.) die Werttheorie, darin dem verbreiteten Missverständnis folgend, es sei Marx um eine normative Bestimmung der ‚gerechten Verteilung‘ gegangen (vgl. u.a. Becker 1972). Dies ist insofern absurd, als Marx das Prinzip der (Arbeits-)Wert-Äquivalenz gerade als gesellschaftliche Grundlage aller bürgerlichen Gerechtigkeitsvorstellungen ansah, in denen die strukturelle Ausbeutung immer schon ‚gerecht‘ ist (s.o. II.4). Wo Marx sich zu Austauschbeziehungen in postkapitalistischen Gesellschaften äußert, soll dort gerade kein Prinzip der Wertäquivalenz herrschen (vgl. MEW 19, 21f.). Früh hat auf diesen soziologischen Gehalt bereits Petry (vgl. 1916, v.a. 27ff.) hingewiesen. Vgl. dazu ausführlich auch: Rehberg/Zinn 1977, v.a. 407-426.

W ERTFORM, M EHRWERT , P ROFIT | 169

Bestimmungsfaktoren der Wertschöpfung fragt, zielt Marx’ Kritik dieser Ökonomie auf die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit der von den klassischen Ökonomen schlicht vorausgesetzten Wertform und der entsprechenden ökonomischen Begriffe. Marx betonte daher, dass der Wert-Begriff „ganz der modernsten Ökonomie angehörig“ sei, „weil er der abstrakteste Ausdruck des Kapitals selbst und der auf ihm ruhenden Produktion ist“ (MEW 42, 667; vgl. MEW 23, 4998; MEW 13, 15-37). Ein entsprechender soziologischer und ‚historischer Index‘ (Henning 2005, 173) ist ein Charakteristikum aller marxschen Begriffe (vgl. u.a. MEW 23, 74f.; MEW 42, 119ff.). Den systematischen Kern der „Arbeitswertlehre“ bildet damit in Marx Fassung die „Darstellung der spezifisch gesellschaftlichen Form“, in der sich unter kapitalistischen Bedingungen die Teilung und der Austausch der gesellschaftlichen „Arbeit […] in den verschiedenen ökonomischen Gestalten von der Warenform des Arbeitsprodukts bis zu Profit und Zins niederschlägt“. Wird sie als „quantitative Arbeitsmengentheorie“ verstanden, die nur zeigt, dass der Profit auf ein Quantum unbezahlter Arbeit zurückgeht, reduziert man „Marx auf das Niveau eines sozialistischen Ricardianers“ (Heinrich 1991, 166 [Hervh. i.O.]; vgl. 164-201).3 Ein bekanntes Beispiel von Marx veranschaulicht das Ausgangsproblem: „Schneiderarbeit […] in ihrer stofflichen Bestimmtheit als besondere produktive Tätigkeit produziert den Rock, aber nicht den Tauschwert des Rocks. Letztern produziert sie nicht als Schneiderarbeit, sondern als abstrakt allgemeine Arbeit, und diese gehört einem Gesellschaftszusammenhang [an], den der Schneider nicht eingefädelt hat. So produzierten in der antiken häuslichen Industrie Weiber den Rock, ohne den Tauschwert des Rocks zu produzieren.“ (MEW 13, 24 [Hervh. T.H.])

Als Gebrauchsgegenstände sind Kleidungsstücke in allen Gesellschaftsformationen Produkte einer spezifischen Arbeit. Ob und in welchem Umfang den Kleidungsstücken aber als Waren ein in Geld ausgedrückter Tauschwert zukommt, ist eine Frage, die von diesen stofflich konkreten Bestimmungen der verschiedenen spezifischen Arbeiten und der Arbeitsprodukte unabhängig ist. Die damit illustrierte klare Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert und die komplementäre Differenzierung von konkreter und abstrakter Arbeit verweist auf eine Besonderheit von „Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht“ (MEW 23, 49): Die Produktion von Gebrauchsgütern durch zweckbestimmte, konkrete Arbeit, deren besondere Qualität einen nützlichen Gegenstand für bestimmte Bedürfnisse erzeugt, ist eine Universalie aller Produktion,4 trägt aber gerade deshalb nichts zum Verständnis der besonderen Form der kapitalistischen Ökonomie bei. Obwohl die Erzeugung von Gebrauchswerten eine Bedingung der Nachfrage und eine Leistung der Ökonomie für

3 4

Vgl. zur entsprechenden Unübertragbarkeit der Wertkategorie auf vorkapitalistische Ökonomien auch: Bourdieu 2000a, 44ff. Da das Dasein jedes „nicht von Natur vorhandnen“ Produkts „durch eine spezielle, zweckmäßig produktive Tätigkeit“ vermittelt ist, „die besondere Naturstoffe besondren menschlichen Bedürfnissen assimiliert“, ist nützliche Arbeit als „Bildnerin von Gebrauchswerten […] eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur [...] zu vermitteln“ (MEW 23, 57; vgl. MEW 13, 23f.). Historisch und gesellschaftlich variabel sind nur die Form und der Umfang konkreter Bedürfnisse.

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die Gesellschaft bleiben (vgl. ebd., 50f. & 100f.),5 ist der Gebrauchswert für die kapitalistische Warenproduktion „überhaupt nicht das Ding qu'on aime pour lui-même“ (ebd., 201), bildet also weder ihr Spezifikum noch ihren primären Zweck. Stattdessen wird der in der Form des generalisierten „zirkulierenden Mediums“ (ebd., 141) Geld ausgedrückte quantifizierbare Tauschwert der Waren „direkter Zweck und bestimmendes Motiv“ (MEW 25, 887) der kapitalistischen Produktion – genauer die Verwertung eines Wertquantums zur Produktion eines höheren Quantums, eines Mehrwerts. Diese Form eines von allen Gebrauchseigenschaften unabhängigen, rein quantitativen Tauschwerts in Relation zu anderen Waren ist keine Universalie, sondern ein an historische Existenzbedingungen gebundenes gesellschaftliches Phänomen. Marx ging davon aus, dass das Verhältnis, in dem sich eine Ware gegen andere Waren- oder Geldquanta im Durchschnitt austauscht, keine den Waren immanente Qualität ausdrückt, sondern der fetischisierte Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist (vgl. MEW 23, 85-98; MEW 42, 588ff.). Als Wertgegenstand wirkt die Ware als Medium6, durch dessen Vermittlung bestimmte in Waren oder Geld repräsentierte Quanta gesellschaftlicher Arbeit aufeinander bezogen sind. Von Smith (vgl. 1978, 16-56) und Ricardo (vgl. 1972, 35-63) übernahm Marx dabei die Kategorie der Arbeitszeit als objektives Maß der Wertäquivalenz der für den Tausch produzierten Waren und bestimmte das Wertmaß genauer als das „im gesellschaftlichen Durchschnitt“ zur Produktion einer bestimmten Warengattung aufzuwendende Quantum einer von allen Besonderheiten abstrahierten „einfache[n] Durchschnittsarbeit“ (MEW 23, 59 [Hervh. i.O.]).7 Diese mit den ökonomischen Klassikern geteilte Bestimmung des in der entwickelten Geldform8 ausgedrückten Wertinhalts durch Ar-

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Wichtig ist die Unterscheidung der Leistung der kapitalistischen Ökonomie für die Gesellschaft von ihrer inneren Logik und Zweckbestimmung. Die Denkfigur entspricht Gehlens (vgl. 2004a, 33ff., 69, 74f. & 107ff.) Trennung von Motiv und (objektivem) Zweck oder Luhmanns (vgl. u.a. 1988b, 63ff.) ähnlich gelagerte Differenzierung umweltbezogener Systemleistung von endogenen Funktionsprinzipien. Vgl. zur Werttheorie als Medientheorie: Scholz 2006; Hebing 2006; Gernalzick 2006. Auch „kompliziertere Arbeit“ ist als „multiplizierte einfache Arbeit“ (MEW 23, 59) auf diese Durchschnittsgröße reduzierbar, insofern sie auf Verausgabung von gesellschaftlicher Arbeitszeit (für Lernen und Übung) beruht. Vgl. auch Sweezy 1970, 59f. Auf Marx’ ausführliche Analyse der Geldform (vgl. v.a. MEW 23, 84f. & 109-160; MEW 13, 49-160; vgl. zusammenfassend: Henning 2005, 169-189; Heinrich 1991, 175-201) wird hier aus Gründen des Umfangs nicht eingegangen. Festzuhalten ist, dass Marx die Geldform logisch als „Reflex der Beziehung aller andren Waren“ ansah (MEW 23, 105). Sie fungiert als Zeichen, als „allgemeines Äquivalent“ (MEW 23, 84) und generalisierter Ausdruck der „allgemeinen Wertform“ (gleich ob diese Funktion eine besondere Ware, z.B. Gold, oder ein nominelles Zeichen erfüllt). Alle Rätsel des Geldes liegen so schon in der allgemeinen Wertform, auch wenn Leinwand (vgl. MEW 23, 79ff.) als allgemeines Äquivalent fungiert. Dieses Rätsel liegt wiederum in der Warenform selbst, in der ein Quantum eines Gegenstandes als Äquivalent eines Quantums anderer Gegenstände getauscht wird, was bereits in jeder relativen Wertform (z.B. 1 Rind = 2 Schweine) ausgedrückt wird (vgl. MEW 23, 62-84). Insofern ist das „Rätsel des Geldfetischs [...] nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs“ (ebd., 108). Historisch ist die Ausbildung eines Mediums, über Geldwaren (Gold) und Münzgeld bis zum Papiergeld (MEW 23, 138ff.), der Genese der Wertform vorausgesetzt, da erst das Medium den Wertausdruck generalisiert, den Verkauf und Kauf unabhängig von zufälligen räumlichen und sozialen Gegebenheiten macht. Insofern ist die entwickelte Geldform eine Grundbedingung des unpersönlichen und überregionalen Tauschs. (Vgl. Ebd., 143-156; MEW 42, 119ff., 159f.)

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beitsquanta sollte aber nicht übersehen lassen, dass Marx den Wertbegriff in einen radikal anderen theoretischen Kontext verschob. Smith wie Ricardo waren von fiktionalen Urzuständen ausgegangen, in denen Individuen Arbeit verausgaben, um dann ihre Produkte unmittelbar gegeneinander zu tauschen, womit der Wert unmittelbar aus der individuellen Arbeit in das Produkt einzugehen schien. Demgegenüber ist den individuellen Tauschakten bei Marx „der gesellschaftliche Charakter der Produktion vorausgesetzt“ (MEW 42, 104 [Hervh. i.O.]). Der Wertcharakter der Produkte ist keine substantielle, sondern eine strikt relationale Größe, die nur in der Beziehung verschiedener Waren aufeinander existiert. Hinter dieser Beziehung der Waren steht wiederum eine besondere gesellschaftliche Form der Tauschbeziehungen. Die Analyse der Warenform schildert daher auch keinen ursprünglichen einfachen Warentausch, sondern die elementare Form des Austauschs innerhalb eines vorausgesetzten kapitalistischen Beziehungsgefüges. Marxistische Interpretationen, die die Wertformanalyse als den logischen Nachvollzug historischer Entwicklungen (vom einfachen Warentausch über die Geldform zum Kapital) lasen (vgl. u.a. Holzkamp 1974), missverstanden bereits den ersten Satz des Kapitals: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform.“ (MEW 23, 49 [Hervh. T.H.]) Die von Marx analysierte Warenform gilt damit nicht als historischer Ausgangspunkt, sie setzt vielmehr umgekehrt den entwickelten Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Produktion bereits voraus: „Eine Ware gewinnt nur allgemeinen Wertausdruck, weil gleichzeitig alle andren Waren ihren Wert in demselben Äquivalent ausdrücken“, also eine „allseitige gesellschaftliche Beziehung“ repräsentieren (ebd., 80f.). Dies ist erst „möglich […,] sobald das Geld gesetzt ist“, und „die Geldzirkulation […] kann […] nur vollständig entwickelt sein auf Grundlage des Kapitals“ (MEW 42, 667; vgl. ebd., 152ff.). Das heißt einerseits, dass der Wert einer Ware nicht aus irgendeiner individuellen Arbeit abzuleiten ist, sondern immer schon ein „notwendiges, ihrem Bildungsprozess immanentes Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitszeit ausdrückt“ (MEW 23, 117).9 Andererseits impliziert dies, dass die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Teilarbeiten und zwischen den Produkten, Produzenten und Konsumenten schon in spezifischen, historisch gewordenen Formen konfiguriert sein müssen. Hier zeigt sich eine Problemstellung, die den Ansatz von Marx radikal von anderen ökonomischen Theorien unterscheidet. In der klassischen Ökonomie ebenso wie in der ökonomischen Neoklassik waren die vereinzelten Individuen in ihren Eigenschaften als Warenproduzenten und/oder Warenbesitzer dem Austausch stets vorausgesetzt. Fragen nach den Ursachen des Tauschs und die Bestimmung der Austauschrelationen wurden in der Arbeitswerttheorie wie in der Grenznutzentheorie „durch einen Rekurs auf die Anthropologie“ (Heinrich 1991, 165) suspendiert. Demgegenüber markiert für Marx, der mit der Anthropologie gebrochen hatte (s.o. II.3) und der den „vereinzelte[n] Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen“, zu „den 9

Der Wert einer Ware existiert immer nur „vermittelt durch die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen“, in denen „das Individuum tätig ist“. Individuelle Arbeit „unmittelbar zum Geld machen wollen“ hieße, das „Wesen des Geldes“ und die „Bedingungen negieren, unter denen sie [die Arbeit, T.H.] zu Geld und Tauschwerten gemacht werden muß und vom Privataustausch abhängt“ (MEW 42, 104f.; vgl. MEW 26.3, 127f.).

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phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts“ (MEW 42, 19) rechnete, die klassische Werttheorie keine Antwort, sondern ein Problem, das zu Fragen führt, die sich in der klassischen Ökonomie nie stellten (vgl. MEW 23, 94ff.). Sie betreffen den gesellschaftlichen Zusammenhang, der vorausgesetzt ist, damit Individuen den in jeder Gesellschaft notwendigen Austausch von Arbeit und Arbeitsprodukten in der rein sachlichen, abstrakten Form eines geldvermittelten Tausches von Waren vollziehen. Wie vor allem Althusser (1972b) und in jüngerer Zeit Heinrich (1991) betont haben, sind die primären Bezugspunkte hier, anders als in der ‚bürgerlichen Ökonomie‘, nicht die Motive und Tauschakte einzelner Individuen, sondern bestimmte gesellschaftliche Strukturmerkmale, die allen singulären Austauschbeziehungen vorausgesetzt sind: „Wenn wir überhaupt die soziale Beziehung der Individuen innerhalb ihres ökonomischen Processes prüfen, müssen wir uns [...] an die Formbestimmungen dieses Processes selbst halten.“ (MEGA II.2, 59) Dass Arbeitsprodukte als Warenwerte aufeinander bezogen werden, entspricht keiner „natürlichen Neigung“ (Smith 1978, 16), sondern der historischen Form des ökonomischen Austauschs in einem Marktsystem, dessen Genese tiefgreifende Veränderungen aller gesellschaftlichen Verhältnisse erforderte. Vorausgesetzt ist über einen gewissen Stand der Arbeitsteilung hinaus, dass große Teile des ökonomischen Austauschs durch Marktprinzipien vermittelt sind. Dies wiederum erfordert nicht nur ein entwickeltes Geld-, Kredit- und Transportwesen, sondern vor allem auch historisch besondere Formen der Sozialbeziehungen und Machtverhältnisse, in denen Individuen als freie und gleiche Rechtssubjekte, also unabhängig von den unmittelbar stratifikatorischen sozialen und politischen Banden feudaler Vergesellschaftungsformen, in den Austausch treten.10 Die politisch-ökonomischen Begriffe von Wertäquivalenz und (abstrakter) Arbeit erfordern wiederum bereits bestimmte, diesen veränderten Tausch- und Sozialbeziehungen entsprechende Ideenformen. So betont Marx, dass Smiths und Ricardos Gedanke, dass in „Form der Warenwerte alle Arbeiten“ als gleichgeltende „menschliche Arbeit […] ausgedrückt sind“, einen Kulturzustand voraussetzt, in dem „der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt“, was ein Spezifikum von Gesellschaften sei, „worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist“ (MEW 23, 74). In früheren Gesellschaftsformationen, welche (wie die auf Sklavenarbeit beruhenden antiken Gemeinwesen) auf „Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte“ basierten, lag ein Wertbegriff, der „gleiche Gültigkeit aller Arbeiten“ voraussetzt, offenbar jenseits der „historischen Schranke“ (ebd.) des denkbaren, wie Marx an Aristoteles herausgearbeitet hat (vgl. ebd., 73f.; MEW 42, 667).

10 Daher genügt es, wie Marx betont, nicht, dass elementare Momente des Marktverkehrs entwickelt sind. Auch „Bestimmungen, die allen Epochen plus ou moins angehören, wie z.B. Geld, zeigen die historische Modifikation“ (MEW 42, 667), die sie in Abhängigkeit von der Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen und ihrem Stellenwert in diesen erfahren. Ausführlich hat Braudel gezeigt, wie elementare Instrumente der Markt- und Kapitalwirtschaft, v.a. das Geld- und Kreditwesen seit der Antike in allen Hochkulturen entwickelt waren (vgl. Braudel 1986, Bd. 1, 475-522), dennoch aber blieb der überwiegende Teil der ökonomischen Beziehungen bis ins 18. Jahrhundert außerhalb der schmalen Bereiche von Marktwirtschaft und Kapitalismus organisiert.

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In der Vernachlässigung der historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit der ökonomischen Kategorien als „objektive Gedankenformen“, die volle Geltung nur innerhalb einer „historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise“ haben (MEW 23, 90), sah Marx eine Grenze der anthropologistischen und naturalistischen Begriffe der klassischen Ökonomie. Diese epistemologische Schranke ergibt sich jedoch nicht aus der individuellen ‚Borniertheit‘ von Smith oder Ricardo, sie folgt aus der Erscheinungsweise der gesellschaftlichen Zusammenhänge der Warenproduktion selbst. Einerseits erreicht unter den Bedingungen eines entwickelten Warentauschs der gesellschaftliche Charakter, also die globale Interdependenz der Produktions- und Austauschbeziehungen, eine historisch einmalige Komplexität, so dass der überwiegende Teil der individuellen Arbeiten ihren Sinn und Zweck erst im Kontext einer transnationalen Arbeitsteilung finden. Die Arbeit und der Konsum aller Einzelindividuen werden damit objektiv absolut abhängig von der globalen Vermittlung ihrer Austauschbeziehungen auf dem Weltmarkt. Andererseits und zugleich erscheinen die Individuen subjektiv in einmaliger Weise frei von allen unmittelbaren Abhängigkeitsbeziehungen.11 Der gesellschaftliche Charakter ihrer Arbeiten als Momente eines Gesamtzusammenhangs, von dem sie indirekt als Anbieter und Käufer abhängen, erscheint ihnen daher nicht unmittelbar, als Verhältnis zwischen Individuen, sondern nur sekundär und vermittelt in Gestalt objektivierter Marktzusammenhänge: „Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austauschs. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind,12 d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ (MEW 23, 87 [Hervh. T.H.]; vgl. MEW 25, 651f.)

Die Mystifikationen des Werts – ob als unmittelbare Eigenschaft der Dinge (wie im Merkantilismus) oder als unmittelbare Eigenschaft jeder menschlichen Arbeit (wie in der klassischen Ökonomie) – erklärt Marx insofern als eine perspektivische Täuschung, die sich aus den Positionen, Funktionen und Erfahrungen der Handlungsagenten innerhalb des Zusammenhangs der Warenproduktion notwendig ergibt. Wie

11 Marx nimmt hier den, später für Simmel (1989a) zentralen, Gedanken vorweg, dass zwei scheinbar widersprüchlichen Erscheinungen der Moderne, die radikale Steigerung der gesellschaftlichen Dependenzbeziehungen und die Steigerung der individuellen Freiheit, in der Form des geldvermittelten Tausches direkt zusammenhängen. 12 Genauer müsste es heißen: ‚als das, was sie innerhalb der Form der kapitalistischen Ökonomie tatsächlich sind‘. Der Schein entspricht der Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise, nicht aber jeder Form des gesellschaftlichen Austauschs von Arbeit. Er fällt etwa in der feudalen Fronarbeit weg, in der die Arbeit direkt für Feudalherren geleistet wird, die im Gegenzug direkt Schutz- und Schiedsfunktionen erfüllen.

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schon in der Ideologiekritik gilt in den Analysen zum Fetischcharakter die Erscheinung dabei nicht als ein bloßer ‚falscher Schein‘, sondern als notwendiges Moment eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, aus dem der ‚Schein‘ erklärbar wird und welchen er umgekehrt erschließen hilft. Methodisch steht dahinter eine Denkfigur aus Hegels Logik. („In der Methode […] hat es mir große Dienste geleistet, daß ich by mere accident […] Hegels Logik wieder durchgeblättert hatte.“ [MEW 29, 260]) Hegels für jede Wissenssoziologie wichtiger Grundgedanke war, dass der „Schein […] nicht ein Äußerliches, dem Wesen Anderes, sondern […] sein eigener Schein“ ist (Hegel 1970b, 17). Das heißt, dass der Schein (oder bei Marx die Oberfläche der erscheinenden Phänomene) mehr als eine bloße subjektive Illusion bildet. Es handelt sich vielmehr um eine aus einem objektiven Zusammenhang resultierende Phänomenwahrnehmung, in der ein spezifischer Inhalt in einer bestimmten Form zugleich ausgedrückt und versteckt ist – wie sich etwa für jeden irdischen Beobachter die Bahnen der Himmelskörper in einer verkehrten Form darstellen, die gerade ein Resultat der objektiven Bewegungszusammenhänge des Sonnensystems ist.13 Der Inhalt, den Marx selbst aus der mystifizierenden Hülle der Wertform herausschält, ist letztlich simpel, unterscheidet sich aber vom anthropologischen Begriff einer allgemeinen menschlichen Arbeit in der ökonomischen Klassik dadurch, dass er direkt eine bestimmte Form der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung betrifft. Hinter dem ‚Wertgesetz‘ verbirgt sich für Marx nichts anderes als eine besondere historische ‚Lösung‘ für ein in jeder Gesellschaft bestehendes Problem: Damit Menschen überleben oder gar sich und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse weiter entwickeln können, muss die gesellschaftlich verfügbare Arbeitskraft auf verschiedene Tätigkeitszweige und Produktionsfelder verteilt werden, um die Befriedigung verschiedener Bedürfnisse durch die Produktion verschiedener Gütern abzusichern. „Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte.“ (MEW 32, 553 [Hervh. i.O.]; vgl. MEW 23, 89f.)

13 Der Hegelbezug hat den Hegel-Marxismus verleitet, die Fetischanalyse mit esoterischer Tiefgründelei zu überfrachten. Wie so oft bei Hegel geht es aber um einen letztlich simplen methodischen Gedanken, der auch ohne hegelschen Ideolekt gebraucht werden kann: Der Schein, die Sonne drehe sich um die Erde, ist keine subjektive Täuschung, sondern eine sich für jeden irdischen Beobachter einstellende Phänomenwahrnehmung. Die daraus gezogene These, die Erde stünde im Zentrum des Universums, wird aber durch andere Phänomenwahrnehmungen irritiert (etwa durch die merkwürdig verschlungenen ‚Bahnen‘ der Planeten). Ein von den Wahrnehmungen abweichendes theoretisches Modell, in dem sich die Erde wie die anderen Planeten um die Sonne bewegt und zugleich rotiert, kann beide Wahrnehmungen besser integrieren und erklärt aus dem Zusammenhang der Bewegungen des Sonnensystems und der Erdrotation zugleich, warum die Sache von der irdischen Beobachterposition aus anders erscheint.

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Marx hielt vor diesem Hintergrund auch den von Kritikern geforderten ‚Beweis‘ des Wertbegriffs für überflüssig. Für seine Analysen genügten die (kaum zu bestreitenden) Voraussetzungen, dass 1.) alle als Waren getauschten Produkte irgendeine Arbeit erfordern, dass also hinter der ‚Warensammlung‘, als welche das gesellschaftliche Produkt auf dem Markt in Erscheinung tritt, eine Gesamtmenge gesellschaftlicher Arbeit steht, von der bestimmte Teile auf jede Ware verwendet wurden; und dass 2.) die Einzelarbeiten und die Existenz der Einzelindividuen (ob in der Kleidung, in der Nahrung und Wohnung oder in den Tausend anderen Bedürfnissen) von diesem Gesamtkomplex gesellschaftlicher Arbeit und von der funktionalen Bewährung der Einzelarbeiten als Moment dieser gesellschaftlichen Gesamtarbeit abhängen.14 Davon ausgehend will Marx nicht ‚beweisen‘, dass Arbeit die ‚Substanz‘ des Werts ist, er will vielmehr den einer kategorialen Kritik unterzogenen Wertbegriff im Kontext einer Analyse verwenden, die zu erklären sucht, „in welcher Weise in einer Gesellschaft von Privatproduzenten ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang hergestellt wird“ (Heinrich 1991, 166), wie also die Austauschverhältnisse zwischen den Teilarbeiten und Arbeitsprodukten, die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit auf verschiedene Produktionsfelder und die gesellschaftliche Distribution der Produkte unter den Individuen in gesetzmäßigen Bahnen verlaufen, ohne dass es eine regelnde Instanz gibt. Die wissenssoziologisch-epistemologische Kritik des ökonomischen Wertbegriffs mündet damit in eine „Basistheorie interdependenter Verteilungsstrukturen im Kapitalismus“ (Rehberg/Zinn 1977), die die Funktionslogiken, Reproduktionsmechanismen und Entwicklungstendenzen verschiedener miteinander zusammenhängender relationaler Systeme entschlüsseln soll. Zentral sind dabei „I. das System der Eigentumsverteilung, II. das System der a) Arbeitskräfteverteilung und b) Ressourcenallokation, III. das System der Warenverteilung“ (ebd., 426), wobei diese Verteilungssysteme immer mit zahlreichen weiteren Aspekten des gesellschaftlichen Zusammenhangs verbunden sind – etwa der „im Sozialisationsprozess vermittelten Verteilung von sozial bedingten Bedürfnis-Chancen“ (ebd., 412). Letztlich soll so dem Gedanken der Selbstregulation des Marktes, der bei Adam Smith in der mystifikatorischen Denkfigur der „unsichtbaren Hand“ zum Ausdruck gebracht worden war, eine rationale Erklärung aus den die kapitalistische Wirtschaftsform bestimmenden gesellschaftlichen Faktoren entgegengestellt werden, wobei Regelmäßigkeiten, die sich „durch einen gesellschaftlichen Prozess hinter dem Rücken der Produzenten“ (MEW 23, 59) nur „als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit durchsetzen“ (ebd., 117), selbstverständlich nicht so harmonisch wirken wie die Vorstellung einer ordnenden ‚unsichtbaren Hand‘. Aus dem Wertbegriff lassen sich die von Marx gesuchten Gesetzmäßigkeiten selbstverständlich nicht deduzieren. Sie können erst aus einem reichhaltigeren Modell der Beziehungen zwischen den Individuen (bzw. Klassen) in den gesellschaftlichen Produktions- und Distributionsverhältnissen entwickelt werden, welches im 14 Den fehlenden ‚Beweis‘ des Wertbegriffs monierte bereits Böhm-Bawerk 1896, dem viele Kritiker folgten (vgl. Becker 1972; Carling 1984; Beckenbach 1987). Marx hingegen betonte, dass die Analyse der Austauschverhältnisse von Arbeitskraft und Arbeitsprodukten auch ohne ein eigenes Kapitel über den Wert den Nachweis der Wertverhältnisse enthielte (vgl. MEW 32, 552).

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Folgenden in seinen Grundzügen und Konsequenzen für eine Analyse moderner Gesellschaften zu rekonstruieren ist. Der durch begrifflich schärfere Konturierung und die konsequente Historisierung und Soziologisierung von der klassischen Ökonomie unterschiedene Wertbegriff, demzufolge der durchschnittliche Wert einer Ware einen aliquoten durchschnittlichen Anteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit repräsentiert, bildet aber dabei eine (wenn nicht die) Grundlage von Marx’ Theorie des Kapitalismus. Zugleich handelt es sich um den am heftigsten umstrittenen Baustein dieser Theorie. Denn an der Bestimmung des Wertes hängen nicht nur „alle unangenehmen Elemente der Marx’schen Theorie“ (Henning 2005, 143) – etwa die für bürgerliche Ökonomen „einfach unhaltbare“ Annahme „der Ausbeutung“ (Recktenwald 1978, LV, Fn. 5) – vielmehr bauen alle Analysen des Kapitals darauf auf. Vom absoluten und relativen Mehrwert und dem allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation bis zur Erklärung der wissenschaftlich-technischen Innovationsdynamiken und der Wirtschaftszyklen und Krisen ist der Wertbegriff als eine grundlegende Kategorie vorausgesetzt, ohne die auch Marx’ Analyse der Klassenverhältnisse und ihrer Wandlungsdynamiken jede theoretische Grundlage verlöre. Fällt dieser Ansatz, bliebe von Marx letztlich nur eine Summe von Phänomenbeschreibungen und Behauptungen, die ohne das sie verknüpfende theoretische Band zudem oft widersprüchlich erscheinen müssten. In der Kritik galt die ‚Wertlehre‘ daher als der ‚archimedische Punkt‘, von dem aus sich das gesamte Theoriegebäude aus den Angeln heben ließe, ohne seine innere Konstruktion nachvollziehen oder seine Elemente im Einzelnen falsifizieren zu müssen. Der Anspruch, eine Theorie aus dem Bestreiten eines singulären Grundbegriffs (dessen begrifflicher Gehalt zudem in den meisten Fällen nicht einmal im Ansatz erfasst wurde) zu ‚widerlegen‘, ist wissenschaftstheoretisch und methodisch zwar fragwürdig; jedoch beruhen neoklassische Kritiken durchweg auf diesem Vorgehen und beschränkten sich auf verkürzte Lektüren der begrifflichen Ouvertüre der Wertformanalyse.15 In der Soziologie wurden diese ‚Widerlegungen‘ dann oft mit Berufung auf die Autorität der jeweils geltenden ökonomischen Lehrmeinungen übernommen (vgl. u.a. Habermas 1990, 120) Wenn im Folgenden mit der marxschen Theorie argumentiert werden soll, müssen daher zunächst Status und Gehalt dieses Grundbegriffes noch genauer geklärt und die grundsätzlichen Kritiken an ihm etwas genauer geprüft werden.

15 Vgl. die Marxkritiken bei Becker 1972 & 1974; Löw 2001; Recktenwald 1978. Vgl. dazu kritisch: Rehberg/Zinn 1977, 396-407; Henning 2005, 190-250 & 411-451).

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1.2 Q UANTITATIVE UND QUALITATIVE F RAGESTELLUNG DER W ERTFORMANALYSE „Dinge mit dem größten Gebrauchswert haben vielfach nur einen geringen oder keinen Tauschwert, umgekehrt haben solche mit dem größten Tauschwert häufig wenig oder keinerlei Gebrauchswert. […] Immer und überall ist das teuer […,] für das man viel Arbeit aufwenden muß. Umgekehrt ist das billig, was leicht oder mit nur wenig Arbeit zu haben ist.“ ADAM SMITH (1978, 27 & 30) „Die politische Ökonomie hat […] zwar, wenn auch unvollkommen, Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt? Formen, denen es auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören […], gelten ihrem bürgerlichen Bewußtsein für ebenso selbstverständliche Naturnotwendigkeit als die produktive Arbeit selbst.“ KARL MARX (MEW 23, 94ff.)

Die einleitenden Zitate verdeutlichen, worum es im Wertproblem bei Smith, Ricardo und Marx ging. Smith (vgl. 1978, 28-56) und Ricardo (vgl. 1972, 35-63) fragten nach dem Äquivalent, das qualitativ verschiedenen Dingen im Tausch eine gemeinsame quantitative Wertgröße verleiht und so, wenn eine Ware weder zu knapp noch im Übermaß vorhanden ist, unabhängig vom subjektiven Gebrauchswert den Tauschwert bestimmt. Marx verschob dieses Problem in einen anderen theoretischen Kontext, indem er die Frage nach der dahinter stehenden „Gesellschaftsformation“ (MEW 23, 95) aufwarf. Hier ist – einem Vorschlag von Franz Petry (vgl. 1916, 27ff.) folgend – ein quantitatives Wertproblem, das Maßstab und Größe des in Waren objektivierten Werts betrifft, von einem qualitativen Wertproblem zu unterscheiden, das sich auf die historisch-gesellschaftlichen Bedingungen dieser Wertform bezieht.16 Was die quantitative Dimension betrifft, sollte die klassische ‚Arbeitswertlehre‘ nie zur direkten Erklärung des je aktuellen Marktpreises von Einzelwaren oder zur betrieblichen Kalkulation dienen. Das häufige Argument, sie sei „erwiesenermaßen unrichtig“, da sie „weder in Ost noch in West […] der Preisberechnung zugrunde gelegt“ wurde (Löw 2001, 105), beruht auf einem Kategorienfehler.17 Für Marx stand

16 Vgl. zur Ausführung ausführlich auch: Sweezy 1970, 37-73; Rehberg/Zinn 1977. 17 Marx (MEW 23, 117; MEW 25, 33-209) unterschied wie Smith (1978, 48ff.) und Ricardo (1972, 35ff.) Wert und Preis kategorial. Viele Kritiken unterstellen, dass bei Marx „der Preis eines Gutes (Tauschwert) ausschließlich auf der […] notwendigen Arbeitszeit“ beruhe (Gabler 2005, 193). Für Marx hingegen ist die wissenschaftliche Analyse nur notwendig, da auf dem Markt Waren gerade „nicht […] gegen Zeiteinheiten ausgetauscht“ werden, „Preise sind kein Zeitmaß“, wären sie es „würden sich alle erörterten Probleme von selbst auflösen“ (Rehberg/Zinn 1977, 404 [Hervh. T.H.]; vgl. MEW 32, 552ff.).

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außer Frage, dass die in einzelnen Tauschakten realisierten Preise von zahlreichen anderen Faktoren beeinflusst sind und dabei „durch sehr zufällige Kombinationen bestimmt“ werden (MEW 25, 646), weshalb die „Inkongruenz zwischen Preis und Wertgröße […] in der Preisform selbst“ angelegt sei (MEW 23, 117).18 Dem neoklassischen Diktum, „gekauft und verkauft“ würde „nicht nach einem errechneten objektiven Wert, sondern ausschließlich nach subjektiver Wertschätzung […], weil dem Verkäufer die Ware weniger wert ist als […] das Geld, dem Käufer aber mehr“ (Löw 2001, 30), hätten die Klassiker und Marx hinsichtlich der subjektiven Motive des Tauschs und der oberflächlichsten Erscheinung des Tauschwerts zugestimmt, freilich mit der Einschränkung, dass diese Beschreibung nichts erklärt.19 Damit ein Tausch realisiert wird, müssen an die Waren und an das Geld subjektive Gebrauchswertvermutungen geknüpft sein, was stets Einfluss auf die „Proportion“ hat, in der sich die „Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt“ (MEW 23, 50). Aber die Kategorie des Gebrauchswerts und die darauf bezogenen Motive und Kalküle ökonomischer Akteure, welche in der vom ‚subjektiven Nutzen‘ ausgehenden Neoklassik den Fixpunkt aller Modelle bilden, waren innerhalb des klassischen Paradigmas der objektiven Werttheorie nur ein Moment eines analytischen Zusammenhangs20, in dem die Kategorie des Arbeitswertes ganz anders gelagerte Problemstellungen erschließen sollte. Diese bezogen sich auf die Fragen, was im Geld, wenn dieses Tauschmedium als gesellschaftliche Form nur ein konventionelles Wertzeichen ist, eigentlich ausgedrückt wird;21 was in der von vielen Faktoren bedingten kurzfristigen Preisoszillation den nur langfristig variierenden Durchschnittswert einer Warengattung bestimmt und warum dieser historisch unabhängig vom Gebrauchswert variiert (wenn z.B. Computer 2010 bei enorm gestiegenem Gebrauchswert, einen weit geringeren Tauschwert haben als 1990); wodurch das Geld, das nur ein generalisiertes Tauschmedium ist, wo es in Kapital verwandelt wird, den Gebrauchswert gewinnt, ‚mehr Geld‘, also mehr

18 Während die „Wertgröße“ ein dem Bildungsprozess der Ware „immanentes Verhältnis zur gesellschaftlichen Arbeitszeit aus[drückt]“, hängt der Preis weit unmittelbarer von Faktoren des Angebots und der Nachfrage ab, die über die Summe entscheiden zu der eine Ware „unter gegebnen Umständen veräußerlich ist“ (MEW 23, 117). Besonders deutlich ist dies beim „Preis von Dingen“, die nicht einfach „durch Arbeit reproduziert werden können, wie Altertümer, Kunstwerke bestimmter Meister etc.“ (MEW 25, 646; vgl. Ricardo 1972, 36). Auch Dinge wie „Gewissen, Ehre usw., können ihren Besitzern für Geld feil [sein] und so durch ihren Preis die Warenform erhalten“ (MEW 23, 117). „Um ein Ding zu verkaufen, dazu gehört nichts, als daß es monopolisierbar und veräußerlich ist.“ (MEW 25, 646; vgl. zur „Kapitalisierung“ der Natur: Ebd., 653ff.; Altvater 2005.) 19 Werden „Nutzenschätzungen an den vorhandenen Tauschverhältnissen abgelesen […], wird das Argument zirkulär“. Letztlich sagt die Grenznutzenlehre nur, dass „sich jemand von einem Tausch, den er eingeht, in irgendeiner Hinsicht mehr verspricht, als von einem Tausch, den er unterlässt“ (Heinrich 2001, 68). 20 Entgegen des Vorurteils unüberbrückbarer Widersprüche zwischen subjektiver und objektiver Wertlehre, sind Kategorien der Grenznutzenschule integraler Bestandteil von Marx’ Theorie. Sie spielen z.B. in der Erklärung von Disproportionskrisen, die auftreten, wo an der (auch von subjektiven Nutzenkalkülen bestimmten) gesellschaftlichen Nachfrage vorbeiproduziert wird, eine zentrale Rolle (s.u. III.2.2; vgl. auch Rehberg/Zinn 1977, 406). 21 Vgl. Smith 1978, 30-42. Dieser betonte, dass ein Maß wie Gold, „dessen Größe ständig schwankt“, ebenso „wie eine Ware, die sich im Wert ständig ändert, niemals den Wert aller anderen Waren genau messen“ (ebd., 30) könne.

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Tauschwert hervorzubringen; was die Quelle der gehandelten Waren und ihrer Werte ist; auf welchen Grundlagen und in welcher Form sich die Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts vollziehen. Diese Fragen bezogen sich auf elementare Faktoren und Formen der dem Austausch vorausgesetzten produktiven Wertschöpfung, die in neoklassischen Modellen ausgeblendet werden.22 Die Fokussierung auf die Arbeit impliziert dabei keine Vernachlässigung des Marktes zugunsten eines reinen Produktionsparadigmas, welches Faktoren wie Angebot, Nachfrage und Konkurrenz ausblenden würde. Diese galten vielmehr seit Smith (vgl. 1978, 48ff.) als zentrale Regelgröße der Schwankungen der Marktpreise. Aber da der „Wechsel im Verhältnis von Nachfrage und Angebot für den Preis […] nichts erklärt außer seinem Wechsel, d.h. die Schwankung der Markpreise unter oder über eine gewisse Größe“, sind für die Erklärung der sich zu einen gegebenen Zeitpunkt einstellenden Durchschnittsgröße andere Wirkfaktoren zu berücksichtigen: „Decken sich Nachfrage und Angebot, so hört, unter sonst gleichbleibenden Umständen, die Preisoszillation auf. Aber dann hören auch Nachfrage und Angebot auf, irgend etwas zu erklären.“ (MEW 23, 560) Gesucht wurde so nach dem „Gravitationszentrum“ (Ricardo 1972, 38), um das die Preise pendeln23 und das als Mittelpunkt der Preisschwankungen in der Konkurrenz nur begrenzt überboten und (bei Gefahr des Bankrotts) nur begrenzt unterboten werden kann. Diese Größe müsse „anders bestimmt werden, als die sich kompensierenden Abweichungen von ihr“ (MEW 23, 560; vgl. MEW 25, 199ff.). Die Analyse der Prozesse von Wertschöpfung und Verteilung (auf Lohn, Profit, Zins, Grundrente) sollte zudem erklären, was die Parameter von Angebot und Nachfrage bestimmt und warum die kapitalistische Produktion, anders als dies in harmonischen Gleichgewichtsmodellen unterstellt wird, durch Krisendynamiken gekennzeichnet ist (s.u. 2). In gewisser Weise erweist sich dabei der objektivistische Ansatz von Marx der subjektiven Wertlehre sogar auf deren ureigensten Gebiet als überlegen: „Betrachtet man Preise als Ausdruck des subjektiven Nutzens […], so wird mit der Variation der personellen Verteilung auch der Nutzen- bzw. Gebrauchswertindikator variiert. Da jedoch die personelle Verteilung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Eigentum, Verfügungsgewalt etc.), also den Produktionsverhältnissen bestimmt wird, sind Gebrauchswert bzw. subjektiver Nutzen nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen. […] Dies zu durchschauen, ist die subjektive Wertlehre […] nicht im Stande.“ (Rehberg/Zinn 1977, 406, Fn. 38)

Aufgrund der objektivistischen Stoßrichtung dieser Fragen wurde objektiven Werttheorien allerdings oft ein mit dem Merkantilismus und der Physiokratie geteilter „Substantialismus“ unterstellt (vgl. u.a. Schumpeter 1971, 324ff.). Jedoch kritisierte Marx jede Substantialisierung des Wertes als Ausdruck des „der Warenwelt ankle22 Vgl. zu entsprechenden Defiziten der ökonomischen Neoklassik: Henning 2005, 132f.; Heinrich 1991, 57-71. In mikroökonomischen Fragen – Einzelpreise, individuelle unternehmerisch Kalküle etc. – mag Marx’ Ansatz daher ein im Vergleich zur Neoklassik geringer Gebrauchswert attestiert werden, um ihn für die Behandlung makroökonomischer und gesellschaftlicher Problemstellungen, um die es Marx ging, gleichwohl weiterhin als relevant anzusehen (vgl. auch Sweezy 1970, 155f.). 23 Vgl. zur Metapher des Gravitationspunktes: MEW 25, 187; MEW 4, 83; MEW 40.1, 472.

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benden Fetischismus“ und betonte, der Wert könne als „eine bestimmte gesellschaftliche Manier [...], die auf ein Ding verwandte Arbeit auszudrücken, […] nicht mehr Naturstoff enthalten als etwa der Wechselkurs“ (MEW 23, 97). Betrachtet man die qualitative Seite des Wertproblems, erweist sich die Theorieverschiebung vom Merkantilismus über die Physiokratie zur Arbeitswertlehre und deren Entwicklung von Smith zu Marx daher als beständige ‚Entsubstantialisierung‘ der objektivistischen Argumentation. Den frühen Merkantilisten24 galt der Wert als substantielle Eigenschaft der Edelmetalle, wogegen die Physiokraten Gold nur als Ausdruck des Wertes, seine Quelle jedoch im Boden verorteten, wenn auch mit Bindung an die produktive Agrararbeit (vgl. Quesnay 1975, 79-108). Zu dieser Zeit behandelte John Locke den Wert bereits ganz als Effekt produktiver Arbeit und löste ihn so von äußeren Natureigenschaften.25 Was dort noch primär der naturrechtlichen Begründung des Eigentums diente, wurde bei Smith zum Element einer Ökonomie, in der sich die vom ihm eingeführte und von Ricardo dann schärfer gefasste Differenzierung von Gebrauchsund Tauschwert mit einer weiteren Entsubstantialisierung verband. Auf der für Ricardo und Marx entscheidenden Seite des Tauschwerts wurde von jeder konkreten Beschaffenheit der Arbeit abgesehen, um stattdessen von einer abstrakten Durchschnittsgröße auszugehen. Ricardo (vgl. 1972, 48ff.) verschob die quantitative Bestimmung der Wertgröße bereits auf historisch-soziologische Faktoren, da statt der tatsächlich verausgabten Arbeitszeit die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit, die vom Stand der Technik und der Arbeitsproduktivität abhängt, als ausschlaggebend galt. Marx führte im Konzept des relativen Mehrwerts (s.u. 1.4) nicht nur diese Historisierung weiter, vielmehr behandelt er den marktförmigen Tausch und den Tauschwert – in Differenz zu seinen Vorgängern – nicht mehr als anthropologische Universalie aller Ökonomie26, sondern als „rein gesellschaftliches“ Faktum (MEW 23, 62; s.o. 1.1). Ökonomische Kategorien wie Ware, Wert, Arbeit, Kapital werden damit „aus dem Reich der Naturphänomene herausgenommen“ und zum „Gegenstand soziologisch historischer Untersuchung“, weshalb Marx’ Theorie primär eine „Sozialökonomie“ ist (Sweezy 1970, 39), die ökonomische Formen als Ausdruck und Medium gesellschaftlicher Verhältnisse behandelt und sie so endgültig ihres substantiellen Scheins entkleidet: Dass Produkte die Form von Waren mit einer gebrauchswertunabhängigen Wertgegenständlichkeit annehmen, setzt die besondere Form einer Ko24 Merkantilismus ist ein retrospektiv von François Quesnay geprägter Oberbegriff für heterogene Wirtschaftstheorien und wirtschaftspolitische Praktiken des Absolutismus vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Die metallistische Auffassung des Werts und des Geldes, die später zum Synonym für das Merkantilsystem (und zur Zielscheibe des Spotts) wurde, verlor im Merkantilismus selbst v.a. in der kameralistischen Verwaltungspraxis aber bald an Bestand. Vgl. zum Merkantilismus in dogmengeschichtlicher Perspektive: Schumpeter 1954, 335-376; in epistemologischer Perspektive: Foucault 1974, 211-268, v.a. 214-228 sowie bereits Sombart 1922, Bd. II.2, 912-942. Vgl. auch: MEW 42, 246ff. 25 Auch bei Bodenprodukten sei es „tatsächlich […] die Arbeit, die jedem Ding seinen unterschiedlichen Wert gibt. […] Ja wenn wir die Dinge, so wie sie in unseren Gebrauch gelangen, richtig veranschlagen […,] so werden wir feststellen, daß die meisten […] allein auf das Konto der Arbeit gehen.“ (Locke 1980, 125) 26 Vgl. Smith 1978, u.a. 16ff.; zur Kritik des Anthropologismus: MEW 23, 96. Foucault (vgl. 1974, 269-462) hat die Anthropologisierung der Ökonomie bei Smith (ebd., 274ff.), v.a. aber bei Ricardo (ebd., 310-322) analysiert.

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operation voneinander unabhängiger Privatproduzenten voraus, die nicht durch unmittelbar soziale Abhängigkeitsverhältnisse, sondern nur durch die sachlichen Bande des Marktes vermittelt in ökonomische Beziehungen treten.27 Damit dabei das Geld vom bloßen Medium zum Zweck des Tauschs und seine Verwertung als Kapital zum Dreh- und Angelpunkt einer Wirtschaftsform wird, müssen weitere historische Bedingungen erfüllt sein, etwa die Existenz besonderer gesellschaftlicher Gruppen und Subjekttypen, die sich als Kapitaleigentümer und Lohnarbeiter zueinander verhalten, eine historische Voraussetzung, hinter der allein „eine Weltgeschichte“ steht (ebd., 184; MEW 42, 371-421; s.u. IV). Dass schließlich in der politischen Ökonomie die Idee aufkommt, die Arbeitszeit als Wertmaß anzusehen, setzt eine entfaltete Form des so bestimmten Produktions- und Austauschprozesses voraus, da erst hier die Verausgabung von Arbeitskraft und Arbeitszeit – im Sinne einer „Realabstraktion“ (vgl. Sohn-Rethel 1978) – in den wirtschaftlichen Praktiken einen abstrakten, d.h. von qualitativen Bestimmungen befreiten Charakter erhält.28 Es ist später herauszuarbeiten, wie Marx die Genese dieser historischen Ausgangsbedingungen des Kapitalismus und die Tendenzen der sich durch diese Wirtschaftform selbst verändernden gesellschaftlichen Verhältnisse fasste und wie seine Analysen durch Perspektiven Foucaults und Bourdieus erweitert werden können. Hier genügt es zunächst festzuhalten, dass Marx Warenform, Wertform und Kapitalverhältnis gleichermaßen als gesellschaftliche Erzeugnisse behandelte, um den substantiellen Anschein des Wertes in einer Theorie der gesellschaftlichen Erzeugung – nicht nur der materiellen Produkte, sondern auch ihrer symbolischen Erscheinung als ‚Wertding‘ – aufzulösen. Auch beansprucht er, anders als neoklassische Modelle, keine universelle Geltung für jede Wirtschaftsform, sondern versucht ‚nur‘, die einer besonderen Gesellschaftsformation zugehörigen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Ökonomie zu formulieren. Materialistisch ist diese Theorie nicht durch die Unterstellung einer materiellen ‚Wertsubstanz‘, sondern nur in dem Sinne, dass mit

27 Gegen Smiths anthropologische Ableitung der Arbeitsteilung aus dem Warentausch betont Marx, dass zwar die „gesellschaftliche Teilung der Arbeit […] Existenzbedingung der Warenproduktion“ sei, aber „Warenproduktion nicht umgekehrt die Existenzbedingung gesellschaftlicher Arbeitsteilung“. So war in „der altindischen Gemeinde […] die Arbeit gesellschaftlich geteilt, ohne daß die Produkte zu Waren“ wurden (MEW 23, 56). Warenproduktion erfordert über Arbeitsteilung hinaus eine entwickelte Geldform (vgl. ebd., 109-160) und eine Mehrzahl von Individuen, die in soziale Situationen gesetzt sind, in denen sie ihren Austausch nur noch in dieser Form, also aus anderen (etwa dörflich-feudalen) Beziehungen entbunden, vollziehen können (vgl. ebd., 91f. & 741-791). 28 „Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln […], besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt. So war es nur die Analyse der Warenpreise, die zur Bestimmung der Wertgröße, nur der gemeinschaftliche Geldausdruck der Waren, der zur Fixierung ihres Wertcharakters führte.“ (MEW 23, 89f.) Ebenso ist die der Werttheorie zugrundeliegende „Abstraktion der Arbeit“ kein rein geistiges Resultat. „Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und die bestimmte Art der Arbeit […] gleichgültig ist. Die Arbeit ist hier nicht nur in der Kategorie, sondern in der Wirklichkeit […] Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden und hat aufgehört, als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit verwachsen zu sein.“ (MEW 13, 635)

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der Kategorie der Arbeit ein Bezug zur produktiven Wertschöpfung gewahrt bleibt und der Verteilung und Aneignung der Werte auf dem Markt ein realer gesellschaftlicher Produktionsprozess und entsprechende Produktions- und Verteilungsverhältnisse vorausgesetzt werden. Die Differenz zu vielen von einer Art transzendentalem Marktsubjekt ausgehenden Ansätzen der ökonomischen Neoklassik liegt darin, dass sich die objektiven Gesetzmäßigkeiten in Marx’ Perspektive hinter dem Rücken der Handlungsagenten bzw. durch ihr Handeln hindurch durchsetzten, so dass gegen den methodischen Individualismus hier kein „Substantialismus“, sondern ein gesellschaftstheoretischer Objektivismus steht (vgl. Heinrich 1991, 69ff.). Marx selbst maß der Kategorie des Tauschwerts in seinen methodischen und wissenssoziologischen Überlegungen dezidiert nicht den Charakter einer im Wirtschaftsprozess aktiv gebrauchten oder subjektiv bewussten Größe zu. Da in „der bürgerlichen Gesellschaft […] a priori keine bewußte gesellschaftliche Regelung der Produktion stattfindet“, können „die wirklichen, täglichen Austauschverhältnisse und die Wertgrößen nicht unmittelbar identisch sein“, da diese objektive Regelgröße, „sich nur als blindwirkender Durchschnitt“ durchsetzen kann (MEW 32, 553 [Hervh. i.O.]). Der Status des objektiven Wertbegriffs ist daher explizit der einer rein wissenschaftlichen Kategorie. Als solche sollte sie nicht die Perspektiven von Wirtschaftsakteuren wiedergeben, sondern helfen, Voraussetzungen, Effekte und Funktionen ihres Handelns aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang zu erklären. Der theoretische Begriff des Wertes ist nicht mehr und nicht weniger als ein abstraktes, kategoriales Instrument zur Formulierung von Gesetzmäßigkeiten einer spezifischen Gesellschaftsformation. Dieser Wertbegriff ist selbst keine empirische Größe, er kann aber zur systematischen Erklärung von Phänomenen beitragen, die zu den Grundcharakteristika kapitalistischen Wirtschaftens gehören, denen neoklassische Theorien aber oft auffallend hilflos begegnen: „Theoretisch sollte es im Kapitalismus weder Arbeitslosigkeit noch Finanzkrisen geben“ (Thurow 1996, 324); „theoretisch sollte es im Kapitalismus überhaupt keine Konjunkturzyklen geben“ (ebd., 312); von der Asymmetrie der Eigentumsverhältnisse und Lebenschancen ganz zu schweigen.29 Angesichts solcher eingestandener Unvereinbarkeiten neoklassischer Modelle mit dem real existierenden Kapitalismus wären konkurrierende Erklärungsangebote ernsthaft zu prüfen. Widerlegungen der marxschen Theorie, die den theoretischen Grundbegriff des Wertes als empirische Aussagen falsifizieren, sind dabei methodisch unzureichend.30 Wie bei jeder wissenschaftlichen Theorie muss zunächst das Modell, innerhalb dessen der Wertbegriff eine analytische Funktion hat, verstanden werden.

29 Neoklassisch werden diese Abweichungen vom Modell aus dem Fehlverhalten der Akteure ‚erklärt‘ (vgl. Thurow 1996, 312ff.). Theorie wird so zum normativ-präskriptiven Maßstab (vgl. kritisch: Heinrich 1991, 57-78, v.a. 68ff.). 30 Vgl. etwa die Marx-Kritik bei Schumpeter 1971; Willke 2006. Empirische Prüfungen können nicht von den Grundbegriffen verlangt werden: „Wie will man etwa den physikalischen Begriff der ‚Masse‘ testen? Testen kann man einzig die aus einem formulierten Gesetz gezogenen Hypothesen.“ (Henning 2005, 145) Auch die Kategorie des „individuellen Nutzens“ lässt sich nicht „testen“: „Weder lassen sich Grenznutzenschätzungen beobachten, noch kann davon ausgegangen werden, daß sie überhaupt stattfinden.“ (Heinrich 1991, 63) Vgl. auch Rehberg/Zinn 1977, 408.

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1.3 D ER ABSOLUTE M EHRWERT M EHRWERTTHEORIE

UND DIE

K RITIK

AN DER

„Es ist einfach zu begreifen, wie die Arbeit den Gebrauchswert vermehren kann; die Schwierigkeit liegt darin, wie sie höhre Tauschwerte als die vorausgesetzten schaffen kann. […] Mehrwert ist überhaupt Wert über das Äquivalent hinaus. Äquivalent seiner Bestimmung nach ist nur die Identität des Werts mit sich. Aus dem Äquivalent heraus kann daher nie der Mehrwert entsprießen; also auch nicht ursprünglich aus der Zirkulation; er muß aus dem Produktionsprozeß des Kapitals selbst entspringen.“ KARL MARX (MEW 42, 238 & 243)

Ebenso wie Arbeitsteilung, Markt und Geld notwendige aber keineswegs hinreichende historische Ausgangsbedingungen des Kapitalismus bilden, sind die Analysen der Waren-, Wert- und Geldform und der Zirkulation von Waren und Geld nicht hinreichend zum Verständnis dieser Wirtschaftsform. All diese Formen waren in Grundzügen vor dem Kapitalismus entwickelt, ohne dass die durch Geld ermöglichte Verfügung über bestimmte Quanta von Arbeit oder Arbeitsprodukten dazu führte, dass das Medium Geld in der besonderen gesellschaftlichen Form des Kapitals als mehr Wert generierender Wert wirkte. 31 Dass Geld nicht nur als Medium der Zirkulation, sondern als eine Quelle der Wertmehrung erscheinen kann, wird erst aus der Besonderheit der Kapitalform und aus ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen verständlich. In der einfachen Warenzirkulation werden Waren für Geld verkauft, um andere Waren zu kaufen (W-G-W). Geld ist nur das Medium zur Vermittlung eines Tauschs, dessen „Endzweck“ außerhalb der Zirkulation in der gebrauchswertbezogenen Bedürfnisbefriedigung liegt.32 Die entwickelte Geldform kann aber historischer Ausgangspunkt der neuen gesellschaftlichen Form des Kapitals werden. Hier wird das Medium Geld weder aufgespart noch zum Konsum verausgabt, sondern zum gewinnbringenden Kauf und Verkauf von Waren eingesetzt. Kennzeichen des Kapitals ist also zunächst eine andere Zirkulationsform: G-W-G. Die „Zirkulation des Geldes als Kapital“ wird hier „Selbstzweck“ (MEW 23, 167). Die Ware fungiert lediglich als Medium, als das Vermittlungsglied der Geldzirkulation, was nur dann sinnvoll ist, wenn am Ende ein größeres Wertquantum steht, also in der Form G-W-G' (wobei G'>G). Statt der auf Bedürfnisse bezogenen Vermittlung von Gebrauchswerten wird hier die quantitative Expansion des Tauschwertes zu einem Ziel ohne Endpunkt, das

31 Vgl. zur Verwertungslogik als Spezifikum des Kapitalismus u.a.: Sombart 1922, Bd. I.1, 14ff.; Boltanski/Chiapello 2003, 39ff.; zu ihrer langfristigen historischen Genese v.a.: Sombart 1922 & Braudel 1986. 32 In der einfachen Zirkulation veräußert etwa ein Leinweber ein Quantum Leinwand gegen Geld und erwirbt dafür eine Bibel, die er als Gebrauchsgegenstand nutzt, um ein Erbauungsbedürfnis zu befriedigen. Der Bibelverkäufer ersteht mit seiner Einnahme Brandwein und befriedigt leibliche Bedürfnisse. Endzweck des Tauschs war die Transubstitution von Waren in Gebrauchsgüter, die aus der Zirkulation herausfallen, während das Geld, das den Tausch vermittelt hat, in seiner Größe unverändert dieselbe Funktion fortsetzt (vgl. MEW 23, 119-128).

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nur als „rastlose Bewegung des Gewinnes“, „rastlose Vermehrung des Werts“ (ebd., 168; vgl. MEW 42, 422) existiert: „Der Wert wird also prozessierender Wert, prozessierendes Geld und als solches Kapital. Er kommt aus der Zirkulation her, geht wieder in sie ein, erhält und vervielfältigt sich in ihr, kehrt vergrößert aus ihr zurück und beginnt denselben Kreislauf stets wieder von neuem.“ (MEW 23, 170)

Der diesem Prozessieren des Werts vorausgesetzte „Mehrwert“ kann gesamtwirtschaftlich betrachtet nicht in der Zirkulationssphäre entspringen, da dort stets einer verlöre, was der andere gewinnt – ein Nullsummenspiel, bei dem die Summe der auf dem Markt vorhandenen Werte gleich bliebe und nur eine andere Verteilung, keine Veränderung der absoluten Wertgröße stattfände.33 Da aber die „Zirkulation die Summe aller Wechselbeziehungen der Warenbesitzer“ und der Wert nur eine gesellschaftliche Form dieser Beziehungen ist, existieren jenseits der Zirkulation weder Waren noch Wert, weshalb Kapital ebenso wenig außerhalb entspringen kann. „Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“ (MEW 23, 179f.) Gelöst wird dieses Rätsel bekanntlich über die besondere Ware Arbeitskraft, die als „Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung“ (ebd., 183) eine, wenn nicht die Voraussetzung der kapitalistischen Produktion bildet.34 Sie hat für den Käufer den besonderen Gebrauchswert, in ihrer Anwendung „mehr Arbeitszeit als vergegenständlicht ist im Arbeitsvermögen, d.h. mehr Arbeitszeit, als die Reproduktion des lebendigen Arbeiters kostet“ (MEW 42, 574), zu leisten. Daher ist die Existenz einer durch den Produktionsmittelbesitz und durch die Kaufkraft für fremde Arbeit gekennzeichneten Klasse einerseits, und einer durch die Freiheit von Produktionsmitteln und die Freiheit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, gekennzeichneten Klasse andererseits eine gesellschaftliche Bedingung der Kapitalverwertung und bleibt es, wie auch immer die so klassifizierbaren Individuen sich sonst zueinander verhalten. Auch beim Kauf und Verkauf der Arbeitskraft bleibt das Prinzip des Äquivalenttausches gewahrt. Marx erklärt den Mehrwert also nicht aus einem Betrug an den Arbeitern.35 Auf dem Markt ist Arbeitskraft eine normale Ware, ihr Äquivalent entspricht dem zu ihrer Reproduktion durchschnittlich notwendigen Wertquantum. Be-

33 Für die individuelle Bilanz sind solche durch die Marktsphäre bestimmten Gewinne wichtig, insgesamt findet hier aber keine Wertschöpfung, sondern nur eine Umverteilung statt (vgl. MEW 24, 131f.). „Erklärungen“, wie auf dem Markt Mehrwert „entsteht“, beruhen meist auf der Verwechslung von Gebrauchs- und Tauschwert. So gilt z.B. Condillacs – bis heute beliebtes (vgl. Löw 2001, 30f.) – Argument, im Tausch gewönnen beide Seiten Mehrwert, da sie etwas erhalten, dass ihnen mehr wert ist, nur für den subjektiven Gebrauchswert. Dies mit dem zu erklärenden quantitativen Mehr an Tauschwert zu verwechseln ist ein Kategorienfehler (vgl. MEW 23, 173ff.). 34 Vgl. zu dieser „differentia specifica des Kapitalismus“: Sweezy 1970, 75ff.; zu ihrer historischen Genese: MEW 23, 741-791; Castel 2008, 64-140; Sombart 1922, v.a. Bd. I.2, 785835; Bd. II.2, 1085-1110. 35 Marx schrieb gegen entsprechende Verzerrungen, die seine Theorie der Mehrwertproduktion auf den Vorwurf eines Diebstahls reduzierten: „Nun sage ich das direkte Gegenteil; nämlich, daß die Warenproduktion notwendig auf einem gewissen Punkt zur ‚kapitalistischen‘ Warenproduktion wird, und daß nach dem sie beherrschenden Wertgesetz der ‚Mehrwert‘ dem Kapitalisten gebührt und nicht dem Arbeiter.“ (MEW19, 382)

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stimmend ist dafür nicht nur das individuelle physische Existenzminimum, sondern auch das für biologische Reproduktion, Erziehung und Qualifikation Notwendige, damit wenn ein „Exemplar der Arbeiterklasse stirbt, ein andres dasselbe remplaciert“ (MEW 42, 271). Der Wert verschiedener Sorten Arbeitskraft variiert dabei nach dem Wertäquivalent der Arbeitszeit, die notwendig ist, „um eine bestimmte Arbeitsfähigkeit, eine besondre Geschicklichkeit zu erzeugen“ (ebd., 242 [Hervh. i.O.]) Das reine physische Existenzminimum entspräche damit einem Sinken des Preises der Arbeitskraft „unter ihren Wert“, da sie sich „nur in verkümmerter Form erhalten und entwickeln kann“ (MEW 23,187). Da „Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches“, von der „Kulturstufe“ und den „Gewohnheiten und Lebensansprüchen“, unter denen „die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat“, abhängiges Produkt sind, geht in die Wertbestimmung zudem ein „historisches und moralisches Element“ (ebd., 185f.; MEW 25, 866f.) ein. Insgesamt ist damit der Wert der Ware Arbeitskraft eine „variable Größe“, mit einer „unendliche[n] Stufenleiter von Variationen“. Da die Bedingungen des Kaufs und der Anwendung der Arbeitskraft als ein Moment gesellschaftlicher Verhältnisse politisch umkämpft sind, entscheidet sich ihr Wert auch im „Kräfteverhältnis“ zwischen den Klassen, das zudem durch „legislative Einmischung“ beeinflusst ist. In Abhängigkeit von diesen Faktoren kann das „gesellschaftliche Element, das in den Wert der Arbeit eingeht, [...] gestärkt oder geschwächt“ werden (MEW 16, 148 [Hervh. i.O.]).36 Arbeitslohn kann so auch einen hohen Lebensstandard ermöglichen, zumal, wo Effekte und Erfordernisse der Kapitalverwertung selbst eine Investition in das „capital fixe being man himself“ (MEW 42, 607) nahelegen. Dies gilt etwa für qualifizierte Lohnarbeit in den Sektoren von Dienstleistung, Distribution, Management etc., die – entgegen dem verbreiten Unsinn, Marx habe nur physische Arbeit als wertbildend angesehen – als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit unter das Wertgesetz und als Lohnarbeit in den Geltungsbereich der Mehrwerttheorie fallen.37 Das häufige Argument, die Mehrwerttheorie, die den Kapitalertrag aus der Exploitation der Arbeit erkläre, sei durch ausbleibende Verelendung des Proletariats empirisch widerlegt worden, ist unzutreffend, da Verelendung hier keine notwendige, sondern

36 Marx hat diese Kämpfe empirisch untersucht (MEW 23, 271-320; MEW 16, 146ff.). Dass er aus dem Kapitalverhältnis „Hungerlöhne“ ableitete, da er versäumte, die „Dialektik auf sich selbst anzuwenden“ und „die Wirkung seiner […] Kapitalismuskritik“ nicht antizipierte (Willke 2006, 96), ist Unfug. Die „Gegenwehr der Arbeiterbewegung“ (ebd.) wurde nicht qua theoretischer Kritik „gesetzt“, sie ergab sich aus den Verhältnissen. 37 So ist „Buchführung als Kontrolle und ideelle Zusammenfassung“ des Produktions- und Distributionsprozesses immer „notwendiger, je mehr der Prozeß auf gesellschaftlicher Stufenleiter vorgeht“ (MEW 24, 137). Dabei setzt jede Arbeit die als Teilfunktion des Gesamtprozesses fungiert, den Waren Wert zu und „alle Arbeit, die Wert zusetzt, […] wird auf kapitalistischer Grundlage immer Mehrwert zusetzen, da der Wert, den sie bildet, von ihrer eignen Größe, der Mehrwert, den sie bildet, von dem Umfang abhängt, worin der Kapitalist sie bezahlt“ (ebd., 139). Hier hat die „stoffliche Bestimmtheit der Arbeit […] nichts mit [der] Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zu tun“, die nur von der Form abhängt, in der die Arbeit gesellschaftlich fungiert: „Köche und Kellner in einem […] Hotel sind produktive Arbeiter, sofern ihre Arbeit sich in Kapital für den Hotelbesitzer verwandelt. Dieselben Personen sind unproduktive Arbeiter als Dienstboten, insofern ich in ihrem Dienst nicht Kapital mache, sondern Revenue verausgabe.“ (MEW 26.1, 129 [Hervh. i.O.]) Vgl. in diesem Kontext auch: MEW 42, 199.

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nur eine mögliche (in Teilen der Welt bis heute reale) Konsequenz der Wirtschaftsform ist.38 Auch wo der Lohnkonsum Riesmans (vgl. 1973, 17-50) „Standardpaket“ (Auto, Kühlschrank, Unterhaltungselektronik etc.) umfasst, müssen also keine neuen Formen des Arbeiterelends – etwa in der „Aufdrängung von Genuss“ (Hofmann 1972, 53 [Hervh. i.O.]) – gesucht werden, um die Theorie zu ‚retten‘. Eine notwendige Bedingung der Mehrwertschöpfung ist jedoch, dass die Anwendung gekaufter Arbeitskraft einen Mehrwert erzeugt, der, wie schon Locke (1980) konstatierte, rechtmäßig dem Käufer zufällt. Diese Herleitung des Mehrwerts wurde in späteren neoklassischen Kritiken oft als metaphysisch und unwissenschaftlich zurückgewiesen (vgl. Robinson 1962, 39; Popper 1974). Da der Arbeiter das Wertäquivalent seiner Arbeitskraft erhält, könne nur qua spekulativer Setzung unterstellt werden, dass mehr Wert aus der Arbeitskraft kommt, als in sie eingeht: „[W]oher kommt dieser Wert, wenn die in der Arbeitskraft reproduzierte Wertsumme bereits ausgeschöpft ist? Die Setzung dieses Mehr-Werts ist der mystische Kern“ (Willke 2006, 95). Nun unterschied Marx klar zwischen der Arbeitskraft als Ware mit Tauschwert, und dem Gebrauchswert der Arbeit: „Arbeit ist, soweit sie gekauft und verkauft wird, eine Ware wie jede andere [...] und hat daher einen Tauschwert. Aber der Wert der Arbeit oder die Arbeit als Ware produziert ebensowenig, wie der Wert des Getreides […] zur Nahrung dient.“ (MEW 4, 88) Die Unterstellung, die Ware Arbeitskraft „enthalte“ in irgendeiner Art den Mehrwert, kritisierte Marx selbst an Proudhon als metaphysischen Unsinn. „[S]olange die Arbeit Ware ist“, also auf dem Markt gehandelt wird, „hat sie Wert, aber produziert nicht“ (ebd., 89).39 Dass der Äquivalenttausch in ein Ausbeutungsverhältnis umschlägt, in dem „fremde Arbeitszeit ohne Austausch vermittelst der Form des Austauschs angeeignet“ wird (MEW 42, 575 [Hervh. i.O.]), ist nur unter Berücksichtigung der Prozesse verständlich, die sich in der hinter der Oberfläche „des Marktes […] verborgne[n] Stätte der Produktion“ (MEW 23, 189) vollziehen. Auch wenn die Theorien der ökonomischen Neoklassik diesen düsteren Ort meist meiden, muss man der Mehrwerttheorie dorthin folgen, um sie zu verstehen.40

38 Dem Argument, „ein Blick auf die Lohn- und Arbeitszeitentwicklung“ (Westeuropas) zeige, dass sich die Mehrwerttheorie „empirisch nicht bestätigt“ habe (Gabler 2005, 227, 2031; vgl. Willke 2006, 94f.; Recktenwald 1978; Schumpeter 1971; Dahrendorf 1999 u.v.a.), dient das Manifest als Referenzpunkt (MEW 4, 468ff.). Bereits im Elend der Philosophie ist die Thematik differenzierter dargestellt (vgl. MEW 4, 83ff.). Im Kapital werden Verelendungstendenzen behandelt (MEW 23, 675), es gibt aber keine direkte Kopplung von Mehrwert und Elend. 39 Die klare begriffliche Unterscheidung von Arbeitskraft als Ware und Arbeit als einem produktiven Vermögen fehlt in den frühen Schriften. Im Widmungsexemplar des Elends der Philosophie waren hinter dem Wort „le travail“ aber bereits die Worte „la force du travail“ eingefügt (vgl. MEW 4, 88). 40 Neoklassische Modelle drehen sich marktfixiert um Kauf und Verkauf. Hier muss die Vorstellung von hinter dem Markt stehenden Prozessen oder von hinter den Preisen stehenden Werten „metaphysisch“ erscheinen. Das heißt aber zunächst nur, dass die Mehrwerttheorie innerhalb des neoklassischen Paradigmas ebenso wenig integriert werden kann, wie die Evolutionstheorie in die biblische Schöpfungsgeschichte. Vgl. in diesem Kontext: Henning 2005, 130-152. Dieser verweist auch darauf, dass die gesellschaftliche Verdrängung der Produktion sich bis in die Filmkultur erstrecke, wo die Produktion, wenn überhaupt, „meist als Laboratorium des Bösen“ präsentiert wird (ebd., 132, Fn. 11).

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Werden Waren nicht weiter getauscht, sondern ver- oder gebraucht, fungieren sie nicht mehr als Waren mit Tausch-, sondern als Objekte mit Gebrauchswert, der im Fall der Arbeit in ihrer produktiven Fähigkeit liegt. Hat der Kapitalist auf dem Markt Rohstoffe, Technik, Produktionsgebäude etc. erworben, die sein konstantes Kapital bilden, braucht er, um dieses zu verwerten, Arbeitskräfte, die sein variables Kapital werden. Nach dem Tausch von Arbeitskraft gegen Geld bleibt nur der Lohnkonsum Element der einfachen Zirkulation. Das Arbeitsvermögen hingegen geht in den Gesamtkreislauf des Kapitals ein und wird mit Rohstoffen und Arbeitsmitteln zur Produktion neuer Waren benutzt. Die Form des Verwertungsprozesses stellt sich, genauer betrachtet, also so dar: G-W(Ak+Pm)…P…W' (W+w)-G' (G+g) Geld wird in Waren (Arbeitskraft [Ak] und Produktionsmittel [Pm]) investiert, diese fallen temporär aus der Zirkulation heraus, um im Produktionsprozess [P] produktiv konsumiert zu werden. Daraus gehen neue Waren hervor, die auf den Markt mit einem Wert (W') zurückkehren, der über W hinaus einen Zusatzwert (w) enthält. Wird die neue Ware zu ihrem Wert verkauft, entspricht das einem über dem verauslagten Geld liegenden Geldwert (G'=G+g) (vgl. MEW 24, 31ff.). Das Gesamtkapital vollzieht hier verschiedene Metamorphosen: Geldkapital wird Warenkapital, die Waren (Ak+Pm) zu produktivem Kapital, das Endprodukt wieder zu Warenkapital und schließlich zu Geldkapital mit dem der Kreislauf neu beginnt. Die verschiedenen Stadien erscheinen realitär als „selbständige Kapitalsorten, deren Funktionen den Inhalt gleichfalls selbständiger und voneinander getrennter Geschäftszweige bilden“ (ebd., 56), aus deren Perspektive sich die Sache je anders darstellt. Geldkapital erscheint etwa als Zins oder Rendite abwerfendes Banken- oder Fondkapital, in der „äußerlichste[n] und fetischartigste[n] Form […] G-G', Geld, das mehr Geld erzeugt […,] ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt“ (MEW 25, 404). Auch vom kaufmännischen Kapital her ist keine Produktion zu sehen, sondern Waren, die auf dem Markt gekauft und mit Gewinn verkauft werden (G-W-W'-G'). All diese Funktionen setzen aber im Prozess der Kapitalverwertung einander voraus und erfordern in letzter Instanz einen Produktionsprozess des auf die einzelnen Funktionsglieder verteilten Mehrwerts. Dass Marx, bevor er die Funktionen einzelner Kapitalsorten und die Verteilung des Mehrwerts unter ihnen behandelt, den Produktionsprozess analysiert, gründet auf der „tautologische[n], aber im Vergleich zur Neoklassik grundstürzende[n] Einsicht, dass nur die Produktion produktiv ist, dass also der Mehrwert, bevor er verteilt werden kann, zunächst einmal vorhanden sein muss“ (Henning 2005, 150), da im Tausch zwar eine andere Verteilung, aber keine Wertschöpfung stattfindet (vgl. MEW 24, 131).41

41 Kaufmanns- und Bankenkapital sind historisch früher entwickelt als der Prozess der produktiven Kapitalverwertung, wie ihn Marx analysiert. In diesen früheren von Braudel (vgl. 1986, v.a. Bd. 2 & 3) untersuchten Formen des Handels- und Kreditkapitalismus verhält sich das Kapital noch weitgehend ‚parasitär‘ zu einem ihm äußerlichen (d.h. noch nicht kapitalistisch organisierten) Produktionsprozess, der aber auch hier vorausgesetzt ist, da Geld-Kapital sich nur ‚vermehrt‘, indem es Teile des gesellschaftlichen Surplusproduktes aus der Produktion abzieht. Da Marx nicht historisch argumentiert, sondern die Logik eines

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Im Produktionsprozess vermittelt die Arbeit die Wertabgabe des konstanten Kapitals an das Produkt, sorgt also dafür, dass dessen stoffliche Elemente (Rohstoffe und Maschinen), statt zu verderben, den in ihnen vergegenständlichten Wert auf das Endprodukt übertragen (vgl. MEW 23, 407ff.; MEW 42, 282ff.), und setzt diesem zudem das dem Lohn entsprechende Äquivalent an Arbeitszeit zu, wodurch die Wertgrößen des konstanten und variablen Kapitals in Gestalt neuer Waren reproduziert werden. Wird die Arbeit über diese Reproduktion hinaus fortgesetzt, setzt sie dem Produkt zudem eine Mehrarbeitszeit zu. Wo die kontraktlich vereinbarte Arbeitszeit über dem entgoltenen Äquivalent der Ware Arbeitskraft liegt, hat ihr Käufer, indem er mit der Arbeitskraft deren „Arbeitsvermögen als Äquivalent eingetauscht hat“, auch das über den im Lohn gezahlten Teil hinausgehende Arbeitsvermögen „eingetauscht“ (MEW 42, 574). Verlässt das Produkt den dunklen Uterus der Produktion und erblickt das Licht des Marktes, tut es dies wieder in Form von Waren, deren Tauschwert (wenn alles gut geht42) höher ist, als der der zur Produktion gekauften Waren. Mehrwert wird hier nicht als ‚metaphysische‘ Ingredienz der Ware Arbeit ‚gesetzt‘, sondern aus einer Reihe von gesellschaftlichen und physischen Transformationsprozessen erklärt: Auf dem Markt gekaufte Waren fungieren in der Produktion als Gebrauchsgüter und werden als solche angewendet, die Anwendung transformiert Stoffe und Energie zu Produkten, die auf dem Markt wieder zu Waren mit einem in Geld ausgedrückten Tauschwert werden.43 Wie dabei in der Produktion mehr Wert entstehen kann, ist mit einer simplen Beobachtung erklärbar: Produzenten schaffen in jeder Produktionsform durch ihre Arbeit Gebrauchsgüter. Konsumieren sie diese nicht gänzlich, bleibt ein Surplusprodukt, das gegen andere Überschüsse getauscht, verschenkt oder von einer Obrigkeit angeeignet werden kann. Verkaufen Individuen, die über keine Arbeitsmittel verfügen, ihre Arbeitskraft vor der Produktion zu einem festgesetzten Wertquantum und produzieren in einer darüber hinausgehenden Surplusarbeitszeit ein Mehrprodukt für den Käufer der Arbeit, ändern sich die historischen Modi der Produktion und Verteilung und dabei auch die Quantität der Surplusarbeitszeit und des Surplusprodukts. Marx sah es ja als die „große geschichtliche Seite des Kapitals […,] Surplusarbeit[,] überflüssige Arbeit vom Standpunkt des bloßen Gebrauchswerts, der bloßen Subsistenz aus, zu schaffen“ (ebd., 244 [Hervh. i.O.]), also die gesellschaftliche Gesamtarbeitszeit weit über das zur Befriedigung eines statischen Bedürfnissystems notwendige Maß hinaus auszudehnen und das Surplusprodukt (im Unterschied zu den feudalen Abschöpfungsmodi) in die weitere Ausdehnung der Produktion zu lenken. In diesem gesellschaftlichen Sinne einer Veränderung der Form und Zweckbestimmung der Ausbeutung gegenüber unmittelbaren Herrschaftsformen sei „das Kapital proentwickelten Kapitalismus analysiert, behandelt er die Genese des kaufmännischen und Bankenkapitals erst in Band III des Kapitals (vgl. MEW 25, 335-349 & 607-626). 42 Es geht natürlich nicht immer alles gut. In frühkapitalistischen Manufakturen fehlte zum Teil „die einfachste Buchführung, […] entsprechend mangelte es an Übersicht über Rentabilität und Finanzen“, man glaubte „einen Gewinn erzielt zu haben, wenn am Jahresende Geld in der Kasse war!“ (Kocka 1975, 29) 43 Die Verwertung geht so „in der Zirkulationssphäre vor und geht nicht in ihr vor. Durch die Vermittlung der Zirkulation, weil bedingt durch den Kauf der Arbeitskraft auf dem Warenmarkt. Nicht in der Zirkulation, denn sie leitet nur den Verwertungsprozeß ein, der sich in der Produktionssphäre zuträgt.“ (MEW 23, 209)

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duktiv; d.h. ein wesentliches Verhältnis für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte“ (ebd., 242).44 Woran diese Veränderung der Formen der Produktion und Verteilung aber nichts ändert, ist das Faktum, dass die Produktion des Überschusses Voraussetzung der Distribution ist.45 Statt zu glauben, dass das „‚Mehr‘ an Wert aus dem Nichts“ (Willke 2006, 95) kommt, sieht Marx in der Surplusarbeit die Quelle des Mehrprodukts, das in der gesellschaftlichen Form des Wertes als Mehrwert erscheint. Die Annahme, dass Werte auf dem Markt durch creatio ex nihilo oder durch subjektive Willensbildung einfach vorhanden sind, ist kaum weniger ‚metaphysisch‘ als die Erklärung, dass „das Entgelt für die Arbeit und das Quantum der Arbeit ganz verschiedenartige Dinge sind“ (MEW 16, 124 [Hervh. i.O.]). Obgleich sich erst auf dem Markt entscheidet, ob der Mehrwert auch als Gewinn realisiert wird, hängt sein potenzieller Umfang zunächst von der Produktion ab. Marx geht davon aus, dass das in Produktionsmitteln angelegte konstante Kapital zwar eine produktive Funktion hat, in den Wert des Endprodukts aber nur in dem Maße eingeht, in dem das im Produktionsprozess verbrauchte Wertäquivalent der Produktionsmittel auf neue Waren übertragen wird, so dass seine Wertgröße konstant bleibt und für sich kein neues Wertquantum bildet.46 Zu beachten ist zudem, dass aktiv fungierende Kapitalisten (ob als Industrielle, Kaufleute oder Bankiers) wichtige gesellschaftliche Funktionen im Produktionsprozess erfüllen. Dabei gilt für Marx, dass „die Arbeit des Exploitierens […] ebensogut Arbeit [ist], wie die Arbeit, die exploitiert wird.“ In dem Maße also in dem fungierende Kapitalisten die „Arbeit der Oberaufsicht und Leitung“ übernehmen, die notwendig ist, wo der „Produktionsprozeß die Gestalt eines gesellschaftlich kombinierten Prozesses hat“ (MEW 25, 396), geht die für diese Funktionen aufgewendete Arbeitszeit als Teil der gesellschaftlich aufzuwendenden Gesamtarbeit in den Wert der produzierten Waren ein. Da aber dieser Wertteil ein Äquivalent der von den Kapitalisten erbrachten Arbeit ist, also quasi ein Lohnäquivalent, handelt es sich gerade nicht um den Mehrwert, sondern um eine bei der Bestimmung des Mehrwerts zu vernachlässigende Größe.47

44 „Der unmittelbaren Zwangsarbeit steht der Reichtum nicht als Kapital gegenüber, sondern als Herrschaftsverhältnis; es wird daher auf ihrer Basis auch nur das Herrschaftsverhältnis reproduziert, für das der Reichtum selbst nur Wert als Genuß hat, nicht als Reichtum selbst, das daher auch nie die allgemeine Industrie schaffen kann.“ (MEW 42, 245) 45 Die allgemeinen Bedingungen eines Surplus sind, dass „Produzenten […] über die Zeit hinaus arbeiten, die zur Reproduktion ihrer eignen Arbeitskraft“ nötig ist, und „daß die Naturbedingungen derart sind […], daß die Produktion ihrer notwendigen Lebensmittel nicht ihre ganze Arbeitskraft konsumiert“ (MEW 25, 647). Die Verteilung ist eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse. Vgl. in diesem Kontext auch: Ritsert 1998, 23-56. 46 Konstantes Kapital verdankt den Namen nicht der Annahme, dass der stoffliche Träger des Wertes im Produktionsprozess unverändert bliebe (Rohstoffe und Energie werden verbraucht, Technik wird verschlissen), sondern der, dass sein zur Produktion verbrauchter Wert auf die Produkte umgelegt wird (vgl. MEW 23, 214-225). 47 Das Äquivalent der von Kapitalisten aktiv verrichteten und „in jeder kombinierten Produktionsweise“ erforderten „produktiven Arbeit“ unterscheidet sich daher Kategorial vom angeeigneten Mehrwert, auch wenn es in der Legitimation der Aneignungsverhältnisse üblicherweise mit diesem Synonym gesetzt wird: Der Kapitalist „schafft Mehrwert, nicht weil er als Kapitalist arbeitet, sondern weil er, abgesehn von seiner Eigenschaft als Kapitalist, auch arbeitet. Dieser Teil des Mehrwerts ist also gar nicht mehr Mehrwert, sondern sein Gegenteil, Äquivalent für vollbrachte Arbeit.“ (MEW 25, 396f.) Das gilt auch für kaufmännische Funktionen als „notwendiges Moment der Reproduktion“ (MEW 24, 133).

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Unter den benannten Voraussetzungen, entspricht der absolute Mehrwert der Mehrarbeitszeit, die über die zur Reproduktion des Arbeitslohns notwendige Arbeitszeit hinausgeht. In diesem Sinne ist die Wertgröße des in Arbeitskraft angelegten Kapitals variabel. Benötigt eine Arbeiter 8 Stunden, um das Wertäquivalent des als Lohn verauslagten variablen Kapitals (v) zu reproduzieren, während er seine Arbeitskraft aber für 14 Stunden verkauft hat, in denen diese produktiv verwertet wird, produziert er in den 6 Stunden Mehrarbeit einen in Waren vergegenständlichten Mehrwert (m). Demnach lässt sich die Rate des Mehrwerts (m') durch das folgende Verhältnis bestimmen:48 m' =

m v

Dies ist nach Marx’ Voraussetzungen nur ein anderer Ausdruck für das Verhältnis der Mehrarbeitszeit (a') zu der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Arbeitszeit (a), also für den „Exploitationsgrad der Arbeitskraft“ (MEW 23, 226f.; vgl. MEW 24, 299ff.; MEW 25, 151ff.): m' =

m a' = v a

Ist m der von einem Arbeiter im Durchschnitt produzierte Mehrwert und v das für den Kauf einer Arbeitskraft vorgeschossene Kapital, ergibt sich die Gesamtmasse des Mehrwerts (M) aus dem Produkt des Verhältnisses m/v und der Summe des insgesamt verauslagten variablen Kapitals (V), also: M=

m *V v

Das entspricht dem Produkt des Werts einer Durchschnittsarbeitskraft (k), des Exploitationsgrades (a'/a) und der Anzahl angewandter Arbeiter (n) also: M=k*

a' *n a

Die Gleichungen verdeutlichen, dass die Masse des Mehrwerts sich erhöhen lässt, wenn die Zahl der gekauften Arbeitskraft (V bzw. n) erhöht, also die Produktion aus-

48 Der Wert der Waren ergibt sich aus der Summe von konstantem Kapital (c), variablem Kapital (v) und Mehrwert (m). Da c konstant bleibt, abstrahiert Marx zur Bestimmung der Mehrwertrate (nicht zu verwechseln mit der Profitrate) von dieser Variable. Dass Marx zur Vereinfachung zunächst c=0 setzt, heißt nicht, dass er diese Größe für bedeutungslos hält. Er beruft sich auf die übliche Methode der Mathematik, „wo sie mit variablen und konstanten Größen operiert und die konstante Größe nur durch Addition oder Subtraktion mit der variablen verbunden ist“ (MEW 23, 228). Die Argumentation befindet sich hier noch auf hoher Abstraktionsstufe, sagt also noch nichts über die Profitrate oder reale Kostenrechnungen. Marx selbst betont „die große ökonomische Bedeutung“ des Verhältnisses von m zum vorgeschossenen Gesamtkapital (c+v) (ebd., 229; vgl. MEW 25, 51-220; s.u. 2.2.).

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gedehnt wird, oder wenn die Mehrwertrate, d.h. der Exploitationsgrad der Arbeit steigt.49 Dazu müsste die Mehrarbeitszeit (a') verlängert werden oder der Wert der Arbeitskraft (v bzw. k) und damit die zur Reproduktion notwendige Arbeitszeit (a) sinken. Entsprechende Phänomene wie der massive Zuwachs des Lohnproletariats und beschleunigte Urbanisierung, die Verlängerung des Arbeitstages bei sinkenden Löhnen, die damit einhergehenden sozialen Probleme (Elendsquartiere, hohe Mortalitätsraten, ausgeprägte Konfliktpotentiale etc.) sind aus dem 19. Jahrhundert bekannt und nicht nur von marxistischen Autoren beschrieben worden.50 Aber abgesehen vom sozialen Sprengstoff, den die Erhöhung des absoluten Mehrwerts als ‚Nebenwirkung‘ produziert, stieße sie auf ‚stationärer Basis‘, also ohne Veränderung der Organisation und der Mittel der Produktion, bald auch an ökonomische Grenzen, da sich die Faktoren der obigen Gleichungen nur auf dem Papier beliebig verändern lassen. Die „Grenzen des Arbeitstages“ (ebd., 245ff.) lassen sich kaum über 16 Stunden ausdehnen und der Wert der Arbeitskraft kann die Grenze des Existenzminimums nicht dauerhaft unterschreiten, was den Variationsspielraum des Verhältnisses m/v bzw. a'/a klar beschränkt. Die Ausdehnung der Produktion, die erzwungen ist, da Kapitalverwertung als Selbstzweck eine Akkumulation auf ständig erweiterter Stufenleiter erfordert, um immer mehr Wert zu verwerten, fände eine Schranke an der exploitierbaren Bevölkerung – was in der „biologischen Ordnung von langer Dauer“ (Braudel 1986, Bd. 1, 88ff.) vor dem durch die industrielle Revolution ermöglichten exponentiellen Bevölkerungswachstum eine reale Grenze kapitalistischer Entwicklung bildete (vgl. ebd., 66-90). Zudem müsste die hohe Nachfrage nach Arbeitskraft bei begrenztem Angebot nach den gewöhnlichen Gesetzen von Angebot und Nachfrage zum Steigen der Löhne führen, was die Mehrwertrate sinken ließe. Es wird im Folgenden zu umreißen sein, wie diese Beschränkungen unter kapitalistischen Bedingungen nach der Theorie des relativen Mehrwerts überwunden werden. Dabei lässt sich auch zeigen, dass Einwände, denen zu Folge angesichts der wachsende Bedeutung von Wissenschaft und Technik „die Rettung der Arbeitswertlehre nicht [...] möglich“ sei (Habermas 1990, 120), auf Unverständnis gründen.51 Schließlich stehen gerade Marx’ Analysen zu den Entwicklungsdynamiken der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte bis hin zur Vollautomatisierung großer Teile der Produktion, die Das Kapital auch zu einer wichtigen Anregungsquelle der

49 Vorausgesetzt ist dabei, dass v=k und dass a eine von k abhängige Variable ist, d.h. die notwendige Arbeitszeit ändert sich jeweils in der gleichen Proportion wie der Wert der Durchschnittsarbeitskraft. 50 Eine wichtige Quelle für Marx waren die zahllosen zeitgenössischen Fabrikkommissionsberichte. Vgl. zu unabhängigen Darstellungen z.B. auch: Polanyi 1997; Castel 2008. 51 Unterstellt wird, die Mehrwerttheorie impliziere, „dass der Unternehmer möglichst arbeitsintensiv zu produzieren sucht, um damit möglichst viel […] Mehrwert bei gegebenem c zu erlangen“ (Gabler 2005, 193). Daher müsse „jedermann […] in arbeitsintensiven Unternehmen sein Geld anlegen“, dass dem nicht so sei, widerlege die Theorie (Löw 2001, 31; vgl. 30ff. & 102f.). Stehr (1994) sieht Marx durch die Rolle der Wissenschaft als Produktionsfaktor widerlegt. Da das Schlüsselkonzept des relativen Mehrwerts ausgeblendet wird, gelten Marx’ aus der Technisierung abgeleitete Tendenzgesetze als Selbstwiderspruch (Gabler 2005, 2925 & 193) bzw. als Selbstdementi einer Theorie, die nur auf dem „Vernichtungsdrang“ und der „anlagebedingten Hybris“ (Löw 2001, 385) ihres Autors gründe.

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Techniksoziologie machen,52 im Kontext der Mehrwerttheorie (MEW 23, 331-530), die zugleich einen Schlüssel für das Verständnis der einmaligen Wachstumsdynamik und der immanenten Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsform bietet.

1.4 R ELATIVER M EHRWERT ODER DIE S TEIGERUNG GESELLSCHAFTLICHEN P RODUKTIVKRÄFTE

DER

„Während [...] bei der Produktion des Mehrwerts […] bisher […] die Produktionsweise als gegeben unterstellt war, genügt es für die Produktion von Mehrwert durch Verwandlung notwendiger Arbeit in Mehrarbeit keineswegs, daß das Kapital sich des Arbeitsprozesses in seiner historisch überlieferten […] Gestalt bemächtigt und nur seine Dauer verlängert. Es muß die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Arbeitsprozesses, also die Produktionsweise selbst umwälzen, um […] durch die Erhöhung der Produktivkraft […] den Wert der Arbeitskraft zu senken und so den zur Reproduktion dieses Werts notwendigen Teil des Arbeitstags zu verkürzen.“ KARL MARX (MEW 23, 333f.) „Mit der Entwicklung der Produktivkraft […] wird die Akkumulation des Kapitals beschleunigt, selbst trotz einer relativ hohen Lohnrate.“ KARL MARX (MEW 16, 150)

Es ist eine Binsenweisheit und entspricht dem Augenschein, dass Wissenschaft und Technik seit dem 18. Jahrhundert nicht nur für den unmittelbaren Produktionsprozess, sondern auch für die (oft als krisenhaft wahrgenommenen) Veränderungen der „Lebenswelt“ (vgl. u.a. Husserl 1996; Habermas 1995) und für die Bedingungen des Handelns, Denkens und Wahrnehmens im ‚technischen Zeitalter‘ (vgl. Gehlen 2004b) ein bestimmender Faktor waren und sind. Für die Historiographie der Moderne spielt die Technik daher eine ebenso zentrale Rolle wie für die soziologische Zeitdiagnostik. In der Literatur beginnt die Moderne oft mit der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts oder sie wird, anhand markanter Einschnitte, in „Zeitalter der zweiten“ und „dritten industriellen Revolution“ (vgl. Anders 1992a & 1992b) phasiert. Und auch noch in jenen Zeitdiagnosen, in denen bereits eine „postindustrielle Gesellschaft“ (Bell 1975) ausgerufen wurde, geschah dies mit Berufung auf wissenschaftlich-technische Entwicklungen. Da Marx zu diesem Problemfeld reichhaltige Phänomenschilderungen und tragfähige Detailanalysen zur Binnenlogik technischer Prozessabläufe und technologischer Innovationsdynamiken bot, war in entsprechenden Diskursfeldern eine Bezug-

52 Bereits 1847 schrieb Marx: „Einfache Werkzeuge; Akkumulation von Werkzeugen; zusammengesetzte Werkzeuge; In-Bewegung-Setzen eines zusammengesetzten Werkzeuges durch einen einzigen Handmotor […]; In-Bewegung-Setzen dieser Instrumente durch die Naturkräfte; Maschinen; […]; System von Maschinen, die einen automatischen Motor haben – das ist die Entwicklung der Maschine.“ (MEW 4, 153; vgl. MEW 23, 391-530)

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nahme häufig und fiel, gerade bei konservativen Technikanalytikern und Technikkritikern, die politische Distanz nicht eigens markieren mussten, in der Sache oft positiv aus.53 Dabei wurde Marx aber entweder als technokratisch und technizistisch oder als technikfeindlich gelesen. Eingezogen wurde in beiden Formen dieser verkürzten, technologiezentrierten Interpretation der gesellschaftstheoretische Zusammenhang, der gerade den Kern der marxschen Analysen ausmachte.54 Diese ließen sich dann entweder auf Deskriptionen und Wertungen reduzieren oder geschichtsphilosophisch überpointieren (wahlweise als Verhängnis- oder als Heilsgeschichte)55 und fügten sich so in den Zusammenhang der blühenden Technikdiskurse des 20. Jahrhunderts. Erscheint Wissenschaft und Technik dort aber im Grenzfall als eine die Gesellschaft (positiv oder negativ) bestimmende (Über-)Macht, als Subjekt der Geschichte (vgl. Anders 1992b 279ff.), als eine „Schickung des Geschicks“ (Heidegger 1956, 24), als Ausfluss einer „instrumentellen Vernunft“ (vgl. Horkheimer 1991) oder nüchterner als Ausdruck der natürlichen Technizität menschlicher Praxis (vgl. Gehlen 2004b), bleibt sie bei Marx Produkt und Mittel gesellschaftlicher Verhältnisse und Prozesse. Als solches hat sie objektive (nicht metaphysische) Voraussetzungen – in regelmäßigen physischen und chemischen Prozessen und in der Konstitution des Menschen als einem Lebewesen, das seinen „Stoffwechsel mit der Natur“ (u.a. MEW 42, 397) durch technische Mittel gestalten und verändern muss. Aus diesen natürlichen und anthropologischen Voraussetzungen lässt sich die exponentielle technische Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert aber nicht ableiten: Die biologische Natur des Homo Sapiens ist seit 150.000 Jahren unverändert; die Wirkprinzipien mechanischer Automaten oder der Dampfmaschine waren schon in der Antike bekannt und wurden für technische Skurrilitäten genutzt (vgl. Braudel 1991, 93ff.), ohne dass entsprechende Erfindungen den Produktionsprozess oder gar die Gesellschaft ‚revolutioniert‘ hätten. Gegen verbreitete ‚Mythen‘ der wissenschaftlichen und industriellen ‚Revolution‘ sind deren Ursachen und Triebkräfte also weder aus Wissenschaft und Technik56 noch aus der Anthropologie erklärbar. Während technologische oder rein anthropologische „Erklärungen“ technischer Entwicklungen bestenfalls tautologisch oder zirkulär verfahren, also als Ursache vor-

53 Vgl. Gehlen 2004b; 1964; Freyer 1955; 1965; 1970; E. Jünger 1982; F.G. Jünger 1993. 54 Vgl. ablehnend zu Marx’ vermeintlichem Technizismus: Arendt 2002, 154ff. & 123f.; eher zustimmend: Klages 1964; 1965; hingegen zustimmend zu Marx’ vermeintlicher Technikkritik: Anders 1992b, v.a. 126f. 55 Vgl. heilsgeschichtlich: Bloch 1980, v.a. 729-818; eher verhängnisgeschichtlich: Horkheimer 1991, 21-186; verhängnisgeschichtlich, aber eingedenk des von Heidegger oft zitierten Hölderlin-Wortes ‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‘ (hier aus dem Gegenpol der ‚kommunikativen Vernunft‘): Habermas 1995. 56 Braudel (vgl. 1986, Bd. 1, 359-474) hat gezeigt, dass die der ‚industriellen Revolution‘ vorausgesetzten wissenschaftlichen Kenntnisse und technischen Verfahren – von Kohleveredlung (ebd., 396ff.), Metallurgie (ebd., 404ff.), Schießpulver (ebd., 418ff.), Buchdruck (ebd., 431ff.) und Hochseeschiffart (ebd., 436ff.) bis zu Dampfmaschine und Telegraph (ebd., 472ff.) – lange vor ihrer abendländischen ‚Entdeckung‘ in vielen Kulturkreisen bekannt waren, ohne Umwälzungen von Wirtschaft und Gesellschaft zu bewirken. Die Umwälzungen seit dem 18. Jahrhundert sind daher aus ihnen nicht erklärbar, vielmehr ist erklärungsbedürftig warum Technik gerade in den Gesellschaften Westeuropas eine solche Rolle spielen konnte. Vgl. ebd., Bd. 3, 599-692; ähnlich: Wallerstein 1995, v.a. 52-62.

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aussetzen müssen, was sie zu erklären beanspruchen,57 bietet die Mehrwerttheorie eine Erklärung aus der Binnenlogik einer historisch spezifischen Gesellschaftsformation und ihrer charakteristischen Wirtschaftsweise. Beruht der gesellschaftliche Mehrwert im oben (1.3) diskutierten Sinne auf Mehrarbeit, steigt seine Rate (m') nur bei Erhöhung des Anteils der Mehrarbeit am Gesamtarbeitstag. Diese Steigerung müsste aber rasch an klare Grenzen stoßen, die ihr durch die Reproduktionsfähigkeit und Reproduktionsnotwendigkeit der Arbeitskraft gesetzt sind. Ein 14-Stundenarbeitstag mit 8 Stunden Reproduktionsarbeit (a) und 6 Stunden Mehrarbeit (a') ließe sich in einer Variation von Marx’ Schreibweise58 wie folgt darstellen: a----8h----k---6h---a' (a'/a=8/6=75%) Jede weitere Erhöhung des Exploitationsgrads über 75% hinaus stieße bald an „unüberspringbare Schranken“ (MEW 23, 323). Die absolute Größe des Arbeitstags ließe sich kaum mehr zugunsten von a' ausdehnen, da sich die Arbeitskraft regenerieren (schlafen, essen, fortpflanzen) muss. An der physischen Subsistenz findet der Durchschnittswert der Arbeitskraft (k) auf der anderen Seite des Verhältnisses ein absolutes Minimum. Kommen noch soziale Faktoren wie Arbeiterassoziationen oder die Lebenslage des Proletariats als Problem einer „Biopolitik“ (Foucault 1983; s.u. IV) hinzu, kann das zusätzlich zwingen, Lohn oder Arbeitszeit zuungunsten der Mehrwertrate zu verändern, wie in den Fabrikgesetzgebungen des 19. Jahrhunderts (vgl. MEW 23, 294-320). Eine weitere Steigerung des Mehrwerts ist unter diesen Voraussetzungen nur dann möglich, wenn sich „nicht die Länge des Arbeitstags, sondern seine Teilung in notwendige Arbeit und Mehrarbeit“ (ebd., 332) verändert, wenn also nicht die absolute Länge des Arbeitstages, sondern der relative Anteil der Mehrarbeit erhöht wird. Die zur Reproduktion des Lohnäquivalents nötige Arbeitszeit müsste also relativ sinken, was nur möglich ist, wenn die Waren zur Reproduktion der Arbeitskraft wohlfeiler werden, d.h. wenn durch veränderte Produktionsmethoden und höhere Arbeitsproduktivität derselbe Wert in einem größeren Quantum Waren realisiert wird, was die Einzelwaren des Lohnkonsums und damit auch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft verbilligt.59

57 Analytische Qualität gewinnt hingegen z.B. Gehlens (vgl. 2004b) Seele im technischen Zeitalter nicht aus der Anthropologie, sondern aus dem Aufspüren historisch konkreter gesellschaftlicher Kausalbeziehungen. Die Anthropologie fungiert dabei nur als eine theoretische „Hintergrundserfüllung“. 58 Anders als in Marx’ Schreibweise (MEW 23, 331ff.) sind hier zur besseren Veranschaulichung die Variablen zur Berechnung der Mehrwertmasse eingesetzt. Der Durchschnittswert der Arbeitskraft (k) trennt das Kontinuum des Gesamtarbeitstages in die zur Reproduktion von k notwendige Arbeitszeit (a) und die Mehrarbeitszeit (a'). 59 Abstrahiert wird von der Möglichkeit, dass Verwohlfeilerung der Waren durch die Plünderung von Kolonien erreicht wird oder im freien Wettbewerb auf dem Weltmarkt einige Nationen durch ‚Sachzwänge‘ genötigt sind, ihr Produkt unter Wert zu verkaufen. Faktisch ist das eine wichtige Voraussetzung der ‚ursprünglichen Akkumulation‘ (vgl. MEW 23, 792804; Sombart 1922; Braudel 1986, Bd. 3, 429-598) und für den Wohlstand der G8Nationen bis heute relevant (vgl. Schneider 1996, 313-393). Analytisch kann es zunächst ausgeblendet werden.

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Durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte könnte ein Durchschnittsarbeitstag sich nun so darstellen: a--5h---k---7h----a' (a'/a=7/5=140%) Bei noch weiter fortgeschrittenerem Stand der Produktivkräfte gar: a-2h-k---6h---a' (a'/a=6/2=300%) Der Arbeitstag wäre in diesem Beispiel von 14 auf 12 und schließlich 8 Stunden gesunken und der Standard des Lohnkonsums durch wohlfeilere Waren erhalten oder gar erhöht worden (um biopolitischen und gewerkschaftlichen Forderungen gerecht zu werden). Trotz verbesserter Lohn- und Arbeitszeitkonditionen wäre der Exploitationsgrad der Arbeitskraft (d.h. auch die Rate des Mehrwerts) gestiegen. Obwohl die Logik der Kapitalverwertung nicht notwendig dazu tendiert, mit der Erhöhung des relativen Mehrwerts auch die Löhne zu erhöhen oder die Arbeitszeit zu senken, liegt hier die Grundlage dafür, dass andere gesellschaftliche Faktoren in diese Richtung wirken können (s.u. IV.5-8).60 Warum soll nun die dafür vorausgesetzte exponentielle Entwicklung der Produktivkräfte notwendiger Teil des Kapitalismus sein? Mit Marx ist davon auszugehen, dass Menschen ihre „eigene Geschichte“ machen, aber „nicht aus freien Stücken“ (MEW 8, 115). Für die sekundäre Zweckmäßigkeit ihres Handelns gilt: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (MEW 23, 88) Es gibt also weder eine demokratische Willensbildung noch eine Absprache der Unternehmer, die Produktivkräfte zu fördern. Dennoch treten seit Ende des 18. Jahrhunderts in steter Beschleunigung61 Innovationszyklen auf, in denen wachsende Teile des Kapitals in technische Entwicklungen investiert und der relative Anteil an variablem Kapital gesenkt wird, während die Dinosaurier der Produktion, die weiter arbeitsintensiv produzieren, aussterben. Die Ursachen dafür sind verschieden. Zunächst möchte jeder Kapitalist dem ‚Drang seines Kapitals‘ nach optimaler Verwertung genüge tun. Vorausgesetzt, dass der Wert einer Ware durch die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit bedingt ist und sich dies dem Einzelkapital gegenüber im Durchschnitt der für eine Ware auf dem Markt erzielbaren Preise durchsetzt, ist es rentabel, in neue, noch nicht verbreitete Technik zu investieren, die es erlaubt, mit demselben variablen Kapital wie zuvor, also ohne Ankauf weiterer Arbeitskraft, den Produktionsausstoß zu erhöhen. Denn solange alle anderen Anbieter noch alte Technologien anwenden, enthält die Ware, die der Innovateur zum Durchschnittswert losschlägt, einen „Extramehrwert“, der der Differenz zwischen dem „individuellen Wert“, also der tatsächlich in der Ware vergegenständlichten Arbeitszeit, und dem gesellschaftlichem

60 Vgl. die frühe Rede über den Freihandel von 1848 (MEW 4, 450-456), wo jedoch der Einfluss politischer Kämpfe, die diese Tendenz zugunsten des Lebensstandards der Arbeiter wenden können, noch nicht hinreichend berücksichtigt ist. Vgl. ausführlich: MEW 23, 331340 & 542-552; MEW 16, 140-152 sowie bereits Ricardo 1972, v.a. 48-58. 61 Vgl. zur Beschleunigung mit Bezug auf Marx: Rosa 2005, v.a. 256-278.

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Durchschnittswert der Warengattung, zu dem sie verkauft wird, entspricht.62 Andere Unternehmen, die es sich leisten können, erhöhen ebenfalls ihr konstantes Kapital, um die profitable neue Technologie anzuwenden. Damit steigt aber der Gesamtausstoß der Waren und übersteigt schließlich die Konsumtionskraft der Gesellschaft, also die effektive Nachfrage. Ein Teil der Waren kann den sie erst in Geld verwandelnden „Salto mortale“ (MEW 13, 71) auf dem Markt nicht vollführen. Da überfüllte Lager bei begrenzter Haltbarkeit und damit einhergehendem Wertverfall der Ware sich negativ auf die Bilanz auswirken, reduzieren Unternehmen mit fortgeschrittener Technologie ihre Preise, um die Konkurrenz auszustechen und neue Konsumentenschichten zu erreichen. In dem Maße, wie andere Anbieter nun erst recht ihre Waren nicht mehr losschlagen können, sind sie gezwungen, dasselbe zu tun. Der durchschnittliche Marktpreis fällt und nähert sich wieder dem durch die neuen Produktivkräfte veränderten gesellschaftlichen Wert der Waren an.63 Anbieter, die noch in alter Weise produzieren, geraten nun in ernste Probleme, da der individuelle Wert ihrer Waren über dem neuen gesellschaftlichen Wert liegt, sie also im Grenzfall unter ihrem Kostpreis verkaufen müssen. Die Einführung der neuen Technologie wird ihnen durch den Konkurrenzdruck aufgezwungen und wo sie nicht investieren wollen oder können, werden sie vom Markt geschlagen.64 Unterdessen ist bereits eine neue Produktionsmethode entwickelt und der Prozess wiederholt sich. Die schöpferische Zerstörungsdynamik, die Schumpeter (vgl. 1926) den mitunter nahezu mythisch überhöhten Fähigkeiten seines ‚Unternehmersubjekts‘ zuschrieb, hat hier ihre strukturellen Ursachen. Diese Dynamik betrifft anfangs vor allem die Massenprodukte des Lohnkonsums: „Baumwolle, Kartoffeln, Brandwein“ werden „Angelpunkte der bürgerlichen Gesellschaft“, da „zu ihrer Herstellung am wenigsten Arbeit erforderlich“ (MEW 4, 93) ist. Zugleich ist hier die Konkurrenz groß und können neue Techniken besonders effektiv und wirksam eingeführt werden. Ein paradigmatisches Beispiel am Anfang des 20. Jahrhunderts wäre dann die Fordisierung der Autoindustrie (s.u. IV). Heute lässt sich

62 Gegeben, die durchschnittliche Zusammensetzung eines Kapitals der Branche liege für ein Jahr bei 8.000c und 4.000v, ergibt sich bei m'=50% ein Mehrwert von 2.000m. Damit würden 1.000 Waren X produziert, in deren Tauschwert W=v+m+(c/10) (c/10 meint 10% Wertabgabe des konstanten Kapitals durch Verschleiß und Rohstoffverbrauch an das Produkt) enthalten sind, also 800c+4.000v+2.000m=6.800W. Der Wert der Einzelware läge bei 6,8. Ein Innovateur erhöht zur Einführung neuer Technik c auf 10.000, und stellt mit demselben v nun 1.500 Waren X her. Alles Übrige gleich bleibend, wären nun ein Wert von 7.000 (1.000c+4.000v+2.000m=7.000W) in 1.500 X vergegenständlicht. Der individuelle Wert je Einzelware betrüge also 7000/1500=4,67 (gerundet). Ein X kann aber zum gesellschaftlichen Wert von 6,8 verkauft werden, was dem Innovateur je X einen Extramehrwert von 6,8-4,67=2,13 einträgt. Realisiert er die ganze Marge, beliefe sich der Extramehrwert auf 3.195, womit sich die Investition bereits im ersten Jahr amortisiert hätte. 63 „Produziert ferner einer wohlfeiler und kann er mehr losschlagen, sich größren Raums vom Markt bemächtigen, indem er unter dem laufenden Marktpreis oder Marktwert verkauft, so tut er es, und so beginnt die Aktion, die nach und nach die andren zwingt, die wohlfeilere Produktionsart einzuführen, und die die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf ein neues geringres Maß reduziert.“ (MEW 25, 204) Vgl. ebd., 189-205; MEW 42, 252-260. 64 Es versteht sich, dass in diesem Prozess Privatproduzenten (Handwerker) und Kleinunternehmer, wo es ihnen nicht gelingt, mit einem besonderen Warenangebot eine Marktnische zu besetzten, zuerst unterliegen, da sie nicht über genügend Kapital verfügen, um die neuen Produktionsmittel zu erwerben (vgl. MEW 6, 423).

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der Prozess an Mikroelektronik und Unterhaltungsindustrie gut verfolgen. Damit werden die Waren zur Reproduktion der Arbeitskraft wohlfeiler, und da der von Smith emphatisch beschworene, noch den ärmsten Tagelöhner ergreifende „Wohlstand der Nationen“ vielleicht eine langfristige sekundäre Zweckmäßigkeit, aber keineswegs der Primärzweck der Kapitalverwertung ist, sinkt damit der Wert der Arbeitskraft. In dem Maß, in dem so der für das Lohnäquivalent verauslagte Teil des Kapitals (v) sinkt, steigt die Mehrwertrate (m/v) oder der Exploitationsgrad der Arbeit (a'/a), ohne dass das absolute Maximum des Arbeitstags oder das absolute Minimum des Lohns über- oder unterschritten werden. Auf der anderen Seite der gesellschaftlichen Konfliktlinie zwischen Lohnarbeit und Kapital tun die Arbeiterassoziationen das ihrige zur Entwicklung der Produktivkräfte. So waren „die Strikes regelmäßig Veranlassung zur Erfindung und Anwendung neuer Maschinen“, da ihre Einführung die Freisetzung von Arbeitskraft erlaubte und half, Lohnforderungen und Revolten niederzuschlagen. „Hätten Gewerkschaften und Strikes keine andere Wirkung als die, mechanische Erfindungen gegen sich wachzurufen, schon dadurch hätten sie einen ungeheuren Einfluß auf die Entwicklung der Industrie ausgeübt.“ (MEW 4, 176)65 Lohnkämpfe sind ein Zusatzanreiz, die Investition in Maschinen und Arbeitsmethoden zu erhöhen, zumal in unternehmerischen Kalkulationen Arbeitskraft nicht als wertbildendes Moment gilt, sondern in die Rubrik laufende Kosten eingeht und in einem verstärkt technisierten Produktionsprozess die Unregelmäßigkeit menschlicher Arbeit vermehrt als Störfaktor erscheint: „In der Tat paßt […] die Anpassung der Arbeiten an die verschiedenen individuellen Fähigkeiten nicht in den Operationsplan der automatischen Fabrik: […] wo ein Prozeß […] eine sichere Hand erfordert, entzieht man ihn dem […] zu allerhand Unregelmäßigkeiten geneigten Arbeiter, um ihn einem besonderen Mechanismus zu übertragen, dessen automatische Tätigkeit so gut reguliert ist, daß ein Kind sie überwachen kann.“ (MEW 4, 156)

Hinzu kommt, dass der bereits angeeignete Mehrwert unter kapitalistischen Bedingungen nach weiterer Verwertung verlangt. Daher muss die Produktion permanent ausgedehnt werden. Wo das Bevölkerungswachstum nicht mit dem ständig wachsenden „Akkumulationsbedürfnis des Kapitals“ Schritt hält, müsste ohne Entwicklung der Produktivkräfte bald „die Nachfrage nach Arbeitern ihre Zufuhr überflügeln“ (MEW 23, 641), was ein Steigen der Löhne, also eine Verringerung der Mehrwertrate zur Folge hätte. Neue Techniken erlauben es, die Produktion ohne Investition in neues variables Kapital auszudehnen, wodurch auch bei wachsender Kapitalverwertung und Akkumulation ein Teil der Bevölkerung zumindest temporär außer Lohn gesetzt werden kann. Eine weitere Funktionalität der Entwicklung der Produktivkräfte für die kapitalistische Wirtschaftsform liegt so in der „progressiven Produktion einer relativen Überbevölkerung“ (MEW 23, 657ff.). In kapitalistischer Anwendung führt die Einführung neuer Arbeitstechniken und Methoden – selbst bei sinkender individueller Arbeitszeit – zu einer jenseits konjunktureller Schwankungen langfristig wachsenden „Reservearmee“, der auch außerhalb 65 Marx beschreibt Lohnkämpfe teilweise an historischen Beispielen als direktes Motiv technischer Innovation. „Die self-acting mule, die größte Erfindung der modernen Industrie, schlug die rebellischen Spinner aus dem Felde.“ (MEW 4, 176) Vgl. auch Kittsteiner 2008.

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von Krisenzeiten eine mit der kapitalistischen Entwicklung steigende Menge von Individuen zugeführt wird. Entgegen der ‚Kompensationstheorie‘, der zufolge der Arbeitsbedarf neuer Produktionszweige die überflüssig gemachten Arbeitsplätze ersetzt, hat eine langfristig wachsenden „Sockelarbeitslosigkeit“ Marx’ Prognose bestätigt.66 Anders als in jüngsten Analysen des Phänomens, gilt die Reservearmee hier aber nicht als „verworfene“, „überflüssige“ oder „überzählige“ Problempopulation (vgl. Baumann 2005; Bude/Willisch 2006), sondern zählt zu den „energischsten Reproduktionsagentien“ (MEW 23, 661) der kapitalistischen Wirtschaftsform und der mit ihr verbundenen Klassenverhältnisse. Einerseits schafft sie einen „Behälter disponibler Arbeitskraft“ (ebd., 672), der für kurzfristige Exploitationsbedürfnisse des Kapitals gefüllt sein muss, um bei Bedarf Stockungen des Zuflusses an anwendbarer Arbeitskraft zu vermeiden. Andererseits hält die verschärfte Arbeitsmarktkonkurrenz Lohnforderungen in Schach. Zudem motiviert Massenarbeitslosigkeit dazu, jede mögliche Arbeit anzunehmen (vgl. u.a. MEW 42, 505ff.) – ein Motivationseffekt, der in Deutschland anlässlich der Hartz-Reformen auch wieder rechtlich forciert wurde (vgl. Legnaro/Birenheide 2008, v.a. 33-84; s.u. 3.3). Marx zeichnet die gesellschaftlichen Effekte und Funktionen der exponentiellen Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen sicher nicht in so rosigem Licht wie einige bürgerliche Ökonomen. Dies ist allerdings keiner revolutionären Polemik, sondern der Auswertung zeitgenössischer Erhebungen geschuldet.67 Statt mit allgemeiner Wohlstandssteigerung und Arbeitserleichterung ging die frühe Industrialisierung mit einer Verschlechterung und Erschwerung der Arbeitssituation einher, statt mit Senkung mit Verlängerung der Arbeitszeiten und mit Intensivierung und Beschleunigung der Arbeitsprozesse (vgl. Castel 2008, 141-235; Polanyi 1997, 57-294; Thompson 1987). Hier wie auch bezüglich der durch veränderte Produktionsmodi erforderten neuen Formen der (Arbeits-)Disziplin (s.u. IV.2) bietet Marx aber statt düsterer Schilderungen Erklärungsangebote aus der Logik der kapitalistischen Anwendung von Technik. Dass die Technik zunächst keine Arbeitserleichterung, sondern eine enorme Verlängerung und Erschwerung des Arbeitstages mit sich bringt, liegt in der Logik der Kapitalverwertung. Das konstante Kapital kann sich nur verwerten, indem es menschliche Arbeit „einsaugt“, während es in Ruhezeiten dem Verschleiß ausgesetzt ist. Der effektive Betrieb von Großmaschinen erfordert Prozesskontinuität, muss also ohne Produktionsunterbrechung verlaufen und fordert die Anpassung von Arbeitsintensität und Geschwindigkeit an den Takt der Maschinen (vgl. MEW 23, 391-530). Eine normative Interpretation dieser Analysen als Kritik an ‚der Technik‘ oder ‚der Systemrationalität‘ (vgl. u.a. Habermas 1995, Bd. 2, 481-503) verfehlt ihren Gehalt. Produktionsmittel sind sachlich und normativ neutral. Sie bilden weder die Ur-

66 Vgl. MEW 23, 461-470. Vgl. zur aktuellen Bestätigung der marxschen Analyse etwa Wacquant 2001; s.u. V.3. 67 Smiths (vgl. 1978) optimistische Teleologie wird Marx’ „negativ-ideologischer“ Übergeneralisierung von „Ausnahmen“ bis heute als ‚reine‘ Realität des Marktes entgegengestellt. Gegen Marx’ „inhumane“ Beschreibungen die „friedliche Botschaft“ von Smith zu präferieren (so Recktenwald 1978, XV), ist jedoch kein wissenschaftliches Argument, für das nur die Frage entscheidet, welche Theorie empirische Phänomene besser erklärt.

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sache von Entfremdung und Verelendung,68 noch verselbstständigen sie sich und erheben sich gegen ihre Schöpfer (zumindest nicht außerhalb von Science-Fiction und Soziologie). Über die gesellschaftlichen Zwecke und Effekte technischer Entwicklungen entscheiden nie die Mittel, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Anwendung. Marx betont daher mehrfach, dass sich die Analysen der Effekte technischer Prozesse nicht auf die Technik, sondern auf Effekte „der kapitalistisch verwandten Maschinerie“ beziehen (MEW 23, 391 [Hervh. i.O.]; vgl. MEW 4, 120137). Selbst wenn man Marx Analysen also normativistisch verkürzt interpretiert, müsste sich die Kritik gegen die konkrete Form der Produktionsverhältnisse richten. Die kapitalistische Anwendung der Technik kann destruktive Effekte – bis hin zur Zerstörung der ökologischen und sozialen Bedingungen der Existenz menschlicher Gesellschaften – haben (s.u. II.2.4), sie kann ebenso die Grundlagen anderer, verbesserter gesellschaftlicher Verhältnisse schaffen, darüber bestimmt für Marx wie auch später für Braudel nie die „Technik allein, sondern […] die Gesamtgesellschaft in ihrer langsamen, dumpfen, komplizierten historischen Entwicklung“ (Braudel 1986, Bd. 1, 360). So lassen sich auch die utopischen und dystopischen Überschüsse, die in Marx’ Dialektik von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften angelegt sind, nicht auf die technokratische oder technophobe These verkürzen, dass technische Optimierungen automatisch in eine bessere oder schlechtere Gesellschaftsform führen.69 Die „Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft“ und „die Fruchtbarkeit der Natur“ bilden stets nur „eine Grenze, einen Ausgangspunkt, eine Basis“ (MEW 25, 647). Der Stand der Technik ist damit ein Bestimmungsfaktor des je historischen Möglichkeitsraums, in dem sie einerseits „das Mögliche darstellt, das die Menschen […] aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen […] noch nicht erreichen“ und andererseits die „Grenze absteckt, an der ihre Bemühungen materiell, eben ‚technisch‘ scheitern“ (Braudel 1986, Bd. 1, 362 [Hervh. i.O.]). In diesem Sinne einer Grenzbestimmung des in einer historischen Situation gesellschaftlich Möglichen und Unmöglichen ist der Entwicklungsstand technischer Produktivkräfte ein Bedingungsfaktor der Entfaltung gesellschaftlicher Verhältnisse und Formen, ohne deren konkrete Entwicklungen und Wirkungen zu determinieren. Unabhängig von der Denkmöglichkeit prinzipiell anderer, ‚postkapitalistischer‘ Gesellschaftsformationen, bildet auch unter kapitalistischen Bedingungen die durch Technisierung, Rationalisierung und Intensivierung der Arbeitsprozesse mögliche Steigerung des relativen Mehrwerts eine Grundvoraussetzung für eine Verbesserung der Lage der Lohnarbeiter.70 Diese liegt zwar nicht in der Logik der zum höchstmöglichen Exploitationsgrad tendierenden Kapitalverwertung, jedoch können andere innerökonomische wie gesellschaftliche Faktoren dieser Tendenz entgegen wirken. So

68 So etwa Anders (1992b): „Marx hat den Apparat und die Technik der kapitalistischen Gesellschaft für die Entfremdung verantwortlich gemacht“ (ebd., 127) – eine vollkommene Inversion der marxschen Analyse. 69 So hingegen schon Lenin (vgl. 1917, 106f.) oder in der bekannten Kurzformel: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“; vgl. zu entsprechenden Marxdeutungen auch: Klages 1965, 139ff. 70 „Wie fiele es den Sozialisten ein, höhere Forderungen zu machen, wenn sie nicht diese höhere Entwicklung der durch die Lohnarbeit hervorgebrachten gesellschaftlichen Produktivkräfte voraussetzten?“ (MEW 42, 13)

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bildet die Entwicklung der Produktivkräfte auch die Grundlage gewerkschaftlicher oder legislativer Versuche, die Grenzen von Arbeitslohn und -zeit zugunsten der Situation der Arbeitskräfte zu verschieben. Der Anstieg des gesellschaftlichen Gesamtprodukts an Tausch- und Gebrauchswerten und die Möglichkeit, den Durchschnittsarbeitstag zu verkürzen, ohne den Exploitationsgrad zu senken, ist dabei eine Basis aller weiteren Transformationen kapitalistischer Gesellschaften im Hinblick auf den Produktionsprozess, die Konsumkultur, die Subjektivierungsformen und die Ausprägung der Klassenverhältnisse (s.u. IV & V). Im Übrigen zeigt sich hier die Kritik, die Mehrwerttheorie berücksichtige nur den Beitrag der Arbeit, nicht aber den anderer produktiver Faktoren (Kapital und Boden) zur Wertschöpfung, als unzutreffend. Marx’ Analyse versucht lediglich, dem Anschein, es sei eine „Natureigenschaft“ des als Kapital angelegten Geldes, „Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen“ (MEW 25, 405), eine Erklärung entgegen zu stellen. Die Produktion des Mehrwerts, den Kapital oder Boden den Eigentümern „abwerfen“, wird dabei aus dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren der gesellschaftlichen Produktions- und Distributionsverhältnisse erklärt, statt von der Verteilung des Mehrprodukts auf seine Entstehung kurzzuschließen, wie dies bis heute in der ökonomische Theorien und Statistik üblich ist. Werden Kapitalerträge oder Bodenrente schlicht als Beitrag ‚des Kapitals‘ oder ‚des Bodens‘ zur gesellschaftlichen Wertschöpfung angesehen, ist das ein reiner Kurzschluss von einer bestehenden Distribution auf die produktive Wertschöpfung, der nichts erklärt, sondern allenfalls eine bestehende Verteilung des gesellschaftlichen Produkts legitimiert.71 Demgegenüber sind für Marx Naturfaktoren und Produktionsmittel zwar eine wesentliche Voraussetzung von Produktion und Wertschöpfung, der bloße Besitz an ihnen produziert aber ebenso wenig neue Gegenstände und neuen Wert, wie das Geld im Sparstrumpf oder das Werkzeug im Schrank sich vermehren.72 Als Faktor produktiver Wertschöpfung kann Kapital nur erhalten und vermehrt werden, wo neue Arbeitszeit zugesetzt wird. Dass der Zusatz neuer Arbeit schon eine Voraussetzung der bloßen Werterhaltung ist, tritt spätesten in Krisenzeiten hervor: „Wenn z.B. in Zeiten von stagnations of trade etc. die mills stillgesetzt werden, so zeigt sich in der Tat, daß die Maschine einrostet und das Garn nutzloser Ballast ist, außerdem verdirbt, sobald ihre Beziehung zur lebendigen Arbeit aufhört.“ (MEW 42, 282)

Als „physisch produktiv […], in dem Sinne, daß die Arbeitskraft mit ihnen ein größeres Produkt liefert als ohne sie“ (Sweezy 1970, 80), wirken im Verwertungsprozess die physischen Elemente des konstanten Kapitals (Maschinen, Kraftstoffe etc.), nicht die Eigentumstitel und nicht die verschiedenen über das Kredit- oder Aktienwesen regulierten Anrechte auf Anteile am künftigen Mehrprodukt. Unstrittig steigert dabei

71 Auf ihre „logische Form gebracht“, sagen solche Erklärungen wenig mehr als: „es verhält sich, wie es sich verhält, und das ist gut so“ (Henning 2005, 149). 72 Dass Zins und Profit der Lohn für die „Enthaltsamkeit“ des Eigentümers vom Konsum sei (also dafür, dass er seine Maschinen nicht aufisst), wird noch heute in Fachlexika und in Wirtschaftsphilosophien als Erklärung der Kapitalbildung angeboten (vgl. Gabler 2005, 1641). Was aber gewinnt durch Enthaltsamkeit höheren Wert? Metall etwa verwandelt sich durch Herumliegen nicht in Autos, sondern verrostet nur.

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die Erhöhung der Produktivkräfte den stofflichen Reichtum. Konstantes Kapital dient so als „Bildner von Gebrauchswert“ (MEW 23, 218), ohne jedoch aus sich selbst heraus mehr Tauschwert zu generieren. Indem aber durch Steigerung der Arbeitsproduktivität größere Waren-Quanta in derselben Arbeitszeit produzierbar und die Einzelwaren wohlfeiler werden, verschiebt die Verbilligung der Waren des Lohnkonsums73 auch das Verhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit. In diesem Sinne wirkt die Erhöhung des konstanten Kapitals als „Mittel zur Produktion von Mehrwert“ (MEW 23, 391 [Hervh. T.H.]), was etwas anderes ist, als die Wertbildung einer Eigenschaft des Kapitals zuzuschreiben. Marx kann so gerade mit jener Mehrwerttheorie, der Widersprüchlichkeit zur Entwicklung der Produktivkräfte attestiert wurde, eine konzise Erklärung der Dynamik technischer und organisatorischer Innovationen aus der Wirtschaftsform anbieten. „Während in der klassischen“ (und neoklassischen) „Theorie Veränderungen in den Produktionsmethoden als abhängig von wesentlich zufälligen Bedingungen und Entdeckungen“ erscheinen, gelten sie hier „als wesentliche Bedingungen des Weiterexistierens der kapitalistischen Produktion“ (Sweezy 1970, 116), sind also systemimmanent erklärbar. Anders als die um fiktive Gleichgewichtszustände herum konzipierten Theorien der Neoklassik bietet die Theorie des relativen Mehrwerts auch eine erste, freilich noch sehr abstrakte Grundlage, um nicht nur quantitative Veränderungen (von Bevölkerung, Kapital, Löhnen, Profiten) zu registrieren, sondern auch die mit der ökonomischen Entwicklungsdynamik verquickten „qualitativen Veränderungen in der sozialen Organisation und in den sozialen Beziehungen“ (ebd., 117) und die krisenhaften Verlaufsformen ihrer Transformationen zu erfassen, also im engeren Sinne soziologische Problemstellungen zu bearbeiten. Aus der Perspektive der Unternehmen und für reale Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaftsform ist jedoch nicht ein grundlegende Mechanismen verdeutlichendes Modell der Mehrwertbildung entscheidend, sondern vor allem Masse und Rate des Profits, also die „Verhältniszahl […,] worin sich das Gesamtkapital verwertet hat, oder sein Verwertungsgrad“ (MEW 25, 57). Zudem muss dem Doppelcharakter des Kapitals als „prozessierende Einheit von Produktion und Zirkulation“ (MEW 42, 520) Rechnung getragen werden, d.h. dem Doppelcharakter der Produktionsweise als Produktions- und Marktsystem, in dem Produktion und Zirkulation immer schon miteinander verflochtene Momente desselben Prozesses sind. Es gilt also, „vom Abstrakten zum Konkreten“ aufzusteigen (MEW 13, 632).

73 Hier spricht die langfristige Preisentwicklung, die Recktenwald (1978) für Smith und gegen Marx ins Feld führt, eindeutig für Marx’ Argument. Das Phänomen ist also unstrittig. Für den individuellen Kapitalisten und den „Vulgärökonomen“ stellt es sich nur anders dar: Da der Kostpreis der Waren gesunken ist, kann ihr Verkaufspreis sinken. Die Frage ist, warum? Dass der Preis sinkt, weil der Preis sinkt, ist eine Tautologie und keine Erklärung.

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1.5 P ROFITRATE , T RANSFORMATION DER W ERTE UND V ERTEILUNG DES M EHRWERTS

IN

P REISE

„Obgleich […] die Profitrate von der Rate des Mehrwerts numerisch verschieden ist, […] ist der Profit […] eine verwandelte Form des Mehrwerts, eine Form, worin sein Ursprung und das Geheimnis seines Daseins verschleiert und ausgelöscht ist.“ KARL MARX (MEW 25, 58)

Mehrwert und Profit sind keineswegs identische Größen. Zwar bildet die Masse des in einer Gesellschaft in einer gegebenen Zeit produzierten Mehrwerts eine Obergrenze der Summe aller Kapitalgewinne, ob sie nun als Profit, Zins, Grundrente oder Rendite erscheinen. Damit ist aber noch nicht gesagt, in welchem Verhältnis der produzierte Mehrwert sich auf verschiedene Kapitale verteilt, welcher Anteil den im Produktionssektor fungierenden Kapitalien als Gewinn zufällt, welcher den in der Zirkulation angelegten kaufmännischen Kapitalen und welcher in Form von Zins dem als Kredit fungierenden Bankenkapital.74 Die Profitrate ist von entscheidender Bedeutung, da es sich hier um eine konkretere gesellschaftliche Erscheinungsform des Mehrwerts handelt, wie sie sich auch in den Köpfen und Kontobüchern der Handlungsagenten als Verhältnis von Kostpreis und Gewinn niederschlägt. Rate und Masse des Profits sind daher als Motivations- und Orientierungsgrößen bestimmend für die wirkliche Kapitalbewegung, aber auch dafür, dass die Quelle des Mehrwerts (die Exploitation der Arbeit) in seinen verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungsformen verdeckt ist. Im Unterschied zur Mehrwertrate (m/v) wird die Profitrate (p') durch das Verhältnis des produzierten Mehrwerts (m) zum aus variablem Kapital (v) und konstantem Kapital (c) zusammensetzten Gesamtkapital (C=c+v) bestimmt: p' =

m c+v

In das konstante Kapital gehen neben jenen Elementen des fixen und zirkulierenden Kapitals, die als Faktoren des unmittelbaren Produktionsprozesses fungieren (Technik, Gebäude, Rohstoffe etc.; vgl. MEW 24, 158-169), auch „Zirkulationskosten“ (ebd., 131-153) ein, die zur Erfüllung notwendiger Funktionen des Reproduktionsprozesses verlangt sind, z.B. für Lagerung, Erhaltung und Transport der Waren oder für die Arbeitsmittel kaufmännischer und buchhalterischer Lohnangestellter. Da die-

74 Die Gewinne des kaufmännischen und des Bankenkapitals entspringen für Marx nicht nur aus der in den entsprechenden Sektoren unmittelbar angewandten Lohnarbeit (vgl. MEW 24, 131-157), sondern sind zum Großteil in letzter Instanz Ableitungen der Wertschöpfung im Produktionssektor. Sie ergeben sich z.B. daraus, dass Unternehmen Teile des Gewinns zur Kredittilgung an Banken abführen müssen, oder, zur Entlastung von Distributionsaufgaben, große Posten an Zwischenhändler unter Wert abgeben. In beiden Fällen werden Teile des Mehrwerts an andere Kapitalformen übertragen, deren Bedeutung für die kapitalistische Produktion stetig wächst. Vgl. MEW 25, 413-457.

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se Elemente in der kapitalistischen Ökonomie einen erheblichen und stetig wachsenden Anteil am Gesamtkapital haben,75 muss die Profitrate stets geringer sein als die Mehrwertrate. Dabei verhalten sich Profitrate und Mehrwertrate zueinander wie das variable Kapital zum Gesamtkapital (vgl. MEW 25, 59f.):76 p' v = m' C Die Profitrate lässt sich durch Umstellung der Formel auch wie folgt darstellen: p' =

m v * v C

Dies zeigt die Mehrwertrate (also das Verhältnis des Mehrwerts zum variablen Kapital) und die Wertzusammensetzung des Kapitals (also das Verhältnis des variablen Kapitals zum Umfang des Gesamtkapitals) als die beiden Hauptfaktoren, welche die Profitrate beeinflussen. Als Produkt zweier Verhältnisse wird die Profitrate nicht nur durch den Exploitationsgrad der Arbeit, sondern auch durch Faktoren bestimmt, die sich aus der anteiligen Größe des konstanten Kapitals am Gesamtkapital und der Effizienz seiner Nutzung ergeben (vgl. MEW 25, 87-114). Auch wenn m' gleich bleibt, sinkt p' in dem Maße, wie sich der Anteil des konstanten Kapitals (c) am Gesamtkapital (C) erhöht; umgekehrt kann p' steigen, wenn die Produktionsmittel, also die physischen Elemente von c bei gleichem oder steigendem Gebrauchswert wohlfeiler werden.77 Auch hier muss die Differenz von Wert und Gebrauchswert berücksichtig werden. In der Produktion wirkt nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert produktiv. So hängt die Wirkung einer Maschine „nicht von ihrem Wert, sondern von ihrem Gebrauchswert als Maschine ab. Auf einer Stufe der technischen Entwicklung kann eine schlechte Maschine kostspielig, auf einer andern eine gute Maschine wohlfeil sein.“ (MEW 25, 90) Die Verallgemeinerung und Verbilligung von die Arbeitsproduktivität steigernden Produktionsmitteln (in jüngerer Zeit etwa im Bereich der Mikroelektronik) können also unabhängig von einer Veränderung der Mehrwertrate die Profitrate steigern. Das hängt von der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ab, vom Stand der Arbeitsteilung und von der „Entwicklung der geistigen Arbeit, namentlich der Naturwissenschaft“ (MEW 25, 92). Eine andere Möglichkeit das Verhältnis v/C zugunsten der Profitrate zu verändern eröffnet sich, wenn das konstante Kapital im Produktionsprozess effizienter angewendet wird. Letzteres stellt

75 Mit der stetigen Erweiterung der Stufenleiter der Produktion wird der Gesamtprozess unüberschaubarer und der ‚Verwertungstrieb‘ des Kapitals erfordert eine ständige Ausdehnung der Produktion, die immer weniger direkt mit der Nachfrage abgestimmt ist, wodurch die Aufgaben und Funktionen des Distributionssektors (wie auch die Zahl der dort Beschäftigten) immer stärker anwachsen müssen. Vgl. v.a. auch: MEW 24, 145f. m m' 76 Wenn m' = dann ist m = . Demzufolge ließe sich die Profitrate auch berechnen als: v v v v p' v p' = m' * = m' * , was sich auch in der Proportion = ausdrücken ließe. c+v C m' C 77 Vgl. MEW 25, 78f.; für Rechenbeispiele zum Einfluss der verschiedenen Faktoren auf p' vgl. ebd., 62-78.

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sich primär als ein Ergebnis „der Verschiedenheit in dem Geschäftsgeschick“ (ebd., 148) konkurrierender Kapitalisten dar. Neben der Einsparung von konstantem Kapital bei den Arbeitsbedingungen, z.B. auf Kosten des Arbeitsschutzes und der Gesundheit der Arbeitskraft,78 ist hier eine Steigerung der Profitrate durch die effizientere Ausnutzung der Elemente des konstanten Kapitals möglich, also etwa durch die Erhöhung des Wirkungsgrades von Energieerzeugung und Kraftübertragung, durch Verminderung von Verschleiß und Abfall, schließlich durch „Nutzbarmachung der Exkremente der Produktion“ (ebd., 110ff.) in der Wieder- oder Weiterverwertung von Abfällen. In all diesen Fällen kann der Wert des verauslagten konstanten Kapitals durch neue Erfindungen in einem größeren Quantum Waren reproduziert werden, wodurch die Produktionskosten der Einzelwaren bzw. das zur Produktion eines bestimmten Warenquantums aufzuwendende c sinkt und p' steigt (vgl. ebd., 87-114).79 In einer Zeit, in der es für Recycling und geschlossene Produktionskreisläufe noch nicht einmal Begriffe gab, hatten Marx’ in diesem Zusammenhang stehende Aussagen zum wachsenden „Fanatismus […] für Ökonomisierung der Produktionsmittel“ (ebd., 93) prognostische Qualität und bieten zugleich eine Erklärung dafür, dass der Profit als Ergebnis der Tätigkeit und Fähigkeit des aktiven Kapitalisten erscheinen kann: Dass die „Verschiedenheit der Profitraten“ auch aus den Verschiedenheiten des geschäftlichen Geschicks resultiert, verleitet dazu zu glauben, dass der Profit gänzlich Umständen geschuldet sei, die von der Arbeit unabhängig sind, namentlich der „individuellen Tat“ des Kapitalisten (ebd., 148). In anderer Hinsicht bildet die Bestimmung der Profitrate aber auch einen Fallstrick, an dem die Werttheorie, auf deren Grundlage sie aufgestellt wurde, ins Stolpern gerät. Ist der Anteil des konstanten Kapitals am Gesamtkapital ein ausschlaggebender Faktor für p', müssten die Profitraten verschiedener Produktionszweige, je nach Durchschnittszusammensetzung der Kapitale, stark abweichen und z.B. in der Schwerindustrie weit niedriger sein, als anderswo. Da eine solche „Verschiedenheit der durchschnittlichen Profitraten […] nicht existieren könnte, ohne das ganze System der kapitalistischen Produktion aufzuheben“, scheint „die Werttheorie hier unvereinbar“ mit „den tatsächlichen Erscheinungen der Produktion“ (MEW 25, 162).80 Dieser Widerspruch verschärft sich, wenn im Folgenden die „Gleichheit der Kostpreise“ als „Basis der Konkurrenz der Kapitalanlagen“ gilt, in welcher „der

78 Vgl. MEW 25, 98-107. Die von Marx auf der Grundlage von Kommissionsberichten dargestellte „Verschwendung von Leben und Gesundheit der Arbeiter“ (ebd., 99) ist in den entwickelten Industrienationen heute gesetzlich eingeschränkt. Auch deshalb ist die Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländern profitabler. 79 Vgl. MEW 25, 107ff. Neben der Erhöhung des Wirkungsgrades durch Verbesserung von Energieerzeugung, Antriebstechnik und Kraftübertragung, die eine Einsparung von Kraftstoffen (Kohle, Öl, Gas etc.) ermöglicht, ist hier auch die Verbesserung der Produktionsgebäude und -abläufe relevant. Man denke etwa an die Erhöhung der Effizienz durch moderne Anlagen, die auf dem Prinzip der Kraft-Wärme-Kopplung beruhen. 80 Produziert z.B. ein Stahlwerk mit v=100 und c=800 einen Mehrwert m=100, wäre m'=100m/100v, also 100% und p'=100m/(100v+800c), also 12,5%. Eine Blumentopffabrik, die mit v=100 und c=100 ein m=100 produziert, hätte bei gleicher Mehrwertrate eine weit höhere Profitrate: p'=100m/(100v+100c)=50%. Da das Kapital nach optimalen Verwertungsmöglichkeiten sucht, müsste bei derartiger Abweichung der Profitraten alles Kapital aus der Schwerindustrie abgezogen werden, um nur noch Blumentöpfe herzustellen. Vgl. in diesem Kontext v.a.: MEW 25, 158ff. & 205ff.

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Durchschnittsprofit hergestellt wird“ (ebd., 163). Denn wenn Marx nun von einem Produktionspreis der Waren spricht, der sich zusammensetzt aus „ihrem Kostpreis plus dem, entsprechend der allgemeinen Profitrate prozentig ihm zugesetzten Profit“ (ebd., 167), wobei die Differenz von Produktions- und Kostpreis den Gewinn ausmacht, ist diese Preisrechnung zwar einer Annäherung an die reale Verteilung des produzierten Mehrwerts auf verschiedene Kapitale und an die gebräuchlichen Gewinnrechnungen der ‚bürgerlichen Ökonomie‘, weicht aber von den Ergebnissen der Wertrechnung ab. Die Annahme, dass die im Kostpreis ausgedrückte reine Quantität der Kapitalanlagen unabhängig von der organischen Zusammensetzung des Kapitals (c/v) über den „Kapitalertrag“ entscheide, impliziert dabei auf den ersten Blick eine Widerlegung der Grundlagen der Werttheorie: „Wenn ein Kapital, das [...] aus 90c+10v besteht, bei gleichem Exploitationsgrad der Arbeit ebensoviel Mehrwert oder Profit erzeugte wie ein Kapital, das aus 10c+90v besteht, dann wäre es sonnenklar, daß der Mehrwert und daher der Wert überhaupt eine ganz andre Quelle haben müßte als die Arbeit und daß damit jede rationelle Grundlage der politischen Ökonomie wegfiele.“ (Ebd., 158)

Hier machte die neoklassische Ökonomie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart den Todesstoß für die Werttheorie bzw. Marx’ finales Selbstdementie aus. Kritiker sahen in diesen Passagen den totalen „theoretischen Bankrott“ des marxschen Systems, „ein wissenschaftlicher Selbstmord“, der seinesgleichen suche (Achille Loria 1895, zit. in: MEW 25, 901). Suggeriert wurde dabei ein unauflösbarerer Widerspruch zwischen der Wertrechnung und der Preisrechnung. Ironisch zugespitzt: „Contemplate two alternative and discordant systems. Write down one. Now transform by taking an eraser and rubbing it out. Then fill in the other one, Voila!“ (Samuelson 1971, 400)81 Wenn trotz offenkundiger Widersprüche der Wertrechnung zu manifesten Erscheinungen der Kapitalverwertung die Mehrwerttheorie als Gesetz der kapitalistischen Produktionsweise festgehalten und der Profit als „Erscheinungsform des Mehrwerts“ verstanden werden soll, welcher „erst durch Analyse“ aus der Erscheinung „herausgeschält“ wurde (MEW 25, 58), müssten auch die realen Erscheinungen aus der von ihr unterschiedenen abstrakten Analyse erklärt werden können. Marx bot mit der Ausgleichung der Profitraten verschiedener Produktionszweige zur Durchschnittsprofitrate ein Vermittlungsangebot zwischen den Extremen von Werttheorie und Preisrechnung an. Rechnerisch lässt sich eine Durchschnittsprofitrate durch die nach der Wertrechnung verschiedenen Profitraten der einzelnen Produktionssphären und die relative Größe der dort jeweils angelegten Teile des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bestimmen (vgl. ebd., 164-181). Wird ein dieser Rate entsprechender Durchschnittsprofit auf die Kostpreise des jeweils verauslagten Kapitals prozentual aufgeschlagen, ergeben sich individuelle Produktionspreise, die von den individuellen Werten der Produkte abweichen, wobei sich aber die Summen der Preise und Werte decken. Unter dieser Vorraussetzung der Summenkonstanz hätte zwischen den

81 Vgl. zu den entsprechenden Debatten u.a.: Sweezy 1970, 134-157; Napoleoni 1974, 191ff.; Henning 2005, 148ff.

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verschiedenen Sphären eine Umverteilung des Mehrwerts stattgefunden (vgl. ebd., 174f.; Sweezy 1970, 137ff.). Die Antwort auf die „eigentlich schwierige Frage“ (MEW 25, 183), wie dieser Ausgleich in der gesellschaftlichen Realität zustande kommt, findet sich in der Konkurrenz, durch die „die Profitraten zwischen den verschiedenen Sphären egalisiert“ (ebd., 190) werden. Stehen die Profitraten verschiedener Produktionszweige unterschiedlich, entzieht sich das Kapital Sphären mit niedriger Profitrate und wirft sich in solche, die höheren Profit abwerfen. Wo die Profitrate hoch steht, führt die gesteigerte Investition in diesem Sektor zu Überproduktion, so dass die Preise unter den Wert fallen, während umgekehrt in Segmenten mit niedriger Profitrate durch geringe Investition eine relative Unterproduktion eintritt, wodurch die Waren über Wert verkauft werden. Hinsichtlich der in Preisen realisierten Profite fände so ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Profitraten statt (vgl. ebd., 202f.). Die „beständige Ausund Einwandrung“ zwischen verschiedenen Anlagesphären, bewirkt im langfristigen Mittel ein „solches Verhältnis der Zufuhr zur Nachfrage, daß der Durchschnittsprofit in den verschiednen Produktionssphären derselbe wird“ (ebd., 206). In endlosen Schwankungen in den verschiedenen Produktionssphären und unter gelegentlichen Krisen (s.u. 2.2) stellt sich so in diachroner Perspektive in periodischen Ausgleichsbewegungen eine der rechnerischen Lösung entsprechende Durchschnittsprofitrate her. Der Ausgleich verliefe um so reibungsloser, je weiter die kapitalistische Entwicklung fortgeschritten ist, d.h. je mobiler das Kapital flexibel zwischen verschiedenen Anlagefeldern verschoben werden kann und je mobiler das Reservoir disponibler Arbeitskraft ist, um wechselnde Produktionsbedürfnisse zu erfüllen (vgl. ebd., 206f.). Erfordert wäre dafür eine immer höhere Flexibilität und Mobilität auf der Seite des Kapitals wie auch auf Seiten der Lohnarbeitskräfte. Selbstverständlich handelt es sich hier um kein historisch-genetisches Argument, das den Übergang von einem Kapitalismus, in dem noch ‚Werte‘ gelten, zu einem Kapitalismus der Preise schildern würde. Dennoch geht es nicht nur um einen „begrifflichen Übergang“, so dass Marx’ quasiempirische Vermittlung über die Konkurrenz überflüssig wäre (so Heinrich 1991, 228). Empirisch kann der Ausgleich, den Marx beschreibt, zwar tatsächlich stets nur einer von einem „‚deformierten‘ Produktionspreissystem“ (ebd.) mit abweichenden Profitraten zu einem System mit dem Durchschnitt angeglichenen Profitraten sein, vollzieht sich also immer schon auf der Ebene der Preisbewegungen. Analytisch will Marx aber zeigen, dass das hinter dem Wertbegriff stehende Problem der gesellschaftlichen Verteilung von Arbeitsquanta und die daraus folgenden Gesetze hintergründig auch die Preisbewegung beherrschen (vgl. MEW 25, 186) und sich im Zusammenhang erscheinender Phänomene, etwa in der Fluktuation von Kapital und Arbeitskraft zwischen den Anlagefeldern, realitär (d.h. nicht nur in den Modellrechnungen) durchsetzen. Da es infolge dieser Ausgleichung in jedem Fall „nur noch Zufall [ist], wenn der in einer besonderen Produktionssphäre wirklich erzeugte Mehrwert […] mit dem im Verkaufspreis der Ware enthaltenen Profit zusammenfällt“, während in der Regel „Profit und Mehrwert […] wirklich verschiedne Größen“ sind (ebd., 177), bleiben die von Marx analysierten Prozesse der Kapitalverwertung auf der Ebene der gesellschaftlichen Erscheinungen ungreifbar, denn jede unmittelbare Beziehung des in den Wert bestimmter Waren eingehenden Mehrwerts zur numerisch ganz verschiedenen

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Größe des im Preis enthaltenen Profits ist hier ausgelöscht.82 Wenn Marx die Wertrechnung zur Grundlage seiner Analysen machte, statt von der Preisrechnung auszugehen, die der Empirie einer kapitalistischen Wirtschaft und den unternehmerischen Kalkulationen besser entspricht, war dies auch darin begründet, dass die Kategorie des Wertes es erlaubte, die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Formen der ökonomischen Prozesse in den Blick zu rücken: Der Charakter des Profits als „Ableitung vom Produkt der gesamten gesellschaftlichen Arbeit“ (unter bestimmten Produktionsverhältnissen) tritt hier klarer hervor als in der Kalkulation mit Kost- und Verkaufspreis. Die Wertrechnung sollte damit „unterhalb der Oberflächenphänomene von Geld und Ware die zugrunde liegenden Beziehungen zwischen Menschen und Klassen“ sichtbar machen (Sweezy 1970, 156). Rechnerisch sind Profit und Profitrate unabhängig von der Werttheorie über das Verhältnis von Gewinn und Kostpreis der Waren selbstverständlich sehr viel einfacher bestimmbar. Dies bliebe aber eine reine Deskription und insofern „eine sinn- und begrifflose Vorstellung“ (MEW 25, 167). Der übliche Weg, den Profit synonym mit dem Gewinn (d.h. der Differenz von Erlös und Kosten) und die Profitrate gleich der Gewinnrate zu setzen (vgl. Gabler 2005, 2423, 1255 & 1259), entspricht der Erscheinung des Profits als Differenz von Produktions- und Kostpreis bei Marx (MEW 25, 164ff.), erklärt aber nichts. Zwar sind Profite und Preise ohne Rekurs auf den Wert berechenbar, es bleibt aber „ein Unterschied zwischen der Berechnung von Preis und Profit und deren Erklärung. Die Erklärung besteht gerade darin, dass die impliziten Strukturen, die die Grundlage von Preis- und Profitbestimmung bilden, expliziert werden“ (Cogoy 1974, 256). Neoklassischen Ökonomen, die solche Erklärungsansprüche aufgegeben haben (vgl. Sweezy 1970, 157), gilt die Werttheorie als „überflüssiger Ballast“ (ebd., 155; vgl. Henning 2005, 154, Fn. 71), für Marx’ Problemstellungen bleibt sie essentiell. Sein umständliches Vorgehen, die Profitrate theoretisch aus dem Wert der Waren zu entwickeln, zielte auf eine über eine bloße Beschreibung hinausgehende Erklärung des Profits und seiner langfristigen Bewegungen. Dass der Profit trotz seiner anderen Gestalt nur eine transformierte Form des Mehrwerts ist, bleibt freilich eine bloße Arbeitshypothese, solange die Wertrechnung nicht in die Preisrechnung transformierbar ist. Dieses Transformationsproblem wurde von Marx nicht befriedigend gelöst.83 Primär lagen die Mängel in leicht korrigierbaren mathematischen und logischen Inkonsistenzen, die daraus resultierten, dass Marx (vgl. ebd., 164ff.) zwar die Produktionspreise nach einer einheitlichen Durchschnittsprofitrate berechnete, für die Kostpreise aber weiterhin Werte zugrunde legte. Aber auch konsistentere Lösungen, wie sie von Bortkiewitz (1976) vorgeschlagen und bei

82 Je weiter der Verwertungsprozess zu seinen Erscheinungen in Profit, Zins etc. verfolgt wird, „um so mehr wird sich das Kapitalverhältnis mystifizieren“: „Im Mehrwert ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit bloßgelegt; im Verhältnis von Kapital und Profit, d.h. von Kapital und dem Mehrwert, wie er […] als im Zirkulationsprozeß realisierter Überschuß über den Kostpreis […] erscheint, erscheint das Kapital als Verhältnis zu sich selbst […], worin es sich als ursprüngliche Wertsumme von einem, von ihm selbst gesetzten Neuwert unterscheidet.“ (MEW 25, 58) Vgl. ebd., 177ff. & Napoleonie 1974, 178ff. 83 Vgl. Sweezy 1970, 134-140; Napoleoni 1974, 187-201; Robinson 1972b, 61-70. Auch unter Marxisten motivierte das eine Abkehr von der Werttheorie und eine respektive Übernahme neoklassischer Prämissen und Ansätze. Vgl. hierzu zusammenfassend: Henning 2005, 152-167; Napoleoni 1974, 201-213.

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Seton (1957) und Sweezy (1970) weiterentwickelt wurden, konnten nie völlig überzeugen.84 Auch eine mathematisch-formell absolut korrekte und konsistente Lösung kann schließlich das Problem nicht suspendiert, dass die Zahlen für die Wertgrößen, die in die Formel eingesetzt werden, stets nur nach Indikatoren geschätzt werden können, die selbst immer schon der empirischen Preisbewegungen entlehnt sind. Insofern sind auch logisch konsistente Transformationsformeln für empirische Preisrechnungen überflüssig. Wo eine Ableitung des Preissystems aus dem Wertsystem erwartet wurde, um damit die Preisbildung oder die Gewinnraten in bestimmten Sparten zu erschließen, erschien der Umweg über die Werttheorie als redundant und aussichtslos. Allerdings wies Marx selbst auf diese Probleme hin und hielt es für unmöglich, über den Wert einzelne Preise und Profite zu berechnen, betrachtet dies aber als sekundär für den Erklärungsanspruch seines Modells.85 Hier ist an die oben (1.1) herausgearbeitete Form zu erinnern, in der Marx das Wertproblem stellte. Dort ging es nicht um die Berechnung der Preise und Gewinne, sondern um eine Theorie der Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf verschiedene Produktionszweige und des Gesamtprodukts auf verschiedene Handlungsagenten (unter kapitalistischen Bedingungen). Die Durchschnittsprofitrate und die Preisrechnung erlaubt eine weitere Annäherung an die Bestimmungsgründe dieser Verteilung von Kapital und Arbeit auf verschiedene Produktionssegmente und des Mehrwerts auf verschiedene Kapitale. Zur Vermittlung mit dem Wertbegriff genügt es, wenn die Werttheorie mit der Preistheorie und den realen Phänomenen der Preisbildung „logisch […] verträglich“ ist (Rehberg/Zinn 1977, 422f., Fn. 68), was Marx’ (verbesserungsfähiges) Modell der Summenkonstanz von Werten und Preisen hinreichend leistet. Marx war sich darüber hinaus im Klaren, dass die Identität von Wertund Preisausdruck der Summe des gesellschaftlichen Gesamtprodukts sich nur modellhaft konstruieren, aber nicht empirisch überprüfen lässt. Da die Kategorie des Wertes auf der Ebene der empirischen Erscheinungen der Gesellschaft nie unmittelbar sichtbar ist, kann es keine exakten empirischen Daten über die theoretisch unterstellten Wertgrößen geben, die sich bestenfalls nach Indikatoren schätzen lassen, die immer schon den Preisbewegungen entlehnt sind.86 Die Rede von einem ‚Wert‘, der

84 Vgl. zum Überblick über die Lösungsansätze: Heinrich 1991, 214-227; Cogoy 1974; Sweezy 1970, 140-152. 85 Marx weist u.a. darauf hin, dass seine Modellannahme, „daß der Kostpreis einer Ware gleich sei dem Wert der in ihrer Produktion konsumierten Waren“, empirisch unhaltbar ist. „Der Produktionspreis einer Ware ist […] für den Käufer derselben ihr Kostpreis und kann somit als Kostpreis in die Preisbildung einer andren Ware eingehn. Da der Produktionspreis abweichen kann vom Wert der Ware, so kann auch der Kostpreis einer Ware, worin dieser Produktionspreis andrer Ware eingeschlossen, über oder unter dem Teil ihres Gesamtwerts stehn, der durch den Wert der in sie eingehenden Produktionsmittel gebildet wird. Es ist nötig, sich […] zu erinnern, daß, wenn in einer besondren Produktionssphäre der Kostpreis der Ware dem Wert der in ihrer Produktion verbrauchten Produktionsmittel gleichgesetzt wird, stets ein Irrtum möglich ist“ (MEW 25, 175). Dass Marx dies nicht weiter bearbeitete, lag am fragmentarischen Charakter seines Entwurfs, aber auch daran, dass er dieses Problem als sekundär ansah: „Für unsre gegenwärtige Untersuchung ist nicht nötig, näher auf diesen Punkt einzugehn.“ (Ebd.) 86 „Es ist […] bei der ganzen kapitalistischen Produktion immer nur in einer sehr verwickelten und annährenden Weise, als nie festzustellender[!] Durchschnitt ewiger Schwankungen, daß sich das allgemeine Gesetz als die beherrschende Tendenz durchsetzt.“ (MEW 25,

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nie empirisch sichtbar ist, ist aber kein ‚Okkultismus‘, sondern bleibt eine theoretische Modellannahme, die es erlaubt, wissenschaftliche Hypothesen über das Verhalten des analysierten Systems aufzustellen. Diesbezüglich war Marx’ Ziel nicht die Preisbestimmung, sondern die Formulierung eines „ökonomischen Bewegungsgesetz[es] der modernen Gesellschaft“ (MEW 23, 15). Es ging um Analysen und Erklärungen von empirischen Phänomenen und Tendenzen, die das Verhalten des Gesamtsystems betreffen. Vom Standpunkt einer „Theorie der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und […] Einkommensverteilung“ (Hardach/Karras 1975, 48) kann das Modell der Summenkonstanz von Werten und Preisen als hinreichend gelten, wenn es Analysen der gesellschaftlichen Wertschöpfung und Verteilung ermöglicht, die mit einer Preisanalyse nicht möglich wären.87 Dafür ist gerade die Bestimmung der Profitrate auf Grundlage der Kategorie des Werts ausschlaggebend. Der Gebrauchswert der Werttheorie entscheidet sich nicht in der Preisrechnung, sondern daran, „ob sie einen Beitrag zur Lösung von Problemen liefert, die bei der eingehenderen gedanklichen Beschäftigung mit den ‚realen‘ Phänomenen auftauchen“ (Rehberg/Zinn 1977, 423). Dieser analytische und prognostische Gehalt marxscher Modellannahmen im Hinblick auf reale Phänomene und langfristige Entwicklungstendenzen von Gesellschaften mit kapitalistischer Kernstruktur ist im Folgenden zu prüfen.

171) „Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann […] weder das Mikroskop dienen, noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.“ (MEW 23, 12) 87 Vgl. zu Marx’ entsprechendem Anspruch auch: MEW 24, 31; MEW 25, 53 & 654; sowie die prägnanten Ausführungen bei: Henning 2005, 143ff.

2 Prozessierte Widersprüche Endogene Krisendynamiken, exogene Schocks und (k)ein Ende des Kapitalismus

2.1 P ROZESSIERTE W IDERSPRÜCHE IHRER E NTFALTUNG

UND

M ARX ’ M ETHODE

„Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist. Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des […] Prozesses, der seine eignen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an.“ KARL MARX (MEW 23, 662)

Marx gilt weniger als Analytiker des Kapitalismus oder gar als Prognostiker seiner künftigen Entwicklung, sondern vielmehr als Prophet seines Untergangs. Tatsächlich bieten die eher politischen Texte und die geschichtsphilosophischen Frühschriften eine Fülle von Zitaten, die in diese Richtung weisen, und auch im Kapital finden sich Passagen, die ein (früher oder später) zu erwartendes Ende des Kapitalismus prognostizieren. Sowohl marxistische Adepten als auch Gegner der Theorie suchten in dieser daher oft den ‚Beweis‘ für den bevorstehenden ‚Zusammenbruch‘ dieses Wirtschaftssystems – wahlweise um politische Strategien darauf zu gründen oder um mit Bezug auf den ausgebliebenen ‚Zusammenbruch‘ die Theorie für empirisch widerlegt zu erklären (vgl. u.a. Gabler 2005, 1819 & 2925; Willke 2006, 91ff.). Als aussichtsreichste Kandidaten für das dabei unterstellte ‚Zusammenbruchsgesetz‘ gelten das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und die Krisentheorie. Ohne Zweifel finden sich dort die am stärksten prognostisch angelegten Aussagen des Kapitals. Entgegen aller marxistischen Debatten um einen notwendigen ‚Zusammenbruch‘ des Akkumulationsregimes1 wird in der Darstellung des Tendenzgesetzes im Kapital der Begriff „Zusammenbruch“ aber nur einmal verwendet und zwar ex negativo, um zu zeigen, dass ein Zusammenbruch des Kapitalismus nicht zu erwarten ist (vgl. MEW

1

Vgl. zu den Konstellationen und Argumenten der – meist eher politisch motivierten – ‚Zusammenbruchsdebatten‘ (bei Bernstein, Kautsky, Luxemburg, Großmann etc.): Sweezy 1970, 225-253; Henning 2005, 31-59.

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25, 256). Stattdessen lassen sich manche weitsichtigen Prognosen zu weiteren Entwicklungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation erkennen, die sowohl unmittelbar ökonomische Aspekte als auch Veränderungen der sozialen und kulturellen Organisation oder der Subjektivierungsformen betreffen. Liest man diese Darstellung eines idealtypischen Kapitalismus nicht von der (von Marx erhofften) Überwindung dieser Wirtschaftsform her, ergeben sich eher Konsequenzen, die auf Transformationen der Formen der Kapitalakkumulation und der ihnen entsprechenden Vergesellschaftungsformen hinauslaufen, die im Zusammenhang mit den Perspektiven von Foucault und Bourdieu von zentraler Bedeutung sind (s.u. IV & V). Auch die Krisen erscheinen weniger als ‚memento mori‘ des Kapitalismus, vielmehr als funktionale Mechanismen der Ausgleichung innerer Widersprüche, die statt zum Zusammenbruch zur Wachstumsdynamik beitragen (s.u. 2.3). Die historischen Grenzen des Kapitalismus liegen daher für Marx nicht in den endogenen Gesetzen der Produktionsweise, sondern in den Wechselwirkungen der Kapitalverwertung mit ihren gesellschaftlichen und ökologischen Umweltbedingungen. Auch daraus ergibt sich aber keine zum revolutionären Umsturz der Produktionsverhältnisse führende Kausalmechanik, vielmehr lassen Marx’ Analysen alternierende historischer Entwicklungspfade erkennen, unter denen die revolutionäre Umwälzung nur eine Möglichkeit bildet. Will man Marx’ im Folgenden detailliert zu diskutierende Darstellung entsprechender ‚Bewegungsgesetze‘ kapitalistischer Gesellschaften adäquat begreifen und ihren Gebrauchswert für die Analyse von Hauptlinien der Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung erschließen, ist es einmal mehr notwendig, sich nicht von mit dem Namen Marx verbundenen Revolutionsprophezeiungen, sondern von der Form seiner Analysen leiten zu lassen, die in der verwendeten Terminologie deutlich hervortritt. Wo Marx auf der Grundlage zunächst abstrakt gefasster einzelner Momente der kapitalistischen Produktion deren systematischen Zusammenhang und die daraus folgenden gesellschaftlichen Erscheinungen behandelt, sind zentrale Termini die des Prozessierens oder der (dynamischen) Reproduktion. In dieser Terminologie formulierte ‚Bewegungsgesetze‘ beziehen sich so nicht auf einen linearen Geschichtsprozess mit klar vorgezeichnetem Zielpunkt, sondern auf die zirkuläre Reproduktion einer Prozesslogik, die ihre „eignen Bedingungen stets reproduziert“ (MEW 23, 662).2 Diese Prozesslogik erscheint nicht stationär, sondern dynamisch und krisenhaft, da sie inhärent widersprüchlich ist. Diese (nicht metaphysischen, sondern konkreten, im Folgenden näher zu entwickelnden) Widersprüche geben dem Gesamtprozess nicht die Form einer monolinearen Teleologie, Marx fasst sie vielmehr als prozessierte bzw. prozessierende Widersprüche. „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch“ (MEW 42, 601), d.h. eine Prozesslogik, die als diachrone Einheit widerstreitender Tendenzen jeweils über die gegebenen Grenzen hinaustreibt, dabei aber die ursächlich miteinander verbundenen Widersprüche auf ‚erweiterter Stufenleiter‘ in stets neuer Form reproduziert. In Differenz zur Dialektik Hegels, in der These und Antithese zur Aufhebung in der Synthese führen, zielt Marx’ dialektische Methode darauf ab, an einem theoretisch konstruierten Funkti2

Z.B.: Als „verwertender Wert, sich auf sich selbst als Wert beziehender Wert“ ist „Kapital […] prozessierender Wert […]. Es ist so […] in jedem Moment Kapital und kreislaufend aus der einen Bestimmung in die andre. Der Punkt der Rückkehr ist zugleich der Ausgangspunkt und vice versa“ (MEW 42, 442; vgl. ebd. 520).

P ROZESSIERTE W IDERSPRÜCHE | 213

onsmodell der kapitalistischen Wirtschaftsform darzustellen, wie dieses System relationaler Beziehungen seine inhärenten Widersprüche prozessiert und welche Tendenzen aus der„Entfaltung der inneren Widersprüche“ (MEW 25, 251ff.) folgen.3 Im Folgenden ist zu diskutieren, was sich aus der Entfaltung der inneren Widersprüche für Marx’ idealisiertes Funktionsmodell ergibt und welchen Gebrauchswert dies für das Verständnis konkreter historischer Entwicklungsverläufe realer kapitalistischer Gesellschaften hat.

2.2 D ER

TENDENZIELLE F ALL DER P ROFITRATE UND SEINE GESELLSCHAFTLICHEN E FFEKTE „[D]ieselbe Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit drückt sich im Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise aus einerseits in einer Tendenz zu fortschreitendem Fall der Profitrate und andrerseits in beständigem Wachstum der absoluten Masse des […] Profits; so daß […] der relativen Abnahme des variablen Kapitals und Profits eine absolute Zunahme beider entspricht. Diese doppelseitige Wirkung kann sich […] nur darstellen in einem Wachstum des Gesamtkapitals in rascherer Progression als die, worin die Profitrate fällt. […] Es folgt hieraus, daß, je mehr die kapitalistische Produktionsweise sich entwickelt, eine immer größre Kapitalmenge nötig ist, um […] eine wachsende Arbeitskraft zu beschäftigen.“ KARL MARX (MEW 25, 233 [Hervh. T.H.])

Smith wie Ricardo gingen davon aus, dass die Durchschnittsprofitrate (s.o. 1.4.) langfristig fallen würde und zu Marx’ Zeit war dies noch Teil des ökonomischen ‚common sense‘. Hier war weniger die Annahme als ihre Begründung neu.4 Heute gilt die These einer sich in periodischen Schwankungen durchsetzenden Tendenz zum Fall der Profitrate in den Wirtschaftswissenschaften als widerlegt (vgl. Gabler

3

4

Marx’ Analysen bewegen sich insofern auf der Ebene, die Hegel „schlechte oder negative Unendlichkeit“ nannte. Hegel fasste darunter einen zirkulären Prozess, der nie zum Ziel (i.S. der wirklichen Aufhebung) kommt. Es handelt sich um die permanente Negation innerhalb „des Endlichen, welches aber ebenso wieder entsteht, somit ebensosehr nicht aufgehoben ist […]. Der Progreß ins Unendliche bleibt bei dem Aussprechen des Widerspruchs stehen, den das Endliche enthält, daß es sowohl Etwas ist als sein Anderes, und ist das perennierende Fortsetzen des Wechsels dieser einander herbeiführenden Bestimmungen“ (Hegel 1979, § 94). Ein vergleichbarer Modus theoriegeleiteter Analyse ist Soziologen unter Luhmanns Begriff „Paradoxieentfaltung“ geläufig. Auf diesbezügliche Ähnlichkeiten der Analyseraster von Marx und Luhmann hat v.a. Lauermann (vgl. 1998) hingewiesen, wenn auch m.E. mit der Konsequenz einer zu starken ‚Luhmannianisierung‘ von Marx. Auf formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten und Differenzen der Analysen von Marx bzw. Bourdieu und Luhmann wird unter V.3 eingegangen. Als Marx in den 1860er Jahren Das Kapital schrieb, war die klassische, von Smith und Ricardo begründete politische Ökonomie noch die herrschende Lehre, in der der Fall der Profitrate als ausgemachte Tatsache galt. Die Frage war nur, wie man ihn erklärt. Vgl. zu dieser Konstellation auch: Heinrich 2007a, 50ff.

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2005, 2924f.) und ist auch unter Marxisten äußerst umstritten.5 Versuche, die langfristige Profitratenentwicklung seit dem 19. Jahrhundert empirisch zu bestimmen, deuten eher darauf hin, dass durch kurzfristige Schwankungen hindurch ein Wechsel von längerfristigen Perioden mit steigender und fallender Tendenz feststellbar ist, die den ‚langen Wellen‘ der 40- bis 60-jährigen Wachstumszyklen nach Kondratieff (1926) und Schumpeter (1961) (s.u.) folgen. Langfristig, d.h. durch mehrere solcher Zyklen hindurch, sei aber kein Fall, eher eine relative Konstanz der Durchschnittsprofitrate zu verzeichnen (vgl. Mattfeld 2006). An Marx’ Theorie ist aber weniger die Prognose des langfristigen Falls von Interesse, vielmehr sind es die Erklärungen, die er für die Tendenz des Falls und die dieser Tendenz entgegenwirkenden Faktoren gibt. Ebenso wichtig sind die Konsequenzen, die aus dem Zusammenspiel der aus denselben Ursachen resultierenden, aber einander gegenläufig wirkenden Tendenzen für langfristige Entwicklungstrends einer kapitalistischen Gesellschaft folgen. Diese erweisen sich als von früheren Profitratenfallgesetzen radikal verschieden. Für Ricardo (vgl. 1972, 81-106) ergab sich der Fall der Profitrate aus Malthus’ Bevölkerungsgesetz und den Grenzen des Agrarertrags. Die Akkumulation erzwinge stetige Ausdehnung der Produktion, was mehr (zu ernährende) Arbeiter und Rohprodukte erfordere. So müsse auf zunehmend ertragsärmeren Böden immer mehr Arbeit für Rohstoffe und Nahrung aufgewendet werden, weshalb Preise und Löhne stiegen und die Profitrate falle. Neben dem zur Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Lohnanteil am Produkt zwingt der erhöhte Wert der Rohprodukte, mehr fixes Kapital zu verauslagen, was die Profitrate zusätzlich drückt (vgl. ebd., 85ff.). Armengesetze, die unproduktive Pauper am Leben halten, würden das beschleunigen, weshalb Ricardo sie mit Malthus scharf ablehnte (vgl. ebd., 90f.). Schließlich würde das Gesamtprodukt von der Bevölkerung verzehrt und aller Fortschritt hätte ein Ende. Lange zuvor schon würde aber die „niedrige Profitrate alle Kapitalanhäufung zum Stillstand“ bringen (ebd., 101). Dann wäre „kein Anlaß zur Kapitalansammlung mehr vorhanden“. Alle Initiative erlischt, wo die „Profite so niedrig sind, daß sie […] keine angemessene Vergütung mehr […] gewähren“ (ebd., 102). Das Ende wäre ein stationärer Zustand, da „der Strom der menschlichen Betriebsamkeit sich schließlich in ein offenbar stagnierendes Meer“ ergieße (Mill 1848, zit. in: Sweezy 1970, 115). Dieser Fatalismus wurde von Marx und vielen späteren Ökonomen verspottet, da die realen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert ihn offenbar ad absurdum führten.6 Allerdings konnte Braudel (vgl. 1986, v.a. Bd. 3, 611f.; Bd. 1, 66-91 & 103188) zeigen, dass in historischen Perioden vor den besonderen gesellschaftlichen Konstellationen seit dem 18. Jahrhundert längerfristige Wachstumstrends und erste regionale Durchbrüche kapitalistischen Wirtschaftens tatsächlich regelmäßig an den Grenzen von Bodenertrag und Bevölkerungswachstum scheiterten. Ricardo hätte sich demnach also für seinen Gegenstand geirrt, aber unfreiwillig ein brauchbares Gesetz für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte früherer Epochen formuliert. Für den entwickelten Kapitalismus teilte Marx Ricardos Eschatologie in jeden Fall nicht und sah dessen Profitratenfallgesetz bereits durch die rasch steigende Arbeitsproduktivität in 5

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Vgl. Okishio 1974; Cogoy 1974; Sweezy 1970 sowie die jüngste Debatte zwischen Henning (2006a), der das Gesetz entschieden verteidigt, und Heinrich (2007a), der es als widerlegt behandelt. Vgl. zu Marx’ Kritik an Ricardo: MEW 26.2, 235-328 & 440-470.

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der Agrarindustrie widerlegt. Dank verbesserter Bebauungsmethoden und dem Einsatz der Chemie können schließlich auch Böden minderer Qualität immer höhere Erträge bei sinkender Arbeitszeit einbringen (vgl. MEW 25, 664f. & 672f.). Gleichwohl hob Marx Ricardos Hellsichtigkeit für die im Fall der Profitrate deutlich hervortretenden immanenten Schranken der kapitalistischen Wirtschaftsform hervor, die aber keine Naturgrenze aller Produktion seien, sondern aus dem Prozessieren der kapitalistischen Ökonomie selbst hervorgehen.7 Anders als Ricardo geht Marx dabei auch nicht von einer finalen Stagnation aus, auf welche die Kapitalverwertung zusteuert, vielmehr von einer sich steigernden endogenen Dynamik, in der die Errichtung und gewaltsame Überwindung von Schranken der Produktion Momente desselben Prozesses bilden (vgl. MEW 25, 251f.). Eine Tendenz zum Fall der Profitrate folgt für Marx aus dem Zusammenhang der Produktion des relativen Mehrwerts und der Profitrate (s.o. 1.4f.). Die Erhöhung des relativen Mehrwerts und die Konkurrenz erfordern die exponentielle Entwicklung der Produktivkräfte. Unter kapitalistischen Bedingungen heißt dies, dass ein wachsender Teil des akkumulierten Kapitals als konstantes Kapital (c) für technische Produktionsmittel in die Verwertung eingeht und sein Anteil am Gesamtkapital gegenüber dem variablen Teil (v) steigt. Tatsächlich sei eine „verhältnismäßige Abnahme des variablen und Zunahme des konstanten Kapitals, obgleich beide Teile absolut wachsen, ist […] nur ein andrer Ausdruck für die vermehrte Produktivität der Arbeit“ (MEW 25, 226), da hier dieselbe Menge Arbeit „eine stets wachsende Masse Arbeitsmittel, Maschinerie und fixes Kapital aller Art“ verarbeiten muss, was zu „wachsendem Wertumfang“ des „konstanten Kapitals“ führt (ebd., 222). Der Ausgleich zur Durchschnittsprofitrate (s.o. 1.5) kann diese Tendenz verstärken und beschleunigen, da hier für den individuellen Kapitalisten variables Kapital nur als ein Element der vorzuschießenden Kosten erscheint, womit es für einzelne Unternehmen durchaus rational, d.h. profitabel sein kann, Arbeitskraft freizusetzen.8 Betrifft die aus diesen Faktoren resultierende steigende Tendenz der organischen Zusammensetzung des Kapitals (c/v) die „entscheidenden Produktionssphären“, schließt sie also eine „Veränderung in der organischen Durchschnittszusammensetzung“ des gesellschaftlichen „Gesamtkapitals“ (MEW 25, 222) ein, müsste sich eine gleichbleibende oder sogar steigende Rate des Mehrwerts in einer fallenden allgemeinen Durchschnittsprofitrate ausdrücken, da:

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8

Da die Profitrate „der Stachel der kapitalistischen Produktion ist […], verlangsamt ihr Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses“. Ökonomen, „die wie Ricardo die kapitalistische Produktionsweise für die absolute halten, fühlen hier, daß diese […] sich selbst eine Schranke schafft“, schöben aber „diese Schranke nicht der Produktion zu, sondern der Natur“. Entscheidend an „ihrem Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet“, was bezeuge, „daß sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist“ (MEW 25, 251f. & 269f.). Vgl. auch ausführlich MEW 26.2, 440-470. In der Perspektive des Einzelkapitalisten stammt „sein Profit nicht allein aus der von ihm […] beschäftigten Arbeit“. Das ist „richtig für seinen Durchschnittsprofit. Wieweit dieser Profit vermittelt ist durch die Gesamtexploitation der Arbeit durch das Gesamtkapital, […] ist ihm ein vollständiges Mysterium.“ Individuell ist so die Einsparung von Arbeitskosten eine „ökonomisch ganz richtige Operation“, wo sie „als nächste Quelle zur Vermehrung des Profits erscheint, wenigstens für den einzelnen Kapitalisten“ (MEW 25, 179f.).

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p' =

m m < m' = c+v v

Das bedeutet nicht, dass weniger Arbeit verwertet wird oder die Profitmasse sinkt. Vielmehr ergibt sich aus der Produktion des relativen Mehrwerts ein Anwachsen der Arbeitsbevölkerung wie der Masse des Mehrwerts.9 Die Profitrate fällt aber, wenn das konstante Kapital (c) schneller wächst als der Mehrwert (m), wenn also ein höherer Mehrwert nur durch ein stärker gewachsenes Kapital angeeignet werden kann: „Dieselben Gesetze produzieren also für das Gesellschaftskapital eine wachsende absolute Profitmasse und eine fallende Profitrate.“ (Ebd., 229) Da im Fortgang der Akkumulation, die diese Veränderungen erst bedingt, auch das zu verwertende Kapital wächst, kann insgesamt mehr Kapital als variables und konstantes Kapital fungieren. Auf die Profitmasse bezogen wird so die Wirkung des Falls der Profitrate überkompensiert. Da aus einem Kapital von 10.000, wenn p'=10%, mehr akkumuliert wird, als aus einem Kapital von 1.000, wenn p'=20%, „wälzt sich der Strom des Kapitals fort […] im Verhältnis der Wucht, die es schon besitzt, nicht im Verhältnis zur Höhe der Profitrate“ (ebd., 255; vgl. MEW 42, 640ff.). Schon hier ergibt sich nicht Ricardos fatales Szenario, sondern eine gegenüber dem Ausgangszustand erweiterte Akkumulation, in der „bei wachsender Produktivität der Arbeit der Preis der einzelnen Ware [...] sinkt, die Anzahl der Waren steigt, die Profitmasse auf die einzelne Ware und die Profitrate [...] sinkt, die Profitmasse aber auf die Gesamtsumme der Waren steigt“ (MEW 25, 240). Durch Vermehrung wohlfeiler Waren steigt der allgemeine Lebensstandard gleichzeitig mit der Mehrwertrate. Auch bei fallender Profitrate bietet die steigende Profitmasse Investitionsanreize. Statt zu stagnieren erhält die „Akkumulation von Kapitalwert einen beschleunigenden Antrieb“ (ebd., 259), da mehr Kapital zu verwerten und mehr potenzielle Arbeitskraft verfügbar ist. Der steigende Konkurrenzdruck zwingt zur Einführung neuer Technik und zu effizienterer Produktion, zumal Kapitale, die „verbesserte, aber noch nicht verallgemeinerte Produktionsweisen“ anwenden, temporär einen Extraprofit machen, hier „steigt die Profitrate […], bis die Konkurrenz dies ausgeglichen“ hat (ebd., 241). Im selben Prozess wird veraltetes konstantes Kapital durch Innovationen beständig entwertet. Diese akzelerierende Dynamik könnte freilich als Totentanz erscheinen, da bei Annahme des kontinuierlichen Falls der Profitrate, wenn nicht der ‚Zusammenbruch‘ à la Großmann (vgl. 1929), so doch die „Verfettung“ einsetzen würde, die Sombart (1927, III.2, 1013) dem Kapitalismus prophezeite. Selbst Autoren, die Zusammenbruchsgesetze vehement ablehnen, folgern aus Marx’ Gesetz, „dass irgendwann die Investitionstätigkeit erliegt“, da sie sich „nicht mehr lohnt“ (Henning 2006a, 69). Abgesehen davon, dass dieses ‚irgendwann‘ nach den von Marx definierten Voraussetzungen in sehr ferner Zukunft läge,10 gibt es aber

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Das Verhältnis ändert sich, nicht weil die Zahl der Arbeiter sinkt, sondern weil das konstante Kapital schneller wächst, als die Zahl der Arbeiter: „Der Fall der Profitrate entsteht nicht aus einer absoluten, sondern aus einer relativen Abnahme des variablen Bestandteils des Gesamtkapitals.“ (MEW 25., 227f.) Vgl. auch MEW 23, 331ff. & 531-565. 10 Das Kapital muss nach Marx verwertet werden; es geht hier nicht um subjektive Motive, sondern um die Logik des Verhältnisses selbst. Die Akkumulation ‚lohnt‘ sich, solange sie

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zahlreiche Faktoren, durch die „dieselben Ursachen, die das Fallen der allgemeinen Profitrate hervorbringen, Gegenwirkungen hervorrufen, die diesen Fall hemmen, verlangsamen und teilweise paralysieren“ (MEW 25, 249) oder ihn in ihrem Zusammenspiel zeitweilig ganz umkehren können (vgl. ebd., 240). Mit der höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals verbindet sich eine zunehmende „Intensifikation der Arbeit“ durch rationelle Betriebsorganisation wie im Fordismus und Taylorismus (s.u. IV.6), was eine „Erhöhung des Exploitationsgrads der Arbeit“ (ebd., 242ff.) bewirkt, der den Fall der Profitrate hemmt oder ganz kompensiert. Das gilt zumal dann, wenn die im selben Prozess erzeugte relative Überbevölkerung ein Steigen der Löhne verhindert (vgl. ebd., 246). Tatsächlich bliebe die Mehrwertrate oder der Exploitationsgrad bei wachsendem konstanten Kapital nur dann konstant, wenn die Löhne längerfristig im selben Maße stiegen wie die Arbeitsproduktivität, was nach Marx’ eigenen Voraussetzungen (s.o. 1.4) ausgeschlossen ist. Zugleich wirkt dem Fall der Profitrate eine durch Erhöhung der Produktivkräfte bedingte Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals entgegen, da so, „das Gesamtkapital betrachtet, der Wert des konstanten Kapitals nicht in demselben Verhältnis wächst wie sein materieller Umfang“ (ebd., 245f.).11 Ähnliche Effekte kann die effizientere Anwendung konstanten Kapitals durch die Reduzierung von Abfall, Energieverlust, Verschleiß etc. zeigen (vgl. ebd., 87-114). Zudem lassen die vermehrte Konsumtionskraft und das steigende Verwertungsbedürfnis permanent „neue Produktionszweige, besonders auch für Luxuskonsumtion“ (ebd., 246f.) entstehen, die die aus Bereichen mit hohem konstanten Kapital freigesetzte Arbeitskraft als Basis nehmen und mit einem hohen Anteil des variablen Kapitals am Gesamtkapital eine sehr hohe Mehrwert- und Profitrate erzielen, die in den Ausgleich zur Durchschnittsprofitrate eingeht und die niedrigeren Raten anderer Produktionssegmente kompensiert. Hinzu kommt, dass einige Produktionszweige mit etablierten Verfahren ihre Produktion kontinuierlich ausdehnen, ohne die organische Zusammensetzung des Kapitals zu ändern. Auch diese höheren Profitraten in einigen Produktionssegmenten gehen in den Ausgleich zur Durchschnittsprofitrate ein, was eine Hemmung der fallenden Tendenz impliziert (vgl. ebd., 273). Darüber hinaus können die globalen Produktions- und Handelsbeziehungen zwischen Nationen mit sehr unterschiedlichem Entwicklungstand die Tendenz zum Fall der Profitrate in den am weitesten fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen längerfristig überkompensieren. Abgesehen von der Möglichkeit von Direktinvestitionen, bei denen Kapital bevorzugt in Ländern mit besseren Verwertungsbedingungen, also zu einer höheren Profitrate angelegt wird, können aus dem auswärtigen Handel mit Ländern mit geringerem Entwicklungsstand Lebensmittel und Rohstoffe günstiger bezogen werden, was die konstanten und variablen Kapitalkosten senkt und so den

überhaupt möglich ist. Schumpeter (1971) sieht hier richtig, dass der „Zwang zur Akkumulation“ fortwirkt, bis „der Mehrwert auf Null reduziert“ wäre (ebd., 332). 11 Bei Rohprodukten und Maschinen vermindert „dieselbe Entwicklung, die die Masse des konstanten Kapitals steigert im Verhältnis zum variablen […], infolge der gesteigerten Produktivkraft der Arbeit, den Wert seiner Elemente und verhindert daher, daß der Wert des konstanten Kapitals […] im selben Verhältnis wachse wie […] der materielle Umfang der Produktionsmittel“ (MEW 25, 246). Deren Gebrauchswert (zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität) steigt so bei sinkenden Kosten.

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Fall der Profitrate aufhält. Unabhängig von der direkten Ausbeutung von Kolonien kann der ungleiche Stand der Produktivkräfte dabei dazu führen, dass im freien Handel ein wenig entwickeltes Land „mehr vergegenständlichte Arbeit in natura gibt, als es erhält, und daß es doch hierbei die Ware wohlfeiler erhält, als es sie selbst produzieren könnte.“ (MEW 25, 248) Das prägt noch heute die Handelsbeziehungen der vor allem Rohstoffe liefernden Entwicklungsländer und der Fertigprodukte liefernden Industrienationen. Zusätzlich können Verschuldungszwänge dazu führen, dass wenig entwickelte Länder Rohstoffe und Lebensmittel (z.B. Öl, Futtersoja, Kaffe, Kakao) unter Wert an entwickelte Länder verkaufen müssen. Über die bei Marx in der Formulierung des Gesetzes benannten Gegentendenzen hinaus finden sich im ersten Band des Kapitals einige weitere Faktoren, die Marx wohl bei einer Bearbeitung der Rohfassung des dritten Bandes berücksichtigt hätte. Nach Okishio (vgl. 1974) macht Marx (vgl. MEW 23, 414f.) eine (historisch variable) Wachstumsgrenze des konstanten Kapitals darin aus, dass eine neue Technik nur dann verallgemeinert wird, wenn ihre Kosten geringer sind als die am Lohn eingesparten Kosten, was der Erhöhung des konstanten Kapitals eine Grenze setzt und, nach Marx’ Voraussetzungen, in der gesellschaftlichen Wirkung zu einer wachsenden relativen Mehrwertrate führen kann, wobei die Progression von m' die Progression von c überkompensiert und p' steigt. Obgleich Okishios Schlussfolgerungen zur Widerlegung von Marx’ Tendenzgesetz zweifelhaft sind,12 wären hier weitere temporär entgegenwirkende Ursachen definiert. Viele Generalwiderlegungen des Tendenzgesetzes treffen es kaum, da sie entweder die Komplexität des dargestellten Faktorengeflechts auf Absurditäten reduzieren oder ihm nur formale Modelle mit anderen, teils fragwürdigen Annahmen entgegensetzen13 – die pauschalen Verteidigungen sind freilich oft kaum besser.14 Die Debatte, ob das Gesetz, welches Marx nur im Rohentwurf skizzierte, absolut ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ist, erscheint dabei unfruchtbar. Marx stellte ein Bündel von miteinander ursächlich verbundenen Tendenzen fest, die oft genug in gegenläufige Richtungen wirken, und ging davon aus, dass die fallende Tendenz langfristig dominiert. Freilich sagte er nichts über den Zeitraum, in dem die fallende Tendenz sich ‚langfristig‘ durchsetzten würde. Angesichts des überaus unbestimmten Zeithorizonts ist die ‚Verifikation‘ oder ‚Falsifikation‘ im Jetzt und Hier also nur mit Modellrechnungen möglich, die bekanntlich meist vor allem die Vorentscheidungen des Rechners ‚be-

12 Okishios Argumentation ist mathematisch konsistent, er blendet aber einiges aus. Etwa, dass eine neue Technologie, die zunächst rentabel ist und durch Extraprofit die Profitrate steigert, mit ihrer Verallgemeinerung und dem Ausgleich durch die Konkurrenz zu einem Sinken der Warenpreise führt, so dass der Extraprofit wegfällt und sich die Tendenz zum Fall wieder durchsetzen kann (vgl. MEW 25, 275; vgl. kritisch auch Shaikh1978a, 50). 13 Dass die Profitrate nicht kontinuierlich fällt, sondern schwankt (vgl. Gabler 2005, 2925; Willke 2006, 91ff.), widerlegt nichts, da Marx konjunkturelle Schwankungen einbezog. Die Autoren setzen in ihren Kritiken zudem irrtümlich Masse und Rate des Profits gleich. Auch Gegenbeweise, dass die Profitrate unter ‚reinen‘ Bedingungen ständig steige, da Unternehmen nur in neue Technik investieren, wenn sie höhere Profite erwarten, überzeugen nicht, da hier ein Kurzschluss von Motiven auf objektive Resultate vorliegt (vgl. kritisch Henning 2005, 85f.; MEW 25, 275). 14 Vgl. in diesem Fall verkürzt pro Marx: Henning 2006a; 2005, 77-87 & 158ff.; dazu kritisch: Heinrich 2007a, 47-80.

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weisen‘.15 Dabei wird die Frage, was sich (jenseits der Vorentscheidung über die ‚Haupttendenz‘) aus der Wechselwirkungen der Tendenz zum Fall der Profitrate und der Gegentendenzen für eine kapitalistische Gesellschaft ergibt, gar nicht berührt. Gerade hier finden sich aber Marx’ soziologisch interessanteste Aussagen über Entwicklungstrends der kapitalistischen Gesellschaftsformation. In Kritiken wie Verteidigungen wird Marx’ Tendenzgesetz oft so gelesen, als laufe es auf eine stetig nach unten gerichtete Wellenlinie hinaus, in deren Konsequenz „irgendwann“ die Akkumulation „erliegt“ (Henning 2006a, 69). Damit wird eben jene Entwicklung zur Stagnation unterstellt, die Marx an Ricardos Profitratenfallgesetz kritisierte (vgl. MEW 26.2, 440-470; MEW 42, 299, 644ff.). In Marx’ „Entfaltung der inneren Widersprüche“ seines Tendenzgesetzes (vgl. MEW 25, 251-277) ist die Konsequenz gerade keine Stagnation, sondern vielmehr die Steigerung der Innovations- und Umwälzungsdynamik, die nicht nur die direkt ökonomischen Organisationsstrukturen, sondern auch die soziokulturellen und politischen Formen der Gesellschaft betrifft. Auf die in der entgrenzten Verwertungs- und Akkumulationslogik des Kapitals angelegte Dynamik technischer, wissenschaftlicher und organisatorischer Innovation wirkt der tendenzielle Fall der Profitrate als beschleunigender Katalysator. Da ein Kapital gleichen Umfangs immer weniger Mehrwert abwirft, wird die beschleunigte Optimierung und Ausdehnung der Produktion zum bloßen „Erhaltungsmittel“: Die permanenten „Revolutionen in den Produktionsmethoden“, die damit „verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital“ und die „Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen“, wird dadurch jedem Kapital „bei Strafe des Untergangs“ (ebd., 254f.) aufgezwungen. Statt dass die kapitalistischen „Triebkräfte an Spannung verlieren“ und der „faustische Drang“ verschwindet, wie Sombart (1927, III.2, 1013) prophezeite, oder die mythische Schöpferkraft des ‚Unternehmersubjekts‘ erlahmt, wie Schumpeter (1926; 1949) fürchtete, wird die gesteigerte Anspannung der Kräfte und die Anheizung der ‚schöpferischen Zerstörung‘ zur systemimmanenten Notwendigkeit. Der Zwang zur Erweiterung des Marktes, um den wachsenden Warenausstoß zu absorbieren, erfordert zugleich eine Dauerinnovation der „Kommunikations- und Transportmittel“, um dadurch die „Bedingungen des Austauschs“ zu optimieren. „Das Kapital treibt […] über jede räumliche Schranke hinaus. Die Schöpfung der […] Kommunikations- und Transportmittel wird also für es in ganz andrem Maße zur Notwendigkeit“, was bis zur „Vernichtung des Raums durch die Zeit“ (MEW 42, 430) führt – ein manche postmoderne Theorien aufs Äußerste faszinierendes Phänomen (vgl. u.a. Virilio 1999, 83-121). Während solche gegenwärtige Beobachter aus

15 Schließlich müssen, bevor Modelle durchgespielt werden, die Variablen definiert und die Zahlen bestimmt werden, was den Ausgang der ‚Prüfung‘ zu bestimmen erlaubt. Vgl. jüngst noch die Debatte zwischen Henning (2006a), der das Gesetz ‚beweist‘, und Heinrich, der Henning durch den Nachweis logischer und mathematischer Inkonsistenzen ‚widerlegt‘. Genügt zur Falsifikation aber der Nachweis, „dass es Konstellationen gibt, unter denen die Profitrate nicht fällt“ (Heinrich 2007a, 48), ist diese ebenso einfach, wie es die Bestätigung ist, wenn solche Konstellationen ausgeblendet bleiben. Auch empirische Plausibilisierungen lassen sich für beide Positionen finden, so dass auch hier die Entscheidung in der binären Opposition richtig/falsch in unterschiedliche Richtungen ausfällt.

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der Anschauung von Flugzeug, Internet und Telefon sprechen, gehen ihre Analysen doch selten über das hinaus, was Marx 1847 (vgl. MEW 4, 463ff.) angesichts von Telegraph, Dampfschiff und Eisenbahn als Entwicklungspotenzial erkannt hatte. Auch für viele der später mit Begriffen wie Wissens- oder Kommunikationsgesellschaft nur deskriptiv erfassten Phänomene gab Marx – der in entsprechenden Diskursfeldern oft recht pauschal als ‚widerlegt‘ gilt (vgl. u.a. Stehr 1994; s.u. V.3-4) – hier ein Erklärungsangebot. Da diese rapide Dynamik sich zwar durch das Handeln der Individuen vollzieht, ohne aber von ihnen intendiert oder verstanden zu werden, nehmen mit der Ausdehnung des Weltmarktes „seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer mehr die Gestalt eines von den Produzenten unabhängigen Naturgesetzes“ an und scheinen „immer unkontrollierbarer“ (MEW 25, 254f.), woran mediale und politische Reaktionen auf Krisen ebenso erinnern, wie die Form, in der einige Soziologen ‚die Globalisierung‘ als eine Art Naturprozess schildern (vgl. u.a. Giddens 2001; Beck 2002). Eng verbunden mit den Expansions- und Innovationszwängen ist der Zwang zur Konzentration des Kapitals. Unabhängig von den individuellen Motiven, wird in dem Maße, wie veränderte „Produktionsbedingungen die Anwendung von massenhaftem Kapital gebieten“, die „Konzentration“ und „Zentralisation“ des Kapitals eine Minimalvoraussetzung der Produktion (MEW 25, 256). Wie aber auch liberale Verteidiger der ‚freien Marktwirtschaft‘ fürchteten (s.u. IV.7), müsste die damit beschleunigte Expropriation der Kleinkapitale und die Aufhebung der freien Konkurrenz durch Monopole und Oligopole „die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch bringen, wenn nicht widerstrebende Tendenzen […] dezentralisierend“ wirkten (ebd.). Als Gegenkraft wirkt etwa die beschleunigte „Schöpfung neuer Produktionszweige“ im Sektor von Luxusproduktion und Kleingewerbe, in denen weniger Kapital erfordert und zugleich „mehr unmittelbare Arbeit im Verhältnis zum Kapital nötig ist“ (MEW 42, 644). Die Massenproduktion von Gütern, die als Produktionsmittel dienen können (heute z.B. Mikroelektronik), begünstigt solche Kleinunternehmen: „Mit demselben Kapital werden mehr Dinge geschaffen, die in Kapital verwandelt werden“, d.h. zur Verwertung dienen (MEW 25, 258). Dies hemmt den Fall der Profitrate. „Die Akkumulation des Kapitals, dem Wert nach […], wird verlangsamt […], um die Akkumulation des Gebrauchswerts noch zu beschleunigen“, was „wieder die Akkumulation, dem Wert nach, in beschleunigten Gang bringt“ (ebd., 260). Weit darüber hinaus wird hier aber auch eine Veränderung der Eigentums- und Organisationsstrukturen des Kapitals befördert. Da das in vielen Sektoren geforderte Kapitalvolumen nicht mehr durch Einzelkapitale aufzubringen ist, wird der Privatkapitalist zum Auslaufmodell und durch Aktien- und Finanzkapital verdrängt. Anders als Smith, der Aktiengesellschaften äußerst misstrauisch betrachtete,16 erkannte Marx ihre Notwendigkeit und zukunftsweisende Bedeutung. Da Aktiengesellschaften und

16 Smith (vgl. 1978, 629-644) fürchtete, dass durch Trennung von Eigentum und unternehmerischer Funktion den Anlegern die Geschäfte gleichgültig würden, solange sie ihre „Dividende erhalten“. Auch würden „Direktoren“, die „das Geld anderer Leute verwalten“, dieses mit weniger „Sorgfalt einsetzen“ (ebd., 629). Angestellte und Angehörige würden verleitet, verschwenderisch mit dem Gewinn umzugehen (vgl. ebd., 640). Aktiengesellschaften seien in einigen Produktionssektoren unvermeidlich, würden aber meist „mehr Schaden als Nutzen stiften“ (ebd., 644).

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Banken zersplitterte, „für sich selbst zur eignen Aktion unfähige Kapitale“ zusammenfassen und den „großen Geschäftszweigen“ verfügbar machen (MEW 25, 261), ermöglichen sie eine „Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren“ (ebd., 452), die aber in immer mehr Geschäftszweigen unabdingbar werden (vgl. ebd., 250, 261f. & 350-626). Für Marx kam diese Streuung des Eigentums an Produktionsmitteln auf zahllose Aktionäre und Anleger einer „Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“ (ebd., 452) gleich: „Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht […], erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) […] und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen. […] Es ist dies Resultat der höchsten Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein […] Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten, aber nicht mehr als Privateigentum […], sondern als das Eigentum ihrer als assoziierter, als unmittelbares Gesellschaftseigentum. Es ist andrerseits Durchgangspunkt zur Verwandlung aller mit dem Kapitaleigentum bisher noch verknüpften Funktionen im Reproduktionsprozeß in bloße Funktionen der assoziierten Produzenten, in gesellschaftliche Funktionen.“ (Ebd., 452f.)

Zumindest hat die Kapitalisierung der „Geldersparnisse […] aller Klassen“ (ebd., 416), die durch Rendite und Zinsen in neuer Form in die Kapitalverwertung hineingezogen werden, Folgen für die „Verallgemeinerung kapitalistischen Geistes“ (Sombart 1927, III.2, 584). Gleichzeitig trennen sich nominelles Eigentum und gesellschaftliche Funktion (Kalkulation, Aufsicht, Organisation etc.) des Kapitals endgültig voneinander. Die Funktionen werden an eine neue Gruppe (hochbezahlter) Lohnarbeiter delegiert (vgl. MEW 25, 393-403 & 453ff.), anstelle der klassischen „industriellen Kapitalisten“ werden die „industriellen Managers“ zur „Seele“ des ökonomischen Verwertungsprozesses (ebd., 400), was auch neue Formen der Mehrwertabschöpfung ohne nominelles Eigentum begünstigt.17 So entsteht einerseits eine „Finanzaristokratie“, andererseits eine Gruppe von „Projektemachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren“ (ebd., 454), die, da sie das gesellschaftliche Kapital als Nichteigentümer anwenden, „ganz anders ins Zeug gehn als der ängstlich die Schranken seines Privatkapitals erwägende Eigentümer, soweit er selbst fungiert“ (ebd., 457). Die neuen Formen der Anlage eines „als virtuelles Geldkapital sich aufschatzenden Mehrwerts“ der nach Verwertung sucht erhält „den enormsten Einfluss auf den Verlauf und die gewaltige Entwicklung des kapitalistischen Produktionssystems“ (MEW 24, 494). Letzteres befördert die Dynamik, in der die kapitalistische Produktionsweise beständig an der Überwindung ihrer Schranken arbeitet (vgl. MEW 25, 260). Die Zentralisation und Kapitalisierung von Geldersparnissen durch Banken erlaubt neben einer verstärkten Ökonomisierung der Zirkulationskosten18 eine enorme Beschleuni-

17 So „entwickelt sich bei Aktienunternehmungen ein neuer Schwindel mit dem Verwaltungslohn, indem neben und über dem wirklichen Dirigenten eine Anzahl Verwaltungs- und Aufsichtsräte auftritt, bei denen […] Verwaltung und Aufsicht bloßer Vorwand […] zur Selbstbereicherung wird“ (MEW 25, 403). 18 Geld als „Hauptzirkulationskost“ wird „durch den Kredit ökonomisiert“, da es für einen Großteil „der Transaktionen ganz wegfällt“ und „die Zirkulation des umlaufenden Medi-

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gung und Flexibilisierung des Verwertungsprozesses, da nominelle Eigentumstitel schneller wechseln und Banken in kürzester Zeit enorme Kapitalkredite für neue Unternehmungen flüssig machen. So wird der ohnehin elastische kapitalistische Produktionsprozess „bis zur äußersten Grenze forciert“, wodurch die „immanente Fessel und Schranke der Produktion beständig durch das Kreditwesen durchbrochen wird“ (ebd., 457). Indem Kreditsystem und „Börsenspiel“ zum „Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation“ (ebd., 456) werden, beschleunigen und verschärfen sie allerdings auch die Krisen (s.u. 2.3). Wie die Funktionsweisen und Formen des Kapitals müssen sich auch die Formen der Arbeit unter diesen Bedingungen ändern. Im Frühkapitalismus war eine „[h]ohe Profitrate“ dank „hoher Mehrwertrate“ möglich, „wenn der Arbeitstag sehr lang, obgleich die Arbeit unproduktiv“ war. Dazu mussten „die Bedürfnisse der Arbeiter sehr gering“ und der „Durchschnittslohn sehr niedrig“ bleiben, wobei der „Niedrigkeit des Lohns die Energielosigkeit der Arbeiter“ entsprach. „Das Kapital akkumuliert dabei langsam, trotz der hohen Profitrate“ (MEW 25, 255f.). Die mit dem Fall der Profitrate verbundene erhöhte Innovationsdynamik erzwingt auch hier Transformationen. Der massenhafte Bedarf an unqualifizierter und billiger Arbeitskraft, der die frühe Industrialisierung bestimmte, sinkt im Fortgang der Automatisierung und Verwissenschaftlichung der Produktion,19 während immer neue Formen spezialisierter Arbeit entstehen. Zugleich schwanken die Exploitationsbedürfnisse des Kapitals durch die permanente Revolution der Produktionsmethoden immer rascher und beschleunigen die zyklische „Überflüssigmachung“ von Teilen „der Arbeitsbevölkerung in ihrer alten Beschäftigungsweise“ (ebd., 274). Die Beschränkung des Arbeiters auf einfache Teilfunktionen steht so in wachsendem Widerspruch zu den veränderten Produktionsbedingungen, die fordern, „den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen“, also die „elenden [...] disponiblen Arbeiterbevölkerungen zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse“. Dazu müsste aber das auf „den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion“ reduzierte „Teilindividuum“ abgelöst werden „durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind“ (MEW 23, 512). Diese Flexibilisierung und Mobilisierung qualifizierter Arbeit setzt eine veränderte Partizipation der Massen am gesellschaftlichen Gesamtprodukt, verbesserte Bildungsmöglichkeiten und eine Vermehrung freier Zeit zur Regeneration und Ausweitung der Fähigkeiten voraus, was Marx durch die kapitalistische Entwicklung gleichzeitig ermöglicht, erfordert und behindert sah. Die Entwicklung der Produktivkräfte erhöht das gesellschaftliche Produkt, und befähigt die Gesellschaft, „in einem geringeren Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehen“ (MEW 25, 274), also das „Reich der Freiheit“ gegenüber dem „Reich der Notwendigkeit“ auszudehnen (ebd., 828). Die „Verallgemeinerung des Volksunterrichts“ erlaubt es zudem, Arbeitskräfte für qualifizierte Tätigkeiten „aus Klassen zu rekrutie-

ums beschleunigt wird,“ so dass „eine geringere Masse von Geld oder Geldzeichen denselben Dienst“ verrichtet. Kredit beschleunigt die „Warenmetamorphose und hiermit die Geschwindigkeit der Geldzirkulation“ (MEW 25, 451f.). 19 Auf diesen von Marx schon früh diagnostizierten Entwicklungsgang (vgl. u.a. MEW 4, 153ff.) wird unten (Teil IV und V) noch ausführlich zurückzukommen sein.

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ren, die früher davon ausgeschlossen waren“ (ebd., 311). Eine Ausschöpfung dieser durch das Kapital geschaffenen Möglichkeiten (vgl. MEW 42, 244) wird im Kontext der durch den Fall der Profitrate forcierten Umwälzung der Produktionsmethoden zunehmend ein Erfordernis des ökonomischen Prozesses selbst. Gerade hier sah Marx aber „das Kapital selbst“ als die einzige „wahre Schranke der kapitalistischen Produktion“, da nur „seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint“ und die Produktionsmittel eben nicht „bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind“. In dem Maße, wie die kapitalistisch angewendeten Produktionstechniken „auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern“, geraten sie „in fortwährenden Konflikt“ mit der „Verwertung des Kapitalwerts“ (MEW 25, 260), die einerseits zur Anwendung der veränderten Produktionsmethoden und zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität eine Entfaltung der subjektiven Produktivkräfte der Arbeitskraft erfordert (vgl. MEW 42, 606ff.), andererseits auf eine höchstmögliche Exploitation hinwirkt, die diese Entfaltung behindert. Das Kapital wirkt hier selbst als „der prozessierende Widerspruch“ (ebd. 601), da in der Logik der Selbstverwertung des Werts die Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit, die prinzipiell eine Grundlage der freien Entfaltung aller Individuen sein könnte, nur im Hinblick auf die Ausdehnung der „überflüssigen“, d.h. für die Mehrwertproduktion exploitablen Arbeitszeit relevant ist. Solange die „Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – […] dem Kapital nur […] Mittel […] sind […], um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren“ (ebd., 602), bleibt die Potenzialität der freien Entwicklung aller Individuen eingebannt in eine Logik, die zur Zunahme von Überarbeitung auf der einen und von Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite führt. Dass der von Marx herausgearbeitete Widerspruch ein Moment der kapitalistischen Produktionsweise bleibt, zeigt sich darin, dass die Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit sich immer aufs Neue, statt mit der Erweiterung des ‚Reichs der Freiheit‘, mit der bedrohlichen Frage verbindet: „Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus?“20 Zugleich ist bekannt, dass Marx gerade hier den Variationsspielraum unterschätzte, in denen kapitalistische Gesellschaften entsprechende Spannungen verarbeiten – ihre Widersprüche also prozessieren können. Der von ihm oft betonte

20 Das von Hannah Arendt (2002) formulierte Drohszenario ist seither in zahllosen soziologischen Aufsätzen und Tagungen titelgebend geworden. Vgl. Clausen 1988, 119-130; Dahrendorf 2005; Giersch 2006, 200-207. Immer wieder beliebt war es auch als Titel für Zeitungsartikel (vgl. Hermann Glaser: Der fatale Regelkreis – Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus? Die Zeit Nr. 44 vom 23.10.1987). Da es in der Soziologie inzwischen nicht mehr zeitgemäß ist von ‚Widersprüchen‘ des Kapitalismus zu sprechen (vgl. Honneth 2002, 9ff.; Hartmann 2002, 221-249), spricht man meist diffus von Paradoxien. Marx sah hier noch einen klaren Widerspruch: „Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche […] die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion […]. Die absolute Überschußzeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit […] überhaupt vermindert.“ (MEW 25, 274)

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Einfluss sozialer und politischer Kräfteverhältnisse auf die Ökonomie (vgl. MEW 16, 147ff.) ermöglicht aber, die Frage zu verfolgen, unter welchen Voraussetzungen und durch welche Modi der Vergesellschaftung die von Marx verzeichneten Schranken im Interesse und im Rahmen der Kapitalverwertung immer wieder durchbrochen werden. Dabei ist deutlich, dass die historische Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften in jene Richtung verlief, die im oben diskutierten Kontext aus grundlegenden Entwicklungstrends der kapitalistischen Akkumulationslogik folgte. So entsprechen die Bemerkungen zu den veränderten Erfordernissen, die die Entwicklung der Produktionsmethoden an die Arbeit stellen, in vielem dem, was heute als „Subjektivierung der Arbeit“ diskutiert wird (vgl. u.a. Voß/Pongratz 2003; s.u. IV.7). Berücksichtigt man solche Tendenzen, in denen die Nutzung der objektiven und subjektiven Produktivkräfte systematisch für die Steigerung des relativen Mehrwerts eingesetzt wird, stellt sich allerdings auch die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen dem tendenziellen Fall der Profitrate und den entgegenwirkenden Ursachen in neuer Weise. Es wurde oft kritisiert, dass die Vielzahl der von Marx aufgezeigten Gegentendenzen, die zudem direkt mit der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals verbunden sind, zeige, dass Marx eine Tendenz der kapitalistischen Akkumulation zur Haupttendenz generalisierte, wobei die Unterscheidung von Gesetz und Gegenwirkungen willkürlich sei.21 Marx’ Argumente, warum sich der Fall der Profitrate durchsetzen muss, da die Progression des konstanten Kapitals gegenläufige Wirkungen überkompensiert, sind stellenweise plausibel, brechen mitunter aber auch abrupt und ohne weitere Begründung bei Argumentationen ab, die dabei sind, eine andere Richtung zu nehmen. So endet ein längeres Argument, das Umstände diskutiert, unter denen die Profitrate steigen könnte, abrupt mit den Worten: „Aber in Wirklichkeit wird die Profitrate, wie bereits gesehn, auf die Dauer fallen.“ (MEW 25, 240) Vielleicht tritt hier am deutlichsten hervor, was Sombart bemerkte: Als wissenschaftlicher Gegenstand „war der Kapitalismus Neuland, das Marx entdeckte“ und auch als erst Gestalt gewinnende Wirtschaftsform „ein wildes Durcheinander, von dem sich nicht genau sagen ließ, was aus ihm werden würde. Wer an ihn mit der Leitidee der Entwicklung herantrat – und sie gerade war das Licht, das Marx brachte –, konnte seinen Werdegang […] nach [...] Gutdünken“ auslegen. (Sombart 1927, III.1, XIX) Dass Marx einem Tendenzgesetz, in dem er den „nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise bezeugt“ (MEW 25, 252) sah, eine in Richtung der Systemüberwindung überakzentuierte Fassung gab, mag in diesem Kontext verständlich sein. Da er jedoch keinen Automatismus behauptete, vielmehr der Ambivalenz und Offenheit möglicher Entwicklungslinien Rechnung trug, ist es auch möglich, mit marxschen Analysen anders gelagerte Entwicklungen zu erfassen, zumal die Darstellung des tendenziellen Falls der Profitrate und der entgegenwirkenden Ursachen bereits alle Elemente enthält, die es erlauben

21 Vgl. u.a. Gabler 2005, 2925. Auch Marxisten wie z.B. Sweezy (1970, 123ff.) monierten, die fallende Tendenz hänge an der Unterstellung, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals wächst, während die Mehrwertrate konstant bleibt, obwohl Marx selbst das Gegenteil zeige. So seien andere Lösungen zu suchen (vgl. ebd., 129ff.). Allerdings setzt Marx m' nur zur ersten Veranschaulichung konstant (vgl. MEW 25, 221).

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eine langfristige Bewegung der Kapitalakkumulation begrifflich zu fassen, die von einer eindeutig fallenden Profitratenentwicklung abweicht.22 Einen anderen historischen Verlauf der langfristigen Akkumulationsbewegung hatte zuerst der russische Ökonom Nikolai Kondratieff (1926) herausgearbeitet, der über mehrere Konjunkturen verlaufende lange Wachstumszyklen mit einer Erstreckung von 40 bis 60 Jahren aufzeigte. Aus dem historischen Zusammenhang mit technologischen Revolutionen23 folgerte er, dass am Sattelpunkt eines Zyklus die ökonomischen Bedingungen für die Durchsetzung technischer Innovationen günstig sind. Die damit verbundene Steigerung der Produktivkräfte leitet mit einem längerfristigen Wachstumsschub den nächsten langen Zyklus ein, bis das entsprechende Potenzial ausgeschöpft ist und ein längerfristiger Abschwung einsetzt. Da diese Interpretation auf eine Regenerationsfähigkeit des Kapitalismus gerade nach tiefen Krisen hinwies, was der marxistischen Orthodoxie widersprach, fanden die Analysen des 1938 unter Stalin hingerichteten Ökonomen hier lange keinen Eingang. Aufgegriffen und in der ‚bürgerlichen Ökonomie‘ anschlussfähig gemacht wurde sie vor allem durch Schumpeter (vgl. 1961), der auch den Begriff ,Kondratieffzyklus‘ prägte, von der Erklärung aus endogenen Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie aber abrückte und eher die subjektive Dimension des kreativen und innovativen Unternehmertums ins Zentrum rückte. Mattfeld (vgl. 2006) hat statistisch den Zusammenhang der langfristigen Profitratenbewegung und der Kondratieffzyklen herausgearbeitet und in diesem Kontext „Marx’ Profitratenfallgesetz als halbe[n] Kondratieff“ interpretiert. Marx’ Forschung und die Niederschrift des Kapitals fiel demnach in die Abschwungphase des zweiten Zyklus, in dem tatsächlich eine längerfristig fallende Tendenz der Profitrate feststellbar ist. Das Gesetz wäre insofern die Übergeneralisierung einer besonderen historischen Konstellation, die bereits mit der Aufschwungphase des dritten Zyklus (nach 1880) endete (vgl. ebd., 12ff.).24 Auch wenn man die Ergebnisse dieser Langzeitanalyse der Profitratenbewegung (die, wie Mattfeld betont, empirisch stets eine heikle Angelegenheit ist) übernimmt, denen zufolge es keinen langfristigen Fall, vielmehr kurzfristige Oszillationen und längerfristige Zyklen mit einem relativ konstanten Schwerpunkt gibt, stellt sich jedoch die Frage, warum diese Bewegung nach einem Sattelpunkt längerfristig ansteigt, nach dem Erreichen eines Scheitelpunkts aber wieder längerfristig fällt. Hier bieten die von Marx herausgearbeiteten Tendenzen durchaus Ansatzpunkte: „Steigen könnte die Profitrate [...], wenn mit der Erhöhung der

22 Daraus, dass Konstellationen möglich sind, in denen sich die von Marx formulierte Tendenz nicht kontinuierlich durchsetzt, muss also nicht folgen, dass das Theorem insgesamt zu verwerfen ist, wie Heinrich (2007a) es tut. 23 Die übliche Einteilung der Zyklen mit den entsprechenden Basisinnovationen: 1780-1850 (Dampfmaschine, Textilindustrie, Baumwolle); 1850-1890 (Stahl, Eisenbahn); 1890-1940 (Elektrotechnik, Chemie); 1940-1975 (Petrochemie, individuelle Mobilität, Automobil etc.; 1975-2010 (Mikroelektronik, Informationstechnologie, Gentechnologie). Vgl. zum Überblick: Händeler 2001; Reuter 2000. Viel spekuliert wird über den sechsten Kondratieff, als aussichtsreich gelten Biotechnologie, Gesundheitsmarkt, Wellness und andere Humankapitalfaktoren (vgl. u.a. Nefiodow 2001). 24 Heinrich (vgl. u.a. 2007a) verweist auf Passagen des älteren Marx, die darauf hindeuteten, dass dieser selbst von einer eindeutigen Gesetzmäßigkeit des langfristigen Falls der Profitrate abgerückt sei.

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Rate des Mehrwerts eine bedeutende Wertverminderung der Elemente des konstanten und namentlich des fixen Kapitals verbunden wäre.“ (MEW 25, 240) Neben anderen von Marx benannten der Tendenz zum Fall entgegenwirkenden Faktoren (Erschließung neuer Produktionssektoren und Märkte, Intensivierung der Arbeit etc.) wäre es hier die Gleichzeitigkeit einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate und einer Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals, die eine Umkehr der fallenden Tendenz bewirkt, bis die dadurch bewirkte allgemeine Umwälzung Bedingungen entwickelt, unter denen sich wieder eine fallende Tendenz durchsetzt.25 Hier hätte man die Konturen eines ‚ganzen Kondratieff‘, die auch bei Marx mit grundlegenden Umwälzungen in den Produktionstechniken und in den Methoden der Arbeitsorganisation zusammenhingen. Entsprechende Ansätze, die die ‚langen Wellen‘ mit marxschen Analyserastern interpretieren, hat es seit den 1970er Jahren in verschiedenen Formen gegeben (u.a. Mandel 1987a & 1987b; Hirsch/Roth 1986). Allerdings sollte dieses Schema gerade nicht zur Engführung der Analyse auf technische Innovationen oder endogene ökonomische Faktoren führen, die an Kondratieffs und Schumpeters Fassung zu Recht kritisiert wurde.26 Wie oben (II.3) herausgestellt, ist bei Marx weder die kapitalistische Ökonomie ein autopoietisches Funktionssystem, das aus sich selbst die Faktoren seiner Veränderung setzt, noch ist die Technik eine selbsttätige Entität, die gesellschaftliche Veränderungen auslöst (s.o. 1.4). Die Ökonomie ist stets nur ein Moment eines Komplexes konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse, von denen auch technische und organisatorische Innovationen in ihrer Durchsetzung und Anwendung abhängen. Marx’ Analysen bieten kein mechanisch-deterministisches Schema, in dem ökonomische Tendenzgesetze oder technische Produktivkräfte als automatische Subjekte die gesellschaftlichen Entwicklungen bestimmen, sie führen vielmehr zu der Frage, wie Transformationen in grundlegenden Formen der Produktion und Distribution in konkreten gesellschaftlichen Konstellationen bedingt sind. Auf diese genuin soziologische Dimension der gesellschaftlichen Bedingungen eines Wandels der Akkumulationsmodi hat früh Antonio Gramsci hingewiesen. Er betonte, dass der tendenzielle Fall der Profitrate stets von der Bedeutung des Begriffs „‚tendenziell‘ […] zu entwickeln“ sei. Als „organisch“ mit seinen eigenen Gegentendenzen (der Erhöhung des relativen Mehrwerts) verbundenes Gesetz enthalte es „[n]ichts Automatisches“, das auf das „bevorstehende Ende der kapitalistischen Gesellschaft“ schließen lasse, sondern deute eher auf einen „dialektischen Prozess“ hin, in dem ein jeweiliger „progressive[r] Schub zu einem in der gesellschaftlichen

25 Vgl. u.a. MEW 25, 252f. So würde die Kostensenkung im Bereich der Produktionstechniken dazu führen, dass diese auch in weiteren Segmenten (Luxusproduktion, Kleinbetriebe, Handwerk) eingeführt werden, so dass dort der Anteil des konstanten Kapitals am Gesamtkapital (zugunsten von Verwohlfeilerung und Massenproduktion) steigt – im Übrigen ein Argument für die Verallgemeinerung ehemaliger Luxusgüter (vgl. ebd., 247). Die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals gleicht ihre vermehrte Anwendung daher nicht im Sinne einer „Harrod-Neutralität“ aus, sondern führt in allen Produktionsbereichen langfristig zu einer Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals (c/v). Vgl. dazu auch Hirsch/Roth 1986. 26 Technizistische und ökonomistische Engführungen finden sich auch in marxistischen Beiträgen zur Theorie der ‚Langen Wellen‘. Vgl. zur Kritik daran u.a.: Hirsch/Roth 1986, 39ff. sowie Spurk 1986, 13ff.

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Gesamtheit tendenziell katastrophalen Resultat führt […], von dem weitere einzelne progressive Schübe ausgehen in einem fortwährenden Aufhebungsprozess“ (Gramsci 1991ff., 1293). Dabei darf das Gesetzt nicht „mythisiert“ (ebd., 1294) werden, es kann nur Anhaltspunkte für eine „vergleichende soziologische Ökonomie“ bieten, die von „jedem apriorischen Begriff (sei er Hegelsches Erbe oder Ansteckung mit Vulgärrevolutionismus)“ (ebd., 1320) frei ist. Die dem Fall der Profitrate entgegenwirkenden grundlegenden Veränderungen in den Akkumulationsweisen, wie Gramsci sie im Fordismus ausmachte, sind nicht allein von der technisch-ökonomischen Seite her verstehbar, da die Veränderung der Modi von Produktion und Distribution stets komplexe Verschiebungen der Klassen- und Machtverhältnisse, der kulturellen Orientierungen, des Konsums und nicht zuletzt „einen neuen Arbeitertyp“ (ebd., 1319) voraussetzen. Ausgehend von Marx und Gramsci waren es Vertreter der sogenannten Regulationsschule, die solche wechselnden Formen der Akkumulation und die Herausbildung ihrer komplexen technischen, sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen unter den Begriffen des ‚Akkumulationsregimes‘ und des ‚Regulationsmodus‘ in einer dezidiert nicht ökonomistischen und nicht deterministischen Perspektive historisch zu fassen suchten. Ein Akkumulationsregime ist eine durch besondere Produktionstechniken, spezifische Modi der Arbeitsorganisation und besondere Distributionsund Konsumformen historisch abgrenzbare Formation der Akkumulation (z.B. der Fordismus). Der Regulationsmodus bezeichnet einen entsprechenden Komplex politischer, rechtlicher und kultureller Regulierungen, wie z.B. den Keynesianismus (vgl. u.a. Aglietta 1976; Hirsch/Roth 1986). Der Übergang zwischen den Formationen erfolgt meist in einer Krise. Dabei ist die konkrete Gestalt der veränderten Akkumulations- und Regulationsformen nicht determiniert, sie stellt sich erst im Zusammenspiel der Effekte ökonomischer Restrukturierungen, sozialer und politischer Bewegungen, theoretischer und praktischer Kritik etc. her. In diesem Sinne handelt es sich um einen bedingten, aber nicht mechanisch bestimmten „Prozeß ohne Subjekt“ (Hirsch/Roth 1986, 38). Marx’ Ansatz kann in entsprechenden Anschlüssen als flexibles, nicht deterministisches Analyseraster verwendet werden (vgl. ebd., 31-41). Darüber hinaus geben einige der oben aufgezeigten Entwicklungstendenzen eine Leitskizze an die Hand, um die Richtungen und Formen solcher historischen Verschiebungen des Akkumulationsmodus zu verstehen. Man denke etwa an die fordistische und keynesianische Bearbeitung des Konsumproblems oder an die veränderten Anforderungen an die Arbeitssubjekte (s.u. IV.6). Derzeitige Spekulationen über den ‚sechsten Kondratieff‘ zielen bezeichnenderweise auf humankapitalbezogene ‚Technologien‘ wie Gesundheit, Bildung und Wellness (vgl. Nefiodow 2001). Es wird unten (IV) herauszuarbeiten sein, inwiefern Foucaults Analysen der historischen Verschiebung der Machttechniken und Regierungsformen seit dem 18. Jahrhundert einen Beitrag leisten, um entsprechende Transformationen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung zu erschließen. Gramsci, Vertreter der Regulationsschule, aber auch Foucault teilen dabei die Annahme, dass die Verschiebungen zwischen verschiedenen historischen Akkumulations- und Regulationsmodi sich krisenhaft vollziehen, wobei ökonomische Krisen und Krisen in anderen Bereichen der gesellschaftlichen Organisation zwar nicht kausalmechanisch, aber durch wechselseitige Bedingungsrelationen verbunden sind. Als zentraler Autor, der die Grundstruktur

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der Krisendynamik kapitalistischer Gesellschaften herausgearbeitet hat, kann wiederum Marx gelten. Krisen bilden dabei ein eigenständiges Untersuchungsfeld, da sich ihre Ausprägungen und Formen zwar durch die Tendenz zum Fall der Profitrate verändern und verschärfen können, die immanente Krisenlogik des Kapitalismus aber weitere Krisenursachen aufweist.27

2.3 Z YKLISCHE AUSGLEICHUNGSKRISEN W ACHSTUMSDYNAMIK

UND

„Die Weltmarktkrisen müssen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden.“ „Wie sich nun diese Krise auch entwickeln mag – deren detaillierte Beobachtung für den Erforscher der kapitalistischen Produktion […] von höchster Wichtigkeit ist –, sie wird wie ihre Vorgängerinnen […] einen neuen ‚industriellen Zyklus‘ mit all seinen verschiedenen Phasen von Prosperität usw. einleiten“. KARL MARX (MEW 26.2, 510; MEW 34, 372)

Marx hob früh die Bedeutung endogener, nicht auf äußere Faktoren (Missernten, Kriege etc.) zurückführbarer Krisen als Kernelement der kapitalistischen Ökonomie hervor. Krisen, die Industrie und Handel gefährden, weil die Gesellschaft „zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt“, so dass ein Teil „der erzeugten Produkte“ und „Produktivkräfte regelmäßig vernichtet“ wird, sind eine historische Besonderheit, die „früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre“ (MEW 4, 468). Entsprechend sind sie nur aus den Charakteristika der Wirtschaftsform zu erklären, in der sie auftreten. Marx, dessen zentralen Beitrag in diesem Punkt auch die Lehrbuchökonomie anerkannte,28 behandelt Krisen als konstitutives Moment „periodischer Zyklen“, in denen die Ökonomie sukzessive Zustände „der Stille, wachsenden Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation“ (MEW 16, 145; vgl. MEW 23, 476f.) durchläuft. Wirtschaftspolitische Maßnahmen können die Ausprägungen der Krisen dämpfen oder verstärken, sind aber als Krisenreaktion nicht ihre Ursache (vgl. MEW 6, 326ff.). Die Zyklen sind dynamisch, das heißt eine Krise bereitet eine Kapitalverwertung auf höherer Stufe vor, die Ursache einer neuen Krise wird, die die Bedingungen eines weiteren Akkumulationsschubs herstellt usf. Schon 1848 betonte Marx entsprechend, dass Krisen nur durch „Eroberung neuer Märkte und [...] gründlichere Ausbeutung alter Märkte“ bewältigt werden, wodurch „gewal-

27 Der enge Zusammenhang des Tendenziellen Falls der Profitrate mit der Krisentheorie in Engels Edition des Kapitals, ist in den inzwischen zugänglichen Manuskripten (MEGA II.4.2) weniger eindeutig (vgl. Heinrich 2007a, 78f.). 28 Schumpeter (1971) würdigte, bei aller Kritik, Marx’ Konjunkturtheorie. Sie enthalte „alle Elemente, die je in einer ernsthaften Analyse der Konjunkturzyklen Eingang fanden, und im Ganzen sehr wenig Irrtümer. Überdies […] [war] schon die Wahrnehmung zyklischer Bewegungen zu jener Zeit eine große Leistung“ (ebd., 337).

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tigere Krisen vorbereitet“ würden (MEW 4, 468; MEW 6, 423). Krisen führen jedoch nicht zum Systemzusammenbruch, sondern stellen ein dynamisches Gleichgewicht mit inhärenter Wachstumstendenz her (vgl. u.a. Heilbroner 1993). Anders als in der neoklassischen Ökonomie, die Krisen vorzugsweise auf exogene Faktoren oder auffallende Ereignisse (schwarzer Freitag 1929, Ölpreisschock 1974, Kollaps von Lehman-Brothers 2008) zurückführt,29 erscheinen entsprechende Phänomene in Marx’ Analyse nur als Auslöser der Krise. Da vergleichbare Ereignisse (ein Sturz der Aktienkurse, Verknappung eines Leitrohstoffs, Bankrott eines großen Finanzinstituts) in anderen Phasen ökonomischer Zyklen zwar Aufsehen erregen, ohne aber die Konjunktur abzuwürgen oder eine Wirtschaftskrise einzuleiten, sind den Krisen offenbar andere Faktoren vorausgesetzt. Die Auslöser sind daher von den Ursachen und Funktionen der Krisen zu unterscheiden.30 Während reale Krisen „nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, [der] Konkurrenz und [des] Kredit, dargestellt werden“ (MEW 26.2, 513) können, da ihr Verlauf durch unvorhersehbare Interdependenzen verschiedener Faktoren beeinflusst wird, zielt Marx darauf, Ursachen und Funktionen der „potentia Krisis“ (ebd.), also der Krisentendenzen des Kapitalismus zu erklären. Möglichkeiten der Krise sind bereits in der einfachen Form der Metamorphose W-G-W angelegt, da – entgegen Says Diktums, dass auf jeden Verkauf unabdingbar ein Kauf folge, es also keine endogenen Störungen der Zirkulation gäbe31 – die Zwischenkunft des Mediums Geld den Tausch in die getrennten Transaktionen von Kauf und Verkauf separiert. Damit ist in der „Form selbst die Möglichkeit der Zerreißung und des Auseinanderfallens wesentlich sich ergänzender Momente“ (ebd., 509), also der Unterbrechung der Zirkulation angelegt (vgl. ebd., 514f.; MEW 24, 127f.). Da es aber in der einfachen Waren- und Geldzirkulation, in der der Endzweck des Tausches im Konsum von Gebrauchswerten liegt, Krisen ohne äußeren Anlass nicht gibt, sind die Bedingungen der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus in der diese Wirtschaftsform prägenden erweiterten Zirkulation in der Grundform G-W-G' zu suchen.32 Ziel der

29 Selbst Neoklassiker, die sehen, dass stets „das Gegenteil dessen“ geschieht, was laut ihrer „Theorie eigentlich geschehen sollte“ (so Thurow 1996, 312), bieten keine Erklärungen. Krisen und Konjunkturzyklen werden auf zufällige, „exogen bedingte plötzliche Auf- und Abwärtsbewegungen“ oder die subjektiven „Entscheidungen innewohnende Dynamik“ (ebd., 310) zurückgeführt. Das erklärt nur, dass man nichts erklären kann. 30 Vgl. zur Differenz von Auslösern, Ursachen und Funktionen bereits: MEW 9, 95-102. Unter Umständen, in denen die Ökonomie „den größeren Teil des normalen Wirtschaftszyklus bereits durchlaufen hat“, ließe sich „getrost voraussagen“, dass ein Ereignis – plötzliche Kontraktion eines Marktes, politische Revolution etc. – „den Funken in das übervolle Pulverfaß des gegenwärtigen industriellen Systems schleudern und die seit langem heranreifende allgemeine Krise zum Ausbruch bringen wird.“ (ebd., 100) Der ‚Funke‘ erklärt den Moment, nicht aber die vorausgesetzten Ursachen des Ausbruchs. Vgl. zu dieser Differenz auch: Mandel 1987b, 237-247. 31 „Says Gesetz der Absatzwege“ ist noch heute Teil der Lehrbuchökonomie (vgl. Gabler 2005, 2600). Marx sah darin nur „kindisches Geschwätz“ (MEW 26.2, 503). Kritisiert wurde das Theorem auch von Keynes (1936). 32 Einfache „Zirkulation des Gelds“ komme „lange vor der kapitalistischen Produktion vor, ohne daß Krisen vorkämen“. Tatsächlich folgt dem Verkauf hier meist ein Kauf, da die Individuen zwar nicht für den eigenen Konsum, aber doch für den Tausch gegen Konsumgüter produzieren. So wird allenfalls ein Bruchteil des Geldäquivalents als Reserve für späteren Konsum zurückhalten. Warum der in der Geldform in „potentia enthaltne Widerspruch

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Kapitalverwertung sind in mehr Geld ausgedrückte Profite. Diese setzten die Produktion des Mehrwerts (s.o. 1.1) voraus, werden aber erst durch Verkauf der Waren zu einem entsprechenden Geldäquivalent auf dem Markt realisiert.33 Hier können im Fluss der Zirkulation „Realisierungskrisen“ auftreten, wenn „das Verwandeln des Produkts in Geld, der Verkauf“, der bei der „Warenproduktion […] conditio sine qua [non]“ ist (MEW 26.2, 509 [Hervh. i.O.]), scheitert, womit der Wert nicht vollständig oder nicht rechtzeitig in Geld transformiert wird. Die „Nichtrealisierung einer ganzen Reihe von Zahlungen, die auf dem Verkauf dieser bestimmten Ware in dieser bestimmten Frist beruhn“ (ebd., 515 [Hervh. i.O.]), kann eine Kettenreaktion sich verstärkender Stockungen des Zirkulationsprozesses und dadurch der Produktion auslösen. Obgleich solche Krisen damit von kontingenten Faktoren ausgelöst werden können, setzen sie ursächlich eine vorhandene Disproportion zwischen der „Ausdehnung der Märkte“ und „der Ausdehnung der [...] Industrie“ voraus (MEW 9, 98). Unterscheidbar sind Realisierungskrisen, die auf der „Disproportion zwischen der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die einzelnen Produktionssphären“ (MEW 26.2, 521) beruhen, von jenen, die Resultat einer insgesamt unzulänglichen „Konsumtionskraft der Gesellschaft“ sind (MEW 25, 254). Die erste Form resultiert aus dem anarchischen Charakter der Produktion für einen Markt, den konkurrierende Akteure nur bedingt überschauen und über den allein ihre wechselseitige Produktion vermittelt und reguliert wird. Disproportionen im Verhältnis von Produktausstoß, Konsumtion und Akkumulation der verschiedenen Produktionszweige sind unter den dynamischen Bedingungen erweiterter Reproduktion der Normalfall. Sie gleichen sich aber – wie Marx in den Reproduktionsschemata im zweiten Band des Kapitals zeigte – durch kontinuierliche Kapitalverschiebungen zwischen verschiedenen Anlagefeldern diachron aus.34 Komplexität und Ungeplantheit des Gesamtprozesses lassen jedoch Bedingungen des „normalen Verlaufs der Reproduktion […] in eben so viele Bedingungen des anormalen Verlaufs“ mit zahlreichen „Möglichkeiten von Krisen umschlagen“ (MEW 24, 491). Schließlich impliziert bereits Marx vereinfachtes Modell des Reproduktionsprozesses „drei unabhängig voneinander vorgehend[e], aber sich miteinander verschlingende Zirkulationsprozesse“ (MEW 24, 491), durch die der Kauf und Verkauf von Arbeitskraft, von Konsumartikeln und von Produktionsmitteln vermittelt werden müssen. Hinzu kommt im dritten Band die Eigenlogik der

actu als solcher erscheint, ist aus diesen Formen allein nicht zu erklären“ (MEW 26.2, 513). Vgl. MEW 23, 128; vgl. zum Fehlen endogener Krisen in der frühkapitalistischen Konjunktur: Sombart, 1922, II.1, 208-230. 33 Die Produktion des Mehrwerts ist nur der „erste Akt“ eines Prozesses, dessen notwendiger „zweiter Akt“ die Realisierung des Mehrwerts im Verkauf ist. „Geschieht das […] nur zu Preisen, die unter den Produktionspreisen stehn, so ist der Arbeiter zwar exploitiert, aber seine Exploitation realisiert sich nicht als solche für den Kapitalisten, kann mit gar keiner oder nur teilweiser Realisation des abgepreßten Mehrwerts, ja mit […] Verlust seines Kapitals verbunden sein.“ (MEW 25, 254) Vgl. auch MEW 13, 71 sowie MEW 23, 120. 34 Vgl. zur diachronen Herstellung eines dynamischen Gleichgewichts zwischen den Sphären der Produktionsmittelindustrie und der Konsumtionsmittelindustrie: MEW 24, 485-518, v.a. 505ff. In Anlagefelder mit hoher Profiterwartung wird vermehrt investiert. Produktivität und Produktausstoß steigen bis der Markt übersättigt ist und die Preise und damit die realisierten Gewinne sinken. Nun wird Kapital abgezogen und in andere, gewinnträchtige Felder verschoben. Dieser Ausgleichungsprozess zwischen verschiedenen Produktionssegmenten geht auch ohne massive Krisenausprägung permanent vonstatten.

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Zirkulation des Finanz- und Aktienkapitals, die in Form von Spekulationsblasen auch die Verteilung des Kapitals auf die realwirtschaftlichen Produktionssegmente wesentlich mitbestimmt und dabei kurzfristige Anlageentscheidungen in wachsendem Maße unabhängig von realen gesellschaftlichen Produktions- und Konsumbedürfnissen macht (vgl. MEW 25, 350-606). Wird zum Beispiel auf neue technologische Leitprodukte mit hoher Profiterwartung spekuliert, kann eine Überinvestition in die Produktionsmittelindustrie eine allgemeine Expansionskonjunktur einleiten. Wird langfristig aber nicht genügend verkauft, müssen Teile dieser Produktion stillgelegt werden. Zulieferer können ihre Waren nicht mehr absetzen und schränken ebenfalls die Produktion ein, was auch die „Zirkulationsagenten“ (Zwischenhändler, Spediteure etc.) in die Krise zieht. Durch Freisetzung von Arbeitern und Lohnsenkungen geht der Absatz der Konsumgüterindustrie zurück. Die noch liquiden Anleger halten wegen drohender Negativbilanz, statt zu investieren, Geld für bessere Zeiten zurück, was zu weiteren Stockungen führt. Die Fehlspekulation in einem wesentlichen Produktionszweig hätte so eine allgemeine Krise ausgelöst: „Damit eine Krise allgemein sei, genügt es, daß sie die leitenden Handelsartikel ergreife.“ (MEW 26.2, 506) Treten keine anderen Faktoren (z.B. staatliche Erhaltungsinterventionen) hinzu, wird aus dem Segment, in das zu viel investiert wurde, nun Kapital abgezogen, und in andere Segmente übertragen. In dieser Form stellt sich in der kapitalistischen Produktion kein synchrones, aber in diachroner Perspektive ein dynamisches Gleichgewicht her, um das die Disproportionalitäten schwanken (vgl. MEW 24, 342; Sweezy 1970, 65ff. & 187ff.). Dabei bewirkt in einer Gesellschaft, in der die Verteilung von Kapital und Arbeit ungeplant ist, „die Krise selbst eine Form der Ausgleichung“ (MEW 26.2, 522), in der „die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt“ (MEW 25, 267). Diese Ausgleichsfunktion35 macht übrigens im realen Kapitalismus Tugan-Baranowskys Vision eines von Arbeitskraft und Lohnkonsum entkoppelten reinen Produktionsmittelkapitalismus, in dem Maschinen Maschinen produzieren, um Maschinen zu produzieren, äußerst unwahrscheinlich.36 Von diesen Krisen, deren Funktion der Ausgleich von Disproportionen zwischen verschiedenen Anlagefeldern ist, sind jene Krisen zu unterscheiden, die aus einer all-

35 Ausgleich erfolgt, da „das Steigen oder Sinken des Marktwerts infolge dieser disproportion transfer und withdrawal of capital from one trade to the other, migration of capital of one trade to the other zur Folge hat“ (MEW 26.2, 522). 36 In Tugan-Baranowskys Vision würde am Ende ein letzter Arbeiter „die ungeheure Masse von Maschinen in Bewegung setzten“, die dann selbst „neue Maschinen […] herstellen. Die Arbeiterklasse wird verschwinden, was nicht im Mindesten den Verwertungsprozeß des Kapitals stören wird.“ Würden nun die Kapitalisten ihre „Konsumtion einschränken“, würde „ein noch größerer Teil des gesellschaftlichen Produkts zur Produktion von Produktionsmitteln dienen […] und so ad infinitum“. (Tugan-Baranowsky 1905, 230) Vergessen wird in dieser Vision der Produktion um der Produktion willen, dass im kapitalistischen Verwertungsprozess die Produktion nur Vermittlungsglied einer Wert(ab)schöpfung ist, die den Endkonsum notwendig voraussetzt. Absatzkrisen in der Konsumtionsmittelindustrie, in der keine Nachfrage nach selbstbezüglichen Produktionsmitteln besteht, halten die Produktion auf einem anderen Kurs.

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gemeinen Disproportion von Produktions- und Konsumtionskraft resultieren. Zwar ist der immanente Selbstzweck der Kapitalverwertung die „Vermehrung des abstrakten Reichtums“ (MEW 26.1, 377f.), die mit dem Konsum von Gebrauchswerten an sich nichts zu tun hat. Realisiert wird dieser Reichtum als Gewinn aber erst, wenn der produzierte Mehrwert auf dem Markt in Geldform realisiert wird. Dafür bleibt der Kauf zu Konsumzwecken vorausgesetzt. Zwar existiert auch eine „beständige Zirkulation […] zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital“, in Produktion und Verkauf von Produktionsmitteln, die insofern „unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht“, letztlich ist aber auch diese „definitiv begrenzt“, da „die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst wegen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn.“ (MEW 25, 316f.) Können die Produzenten von Konsumgütern ihre Ware nicht mehr absetzen, sinkt langfristig auch ihre Nachfrage nach Produktionsmitteln. In diesem Sinne produziert auch hier in letzter Instanz die „Konsumtion die Produktion“, indem sie das „Produkt auflöst“, ihm dabei „erst den finishing stroke“ gibt und zugleich „das Bedürfnis neuer Produktion schafft“ (MEW 13, 623). Die Krisen entspringen dabei nicht aus dem Verhältnis von Angebot und Bedürfnissen – die mit der Produktion wachsen –, sondern aus dem Verhältnis des Angebots zu einer zahlungsfähigen Nachfrage (vgl. MEW 24, 409), die unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen klare Grenzen hat. Indem die Löhne zugunsten der Profitrate niedrig gehalten werden, bleibt die Konsumtionskraft der Gesellschaft stets niedriger als die Produktionskapazitäten. Ein prozessierter Widerspruch der Kapitalverwertung besteht so zwischen den Bedingungen der Produktion und denen der Realisierung des Mehrwerts. Einerseits strebt die kapitalistische Produktion dahin, „möglichst viel Surplusarbeit zu akkaparieren“, also mit gegebenem Kapital möglichst viel Mehrwert in Waren zu materialisieren, und ist daher wesentlich „Produktion ohne Rücksicht auf die Schranke des Markts“ (MEW 26.2, 522), andererseits und zugleich reproduziert sie diese Schranken, indem sie die Konsumtionskraft der Massen niedrig hält (vgl. ebd. 535). In einer zur weiteren Ausarbeitung vorgesehen Notiz im zweiten Band des Kapitals formulierte Marx prägnant: „Widerspruch in der kapitalistischen Produktionsweise: Die Arbeiter als Käufer von Ware sind wichtig für den Markt. Aber als Verkäufer ihrer Ware – der Arbeitskraft – hat die kapitalistische Gesellschaft die Tendenz, sie auf das Minimum des Preises zu beschränken. […] [D]er Verkauf der Waren, die Realisation des Warenkapitals, also auch des Mehrwerts ist […] begrenzt, nicht durch die konsumtiven Bedürfnisse der Gesellschaft überhaupt, sondern durch die konsumtiven Bedürfnisse einer Gesellschaft, wovon die große Mehrzahl stets […] arm bleiben muß.“ (MEW 24, 318, Fn. 32)

Periodische Unterkonsumtionskrisen treten als Ausdruck dieses Widerspruchs auf, nicht weil alle Bedürfnisse erfüllt wären, sondern da „die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse“ bei der „Masse der Gesellschaft [...] reduziert“ ist (MEW 25, 254). Temporär kommt so die Produktion „zum Stillstand, nicht wo die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern wo die Produktion und Realisierung von Profit diesen Stillstand gebietet“ (ebd., 269).

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Allerdings vertrat Marx keine simple Unterkonsumtionstheorie, der zufolge die Arbeiterklasse einen zu geringen Teil des Produkts erhalte und den Krisen durch höhere Löhne abzuhelfen sei – eine (verständlicherweise) bei Gewerkschaften beliebte Fassung. Gegen solche (heute unter dem Banner von Keynes fechtende) „Ritter vom gesunden und ‚einfachen‘ (!) Menschenverstand“ betonte Marx: „Es ist eine reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten, als zahlende, kennt das kapitalistische System nicht […]. Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden […]. Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. […] Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.“37 (MEW 24, 409f.)

Krisen bilden in dieser Perspektive nur ein Stadium des ökonomischen Zyklus, in dem ihnen eine Phase allgemeiner Überproduktion vorangeht, in der eine vermehrte Nachfrage nach Arbeitskraft auch die Löhne steigen lässt. So sehr dies von der Seite des Konsumtion helfen mag, eine Realisierungskrise zu verzögern, so sehr drücken Lohnsteigerungen auf Seiten der Produktion des Mehrwerts auf die Profitrate und können so den Ausbruch eines anderen Krisentypus beschleunigen, der die dialektische Gegenseite der Unterkonsumtionskrisen bildet: Die Akkumulations- bzw. Überakkumulationskrise. Der Typus der (Über-)Akkumulationskrise ist eng mit dem tendenziellen Fall der Profitrate verknüpft und tritt besonders am Tiefpunkt eines Kondratieffzyklus hervor, nachdem sich die fallende Tendenz längerfristig durchsetzen konnte (s.o. 2.2). Historisch entsprechen dem etwa die Weltwirtschaftskrisen ab 1929 und ab 1974.38 Überakkumulation tritt auf, wo das Kapital im „Verhältnis zur Arbeiterbevölkerung“, soweit gewachsen ist, dass (bei gegebenem Stand der Population und der Produktivkräfte) „weder die absolute Arbeitszeit […] ausgedehnt, noch die relative Mehrarbeitszeit erweitert werden könnte“, womit „das gewachsene Kapital nur ebensoviel oder selbst weniger Mehrwertsmasse produziert als vor seinem Wachstum“ (MEW 25, 262f.). Hier läge eine „Überproduktion von Kapital“ (ebd., 263) im Bezug auf den Zweck der Kapitalverwertung vor, da eine weitere Investition die Rate und Masse des Profits nicht erhöhen, sondern mindern würde.39 Kriseninduzierend wirkt dies

37 Historisch arbeitet dies etwa auch Braudel (vgl. 1986, Bd. 3, u.a. 611-692) heraus. 38 Vgl. zu einer – trotz überzogener Revolutionsemphase – prägnanten Erklärung dieser Weltwirtschaftskrisen mit marxschen Mitteln: Mandel 1987b. Auf Grundlage von Marx und Keynes interpretiert der Volkswirtschaftler Klaus Peter Kisker (vgl. 1997; 2007) die Konstellationen seit Mitte der 1970er Jahre als Phase struktureller Überakkumulation. Im Kontext historischer Veränderungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung s.u. IV. 39 Den Fall der Profitrate könnte in dieser Situation eine „absolute Abnahme der Profitmasse“ begleiten, wenn „die Masse der angewandten Arbeitskraft nicht vermehrt und die Mehr-

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einerseits durch den Nachfragerückgang für Produktionsmittel, der zu Absatzkrisen in der Produktionsmittelindustrie führt, andererseits da ein Teil des akkumulierten Kapitals brachgelegt werden muss, um den anderen Teilen bessere Verwertungsbedingungen zu bieten, was zu einer verstärkten Verdrängungskonkurrenz führt. Neues Kapital müsste „das schon fungierende Kapital aus seiner Position verdrängen […], um sich überhaupt zu verwerten“, während andere Kapitale „durch den Druck des unbeschäftigten […] Kapitals sich zu niedrer Rate des Profits verwerten“. So tritt ein „Konkurrenzkampf “ ein, in dem die „alten fungierenden Kapitalisten“ Neukapital „brachliegen lassen, um ihr Originalkapital nicht selbst zu entwerten und seinen Platz innerhalb des Produktionsfeldes nicht zu verengen“, oder Kapital einsetzen, „um selbst mit momentanem Verlust die Brachlegung des zusätzlichen Kapitals auf die […] Konkurrenten zu schieben.“ (MEW 25, 263f.) Kisker (vgl. 2007, 336f.) erklärt daraus etwa den seit den 1970er Jahren sichtbaren Rückgang der Realinvestitionsquote sowie den Umstand, dass Kapital, statt zur Erweiterung von Produktionskapazitäten, vermehrt für Firmenaufkäufe verwendet wird, bei denen primär die Marktanteile interessieren, während „Mitarbeiter und Maschinen“ eher als „eine lästige Dreingabe“ (ebd., 336) erscheinen. Da Überakkumulationskrisen üblicherweise in einer Phase der Überhitzung der Wirtschaft eintreten, die durch das auftreten von Spekulationsblasen (s.u.) noch verlängert wird, ist der „Umschlagpunkt der Konjunktur“ meist „im weiterlaufenden Boom ‚verschleiert‘“ (Mandel 1987b, 241). Durch die hohe Beschäftigungs- und Lohnquote in dieser Periode sind aber die hohen Löhne tatsächlich ein Faktor des rapiden Falls der Profitrate, welcher den Umschlag zur Krise einleitet.40 Ebenso wenig wie reine Unterkonsumtionstheorien, etwa im Anschluss an Rosa Luxemburg (vgl. 1975), ist freilich das gegenteilige Extrem der (sich ebenfalls auf Marx berufenden) Profit-Squeeze-Theorien geeignet, die Krisen adäquat zu begreifen.41 Machen erstere zu niedrige Löhne für die Krisen verantwortlich, erklären letztere sie aus zu hohen Löhnen und missverstehen so den „Sturmvogel“ (MEW 24, 410), also den Vorboten, als Ursache der Krise. Wie in den sich zu diesen antagonistischen Marxismen komplementär verhaltenden Extremen der nachfrageorientierten (Keynes 1936) und der

wertrate nicht gesteigert, also auch die Masse des Mehrwerts nicht vermehrt werden könnte. Und die verminderte Profitmasse wäre zu berechnen auf ein vergrößertes Gesamtkapital.“ Aber selbst einer konstanten Profitmasse würde „ein gewachsnes Gesamtkapital“ gegenüber stehen, was „einen Fall der Profitrate ein[schließt]. Wenn ein Gesamtkapital von 1.000 einen Profit von 100 abwarf und nach seiner Vermehrung auf 1.500 ebenfalls nur 100 abwirft, so wirft im zweiten Fall 1.000 nur noch 662/3 ab. Die Verwertung des alten Kapitals hätte absolut abgenommen. Das Kapital = 1.000 würde unter den neuen Umständen nicht mehr abwerfen als früher ein Kapital 6662/3.“ (MEW 25, 262) 40 Der „plötzliche Fall“ der Profitrate am Umschlagpunkt ist nicht der höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals (c/v) geschuldet, sondern dem „Steigen im Geldwert des variablen Kapitals (wegen der gestiegnen Löhne) und der ihr entsprechenden Abnahme im Verhältnis der Mehrarbeit zur notwendigen Arbeit.“ (MEW 25, 262) 41 Indem Profit-Squeeze-Theorien Löhne einseitig als Abzug vom Profit betrachten und für den Rückgang der Investitionstätigkeit, aus dem die Krise resultiere, verantwortlich machen, ignorieren sie u.a. die Funktion des Lohnkonsums für den Absatz, die Möglichkeit des gleichzeitigen Steigens von Lohn und Profitrate bei steigender Arbeitsproduktivität und die Vielfältigkeit und Ambivalenz der von Marx herausgearbeiteten Krisenkonstellationen. Vgl. hierzu kritisch auch: Henning 2005, Mandel 1987b.

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angebotsorientierten (neoliberalen) Wirtschaftstheorie und -politik (s.u. IV.6f.) werden damit Aspekte vereinseitigt, die bei Marx Momente eines integrativen, organischen Zusammenhangs bilden. Die Faktoren von Konsumtionskraft und Akkumulationskapazität, von Lohn- und Profitrate und die entsprechenden Krisentypologien lassen sich nur in abstracto unterscheiden. In der Realität stehen sie in komplexen Wechselwirkungen in einer Prozesslogik, die als verallgemeinerte Warenproduktion für den Profit gleichzeitig wachsende Produktion des Mehrwerts und wachsende Konsumtionskraft zu seiner Realisierung auf dem Markt erfordert. In Phasen des Booms und der Überhitzung sind dabei die Überproduktion von Waren (im Verhältnis zur Konsumtionskraft der Gesellschaft) und die Überproduktion von Kapital (im Verhältnis zu den Erfordernissen seiner rentablen Verwertung) zwei korrelative und untrennbare Phänomene. Schon insofern der stoffliche Inhalt des konstanten Kapitals, die Produktionsmittel, ihrerseits als Waren produziert werden, schließt die „Überproduktion von Kapital stets Überproduktion von Waren ein“ (MEW 25, 261; vgl. ebd. 266). Zugleich ist die Verwertung des Kapitals nur durch immer weitere Warenproduktion möglich, womit jede Überproduktion von Kapital letztlich notwendig auch in eine Überproduktion von Konsumwaren mündet (vgl. MEW 26.2, 293ff.). Ausgeprägte Krisen sind damit immer zugleich Unterkonsumtions- und Überakkumulationskrisen. Sie können deshalb nicht durch Drehen an der Stellschraube des Lohns in die eine oder andere Richtung überwunden werden, da das, was die Krise nach der Konsumtionsseite lindert, sie nach der Seite der Überakkumulation verschärft und vice versa. Der Antagonismus zwischen den Bedingungen der Produktion und der Realisierung des Mehrwerts ist der Logik profitorientierter Warenproduktion inhärent und kann innerhalb der kapitalistischen Produktion nicht gelöst, sondern nur prozessiert werden. Innerhalb dieses Prozesses gibt es an keinem Punkt ein synchrones Gleichgewicht von Produktions- und Konsumtionskraft, aber eine diachrone Dynamik der Ausgleichsbewegungen, als deren wesentliches Moment die Krisen fungieren, die jene Bedingungen herstellen, die eine neue Phase der Prosperität, d.h. der Überproduktion ermöglichen, die in einer neuen Krise resultiert. Insofern skizzierte Marx keine reine Krisentheorie, sondern eine Theorie des „ganzen Konjunkturzyklus“ (Sweezy 1970, 184; vgl. Schumpeter 1971, 337ff.), aus dem auch die Ursachen und Funktionen der Krisen erst verständlich werden. Idealtypisch verläuft ein solcher Zyklus wie folgt: In „Perioden mittlerer Lebendigkeit“ steht die Profitrate relativ günstig, eine große Menge akkumulierten Kapitals sucht nach neuen Verwertungsmöglichkeiten, die Löhne stehen relativ niedrig, die Reservearmee bietet ein Reservoir freier Arbeitskraft. In der folgenden Phase allgemeiner Prosperität befördert die erhöhte Investitionstätigkeit eine akzelerierende Progression der Akkumulationsrate. Die Produktion wird ausgedehnt, Kapital in neue Maschinen und neue Arbeitskraft investiert, was dadurch begünstigt wird, das „diese flotte Geschäftszeit zugleich die Periode des elastischsten und leichtesten Kredits“ ist (MEW 25, 463). Die folgende „Produktion unter Hochdruck“ befördert durch wachsende Nachfrage nach Lohnarbeit ein Steigen der Löhne und des allgemeinen Lebensstandards: In der „Prosperitätsperiode“ und „ihrer Schwindelblüte […] steigt die Konsumtion […]; die Arbeiterklasse […] nimmt auch momentanen Anteil an der Konsumtion ihr sonst unzugänglicher Luxusartikel“ (MEW 24, 409). Die steigende

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Konsumtionskraft, sowohl für Produktionsmittel als auch für Güter des Massen- und Luxuskonsums, sowie ein expandierendes Dienstleistungsgewerbe heizt die Konjunktur zusätzlich an (vgl. MEW 25, 462f.). Dennoch wachsen die Reallöhne langsamer als die Produktivität.42 Während so „die Masse des produzierten Mehrwerts sich steigern würde, steigert sich eben damit der Widerspruch zwischen den Bedingungen, worin dieser Mehrwert produziert, und den Bedingungen, worin er realisiert wird“ (ebd., 255). Der Gütermarkt wird mit Waren überflutet, die keinen Absatz mehr finden, der Finanz- und Aktienmarkt mit Wechseln auf die zukünftige Produktion und Realisierung von Mehrwert, die realwirtschaftlich nicht mehr gedeckt sind (vgl. ebd., 501f. & 507). So wirken die Phasen, „worin die kapitalistische Produktion alle ihre Potenzen anstrengt, […] als Epochen der Überproduktion; weil die Produktionspotenzen nie so weit angewandt werden können, daß dadurch mehr Wert nicht nur produziert, sondern realisiert werden kann.“ (MEW 24, 318, Fn. 32) Zugleich nähert sich der Prozess dem Punkt der Überakkumulation, da auf dem gegebenen Stand von Technik und Arbeitsorganisation der relative Mehrwert nicht mehr steigerbar ist und zusätzlich die hohe Lohnrate auf die Profitrate drückt. Da eine weitere Ausdehnung der Produktion zu den erwarteten Rentabilitätsbedingungen nicht mehr möglich ist, gehen nach der Phase der Überinvestition die Realinvestitionen zurück. Da das unbeschäftigte Kapital sich nun vermehrt in Spekulationsgeschäfte mit höheren Gewinnerwartungen wirft, die den Boom verlängern, befinden sich die Handlungsagenten und Experten gleichwohl in fortgesetzter Wachstumseuphorie und bestreiten jede Möglichkeit einer neuen Krise. Schließlich „kompliziert sich […] durch Warengeschäfte zum Zweck der bloßen Wechselfabrikation der ganze Prozeß so sehr, daß der Schein eines sehr soliden Geschäfts und flotter Rückflüsse“ fortexistiert, obwohl diese Rückflüsse „nur noch auf Kosten teils geprellter Geldverleiher, teils geprellter Produzenten gemacht“ wurden. Entsprechend scheint „gerade unmittelbar vor dem Krach“ den Handlungsagenten „das Geschäft fast übertrieben gesund“ (MEW 25, 501f.; vgl. MEW 7, 219f.), während die Bedingungen des Krisenausbruchs indes alle vorbereitet sind.43 Wird die Krise, in welcher Form auch immer, manifest, läuten keineswegs die Sterbeglocken des Kapitalismus, vielmehr setzt jener Ausgleichungsprozess ein, in dem die akute Krise und mögliche Anschlussphasen ökonomischer Depression jene „Agentien“ bereitstellen, die als „Heilmittel“ wirken (vgl. MEW 25, 265), um die der „‚gesunden‘ Bewegung der kapitalistischen Produktion entsprechenden Verhältnisse“ herzustellen (ebd., 263). Die „Reinigungskrise“ (ebd., 264) vernichtet und entwertet überschüssiges Kapital und veraltete Produktionsmethoden, um Raum für eine Wiederaufnahme der Kapitalverwertung auf höherem Niveau zu schaffen. Die allgemeine Produktionsstockung erhöht die Arbeitslosigkeit und setzt die Beschäftigten in Verhältnisse, in denen sie „eine Senkung des Arbeitslohns, selbst unter den Durchschnitt“, akzeptieren, was die Mehrwert- und Profitrate gesunden lässt. Zugleich ge-

42 Da Lohn und Profit voneinander abhängige Größen sind, kann der Lohnanstieg die Produktivitätssteigerung nie „aufsaugen, ohne mit dem kapitalistischen Verwertungsinteresse […] in Konflikt zu geraten“ (Henning 2005, 85). 43 Auch Alan Greenspan glaubte vor Ausbruch der Finanzkrisen von 2008, dass die Immobilienblase schlimmstenfalls etwas „Schaum“ auf lokalen Märkten verursachen könne (zit. in: Krugmann 2009, 177).

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ben ein allgemeiner „Preisfall“ und ein verschärfter „Konkurrenzkampf […] jedem Kapitalisten einen Stachel [...], den individuellen Wert seines Gesamtprodukts durch Anwendung neuer Maschinen, [...] verbesserter Arbeitsmethoden, neuer Kombinationen unter dessen allgemeinen Wert zu senken, d.h. die Produktivkraft eines gegebnen Quantums Arbeit zu steigern“ (ebd., 265). Daher begünstigen Krisen die Durchsetzung wesentlicher technologischer und organisatorischer Innovationen, die eine Revolution der Produktivkräfte und eine Steigerung des relativen Mehrwerts vorbereiten.44 Zugleich füllt dies das Reservoir der relativen Überbevölkerung, also der zu Niedriglöhnen verfügbaren Arbeitskräfte, zusätzlich auf. Auch schlösse die mit der Verallgemeinerung neuer Technologien verbundene „Entwertung der Elemente des konstanten Kapitals“ selbst eine „Erhöhung der Profitrate“ ein, da die Masse fungibler Produktionsmittel steigt, aber ihr „Wert“ fällt, die Technologien also wohlfeiler werden. Insgesamt hätte die Krise so die „Erweiterung der Produktion […] vorbereitet“ (MEW 25, 265) und generelle Tendenzen zur wachsenden Konzentration und zur wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals verstärkt, da primär Unternehmen mit geringem konstanten Kapital und veralteter Technik vom Markt gefegt werden. Der bereinigte Markt schafft den verbliebenen Kapitalien optimierte Bedingungen, so dass „mit erweiterten Produktionsbedingungen, mit einem erweiterten Markt und mit erhöhter Produktivkraft derselbe fehlerhafte Kreislauf wieder durchgemacht“ (ebd.) wird, aber auf einer gegenüber dem Ausgangsniveau erweiterten Stufenleiter. Trotz der Beurteilung des Zyklus als fehlerhaft, bietet Marx eine Erklärung periodischer Krisen als funktionales Element einer kapitalistischen Ökonomie. Neben der Ausgleichsfunktion, durch die gerade die Krisen den inneren Zusammenhang der gegeneinander verselbständigten und intern unregulierten Verteilungssysteme (von Arbeitskraft, Produktionsmitteln, Kapital, Mehrwert, Konsumwaren, Kaufkraft) herstellen,45 übernehmen sie katalysatorische Funktionen zur Forcierung der Innovations- und Wachstumsdynamiken. Insofern markieren Krisen einerseits die endogenen Schranken des Kapitalismus auf einer gegebenen Entwicklungsstufe, sind aber zugleich der Kumulationspunkt aller Dynamiken, die diese Schranken verschieben und eine neue, höhere Stufe kapitalistischer Produktion ermöglichen (vgl. auch MEW 25, 506f.). In der Behandlung der Krisen als Entwicklungsmotor der Kapitalverwertung teilt Marx daher mehr mit Sombart (vgl. 1927, III.2, 563-586) oder

44 Zwar wird Kapital in allen Perioden angelegt. In Prosperitätsphasen dominieren aber Erweiterungs- und Erhaltungsinvestitionen um bewährte Techniken und Methoden optimal zu nutzen. „Indessen bildet die Krise immer den Ausgangspunkt einer großen Neuanlage. Also auch die ganze Gesellschaft betrachtet […] eine neue materielle Grundlage für den nächsten Umschlagszyklus.“ (MEW 24, 186) Dass Krisen „ Zeiten namentlich des technischen Fortschritts“ sind, hat Sombart (1922, III.2, hier: 585) auch historisch herausgearbeitet (vgl. ebd., 563-586). 45 „Daß die selbständig einander gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebensosehr, daß ihre innere Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine Krise.“ (MEW 23, 127f.; vgl. MEW 42, 84) Krisen sind „die gewaltsame Geltendmachung der Einheit von Phasen des Produktionsprozesses, die sich gegeneinander verselbständigt haben.“ (MEW 26.2, 510)

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Schumpeter (vgl. 1926; 1961) als mit jenen marxistischen Theorien, die in der Unterkonsumtion ein chronisches Defizit sahen, das schließlich zum Zusammenbruch führe. In der von Rosa Luxemburg, der „Königin der Unterkonsumtionisten“ (Sweezy 1970, 204), vertretenen Deutung, galt der Distributionsantagonismus als nur durch die Eroberung kolonialer Absatzmärkte ausgleichbar. Das System müsse zusammenbrechen, sobald es geographisch nicht mehr expandiere. Diese Imperialismuserklärung vergaß, dass Kolonien immer auch Produktionsstätten waren und eine Ausdehnung der Märkte durch die dem Kapitalismus immanente Wachstumsdynamik auch ohne räumliche Expansion permanent vonstatten geht. Bei Marx bildete vor diesem Hintergrund der prozessierte Widerspruch von Produktion und Konsumtion schon deshalb keine absolute Grenze des Kapitalismus, weil die Konsumtionskraft keine statische Größe ist. Im Schema der erweiterten Reproduktion (vgl. MEW 24, 485518) fand das „Rätsel“, wo „die ständig wachsende Nachfrage her[kommt], die der fortschreitenden Erweiterung der Produktion im Marxschen Schema zugrunde liegt“ (Luxemburg 1975, 102; vgl. auch 132),46 seine Lösung (ohne koloniale Expansion) darin, dass die Konsumtionskraft dem Akkumulationsprozess nicht äußerlich ist, sondern eine seiner endogenen Regelgrößen bildet: Die Akkumulation erzeugt eine wachsende Nachfrage nach Produktionsmitteln und Arbeitskraft, die, indem Zahl und Löhne der Arbeiter steigen, auch die Nachfrage nach Konsummitteln erweitert. Periodische Unterkonsumtionskrisen treten auf, bilden aber in der marktregulierten Ökonomie gerade den Ausgleichsmechanismus, in dem sich in der erweiterten Reproduktion ein turbulentes Gleichgewicht herstellt. In den durch Krisen vorbereiteten Prosperitätsphasen steigt auch die Konsumtionskraft auf ein gegenüber früheren Zyklen höheres Niveau. Die bis heute vertretene Interpretation, der Antagonismus von Produktion und Konsum stelle einen der eskalierenden logischen Selbstwidersprüche des Kapitals dar, die den Kapitalismus (irgendwann) zerreißen müssten (vgl. u.a. Kurz 2001), entspricht nicht der von Marx beschrieben Logik des seine Widersprüche prozessierenden Kapitalverhältnisses, sondern nur der logischen Starrheit der Interpreten. Ebenso verhält es sich mit der Überakkumulation, in der andere Marxisten das ersehnte Zusammenbruchsgesetz suchten, die aber, wie oben gezeigt, das Moment eines dynamischen Zyklus ist, in dem die Krisen (durch Entwertung konstanten Kapitals, Freisetzung von Arbeitskraft, technische Innovationen etc.) neue Akkumulationsschübe vorbereiten.47 Vom Standpunkt der Systemdynamik aus betrachtet, bringen die Krisen also tatsächlich „Segen über Segen […] für den Kapitalismus“ (Sombart 1927, III.2, 586).

46 Dass Luxemburg (vgl. 1975, 50-107) Marx’ erweitertes Reproduktionsschema kaum verstand, zeigt folgende Bemerkung: „Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität.“ (Ebd., 102) Absurd ist aber nur die unterstellte um-zu-Relation. Ziel bleibt in allen Fällen die Verwertung des Kapitals, aber diese führt (im oben dargestellten Sinne) dazu, dass mehr und bessere Produktionsmittel hergestellt werden, die einen höheren Ausstoß von Konsummitteln ermöglichen, die mehr Arbeitskraft billiger erhalten, die zur Herstellung von mehr Produktions- und Konsummitteln angewendet wird. 47 Demgegenüber unterstellt etwa Großmann (vgl. 1929) eine lineare Degression des Mehrwerts, die binnen 35 Jahren dazu führen soll, dass weitere Akkumulation unmöglich ist. „Daher die Katastrophe.“ (Ebd., 178)

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Anders als später Keynes (vgl. 1936) – der bekanntlich fürchtete, dass nach einer schweren Krise der Akkumulationsmotor auch nach der ‚Reinigung‘ des Marktes nicht anspringt und die Wirtschaft sich auf ein negatives Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung und Unterkonsumtion einstellen könne, weshalb der Staat ‚Zündhilfe‘ geben müsse (s.u. IV.6) – vertraute Marx zudem darauf, dass die Krise selbst der Zünder ist, der die Akkumulation wieder auf Touren bringt (vgl. MEW 34, 372). Gleichwohl ging er davon aus, dass die mit dem Fortschreiten der Kapitalakkumulation sich verschärfenden Krisendynamiken auch die sozialen Konflikt- und Veränderungsdynamiken erhöhen würden, die auf eine Aufhebung des Kapitalismus drängen. Krisenverschärfende Tendenzen ergeben sich daraus, dass bei einem progressiven Wachstum, bei dem die Momente des prozessierten Zusammenhangs von Produktion, Akkumulation und Konsumtion zwar gleichermaßen, aber nie gleichmäßig, d.h. in Proportion zueinander wachsen, auch die krisenhaften Ausgleichungen, die den inneren Zusammenhang in der Disproportion herstellen, sich schärfer ausprägen.48 Zusätzlich stellt die bislang ausgeblendete, für einen entwickelten Kapitalismus aber notwendige relative Autonomie des Finanzsektor gegenüber der realwirtschaftlichen Wert(ab)schöpfung einen krisenforcierenden Faktor dar, da hier das anders nicht verwertbare Kapital ständig „auf die Bahn der Abenteuer gedrängt“ wird: „Spekulation, Kreditschwindel, Aktienschwindel, Krisen“ (MEW 25, 261). Spekulations- und Finanzkrisen sind zwar so alt wie der Kapitalismus, blieben aber bis ins 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen begrenzt.49 Erst auf einer hohen Entwicklungsstufe, auf der das Aktien- und Kreditwesen unverzichtbare und bestimmende Funktionen für die kapitalistische Produktion erfüllt,50 gewinnen sie einen prägenden Einfluss auf die Gesamtwirtschaft. Da auf der erreichten Stufenleiter eine ‚realwirtschaftliche‘ Produktion nicht mehr möglich ist ohne die durch den beschleunigten Fluss von Krediten und Anleihen garantierten flexiblen Ausdehnungs- und Verschiebungsmöglichkeiten und kleinere und mittlere Kapitale nur noch auf diesem Weg der Verwertung zugeführt werden können, wird das „fiktive Kapital“ eine bestimmende Größe (vgl. MEW 25, 413-606). Von „fiktivem Kapital“ sprach Marx, da

48 Kapitalkonzentration und Massenproduktion steigern den Widerspruch zwischen Produktionskapazität und Konsumtionskraft. Die Vermehrung der Vermittlungsschritte zwischen Produktion und Konsum erhöht die Unübersichtlichkeit des Marktes, so dass jede Produktion ein Spekulationsgeschäft mit steigendem Risiko von Disproportionskrisen wird (vgl. MEW 25, 254ff.). Bei längerfristigem Fall der Profitrate können Überakkumulationskrisen in Depressionen münden, in denen längerfristig große Kapitale brach liegen und zugleich große Teile der Bevölkerung außer Lohn bleiben, was wieder die Konsumtionskraft beschneidet (vgl. ebd., 261ff.; Keynes 1936). 49 Die erste bekannte Überspekulationskrise, die „Tulpenmanie“ von 1637, zeigte zwar bereits alle bis heute bekannten Muster einer Spekulationsblase, blieb aber auf Amsterdam beschränkt. Vgl. hierzu ausführlich: Dash 1999; zur geringen Wirkung der Spekulationskrisen auf die Gesamtwirtschaft im Frühkapitalismus: Sombart 1922, II.1, 215ff. 50 Über die Kapitalkonzentration durch Zusammenfassung aller möglichen Geldkapitale – vom Reservefond von Einzelunternehmen bis zum Kleinstersparnis (vgl. MEW 25, 416f.) – hinaus, verringert der entwickelte Finanzsektor auch die Zirkulationskosten, da hier große Kapitalbewegungen ohne Umweg über den ‚realen‘ Geldumlauf durch wechselseitige Verrechnung von Obligationen oder durch ein eigenes Kredit- und Rechengeld, bewältigt werden. Das ermöglicht zugleich eine enorme Beschleunigung der Kapitalverschiebung zwischen verschiedenen Produktionssegmenten und Nationen (vgl. ebd., 451ff.).

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es sich hier letztlich um Schuldscheine, um „akkumulierte Ansprüche, Rechtstitel, auf künftige Produktion“ handelt, „deren Geld- oder Kapitalwert entweder gar kein Kapital repräsentiert […] oder von dem Wert des wirklichen Kapitals, das sie vorstellen, unabhängig reguliert wird“ (ebd., 486). In dem Maße, wie dieses „fiktive Kapital seine eigene Bewegung“ gewinnt, geht jede Einsicht in den „Zusammenhang mit dem wirklichen Verwertungsprozeß“ verloren, da es hier die Schuldscheine auf die Zukunft von Produktion und Konsum sind, die sich zu verwerten scheinen. In diesem höherstufigen Fetischismus, der das Bild des Kapitals als „sich durch sich selbst verwertenden Automaten befestigt“ (ebd., 483f.), gilt schließlich die höherpotenzige „Akkumulation von Schulden als Akkumulation von Kapital“, da auch die „papiernen Duplikate von vernichtetem Kapital“ soweit als Kapital fungieren als sie handelbare Waren sind (ebd., 493f.). So stieg etwa im Fall der jüngsten Immobilienblase der Handelswert der Derivate noch fröhlich weiter, als klar war, dass große Teile der Kreditnehmer ihre Obligationen nicht bedienen können und durch den Anstieg von Zwangsverkäufen auch die Immobilienpreise fallen würden, womit das ‚fiktive Kapital‘ von keiner Seite mehr gedeckt war (vgl. u.a. Krugmann 2009, 174ff.). Für Marx bildeten solche Erscheinungen den Normalfall entwickelter kapitalistischer Ökonomien, in denen der „Wertbetrag“ von „nominellen Repräsentanten nicht existierender Kapitale“ in verschiedenen Kapitalderivationen „ganz unabhängig von der Wertbewegung des wirklichen Kapitals, auf das sie Titel sind“, reguliert wird (ebd., 494.). Je höher der kapitalistische Entwicklungsstand, desto mehr gilt gesellschaftlich, wie für einzelne Handlungsagenten, dass das „Kapital selbst, das man wirklich oder in der Meinung des Publikums besitzt, [...] nur noch die Basis zum Kreditüberbau“ (ebd., 454f.) darstellt, in dem die Bewegung der nominellen Werte primär durch Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen der Spekulationsagenten bestimmt ist. Da auf globalen Märkten die Interdependenzketten immer länger und unübersichtlicher werden, muss „das spekulative Element mehr und mehr die Transaktionen beherrschen“ (ebd., 498). In sich selbst verstärkenden Erwartungsschleifen vermehren sich die nominellen Kapitalwerte gegenüber dem real fungierenden Kapital dabei um ein Mehrfaches.51 Im Unterschied zur neoklassischen Ökonomie oder zur ihr darin folgenden Soziologie (vgl. u.a. Luhmann 1988b) sah Marx allerdings in diesem Bereich zwar endlose Möglichkeiten individueller Bereicherung, aber keine ‚Wertschöpfung‘. Innerhalb des Spekulationsgebäudes, das sich über einer Basis produktiver Wertschöpfung auftürmt, können sich die Zahlenausdrücke des „illusorischen Kapitalwerts“ (MEW 25, 486) vom „Wert des wirklichen Kapitals, das sie wenigstens teilweise vorstellen“ (ebd., 487), ebenso weit entfernen, wie die „akkumulierten Ansprüche“ (ebd., 486) auf Zins und Rendite aus entsprechenden Papieren von der wirklichen Akkumulation, sie bleiben aber faktisch dennoch nicht mehr und nicht weniger als „Rechtsansprüche auf einen Teil […] des zu erwerbenden Mehr-

51 Marx spricht noch vom Drei- bis Fünffachen. Vor dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 überstieg der weltweite Derivatenhandel den Handel mit Gütern und Dienstleistungen um das Hundertfache (vgl. Klein 2008, 94). Dass Arbeit Voraussetzung der Wertschöpfung ist, schließt nicht aus, dass individuelle Gewinne mit rein spekulativen Transaktionen „erwirtschaftet“ – oder besser gesagt angeeignet – werden, ohne durch Produktion und Realisierung von Warenwert gedeckt zu sein (vgl. MEW 25, 413-428, 483ff. & 557), aber gerade dies führt die Krise herbei. Vgl. hierzu auch: Altvater 2005.

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werts“ (ebd., 494). Dieser Mehrwert muss, damit er dauerhaft angeeignet werden kann, letzten Endes aus einem realen Produktions- und Distributionsprozess hervorgehen. Wie sich in einem ohne Rücksicht auf die Statik errichteten Gebäude „das Gesetz der Schwere [durchsetzt], wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt“ (MEW 23, 89), setzt sich durch diese innere Abhängigkeit vom Fundament des wirklichen Akkumulationsprozesses auch im Spekulationsüberbau das Wertgesetz durch, indem gegen die „äußere Selbständigkeit“ der (Finanz-)Märkte der „innere Zusammenhang“ mit der realen Wertschöpfung „gewaltsam, durch eine Krise, wiederhergestellt wird“ (MEW 25, 316). Der krisenhafte Ausgleich der Disproportionen zwischen ‚fiktivem‘ und ‚wirklichem Kapital‘ kann durch höherstufige Finanzderivate oder günstige Umstände, in denen eine Spekulationsblase direkt durch eine andere Blase abgelöst wird, verzögert werden, setzt sich aber letztlich im „Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geldkapital“ (MEW 25, 486) auf den Finanz- und Aktienmärkten durch.52 Da dies in „einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht“ (ebd., 507), eine allgemeine Krise einleiten kann, die sich zuerst im Finanzsektor zeigt, erscheint die „Überspekulation […] der oberflächlichen Betrachtung als Ursache der Krise“ (MEW 7, 421). Gegenüber entsprechenden Debatten zur Krise ab 2008, in denen die, von der produktiven „Realwirtschaft“ vermeintlich abgekoppelte, destruktive „Finanzwirtschaft“ als „Ursache der Finanzkatastrophe“ gegeißelt wurde (Beck 2010), zeigt Marx aber die strukturellen Verschlingungen, in denen im entwickelten Kapitalismus „Realwirtschaft“ und „Finanzwirtschaft“ untrennbar miteinander verkoppelt und in ihrer Existenz einander vorausgesetzt sind. Auch in den Krisendynamiken fungieren diese verselbständigten Kapitalfunktionen nur als in Wechselwirkung stehende Momente derselben Prozesslogik (vgl. Shaikh 1987, 118f.). Die finanzwirtschaftliche Vermittlung der Kapitalströme ermöglicht erst die realwirtschaftlichen Expansionskonjunkturen, in denen die Produktion über die jeweiligen „kapitalistischen Schranken des Produktionsprozesses“ hinausgetrieben wird (MEW 25, 507). Hier ist die Überspekulation nur ein Moment und Symptom der eine Krise vorbereitenden Überproduktion,53 während sie im Fall einer längerfristigen realwirtschaftlichen Stagnationsphase nur eine notwendige und

52 Im Derivaten-Handel führt der Umstand, dass z.B. die zugrunde liegenden Hypothekenschulden, nicht bedient werden können, solange nicht zur Implosion der Blase, wie Anteile an den Schuldscheinen noch mit Gewinn weiter verkauft werden können, was nicht verhindert, dass die letzten Käufer von der Entwertung der Zertifikate getroffen werden (vgl. Henning 2005, 180f., Fn. 150). Wenn eine Blase platzt, kann eine allgemeine Krise abgefangen werden, wenn sich eine neue Blase hinreichend aufgebaut hat, um das von Entwertung bedrohte Kapital vorläufig aufzunehmen, was die hinausgezögerte Krise aber nur verschärft. Dies war der Fall bei der Ablösung der Aktienblase der 1990er Jahre durch die Immobilienblase ab 2001 (vgl. Krugmann 2009, 170-179). 53 Die Spekulation nimmt in Perioden der Überproduktion zu und öffnet die „momentanen Abzugskanäle“, um die Produktion jenseits realwirtschaftlicher Konsum- und Akkumulationskapazität am Laufen zu halten. Obwohl die „Überspekulation“ hier „selbst nur ein Symptom der Überproduktion“ war, stellt sich die Sache in der Erscheinung verkehrt dar, da die „Krise selbst“ zuerst „auf dem Gebiet der Spekulation“ ausbricht: „Zerrüttung der Produktion erscheint nicht als notwendiges Resultat ihrer eignen vorhergegangenen Exuberanz, sondern als bloßer Rückschlag der zusammenbrechenden Spekulation.“ (MEW 7, 421) Vgl. MEW 25, 264f. & 316; MEW 24, 409f.

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logische Reaktion des sonst brachliegenden Kapitals ist, das nach Verwertungsoptionen sucht. In beiden Fällen können Spekulationsblasen helfen, massenhaft Kapital in den Aufbau von Sektoren zu leiten, die realwirtschaftlich – für den beschränkten Zweck der Kapitalverwertung – zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht rentabel sind, die aber im Hinblick auf die technische Basis für weitere ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen einen realen Fortschritt bewirken: „Die Überproduktion ruft zahlreiche neue Projekte hervor, und das Gelingen einiger weniger davon reicht hin, eine ganze Reihe von Kapitalien in dieselbe Richtung zu werfen, bis der Schwindel nach und nach allgemein wird.“ (MEW 7, 433)

Gesellschaftlich kann dies langfristig positive und produktive Effekte haben, wie Marx sie am Eisenbahnschwindel von 1844 illustrierte (vgl. MEW 25, 424f.). In jüngerer Zeit wäre der Entwicklungsschub im Bereich von Kommunikations-, Informations- und Distributionstechniken durch die ‚dot-com-Blase‘ ein Beispiel. In solchen Fällen wird gerade in „der Periode der Überproduktion und des Schwindels“ die „technische Basis gelegt“, auf der sich der Kapitalismus in folgenden Prosperitätsphasen weiter entwickelt (MEW 25, 507). Indem so privates Kapital in einer für die Eigentümer misslichen, aber gesellschaftlich produktiven Form vernichtet wird, drückt die Überspekulation auch nicht nur den Realitätsverlust der Spekulanten aus. Sie hat eine realistische Basis in der Antizipation dessen, was beim erreichten Stand der Produktivkräfte prinzipiell an Produktivität möglich wäre. Überproduktion und Spekulationsschwindel beweisen für Marx daher nur, dass „kein positives Hindernis der Anwendung dieses überflüssigen Kapitals besteht. Wohl aber ein Hindernis vermöge seiner Verwertungsgesetze, vermöge der Schranken, worin sich das Kapital als Kapital verwerten kann“ (ebd., 523). In diesem Sinne liegt auch bei den Spekulationskrisen der „letzte Grund aller wirklichen Krisen“ in der „Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (ebd., 501).54 Anders als neoklassische Deutungen, die neben der Gewissheit, dass es Spekulations- und Finanzkrisen „theoretisch“ nicht gibt, als Ursache dafür, dass es sie in der unvollkommeneren Realität leider doch gibt, nur „schlichtweg: Gier“ (Thurow 1996, 324) angeben, bietet Marx auch hier eine systematische Erklärung, warum es Finanzkrisen im entwickelten Kapitalismus geben muss. Statt über den „Willen des Kapitalisten […] zu fabeln“ (MEW 16, 105), sind die ursächlichen Faktoren in einer gesellschaftlichen Prozesslogik zu suchen, die in ihrem konkreten Verlauf zwar von individuellen Handlungen getragen wird, in ihrer Grundstruktur aber in der gesellschaft-

54 Diese Seite des Problems ist auch vom keynesianischen Standpunkt sichtbar. So verweist Krugmann (vgl. 2009, v.a. 211-222) darauf, dass ein Faktor hinter der durch das Platzen der Immobilienblase eingeleiteten Krise die generelle „Nachfrageschwäche“ war (ebd., 212ff.). Die nicht mehr bedienbaren Immobilienkredite und Hypotheken waren selbst bereits ein Ausdruck der Tendenz, fehlende Kaufkraft durch kreditbasierten Konsum temporär zu kompensieren.

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lichen Form des Kapitals angelegt ist.55 Zwar wird das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis immer auch von verschiedenen institutionellen Arrangements, staatlichen Interventionen und legislativen Regulierungsformen beeinflusst, die auf die konkreten Ausprägungen, Verlaufsformen und gesellschaftlichen Effekte der Konjunkturen und Krisen einwirken,56 gleichwohl aber lassen sich die Krisen politisch nicht steuern oder abstellen: Krisen können „auf die Spitze getrieben werden durch falsche Gesetzgebung, beruhend auf falschen Theorien vom Geld“, die der Politik auch „durch das Interesse der Geldhändler“ aufgedrängt werden, ihre „Grundlage aber ist gegeben mit der Grundlage der Produktionsweise“ (MEW 25, 532). Diese Unhintergehbarkeit der kapitalistischen Krisenlogik lässt sich kaum auf die „Krisensehnsucht“ und den „angeborenen Vernichtungsdrang“ (Löw 2001, 237) des Autors zurückführen. Gleichwohl besteht ein Zusammenhang zwischen der Krisentheorie und dem revolutionärem Engagement. Marx ging davon aus, dass die sozialen und politischen Folgen von Krisen die Form der kapitalistischen Akkumulation prinzipiell in Frage stellen können und dadurch destabilisierend auf die gesellschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaftsform zurückwirken, die in Perioden der Hochkonjunktur weitgehend unhinterfragt bleiben. In Phasen der „Prosperität, worin die Produktivkräfte […] sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich“ sei, könne von „einer wirklichen Revolution keine Rede sein“, da hier „alle sittliche Entrüstung“ an den Verhältnissen „abprallen“ müsse. Zugespitzt: „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis“ (MEW 7, 440).57 Krisen können in diesem Sinne revolutionäre Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse begünstigen. Diese Veränderungsdynamiken können zusätzlich angereizt werden, wenn die Krisen nicht als unverstandene Naturgewalt erlitten, sondern als Effekte einer gesellschaftlichen und damit historisch veränderbaren Produktionsweise begriffen werden. Auf Aufklärung im letzteren Sinne, nicht auf irgendeine ‚Krisensehnsucht‘ oder ‚Zusammenbruchsprophezeiung‘, zielte Marx’ Krisentheorie.58

55 Wie präzise sich gerade die jüngste Finanzkrise, ohne Moralisieren über das Verhalten der Marktsubjekte, mit marxschen Mitteln erklären lässt, zeigt etwa Michael Heinrich (vgl. 2008a, 2008b; 2009). 56 Auf Ausformungen von Regulationsarrangements, die in Reaktion auf Krisen entstehen, um ihrerseits in Krisen umgewälzt zu werden, wird unten (IV.) in Auseinandersetzung mit Foucaults Analysen zu den Logiken des Regierens eingegangen. 57 Vollständig hieß es 1948: „Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“ (MEW 7, 440; vgl. ebd., 98, 220; MEW 9, 100f., 154ff.) Von der Kausalmechanik dieser Formulierungen von 1850 rückte Marx nach der Analyse weiterer Krisen ab (vgl. u.a. MEW 34, 372). Bezeichnenderweise unterschlug er in einem Selbstzitat obiger Passage 1860 den letzten Satz (vgl. MEW 14, 452). Ein Indikator dafür, dass er sich von der Revolutionsgewissheit verabschiedete, nicht aber vom analytischen Gedanken, Krisen als Möglichkeitsbedingung von Entwicklungen zu sehen, denen man, „wenn man will, revolutionären Charakter“ zusprechen kann (ebd.). 58 Die Aufnahme der Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie 1857 war auch dem praktischen Ziel geschuldet, den in der Wirtschaftskrise dieser Jahre erwarteten revolutionären Bewegungen ein Wissen über die Ursachen verfügbar zu machen (vgl. MEW 29, 225 & 551). Aber auch hier erforderte Marx’ Verständnis wissenschaftlicher Kritik keine Prophezeiungen, sondern eine präzise Analyse. Vgl. MEW 16, 115ff. & 145ff.; MEW 6, 423.

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2.4 „E RWARTET EUCH NICHT ZUVIEL VOM W ELTUNTERGANG“ 59 – D IE G RENZEN DES K APITALISMUS „There is no final crisis until workers are sufficiently […] organized to overthrow the system itself“. ANWAR SHAIKH (1983, 186) „Das Kapital […] wird in seiner praktischen Bewegung durch die Aussicht auf zukünftige Verfaulung der Menschheit […] so wenig […] bestimmt als durch den möglichen Fall der Erde in die Sonne. In jeder Aktienschwindelei weiß jeder, daß das Unwetter einmal einschlagen muß, aber jeder hofft, daß es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Goldregen aufgefangen […] hat. Après moi le déluge! ist der Wahlruf […] jeder Kapitalistennation.“ „Die kapitalistische Produktion entwickelt […] die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ KARL MARX (MEW 23, 285f. & 529f.)

Wenngleich aus Marx’ Theorie der Kapitalverwertung kein Gesetz ableitbar ist, das die endogene Unmöglichkeit des langfristigen Funktionierens des Kapitalismus impliziert, behandelte er die entsprechende Wirtschaftsform als Moment einer historisch vorübergehenden Gesellschaftsformation und trat aktiv für ihre Aufhebung ein. Anders als viele Marxisten aber, die ihre Zusammenbruchsgesetze politisch begründeten,60 unterschied er politische Ziele von wissenschaftlichen Argumenten. Die Reproduktionsschemata wie die Krisentheorie zeigen daher aufwändig, dass und wie „Kapitalismus tatsächlich funktionieren kann“ (Negt/Kluge 1993, Bd. 3, I). Obwohl es aber in Marx’ Theorie keine endogenen Grenzen der Kapitalverwertung gibt, war die Rede von der wahrscheinlichen oder gar notwendigen Überwindung dieser Wirtschaftsform doch mehr als eine theoretisch unhaltbare ‚Vision‘. Anders als dies in

59 Stanizław Jerzy Lec, zit. in: Eco 1989, 61. 60 Großmann (1929, 108) „begründete“ sein Zusammenbruchsgesetz politisch: Unter Annahme „ökonomischer Schrankenlosigkeit der kapitalistischen Akkumulation“ schwinde „dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit“. Luxemburgs Unterkonsumtionstheorie lehnte er ab, stimmte aber zu, dass der „wissenschaftliche“ Nachweis des Zusammenbruchs tagespolitisch notwendig sei. Das ist eine Umkehr der Relation von Wissenschaft und revolutionärer Praxis bei Marx. Sollte Wissenschaft hier helfen, Verhältnisse ohne Rücksicht auf Parteilichkeit aufzuklären, um Grundlagen für Strategien zu suchen (s.o. II.4), stand dort die politische Strategie fest, für die dann ‚wissenschaftliche‘ Fundamente gesucht wurden. Vgl. zu politischen Hintergrundkonstellationen: Sweezy 1970, 225-253; Henning 2005, 31-87. Wie zentral Zusammenbruchstheoreme für marxistische Selbstvergewisserungen bleiben, zeigen die oft scharfen Angriffe auf MarxInterpretationen, die die Notwendigkeit des ‚Zusammenbruchs‘ in Frage stellen. Vgl. u.a. die Kritiken von Trenkle 2000 und Haug 2004 an Heinrich 1991 & 2002.

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nichtmarxistischen Anschlüssen an Marx üblich wurde (vgl. u.a. Dahrendorf 1957; 1999; Schumpeter 1971), können die dort als valide erachteten wissenschaftlichen Analysen nicht strikt von jenen Passagen getrennt werden, die in der bürgerlichen Ökonomie als indiskutable ‚Prophezeiungen‘ ausgesondert wurden (vgl. z.B. MEW 23, 790ff.). Zwar erlaubte diese klare Unterscheidung eine sinnvolle doppelte Distanzierung von den ‚ehernen Geschichtsgesetzen‘ des Marxismus wie von verkürzten Antimarxismen, sie riss aber zugleich alle über die bestehende Gesellschaftsformation hinausweisende Passagen aus ihrem theoretischen Zusammenhang, in dem sie keine „tönenden Phrasen“ (Schumpeter 1971, 336) waren, sondern mögliche Entwicklungspfade markieren. Die Grenzen des Kapitalismus liegen für Marx jedoch nicht in der ökonomischen Prozesslogik, sondern in ihren exogenen sozialen und ökologischen Existenzbedingungen.61 Das Kernargument ist dabei, dass eine ungezügelte, d.h. nicht durch äußere Gegenwirkungen gestörte Verwirklichung der in der Logik der Kapitalverwertung angelegten Tendenzen destruktiv auf die Umweltbedingungen der Akkumulation zurückwirkt. Dabei bleibt historisch offen, ob dies zur „revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft“ führt „oder mit dem gemeinsamen Untergang“ (MEW 4, 462) der Klassen endet, zwischen denen die Konflikte um die Veränderung oder Bewahrung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgetragen werden. Besser als die marxistischen Adepten erfasste der Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel den Kern dieses Arguments, wenn er betonte, der Kapitalismus werde kaum durch „‚endogenen‘ Verfall zugrunde gehen; nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative könnte einen Zusammenbruch bewirken“ (Braudel 1986, Bd. 3, 702). Die der inneren Logik der Kapitalverwertung ‚exogenen‘ Faktoren stehen aber in komplexen Interdependenzbeziehungen mit der Ökonomie, auch wenn sie aus deren Binnenlogik nur begrenzt sichtbar sind. Als gesellschaftliche Form, in der Individuen ihren „Stoffwechsel mit der Natur“ (MEW 25, 824; MEW 23, 192) bewältigen, bleibt die kapitalistische Ökonomie – ungeachtet des Grades der Ausdifferenzierung ihrer relativ autonomen Funktionslogik (s.u.V.3) – eingebettet in ein Ensemble sozialer, politischer, juristischer, ideologischer und natürlicher Existenzbedingungen, auf die sie zurückwirkt. Der Begriff des „Stoffwechsels“ impliziert dabei, dass auch gesellschaftliche Systeme nur als Moment und Teil einer natürlichen Umwelt reproduziert werden können, der sie Stoffe und Energie entnehmen und an die sie Stoffe und Energie abgeben, weshalb ökonomische und soziale Prozesse notwendig auch in ökologische Prozesse eingreifen (vgl. u.a. MEW 23, 192). Arbeit und Arbeitsproduktivität sind zwar genuin gesellschaftliche Größe, gleichwohl kann sich die gesellschaftliche Produktion immer nur im „Reich der Naturkräfte“ vollziehen, die „als das vorgefundene Arsenal aller Arbeitsgegenstände“

61 Luhmanns Systemtheorie formuliert dies durchaus affin: Zur Umwelt der Ökonomie zählen die „ökologischen Bedingungen der Fortexistenz gesellschaftlicher Kommunikation“ (und bei Marx gesellschaftlicher Produktion) und „die menschlichen Individuen, die mit ihren eigensinnigen Bewusstseinleistungen“ (Luhmann 1998, 804) (und bei Marx mit ihrer Arbeitskraft) zur Fortexistenz des ökonomischen Systems vorausgesetzt sind. Dies liegt aber ebenso wie soziale, politische, juristische, kulturelle Existenzbedingungen, im „blinden Fleck“ der ökonomischen Logik, die ihre Umweltwirkung nur bedingt erkennen und korrigieren kann. Vgl. dazu auch: Luhmann 1988a; Kittsteiner 2008.

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(MEW 25, 833) und mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten der stofflichen Seite des Produktionsprozesses bestimmte Grenzen setzen, die nicht beliebig überschritten und nicht ohne Folgen ignoriert werden können.62 Gehen neoklassische Theorien von einer reinen Ratio des Marktkalküls aus, in der externe (soziale und ökologische) Kosten als irrelevante Größe gelten, womit die derart aus ihren Kontexten entbettete Ökonomie als „anti-natürliche; anti-gesellschaftliche und daher durch und durch autistische Veranstaltung“ (Altvater 2005, 60) erscheint, standen die Wechselwirkungen des Wirtschaftsprozesses mit sozialen und natürliche Faktoren im Fokus der klassischen politischen Ökonomie.63 Deutlich zeigt sich das an Marx’ Grundbegriffen der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte. Als Gesamtheit der für eine bestimmte Form der Produktion und Distribution relevanten gesellschaftlichen Beziehungen, haben Produktionsverhältnisse weit über unmittelbar ökonomische Funktionen hinausgehende soziale, rechtliche, politische Dimensionen und existieren nie unabhängig von der Gesamtheit der Beziehungen und Kräfteverhältnisse zwischen den der Kapitalverwertung vorausgesetzten Klassen.64 Produktivkräfte sind eine Voraussetzung aller Produktion und in diesem Sinne unabhängig von besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen. Menschliche Arbeit und Naturverhältnisse bilden ihre Ausgangsbedingungen, während Arbeitsteilung, Kooperation, Organisation, Kommunikation und der Stand von Wissenschaft und Technik ihre genuin gesellschaftliche, historisch variable Seite darstellen. Obwohl sie unter je spezifischen Produktionsverhältnissen angewendet und entwickelt werden, sind die gesellschaftlichen Produktivkräfte nicht an die Verhältnisse ihrer Entstehung gebunden. In ihrer „stofflichen Form“ sind Natur und Arbeit zwei „allen Produktionsweisen gemeinsame“ Momente, die „mit der gesellschaftlichen Form“ der Produktion „nichts zu schaffen haben“ (MEW 25, 824). Ebenso funktionieren das Rad oder das Internet, wenn sie einmal erfunden sind, unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Anwendung. Insofern bildet der Stand der Produktivkräfte auch die reale Bedingung der Möglichkeit anderer gesellschaftlicher Verhältnisse – eine Ermöglichungsbedingung deren Vernachlässigung Marx am ‚utopischen Sozialismus‘ kritisiert hatte (vgl. MEW 4, 489ff.). Diese Potenzialität liegt weniger in der Verfügbarkeit von Konsumgütern und Produktionsmitteln begründet, sondern eher in der gesellschaftlichen Organisation des Produktionsprozes-

62 „Die Erde ist das große Laboratorium, das Arsenal, das sowohl das Arbeitsmittel, wie das Arbeitsmaterial liefert, wie den Sitz, die Basis des Gemeinwesens.“ (MEW 42, 384) So bildet „die Erde die Quelle aller Produktion und allen Daseins“ (MEW 13, 637), da „jede produktive Fähigkeit der Materie nur unter der Voraussetzung der Materie“ (MEW 2, 49) möglich wird. Da die „Produktion […] nur die Formen der Stoffe ändern“ kann und dabei auf „Naturkräfte“ angewiesen bleibt, ist „Arbeit […] nicht der einzige Quell der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ (MEW 23, 57f.; vgl. MEW 40.1, 22) 63 Bei Ricardo (vgl. 1972) etwa galt es als das „Hauptproblem der Volkswirtschaftslehre“, die „Gesetze aufzufinden“, welche die „Verteilung“ des „Ertrag[s] der Erde – alles, was von ihrer Oberfläche durch die vereinte Anwendung von Arbeit, Maschinerie und Kapital gewonnen wird –“ unter die „Klassen“ bestimmen (ebd., 33). 64 In seinen rein ökonomischen Dimensionen wird dieses gesellschaftliche Strukturmerkmal durch die Produktionsweise endogenetisch reproduziert (vgl. u.a. MEW 23, 603f.). Als gesellschaftliche Verhältnisse müssen ökonomische Beziehungen aber auch gesellschaftlich reproduziert werden. Sie können daher auch gesellschaftlich umgewälzt werden (s.u. V).

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ses, die im Kapitalismus die Form einer alle regionalen und nationalen Grenzen sprengende Vernetzung annimmt und so eine von allen Schranken befreite Produktion und Kommunikation auf weltgesellschaftlicher Stufenleiter ermöglicht. Die entsprechende Entwicklung der „kooperativen Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes“ (MEW 23, 790) bildeten für Marx auch den möglichen Ausgangspunkt für eine andere Form der gesellschaftliche Organisation. Gegen einen technizistisch verkürzten Marxismus stecken diese Grundlagen und Potenziale aber nicht so sehr „in den Maschinen und Dingen, die wir produzieren, sondern im gesellschaftlichen Tun, oder der Kooperation, das sich in ständiger Spannung mit seiner kapitalistischen Form entwickelt.“ (Holloway 2002, 222) Zugleich schließt die kapitalistische Anwendung der Produktivkräfte zum Zweck kurzfristiger Profitmaximierung eine Tendenz zur Zerstörung der gesellschaftlichen und ökologischen Voraussetzungen dieser Anwendung ein. In „der städtischen Industrie“ wie „in der modernen Agrikultur“ wird die gesteigerte Produktivität erkauft „durch Verwüstung und Versiechung“ der Arbeitskräfte wie der Natur, also der Quellen des Reichtums. „Je mehr ein Land […] von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß.“ (MEW 23, 529) Ein Akkumulationsprozess, der in Reinform keine Begrenzung der Verwertung und Vergeudung menschlicher und natürlicher Ressourcen kennt, da das Abstraktum der Verwertung von Wert als „Selbstzweck […] maßlos“ (ebd., 167) ist, würde so als Nebenprodukt die exogenen Faktoren seines Unterganges erzeugen. Die Entwicklung und Anwendung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen hätte die doppelte Wirkung, einerseits die materiellen Grundlagen einer von Ausbeutung, Unterdrückung und Elend freien Gesellschaft zu erzeugen, während andererseits die Produktionsverhältnisse und die entgrenzte Verwertungslogik des Kapitals die Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlagen lassen. Marx’ Analyse geht es hier nicht um eine normative Kritik am „Versagen des Weltwirtschaftssystems vor der gerechten Verteilung des erreichten Wohlstandes“ (Luhmann 1998, 801), vielmehr darum zu zeigen, dass die der kapitalistischen Ökonomie inhärenten Verteilungs- und Aneignungsprinzipien destruktiv auf ihre eigenen Existenz- und Funktionsbedingungen zurückwirken.65 In den Widersprüchen zwischen den im Stand der Produktivkräfte angelegten Potenzialitäten und den gegeben Produktionsverhältnissen sah Marx eine Grundlage gesellschaftlicher Veränderungsdynamiken. Reale Veränderungen vollziehen sich aber nicht durch einen logischen Automatismus, sondern werden erst möglich, wo gesellschaftliche Gruppen aktiv auf den Umsturz oder die Veränderung der Produktionsverhältnisse hinwirken. „Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der

65 Benjamin (vgl. 1985) sah entsprechend das „historisch Unerhörte“ der kapitalistischen Produktion darin, dass ihr Effekt „nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist“ (ebd., 100f.).

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Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer[!] oder rascher um.“ (MEW 13, 9) Marx selbst gilt weniger als Analytiker der ‚langsamen‘ und primär als Prophet der katastrophisch-revolutionären Umwälzung, bei der die von der Produktionsweise freigesetzte Wandlungsdynamik „am Ende der Hauptfeind des Systems“ (Heilbroner 1993, 120) wird, das zudem im Proletariat auch den Agenten seines Umsturzes, also den „eigenen Totengräber“ (MEW 4, 474), produziert.66 Bekanntlich ist gerade hier die Geschichte anders verlaufen. Das Proletariat wurde eine relevante gesellschaftliche Kraft und spielte in historischen Wandlungsprozessen eine zentrale Rolle, erwies sich aber gerade in seiner politischen und gewerkschaftlichen Organisation als integrierbare Größe, die eher zur dynamischen Stabilisierung der kapitalistischen Produktionsweise beitrug.67 Es mag als zusätzlicher ‚Treppenwitz der Geschichte‘ gelten, dass der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts seine ‚objektive historische Funktion‘ darin fand, in vorkapitalistischen Nationen eine rasante ‚ursprüngliche Akkumulation‘ unter rigider Parteidiktatur nachzuholen, die sich, als die staatssozialistische Hülle gesprengt war, als Durchgangsstadium zur Entwicklung des Kapitalismus erwies.68 In deutlicher Spannung zu Marx’ Analysen der im Kapitalismus angelegten Entwicklungstendenzen und der Dynamik der alle Verhältnisse permanent revolutionierenden bürgerlichen Gesellschaft (vgl. ebd., 465) lag den Umsturzprognosen eine zu statische Einschätzung zugrunde, welche die „Selbsterhaltungsfähigkeit des kapitalistischen Systems, seine Fähigkeit, gesellschaftliche Dialektik zu verwalten, unterschätzt“ (Eberle/Hennig 1974, 86). Allerdings gibt es genügend gegenläufige Analysen, in denen Marx selbst zeigt, dass Kapitalismus „vom Wandel“ lebt und sich, „nach Bedarf ausbaufähig oder zu Einschränkungen im Stande, den wirtschaftlichen Möglichkeiten jeder Epoche und jeder Weltgegend an[paßt]“ (Braudel 1986, Bd. 3, 702) und es waren gerade marxistische Autoren die herausarbeiteten, wie im Zuge „passiver Revolutionen“ – im Sinne Gramscis (vgl. 1967, 282ff.; 1991ff., 1242ff.; s.u. IV.1) – variable Adaptionen der sozialen und politischen Verhältnisse an die durch die Produktionsweise veränderten Bedingungen möglich sind. Wird dies als Voraussetzung akzeptiert, dann

66 „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt.“ (MEW 23, 791) Selbst im Manifest werden jedoch zahllose Zusatzvoraussetzungen benannt, die erfüllt sein müssen, damit eine durch objektive Merkmale bestimmte Klasse zur revolutionären Macht wird, die diese Sprengung bewirkt (vgl. MEW 4, 470481; MEW 9, 171; s.u. V). Die Klassentheorie impliziert keinen Automatismus. 67 Vgl. dazu differenziert bereits: Sombart 1927, Bd. III.1, 424-469; Bd. III.2, 642, 658ff., 670ff. & 687ff.; 1919, 195-308; s.u. V.4. 68 Vgl. dazu u.a.: Dahrendorf 1999, 67f. Die Rede von der ökonomischen Ineffizienz des Staatssozialismus sollte nicht die enormen volkswirtschaftlichen Aufbauleistungen dieser Regime unterschätzen. Russland, 1917 weitgehend ein Agrarland ohne Infrastruktur, wurde in kaum 25 Jahren (mit Millionen Todesopfern) zur Industrienation, und auch die Aufbauleistung in den kriegszerstörten Volkswirtschaften der ‚Satellitenstaaten‘ nach 1945 waren enorm. Den Anschluss an die kapitalistische Ökonomie verlor der Staatsozialismus erst mit der mikroelektronischen Revolution ab 1970. Mit Kocka (vgl. 1995) ist dies „in klassisch marxistischer Weise zu erklären“: die Imperative einer zur optimalen Informationsverwertung „den offenen Fluß von Informationen und dezentrale Steuerung verlangenden Produktionsweise“ standen in Widerspruch zu den starren „Produktionsverhältnissen“ in Gesellschaften mit „diktatorischem Steuerungsmonopol“ (ebd., 13f. vgl. Roesler 2003, 29-53).

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bleibt Marx’ Erklärung des gesellschaftlichen Wandels aus dem Spannungsverhältnis von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften sowie aus den damit verbundenen Konfliktlinien ein trag- und ausbaufähiges Analyseinstrument, das sich in gradualistischer Interpretation in zahllosen Analysen von Wandlungsdynamiken innerhalb des Kontinuums der kapitalistischen Gesellschaftsformation bewährt hat.69 Die langfristige Zukunftsperspektive eines ‚reinen‘ Kapitalismus sahen im Übrigen gerade Theoretiker, die diese Wirtschaftsform rückhaltlos befürworteten, meist pessimistisch.70 Paradigmatisch sieht etwa Thurow (1996) die Gefahr einer Systemrevolution zwar endgültig suspendiert,71 jedoch sei „der freie Markt ohne eine physische, soziale, geistige und bildungsbezogene Infrastruktur“, die eben durch die Marktlogik zerstört wird, „nicht überlebensfähig“ (ebd., 405). Insgesamt wachse der „innere Widerspruch des Kapitalismus, zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was getan wird“ (ebd., 449): Wo Teamarbeit und langfristige Unternehmensbindung immer relevanter für die Produktivität würden, bewege sich die Ökonomie mit irregulären Arbeitsverhältnissen etc. in die „genau gegenläufige Richtung“ (ebd., 451); wo die Notwendigkeit langfristiger Investitionen in Wissenschaft und Humankapital steige, würden öffentliche Investitionen zugunsten kurzfristiger privatwirtschaftlicher Profite abgebaut. Die in der „Ära wissensbasierter Technologien“ (ebd., 99-130) erforderten Infrastrukturen von Bildung, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit etc. sind in „privatkapitalistischen Zeithorizonten“ (ebd., 417) unrentable Anlagefelder, in denen Investitionen gemieden werden, um zugleich diese individuell kostenneutralen Produktionsfaktoren optimal auszubeuten – und sie dadurch zu zerstören.72 Letztlich ist das, was hier ein liberaler Ökonom als Raubbau des Kapitalismus an den eigenen Grundlagen eher beklagt als erklärt, eine unbewusste Reformulierung des von Marx objektivierten Widerspruchs zwischen den Produktionsverhältnissen und dem Stand der Produktivkräfte. Der Bestand des Systems entscheidet sich an der Frage, inwiefern es

69 Der Neue Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello 2003) knüpft ebenso an dieses Grundkonzept an wie die Analyse der Wandlungen von Arbeitsformen und Arbeitskrafttypen bei Pongratz und Voß (2003; s.u. IV). Das Analyseschema ist insofern unabhängig von geschichtsphilosophischen Überschüssen und der Engführung auf revolutionäre ‚Explosivmetaphorik‘ (vgl. u.a. MEW 4, 34 & 461-493), zumal selbst im Manifest auch die Permanenz der Umwälzungen der Produktionsverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft betont wird (vgl. ebd., 465). 70 Smith (1978) erwartete vom Höhepunkt von Akkumulation und Arbeitsteilung nur Stagnation. Der Lohn sinke aufs Minimum und bei der „Masse des Volkes“ würden die „höheren menschlichen Anlagen […] verkümmern und verschwinden“ (ebd., 664). Ricardo (vgl. 1975, 85ff & 102) sah es noch düsterer. Schumpeter wie Sombart (vgl. 1927, III.2, 10081022) erwarteten den allgemeinem Kulturverfall und eine Systemsklerose. Kaum jemand „von Rang und Namen in der ökonomischen Geistesgeschichte“ projiziert „eine optimistische Zukunft“ (Heilbroner 1994, 118f.). 71 Die Revolutionsgefahr sei gebannt – so Thurows (1996, 15) einzige Marx-Reminiszenz – nachdem der „Kommunismus“ (ebd., 67-98) und der „Dritte Weg“ des „Wohlfahrtsstaats“ als Alternativen erledigt sind (ebd., 17f.): „Es kann keine Revolution gegen etwas stattfinden, wenn es ideologisch keine Alternative gibt“ (ebd., 455). 72 Von jeher sei der Erfolg der kapitalistischen Ökonomie durch staatliche Investitionen bedingt (vgl. Thurow 1996, 418f.). Es sei anzuerkennen, „daß es eine gesamtgesellschaftliche Amortisation gibt, bei der der Nutzen nicht unbedingt an den einzelnen Investor zurückfließt, und daß es Investitionen gibt, die der Kapitalismus braucht um existieren zu können, die er aber nicht selbst […] tätigen kann“ (ebd., 420).

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der Gesellschaft gelingt, die Verhältnisse der Produktion an die sich aus der Veränderung der Produktivkräfte ergebenden Erfordernisse und Potenziale anzupassen. Bei Thurow wie in den jüngsten Debatten zur Wirtschaftskrise seit 2008 bleiben die Zukunftserwartungen freilich krude. Den Lohnarmen wird empfohlen, individuelle Ansprüche aufzugeben und sich an den Sklaven zu orientieren, die die ägyptischen Pyramiden errichteten.73 Obwohl es „keine Alternative“ gibt, bleiben die darüber hinausgehenden positiven Visionen zur Zukunft des Kapitalismus eher dürftig. Erhofft wird „eine neue Generation“ von durch „Eroberungsfreude und Schaffenswillen“ getriebenen „Gründern“ (ebd., 464f.). Sonst dominieren Ängste vor „sozialer Desorganisation“ und einem Zerfall, wie ihn einst die antiken Hochkulturen erlebten (vgl. ebd., 384-398) und wie stets in Krisen erinnert man sich, dass der Ahnherr Smith der ‚unsichtbaren Hand‘ nur eine Zeile, den unerlässlichen Funktionen der öffentlichen Hand aber 250 Seiten widmete,74 um den „Staat“ aufzufordern, die „Streben“ einzuziehen, „die die Kathedrale des Kapitalismus vor dem Verfall retten“, denn sonst „versinkt die Kathedrale“ (ebd., 448f.).75 Thurow selbst hat außer der Forderung, dass der Staat alles tun muss, damit die Privatwirtschaft sich aneignen kann, was sie kann, wenig zu sagen. In der aktuellen Krisenkonstellation gehen manche von einer fortgesetzten Entdifferenzierung aus, in der die Politik gegenüber ökonomischen Forderungen und Zwängen an Autonomie einbüßt (u.a. Crouch 2008; Richter 2009); andere hoffen auf eine Rückkehr von Keynes (vgl. Krugman 2009; Willke 2002), wobei das Modell von der engen Nationalstaatenbindung gelöst werden müsse (vgl. Willke 2006, 202ff.). Wie sich das Verhältnis von Politik und Ökonomie in diesen Problemkonstellationen neu austarieren wird, ist derzeit ungewiss. Sicher ist indes, dass die bisherigen Transformationen der Modi der Akkumulation nur in Verbindung mit einer Umwälzung der konkreten politischen und kulturellen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung möglich waren (s.u. IV). Obwohl die Einflüsse solcher ‚äußeren‘ Faktoren auf den ökonomischen Prozess jenseits des Gegenstandes des Kapitals lagen (das ja nur die innere Logik der Wirtschaftsform darstellte) und obwohl die anfangs im Plan der Kritik der politischen Ökonomie noch angekündigten Bände zum Staat und zu den internationalen Bezie-

73 Die ägyptischen Sklaven gelten als Vorbild, da sie laut Thurow (1996) einen „persönlichen Nutzen in der Bautätigkeit für eine infinite Zukunft“ sahen und ihre Situation „nicht als Entbehrung vom Konsum und auch nicht als Verzicht auf einen bestimmten Lebensstandard“ empfanden (ebd., 463f.). 74 Tatsächlich sind fast alle heute erneut beschworenen Staatsfunktionen bereits bei Smith (vgl. 1978) präzise definiert: Landesverteidigung und Justiz (vgl. ebd., 587-612); die Pflicht, „öffentliche Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein Einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken würde“ (ebd., 582) – allgemeine Infrastruktur (vgl. ebd., 612-620); Förderung einzelner Wirtschaftszweige (vgl. ebd., 620-644); schließlich die Bildungsausgaben (vgl. ebd., 645-693). Vgl. auch Recktenwald 1978. 75 Man beachte die Metaphorik: Streben müssen eingezogen werden, wenn die auf den Baukörper wirkenden und die ihm selbst immanenten Kräfte in der Konstruktion nicht berücksichtigt wurden und sich destruktiv durchzusetzen drohen. Auch hier läge eine unfreiwillige Parallele zu Marx (vgl. MEW 23, 89), dessen „nach oben weisende Entwicklungskurve, […] ganz anders als bei Smith, von ständigen Krisen und Wiederaufbauperioden unterbrochen [ist] – was der Dynamik einer ökonomischen Stützkonstruktion und nicht der einer Sandburg entspricht“ (Heilbroner 1993, 114).

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hungen (vgl. MEW 13, 7) nie geschrieben wurden, hat Marx hinreichend deutlich gemacht, dass im Zusammenspiel der relativ autonomen politischen und rechtlichen Formen mit sozialen und politischen Kämpfen andere als revolutionäre Transformationsprozesse möglich sind.76 Marx ging dabei nicht nur auf bio- und sozialpolitische Problemkonstellationen ein, aus denen heraus das Kapital „durch die Gesellschaft zur Rücksicht“ gegenüber „Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters […] gezwungen wird“ (MEW 23, 285; s.u. IV.4f.), er hat präzise die Erfordernisse einer Veränderung der Produktionsverhältnisse umrissen, die aus der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie selbst entstehen, sei es im Hinblick auf die Konsumtionskraft oder im Hinblick auf die Subjektqualitäten der Produzenten. Diesen Erfordernissen müssen auch kapitalistische Gesellschaften Rechnung tragen: „Änderungen, die von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit diktiert werden, bahnen sich früher oder später ihren Weg; wenn sie zu einem dringenden Bedürfnis der Gesellschaft geworden sind, müssen sie befriedigt werden, und die Gesetzgebung wird immer gezwungen sein, sich ihnen anzupassen.“ (MEW 18, 59)

Auch jenseits exogener Schocks in der Form von Revolutionen eignet sich die marxsche Theorie hier zur Analyse langfristiger historischer Veränderungsdynamiken (s.u. IV & V.4). Exogene Schocks können neben sozialen Quellen aber auch ökologische Ursachen haben, die eine wenig beachtete Dimension der marxschen Analyse bilden. Im selben Maß, wie „die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft“ erhöht, „stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde“ (MEW 23, 528). Indem etwa der „Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur“ ohne Rücksicht auf Naturkreisläufe betrieben wird, ist er erkauft mit einem „Fortschritt in der Kunst […], den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist“ wird „zugleich ein Fortschritt [im] Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit“ (MEW 23, 528f.). Ähnliche Beobachtungen finden sich zum Raubbau an fossilen Rohstoffen (MEW 25, 781ff.) und Wäldern (MEW 24, 246f.) oder zur Luft- und Wasserverschmutzung. 77 In einer Produktionsform, die alle früheren in der „Überwältigung der Naturkräfte weit überflügelt hat“ (MEW 42, 4), leistet jede neue technische Entwicklung auch einen Beitrag zur Steigerung dieser Destruktivkräfte (vgl. MEW 23, 253): „Große Industrie und industriell betriebene […] Agrikultur wirken zusammen. Wenn […] ursprünglich […] erste mehr die Arbeitskraft […], letztere mehr direkt die Naturkraft des Bodens verwüstet […], so reichen sich später […] beide die Hand, indem das industrielle System auf dem Land auch die Arbeiter entkräftet und Industrie und Handel […] der Agrikultur die Mittel zur Erschöpfung des Bodens verschaffen.“ (MEW 25, 821)

76 Vgl. zur Rekonstruktion von Marx’ Staats- und Rechtsverständnis: Hochberger 1974; Basso 1975; Maihofer 1992. Historisch ist darauf in IV, theoretisch in V.3 zurückzukommen. 77 Hinsichtlich der „Exkremente der Konsumtion […] findet in der kapitalistischen Wirtschaft eine kolossale Verschwendung statt; in London z.B. weiß sie mit dem Dünger von 41/2 Millionen Menschen nichts Beßres anzufangen, als ihn mit ungeheuren Kosten zur Verpestung der Themse zu gebrauchen“ (MEW 25, 110).

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Die Ursachen liegen jedoch nicht in der Technik, sondern in ökonomischen Verhältnissen, in denen die „Einschiebung“ von Arbeitskraft und Naturstoffen „in das gesellschaftliche Triebwerk, dem zufälligen […] Treiben der einzelnen kapitalistischen Produzenten überlassen“ (ebd., 887) bleibt. Aufgrund ihres beschränkten Zeithorizontes und der Fokussierung auf den individuellen Profit bleibt die kapitalistische Produktion gegenüber ökologischen Folgekosten blind, besonders dort, wo diese sich in Geld nicht adäquat ausdrücken lassen.78 Im Hintergrund dieser ‚ökologischen‘ Kapitalismus-Kritik steht Marx’ besondere Konzeption gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die sich von einer Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ebenso unterscheidet wie von dem weite Teile der Soziologie prägenden Dualismus von Natur vs. Gesellschaft.79 Gesellschaftliche Beziehungen sind nicht auf Natur reduzierbar, da sie zwar natürliche Existenzbedingungen haben, in ihrer Entfaltung aber ein eigenes Emergenzniveau bilden, dessen Abstand zu den unmittelbaren Naturverhältnissen im selben Maße wachsen muss, wie die Gesellschaft sich die Naturkräfte unterwirft und die Techniken ihrer Beherrschung „als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur“ schiebt (MEW 42, 601; vgl. ebd., 396-421). Gleichwohl ist Natur – anders als etwa in der Gesellschaft auf Kommunikation reduzierenden Systemtheorie Luhmanns (vgl. v.a. 1988a) – mehr als eine bloße äußere Umwelt. Die gesellschaftliche Produktion bleibt – unabhängig vom Emergenzniveau ihrer historischen Formen und unabhängig davon, ob und wie darüber kommuniziert wird – nur die eine Seite eines unhintergehbaren „materiellen Stoffwechsels“ (MEW 42, 600f.), dessen andere Seite die „natürlichen, unorganischen Bedingungen“ (ebd., 397) gesellschaftlicher Reproduktion sind. Natur und Gesellschaft sind insofern keine Dualismen, sondern zwei sich in äußeren Gegensätzen bewegende Momente einer prozessualen Einheit. „Nicht die Einheit […] bedarf der Erklärung oder ist Resultat eines historischen Prozesses, sondern die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein“ (MEW 42, 396 [Hervh. i.O.]), eine Trennung, die erst im Kapitalverhältnis voll entwickelt sei.80 Alle Momente der (Re-)Produktion der gesellschaftlichen Beziehungen schließen zugleich ein Wechselverhältnis mit der Natur ein, denn „Gesellschaft“ ist für Marx nichts anderes, als „das Ganze dieser Beziehungen, worin sich die Träger dieser Produktion zur Natur und zueinander befinden“ (MEW 25, 826f. [Hervh. T.H.]). In dieser Perspektive stellt sich auch das Ökologieproblem komplexer als in der jüngeren, es auf bloße Risikoabschätzung und die Kompensation unmittelbarer Natureingriffe reduzierenden Umweltpolitik: „Über die explizite Umweltpolitik hinaus sind […] die ökonomisch-technischen, die kulturellen sowie alltagspraktischen Dimensionen der Gesellschaft angesprochen, von der Er-

78 Vgl. zu teilweise affinen Argumenten in der Systemtheorie: Luhmann 1988a; 1998, 801ff. 79 Eine jüngere Grundsatzkritik an diesem ‚Dualismus der Moderne‘ hat vor allem Bruno Latour (vgl. 2008, v.a. 22-75) formuliert. 80 Hier liegt eine Kontinuität zu den frühen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: „Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen […]. Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.“ (MEW 40.1, 516)

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nährung über den Konsum bis hin zur Gestaltung der Natur des Menschen in Sexualität und Medizin.“ (Görg 2004, 201)

Im Gegensatz zur Mehrzahl der jüngeren soziologischen Schulen implizieren die Begriffe des Stoffwechsels und der gesellschaftlichen Naturverhältnisse hier „ein konstitutives Verhältnis zwischen Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt. Gesellschaften sind wesentlich darüber zu verstehen, wie sie ihr Verhältnis zur Natur jeweils konkret gestalten“ (ebd.). Allerdings verbindet sich diese Perspektive bei Marx nicht mit regressiven Utopien der Rückkehr zur verlorenen unmittelbaren Einheit von Gesellschaft und Natur, die das menschliche Leben den realen oder vermeintlichen Naturgesetzten eines ökologischen Naturalismus (Oechsle 1988) subsumieren will. „Alle Produktion ist Aneignung der Natur […] innerhalb und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform.“ (MEW 42, 23) Dass Menschen sich einer vorgefundenen Natur nicht unterordnen, um diese stattdessen gemäß ihrer Bedürfnisse, Möglichkeiten und Produktionsverhältnisse umzugestalten, gilt hier als Universalie gesellschaftlicher Existenz. Es gibt aber erhebliche Differenzen in der Form, in der sich diese Aneignung der Natur durch historisch bestimmte Individuen zu den „natürlichen Existenzbedingungen“, also zu dem zu ihnen „selbst gehörige[n], unorganische[n] Leib verhält“ (ebd., 398). Die kapitalistische Form ist dabei destruktiver als andere, nicht weil sie die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Produktivkräfte steigert, sondern weil sie dies in einer intern rationalen, im Bezug auf die andere Seite ihres Stoffwechsels aber irrationalen Weise tut, in der die Exploitation der Natur nicht Mittel zum Zweck der dauerhaften Aneignung stofflichen Reichtums ist, sondern der stoffliche Reichtum selbst nur als Mittel zum Zweck des exponentiellen Wachstums eines abstrakten Werts dient. In den Krisen – in denen „Zerstörung des Kapitals durch […] Depreziation von Wertmassen“ (MEW 26.2, 496 [Hervh. i.O.]) stets auch „Zerstörung von Produktionsmitteln“ und Gebrauchswerten (MEW 25, 263) ist – wie im ‚gesunden‘ Gang des Verwertungsprozesses führt dies zu Verhältnissen, in denen „Zerstörung eines Teils eines Warenvorrats, um den Rest teurer zu verkaufen, […] eine tatsächliche Schaffung von Reichtum im kommerziellen Sinne des Wortes“ bedeutet (MEW 19, 383 [Hervh. i.O.]). Eine Produktionsweise, die dem Kultus des abstrakten Reichtums regelmäßig große Teile des erzeugten stofflichen Reichtums opfern muss,81 impliziert ein gesellschaftliches Naturverhältnis, in dem nicht nur die Bedürfnisse maßlos wachsen, sondern in dem sich die Exploitation der Natur in einer im Hinblick auf die Befriedigung von Bedürfnissen sinn- und zwecklosen Form bewegt. Marx ging daher davon aus, dass auch die Ökosphäre „andre gesellschaftliche Verhältnisse“ brauche, um ihrer „Natur gemäß exploitiert zu werden“ (MEGA II.3, 1436). Die destruktive Wirkung der kapitalistischen Ökonomie auf den Stoffwechsel von Gesellschaft und Natur „zwingt durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels, ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion […] herzustellen“ (MEW 23, 528). Auch eines der sel-

81 „Der Wert der Waren wird daher geopfert, um das phantastische und selbständige Dasein dieses Werts im Geld zu sichern. […] Für ein paar Millionen Geld müssen daher viele Millionen Waren zum Opfer gebracht werden. Dies ist unvermeidlich in der kapitalistischen Produktion und bildet eine ihrer Schönheiten.“ (MEW 25, 333)

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tenen normativen Argumente ist diesem Problem gewidmet: Vom Standpunkt einer „höheren ökonomischen Gesellschaftsformation“ müssten „das Privateigentum […] am Erdball“ und das daraus abgeleitete Recht seiner unbegrenzten Ausbeutung ebenso „abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum […] an einem anderen Menschen“. Auch „alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen“ seien „nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur […] ihre Nutznießer und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (MEW 25, 784) Es geht hier um keine ‚Rückkehr zur Natur‘, sondern um eine Produktionsweise, in der auch die ökologischen Existenzbedingungen zum Gegenstand gesellschaftlicher Verantwortung werden.82 Künftige „Assoziationen freier und gleichgestellter, nach einem gemeinsamen und rationellen Plan bewußt tätiger Produzenten“ (MEW 18, 62) müssten auch „ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen“ (MEW 25, 828), um die unter kapitalistischen Bedingungen entwickelten wissenschaftlichen, technischen und organisatorischen Mittel nicht zur Zerstörung, sondern zur bewussten Erhaltung ihrer gemeinsamen natürlichen Existenzbedingungen zu nutzen.83 Die ökologischen Grenzen der in der kapitalistischen Produktionsweise freigesetzten Wachstumsdynamik stellen heute ein überaus aktuelles und in theoretischen und prognostischen Arbeiten kaum mehr zu übergehendes Problem dar. Unabhängig von ideologischen Positionen wird die Quelle eines systembedrohenden exogenen Schocks weniger in den sozialen Existenzbedingungen und vermehrt in der Gefahr eines ökologischen Kollapses ausgemacht.84 Angesichts des absehbaren Endes des seit dem 19. Jahrhundert für die Wirtschaftsform grundlegenden dynamischen Zusammenspiels von kapitalistischer Ökonomie und fossilen Energieträgern85 erwartet etwa Altvater (vgl. 2005, 72-89 & 141-176) einen exogenen Schock, wenn dem kapitalistischen Wachstumsmotor sprichwörtlich der Treibstoff ausgeht und hält diese Wirtschaftsweise schon auf Grund ihrer stetig Wachstums und Beschleunigungszwänge für prinzipiell unvereinbar mit einer nachhaltigen Ökonomie.86 Angesichts

82 Angestrebt wird keine Abkehr vom eingeschlagenen technischen Entwicklungspfad und keine Rückkehr zur vermeintlichen „Idylle“ kleinbäuerlicher Wirtschaft auf eigener Scholle (vgl. zu deren ökologischer Problematik u.a. MEW 7, 83). Es geht um die Anwendung sämtlicher moderner Methoden, „wissenschaftlicher Kenntnisse“ und „technischer Mittel“, aber in einem nachhaltigen Sinne (MEW 18, 60; vgl. MEW 25, 87-114). 83 Die staatssozialistischen Akkumulationsregime sprachen auch diesen Hoffnungen Hohn. Das multiple Versagen des Gegners im ‚Systemwettkampf‘ ist jedoch kein Argument zur Generalabwehr einer Kapitalismuskritik (vgl. u.a. Recktenwald 1978, LII). Aus der bloßen Fortexistenz folgt „nicht, daß das überlebende System die eigene Gesellschaftsbeschreibung als bestätigt ansehen könnte“ (Luhmann 1998, 1060). 84 Vgl. klassisch den Bericht des Club of Rome: Meadows et. al. 1972; aus soziologischer Perspektive: Luhmann 1988a; Heilbroner 1993; aus dezidiert kapitalismuskritischer Perspektive: Dürr 1998; Altvater 2005; Litvin 2003; Maier 2001; Koechelin 2001. 85 Ausgehend von Marx’ Bemerkungen zur Rolle fossiler ‚Gratisproduktivkräfte‘ für die kapitalistische Expansionsdynamik hat den Zusammenhang von fossilen Energieträgern und Hochkapitalismus erstmals Sombart (vgl. 1927, v.a. III.1, 97ff.; III.2, 1010ff.) historisch untersucht. Vgl. ähnlich auch: Thurow 1996, 409ff. 86 Vgl. hierzu prägnant Hans Peter Dürr (den auch Altvater zum Gewährsmann nimmt): „Eine höhere Beschleunigung begünstigt im Wettlauf der insgesamt möglichen Prozesse immer die ungehindert schnell ablaufenden Abbauprozesse gegenüber den zeiterfordernden Auf-

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der ökologischen und geopolitischen Konsequenzen wird die Überwindung des Kapitalismus hier zu einer Frage des Überlebens der Menschheit. Dass die seit den 1970er Jahren im wissenschaftlichen Diskurs virulente Ökologie-Problematik zunehmend auch als globale politische und ökonomische Problemstellung (und als Markt!) erkannt wird, zeigt allerdings, dass auch bei ökologisch begründeten Untergangs- oder Umsturzvisionen Vorsicht geboten ist. Obwohl die viel beschworene „Global Gouvernance“ (u.a. Willke 2006, 202ff.) gerade im Bereich der Ökologie auf absehbare Zeit kaum Ergebnisse zeigen wird, ist die Frage, ob ein ‚grüner‘ oder zumindest nicht autodestruktiver Kapitalismus möglich ist, offen. Im Falle des ökologischen Kollapses wäre die Suche nach ‚glaubwürdigen Alternativen‘ ohnehin obsolet, bis dahin wird sich entscheiden müssen, inwiefern gesellschaftlicher Druck, legislative Einmischung und veränderte ökonomische Kalküle den ökologischen Destruktivkräften entgegenwirken können (vgl. v.a. Görg 2004, 214ff.).87 Fraglos ist das liberale Mantra, demzufolge der freie Markt und expansives Wachstum auch die ökologischen Probleme am effizientesten lösen werden (vgl. u.a. Lepage 1979, 168-174; Weizsäcker 2000, 152-161), nach aller Erfahrung unhaltbar. Sieht man Kapitalismus aber nicht als statische Gegebenheit, sondern als dynamische und adaptionsfähige Wirtschaftsform in dynamischen gesellschaftlichen Verhältnissen, ist uneinsichtig, warum das Ende des fossilen Zeitalters (trotz ungenügender Vorbereitung) notwendig das Ende des Kapitalismus einläuten soll (vgl. Altvater 2005, v.a. 141-176). Ebenso unsicher ist, ob das bloße Eintreten für erneuerbare Energien wirklich schon die neue Form des „Klassenkampfs“ (ebd., 14 & 210ff.) bildet.88 Altvaters differenzierter Studie unterläuft hier derselbe politisch motivierte Fehler, den schon Marx beging, wo er den Umsturz des kapitalistischen Systems als Notwendigkeit bezeichnete: Er extrapoliert aus den sich aus der Logik dieser Wirtschaftsweise ergebenden Tendenzen einen möglichen Entwicklungspfad, um ihn dann als alternativlos zu präsentieren. Das beruht aber auf einer kurzschlüssigen Entgegensetzung von Potenzialen der neuen Produktivkräfte und momentan bestehenden Produktionsverhältnissen. Mit einiger Sicherheit lässt sich jedoch nur sagen, dass die Bedrohung der ökologischen Basis aller Produktivkräfte, der „Erde“ als „Quelle aller Produktion und allen Daseins“ (MEW 13, 637; vgl. MEW 42, 384) und die nachhaltige Nutzung der neuen, regenerativen Produktivkräfte grundlegende Umwälzungen der Produktionsverhältnisse notwendig machen, die nicht nur die Energie- und Verfahrenstechnik, sondern auch die Organisation der Produktions- und Distributionsprozesse und die

bauprozessen und bei diesen wieder die Reproduktionsprozesse gegenüber der Neuproduktion, der Innovation, dem eigentlich kreativen.“ (Dürr 1998, 64f.). 87 Auch Heilbroner (vgl. 1993) sieht etwa eine „mögliche ökologische Katastrophe dadurch verursacht“, dass „der Marktmechanismus unfähig ist, das globale Problem der Umweltverschmutzung zu lösen“ (ebd., 119); setzt aber hier, wie in anderen Bereichen, auf die Möglichkeit politischer Regulation (vgl. ebd., 109-132) 88 Altvater (2005), sieht in regenerativen Energien die „Zeichen der ‚anderen Welt‘“; die Vorboten einer postkapitalistischen „solaren und solidarischen Gesellschaft“. Das Eintreten für nachhaltige Konzepte gilt dann als „Klassenkampf gegen die konservativen Kräfte, die am fossilen Energieregime festhalten“ (ebd., 14). Übersehen wird, dass regenerative Energien einen wachsenden Markt innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft darstellen. Das ist kein Argument gegen die ökologische Bedeutung, sehr wohl aber gegen die das System umstürzende Rolle der regenerativen Energien.

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politischen, kulturellen und rechtlichen Formen des gesellschaftlichen Lebens beträfen. Jedoch kann nicht a priori ausgeschlossen werden, dass es jenseits von Revolutions- und Untergangsszenarien auch potenzielle Entwicklungspfade gibt, in denen gesellschaftliche Konflikte und Kämpfe auf entsprechende Veränderungen der Produktionsverhältnisse innerhalb des historischen Kontinuums der kapitalistischen Produktionsweise hinwirken. Gerade wenn man den Impuls von Altvaters Kritik teilt, wäre das nicht nur eine Frage der wissenschaftlichen Redlichkeit, sondern auch die Voraussetzung der Erarbeitung tragfähiger und reflexiver politischer Strategien.89 Ein Blick in die Geschichte ist hier sinnvoll für gegenwärtige Fragen. Dass nämlich eine kapitalistische Ökonomie in der weitgehenden Zerstörung ihrer Naturbasis an ökologische Grenzen des Wachstums stößt, ist nicht neu. Es entspricht dem Bild, das Sombart (1922, II.2) empirisch für den Finalzustand des Frühkapitalismus im 18. Jahrhundert rekonstruiert. Die langsame aber stetige Ausbreitung des kapitalistischen Wirtschaftens seit dem 15. Jahrhundert hatten primär die Holzvorräte zur Naturbasis. Holz war wichtigster Baustoff, Grundlage der Produktions- und Transporttechnik, primärer Energieträger und wichtigster Verfahrensstoff in der beginnenden Industrie (vgl. ebd., 702-799). Da auch dieser ‚hölzerne Kapitalismus‘ das Gepräge einer Raubwirtschaft hatte, war diese Naturalbasis in Europa bereits im 18. Jahrhundert nahezu erschöpft. Die „Holznot“ hemmte die weitere Expansion und war ein Hauptgrund für das „drohende Ende des Kapitalismus“ (ebd., 1137, vgl. 1134-1155), noch bevor dieser seine hochkapitalistische Ausprägung gewonnen hatte. Es war weniger der Beginn einer nachhaltigen Forstwirtschaft, sondern vor allem die Umstellung auf fossile Rohstoffe, die die Naturbasis der zügellosen Expansionsdynamik seit dem 19. Jahrhundert herstellte. Diese Umstellung der Produktion auf Kohle und später auf Öl setzte eine Revolution der Verfahrens- und Energietechniken voraus, die mit der heute erforderten Umstellung auf regenerative Energien und nachhaltige Produktionsverfahren durchaus vergleichbar ist. Vor diesem Hintergrund hielt Sombart (vgl. 1927, III.2) es auch angesichts der absehbaren Erschöpfung der Naturbasis des ‚fossilen Kapitalismus‘ für wahrscheinlich, dass die „unerschöpfliche Kraftquelle“ (ebd., 1011) der Sonnen-, Gezeiten-, Wind- und Wasserenergie kapitalistisch erschlossen wird, und stellte Rechnungen an, welche Flächen bei welcher Energieeffizienz erforderlich wären, um die fossile Energie ganz durch Solarkraft zu ersetzen (vgl. ebd., 1011ff.). In dem Maße, wie die Erschöpfung der fossilen Grundlage die Suche nach rentablen Lösungen antreibt, könnte – entgegen der Ansicht Webers (vgl. 1986, 203) – ein auf eine neue Naturbasis gestellter Kapitalismus das Schicksal der Menschheit noch bestimmen, nachdem der fossile Treibstoff erschöpft ist – „die einen werden sagen: ‚leider‘, die anderen

89 Hinter Altvaters Binarisierung der Optionen dürfte, wie schon bei Marx, das Ziel stehen, potenzielle Gegenkräfte zu bündeln. In Situationen, in denen die ‚Revolution‘ unwahrscheinlich scheint, kann jedoch der Verweis auf die Alternativlosigkeit dieser Option auch zur Stilllegung potenzieller Gegenkräfte führen. Intellektuell ist der Verweis, dass es erst einer „Veränderung jenes Ganzen“ bedürfe (Adorno 1995, 327), oft eine Ausflucht, um in fatalistischem Besserwissen nichts mehr zu tun. Hier kann ein reflektierter ‚Revisionismus‘, der die Frage stellt, was innerhalb der gegeben Verhältnisse möglich ist, die pragmatisch sinnvollere Lösung sein, die auch Marx als ‚Praktiker‘ des Klassenkampfs oft wählte (vgl. MEW 16, 101-151).

P ROZESSIERTE W IDERSPRÜCHE | 257

‚glücklicherweise‘“ (Sombart 1927, III.2, 1010). Dafür, dass eine nachhaltigere Wirtschaft auch innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik nicht ausgeschlossen ist, spricht auch, dass das Profitmotiv selbst, wie schon Marx zeigte, einen zumindest effizienten Umgang mit Ressourcen anregen kann.90 Zudem benutzen heutige Ansätze zur Förderung einer nachhaltigen Ökonomie Investitionsanreize und Sanktionen (Umlegung „externer“ ökologischer Kosten auf ihre Verursacher), die die Marktlogik voraussetzen. Es erscheint momentan fragwürdig, ob entsprechende Umstrukturierungen über die Etablierung neuer Marktsegmente hinausgehen werden und ob sie rechtzeitig greifen, um die ökologischen Auswirkungen des fossilen Kapitalismus auf ein Maß zu begrenzen, das gesellschaftlich verarbeitbar bleibt. Selbst wenn aber die ökologische Katastrophendynamik, die einige Szenarien prognostizieren, ihren Gang gehen sollte, müsste dies nicht unmittelbar das Ende des Kapitalismus bedeuten. Gerade gesellschaftlich desaströse Effekte können privatkapitalistisch profitable Wirkungen haben, sei es angesichts der Wiederaufbauerfordernisse nach Naturkatastrophen, sei es, indem bisher allgemein zugängliche Naturressourcen in Warenform gebracht und kapitalisiert werden können, was zahllose neue Verwertungsmöglichkeiten eröffnet.91 Selbst im schlimmsten Fall also könnte eine kapitalistische Ökonomie in einem noch unabsehbaren Zeithorizont existieren, bis sie ihre gesellschaftlichen und ökologischen Existenzbedingungen endgültig zerstört hat. Wenn hier gegen Szenarien des notwendigen Untergangs oder Umsturzes der kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Adaptionsfähigkeit und damit auch die langfristige Existenzmöglichkeit einer kapitalistischen Gesellschaftsform betont wird, heißt das natürlich nicht, den ebenso einseitigen Eschatologien mit umgekehrtem Vorzeichen zuzustimmen, die nach der Implosion des Staatssozialismus in den 1990er Jahren Konjunktur hatten, als der „siegreiche“ Kapitalismus zum „Ende der Geschichte“ erklärt wurde – wahlweise mit affirmativen (vgl. Fukuyama 1992), reformorientierten (vgl. Münch 2009), fatalistischen (vgl. Thurow 1996) oder zynischen (vgl. Kittsteiner 2008) Untertönen. Geschichte bleibt, solange Gesellschaft existiert, unabgeschlossen und kann verschiedene, keineswegs mit Sicherheit prognostizierbare Entwicklungspfade nehmen. Damit bleibt sie auch „offen für Produktionsweisen, Lebensbedingungen, Naturverhältnisse jenseits des Kapitalismus“ (Altvater 2005, 27). Gerade wo man sich für diese einsetzen will, ist aber die Schlussfolgerung zu bedenken, die Gramsci aus der Erfahrung mit marxistischen Bewegungen schon in den 1930er Jahren zog: „daß die politische Methode, eine wissenschaftliche These beliebig zu verbiegen, um daraus einen energiegeladenen und vorantreibenden populären Mythos zu ziehen, […] in letzter Instanz ungeeignet ist und schließlich mehr Schaden anrichtet als nützt“ (Gramsci 1991ff., 1294). Statt revolutionäre Mythen zu stiften, kann die Aufgabe wissenschaftlicher Kritik nur in der Aufklärung und Analyse realer gesellschaftlicher Gegebenheiten und Entwicklungsverläufe liegen,

90 Dass Recycling und geschlossene Produktionskreisläufe aus der Logik effizienter Produktion selbst erwachsen können, hat Marx ausführlich herausgearbeitet (MEW 25, 87-114). Allerdings ist Altvaters (1992; 2005) Argument nachvollziehbar, dass entsprechende ökologische Effekte einer um einen ‚Faktor X‘ gesteigerten Effizienz durch die Ausdehnung der Produktion und des Marktes wohl überkompensiert werden. 91 Vgl. zu einem entsprechenden Szenario bereits: Hirsch/Roth 1986, v.a. 117ff., 140ff.

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auch und gerade wo dies revolutionäre Gewissheiten, die aus Marx’ Darstellung des Kapitalismus oft gezogen wurden, desillusionieren mag.

3 Ideeller Durchschnitt und historische Formen der kapitalistischen Produktionsweise

Gerade weil Marx keine Analyse einer historisch konkreten Gestalt der kapitalistischen Produktion entwickelte, sondern ein abstraktes, idealisiertes Modell grundlegender Struktur- und Funktionsprinzipien einer durchschnittlichen kapitalistischen Ökonomie zum Gegenstand seiner Darstellung machte, eignen sich seine Analysen auch noch, um die Logik hinter jüngeren Krisenerscheinungen und Verschiebungen innerhalb gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen, die in ihrem Phänotyp deutlich von den kapitalistischen Nationalgesellschaften des 19. Jahrhunderts abweichen. Dabei liegt Marx’ Modell kein genetischer Strukturdeterminismus zugrunde, aus dem historische Entwicklungen mechanisch ableitbar wären. Es eignet sich aber sehr wohl, um konkrete historische Entwicklungslinien im Zusammenhang mit den Möglichkeitsräumen und Bedingungsgeflechten zu betrachten, die sich aus grundlegenden Strukturmerkmalen und Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise ergeben. Marx selbst wies stets auf die Grenzen einer rein ökonomischen Betrachtung hin und unterschied die Darstellung der inneren Funktionslogik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse von der Untersuchung ihrer historischen Genese oder der sozialen und kulturellen Bedingungsrelationen, aus denen sich ihre historisch konkrete Gestalt ergibt. Die Analyse der Letzteren ist in seinen Arbeiten nicht oder nur partiell eingelöst. Marx Kritik der politischen Ökonomie eröffnet eine gesellschaftstheoretisch voraussetzungsreiche Perspektive der Theorie und Analyse einer Wirtschaftsform, die aber weder als ausgearbeitete Gesellschaftstheorie, noch als umfassende Analyse realer kapitalistischer Gesellschaften zu verstehen ist. Im Folgenden wird im Detail zu diskutieren sein, inwiefern Problemstellungen und Analysen bei Foucault und Bourdieu direkt oder indirekt an von Marx aufgeworfene Problemstellungen im Hinblick auf die Genese und die Funktions- und Strukturmerkmale kapitalistischer Gesellschaften anknüpfen und wie sie im Einzelnen dazu beitragen, Entwicklungen und Veränderungen der gesellschaftlichen Voraussetzungen einer kapitalistischen Produktionsweise besser zu verstehen. Dabei wird es gemäß der unterschiedlichen Ansätze und Perspektiven im Anschluss an Foucault eher um Fragen der Besonderheiten der Machtbeziehungen und -techniken, der Formen der Subjektivierung und der Rationalitäten und Praktiken des Regierens gehen, die in der historischen Konstitution und in den verschiedenen Metamorphosen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung eine Rolle spielten (IV). Im Anschluss an Bourdieu stehen eher Fragen des Zusammenhangs der sozialen und funktionalen

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Binnendifferenzierung entwickelter kapitalistischer Gesellschaften im Mittelpunkt, die im Kontext seiner Analysen der Modi der dynamischen Reproduktion der Klassenstruktur zu erschließen sind (V). In beiden Fällen wird jedoch stets auch auf marxsche Einzelanalysen zurückzukommen sein, die über das hier skizzierte ‚Skelett‘ seiner Darstellung des Kapitalverhältnisses hinausgehen. Um zu verstehen, wie Kapitalismus nicht nur als ein Bündel abstrakter ökonomischer Mechanismen, sondern als ein realer gesellschaftlicher Zusammenhang in verschiedenen Formen und Varianten funktioniert, sind solche historisch-soziologischen Analysen aus einem einfachen Grund unumgänglich: Betrachtet man die kapitalistische Wirtschaftsweise in ihrer nackten funktionalen Grundstruktur, so handelt es sich – wie etwa Boltanski und Chiapello (2003) betonten – um ein „in vielerlei Hinsicht absurdes System“ (ebd. 42): „Die Arbeitnehmer haben ihre Eigentumsrechte an dem Produkt ihrer Arbeitstätigkeit und die Möglichkeit zu einem unabhängigen Erwerbsleben verloren. Die Kapitalisten hingegen sind an einen endlosen und unersättlichen, durch und durch abstrakten Prozess gekettet, der von der Befriedigung der Konsumbedürfnisse – und seien es auch Luxusbedürfnisse – losgelöst ist. Aus Sicht beider Protagonisten fehlt es einer Beteiligung am kapitalistischen Prozess im Grunde in erheblichem Maße an Plausibilität.“ (Ebd.)

Die Reihe dieser Absurditäten ließe sich beliebig verlängern, wenn man etwa an den Imperativ denkt, heute stets mehr arbeiten und konsumieren zu müssen als gestern, „damit es uns morgen nicht schlechter geht als heute“ (Assheuer 2008), den die entgrenzten Wachstumszwänge der Kapitalverwertung den Wohlstandsnationen aufherrscht, von der massenhaften Vernichtung und Vergeudung von Lebensmitteln auf dieser Seite und dem Lebensmittelmangel in den die Grundlagen dieser Vergeudung produzierenden Trikontländern auf der anderen Seite ganz zu schweigen. Wie unwahrscheinlich die Durchsetzung einer solchen Produktionsweise historisch war und wie absurd eine um das abstrakte Prinzip einer Verwertung von Wert zentrierte Ökonomie vom Standpunkt anderer historischer Formen der Vergesellschaftung erscheint, in denen die Ökonomie der Bedarfsdeckung oder der Reproduktion sozialer Beziehungen untergeordnet ist, haben historisch etwa Sombart (vgl. 1922) und Braudel (vgl. 1986) oder ethnologisch Bourdieu (vgl. 2000a & 2010a) herausgearbeitet. Im 19. und 20. Jahrhundert ging zudem keineswegs nur Marx davon aus, dass eine auf dieser Wirtschaftsform beruhende Gesellschaftsformation aufgrund der mit dem Verwertungsprozess verbundenen sozialen Problemlagen und Spannungen langfristig instabil sein müsste. Abgesehen von den sozialen Konfliktlagen, die man im 20. Jahrhundert zunehmend für gesellschaftlich regulierbar erachtete, hielten es Sombart (vgl. 1927, III.2) oder Schumpeter (vgl. 1949 & 1961) für unwahrscheinlich, dass die Eigentümer sich langfristig als aktive Unternehmer dem abstrakten Zweck der Verwertung ihres Eigentums unterstellen, statt, wie Hirschmann (vgl. 1974) es nannte, die Exit-Option zu wählen, die ihnen ihre Ressourcen gestatten.1

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Sombart (1922, II.1, 56f.) betrachtete ein „Rentnerideal“, das einen Rückzug aus dem Kapitalverwertungszirkel nahe legt als prägenden Zug des Frühkapitalismus und als ein wesentliches Hemmnis der Akkumulation (vgl. ebd.) und rechnete damit, dass sich entsprechende Tendenzen im Spätkapitalismus wieder verbreiten würden, zumal die Bedingungen

I DEELLER D URCHSCHNITT

UND HISTORISCHE

F ORMEN | 261

Das langfristige ‚Überleben‘ des Kapitalismus wirft vor diesem Hintergrund einige Fragen auf. Boltanski und Chiapello (vgl. 2003) behandeln bekanntlich die ‚ideelle‘ Lösung des Plausibilitätsproblems durch den jeweiligen „Geist des Kapitalismus“, der als eine Gesamtheit historischer Glaubenssätze, Handlungsorientierungen und Rechtfertigungsgründe ein „Engagement für den Kapitalismus“ (ebd., 58) auf Seiten der Akteure begründet. Differenziert wird dabei herausgearbeitet, wie verschiedene Formen dieses ‚Geistes‘ „den je konkreten Formen der Kapitalakkumulation zu einem bestimmten Zeitpunkt“ entsprechen (ebd., 58) und wie in Krisen und Umbruchsituationen, die sich immer auch als Legitimitätskrisen äußern, dieser Geist durch Inkorporation der gegen den Kapitalismus gerichteten Kritiken (vgl. ebd., 68-87) eine neue, den veränderten Modi der Akkumulation entsprechende Form gewinnt.2 In Differenz zu einigen regulationstheoretischen Ansätzen, die trotz des expliziten Bezugs auf Gramscis Hegemoniebegriff zu Darstellungen tendieren, die die jeweiligen Akkumulationsregime primär als ökonomisch-administrative Zwangssysteme darstellen (vgl. u.a. Hirsch/Roth 1986, 104-167), kommt der Studie von Boltanski und Chiapello zudem das Verdienst zu, die Frage ernst zu nehmen, warum diese Verschiebungen – trotz ihrer oft problematischen sozialen und politischen Effekte – auf weitgehende Akzeptanz stießen oder zumindest lange Zeit kaum nennenswerte Proteste hervorriefen. Der ‚neue Geist‘ wird hier nicht von vornherein als Heteronomie und Verblendungsprodukt behandelt, sondern darauf hin befragt, was diese Glaubenssätze und praktischen Orientierungen ebenso wie die realen Transformationen in der Arbeitswelt für Individuen attraktiv oder zumindest akzeptabel machen konnte. Im Hinblick auf das Verständnis der gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen der Transformationen der Akkumulationsmodi leistet diese Studie damit einen wichtigen Beitrag, auf den stellenweise noch zurückzukommen sein wird. Gleichwohl verleiht die Fokussierung auf das Problemfeld der Plausibilität und Legitimität diesen Analysen eine zu starke intellektualistische Schlagseite. Im Vordergrund stehen explizite und explizierbare Dimensionen der Wechselwirkungen von Kritik und kapitalistischem ‚Geist‘, was eine Reihe anderer Dimensionen sozialer Praxis, in denen sich für die Genese und Stabilisierung kapitalistischer Vergesellschaftung mindestens ebenso entscheidende Faktoren finden dürften, randständig erscheinen lässt. Hier eröffnen Foucaults Analysen zu den sich verändernden Formen der Subjektivierung, den Dis-

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„eines draufgängerischen Unternehmertums“ eingeengt würden (Sombart 1927, III.2, 1013). Sombart selbst war das beste Beispiel für die Wahl der „Exit-Option“, da er ein erhebliches Kapitalerbe aufzehrte, um über den Kapitalismus zu forschen, statt sich in den Dienst der Verwertung seines Kapitals zu stellen. Dass eine solche mit dem Generationenwechsel verbundene Verschiebung vom Pol des ökonomischen zum Pol des kulturellen Kapitals, vom Unternehmertum zu Kulturberufen, auch im 20. Jahrhundert noch verbreitet ist, zeigt u.a. auch Bourdieu (vgl. 1999 & 2004a). Es ist zentral, dass diese Entsprechung nicht nur im Sinne eines Überbaureflexes verstanden werden kann. Boltanski und Chiapello (vgl. 2003, v.a. 261-377) betonen die entscheidende Rolle, die die jeweilige Form des Geistes nicht nur für die Legitimation hat, sondern auch für die neue Richtung, die der Akkumulationsprozess annimmt. Allerdings ist die Formulierung, dass der jeweilige Geist damit den Akkumulationsprozess in einer bestimmten Form „beschränkt“ (ebd., 64ff.), zu starr. Er trifft auch keineswegs jenen Prozess, den die Autoren beschreiben und der gerade einen neuen Schub der Akkumulation befördert. Insofern wäre es sinnvoller, hier eher von einer Formgebung als von einer Beschränkung zu sprechen.

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ziplinar- und Sicherheitstechniken und den Formen der Regierung in der kapitalistischen Moderne eine produktive Möglichkeit um zu erschließen, wie das in seiner Binnenlogik ‚absurde System‘ der kapitalistischen Akkumulation historisch zum Funktionieren gebracht wurde. Dabei wird der Focus (in Differenz zum Ansatz von Boltanski und Chiapello) weniger auf der Ebene der expliziten Ideen und des bewussten Engagements liegen. Stattdessen sollen die besonderen Machttechniken, die impliziten Logiken des Regierens und die Praktiken der Subjektformierung in ihrem Zusammenhang mit den Wandlungsdynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung in den Blick genommen werden.

IV Genealogien kapitalistischer Vergesellschaftung Produktionsverhältnisse, Dispositive und Regierungsrationalitäten (Foucault und Marx)

1 Genealogien und Dynamiken kapitalistischer Vergesellschaftung (Einleitung)

„Ausgeschlossen kann werden, daß die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen; sie können nur einen günstigeren Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die für die ganze weitere Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen.“ ANTONION GRAMSCI (1991ff., 1563) „Aber die Krise des Liberalismus ist nicht einfach und allein die unmittelbare Projektion dieser Krisen des Kapitalismus in die Sphäre der Politik. Man kann die Krisen des Liberalismus im Zusammenhang mit den Wirtschaftskrisen des Kapitalismus feststellen. Man kann sie auch in zeitlichen Verschiebungen feststellen, […] jedenfalls ist die Art und Weise, wie diese Krisen sich manifestieren […], wie sie Reaktionen hervorrufen, wie sie zu Neuordnungen führen, nicht direkt aus den Krisen des Kapitalismus ableitbar.“ MICHEL FOUCAULT (2004b, 106)

Da die kapitalistische Gesellschaftsformation ein „beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus“ (MEW 23, 16) ist, gibt es ‚die kapitalistische Gesellschaft‘ nicht – zumindest nicht im Sinne einer seit dem 19. Jahrhundert mit sich selbst identischen und vollständig ihrem abstrakten Begriff entsprechenden Realität. Jedoch ließen sich mit Bezug auf Marx’ Darstellung des ‚ideellen Durchschnitts‘ der kapitalistischen Produktionsweise einige wesentliche Zusammenhänge aufzeigen, welche Gesellschaften mit kapitalistischer Wirtschaftsform von anderen historischen Formen der Vergesellschaftung unterscheiden. Auch lassen sich auf dieser Grundlage Bedingungen der Ausprägung anderer Dimensionen der Vergesellschaftung und einige der Produktionsweise entspreche Tendenzen ihrer historischen Entwicklung bestimmen. Konkrete historische und soziologische Bedingungsgeflechte und Entwicklungen lassen sich aber nicht aus der idealisierten Darstellung des Kapitalverhältnisses deduzieren, sondern nur in historisch-soziologischen Detailstudien erschließen. Marx sprach solchen Analysen große Bedeutung zu und skizzierte entsprechende Forschungsfelder, ohne sie aber selbst systematisch zu bearbeiten. Im Folgenden soll genauer geprüft werden, wie sich von Foucault eröffnete Analyseperspektiven in

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Hinblick auf die Genese und Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung mit marxschen Ansätzen verbinden lassen. Foucault (vgl. u.a. 1994; 283ff.; 1983, 135ff.; 2005, 243) verortete seine Analysen zur Genealogie der Disziplin und der Bio-Macht im Kontext des Problemfeldes der historischen Genese des Kapitalismus. Hier lassen sich seine Analysen des Wechselverhältnisses zwischen der ursprünglichen „Akkumulation von Menschen“ und der ursprünglichen „Akkumulation von Kapital“ (Foucault 1994, 283) in einen produktiven Zusammenhang mit den marxschen Skizzen zur Genesis des Kapitalverhältnisses stellen, was auch hilfreich ist, um die historischen Konstellationen der Herausbildung des Disziplinardispositivs besser zu erschließen (2.1). Daran anschließend lassen sich wechselseitige Entsprechungen und Funktionalitätsbeziehungen zwischen Disziplin und kapitalistischer Produktionsweise in der ersten Phase des Hochkapitalismus am Beginn des 19. Jahrhunderts aufweisen (2.2). Diese Kapitel bewegen sich auf dem gesicherten Terrain eines in Grundzügen von Balibar (1991), Brieler (2002) und Demiroviþ (2008) bereits topographierten Verhältnisses von Foucault und Marx, das hier nur durch Details und Ausblicke auf andere Ansätze zum Problemfeld spezifiziert wird. Demgegenüber betreten die anschließenden Kapitel ein relativ unerschlossenes Gebiet, weshalb im Vorgriff eine ausführlichere Orientierungsskizze angebracht ist. Marx wie Foucault kennzeichnen die Disziplin als einen Technologiekomplex mit wesentlich transistorischem Charakter. Eine historische Schlüsselrolle kommt ihr in der Formationsphase des Kapitalismus zu, in der spezifische Subjektformen und Produktivitätspotenziale überhaupt erst ausgebildet werden müssen. Im Fortgang der kapitalistischen Entwicklung werden die Disziplinartechniken aber teilweise überflüssig, ineffektiv und hinderlich (mit Marx gesprochen: zur ‚Fessel der Produktivkräfte‘). Zudem bilden sich mit der kapitalistischen Produktionsweise Problemlagen heraus, die innerhalb des auf die normierende Zurichtung von Individuen zielenden Disziplinardispositivs nicht bearbeitet werden können (2.3). In diesem Kontext bilden die von Foucault unter den Begriffen der Bio-Macht und der Sicherheitsdispositive untersuchten Techniken und Praktiken der Gesundheits- und Sozialpolitik, die auf eine Regulation von Aggregationsphänomenen auf der Ebene der Bevölkerung und der Gesellschaft zielen, einen Schlüssel zum Verständnis entsprechender Verschiebungen in den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung. Foucaults Analysen dieser Techniken und ihrer Stellung und Funktion innerhalb der modernen Gouvernementalität – also in den Diskursen, Strategien und Praktiken, die auf das Problem der Regierung im weitesten Sinne des Wortes bezogen sind (vgl. Foucault 2004b) – lassen sich in einen Zusammenhang mit marxschen Analysen stellen, die Tendenzen der Transformation grundlegender Struktur- und Funktionsbeziehungen in den Modi kapitalistischer Vergesellschaftung antizipierten und aus Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise erklärten (3). Schon eine erste Annäherung an den Problemkomplex zeigt aber, dass die Verbindung des Kapitalismus mit einem Sicherheitsdispositiv zwar funktionslogisch einsichtig erscheint, historisch aber – in Widerspruch zu jedem funktionalistischen „post facto Determinismus“ (Thompson 1987, 220 [Hervh. i.O.]) – alles andere als selbstverständlich war. Die Herausbildung und Entwicklung des Verhältnisses von Kapitalismus und Sicherheitsdispositiven werden daher in Anwendung foucaultscher und marxscher Analyseraster anhand des klassi-

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schen Liberalismus (4), der Ausbildung des modernen Sozialstaats und der Versicherungsprinzipien (5), der Verknüpfung der Regulation des Sozialen und des Ökonomischen über die Stellgröße von Lohn und Konsum im Fordismus und Keynesianismus (6) und anhand der jüngeren Formen neoliberaler Gouvernementalität (7) genauer zu rekonstruieren sein. Dabei geht es weniger um eine wortgetreue Rekonstruktion der Aussagen von Marx und Foucault, der sich etwa zu den hier in den Kapiteln 5 und 6 ausführlich behandelten Zusammenhängen kaum oder nur beiläufig äußerte, sondern um eine Verbindung der Analyseraster zur Erschließung gesellschaftlicher Zusammenhänge. Abschließend ist zu diskutieren, ob in diesen Entwicklungslinien und Verschiebungen allgemeine Tendenzen erkennbar sind, die auf einen Modus (kapitalistischer) Vergesellschaftung hindeuten, den Foucault oder auch Link und Castel mit den Begriffen der Normalisierung und der Postdisziplin kennzeichneten. Die Frage was dies für die Modi kapitalistischer Vergesellschaftung im Einzelnen bedeutet (8), verweist bereits auf das Problemfeld der Klassenverhältnisse, dass dann in einem eigenen Hauptteil im Rückgriff auf Marx und Bourdieu vertiefend zu behandeln sein wird (V). Es ist bei all dem offenkundig, dass seitdem die grundlegenden Strukturmerkmale der kapitalistischen Produktionsweise im 18. Jahrhundert Kontur gewannen, die konkreten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung mehreren tiefen Umbrüchen unterworfen waren, welche zentrale sozialstrukturelle Charakteristika, die Grundprinzipien von Arbeitsorganisation und Konsum, die Formen der Regulation und Regierung, die Modi der Legitimation und Integration etc. betrafen. Der realexistierende Kapitalismus war so ‚buntscheckiger‘ und flexibler, als viele marxistische Analysen das erwarten ließen. Die vor diesem Hintergrund zu verfolgende Frage ist, inwiefern sich die Analyseraster von Marx und Foucault sinnvoll miteinander verknüpfen lassen, um diese verschiedenen Varianten kapitalistischer Vergesellschaftung und ihre krisenhaften Transformationen zu erklären. Dazu muss der Problemhorizont und das Verhältnis, in das beide Analyseraster zu seiner Erschließung gestellt werden, noch etwas genauer bestimmt werden. Eine verbreitete Grundform der Analyse von Transformationen des Kapitalismus bringt dessen Wachstums- und Krisendynamiken in einen Zusammenhang mit sozialen, politischen und kulturellen Konflikt- und Kritikpotenzialen. Die kapitalistische Akkumulations- und Innovationsdynamik führt demnach in ‚langen Wellen‘ (s.o. III.2.2) immer wieder an einen Punkt, an dem die Kapitalverwertung und die dafür potenziell verfügbaren Formen von Wissenschaft, Technik und Arbeitsteilung (Produktivkräfte) mit den bisherigen politischen, sozialen und kulturellen Produktionsverhältnissen unvereinbar werden. Die Folge ist eine allgemeine Krise, die nicht nur ökonomischen Charakter hat, sondern die bisherigen Formen der Vergesellschaftung insgesamt betrifft. Da die Produktionsverhältnisse von einer Triebkraft zur Fessel der Akkumulation geworden sind, ist ihre sukzessive Umwälzung erfordert. Dabei können verschiedene Formen der Kritik an den bisherigen Verhältnissen Ansatzpunkte und Bausteine für die neue Ausformung der kulturellen, sozialen und politischen Verhältnisse der Akkumulation und für neue Modi ihrer Legitimation bieten. Ein solches Analyseraster – das Widersprüche nicht als dialektisches Prinzip der Aufhebung der Produktionsweise behandelt, sondern als ihren Treibstoff und Entwicklungsmotor, während Kritik, statt den kapitalistischen Gesellschaftsorganismus zu zersetzen,

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als das Lebenselixier erscheint, das in Krisen als eine Quelle seiner Erneuerung wirkt – haben in jüngerer Zeit bekanntlich Boltanski und Chiapello (vgl. 2003; 2001; 2005) fruchtbar gemacht und den Schwerpunkt auf die konkreten Wechselwirkungen von Kapitalismus und Kritik seit den 1960er Jahren gelegt.1 Ihr Ansatz steht dabei aber in deutlicher Kontinuität zu zahlreichen Theorielinien, die ausgehend von Marx Strukturumbrüche in den kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung zu erklären suchten.2 Zu beachten ist, dass obwohl die Wechselwirkung von „kapitalistischem Geist“ und Kritik im Zentrum dieser populären Studie stehen, beides „den je konkreten Formen der Kapitalakkumulation zu einem bestimmten Zeitpunkt entspricht“ (Boltanski/Chiapello 2003, 58). Die Veränderungen der Akkumulationsmodi (vgl. v.a. ebd. 261-376) werden (obwohl dies nicht immer explizit gemacht wird) in Kontinuität zur neomarxistischen Regulationsschule analysiert, die – wie oben (III.2) skizziert wurde – die zyklischen Metamorphosen der kapitalistischen Produktionsweise in einer Fortführung von Marx zu erschließen suchte. In diesem Feld von Analysen, die die historischen und soziologischen Ursachenkonstellationen dieser Metamorphosen der Produktionsweise und der damit zusammenhängenden Transformationen der Modi der Vergesellschaftung zu erschließen suchen, kann eine systematische Verknüpfung der von Marx und Foucault angebotenen Analyseraster einen wichtigen und über andere Ansätze hinausgehenden Beitrag leisten. Nach Marx begünstigt der tendenzielle Fall der Profitrate in der Logik der kapitalistischen Akkumulation einerseits Kapitalverwertungskrisen, andererseits fördert er Innovationsdynamiken, die die bisherigen Schranken der Produktionsweise durchbrechen. Gegen marxistische Zusammenbruchstheorien wurde oben (III.2.2) betont, dass ‚entgegenwirkende Ursachen‘ derart mit dem Tendenzgesetz verbunden sind, dass dieselben Faktoren, die den Fall der Profitrate bewirken, zugleich die Bedingungen der Hemmung und Umkehrung dieser Tendenz schaffen und so die Grundlage neuer Akkumulationsschübe schaffen, was mit den langfristigen Wachstumszyklen nach Kondratieff (1926) in Verbindung gebracht werden kann. Antonio Gramsci, in dessen Gefängnisheften (vgl. Gramsci 1991ff.) viele Problemstellungen und Begriffe Foucaults vorweggenommen sind,3 ging in diesem Kontext davon aus, dass das Tendenzgesetz auf zyklische Umwälzungen der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse der Kapitalverwertung hinwirkt, in denen kapitalistische Gesellschaften sich in jeweils neuer Form reorganisieren (vgl. ebd., 1289ff.). Da für Gramsci aber ausgeschlossen ist, dass die Wirtschaftskrisen „von sich aus“ weitere Entwicklung

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Der „Geist des Kapitalismus“ ist das jeweilige historische „Ergebnis der Interaktion zwischen dem Kapitalismus und seinen Kritikern“ (Boltanski/Chiapello 2005, 289). Das gilt auch für die kapitalismuskritische Theorie: „[E]in[] Großteil unseres Wissens über den Kapitalismus“ verdanke sich „seinen Kritikern“, v.a. Karl Marx. „Und die Arbeiten von Ökonomen, die den Marxismus zu bekämpfen […] suchten, sind wiederum gute Beispiele dafür, was aufgrund des Rechtfertigungsbedarfs, der von einer starken Kritik ausgelöst wird, erreicht werden kann“ (ebd., 291). Vgl. zu den Einflüssen, zu denen neben Marx v.a. Schumpeter und Polanyi gehören, das aufschlussreiche Interview: Boltanski/Chiapello 2000. Es sei dahingestellt, ob Foucault (der Gramsci fast nie explizit erwähnt) Anregungen und Termini Gramscis bewusst übernahm. Die Kompatibilität der Analyseraster – und oft auch die Identität zentraler Begriffe – ist in jedem Falle gegeben. Vgl. v.a. auch: Demiroviþ 2009; Olson 1999.

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hervorbringen (ebd., 1563), müssen die realen Umwälzungen von weiteren Faktoren bedingt sein. In Differenz zu technizistischen und ökonomistischen Argumenten betonte er, dass auch technische Innovationen so tiefe Veränderungen der Betriebs- und Menschenführung voraussetzen und die Verwertungskrisen so starke soziale Effekte haben, dass die Transformationen nicht nur technischen, sondern sozialen, politischen und kulturellen Charakter haben. Die Form solcher Umwälzungen ist weder mechanisch auf ökonomische Krisen zurückführbar, noch müssen sie die Gestalt eines revolutionären Umsturzes annehmen. Sie treten eher als „passive Revolutionen“ auf, die im Zusammenspiel ökonomischer, politischer und kultureller Strategien und Initiativen die gesellschaftlichen Verhältnisse schrittweise umformen.4 Akkumulationskrisen schaffen Bedingungen einer Umwälzung, deren Form sich erst in eigendynamischen politischen und sozialen Auseinandersetzungen entscheidet. Jenseits radikaler Brüche in den Regierungstechniken kann eine passive Revolution von mikroskopischen Umformungen der Produktions- und Lebensweisen, der kulturellen Einstellungen etc. ausgehen, die als „molekulare Veränderungen […] die vorhergehende Zusammensetzung der Kräfte zunehmend verändern und folglich zur Matrix neuer Veränderung werden“ (ebd., 1727f.). Da die Umwälzungen auch bei den Arbeitskräften neue Dispositionen erfordern, können sie nicht allein auf Zwang und Gewalt beruhen; sie bedürfen eines Moments der Überzeugung, der Akzeptanz und der Kooperation. Gramsci prägte dafür den Begriff der Hegemonie, der ein Verhältnis bezeichnet, in dem „die Suprematie einer gesellschaftlichen Gruppe“ nicht mit Herrschaft im Sinne von Befehls- oder Zwangsgewalt identisch ist, sondern auf „intellektuelle[r] und moralische[r] Führung“ (ebd., 1947) beruht. Führung kann nach Gramsci, wie in Foucaults (vgl. 2004b) affiner Begriffsverwendung, nicht als Top-Down-Politik verstanden werden, da sie immer nur im Verhältnis zu „verwandten und verbündeten Gruppen“ möglich ist (Gramsci 1991ff., 1947) und voraussetzt, dass die Lebensweisen (vgl. ebd., 529ff.) der ‚Geführten‘ und die äußere Führung ein Verhältnis wechselseitiger Affinität aufweisen.5 Das „Verhältnis von Führenden und Geführten, zwischen Regierenden und Regierten“ muss daher „durch einen organischen Zusammenhalt“ und den „Austausch individueller Elemente zwischen Regierenden und Regierten“ (ebd., 1490) geprägt sein, in dem gerade auch institutionalisierte Konflikte – etwa zwischen Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Politik – zur sozialen Kohäsion beitragen können. Der Hegemoniebegriff erweitert (ähnlich wie Foucaults Begriff der Gouvernementalität) das Terrain der Analyse von Regierungspraktiken. Gerade die alltäglichen

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Es trifft trotzt dieser kulturalistischen Ausrichtung der Analysen jedoch nicht zu, dass sich Gramsci nur für Politik und kaum für „Produktionsverhältnisse interessiert“ (Walzer 1991, 117). Er betrachtete wie Marx ökonomische, kulturelle und politische Formen als relativ autonome Sphären eines nicht mechanischen, sondern organischen gesellschaftlichen Zusammenhangs (vgl. Gramsci 1991ff., 529ff.). Passive Revolutionen sind Umwälzungen dieses Zusammenhangs, die ökonomische Ursachen und Effekte haben, sich aber primär kulturell und politisch vollziehen. Gramsci bezog den Begriff zunächst auf das italienische Risorgimento, verwendet ihn aber später auch für den sozialstaatlichen Korporatismus, den Faschismus und den Fordismus (vgl. ebd., 966f. & 2063ff.). Führend kann eine Gruppe nur sein, wo der von ihr artikulierte ‚Geist‘ und die von ihr vertretene Kultur Entsprechungen in Gesinnungen und Dispositionen der Geführten hat (vgl. Gramsci 1991ff., v.a. 370ff., 1947, 102).

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Dispositionen der Lebensführung werden in beiden Fällen dem Feld eines Regierens zugeordnet, das darauf zielt, „bestimmte Gewohnheiten und Verhaltensweisen zum Verschwinden zu bringen und andere zu verbreiten“, um eine spezifische Form „des Zusammenlebens und der individuellen Beziehungen“ (ebd., 1548) zu schaffen und dadurch „auch physisch neue Menschheitstypen herauszuarbeiten“ (ebd., 1544). Die Ausbildung solcher Hegemonien und die Effekte passiver Revolutionen führen zur Konstitution eines historischen Blocks, womit Gramsci ein abgrenzbares Ensemble von „Strukturen“ (der unmittelbaren Produktionsform) und „Superstrukturen“ (kulturelle, politische, soziale Formen der Produktionsverhältnisse) bezeichnet (vgl. ebd., 1490). Diese Begriffe entsprechen denen von Basis und Überbau bei Marx, weisen aber stärker auf den interrelativen Charakter und die relative Autonomie kultureller, sozialer und politischer Formen hin (vgl. auch Kramer 1975, 65-118). Da Superstrukturen und Ideologien erst die gesellschaftliche „Form“ bilden, die den „Inhalt“ der „materiellen Kräfte“ vermittelt, ist ohne sie auch die konkrete Gestalt der Produktionsweise „historisch nicht begreifbar“ (Gramsci 1991ff., 876). Erst das Zusammenspiel besonderer ökonomischer, kultureller, politischer etc. Praxisformen, spezifischer hegemonialer Verhältnisse zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und besonderer Subjektivierungsformen konstituiert den relativ stabilen Zusammenhang eines historischen Blocks (vgl. auch Link 1980, 280ff.). Gramscis Modell bietet einen Anschluss an Marx, der es erlaubt, zyklische Krisen und Umwälzungen der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse jenseits mechanischer Ökonomismen und Klassenkampfschematismen zu erfassen. Strukturelle Krisen wie die Weltwirtschaftskrise ab 1929 oder die Stagflation der 1970er Jahre markieren einen Punkt, an dem der Verwertungsprozess an Grenzen einer historischen Vergesellschaftungsform stößt, in deren Rahmen er zuvor prosperierte. „Die Krise fungiert als Auslösungsmoment und Vehikel eines verwertungsnotwendigen Umbaus der Gesellschaft.“ (Hirsch/Roth 1986, 36) Ihre Funktion ist es, die Verhältnisse „so zu ‚revolutionieren‘, daß der Akkumulationsprozess auf neuer gesellschaftlicher Basis wieder in Gang kommen kann“ (ebd., 38). Marx’ allgemeines Modell kann dabei „keine einzelne historische Krise“ in ihrem Verlauf erklären (ebd., 40). Ebenso wenig kann es die relativ autonomen Logiken, Widersprüche und Bezugsprobleme erfassen, die sich parallel und in Wechselwirkung mit den ökonomischen Krisen auf der Ebene der Regulationsprojekte und Regierungsformen ergeben. Marx’ Theorie erklärt „die strukturelle, unabhängig von den Aktionen der Klassen-Akteure bestehende Notwendigkeit periodischer Krisen des Kapitalismus“ und entgeht „einem ‚ökonomistisch‘ und ‚politizistisch‘, den Zusammenhang von Politik und Ökonomie auseinanderreißenden Missverständnis“, wodurch sie „Erklärungsansätze konkurrierender Theorien verhältnismäßig bruchlos integrieren“ (ebd., 40f.) kann. Um aber die Entsprechungsverhältnisse und Wechselwirkungen zwischen der Logik der Kapitalverwertung und der relativ eigenständigen Logik der politischen und kulturellen Formen erfassen zu können, in denen die konkreten Formen der Vergesellschaftung und des Verwertungsprozesses erst bestimmt werden, bedarf es weiterer Analyseraster, welche die marxsche Theorie keineswegs mitliefert. An dieser Stelle lässt sich Foucault ins Spiel bringen, dessen Analysen in vielen Punkten mit bei Gramsci angelegten und in der Regulationstheorie (vgl. u.a. Lipietz

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1985; Hirsch 2005) ausgebauten Perspektiven konvergieren,6 aber zugleich andere Akzente setzen. Gramscis Ansatz brach zwar die binären Dichotomien und klaren Fronten eines simplen Klassenkampfschemas auf, blieb letztlich aber doch stark Fragen nach den ‚Kollektivsubjekten‘ verpflichtet. Die Analyse der Formen der Führung und der Binnenlogik einer Hegemonie bleibt der (für die Entwicklung praktischer politischer Strategien zentralen) Frage untergeordnet, wer führt, wem die Strategien nützen, wessen Position gestärkt oder geschwächt wird. Das alles sind nicht nur politisch, sondern auch analytisch relevante Fragen, die aber hinsichtlich der Genese und Funktion des Sozialstaates, des Fordismus, des Keynesianismus oder des Neoliberalismus oft kaum eindeutig zu beantworten sind, während zugleich die Suche nach Akteurs-Zurechnungen den Blick für den konkreten Charakter gesellschaftlicher Problemlagen, auf die die Strategien reagieren, und für die spezifische Form und Funktion dessen, was sie Neues in das Feld der gesellschaftlichen Verhältnisse einführen, auch blockieren können. Demgegenüber bieten regulationstheoretische Ansätze eine funktionale Analyse, die mit Foucault eine Perspektive teilt, in der die historische Genese der Akkumulationsmodi und Regulierungsformen als „Prozess ohne Subjekt“ (Hirsch/Roth 1986, 38) untersucht wird. Dabei dominiert aber die Frage nach der Funktion für den Kapitalismus über die Frage nach der Genese der funktionalen Elemente, denen (entgegen dem eigenen Anspruch) in ihrer Eigenlogik und relativen Autonomie oft wenig Rechnung getragen wird. Zudem bleiben die Darstellungen der Akkumulationsregime mitunter zu einseitig der Schilderung eines Heteronomiezusammenhangs verpflichtet, der Fragen danach, was an den jeweiligen Akkumulationsmodi und Regulationsformen für die Individuen attraktiv und motivierend sein könnte, nur bedingt Rechnung trägt. Mit dem Abrücken von einem auf Akteure, Strategien und Klassen zentrierten Analyseraster drohen damit zugleich wesentliche Qualitäten von Gramscis Begriffen der Hegemonie, der Führung und der Regierung über Bord zu gehen oder zumindest nicht adäquat ausgeschöpft zu werden. Die von Foucault angebotenen Analyseraster bieten einige Grundlagen, die es ermöglichen können diesen komplementären Engführungen der Analyse zu entgehen. Foucault gebrauchte in den 1970er Jahren einen Gramscis Konzeption analogen Hegemoniebegriff. Deutlich ist das in den methodischen Reflexionen in Der Wille zum Wissen (vgl. Foucault 1983, 93ff.). Auch Foucault will, ausgehend von der „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“, die „Stützen, die diese Kräfteverhältnisse aneinander finden“, und „die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen“, analysieren, „deren große Linien […] sich in […] den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern“ (ebd., 93). „Herrschaftssysteme sind Hegemonie-Effekte, die auf all diesen Konfrontationen aufruhen.“ (Ebd., 95) Geteilt wird mit Gramsci die Betonung der Wechselseitigkeit der Machtrelationen und der Mikrostruktur der Kräfteverhältnisse, die den Hegemonien zugrunde liegen. Über diese begrifflichen Affinitäten hinaus verfolgt Foucault mit seiner ‚Genealogie der Macht‘ und den daran anknüpfenden Untersuchungen zur Geschichte der Gouvernementalität ein dem oben skizzierten 6

Es ist insofern nicht ungewöhnlich, aus einer von Gramsci beeinflussten Marxrezeption kommend Foucault aufzugreifen. Ein prominentes Beispiel wäre Jürgen Link, auf den unten noch zurückzukommen sein wird. Vgl. zu einem Überblick von Verhältnisbestimmungen zwischen Foucault und Gramsci auch: Brieler/Hauk/Kehm/Korngiebel/Link 1986 sowie Olson 1999, 89-111 & Demiroviþ 2009.

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Forschungsstrang affines Projekt. Im Unterschied zu den verschiedenen neomarxistischen Theorie- und Analysesträngen rückt er aber die relative Autonomie und die immanenten Logiken von Machttechnologien und Regierungsformen in ihrem Verhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise stärker in den Mittelpunkt. Indem den Machtbeziehungen und -techniken „gegenüber den Produktionsverhältnissen [...] eine zugleich komplexe und relativ – aber auch nur relativ – unabhängige Realitätsebene“ (Foucault 2003b, 789) zugesprochen wird, zielen die Analysen darauf, relationale Bedingungsverhältnisse zwischen den Eigenlogiken von Diskursen, Machtechniken, Regierungspraktiken und den Formen der Kapitalverwertung sowie ihren historischen Metamorphosen herauszuarbeiten. In eben diesem Sinne eines wechselseitigen Wirkungszusammenhangs relativ autonomer Ebenen gesellschaftlicher Realität formulierte Foucault auch die Leitfrage seiner Vorlesungen zu den Formen der modernen Gouvernementalität: „Wenn […] die moderne Welt seit dem 18. Jahrhundert ständig von einer Reihe von Phänomen durchzogen war, die man Krisen des Kapitalismus nennen kann, ließe sich dann nicht auch sagen, daß es Krisen des Liberalismus gegeben hat, die wohlgemerkt nicht unabhängig von diesen Krisen des Kapitalismus sind?“ (Foucault 2004b. 106)

Anhand einer Analyse dieser verschiedenen historischen Krisen des Liberalismus könnte sich eine „Geschichte [der] Krisen des allgemeinen Dispositivs der Gouvernementalität schreiben“ lassen, „wie es im 18. Jahrhundert eingerichtet wurde“ (ebd.). Dabei zeigen die Konstellationen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise ab 1929, die mit einer tiefen Krise des Liberalismus verknüpft war, dass zwischen beiden Krisentypologien klare historische Zusammenhänge bestehen (vgl. ebd., 103ff.). Historisch konnte die Weltwirtschaftskrise – im Sinne von Gramsci (vgl. 1991ff., 1563) – den Nährboden bereiten, der die Ausbildung des Keynesianismus und des Neoliberalismus (also der beiden Hauptlinien der nachfolgenden Gouvernementalitätsformen) begünstigte. Diese Zusammenhänge dürfen aber nicht mechanisch oder deterministisch aufgefasst werden. Schon die erheblichen Differenzen der beiden in den Krisenkonstellationen der 1930er Jahre ausgebildeten Hauptlinien von Keynesianismus und Neoliberalismus und erst recht ihre vielfältigen Binnendifferenzierungen zeigen, dass es sich nicht um eine „unmittelbare Projektion dieser Krisen des Kapitalismus in die Sphäre der Politik“ handeln kann (ebd., 106). Die Krisendynamiken des Kapitalismus und die Krisendynamiken der liberalen Gouvernementalität hängen miteinander zusammen, sind aber nicht miteinander identisch, da die Krisen der Regierungsrationalität sich auf einer anderen Ebene bewegen und von eigenen Bezugsproblemen, Binnenrationalitäten und Paradoxien angetrieben sind, die über die reine Ebene der Ökonomie oder der Wirtschaftspolitik hinausgehen. Für die Analyse von konkreten Wechselwirkungen zwischen den beiden Krisendynamiken muss neben der Logik kapitalistischer Krisen daher die relativ autonome Eigenlogik gouvernementaler Krisen verstanden werden, wozu ein Vorgriff auf Foucaults Bestimmung der modernen Gouvernementalität sinnvoll ist. Foucaults (fragmentarische) Analysen der modernen Gouvernementalität wenden sich explizit gegen eine Entgegensetzung staatlicher Sicherheitstechniken und ökonomischer Freiheiten, die viele Analysen der Regierungspraktiken seit dem 18. Jahrhundert prägte. Wo überzeugte Liberale ebenso wie Kritiker des Liberalismus übli-

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cherweise dieselbe Geschichte des antagonistischen Konflikts zwischen liberalen und sozialen Prinzipien, zwischen Marktfreiheit und staatlicher Regulation erzählen, wobei die Unterschiede sich lediglich in den gegenläufigen Wertungen und Parteinahmen ergeben,7 ordnet Foucault (vgl. 2004b, u.a. 103ff.) die verschiedenen Formen moderner Gouvernementalität in ein Kontinuum des Liberalismus ein, in dem sich der Protokeynesianismus, mit dem die Roosevelt-Regierung ab 1932 auf die Weltwirtschaftskrise reagierte, ebenso bewegt wie spätere neoliberale Kritiken am Keynesianismus und entsprechende De-Regulierungen. So konnte gerade der Namenspatron des keynesschen ‚Interventionsstaates‘ seinen Ansatz selbst als liberal verstehen, da er darauf zielte, „die Natur der Umwelt zu bestimmen, die das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte erfordert“, um das „Feld für die Ausübung der privaten Initiative herzustellen“ (Keynes 1936, 320). Hier stellt sich die Frage, welche gemeinsame Logik die Spielweisen moderner Gouvernementalität hinter dem Scheingegensatz von regulierendem Staat vs. Liberalismus verbindet. Für Foucault handelt es sich beim Liberalismus um eine Gruppe von Programmen und Praktiken des Regierens, die als solche staatliche Eingriffe erfordern, zugleich aber die Grenzen des Regierens zu bestimmen suchen (vgl. Foucault 2004b, v.a. 51-76). Damit stehen staatliche Interventionen (für die die Sozialpolitik nur ein Beispiel ist) zwar in einem Verhältnis der Spannung zum Prinzip der Freiheit der Marktsubjekte, diese Spannung ist aber von Anfang an eine der liberalen Gouvernementalität immanente Binnenspannung und kein ihr äußerlicher Widerspruch. Die wesentliche Aufgabe der liberalen Regierung ist „die Einrichtung und Organisation der Bedingungen“ verschiedener ökonomischer und politischer Freiheiten. Damit wird „im Zentrum dieser liberalen Praxis ein problematisches, ständig wechselndes Verhältnis zwischen der Produktion der Freiheit und dem hergestellt, was, indem es sie herstellt, sie auch zu begrenzen und zu zerstören droht“ (ebd., 97f.). Diese Spannung – zwischen der Herstellung der Freiheit und den Kosten, die dies impliziert, zwischen individuellen Interessen und dem Schutz kollektiver Interessen zur Sicherung der wechselseitigen Freiheit der Individuen – prägt den Liberalismus. Da die Bedingungen der Freiheit ständig prekär sind, bedarf es ständiger Eingriffe, um sie gegen Gefährdungen abzusichern. Der Liberalismus ist so eine „Kultur der Gefahr“,

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Diese Geschichte ist etwa die Folgende: Im 18. Jahrhundert konstituiert sich der Liberalismus im Namen der Freiheit des Individuums und der Marktkräfte. In dem Maße, in dem das Freiheitsprinzip auf die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens übertragen und Arbeit, Boden und Geld als Waren dem freien Spiel des Marktes unterworfen werden, steigt die ökonomische Prosperität, die sich aber mit so destruktiven sozialen Effekten verbindet, dass ein ‚Selbstschutz der Gesellschaft‘ (Polanyi 1997) notwendig wird. Durch Protektionismus sowie Arbeits- und Sozialgesetze wird die Marktfreiheit Ende des 19. Jahrhunderts wieder eingeschränkt. Die Ungleichzeitigkeit der Maßnahmen und das Fortbestehen eines unregulierten Weltmarktes führen zu Reibungen und Konflikten, die sich in der Weltwirtschaftskrise 1929 zuspitzen. Mit dem Keynesianismus wird schließlich eine Form der Soziales und Ökonomisches verbindenden Regulation gefunden, die den selbstregulierten Markt überwindet. Das wäre in groben Zügen die Geschichte von Polanyis Great Transformation. Etwas simpler und mit gegensätzlicher Wertung erzählen amerikanische Neoliberale dieselbe ‚Story‘: Im 19. Jahrhundert schuf der Liberalismus ein Reich von Freiheit und Wohlstand, bis sich ‚die Kollektivisten‘ erhoben, um die Freiheit durch einen ineffizienten Staat zu knechten, den die Neoliberalen nun wieder auf sein sinnvolles Maß zurückführen müssen (vgl. u.a. Friedman 1971).

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in der „die gewaltige Ausweitung von Verfahren der Kontrolle, der Beschränkung, des Zwangs“ das notwendige „Gegenstück […] der Freiheiten bilden“ (ebd., 101f.). Foucault bezeichnete daher auch das Panopticon als die „eigentliche Formel einer liberalen Gesellschaft“. Es räumt der als natürlich geltenden „Mechanik des Verhaltens“ und „der Produktion [...] einen Platz ein“, der nicht beständig gelenkt, sondern nur überwacht wird. Wo die Regierung „aber feststellt, daß etwas nicht so geschieht, wie es nach der allgemeinen Mechanik des Verhaltens, des Tauschs, des Wirtschaftslebens usw. geschehen sollte, hat sie einzugreifen“ (ebd., 102f.). Die Ambivalenz und Interpretationsoffenheit in der Bestimmung der Bedingungen der Freiheit und des sie garantierenden Zwangs verleiht dem Liberalismus eine große Flexibilität und Varianz. Er kann sich mit dem Ausbau von rigiden Disziplinarund Überwachungsapparaten ebenso verbinden wie mit zahlreichen sozialpolitischen Maßnahmen, die den Ordoliberalen als Voraussetzung einer freien Wettbewerbsordnung galten. Der liberale Staat kann die Form der repräsentativen Demokratie, aber ebensogut die der Militärdiktatur haben.8 Zugleich impliziert der Liberalismus aber einen Modus von Kritik, der die Maßnahmen zur Herstellung der Freiheit selbst als Gefährdung der Freiheit angreifbar macht. Um die Transformationen in den Modi der Regierungspraktiken und ihre Wechselwirkung mit den Modi kapitalistischer Vergesellschaftung zu verstehen, ist es sinnvoll, dieser Einordnung zu folgen, auch wenn sie den üblichen Abgrenzungen von Keynesianismus und (Neo-)Liberalismus widerspricht. Die so verstandene liberale Gouvernementalität enthält in sich ein dynamisches und krisenhaftes Moment, das der krisenhaften Dynamik des kapitalistischen Akkumulationsprozesses homolog ist. Foucault vertritt die These, das „diese liberale Regierungsrationalität von sich aus zu etwas führt, […] was man die Krisen des Liberalismus nennen könnte“: „Krisen, die auf die Erhöhung der ökonomischen Kosten der Ausübung der Freiheit zurückgehen“; Krisen, die durch „eine Aufblähung der Kompensationsmechanismen der Freiheit“ entstehen; Krisen, in denen „die Mechanismen, die die Freiheit produzieren, jene Prozesse, die man berufen hat diese Freiheit zu sichern […], zerstörerische Wirkungen hervorbringen“ (ebd., 104). Rückt man diese Krisen des Liberalismus in einen Zusammenhang mit den Krisen des Kapitalismus (vgl. ebd., 105f.), so wäre nicht nur zu fragen, ob die Krisen des Kapitalismus die Manifestation einer Krise des Liberalismus begünstigen, sondern es wäre auch zu prüfen, inwiefern die Form, in der immanente Krisen des Liberalismus durch Verschiebungen in den Programmen, Techniken und Strategien des Regierens bearbeitet werden, jene Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse und Subjektivierungsformen begünstigen, die jeweils

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Die viel kritisierte Verteidigung Pinochets als Freiheitskämpfer durch Margaret Thatcher war vor diesem Hintergrund logisch korrekt. Da die demokratische Allende-Regierung gegen die natürliche Ordnung der Freiheit verstieß, konnten Pinochet und seine neoliberalen Berater (unter ihnen viele Schüler Milton Friedmans) die Freiheit nur diktatorisch durchsetzen. Die Opfer waren Bedingung der Freiheit. Prinzipiell meint Liberalismus nicht notwendig Demokratie. Viele Liberale lehnten den politischen Einfluss der Mehrheit als potenzielle Gefahr für die freie Marktordnung ab (vgl. u.a. Thurow 1996, 357-406). In diesem Sinne war, wie ein liberaler Nachruf betonte, auch Pinochet fraglos ein „echter Liberaler“ und „Märtyrer [...] für die Freiheit!“ (vgl. http://www.monarchieliga.de/text/pinochetauguste-nachruf.htm [Zugriff am 7.10.2009]).

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zur Neuanpassung der Modi der Vergesellschaftung an die Erfordernisse der Kapitalverwertung beitragen. Abstrakt gefasst erlaubt der ‚innere Krisenmotor‘ des Liberalismus flexible, auf die Krisen des Kapitalismus reagierende Verschiebungen in der „Regierung der Freiheit“. Dank der Spannung zwischen der Herstellung der Freiheit und der komplementären Kritik der damit verbundenen Zwangseffekte kann die liberale Ratio verschiedene, in ihrem Auftauchen, ihrer Durchsetzung und ihren Ausformungen historisch kontingente Sicherheitstechniken (rechtliche Maßnahmen, soziale Kompensationsmechanismen, Versicherungstechniken etc.) integrieren, dabei auf den Stand sozialer Kräfteverhältnisse reagieren und gesellschaftliche Kritiken und Widerstände aufnehmen und produktiv verarbeiten. Das befördert eine variable Einrichtung kapitalistischer Vergesellschaftung. Wo diese an ihre Grenzen stößt, kann den Prinzipien des Liberalismus entsprechend eine Kritik an den bisherigen Regierungspraktiken innerhalb der liberalen Ratio artikuliert werden. Der Liberalismus fungiert so in wechselnder Form als Kopf jener Emanzipation, in der die freiheitliche Ordnung und die Freiheit der Subjekte neue, den Erfordernisse der Kapitalverwertung entsprechende Formen annehmen. Das ist nicht deterministisch gemeint, im oben herausgearbeiteten Sinne von relationalen Bedingungsverhältnissen und Entsprechungen vollzöge sich diese sukzessive Anpassung in einem jeweiligen Bedingungsrahmen mit zahlreichen Freiheitsgraden der Form der Umwälzung. Die jeweiligen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung können daher auch aus diesem Modell nicht deduziert werden. Inwieweit sich das foucaultsche Analyseraster der liberalen Gouvernementalität als Komplement zum marxschen Analyseraster der ökonomischen Krisendynamik verwenden lässt, kann aus diesem Grund nicht in dieser Einleitung entschieden werden, sondern nur ‚im Gebrauch nach vorwärts‘. Entsprechende Zusammenhänge sollen im Folgenden in Verknüpfung foucaultscher und marxscher Analyseraster herausgearbeitet werden. Damit sollen auch manche Einseitigkeiten in der Foucault-Rezeption überwunden werden. Indem das konkrete Netz interdependenter Wirkungslinien und Kausalitäten identifiziert wird, in das Foucault die Veränderungen der Machtechnologien und Regierungspraktiken einordnet, wird es möglich, den theoretischen und praktischen Verkürzungen zu entgehen, die daher rühren, dass Machttechnologien unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, Strategien und Kämpfen betrachtet werden, in denen sie sich herausbilden und in denen sie ihre Wirkung entfalten. Wo die Vernachlässigung der von Foucault analysierten Bedingungsverhältnisse den Eindruck erwecken kann, man habe es mit einer Art ‚Metaphysik der Macht‘ zu tun, in der ‚die Macht‘ als causa sui fungiert, wird in der Rekonstruktion dieser Bedingungsgeflechte deutlich, dass Macht bei Foucault kein Allerklärungsoperator ist, sondern dass die je spezifischen Formen von Macht – das Disziplinardispositiv, die Bio-Macht, die Sicherheitsdispositive etc. – ein zu erklärendes Problem bilden. Damit kann auch den Verkürzungen entgangen werden, die in den an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsstudien den Ertrag der oft präzisen Analysen neoliberaler Programmrationalitäten beeinträchtigen. Während sich in diesem Forschungsfeld auf der programmatischen Ebene zahlreiche Ähnlichkeiten mit den hier angelegten Perspektiven finden, lässt sich in der wissenschaftlichen Praxis oft eine zu einseitige Beschränkung auf die Binnenrationalität

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von Regierungsprogrammen9 feststellen. Wo aber einmal festgelegt ist, dass die Leitfrage der Analysen „nicht warum oder wozu, sondern wie“ (Bröckling 2007, 36 [Hervh. i.O.]) zu sein hat, die Forschung also auf eine Analyse der bloßen Form von Programmrationalitäten beschränkt wird, geraten wichtige Fragestellungen Foucaults aus dem Blickfeld. Schließlich ging es dort um die Frage, in welchen Bedingungskonstellationen, im Kontext welcher Problemlagen und Konflikte sich bestimmte Regierungsrationalitäten herausbilden, welche Bezugsprobleme und Zielstellungen sie haben und welche Funktionen sie gewinnen. Insofern kann die Warum- und Wozu-Frage, von der Frage nach dem Wie, also nach der internen Rationalität der Programme, nicht isoliert werden.

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Das dabei neben dezidiert politischen Programmen auch vielfältige Theorien, Ratgeber, Lebenshilfepublikationen etc. analysiert werden, kann die Probleme der Einseitigkeit der Analyseperspektive nicht kompensieren. Vgl. auch die Kritiken bei Draheim/Opitz/Reitz 2005; Reitz/Draheim 2007; Weber 2011; am Beispiel der Analyse von Wellness Weber 2008; aus dem Forschungsfeld selbst Lemke 2007, 64.

2 Genealogien der Disziplin und die Genesis der kapitalistischen Gesellschaftsformation

2.1 D ISZIPLIN UND ‚ URSPRÜNGLICHE AKKUMULATION ‘ – DIE G EBURT DES K APITALISMUS „Offensichtlich besitzen wir eine ausgeführte Theorie der politischen Ökonomie des Kapitals. Das Kapital von Marx. Der Gegenpol dazu ist eine politische Ökonomie der Arbeitskraft. Hierzu existiert kein theoretisches Fundament. Marx hat diese politische Ökonomie der Arbeitskraft, die als Gegenseite des Kapitals in seinem Gedankensystem immanent vorausgesetzt ist, nicht niedergelegt.“ OSKAR NEGT/ALEXANDER KLUGE (1993, Bd. 1, 83f.)

„Die beiden Prozesse, Akkumulation von Menschen und Akkumulation von Kapital, können [...] nicht getrennt werden: das Problem der Anhäufung von Menschen wäre nicht zu lösen gewesen, ohne das Anwachsen eines Produktionsapparates, der diese Menschen sowohl erhalten, wie nutzbar gemacht hat; umgekehrt wird die Bewegung der Kapitalakkumulation von den Techniken beschleunigt, welche die angehäufte Vielfalt der Menschen nutzen. Insbesondere waren die technologischen Veränderungen von Produktionsapparaten, die Arbeitsteilung und die Ausarbeitung von Disziplinarprozeduren sehr eng miteinander verflochten.“ MICHEL FOUCAULT (1994, 283)

Foucault stellte die Genese des Disziplinardispositivs in einen Interdependenzzusammenhang mit der Genese des modernen Kapitalismus: einerseits in dem Sinne, dass der Kapitalismus ein wichtiger Faktor bei der Zusammenführung zunächst vereinzelt entstandener Disziplinartechniken war, andererseits in dem Sinne, dass die Disziplin eine elementare historische Voraussetzung der Entstehung dieser Wirtschaftsweise bildete. Hier leisten Foucaults Analysen einen Beitrag zu der von Marx nicht systematisch verfolgten Frage nach den historischen Ausgangsbedingungen des Kapitalismus, die erfüllt sein mussten, bevor diese Gesellschaftsform aus ihrer eigenen Logik ihre Voraussetzungen reproduzieren konnte. In Marx’ Kritik der politi-

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schen Ökonomie, deren Methode explizit keine historische war, bildet die Genesis des Kapitalismus nicht den primären Gegenstand.1 Stattdessen scheint die dort im ‚ideellen Durchschnitt‘ analysierte Prozesslogik, wo sie einmal herausgebildet ist, ihre Bedingungen (Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln, Differenz von Kapital und Arbeit, notwendige Subjektformen in Bürgertum und Proletariat) rekursiv selbst zu erzeugen: „Diese ganze Bewegung scheint sich in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehen“ (MEW 23, 741). Für die genealogische Frage, wie sich die dieser Bewegung vorausgesetzten besonderen Verhältnisse, in denen Eigentum als Kapital fungieren kann, herausgebildet haben, entwarf Marx lediglich eine historische Skizze zur „sogenannten ursprüngliche[n] Akkumulation“, die nicht „Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt“ (ebd.; vgl. MEW 42, 371f.). In der Durchführung kann dieser Beitrag als unzureichend gelten, als „zu seiner Zeit [...] geniale Leistung“, die aber als historische Darstellung „veraltet“ ist (Sombart 1922, Bd. I.2, 787). Aber obgleich spätere Studien detailliertere und differenziertere Rekonstruktionen bieten,2 verleihen die Problemstellung, die Form der Analyse und eine Reihe ungelöster aber wirksam formulierter Fragen Marx’ Skizze bleibende Relevanz.3 Das Problem der ursprünglichen Akkumulation umfasst nicht nur die Frage nach den vorkapitalistischen Quellen der Anhäufung von Vermögen, die geeignet waren in der Form von Kapital zu fungieren, sondern auch die nach jenem komplementären Prozess, den Foucault (vgl. 1994, 283) als „Akkumulation von Menschen“ bezeichnet. Hier geht es um die Konstitution einer Arbeitsbevölkerung, die sich quantitativ und qualitativ für die Einbeziehung in den Prozess der Kapitalverwertung eignete, sowie um die Konstitution jener gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die beiden Seiten eines potenziellen Kapitals und einer potenziellen Arbeitskraft im Verhältnisses der Kapitalverwertung verbunden werden konnten, wofür nicht nur spezifische Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse vorausgesetzt sind, sondern auch die Formung neuer Subjekttypen mit besonderen Arbeits- und Erwerbsdispositionen. Die Form, in der Marx diese Problemstellungen behandelt, zeigt nichts von einem notwendigen linearen Kausalprozess, der sich geschichtsphilosophisch deduzieren ließe. Weder ist der ‚Stand der Produktivkräfte‘ die Ursache der Transformationen (auch wenn er zu ihrem historischen Bedingungen gehört), noch lassen sie sich aus dem Klassenkampf erklären. Der Auflösung der sozioökonomischen Bande der „Feudalmacht“ oder dem Zerfall der Zünfte lag keine ‚Strategie‘ der Bourgeoisie zugrunde, die ja erst im Effekt dieser Entwicklungslinien entstand, von denen sie profitierte, ohne ihr Urheber zu sein: „Die Ritter von der Industrie brachten es [...] nur fertig, die Ritter vom Degen zu verdrängen [...] dadurch, daß sie Ereignisse aus1

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Wie oben (II) gezeigt, ging Marx davon aus, dass die „historischen Voraussetzungen“ des Kapitalismus als solche „vergangne sind und daher der Geschichte seiner Bildung angehören, keineswegs aber zu seiner kontemporären Geschichte, d.h. nicht in das wirkliche System der von ihm beherrschten Produktionsweise“ (MEW 42, 372). Vgl. u.a. Polanyi 1997; Wallerstein 1995; Braudel 1986; Sombart (1922, Bd. I.2, 787); Thompson 1987 & 1980b. „Mit seinen genialen Fragestellungen hat [Marx] der ökonomischen Wissenschaft für ein Jahrhundert die Wege fruchtbarer Forschung gewiesen. Alle Sozialökonomien, die sich diese Fragestellungen nicht zu eigen zu machen wußten, waren zur Unfruchtbarkeit verdammt.“ (Sombart 1927, Bd. III.1, XIX)

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beuteten, an denen sie ganz unschuldig waren.“ (MEW 23, 743) Die Anhäufungen von Vermögen auf der einen und einer besitzlosen Masse auf der anderen Seite sind der Effekt des kontingenten Zusammenspiels zahlloser Ereignisse seit dem 14. Jahrhundert: Die Expropriation der Massen und die Bildung einer neuen, durch die Gesetzgebung nach der ‚glorious revolution‘ begünstigten Gruppe von Eigentümern verdankte sich unter anderem der Auflösung der Leibeigenschaft; der Usurpation von Gemeindeeigentum und der Aufhebung von Gewohnheitsrechten im Zuge der ‚enclosures‘4; dem neuen „protestantische[n] ‚Geist‘“ (MEW 23, 749) und der Enteignung der Kirchengüter, deren Untersassen heimat- und erwerbslos wurden. Abgesehen davon, dass diese Faktoren – die in jeder historisch-soziologischen Untersuchung seit Marx eine Schlüsselrolle haben, so strittig auch ihre Gewichtung ist5 – die Bildung des Eigentums und der freigesetzten Bevölkerung nicht vollständig erklären, betonte Marx, dass seine Darstellung nur eine, keineswegs hinreichende Voraussetzung der Entstehung des Kapitalismus identifiziert. Schließlich gab es andere historische Konstellationen, in denen eine von Produktions- und Subsistenzmitteln getrennte Bevölkerung großen Vermögen gegenüberstand, ohne dass dies eine kapitalistische Entwicklung in Gang setzte.6 „Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den andren Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht, sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen“ (ebd., 765). Eigentum wird ebenso wenig von selbst Kapital wie besitzlose Individuen von selbst Lohnarbeiter werden. Das aus früheren Lebensund Herrschaftszusammenhängen freigesetzte „vogelfreie Proletariat“ konnte „unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. Andrerseits konnten die plötzlich aus ihrer gewohnten Le-

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So wird die Vertreibung selbstwirtschaftender Bauern vom feudalen Grundbesitz zur Verwandlung von Acker in Schafweide bezeichnet. Thomas Morus antwortete 1516 auf die Frage, warum es so viele Diebe und Vagabunden in England gibt, obwohl man sie massenhaft hängt: „Your sheep‘ […] that used to be so gentle […] becoming so greedy and so fierce that they devour the men themselves […]. For wherever the sheep yield a softer and richer wool […], there the nobility and gentlemen […] leave no land for cultivation, they enclose all the land for pastures, they destroy houses and demolish towns. […] There is no need for farm labor […], when there is no arable land left. […] What, I ask, can those who are dismissed do, but either rob or beg?“ (Morus 1949, 9ff.) Hinzu käme z.B. die Plünderung der Kolonien (vgl. Sombart 1922, Bd.I.2, 651-717; Bd. II.2, 993-1017; MEW 23, 779ff.; Braudel 1986, Bd. 3). Strittig ist die Gewichtung der enclosures, denen z.B. Sombart (1922, Bd. I.2. 792ff.) geringe Bedeutung zuspricht, da sie nur ca. 2% der landwirtschaftlichen Nutzfläche betrafen, während Thompson (vgl. 1987, 229254) ihre qualitative Bedeutung für die allgemeine Durchsetzung kapitalistischer Eigentumsrechte betont. So hätten im alten Rom „eines schönen Tages auf der einen Seite freie Menschen, die von allem, außer ihrer Arbeitskraft, entblößt waren“ (die Plebejer), und „zur Ausbeutung dieser Arbeit [...] die Besitzer all der erworbenen Reichtümer“ bereitgestanden. „Was geschah? Die römischen Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern ein faulenzender Mob, [...] an ihrer Seite entwickelte sich keine kapitalistische, sondern eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise. Ereignisse von einer schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen historischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschiedenen Ergebnissen.“ Durch historisch-vergleichende Analyse könne man „den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie“ (MEW 19, 111f.).

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bensbahn Herausgeschleuderten sich nicht ebenso plötzlich in die Disziplin des neuen Zustandes finden“ (ebd., 761f.). Marx stimmt mit späteren Analysen darin überein, dass die freie Population zwar eine Masse potenzieller Arbeitskraft darstellte, hinsichtlich der Arbeitsdispositionen und Fähigkeiten aber ein zur kapitalistischen Verwertung kaum geeignetes Ausgangsmaterial bot. Die Befreiung von ihren Lebensgrundlagen hatte sie „als bloßes Arbeitsvermögen gesetzt. Aber sie zogen nun Vagabundage, Bettelei etc. […] der Lohnarbeit vor und mußten erst gewaltsam an diese gewöhnt werden“ (MEW 42, 661).7 Zur Konstitution der Arbeitsbevölkerung ist also neben dem quantitativen auch ein qualitativer Bildungsprozess erfordert. Über die Größe der durch die Eigentumsverteilung definierten Bevölkerungsgruppen hinaus erfordert die Entstehung des Kapitalismus besondere Subjektformen und Stätten ihrer Formierung. Auf die Frage aber, wie das zu „Vagabunden gemachte Landvolk [...] in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht“ wurde, gibt der Verweis auf „grotesk-terroristische Gesetze“ (MEW 23, 765), die die Vertriebenen mit Züchtigung und Tod bestraften, nur eine auf „Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt“ (ebd., 742) reduzierte Antwort. Dass diese unzureichend ist, zeigt sich schon darin, dass solche Sanktionen kaum Erfolg zeigten: Obwohl „Zwangs-“ und „Blutgesetze“ immer wieder erlassen wurden, litt der Frühkapitalismus – trotz der bis weit in das 13. Jahrhundert zurückverfolgbaren und seit dem 16. Jahrhundert zunehmend klarere Konturen gewinnenden Entwicklung des freien Arbeitsmarktes (vgl. Braudel 1986, Bd. 2, v.a. 46ff.) – bis ins 18. Jahrhundert unter der Gleichzeitigkeit einer unverwertbaren Überbevölkerung und eines Mangels an fähigen und willigen Arbeitskräften (vgl. Sombart 1922, Bd. I.2, 785-835). Die Frage, wie das vorhandene Menschenmaterial in eine verwertbare Form gebracht wurde, ist so bei Marx zwar treffend formuliert, aber kaum zureichend beantwortet. Was in der Systematik seiner Darstellung am Ende des ersten Bandes des Kapitals steht, ist zugleich Ausgangspunkt für ein historischgenealogisches Problem.8 Hier bietet Foucault – dem Oskar Negt (1978) anrechnete, das, was „Marx als ‚ursprüngliche Akkumulation‘ bezeichnet [...,] von der Binnenarchitektur des Individuums aus beschrieben“ zu haben (ebd., 39f.) – eine bessere Analyse der Formung des „subjektiven Korrelats“ (Brieler 2002, 65) des Kapitalismus. Dabei werden die Prozesse der „Akkumulation des Kapitals“ und der neuen „Subjektivierung des Menschen“ in ein Verhältnis komplexer Wechselwirkungen gestellt. „Die Besetzung und Bewertung des lebenden Körpers, die Verwaltung und Verteilung seiner Kräfte“ waren nicht nur Effekt, sondern „unentbehrliche Voraussetzung“ des Kapitalismus (Foucault 1983, 137). Denn wie bereits Marx herausarbeitete, fand die Vermehrung der Produktivkräfte zunächst nicht in der materiellen Technik statt,9 sondern in der „inneren Umproduktion“ der Arbeitskraft: „Es ist ein Umbau des inneren Haushalts

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Zeitgenössische Beobachter beklagen durchweg die mangelnde Arbeits- und Erwerbsgesinnung. Vgl. die Quellenauswahl bei Sombart 1922, Bd. I.2, 798-809; vgl. auch Thompson 1987, 386ff.; Bourdieu 2000a. Vgl. zu ähnlichen Skizzen für anders gelagerte historische Analysen u.a. MEW 25, 335349 & 607-626. Vgl. zur relativen Trägheit technischer Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert v.a. die detaillierte Darstellung bei: Braudel 1986, Bd. 1, 359-474.

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der Menschen, kein plötzlicher Zugewinn von äußeren Erfindungen“ (Negt/Kluge 1993, Bd. 1, 30), der zur Voraussetzung des Kapitalismus wird. Angesichts der Beharrlichkeit überkommener Einstellungen zu Arbeit und Muße erforderte das „Arsenal von Eigenschaften, aus denen die disziplinierten Arbeitsvermögen sich später zusammensetzen“ (ebd., 23), eine Umwälzung der gesamten Dispositionssysteme und Verhaltensmuster. In einem historischen Milieu, in dem die Kapitalverwertung über Jahrhunderte von „den Gewohnheiten und Widerständen“ der Arbeitskräfte blockiert blieb, so dass sich „die Klage über den Disziplinmangel der Arbeiter“ durch „die ganze Manufakturperiode“ zieht (MEW 23, 390), war die Generierung eines nutzbaren Körpers, „seine Konstituierung als Arbeitskraft nur innerhalb eines Unterwerfungssystems möglich“ (Foucault 1994, 37). Erst recht erforderte später die Fabrikarbeit bereits Techniken einer solchen Macht, die „innerhalb des ökonomischen Feldes auf die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse einwirkt“ (Deleuze 1992, 42). Gegen die Verkürzung des „Unterwerfungssystems“ auf Gewalt betont Foucault (1994) jedoch, dass sich hier Formen einer „politischen Technologie des Körpers“ (ebd., 34) bilden, die „kalkuliert, organisiert, technisch durchdacht, subtil“ sind und auf eine „Meisterung“ der Kräfte zielen, „die mehr ist als die Fähigkeit zu ihrer Besiegung“ (ebd., 37). Der facettenreiche Prozess der „Erfindung“ dieser Technologie erscheint als Resultat einer Vielfalt von „verschiedenen und verstreuten Prozessen, die sich überschneiden, wiederholen oder nachahmen, sich aufeinander stützen, […] miteinander konvergieren – bis sich allmählich die Umrisse einer allgemeinen Methode abzeichnen“ (ebd., 177; vgl. Foucault 2003b, 486). Auch wenn die kapitalistische Wirtschaft sich auf die dabei entwickelte „Disziplinartechnologie der Arbeit“ (Foucault 1999, 278) stützen konnte, lässt sich ihre Genese nicht im Sinne eines „Dressursystems“ verstehen, das die „herrschende Klasse“ zur Unterwerfung der Arbeiter entwickelte, vielmehr musste in diesem Prozess auch die Bourgeoisie erst „ihren eigenen Typ von Individuen erarbeite[n]“ (Foucault 1976, 124).10 Im Folgenden soll der spezifische Charakter der Disziplinartechniken skizziert werden, um anschließend nachzuzeichnen, in welchen Kontexten sie sich herausbildeten und wie sie zur ‚Akkumulation von Menschen‘ beitrugen. Als generelles Kennzeichen der Disziplin erscheint eine bestimmte Einfassung von Individuen in Systeme strikter Zeitordnungen, Übungsexerzitien, räumlicher Verteilungen, hierarchischer Sichtbarkeitsbeziehungen etc., die das gemeinsame Ziel einer Formung des Körper und der ihm eingeschriebenen Verhaltensdispositionen haben, um seine „Nutzkraft durch Übung, Dressur usw. zu verbessern“ (Foucault 1999, 279). Der positive Bezug auf eine Optimierung und Steigerung der Kräfte markiert die wesentliche Differenz der Disziplinarmacht zu früheren Unterwerfungsformen wie auch zu den christlichen Askesepraktiken.11 Bewirkt wird diese Steige-

10 Vgl. zur historisch langwierigen Ausbildung der Bourgeoisie nach wie vor grundlegend: Sombart 1913. 11 Foucault (vgl. 1994, 175f. & 192ff.) betont die genealogische Verbindung wie auch den Bruch zwischen Disziplinarmacht und christlichen Praktiken. So ähneln die Klöster in der Abgeschlossenheit, der Architektur, den Zeitordnungen und Exerzitien den Disziplinarinstitutionen. Aber in der „der klösterlichen Zucht“ sollten die Techniken „eher Entsagung als Vermehrung des Nutzens fördern“ (ebd., 176). Insofern lässt sich die Linie zwischen

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rung nicht durch die Anordnungen einer Herrschaftsautorität, sondern durch zahllose unscheinbare, kleinteilige Formen der Übung und Überwachung, die so wenig eindrucksvoll sind, wie die Fassade einer Schule oder Kaserne, aber dafür kontinuierlich und koordiniert auf die Subjekte einwirken: Durch die architektonische Strukturierung des Raums in abgegrenzte, intern parzellierte Funktionszellen, durch die Anordnung der Körper in Relation zueinander, durch die rhythmische Strukturierung der Zeit und die Durcharbeitung kleinster Tätigkeitssequenzen zur Optimierung der Zeitnutzung werden die Subjekte in eine vorgegebene Ordnung eingegliedert, die sie in jedem Moment umgibt und der sich ihr Verhalten anpasst. In der „instrumentellen Codierung“ des Körpers, im Umgang mit Objekten (Waffen, Werkzeug) werden Körper und Instrumente zur Einheit verschaltet. Hier wie in anderen Kontexten werden einzelne Übungen chronologisch so aufeinander abgestimmt, dass sie sich in eine evolutive Entwicklungsdynamik einfügen. Dabei funktioniert die Disziplin nach einem „Prinzip des ‚Elementaren‘“ (Foucault 1994, 204), indem sie weniger auf der Vermittlung komplexer Fähigkeiten beruht als auf der Einübung einfachster Bewegungen, Gesten, Denkmuster, die bedarfsgerecht kombinierbar sind. Das ermöglicht es nicht nur, die Nutzkräfte individueller Körper zu steigern, sondern auch, sie so zu formen, dass sie sich in koordinierte, kooperative Praktiken fügen, innerhalb derer der aggregierte Nutzeffekt größer ist, als die Summe der Teile. (Vgl. ebd., 188-219) Ebenso unscheinbar wirken die für die disziplinarische Zurichtung unverzichtbaren Kontrolltechniken, welche ein Wissen über Potenziale, Fähigkeiten und Fortschritte der Subjekte generieren, an dem die Wirkungen bisheriger Konditionierungen messbar wird, um weitere Übungen zu optimieren: In der hierarchischen Überwachung produziert „jeder Blick“ als „Element im Gesamtgetriebe der Macht“ ein Wissen, das die Leistung der Disziplinarinstitutionen „von innen heraus steigert“ (ebd., 228). In Schulen, Kasernen und Fabriken sind dafür durch Kalküle „der Öffnungen, Wände und Zwischenräume, der Durchgänge und Durchblicke“ Kontrollmechanismen im Wortsinne eingebaut. Die Architektur wirkt selbst als „Instrument zur Transformation der Individuen“, als „Dressurmittel“ (ebd., 222f.), indem die Raumordnungen kontinuierliche Einblicke garantieren, welche Ansatzpunkte der weitere Behandlung aufzeigen und zugleich zur Selbstkontrolle im Wissen um die Fremdkontrolle anhalten.12 Zudem werden die Subjekte durch hierarchische Systeme der Ober- und Unteraufsicht als „überwachte Überwacher“ (ebd., 228) in Netze gegenseitiger Kontrolle eingebunden. Die normierende Sanktion folgt einer ebenso minimalistischen Logik, die statt auf Gewalt auf kleine Mahnungen und Entziehungen setzt, die Marx für die Fabrikdisziplin eindrückliches formulierte: „An die Stelle der Peitsche des Sklaventreibers tritt das Strafbuch des Aufsehers“ (MEW 23, 447). Hier

christlicher Askese und Disziplin mit jenem „Entweichen“ der klösterlichen Askese in die Welt säkularer Praktiken identifizieren, die Weber (1986) als Quelle des ‚kapitalistischen Geistes‘ ansah. Darüber hinaus sieht Foucault (2004a, 201-330) eine Quelle der individuierenden Objektivierung von Einstellungen, Bedürfnissen und Begehrensformen in den Formen der Menschenführung, wie sie die christliche Pastoralmacht seit dem frühen Mittelalter ausbildete. 12 Diese Analysen von Architektur als „Mikroskop des Verhaltens“ (Foucault 1994, 224) und das Verhältnis der „Disziplin zur Ordnung des Bauwerks“ (2004a, 35), wurde für die Raum- und Architektursoziologie prägend (vgl. Löw 2001).

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wird das generierte Wissen unmittelbar mit eine inner-institutionellen „Sub-Justiz“ (Foucault 1994, 230) verbunden, die mit kleinen Demütigungen und Belohnungen auf das Verhalten reagiert. Indem viele Sanktionen „in den Bereich des Übens, des intensivierten, vervielfachten, wiederholten Lernens“ (ebd., 232) fallen, werden auch die Fehler der Individuen zu Mitteln der Erziehung. Das gilt auch für hierarchische Rangordnungen, die jede Auf- oder Abstufung zum Sanktionsmedium werden lassen. Die Prüfung fast schließlich die Techniken von Kontrolle und Sanktion zu einer Einheit zusammen. (Vgl. ebd., 221-250) Generell ist die symbolische Ordnung der Disziplinarmacht, gegenüber früheren Formen der Souveränitätsmacht durch die Umkehr der Sichtbarkeitsrelationen gekennzeichnet: Stand im souveränen „Manifestationsritual“ (Foucault 1994, 119) der Strafe wie auch in der höfischen Prunkarchitektur die Machtrepräsentation im Zentrum der Inszenierung, werden nun die Instanzen der Macht unsichtbar, um stattdessen die unterworfenen Subjekte in den Brennpunkt zahlloser symbolischer Sichtbeziehungen zu rücken. Benthams Panopticon (vgl. ebd., 251-292) ist nur das übersteigerte Beispiel einer Architektur, die primär der Erzeugung eines Innenraums dient, der durch optimale Transparenz permanente Kontrolle erlaubt und die Disziplinarinstitution zum „Wissensapparat“ macht, der nicht die Macht, sondern die unterworfenen Subjekte „individuiert“ (ebd., 164). Entsprechend ist in den Techniken des Ermittelns, Urteilens und Strafens auch nicht mehr das Verbrechen, sondern der Verbrecher der Gegenstand. Begnügte sich die Untersuchung einst mit dem Tatbeweis (vgl. ebd., 51-56), wird nun der „Täter […,] seine Natur, seine Lebens- und Denkweise, seine Vergangenheit“, untersucht (ebd., 127; vgl. Foucault 1976, 37 & 2003a). 13 Den veränderten Formen entsprechen veränderte Funktionen der Macht, die zum Medium formierender und optimierender Prozeduren wird, welche dem Körper, durch „Einfassung seiner Gesten und Verhaltensweisen in ein Autoritäts- und Wissenssystem“ (Foucault 1994, 169f.), nutzbare Dispositionen einpflanzen sollen. Diese Logik, die Kräfte zu steigern, „um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen“ (ebd., 177), ist mit einer auf optimale Verwertung kombinierter Arbeitskräfte zielenden Produktionsform kompatibel und wird in der Fabrikdisziplin aufgegriffen. Aus der Funktionalität ist aber keine eindeutige Kausalität ableitbar. Dass die Disziplin den Industriekapitalismus förderte, der umgekehrt wieder zur Verallgemeinerung der Disziplin beitrug, macht ‚den‘ Kapitalismus nicht zu ihrer Ursache. Ebensowenig stammt die Disziplinarmacht aus irgendeiner anderen letzten Quelle. Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass Überwachen und Strafen die Ausbreitung von im Strafsystem entwickelten Mechanismen auf andere gesellschaftliche Bereiche schildere, als Prozess also, in dem die Gesellschaft nach dem Modell des Gefängnisses geformt würde.14 Foucault sieht im Gefängnis jedoch keinen Ursprung, sondern

13 Das trägt zur „Geburt des Menschen“ als Gegenstand eines „‚wissenschaftlichen Diskurs‘“ (Foucault 1994, 34f.) bei und bildet einen Hintergrund der Konstitution der Humanwissenschaften (vgl. Foucault 1974). 14 Selbst differenzierte Foucaultinterpreten sprechen von einem Prozess, in dem an die von der Strafpraxis ausgehende Entwicklung „Bereiche, wie die Psychiatrie, die Pädagogik und die Medizin [...] angeschaltet“ würden, womit die „Logik der Strafpraxis immer mehr auf andere Wissensbereiche“ übergreife, um schließlich „die gesamte Gesellschaft zu durchdringen“ (Seier 2001, 95; vgl. Honneth 1989; Habermas 1988a). Demgegenüber zeigt Fou-

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ein spätes Symptom des Disziplinarsystems (vgl. ebd., 93-170; 295-397; Foucault 1976, 31-80). Das Gefängnismodell widersprach den dominanten Vorstellungen in den Strafdiskursen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zutiefst und setzte sich nur deshalb gegen konkurrierende Modalitäten der Strafpraxis durch, weil es sich in einen Komplex von Praktiken einfügte, die sich unabhängig vom Strafsystem ausgeprägt hatten und sich in einer Co-Abhängigkeit mit der Herausbildung des Kapitalismus (vgl. ebd., 280ff.; 2005, 230ff.) zum allgemeinen Disziplinarsystem formierten.15 Zur „Strafe der zivilisierten Gesellschaft“16 wurde das Gefängnis nur, weil es ihrem „Getriebe“ entspricht und „die Mechanismen des Gesellschaftskörpers – vielleicht mit einigem Nachdruck – reproduziert“ (Foucault 1994, 296f.). Statt ein Modell der Disziplin zu sein, entsteht dieser Strafapparat erst auf Grundlage des „Disziplinarsystems, das seine Möglichkeitsbedingung bildet“ (Foucault 1976, 116). Fabrik und Gefängnis sind in dieser Perspektive nur Kreuzpunkte von Entwicklungslinien, die sich „ab dem 17. Jahrhundert […] auf lokaler Ebene, in intuitiven, empirischen und bruchstückhaften Formen und im begrenzten Rahmen von Institutionen wie der Schule, dem Hospital, der Kaserne, der Werkstatt usw.“ (Foucault 1999, 288f.) herauskristallisierten. Ursache dieser lokalen Ausprägungen ist keine selbstläufige Transformation der Machttechniken, vielmehr haben „sie sich durchgesetzt, um in konkreten Situationen bestimmten Erfordernissen zu genügen: hier eine industrielle Neuerung, dort der Ausbruch epidemischer Krankheiten17, anderswo die Erfindung des Gewehrs“ (Foucault 1994, 177). Die Techniken, die schließlich auch zur Verfertigung kapitalistisch verwertbarer Arbeitskräfte beitragen, wurden also im Kontext unterschiedlicher historischer Problemlagen ausgebildet. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Neuorganisation der Armee. Bereits Marx beschrieb die Fabrikdisziplin in Analogien zur Kaserne und Sombart (vgl. v.a. 1912 & 1922, Bd. I.1., 342361) legte in seinen Studien zur Bedeutung des Heereswesens für die Genese des

cault (1994) gerade umgekehrt, wie sich die Straflogik zunehmend „mit außerjuristischen Elementen“ auflädt (ebd., 32f.) 15 Nach Foucault (1994, 133-170) konkurrierten Ende des 18. Jahrhunderts drei Modalitäten der Strafe, unter denen das Gefängnis eine marginale Variante war. Neben dem Monarchenrecht mit seinem „Zeremoniell der Souveränität“ entstehen zwei Modalitäten, die eine „präventive, utilitaristische, korrektive“ Strafkonzeption (ebd., 169f.) teilen, sich aber in der Form unterscheiden. Zielen die „Reform-Juristen“ auf die „Seele“ des Subjekts und seine „Interessen“ (ebd., 165f.), um über öffentlich lesbare Zeichen eine „Einsicht“ herzustellen (ebd., 141), dient das Gefängnis der nicht-öffentlichen Abrichtung, von der das Publikum ausgeschlossen wird. Das war „insgesamt unvereinbar mit der ganzen Technik […] des Straf-Zeichens“ (ebd., 147). Dort adressierten die „Verhinderungszeichen“ (ebd., 119) und „Lehrfabeln“ (ebd., 145) des „Straf-Theaters“ (ebd., 150) erkenntnisfähige Rechtsubjekte, für die sie einen symbolischen Zusammenhang von Vergehen und Sanktion inszenierten, um das „Signifikatensystem des Gesetzes“ zu aktualisieren (ebd., 166). Statt dieser komplexen Strafsemiotik etabliert das Gefängnissystem eine gleichförmige Strafe ohne Publikum. Es zielt nicht auf das Bewusstsein und stellt weniger ein Rechtssubjekt her als ein „Individuum, das Gewohnheiten, Regeln, Ordnungen unterworfen ist und einer Autorität, die um es und über ihm stetig ausgeübt wird, und die es automatisch in sich selber wirken lassen soll“ (ebd., 167). 16 P. Rossi: Traite de droit penal. 1829, 169, zit. in: Foucault 1994, 296. 17 Ein zentrales Beispiel der Ausbildung von Disziplinartechniken (der Einschließung, Parzellierung, Überwachung des Raumes) ist bei Foucault (vgl. 1994, 251ff.; 2003a, 63ff.; 2004a, 24f.) der Umgang mit der Pest.

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Kapitalismus zwar das Hauptaugenmerk auf die Konsumnachfrage und die Waffentechnik, identifizierte aber auch das militärische Zuchtsystem als Instanz der Konversion von Gesinnungen und Dispositionen. Letzteres steht im Zentrum von Foucaults Analyse, die von einer tiefgehenden Transformation der Idealfigur des Soldaten ausgeht. War der Soldat Anfang des 17. Jahrhunderts noch durch natürliche „Zeichen seiner Kraft und seines Mutes“ charakterisiert, ist er ein Jahrhundert später etwas, das aus dem „formlosen Teig“ (Foucault 1994, 173) eines untauglichen Körpers gemacht wird. Die Verschiebung resultiert aus der veränderten sozialen Zusammensetzung der Armee, den mit der Erhaltung und Kontrolle stehender Heere verbundenen Problemen und aus einer technischen Innovation: Das präzisere Gewehr, das die grobe Muskete verdrängt, verlangt größere Geschicklichkeit, um die Ausnutzung der individuellen Feuerkraft zu erhöhen, und machte zugleich jeden Soldaten zur möglichen Zielscheibe, was „größere Beweglichkeit“ erforderte. Hier „mußte eine Maschinerie erfunden werden, deren Prinzip nicht mehr die […] Masse war, sondern eine Geometrie teilbarer Abschnitte, deren Basiseinheit der bewegliche Soldat mit seinem Gewehr“ wird (ebd., 210f.). Um Körper und Instrument effizient zu verschalten, werden Handlungsfolgen in parallele Reihen von Körperelementen und Objektelementen zergliedert und dann mittels einfacher codierter Bewegungen zur künstlichen Einheit „Körper/Waffe“ verbunden (ebd., 197). Zugleich stellt die Einordnung dieser Einheit in den Zusammenhang variabler Taktiken, die eine aggregierte Kraftwirkung garantieren, neue Koordinationsanforderungen. Um den Soldaten in flexible Strategien einzupassen, ist nicht mehr die Einverleibung kompletter Tätigkeitsmuster im exemplarischen Exzerzieren erfordert, sondern die Einübung zergliederter Detailpraktiken, die als Basiselemente variabler Verhaltensweisen nach Bedarf durch ein präzises Befehlssystems aktivierbar und strategisch kombinierbar sind. Die funktionale Äquivalenz der militärischen Probleme und Techniken mit jenen, die sich in der kapitalistischen Produktion finden, ist offenkundig. Denn ganz ähnlich gelagerte „Probleme stellen sich, wenn es darum geht, eine Produktivkraft zu bilden, die leistungsfähiger ist als die sie konstituierenden Elementarkräfte“ (ebd., 211). Bereits Marx hatte diesbezügliche die Analogien zwischen militärischen und industriellen Strategien prägnant formuliert: „Wie die Angriffskraft einer Kavallerieschwadron oder die Widerstandskraft eines Infanterieregiments wesentlich verschieden ist von der Summe der von jedem Kavalleristen oder Infanteristen vereinzelt entwickelten Angriffs- und Widerstandskräfte, so die mechanische Kraftsumme vereinzelter Arbeiter von der gesellschaftlichen Kraftpotenz, die sich entwickelt, wenn viele Hände gleichzeitig [...] zusammenwirken […]. Die Wirkung der kombinierten Arbeit könnte hier von der vereinzelten gar nicht […] hervorgebracht werden.“ (MEW 23, 345)

In die Organisation der Manufaktur- und Fabrikarbeit sollte die Zergliederung der Tätigkeiten und die künstliche Einheit „Körper/Maschine“ (Foucault 1994, 197) oder „Teilarbeiter und […] Werkzeug“ (MEW 23, 359ff.) ebenso Eingang finden, wie eine militärische Gliederung, die die Kombination und Verteilung der Kräfte zu optimieren erlaubte, indem sie die „Industriesoldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren“ stellt (MEW 4, 469). Auch die Grundmodelle der Kontrollarchitektur, die sich in den Kasernen bewehrt hatte, fan-

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den ihren Niederschlag in den Manufakturen und Fabriken (s.u. 2.2). Ähnliche Formen der Disziplinartechniken wurden seit dem 17. Jahrhundert in den Schulen entwickelt, die die Erhebung des Wissens über Fähigkeiten und Fortschritte der Subjekte optimierten, oder in den Spitälern, die differenzierter Klassifikationen und räumlicher Ordnungen bedurften (vgl. Foucault 1991). Nicht zuletzt waren seit dem 16. Jahrhundert die Arbeitshäuser ein mit der Herausbildung des Frühkapitalismus eng verbundener Ort der Entwicklung von Techniken der Subjektformierung. Schon Thomas Morus (vgl. 1949, 13ff.) stellte 1516 der körperlichen Züchtigung das Ideal einer Erziehung der Armen durch Arbeit entgegen. John Lockes Scheme for Setting on Work the Poor forderte 1697 zwar auch noch „gebührende Züchtigung“ und „gründlich[es] Auspeitschen“ (Locke 1980, 275), setzte aber primär auf nach Alter und Geschlecht abgestimmte Zwangsarbeit und Arbeitsschulen für Kinder ab drei Jahren, um die Armen an harte Arbeit zu gewöhnen. Als Modell solcher Einrichtungen, die andere Formen des Umgangs mit den Armen verdrängten (vgl. Sombart 1922, Bd. I.2., 809-823; Castel 2008, 64-99), misst Foucault (vgl. 1994, 155ff.) dem 1596 eröffneten Rasphuis in Amsterdam besondere Bedeutung zu, da es zwischen den Theorien einer geistigen Besserung und der Formung körperlicher Gewohnheiten eine Vermittlungsposition einnahm und grundlegende Prinzipien der Disziplinartechniken entwickelte: Kollektive Arbeit, minutiöse Zeiteinteilung, differenzierte Systeme von Verboten und Pflichten, ein (minimaler) Lohn, stetige Überwachung, begleitende Ermahnungen und geistliche Lektionen sowie eine Abhängigkeit der Verweildauer von der Führung und Besserung. All dies sollte Bettler und Vagabunden in Arbeiter verwandeln. Dass das anfangs eher sittlich begründete System zunehmend ökonomischen Kalkülen folgt, zeigt die Denkschrift zur Gründung des Zwangshauses von Gent. Neben der Verringerung der durch die Verfolgung von Landstreichern entstehenden Kosten sollte hier eine große Menge von Arbeitskräften herangezüchtet werden, um durch verschärfte „Konkurrenz zur Senkung der Arbeitslöhne bei[zu]tragen.“18 Den Müßiggängern soll dazu ein neues Verhaltens- und Interessensystem eingepflanzt werden: „Der Mensch, der seinen Lebensunterhalt nicht findet“, müsse das „Verlangen entwickeln“, ihn sich selbst „durch Arbeit zu verschaffen. Durch Polizei und Disziplin […] zwingt [man] ihn“, und der „Köder“ eines Lohns und der Entlassung „reizt ihn immer mehr; in seinen Sitten gebessert, ans Arbeiten gewöhnt, im Besitz einigen Geldes“19 soll schließlich eine neue, willige und fähige Arbeitskraft den Markt betreten. Diese „Wiederherstellung des homo oeconomicus“ (ebd., 158 [Hervh. i.O.]) beruht neben der Anwendung der oben umrissenen Disziplinartechniken auf einer Kalkulation der Strafdauer und des Unbehagens, welches das Zwangshaus bereitet. Die Verweildauer darf nicht zu kurz sein, da die Konversion des Subjekts dann unzureichend bliebe, aber auch nicht zu lang, da dies jedes Interesse an der Besserung ersticken würde. Die Lebensbedingungen sollen durch Fleiß verbesserbar sein, müssen aber hinreichend unangenehm

18 Vilan XIV: Memoire sur les moynes de corriger les malfaiteurs. 1773, 68, zit. in: Foucault 1994, 157. Diesen Faktor hob 1836 auch der Fabrikant John Fielden bezüglich der Verwertung von Waisen hervor:„[D]ie Fabrikherren“ werden von „den Arbeitern unabhängig“, und wo diesem „armseligen Menschenmaterial[] die lange Arbeitszeit zur Gewohnheit gemacht“ ist, lässt sie sich generell „leichter aufzwingen“ (zit. in: MEW 23, 425, Fn. 144). 19 Vilan XIV [wie Fn. 18], zit. in: Foucault 1994, 157f.

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bleiben, damit die freie Arbeit zu jedweder Bedingung dem Arbeitshaus vorzuziehen ist (vgl. ebd., 158f.). War bei Locke die ökonomische Funktion noch dem Ziel der sittlichen Läuterung untergeordnet, gewinnt sie im 18. Jahrhundert zunehmend an Dominanz: Die Disziplin soll nun explizit die Arbeitserträge erhöhen, indem sie die Verhaltensweisen und „die Kräfte in eine Ökonomie integrieren“ hilft (ebd., 270). Die zunehmend klarer formulierte ökonomische Funktion und Zielstellung der Arbeitshäuser lag primär im „Lernen der Arbeitstugend“ selbst. „[D]ie Arbeit um der Arbeit willen […] sollte dem Individuum die Idealform des Arbeiters verleihen“ (Foucault 1976, 35) und ihm dem Stimulus des Lohnanreizes zugängliche Erwerbsdispositionen einpflanzen. Denn wie historisch Sombart (vgl. 1922, Bd. I.1), Braudel (vgl. 1986, v.a. Bd. 2, 272283) oder Thompson (vgl. 1980b) und ethnologisch Bourdieu (2000a & 2010a) gezeigt haben, konnten solche dem Lohn-Stimulus zugängliche Dispositionen in den um ein Bedarfsdeckungsprinzip zentrierten vorkapitalistischen Ökonomien keineswegs vorausgesetzt werden. In seinem idealen Charakter als Konversionseinrichtung war der Zweck des Arbeitshauses nicht die direkte Ausbeutung, sondern die Produktion von Arbeitskräften für den freien Markt. Während das Arbeitshaus zum Transmissionsriemen mit direkter Funktion für die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise wurde, war der Beitrag der Armee, der Schulen und der Spitäler zur Genese entsprechender Formen der Vergesellschaftung indirekter, aber ebenso bedeutsam. Insofern sie alle darauf zielten, „die mögliche Nützlichkeit von Individuen [zu] vergrößern“ (Foucault 1994, 270), trugen sie zur Akkumulation auch kapitalistisch verwertbarer Subjekte bei und halfen, in heterogenen Kontexten jene Muster disziplinarischer Methoden auszuformen, die dann auf ökonomische Bereiche übertragbar waren. Zudem förderte die weite Verbreitung von Disziplinarinstitutionen, die prinzipiell alle sozialen Schichten erfassten, eine allgemeine Eingewöhnung in die Disziplin, die ökonomische Effekte hatte und sich (etwa in den Schulen) zunehmend auch mit ökonomischen Kalkülen verband.20 Die in heterogenen Kontexten und angesichts sehr unterschiedlicher Probleme und Zielstellungen herausgebildeten Techniken beförderten so – im Sinne einer unintendierten, „sekundären Zweckmäßigkeit“ (i.S. von Gehlen 2004a; s.o. II.3.4.3) – die Durchsetzungen der kapitalistischen Produktionsweise, die mit ihren eigen Logiken, Anforderungen und Bezugsproblemen dann ihrerseits auf die weitere Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Disziplinartechniken zurückwirkte: „[D]ie analytische Einteilung der Zeit, der Gesten, der Kräfte und der Körper hat ein Operationsschema gebildet, das man leicht von zu unterwerfenden Gruppen auf die Mechanismen der Produktion übertragen konnte; die massive Projektion von militärischen Methoden auf die industrielle Organisation war ein Beispiel für diese Modellierung der Arbeitsteilung nach den Mustern der Macht. Aber umgekehrt hat sich die technische Analyse des Produktionsprozesses mit seiner maschinenmäßige Zerlegung auf die Arbeitskraft projiziert, die den Produktionsprozess sicherzustellen hatte: die Konstitution jener Disziplinarmaschinen,

20 Sollten die Schulen anfangs sittliche Übelstände beheben, galten sie in der Revolutionszeit bereits als Produktionsstätten verwertbarer Arbeitskraft, die den Körper „entwickeln“, um das Kind zur „mechanischen Arbeit zu befähigen“ (Talleyrand vor der Verfassungsgebenden Versammlung, zit. in: Foucault 1994, 271).

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in denen die individuellen Kräfte zusammengefügt und damit erweitert werden, ist das Ergebnis dieser Projektion.“ (Foucault 1994, 284)

Die generative Funktion der Disziplinarmacht fügt sich hier als ein Element in die Veränderung der politisch-ökonomischen Kernstruktur der Gesellschaft. Die Verbreitung der Disziplinarinstitutionen gilt dabei nur als „der augenfälligste Aspekt verschiedener tieferer Prozesse“ (ebd., 269). Ebenso wie die Disziplin eine historische Bedingung des Kapitalismus ist, wird umgekehrt die Verbindung, Verknüpfung und Vereinheitlichung der Disziplinartechniken, die „Ausweitung der Disziplinarsysteme […], ihre Vervielfältigung durch den gesamten Gesellschaftskörper hindurch“ bis zur „Formierung der ‚Disziplinargesellschaft‘“ (ebd., 269) von der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise begünstigt. Nur weil die Disziplinen „zu Techniken werden, welche nutzbringende Individuen fabrizieren“, für die in den sich herausbildenden ökonomischen Verhältnissen ein wachsender Bedarf entsteht, kann sich die Logik der Disziplin „von den Rändern der Gesellschaft“ wegbewegen, um sich zunehmend in die „zentraleren, produktiveren Bereiche der Gesellschaft einzuschalten“ (ebd., 271). In diesem Sinn hat das „Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft die Eigenart der Disziplinargewalt hervorgerufen, deren allgemeine Formeln, deren Prozeduren […], deren ‚politische Ökonomie‘ in sehr unterschiedlichen politischen Regimen, Apparaten oder Institutionen eingesetzt werden können.“ Die Herausbildung des Disziplinardispositivs und des Kapitalismus waren also korrelative Prozesse: „Jedes Element hat das andere möglich und notwendig gemacht und ihm als Modell gedient“ (ebd., 283f.). Für diese genealogische Co-Abhängigkeit von Disziplinardispositiv und Kapitalismus spricht im Übrigen auch, dass viele Elemente der Disziplin bereits in der christlichen „Pastoralmacht“ des Frühmittelalters angelegt waren, die Foucault (vgl. 2004a, 185-368) als „Präludium“ (ebd., 268) der neuzeitlichen Gouvernementalität analysierte. Während aber die Pastoralmacht auf zahlreiche „äußere Hemmnisse“ (u.a. „in der Entwicklung der ökonomischen Strukturen“) stieß (ebd., 281f.), wirkte das Disziplinardispositiv tendenziell „in die selbe Richtung“ (Foucault 2005, 232) wie die politisch-ökonomischen Transformationen. Die Verschränkung von Disziplin und Kapitalismus bildet auch den Hintergrund der Transformation der Strafpraktiken, deren Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen zunächst an der Veränderung der Delikte erkennbar ist. In der strafrechtlichen Problematisierung verlagert sich das Gewicht von den Gewaltdelikten hin zu Verletzungen von Eigentumsrechten (vgl. ebd., 99 & 108ff.). Mit der bereits von Marx als zentrales Element der ‚ursprünglichen Akkumulation‘ herausgearbeiteten Überführung von Ressourcen in die Form des bürgerlichen Eigentums nehmen die gegen Güter gerichteten Gesetzwidrigkeiten notwendig zu. Indem etwa das Grundeigentum „von den Feudallasten befreit wurde“ und zum „absoluten Eigentum“ wird, werden „alle Freiheiten, die sich die Bauernschaft erworben hatte (Befreiung von alten Verpflichtungen oder Festigung außergesetzlicher Praktiken: Recht auf unentgeltliche Weide, Holzsammeln usw.)“, zu Straftaten (Foucault 1994, 108). 21

21 Vgl. dazu ausführlich auch: Thompson 1987 & 1980b. Die Hinwendung des studierten Juristen und Publizisten Marx zu Problemen der Ökonomie stand im Kontext der Debatte um eben solche Gesetze (vgl. MEW 1, v.a. 109-147).

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Die Verwandlung von Gewohnheitsrechten in Strafdelikte führte aber auch durch die Gegenwehr der Bevölkerung zu einer noch weiteren Vermehrung der Straftatbestände und „zu einer Kettenreaktion von immer illegaleren oder kriminelleren Aktionen: Aufbrechen von Einfriedungen, Diebstahl oder Töten von Vieh, Brandstiftung, Gewalttätigkeit, Mord“ (ebd., 108). Der Prozess, in dem „die Ökonomie der Gesetzwidrigkeit […] der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft angepaßt“ wird (ebd., 110), bringt so eine enorme Expansion justiziabler Delikte hervor, wie sie für England auch E.P. Thompson (1987) ausführlich herausgearbeitet hat.22 Foucault betont darüber hinausgehend, dass die neuen Delikte aufgrund ihrer Form und Verbreitung auch eine qualitative Umformung, eine Verfeinerung und Verallgemeinerung der Strafen erforderten. Dass das Strafsystem auf mit der Veränderung der Eigentumsverhältnisse verbundene Widerstände reagieren musste, um das Menschenrecht auf Sicherheit des bürgerlichen Eigentums zu garantieren (eine Voraussetzung der Kapitalakkumulation),23 sagt aber noch nichts über die Straftechniken zur Umsetzung der Sanktionen. Eine der Häufigkeit und Verbreitung der Delikte angemessene neue Ökonomie der Strafmacht, deren Aufwand minimal bei möglichst großer Wirkung sein sollte, bot ja auch die Straf-Semiotik der Reformjuristen. Wenn das „Gefängnis als die nüchterne Konzentration aller Disziplinen kein inneres Element des Strafsystems ist, wie es an der Wende […] zum 19. Jahrhundert formuliert“ wurde, so dass „die Justiz ein Gefängnis adoptiert hat“, welches „nicht das Kind ihrer Gedanken war“ (Foucault 1994, 328f.), muss die Einfügung der Straftechniken in das Disziplinarsystem andere Ursachen haben. Dazu gehört die Affinität der Form der Haftstrafe zu Grundprinzipien der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘: „Wie sollte das Gefängnis nicht die Strafe par exzellence in einer Gesellschaft sein, in der die Freiheit ein Gut ist, das allen gleichermaßen gehört“? Da ihr Verlust „alle gleich“ trifft, ist die Haft „egalitär“. Durch „exakte Quantifizierung der Strafe nach der Variable der Zeit“ erscheint sie zudem als genaues Spiegelbild der „Lohn-Form“, was dieser Strafe jene „ökonomische ‚Evidenz‘“ garantiert, die noch die Formulierung zeigt, dass man „seine Schuld zu zahlen“ hat. Indem die Haft „Äquivalenzen“ von Vergehen und Sanktion 22 Vgl. zum Anwachsen von mit der Einhegungen von Gemeinland, dem Festhalten an Gewohnheitsrechten und dem Aufbegehren gegen neue Eigentumsverhältnisse verbundenen Delikten ausführlich: E.P. Thompson 1987, v.a. 60-83; 235-254. So wurden zwischen 1660 und 1820 allein 190 neue Kapitalverbrechen strafrechtlich fixiert: „Nicht nur geringfügige Diebstähle, auch grobe Formen industrieller Rebellion – Zerstörung eines Seidenwebstuhls, Niederreißen von Zäunen, wenn Allmende eingehegt wurde, Anzünden von Kornschobern – standen nun unter Todesstrafe“ (ebd., 66). 23 Sicherheit des Eigentums war ein zentraler Punkt der Deklaration der Menschenrechte (vgl. MEW 1, 364ff.). Bei den Reformjuristen sollte die Strafe dem Delinquenten „Respekt für das Eigentum“ lehren (Foucault 1994, 137). Foucault charakterisiert diese Transformationen als „Klassenjustiz“ zugunsten der Bourgeoisie. Hatte diese zunächst von den Gesetzesübertritten unterer Schichten profitiert, die das Steuer- und Zollrecht unterminieren halfen (vgl. ebd., 106ff.), verwandelte sich die Allianz in einen Gegensatz, wo sich die Delikte der Armen „mit dem neuen Status des Eigentums immer mehr gegen die Güter“ richteten (ebd., 108). Es etablierte sich eine differente Justiz, die „sich mit dem Gegensatz der Klassen deckt“: Während Diebstahl scharf verfolgt wird, „behält sich die Bourgeoisie die Gesetzwidrigkeit gegen Rechte vor: die Möglichkeit, ihre eigenen […] Gesetze zu umgehen“. Dem entspricht die „Spezialisierung der Gerichtsbarkeit“: Für die unteren Klassen ordentliche Gerichte, für bürgerliche Delikte „besondere Rechtssprechungen mit Vergleichen, Abfindungen, Geldstrafen“ (ebd., 110f.).

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in Zeitquanta ausdrückt, bildet sie letztlich eine Entsprechung der Wert-Form der politischen Ökonomie: „Das Gefängnis ist so ‚natürlich‘, wie die Verwendung der Zeit zum Messen von Leistung und Gegenleistung ‚natürlich‘ ist.“ (Ebd., 296f.) Die Plausibilität des Gefängnisses ist aber keine rein „juristisch-ökonomische“, sondern auch eine „technisch-disziplinäre“ (ebd.). Da dies Form der Strafe sämtliche existierende Disziplinarmechanismen kopiert und einigen von ihnen (etwa der zellenförmigen Isolation und dem Panoptismus) zur weitestgehenden Umsetzung verhilft, folgt es Prinzipien, nach denen bereits andere gesellschaftliche Funktionsbereiche organisiert sind. Es gleicht „den Fabriken, den Kasernen, den Spitälern“ (ebd., 292) und knüpft mit dem Ziel der Formung durch Arbeit und zur Arbeit an bürgerliche Tugendvorstellungen an. So erscheint das Gefängnis als einleuchtende Strafform,24 die zudem den „ökonomischen Effekt“ haben soll, „nach den allgemeinen Normen einer industriellen Gesellschaft mechanisierte“ Individuen zu produzieren (ebd., 311f.; vgl. 2002, 899f.). Die ‚Geburt des Gefängnisses‘ ist daher kein Ausgangs-, sondern ein Endpunkt der Genese des Disziplinarsystems. „Das Gefängnis als Hauptstück im Strafarsenal markiert zweifellos einen wichtigen Augenblick in der Geschichte der Strafjustiz […]. Es markiert aber auch einen bedeutsamen Moment in der Geschichte jener Disziplinarmechanismen, die von der neuen Klassenmacht entwickelt wurden: den Moment, in dem sie die Justiz kolonisieren.“ (Foucault 1994, 295)

Allerdings scheiterten nach Foucault die programmatischen Ziele dieser Spätgeburt der Disziplinargesellschaft seit ihren Anfängen. Statt als Instanz der Besserung oder als Maschine zur Produktion integrierter und disziplinierter Subjekte bewirkte das Gefängnis eher die Fabrikation und Vertiefung von Delinquenz (vgl. ebd. 340-378). Seine Beständigkeit als Leitmodell der modernen Strafjustiz begründet sich so eher daraus, dass ihm (im Sinne sekundärer Zweckmäßigkeit) Funktionen ganz anderer Art zuwuchsen: Funktionen der Klassifikation und Verwaltung, wenn nicht der Produktion vielfältiger Formen von „nützlichen Delinquenzen“ (ebd. 361) und von delinquenten Subjekten, die für die bürgerliche Gesellschaft ganz andere Nutzeffekte hatten – ob in der Erschließung und Organisation illegaler und halblegaler Märkte (Waffen, Prostitution, Drogen), in der „Unterwanderung von politischen Parteien und Arbeitervereinigungen“ (ebd., 361), in der Verwendung ehemaliger Häftlinge „als Denunzianten, Spitzel, Streikbrecher“ (ebd., 369) oder ganz generell für die Bestimmung der Normalitätsgrenzen, die Regulation des bürgerlichen Moralhaushalts und die Legitimitätsproduktion (vgl. ebd., 350-368; Foucault 1976).25 Während die Rhetorik der Disziplin ihre Vollendung so in einem Bereich fand, wo sie faktisch zumindest die expliziten Wirkungsabsichten verfehlte, ist der praktische Erfolg der Disziplin im Bereich der Produktion am Beginn des Hochkapitalismus offenkundig.

24 Vgl. hierzu auch die Quellenzitate bei: Foucault 1994, v.a. 155-164 & 295-329. 25 Da diese Wirkungen bereits Dimensionen dessen enthalten, was Foucault (vgl. 2004b) später als Mechanismen einer „postdisziplinären“ Gouvernementalität kennzeichnet, wird in diesem Kontext darauf zurückzukommen sein (s.u. 8).

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2.2 D IE KAPITALISTISCHE O RGANISATION DER ARBEITSKRÄFTE UND DIE F ABRIKDISZIPLIN „Daß nichts umkommt oder verschleudert wird, daß die Produktionsmittel nur in der durch die Produktion selbst erheischten Weise verbraucht werden, hängt teils von der Dressur und Bildung der Arbeiter ab, teils von der Disziplin, die der Kapitalist über die kombinierten Arbeiter ausübt und die überflüssig wird in einem Gesellschaftszustand, wo die Arbeiter für ihre eigne Rechnung arbeiten“. KARL MARX (MEW 25, 93)

Die von Foucault herausgearbeitete genealogische Verbindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Ausformung des Disziplinardispositivs, das ein „unverzichtbares Element der industriellen Produktion, des Privateigentums und des Profits“ (Foucault 1994, 226f.) bildet, verzeichneten bereits zeitgenössische Beobachter. So sah 1835 der Ökonom Andrew Ure die „Hauptschwierigkeit [...] der automatischen Fabrik [...] in der notwendigen Disziplin, um die Menschen auf ihre unregelmäßigen Gewohnheiten in der Arbeit verzichten zu machen und sie zu identifizieren mit der unveränderlichen Regelmäßigkeit des großen Automaten“. Den „entsprechenden Disziplinarkodex zu erfinden und mit Erfolg auszuführen“ sei „ein Unternehmen, des Herkules würdig“ gewesen.26 Gegen Ures Zurechnung diese ‚Herkulesunternehmens‘ auf Sir Richard Arkwright spottete jedoch bereits Marx, dieser sei nur „der größte Dieb fremder Erfindungen“ gewesen (MEW 23, 447). Hinsichtlich der Frage nach den vielfältigen historischen Quellen dieser sozialtechnologischen Erfindungen, bieten die oben skizzierten Analysen Foucaults einige Antworten. Gleichwohl ist es notwendig, den funktionalen Zusammenhang von Kapitalismus und Disziplin, der in den Formen fabrikmäßiger Arbeitsorganisation deutlich hervortritt, genauer zu betrachten. Dafür, dass gerade im Kapitalismus an die Stelle der bloßen Aneignungen von Produkten eine systematische Bearbeitung und Umformung der Produzenten tritt und in der Umgestaltung des Produktionsprozesses Fabrik- und Disziplinarsystem so kongenial ineinander greifen konnten, lässt sich aus Marx’ Darstellung der Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts (s.o. III.1.3f.) eine recht klare Erklärung aus den Strukturprinzipien der kapitalistischen Ökonomie geben. Wenn die dem Handel, der Verteilung, der Spekulation und Aneignung vorausgesetzte Quelle der gesellschaftlichen Wertschöpfung in der (menschlichen) Arbeit liegt und der Mehrwert nur ein Ausdruck jener Surplusarbeit ist, die über den (im Lohn ausgedrückten) Anteil des Produkts hinausgeht, der im gesellschaftlichen Durchschnitt zur Reproduktion der Arbeitskraft erfordert ist, dann ist eine Wirtschaftsform, deren Movens statt in der bloßen Abschöpfung von Produkten in der gewinnorientierten Verwertung von Wert besteht, darauf angewiesen, die Ausnutzung der menschlichen Arbeit

26 Andrew Ure: The philosophy of manufactures. London 1835, p. 15, zit. in: MEW 23, 447; vgl. zur Bedeutung der Disziplin bei Ure und anderen Zeitgenossen auch: Thompson 1987, 388-391; 1980, 48-66.

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systematisch zu optimieren. In diesem Sinne muss das „Kapital [...] das Leben in Arbeitskraft synthetisieren“ (Foucault 1976, 117). Solange – wie im Frühkapitalismus bis Mitte des 18. Jahrhunderts – keine wesentliche Veränderung der wissenschaftlich-technischen Produktionsmethoden und damit auch kaum entscheidende Durchbrüche in der Steigerung der Arbeitsproduktivität stattfinden,27 ist die zur Verwertung des anwachsenden Kapitals erforderte Ausweitung der Produktion nur möglich, wenn eine Masse neuer Lohnarbeitskräfte in den Verwertungsprozess hineingezogen und zugleich die Surplusarbeitszeit permanent ausgedehnt wird.28 Dieser relativ rohen und unentwickelten Form der Kapitalverwertung entspricht das elementare Disziplinarsystem der Arbeitshäuser, die halfen, eine von traditionellen Lebensgrundlagen befreite Population in die Form eines verwertbaren, an extensive Arbeit gewöhnten Proletariats zu bringen. Auf dieser Grundlage bleiben der Erhöhung des Mehrwerts in der Größe der verfügbaren Population und in der Notwendigkeit der Regeneration der Arbeitskraft aber definitive Grenzen gesetzt. Eine weitere Steigerung ist nur möglich, wenn „nicht die Länge des Arbeitstags, sondern seine Teilung in notwendige Arbeit und Mehrarbeit“ (MEW 23, 332) verändert, also der relative Anteil der Mehrarbeit erhöht wird. Es wurde oben (III.1.4) gezeigt, wie die dafür erforderte Innovationsdynamik durch die Konkurrenz der Einzelkapitale angereizt wird. Historisch markiert die endgültige Entfesselung des Wechselspiels von Konkurrenz- und Innovationsdynamik am Ende des 18. Jahrhunderts den Übergang vom Früh- zum Hochkapitalismus.29 Dies koinzidiert zeitlich mit der Vereinigung der verstreuten Disziplinartechniken zum die gesamte Gesellschaft durchziehenden Disziplinarsystem und ist auch funktional mit der Perfektionierung der Arbeitsteilung, der Optimierung der Maschinen, der Intensivierung der Arbeit und den neuen Formen der Arbeitsorganisation verbunden. Im Prozess der Umwälzung der Produktionsmethoden, den Marx als Schritt in der ‚reellen Subsumption‘ der Arbeit unter das Kapital beschrieb, wird die Disziplin zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Produktivkraft. Drei zentrale Schnittpunkte der Umgestaltung des Produktionsprozesses und der Optimierung der Disziplinarmechanismen sind dabei: 27 Eine Ausnahme bildet die bereits früh in Manufakturen systematisierte Arbeitsteilung (vgl. MEW 23, 356-390). Vgl. zur Innovationsträgheit im Frühkapitalismus, in dem sich die kapitalistische Verwertungslogik zunächst unter Beibehaltung alter Produktionsmethoden ausdehnt: Sombart (1922, Bd. I.2, 463-512; Bd. II.1, 46ff.), der dies auf fehlende Konkurrenz und überkommene innovationsfeindliche Wirtschaftsgesinnungen zurückführt. Braudel zeigt zudem, dass ein Engagement in der Produktion gegenüber der indirekten Wertabschöpfung im Handelskapitalismus lange unrentabel blieb und zudem auf zahlreiche Widerstände stieß. Frühe Ansätze eines Produktionskapitalismus (v.a. im Bergbau und dem vielfältigen Verlagssystem) blieben so ein „Kapitalismus im fremden Lager“ (Braudel 1986, Bd. 3, 247-406). 28 Neben der Verlängerung des Arbeitstages ist der – gegen erhebliche Bevölkerungswiderstände durchgesetzte – Abbau der Feiertage (die in einigen Bergbauregionen um 1600 noch ca. ein Drittel des Jahres ausmachten) ein wichtiger (von Marx nur beiläufig erwähnter) Faktor. Vgl. Sombart 1922, Bd. I.1, 36ff. & Thompson 1980b, 35-66). 29 Vgl. Sombart 1922, Bd. II.2, 1153ff.; 1927, Bd.III.1. Die Konkurrenz war lange gering, da die frühkapitalistische Entwicklung sich im Sog einer ungesättigten Sondernachfrage nach Luxus- und Heeresgütern vollzog und die objektiven Bedingungen der Konkurrenz (v.a. eine Vielzahl von Kapitalen gegenüber einem begrenzten Markt) noch kaum gegeben waren. Zugleich war die Konkurrenz durch subjektive Faktoren gehemmt, da sie weithin als unmoralisch empfunden und normativ abgelehnt wurde.

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(1.) die Perfektionierung der Zergliederung der Produktion in Teilverrichtungen und Teilwerkzeuge; (2.) die Automatisierung, der die Arbeiter angepasst werden; (3.) die Beschleunigung und Intensivierung der Arbeit, die aus einer begrenzten Zeit mehr Arbeit saugt. (1.) Hinsichtlich der Arbeitsteilung hat Marx herausgestellt, dass durch Zerteilung der Produktion in minimale Teilsequenzen die Einzelverrichtung aus jedem sinnhaften Zusammenhang herausgelöst wird, der den Teilarbeiter befähigen könnte, seine Tätigkeit selbst zu überschauen und zu koordinieren, während zugleich der Bedarf zur minutiösen Abstimmung der Einzelsequenzen aufeinander wächst. Hier ist einerseits eine Disposition zum unmittelbaren, blinden Gehorsam, andererseits eine körperliche Eignung zu Handgriffen erfordert, die im Vergleich zur Handwerksarbeit geistig voraussetzungslos sind, physisch aber präziser sein müssen. Zugleich bringt die entwickelte Arbeitsteilung ein neues Verhältnis von „Teilarbeiter und Werkzeug“ (MEW 23, 359ff.) hervor, in dem die „Arbeitswerkzeuge durch [...] Anpassung an die ausschließliche Funktion der Teilarbeiter“ in endloser Varietät „vereinfacht, verbessert und vermannigfacht“ werden (ebd., 361). Um die zugehörige „Virtuosität des Detailarbeiters“ (ebd., 359) hervorzubringen, ist die Zergliederung und Einübung elementarer Körperbewegungen ebenso erfordert, wie die instrumentelle Codierung des Körpers in der „Zusammenschaltung“ von Körper und Instrument. Die Werkzeuge selbst werden Medien der Disziplin, da die Erfordernisse ihrer Anwendung den Körper kontinuierlich zur Ordnung rufen. Damit die „Sonderfunktionen der Teilarbeiter“ (ebd., 361) sich zur kombinierten Arbeitskraft des „Gesamtarbeiters“ (ebd., 531) vereinigen, bedarf es schließlich einer der Hierarchie der Arbeitsschritte entsprechenden „hierarchische[n] Gliederung unter den Arbeitern selbst“ (ebd., 381) und der Ausdifferenzierung einer „Funktion der Leitung, Überwachung und Vermittlung“ (ebd., 350), die den „segmentierte[n] Körper seinerseits als ein Segment in eine Gesamtheit“ einfügt (Foucault 1994, 212): „Der Befehl des Kapitalisten auf dem Produktionsfeld wird jetzt so unentbehrlich wie der Befehl des Generals auf dem Schlachtfeld.“ (MEW 23, 350) Ebenso wichtig werden optimierte Formen der Überwachung, die Foucault an der Manufaktur- und Fabrikarchitektur ebenso differenziert herausgearbeitet hat wie am Beispiel der Aufsichtstätigkeiten. In der Fabrik, die „das Kloster, die Festung, die geschlossene Stadt zum Vorbild“ nahm (Foucault 1994, 182), wird die architektonisch Gliederung und Parzellierung ebenso komplex wie die Überwachungsfunktionen: „Vom Mittelgang der Werkstätte aus läßt sich eine allgemeine und zugleich individuelle Überwachung durchführen: Feststellung der Anwesenheit, des Eifers und der Arbeitsqualität des Arbeiters; Vergleich der Arbeiter untereinander; und ihre Klassifizierung nach Geschicklichkeit und Schnelligkeit; Verfolgung der Fabrikationsphasen. Alle diese Reihenfolgen bilden ein bleibendes Strukturgitter, das alle Unübersichtlichkeiten beseitigt: […] Jede Variable der Arbeitskraft – Stärke, Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Ausdauer – kann beobachtet, charakterisiert, eingeschätzt, verrechnet und dem dafür Zuständigen berichtet werden. […] Gleichzeitig mir der Teilung des Produktionsprozesses stößt man bei der Geburt der Großindustrie auf die individualisierende Zerlegung der Arbeitskraft; beides wurde durch die Gliederung des Disziplinarraums ermöglicht.“ (Ebd., 186f.)

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Die Differenzierung der Arbeitsteilung und eine Disziplinarmacht, der es „weniger um Ausbeutung als um Synthese, weniger um Entwindung des Produkts als um Zwangsbindung an den Produktionsapparat geht“ (Foucault 1994, 197), bedingen, erfordern und befördern einander (vgl. Foucault 2005, 230f.; MEW 23, 448ff.). (2.) Auch die Automatisierung, die auf der Grundlage der Zergliederung und Präzisierung der Teilarbeiten und -werkzeuge möglich wird,30 hat Voraussetzungen und Folgen im System der Disziplin. Zunächst schafft sie eine Form von Arbeit, die an die Qualität der Arbeitskraft geringere Anforderungen stellt als die Manufaktur, was es ermöglicht, neues Menschenmaterial ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und körperliche Verfassung in den Verwertungsprozess zu saugen und zugleich mit jeder Innovation Massen von in ihrer bisherigen Tätigkeit Überflüssigen auszustoßen. Bereits in den großen Manufakturen gibt es „keinen Augenblick des Lebens, aus dem nicht Kräfte herauszuholen sind, sofern man ihn zu differenzieren und mit anderen zu kombinieren weiß“. Damit werden „Kinder und Alte“ als „billige Arbeitskräfte“ verwertbar (Foucault 1994, 213). Diesem Ideal, alle Augenblicke des Lebens, von der Geburt bis zum Tod auszunutzen, nähert sich die Automatisierung noch weiter an (vgl. MEW 23, 424 & 416ff.). Dies vergrößert das Reservoir der industriellen Reservearmee und zwingt die disponiblen Arbeitskräfte, sich rasch in neue Tätigkeitsfelder zu fügen. An die Form der Arbeitskraft und die Disziplin, in die sie eingefügt wird, stellt das gänzlich neue Anforderungen. In der Manufaktur war jedem Teilarbeiter in der kunstvollen Zusammensetzung der Kräfte zum Gesamtarbeiter eine definierte Funktionsstelle zugewiesen, die oft relativ hohe Anforderungen an die inkorporierte Detailvirtuosität und damit an die verinnerlichte Disziplin stellte. In der maschinellen Produktion hingegen entstehen – neben einigen qualifizierten Ingenieurs- und Fachberufen – Funktionsstellen mit gänzlich anderem Anforderungsprofil. Das zeigt sich bereits im oft geschilderten äußeren Erscheinungsbild der Fabrik, wo „der Automat selbst das Subjekt“ ist und die Arbeiter „nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet und mit denselben der zentralen Bewegungskraft untergeordnet“ sind. 31 Indem mit „dem Arbeitswerkzeug auch die Virtuosität in seiner Führung vom Arbeiter auf die Maschine über[geht]“, wird die Leistungsfähigkeit des Instruments „emanzipiert von den persönlichen Schranken menschlicher Arbeitskraft“ (MEW 23, 442). Das macht die kunstvolle, manufakturmäßige Gliederung und Verteilung der Kräfte ebenso überflüssig wie den differenzierten Lehrbetrieb, den Foucault (vgl. 1994, 201ff.) eindrücklich schilderte. Da „in der automatischen Fabrik“ eine zunehmende „Nivellierung der Arbeiten, welche die Gehilfen der Maschinerie zu verrichten haben“, stattfindet, beschränkt sich die Koordination auf eine einfache „Verteilung von Arbeitern

30 Wo einzelne Bewegungen und Detailwerkzeuge so weit zergliedert, systematisiert und präzisiert sind, dass sie individuelle Fertigkeit durch mechanische Wiederholung identischer Sequenzen ersetzen, lassen sie sich zu mechanischen Apparaten zusammenfassen. Wo „das Individuum […] in das automatische Triebwerk einer Teilarbeit verwandelt“ (MEW 23, 381) ist, kann es durch automatische Kraft ersetzt werden. (Vgl. ebd., 391ff. & 396f.) 31 Fasziniert schildert Ure die Fabrik als „ungeheuren Automaten, zusammengesetzt aus zahllosen mechanischen und selbstbewußten Organen“, die alle „einer Bewegungskraft untergeordnet sind“, so versammle „die wohltätige Macht des Dampfes ihre Myriaden von Untertanen“ (Ure [wie Fn. 41], 18, zit. in: MEW 23, 441f.).

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unter die spezialisierten Maschinen und von Arbeitermassen, die jedoch keine gegliederten Gruppen bilden, unter die verschiednen Departements der Fabrik“, wo „sie an nebeneinander gereihten gleichartigen Werkzeugmaschinen arbeiten […]. Die gegliederte Gruppe der Manufaktur ist ersetzt durch den Zusammenhang des Hauptarbeiters mit wenigen Gehilfen.“ (MEW 23, 442f.) Da somit für den Großteil der einfachen Hilfskräfte die „Arbeit in der mechanischen Fabrik […] jeden Spezialcharakter“ verliert (MEW 4, 157), genügt es zunehmend, dass der Teilarbeiter sich „der gleichförmig kontinuierlichen Bewegung eines Automaten anpassen lerne“ (MEW 23, 443), womit er auch leichter ersetzbar wird: „In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.“ (MEW 23, 445f.)

In dem Maße aber, in dem sich die innere Disziplin der Arbeitskräfte darauf beschränkt, ihre Bewegung der sie verwertenden Maschinerie unterzuordnen, steigen die Anforderungen an die äußere Disziplin des Gesamtprozesses. Zu deren erstem Medium wird die Maschine in ihrer Nebenfunktion als Disziplinarautomat. Die in den „industriellen Schlachtbulletins“ (ebd., 448) der Fabrikberichte dokumentierte Zahl der „Verwundeten und Getöteten der industriellen Armee“ (MEW 25, 99) zeigt, dass Kraft und Geschwindigkeit der Maschinen bei fehlenden Sicherheitsvorkehrungen weit stärker als das Werkzeug zur Disziplin rufen, da hier nicht nur die Produktqualität, sondern der Körper auf dem Spiel steht.32 Allerdings genügt dieser Faktor nicht. Denn auch wenn der Verschleiß und das rasche Absterben der leicht ersetzbaren menschlichen Arbeitskraft ökonomisch und moralisch unproblematisch sind,33 stellt die Unregelmäßigkeit der Arbeiter doch ebenso sehr eine Gefährdung für die empfindlichen und kostenintensiven Maschinen dar. Hier könnte „die geringfügigste, übersehene und daher jeden Tag wiederholte Unfähigkeit für das gesamte Unternehmen verderblich werden und es binnen kurzer Zeit vernichten“, da sie „nicht nur die Gewinne, sondern auch das Kapital angreifen würde“; man muss daher permanent „die Arbeiter überwachen, alle Arbeiten besichtigen“.34 Die Form dieser Überwachung unterscheidet sich, wie Foucault feststellt, von der in der Manufaktur. War

32 Ein Fabrikbericht nennt „Quellen von Unglücksfällen, die vor 20 Jahren nicht existiert haben [...]. Räder, Walzen, Spindeln und Webstühle“ werden mit „stets wachsender Gewalt getrieben; die Finger müssen rascher […] anpacken, denn wenn mit Zaudern […] angelegt, sind sie geopfert“ (Reports of Inspection of Factories etc., 31st October 1866, zit. in: MEW 23, 449f.). Es bleibt selbstverständlich nicht bei den Fingern: „Die Unfälle in scutching mills sind furchtbarster Art. In vielen Fällen wird ein Vierteil des Körpers vom Rumpfe gerissen“ (ebd., zit. in: MEW 23, 505). 33 „Die Überarbeiteten sterben mit befremdlicher Raschheit; aber die Plätze derer, die untergehn, sind sofort wieder ausgefüllt“ (E. G. Wakefield: England and America, London 1833, 55, zit in: MEW 23, 285). Solche und ähnliche Erscheinungen waren für das Bürgertum Anfangs meist weder ein ökonomisches noch ein moralisches Problem, wie u.a. Thompson (vgl. 1987, 374ff.) gezeigt hat. 34 Cournol: Considérations d’intérét public sur le droit d’exploiters les mines, 1790, zit. in: Foucault 1994, 226.

296 | M ETAMORPHOSEN DES K APITALS

dort die Dressur der Lehrlinge perfektioniert, während die Produktion nur sporadisch „‚von außen‘, d.h. von Inspektoren“ kontrolliert wurde, geht es nun „um eine innere, intensive, stetige Kontrolle, die den gesamten Arbeitsprozeß durchzieht“ und durch spezialisierte „Angestellte, Aufseher, Kontrolleure, Vorarbeiter sichergestellt“ werden muss: „Je umfangreicher und komplexer der Produktionsapparat wird […,] desto dringlicher und schwieriger werden die Kontrollaufgaben.“ (Foucault 1994, 225f.) Während die Übungen minimiert werden, wächst der äußeren Überwachung und Sanktion größere Bedeutung zu: „Die technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedenster Altersstufen schaffen eine kasernenmäßige Disziplin, die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet und die […] Arbeit der Oberaufsicht, also […] die Teilung der Arbeiter in Handarbeiter und Arbeitsaufseher, in gemeine Industriesoldaten und Industrieunteroffiziere, völlig entwickelt.“ (MEW 23, 446f.)

Überwachung wird unter diesen Bedingungen zu einer „eigenen Funktion“ ausdifferenziert, die aber alle Momente des Produktionsprozesses als ein sie erst „integrierendes Element“ begleiten muss (Foucault 1994, 226; vgl. 2003b, 484f.; 2005, 234). In den Typen des Maschinenmeisters und Vorarbeiters verbindet sich dabei die Kontrollfunktion effizient mit anderen produktiven Funktionen. Dank der niedrigen Löhne können sich die Sanktionen auf ein System von kleinen, aber für die Arbeitskräfte unmittelbar die Subsistenz bedrohenden „Geldstrafen und Lohnabzügen“ (MEW 23, 447) konzentrieren, die zudem in der Masse positive Effekte auf die Gewinnspanne haben. Beides beförderte die rasche Verallgemeinerung entsprechender Kontrollfunktionen zusätzlich. (3.) Ein letzter Schnittpunkt zwischen Disziplinarsystem und Fabrikarbeit ergibt sich hinsichtlich der „systematische[n] Steigerung des Intensitätsgrads der Arbeit“ (ebd., 440). Foucault nannte dies die „erschöpfende Ausnutzung“, die „aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick noch mehr nutzbare Kräfte“ herausholt (Foucault 1994, 197f.). Dabei geht es nicht nur um die Festlegung von Zeitrhythmen als Ordnungsprinzip,35 vielmehr um die gezielte Veränderung der nutzbaren Qualität der Zeit. Eine „Steigerung der Rentabilität des Zeitflusses“ (ebd., 202) soll „zur Herstellung einer vollständig nutzbaren Zeit“ beitragen, einer „Zeit ohne Fehl und Makel“, einer „Zeit guter Qualität“ (ebd., 193f.). Solche Techniken, die nach dem „Prinzip einer theoretisch endlos wachsenden Zeitnutzung“ funktionieren und „die Ausnutzung des geringsten Augenblicks zu intensivieren“ suchen (ebd., 198), entsprechen der Tendenz der kapitalistischen Verwertungslogik zur „dichteren Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit“ (MEW 23, 432). Diese Tendenz ergibt sich schon als Begleiterscheinung von Arbeitsteilung, Spezialisierung und Automatisierung. Bei vollständiger Konzentration auf eine Verrichtung kann diese weit

35 „Der Arbeiter muß morgens um halb 6 in der Fabrik sein; kommt er ein paar Minuten zu spät, so wird er gestraft, kommt er 10 Minuten zu spät, so wird er gar nicht eingelassen, bis das Frühstück vorüber ist, und verliert einen Vierteltag am Lohn. Er muß auf Kommando essen, trinken und schlafen [...] Die despotische Glocke ruft ihn vom Bette, ruft ihn vom Frühstück und Mittagstisch.“ (F. Engels, MEW 2, 398f.; vgl. Foucault 1994, 182f. & 193f.)

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schneller vollzogen werden. Auch das Prinzip, „eine zusammengesetzte Zeit zu bilden“, bei der sich „die Zeit der einen […] so an die Zeit der anderen“ fügt, dass aus allen „ein Höchstmaß an Kräften herausgezogen und zu einem optimalen Resultat kombiniert werden kann“ (Foucault 1994, 213), war schon in der Manufaktur ausgebildet (vgl. MEW 23, 366ff.). Ebenso nehmen mit „der gehäuften Erfahrung einer eignen Klasse von Maschinenarbeitern die Geschwindigkeit und damit die Intensität der Arbeit“ zu (ebd., 431). Zusätzlich verstärkt wurde diese Tendenz aber, wo die „maßlose Verlängrung des Arbeitstags“ in der Frühphase des Hochkapitalismus „eine Reaktion der in ihrer Lebenswurzel bedrohten Gesellschaft“ (ebd., 431) in Form gesetzlicher Arbeitszeitbegrenzungen herbeiführte. Wo „das Maß der Arbeitszeit als ‚ausgedehnter Größe‘“ beschnitten war, wurde „das Maß ihres Verdichtungsgrads“ (ebd., 432), das bestimmt, wieviel Kraft in gegebener Zeit verausgabt wird, zum entscheidenden Faktor. Dabei erwies sich, dass auch in Fabriken, in denen „längst die strengste Disziplin geschaffen“ war, bei einer verringerten Länge des Arbeitstages ohne maschinelle Innovation dasselbe oder gar ein höheres Produkt erzeugt wurde, „ausschließlich infolge größrer Ausdauer der Arbeiter und Ökonomie ihrer Zeit. Während sie denselben Lohn empfingen und 1 Stunde freie Zeit gewannen, erhielt der Kapitalist dieselbe Produktenmasse und sparte Verausgabung von Kohle, Gas usw.“ (ebd., 433f.). Ähnliche Ergebnisse zeigten weitere Arbeitszeitbegrenzungen auf 11 und schließlich 10 Stunden, so dass sich – trotz aller Klagen von Unternehmerseite – die sinkende Arbeitszeit tatsächlich mit einem Steigen der Profite und ungekanntem Wirtschaftswachstum verband (vgl. ebd., 435ff.). Prinzipiell möglich wurde dies, da ab dem „Knotenpunkt“, an dem die Expansion des Arbeitstages die Regenerationsfähigkeit der Arbeitskraft zerstört, der Verlängerung der Arbeitszeit eine Verringerung der Intensität entspricht, letztere also wieder steigen kann, wo die Arbeitszeit sinkt. Die Arbeitszeitverkürzung schuf dabei aber nur „die subjektive Bedingung der Kondensation der Arbeit“, d.h. die potenzielle „Fähigkeit des Arbeiters, mehr Kraft in gegebner Zeit flüssig zu machen“. Um das Potenzial auch auszunutzen, bedurfte es der „objektiven und systematisch angewandten Mittel, mehr Arbeit in derselben Zeit zu erpressen“ (ebd., 434). Neben der Minimierung von Arbeitsunterbrechungen lagen diese Mittel in der Beschleunigung maschineller Abläufe, der Erweiterung des Arbeitsfeldes, d.h. der simultan zu erfüllenden Teilverrichtungen, und der weiteren Optimierung der Kontrolle.36 Das kongeniale Ineinandergreifen von Fabrikarbeit und Disziplin in der Teilung, Automatisierung und Intensivierung der Arbeit machte entsprechende Technologien zum „entscheidenden ökonomischen Faktor, da sie sowohl ein Element im Produktionsapparat wie auch ein Rädchen innerhalb der Disziplinargewalt“ bildeten (Foucault 1994, 226f.). Das heißt jedoch nicht, dass die funktionale Allianz von Kapitalismus und Disziplin für alle Formen kapitalistischer Vergesellschaftung denselben Stellenwert hat, wie in dieser historischen Formationsphase. In einer durch permanente Re-

36 Nach der Verkürzung des Arbeitstages auf 12 Stunden erklärte der Fabrikant John Fielden 1836: „Verglichen mit früher ist die Arbeit, die in den Fabriken zu verrichten [ist], sehr gewachsen, infolge der größren Aufmerksamkeit“, die die „vermehrte Geschwindigkeit der Maschinerie vom Arbeiter erheischt.“ (Zit. in: MEW 23, 435)

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volution der Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse gekennzeichneten Gesellschaftsform (vgl. MEW 4, 465) war auch das Disziplinarsystem nur ein Durchgangsstadium und kein Endpunkt der Entwicklung.

2.3 Ü BERGÄNGE : Z UM DER D ISZIPLIN

TRANSISTORISCHEN

C HARAKTER

„Foucault gilt nicht selten als Denker der Disziplinargesellschaften und ihrer prinzipiellen Technik [...]. Aber in Wirklichkeit gehört er zu den ersten, die sagen, daß wir dabei sind, die Disziplinargesellschaften zu verlassen, daß das schon nicht mehr unsere Gegenwart ist.“ GILLES DELEUZE (1993, 250)

Bereits Marx hat auf den wesentlich transistorischen Charakter der Disziplinartechniken in ihrer Funktion für die kapitalistische Ökonomie hingewiesen. Die Techniken zur Zurichtung und Überwachung der Arbeitskräfte spielen in der Entwicklung des Kapitalismus eine entscheidende Rolle, indem sie als ein Ansporn bei der Steigerung der Produktivkräfte wirken, jedoch in Gestalt einer „Disziplin derselben, die überflüssig und lästig wird auf einer gewissen Höhe ihrer Entwicklung“ (MEW 42, 328). Nachdem die „allgemeine Arbeitsamkeit durch die strenge Disziplin des Kapitals, wodurch die sich folgenden Geschlechter durchgegangen sind, entwickelt“ ist (ebd., 244), können auch die Techniken der Subjektformierung subtilere und komplexere Formen der Ausprägung und Anreizung individueller Interessen und Fähigkeiten annehmen. So bildete der „Stücklohn“ einen Mechanismus, der äußere Disziplin überflüssig machte, wo er die Arbeiter veranlasste, „auf eigene Rechnung“ zu arbeiten (MEW 25, 93). Dies, wie alle späteren Formen des Lohnanreizes, setzte aber voraus, dass entsprechende Erwerbsdispositionen verinnerlicht waren, was in der Frühphase des Kapitalismus keineswegs gegeben war. Die niedrigen Löhne dieser Zeit lagen nicht nur im geringen Stand der Produktivkräfte und im Gewinnstreben der Kapitalisten begründet. Sie bildeten auch eine strategische Reaktion auf die Erfahrung, dass die Arbeitskräfte einem vorkapitalistischen Prinzip der „Bedarfsdeckung“ verhaftet blieben und an einem darüber hinausgehenden Erwerb wenig Interesse zeigten, weshalb erste Versuche mit dem Akkord- und Stücklohn noch zum Rückgang der Arbeitsleistung führten. Die extensive und intensive Steigerung der Arbeitszeit ließ sich unter diesen Bedingungen nur erzwingen, wenn der Arbeitslohn niedrig genug war, damit ein Minimum der Subsistenz erst gegen ein erheblich höheres Quantum Arbeit garantiert war.37 Das Disziplinarsystems, das, wie an den Arbeitshäuser gezeigt, auch darauf gerichtet war, mit dem Einpflanzen der Erwerbsdispositionen die Grundlagen des Lohnanreizes zu legen und einen Sinn für den Wert der Arbeit als solcher zu entwickeln (vgl. Foucault 1994, 312ff.), hatte so wesentlich eine Transmissionsfunktion, die darin bestand, der kapitalistischen Wirtschaftsform entsprechende Dispositionen – auch gegen vielfältige Widerstände (vgl. Thompson 1987; 1980b) – auf eine

37 Vgl. u.a. Sombart 1927, Bd. III.2, 659ff., 670ff., 935ff.; 1922, Bd. I.2, 785-835; MEW 23, 557-588; Thompson 1987, 301ff.; 1980, 67-130.

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Population zu übertragen, die diese noch nicht in hinreichendem Maße aufwies. Die Bedeutung solcher direkt auf normierende Subjektformierung gerichteten Technologien kann damit aber auch in dem Maße zurücktreten, in dem neue Verhaltens- und Einstellungsmuster verallgemeinert sind und in einer Arbeiterklasse, „die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“ (MEW 23, 765), sozial tradiert werden. Indem das Disziplinardispositiv beiträgt, die gesellschaftlichen Notstände, in Reaktion auf welche es ausgeformt wurde, zu überwinden, verliert es auch einen Teil seiner gesellschaftlichen Funktion. Die Zwangsarbeit in Arbeitshäusern und Gefängnissen ebenso wie staatliche Zwangsregulationen der Arbeitslöhne und -zeiten wird aber nicht nur teilweise überflüssig, wo eine hinreichende Population freier und williger Arbeitskraft herangezüchtet ist, sie wird selbst zum Problem, wo der „freie Arbeitsmarkt [...] an die Stelle des disziplinarischen Arbeitszwangs“ tritt (Castel 2008, 165), da sie nun zunehmend als Widerspruch zum Marktprinzip und als Störung des freien Wettbewerbs erscheint.38 Zudem waren im Bereich der Produktion die Disziplinartechniken zur beständigen Kontrolle widerspenstiger Arbeitskräfte kostenintensiv und erzeugten und vertieften darüber hinaus Reibungspunkte und Widerstände zwischen Lohnarbeitskräften und Unternehmensführung. Deshalb sahen gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa die Tayloristen in der „Vergiftung der Produktionsbeziehungen durch Machtverhältnisse“ ein wesentliches „Hindernis für wachsende Profite“ (Donzelot 1994, 135) und suchten nach Möglichkeiten der Minimierung der äußeren Disziplin zugunsten effizienterer Kontrolltechniken. Insofern gab es bereits im 19. Jahrhundert Anzeichen einer Krise des Disziplinarsystems. Gerade der oft primär als Theoretiker der Disziplin eingeordnete Foucault ging davon aus, dass die „Disziplinargesellschaft“, d.h. eine Gesellschaft, in der die Disziplinartechnologien eine so dominante Funktion hatten, dass sie das generelle Erscheinungsbild verschiedenster Bereiche prägten, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert im Verschwinden begriffen ist und andere Formen von Machtmechanismen und Regierungstechnologien (die auf anders gelagerte Probleme reagieren) stärker an Gewicht gewinnen. Zu nennen wäre hier etwa das, was Foucault den „Anreiz zum Konsum“ nannte, der jenseits disziplinarischer ‚Holzhammermethoden‘ zu „wirksamen Normalisierungen des Verhaltens führt“ (Foucault 1976, 126). Bereits Marx hat darauf hingewiesen, dass Qualität und Quantität des Konsums eine Veränderung der Subjekte anregt, die eine Steigerung ihrer nutzbaren produktiven Kräfte auf freiwilliger Basis bewirkt (s.o. III.2; s.u. 6.1). Diese Subjektivierungseffekte der Konsumentenrolle waren dem Lohnproletariat im 19. Jahrhundert aber kaum zugänglich.

38 „Zwangsarbeit“ und „Strafmanufaktur erscheinen mit der Entwicklung der Tauschwirtschaft. Da jedoch das industrielle System einen freien Markt der Arbeitskraft verlangt, geht im 19. Jahrhundert der Anteil der Zwangsarbeit innerhalb der Strafmechanismen zurück“ (Foucault 1994, 36). Dieses knappe Resümee einiger Kernpunkte der Studie von Rusche/Kirchheimer (1974) stimmt in der Hauptlinie mit Foucaults Beobachtungen überein. Deutlich wird dies etwa an den Analysen der Kritiken an der Gefängnisarbeit im 19. Jahrhundert (vgl. Foucault 1994, 308ff.) Auch Marx ging davon aus, dass erst relativ spät „der Austausch von Kapital und Arbeit in fact formell frei“ wird; „in England am Ende des 18. Jahrhunderts mit Aufhebung des law of apprenticeship“ (MEW 42, 661). Von diesem Moment an aber wird staatliche Einmischung in den freien Arbeitsmarkt zur Verletzung liberaler Prinzipien (vgl. Castel 2008, 151ff.).

300 | M ETAMORPHOSEN DES K APITALS

Schrage (vgl. 2009, 130ff.) hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass sich moderne Formen eine Subjektivierung durch Konsum zwar bereits seit dem 18. Jahrhundert im Bürgertum ausprägten, dass jedoch das Proletariat eher einer disziplinarischen Formung unterworfen blieb. Es bedurfte nicht nur der von Marx angeführten Grundbedingung einer Erhöhung der relativen Mehrwertrate, sondern einer grundlegenden Veränderung des Lohnarbeitssubjekts, der gesellschaftlichen Regulationstechniken und der Praktiken der Betriebs- und Menschenführung, bis die mit größeren Freiheitsgraden verbundene Subjektivierung durch Konsum ihren sozial exklusiven Charakter verlor und im Fordismus und Keynesianismus eine reale Option für die Bevölkerungsmehrheit wurden.39 Als einen zentralen Komplex von Strategien und Techniken, die diese Entwicklung begünstigten führt Foucault (1983; 1999; 2004b) die Sicherheitsdispositive an, die auf eine Regulation von Umweltbedingungen zielen. In Differenz zur Disziplin beruhen diese Formen der Regulation auf der Minimierung, Kalkulation und Kompensation von Risiken, die auf der Ebene der Lebensbedingungen der Bevölkerung auftreten. Die Beeinflussung entsprechender Umweltbedingungen soll die Ausprägung bestimmter Verhaltensweisen wahrscheinlich machen, ohne die Subjekte direkt einer disziplinarischen Normierung zu unterwerfen. Solche Sicherheitstechnologien gewannen mit den Sozialversicherungen und im „Vorsorgestaat“ (Ewald 1993) seit Ende des 19. Jahrhunderts ihre modernen Konturen. Die Ausdehnung entsprechender „Normalisierungspraktiken [...] auf das Proletariat“ hatte fraglos auch damit zu tun, dass im Zuge veränderter Produktionsweisen das „Menschenmaterial [...] als kostbare Ressource“ wahrgenommen wurde (Foucault 2003b, 487). Sie ergab sich aber keineswegs automatisch aus den ökonomischen Verhältnissen oder Kalkülen, sondern bedurfte einiger grundlegender Umwälzungen in der Funktion des Staates, in den Bestimmungen der Verhältnisse des Staates zu den Individuen und zur Gesellschaft, in der Logik der Wahrnehmung sozialer Problemlagen oder in den Vorstellungen von individueller Verantwortung und kollektiven Verpflichtungen. Solche Umwälzungen verstanden sich nicht von selbst, sondern waren Effekte von Strategien, die erst im Kontext konkreter Krisenerfahrungen ausgebildet wurden.40 Einige dieser vielfältigen Transformationsprozesse, die auch zu einer Veränderung der relationalen Stellung des Disziplinardispositivs im Verhältnis zu anderen Machttechnologien und Regierungspraktiken beitrugen, sollen im Folgenden detailliert analysiert werden. Wenn dabei Foucaults These gefolgt wird, dass die Modi der Formen kapitalistischer Vergesellschaftung seit dem 19. Jahrhundert mit einem relationalen Bedeutungsverlust der Disziplin verbunden sind, heißt dies selbstverständlich nicht, dass die Disziplin verschwindet. Ebenso wie es Formen der Disziplin historisch lange vor

39 „Solange die Lohnzahlung der Doktrin folgte, dass der Wert der Arbeitskraft dem Quantum ihrer physischen Reproduktion entspricht, sind auch die Entscheidungsspielräume der derart entlohnten Konsumenten außerordentlich eingeschränkt, ist die Freiheit des Marktes für sie nicht mehr als eine formale Verdeckung tatsächlicher Asymmetrie. Etwas anderes sind jedoch Marktverhältnisse, in denen die Einnahme der Konsumentenrolle nicht sozial exklusiv ist.“ (Schrage 2009, 131) Gerade die Genese solcher Marktverhältnisse bedurfte aber äußerer Faktoren, die sich keineswegs von selbst aus der Marktregulation ergaben. 40 Vgl. zur „Normalisierung“ des Proletariats und ihren Ursachen ausführlich v.a. auch: Foucault 2003a, 351-357.

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dem 18. Jahrhundert gab, finden sie auch in der ‚postdisziplinären‘ Gegenwart in verschiedenen Kontexten (Strafjustiz, Militär, Schule etc.) weiterhin Anwendung. Daher wendet sich Foucault (vgl. 2004a, 20ff.) ausdrücklich gegen ein „dürres historisches Schema“, in dem eine juridische Gesellschaftsform von einer disziplinarischen und diese von einer Sicherheitsgesellschaft abgelöst würde: „Es gibt kein Zeitalter des Rechtlichen, kein Zeitalter des Disziplinarischen, kein Zeitalter der Sicherheit“ (ebd., 22; vgl. ebd., 161). Ebenso wie sich disziplinarische Elemente im Inneren der juridischen Strukturen des Absolutismus fanden und gerade die Verallgemeinerung der Disziplin mit einem Anreiz zu Ausbau und Verfeinerung der Gesetzgebung verbunden ist, geht die Etablierung von „Sicherheitstechnologien“ mit einer ganzen Reihe von Verfeinerungen und Intensivierungen disziplinarischer Momente einher, und es bedarf zugleich einer regelrechten „Inflation des juridisch rechtlichen Gesetzbuches, um dieses Sicherheitssystem selbst in Gang zu setzen“ (ebd., 22). Die Transformation besteht nicht im plötzlichen Auftauchen oder Verschwinden bestimmter Macht-Techniken, sondern in einer Verschiebung der relationalen Stellung verschiedener Elemente in ihrem Verhältnis zueinander. Was sich verändert sind weniger die Technologien und Strategien, sondern „die Dominante oder genauer das Korrelationssystem zwischen den juridisch-rechtlichen Mechanismen, den Disziplinarmechanismen und den Sicherheitsmechanismen“ (ebd., 23). Solche Verschiebungen und ihre enge Verbindung mit Krisenerscheinungen und Transformationsprozessen der kapitalistischen Gesellschaftsformation stehen im Zentrum der folgenden Analysen.

3 Genealogien und Grenzen der Biopolitik in der Konstitutionsphase des Kapitalismus

„Vermehrung der Bevölkerung erscheint als Grundlage der Akkumulation als eines stetigen Prozesses.“ KARL MARX (MEW 26.2., 478 [Hervh. i.O.]) „Die Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation, die Anpassung des Bevölkerungswachstums an die Expansion der Produktivkräfte und die Verteilung des Profits wurden auch durch die Ausübung der Bio-Macht in ihren vielfältigen Formen und Verfahren ermöglicht.“ MICHEL FOUCAULT (1983, 136f.)

Das vom Disziplinardispositiv unterschiedene „Sicherheitsdispositiv“ findet eine charakteristische Ausprägung in dem, was Foucault „ein wenig leichtfertig die BioMacht“ nannte (Foucault 2004a, 13; vgl. 1983, 131-153). Um Bedeutung und Funktion der Sicherheits- und Versicherungsmechanismen für moderne kapitalistische Gesellschaften zu verstehen ist es daher sinnvoll, zunächst auf den Problemkomplex von Bio-Macht und Biopolitik einzugehen.1 Das Konzept einer „Lebensmacht“, welche „das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“ (Foucault 1983, 132f.), hat in der Rezeption oft zu Mystifikationen verleitet. In einigen Anschlüssen gelten Bio-Macht und Biopolitik als abstrakte, alles menschliche Leben durchdringende und (de-)formierende Kräfte. In anderen Kontexten soll der Cocktail aus Bio-Macht und Multitude erlahmte linke Revolutionshoffnungen revitalisieren. Letztlich impliziert Foucaults Konzept aber weder düstere Visionen einer totalen Unterwerfung des Lebens unter eine souveräne Macht, deren „versteckte Matrix“ das Konzentrationslager wäre (so Agamben 2001, 48), noch die raunenden Beschwörungen der „ungeheuren Macht des Fleisches der Multitude“

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In der Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft 1975/76 ging Foucault (vgl. 1999, 284ff.) erstmals auf die differente Logik von Disziplinar- und Sicherheitsmechanismen ein, durch die er die Bio-Macht kennzeichnete. In Sexualität und Wahrheit, das in dieser Zeit entstand, unterschied er die Bio-Macht jedoch primär durch den Gegenstand von der Disziplin und kam auf die Form der Sicherheitstechniken erst in den Vorlesungen von 1978/79 (Foucault 2004a; 2004b) detailliert zurück.

304 | M ETAMORPHOSEN DES K APITALS

(Hardt/Negri 2004, 218), deren lebendige Kräfte die Fesseln einer imperialen BioMacht schließlich sprengen würden (vgl. ebd., 257-392).2 Stattdessen fungiert der Begriff lediglich als Element eines Analyserasters, das helfen soll, wenig mysteriöse und per se auch kaum bedrohliche Phänomene – etwa Hygienestandards, medizinische Versorgung, Vorsorgeuntersuchungen, Verbraucherschutz oder Sozialversicherungen – aus den historischen Kontexten ihrer Entstehung und aus den ihnen zuwachsenden gesellschaftlichen Funktionen zu verstehen. Hat der Gebrauch des Begriffs bei Agamben ebenso wie bei Hardt und Negri mystifikatorische Tendenzen,3 geht es Foucault (vgl. 1983, v.a. 136ff.) darum, ein historisches Bündel von Machttechniken zu identifizieren, die durch ihren Gegenstand, ihre Form und ihre Funktionsweise spezifizierbar sind und die sich in konkreten gesellschaftlichen Konstellationen im Bezug auf historisch besondere Problemlagen herausgebildet haben. Die Bio-Macht teilt mit den Disziplinarmechanismen die Funktion, Kräfte zu steigern und zu entfalten, statt sie nur zu unterwerfen, und unterscheidet sich damit wie diese von den klassischen Formen souveräner Machtausübung. Foucaults bekannter Metapher zufolge war das Recht über Leben und Tod in der Macht des vormodernen Souveräns ein Recht, „sterben zu machen und leben zu lassen“ (Foucault 1983, 132 [Hervh. i.O.]; vgl. ebd., 131ff.; 1999, 276ff.). Demgegenüber ist die BioMacht eine „Macht, leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘“ (1999, 278). Ihr

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Bei Hardt und Negri lässt sich unter der neuen Terminologie das Revolutionsnarrativ des Manifests der kommunistischen Partei erkennen: „Biomacht“ gilt nur als „andere Bezeichnung für die reelle Subsumption der Gesellschaft unter das Kapital“ (Hardt/ Negri 2002, 372), in der das Leben bzw. „das gemeinsame produktive Fleisch der Multitude die Form des [...] Kapitals“ annimmt (Hardt/Negri 2004, 213; vgl. ebd., 179-212). Die kapitalistische „biopolitische Produktion“, die „alle Facetten des gesellschaftlichen Lebens [...] berührt und hervorbringt“ (ebd., 12), schafft in neuen Kommunikationstechniken und Organisationsformen auch „Chancen für gänzlich anders geartete soziale Beziehungen“ (ebd., 233). Da das „Empire“ diese in ihm hervorgebrachten lebendigen Kräfte nur ausbeutet und an ihrer Selbstorganisation hindert, wird es zur Fessel: „[E]s bricht die produktive biopolitische Gemeinschaft auf und behindert deren Leben“ (Hardt/Negri 2002, 398). Wenn aber die „konstituierende Macht der Multitude so weit herangereift ist, dass sie durch ihre Netzwerke der Kommunikation und Kooperation, durch ihre Produktion des Gemeinsamen eine andere, demokratische Gesellschaft eigenständig aufrechtzuerhalten vermag“, werden die Kräfte der „biopolitischen Multitudes“ sich zum letzten Gefecht „Biopolitik gegen Biomacht“ erheben (Hardt/Negri 2004, 392f.). Lemke (vgl. 2007, 105ff.) hat auf die Ahistorizität verwiesen, in der Agamben Begriffe wie Biopolitik und Leben gebraucht, was Foucaults „zentrale Einsicht preis[gibt], dass Biopolitik ein historisches Phänomen darstellt, das nicht von der Herausbildung des modernen Staates, der Entstehung der Humanwissenschaften und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zu trennen ist“. Durch den Verzicht auf eine „historischgesellschaftliche Situierung“ wird „das ‚nackte Leben‘ zu einem Abstraktum, dessen komplexe Entstehungsbedingungen ebenso unklar bleiben müssen, wie seine politischen Implikationen“ (ebd., 107). Hardt und Negri halten sich zwar meist an das Grundnarrativ des Manifest, indem sie das „neue Fleisch“ der „Multitude im Inneren der neuen Imperialen Souveränität“ heranwachsen und „über sie hinaus“ weisen lassen (Hardt/Negri 2004, 14), dabei sind aber „quasi-vitalistische“ (Lemke 2007, 86) Tendenzen offenkundig. In jedem Fall ist die dichotome Entgegensetzung der parasitären Bio-Macht des Empire und der produktiven, autonomen und demokratischen Biopolitik der Multitude problematisch, da sie, statt die Verknüpfungen und Wechselwirkungen zwischen Produktivität und Zerstörung, Steigerung und Ausbeutung der lebendigen Kräfte etc. zu analysieren, Bipolaritäten aufbaut und hypostasiert.

G ENEALOGIEN UND G RENZEN DER B IOPOLITIK | 305

höchster Ausdruck ist mithin die Fähigkeit, das Leben und seine Kräfte positiv zu beeinflussen und zu steigern. In der gemeinsamen Wirkungsrichtung bilden Disziplin und Bio-Macht keine Gegensätze und keine sich ablösenden historischen Formen, eher „zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole“ (ebd., 134), die sich etwas zeitversetzt seit dem 17. Jahrhundert herausgebildet haben. Ihre Differenz liegt jedoch im Gegenstand und in den Formen seiner Beeinflussung. Gegenstand der Biopolitik sind „kollektive Phänomene, die in ihren ökonomischen und politischen Wirkungen erst auf der Ebene der Masse in Erscheinung treten“. Als „serielle Phänomene“ erscheinen sie in ihrem singulären Auftreten zufällig und unvorhersehbar, weisen „jedoch auf kollektiver Ebene Konstanten“ auf, „die nur in einem gewissen […] Zeitraum zu erfassen sind“ (Foucault 1999, 283f.). Als erste „Wissensobjekte“ und „Zielscheiben biopolitischer Kontrolle“ (ebd., 281) treten historisch etwa das Verhältnis von Geburts- und Sterberaten, die Verteilung von Krankheiten und die Fruchtbarkeit der Bevölkerung auf. Da solche Kollektiv- und Massenphänomene auf der Ebene des Individuums weder identifiziert noch beeinflusst werden können, erfordert die Bio-Macht einen anderen institutionellen Rahmen als die Disziplin: Sie bildet sich weniger in heterogenen Einzelinstitutionen, sondern eher auf der Ebene der sich seit dem 17. Jahrhundert konstituierenden modernen Territorial-Staaten heraus und tritt auch insofern als Bio-Politik auf. Zugleich setzt sie andere Formen des Wissens und andere Techniken der Intervention voraus, die nicht das Individuum, sondern statistische Verteilungen und Wahrscheinlichkeiten betreffen. Eine epistemologische Voraussetzung der Biopolitik sind daher die eng mit der Herausbildung demographischer und statistischer Techniken verbundenen Konzepte der Bevölkerung. Anders als das Volk in früheren politischen Diskursen bezeichnet die Bevölkerung keine Ansammlung von Untertanen oder von durch einen ‚Gesellschaftsvertrag‘ verbundenen Rechtsubjekten, sondern ein genuines Massenphänomen, das „eine intrinsische Naturalität“ (Foucault 2004a, 504; vgl. 72f.) aufweist, das also durch Gesetzmäßigkeiten charakterisiert ist, die auf der biologischen Ebene liegen und vom Wollen und Handeln der Individuen unabhängig sind. Um diesen Wissensgegenstand zur Zielscheibe von Interventionen zu machen, genügt es damit auch nicht, das Verhalten der Individuen zu formen, vielmehr müssen die äußeren Bedingungsfaktoren der Massenphänomene beeinflusst werden – die Versorgung mit Nahrungsmitteln, die klimatischen, geographischen und hygienischen Bedingungen, der Zugang zu medizinischer Versorgung etc. Entsprechende Interventionen können angesichts der kontinuierlichen Verteilung der Phänomene auch nicht die Form fallweiser Reaktionen auf herausgehobene Ereignisse wie die großen Epidemien haben, sie müssen sich auf „Endemien“ richten, die als „permanenter Faktor […] des Entzugs von Kräften, der Verminderung der Arbeitszeit, des Energieverlusts und ökonomischer Kosten“ erscheinen (Foucault 1999, 281). Die Biopolitik ist daher durch ihren wesentlich kollektiv-präventiven Charakter gekennzeichnet. Statt Einzelnindividuen besonderen Erfordernissen gemäß zu formen, beruht sie auf allgemeinen Vorsorgemaßnahmen, die das Eintreten von Krankheiten, Versorgungsnöten etc. eindämmen und verhindern sollen.4 Es handelt sich also „im Gegensatz zur Disziplin

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Trockenlegung von Sümpfen, städtische Nahrungs- und Wasserversorgung sowie Abwasserentsorgung, Vorbeugemaßnahmen gegen Krankheiten, etwa in Gestalt der seit dem 18.

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nicht um individuelle Dressur, die sich mittels Arbeit am Körper selbst vollzöge“, sondern um „globale Mechanismen“, die „globale Gleichgewichtszustände und Regelmäßigkeiten“ beeinflussen sollen; die also darauf zielen, „das Leben und die biologischen Prozesse der Menschengattung zu erfassen und nicht deren Disziplinierung, sondern deren Regulierung sicherzustellen“ (ebd., 285). Hinsichtlich der gesellschaftlichen Anlässe, die zur Ausbildung entsprechender Techniken führten, verweist Foucault auf die „Verbindung mit einer ganzen Reihe ökonomischer und politischer Probleme“ (ebd., 280), die sich mit dem Doppelprozess von Industrialisierung und Urbanisierung sowie der gleichzeitigen „Bevölkerungsexplosion“ seit dem 18. Jahrhundert verschärft stellen (vgl. ebd., 289), was aber nicht heißt, dass die Biopolitik in dieser Zeit plötzlich und unvermittelt aufgetaucht wäre, denn auch die Bemühungen, Bevölkerungsphänomene zu regulieren, lassen sich bis in merkantile Wirtschaftspraktiken des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. Ein Beispiel dafür ist der Versuch, durch Niedrighalten der Getreidepreise ein „AntiNahrungsmangel-System“ (Foucault 2004a, 57) zu etablieren, das die Versorgung der Arbeitspopulation sicherstellen und die Löhne niedrig halten sollte. Dass solche Regulierungen oft gegenteilige Wirkungen hatten und zum Gegenstand der Kritik der Physiokraten und der Politischen Ökonomie wurden (vgl. ebd., 57ff. & 490-509), ändert nichts an ihrer historischen Bedeutung. Zwar gibt es bei Foucault (vgl. u.a. 1983, 134) einige Aussagen, nach denen sich der Pol der Bio-Macht erst Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete, eine Einordnung die oft übernommen wurde (vgl. u.a. Lemke 1997), aber auch die biopolitische Regulation emergiert nicht aus dem Nichts, sondern hat historische Vorläufer. Die Versuche einer positiven Beeinflussung der Bevölkerungsgröße seit dem 17. Jahrhundert lassen sich vor dem Hintergrund der Bezugsprobleme von Produktionsund Aneignungsformen verstehen, die nicht mehr auf die reine Abschöpfung des Mehrprodukts, sondern auf eine Steigerung der Produktivität zielen. Bereits in den Wirtschaftspraktiken des Merkantilismus, der ja keineswegs nur der Goldfetischismus war, als der er oft karikiert wurde,5 galt die Vergrößerung der Bevölkerung auf

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Jahrhundert praktizierten Pockenschutzimpfungen oder später der Sozialmedizin, sind Foucaults (vgl. u.a. 2004a, 90ff.) häufigste Beispiele. Gegen das auf Smith (1978) zurückgehende Zerrbild des Merkantilismus in der ökonomischen Theoriegeschichte schrieb Werner Sombart, „auf die Gefahr hin, als NeoMerkantilist […] in das Kuriositätenkabinett unseres Faches übergeführt zu werden“ (Sombart 1922, Bd. II.2, 925), eine geradezu elegische Verteidigung (vgl. ebd., 913-942). Entgegen der Vehemenz, mit der die politische Ökonomie seit Smith (1978, 541-559) die absolutistischen Fesseln bekämpfte, erweist sich der Absolutismus insgesamt als ein Schrittmacher kapitalistischer Produktion (vgl. Sombart 1922, Bd. I.1, 339ff.): auf der Nachfrageseite durch den wachsenden Luxus- und Heeresbedarf (vgl. ebd., Bd. I.2, 719769), auf der Produktionsseite durch Arbeitspolitik (vgl. ebd., 809-835) und Förderung großer Unternehmungen (vgl. ebd., 842-849), auf der Distributionsseite durch Schaffung der Binnenmärkte, den Ausbau der Infrastruktur und den exportorientierten Außenhandel (vgl. ebd., Bd. I.1, 372-429). Hinzu kam die Wirkung der Kolonialpolitik auf Produktion und Handel (vgl. ebd., 430-445). Auch der vermeintliche ‚Goldfetischismus‘ entsprang der „genialen Erkenntnis“ der Funktionen der im Geld repräsentierten Werte als „Triebkraft“ des Wirtschaftslebens (ebd., Bd. II.2, 940). Fernand Braudel (1986, Bd. 3) zeigt zudem, dass der Merkantilismus oft eine nationale „Selbstschutzmaßnahme“ (ebd., 53) war: Da im Freihandel nur die am weitesten entwickelte Nation gewinnen konnte, war die Merkantil-

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einem gegebenen Territorium als vorrangiges Mittel, um die Staatskasse zu füllen, da nur so mehr Arbeitskräfte bereitstehen, um Exportgüter zu produzieren. Als Ensemble „organischer, dynamischer, produktionsproblematischer, aktivistischer und idealistischer“ Theorien und Praktiken (Sombart 1922, Bd. II.2, 914) zielte der Merkantilismus daher primär auf die Steigerung der Bevölkerung und ihrer Produktivität: „Die Macht des Staates beruht nicht in irgendwelchen Äußerlichkeiten, wie Ausdehnung und Gütervorräten, sondern in der Fülle lebendiger Kraft, die in seinen Bewohnern steckt“ (ebd., 926 [Hervh. i.O.]; vgl. ebd., 913-942). Hier wurde die Quantität der Bevölkerung der erste Ansatzpunkt staatlicher Wirtschaftspolitik. Denn was „für alle Formen der Surplusarbeit erheischt ist, ist Wachsen der Population“ (MEW 42, 662 [Hervh. i.O.]), die daher auch den absolutistischen Kameralwissenschaften als „Grundquelle des Reichtums“ (ebd.) galt. Diese Vermehrung der Bevölkerung und „damit des exploitablen Materials, das das Kapital erst zu Kapital macht“ (MEW 25, 258), war auch eine Voraussetzung der durch den Absolutismus geförderten Ausbildung der kapitalistischen Produktion. In der Frühphase des Kapitalismus war die Vergrößerung der Population schließlich beinahe die einzige Möglichkeit, die zur Verwertung des wachsenden Kapitals erforderte Erhöhung der absoluten Größe der Surplusarbeitszeit zu erreichen.6 Da die Verwertung eines potenziellen Kapitals „sich nur realisieren [kann] in neuer lebendiger Arbeit (sei es, daß früher schlafende Arbeit in Bewegung gesetzt wird oder daß neue Arbeiter geschaffen werden)“, wirkt das „Wachstum der Population als ein Element der Vergrößerung der Tauschwerte“ (MEW 42, 266f. [Hervh. i.O.]). Zudem ist diese Bevölkerungsvermehrung auch der Erhöhung der Produktivkräfte vorausgesetzt, da „sie größre Teilung und größre Kombination der Arbeit etc. möglich macht“ (ebd., 314; vgl. MEW 23, 372f.). Aus der Perspektive der Kapitalverwertung erscheint diese „Vermehrung“ als „Naturkraft der Arbeit, die nicht gezahlt wird“, aber es versteht sich, dass hinter dieser Vermehrung eine „gesellschaftliche Kraft“ steht: „Alle Naturkräfte der gesellschaftlichen Arbeit sind selbst historische Produkte“ (MEW 42, 314 [Hervh. i.O.]). Wo sich die „Abstimmung der Menschenakkumulation mit der Kapitalakkumulation“ (Foucault 1983, 136) noch nicht im Prozess der Kapitalverwertung selbst herstellt, der in diachroner Perspektive zwischen dem Wachstum des Kapitals und der Bevölkerung ein dynamisches Gleichgewicht hält, wie Marx es idealtypisch beschrieb,7 muss die ‚gesellschaftliche Kraft‘, die das Wachstum der Population an-

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politik für die anderen die einzige Möglichkeit, den Binnenmarkt und die Produktion zu entwickeln (vgl. ebd., 53ff. & 316-327). Die Steigerung der Surplusarbeit des einzelnen Arbeitstages hatte (durch die geringe Entwicklung der Produktivkräfte und die relative Höhe der zur Reproduktion der Arbeiter notwendigen Arbeitszeit) die oben (III.3) gezeigten Grenzen. „Aber der Arbeitstag, räumlich betrachtet […], ist das Nebeneinander vieler Arbeitstage. Mit je mehr Arbeitstagen at once das Kapital den Austausch eingehn kann […], desto größer seine Verwertung at once. Es kann die natürliche Grenze, die der lebendige Arbeitstag eines Individuums bildet, auf einer gegebnen Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte […] nur überspringen, indem es neben dem einen Arbeitstag einen andren gleichzeitig setzt […]. Daher sollizitiert das Kapital die Vermehrung der Population“ (MEW 42, 313 [Hervh. i.O.]). „Mit der Akkumulation der Kapitalien steigt das Salair, wenn die Population nicht gleichzeitig wächst; der Arbeiter heiratet, Sporn wird der Produktion [der Kinder] gegeben, oder

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reizt, anderen Charakter haben. In diesem Sinne bilden die merkantilistischen Versuche einer positiven Regulierung des Bevölkerungswachstum in der Geschichte der „ursprünglichen Akkumulation“ der Arbeitsbevölkerung eine Wirkungslinie, die parallel zu den von Marx (vgl. MEW 23, 741-791) analysierten Umschichtungsprozessen innerhalb einer konstanten Population verlief. Insofern waren „ein ökonomisches System, das die Akkumulation des Kapitals förderte, und ein Machtsystem, das die Akkumulation der Bevölkerung befahl“, bereits „seit dem 17. Jahrhundert zwei korrelative, untrennbar miteinander verbundene Phänomene“ (Foucault 1978, 43). Obwohl aber Maßnahmen, die auf den absoluten Zuwachs der Bevölkerung als Grundlage des staatliche Reichtums zielten, ein konstitutives Element der merkantilistischen Praxis bildeten, blieben diese Regulationen bis ins 19. Jahrhundert eher Programm als wirksame Realität, was nicht am Fehlen von Ambitionen, sondern an praktisch-empirischen Hemmnissen lag. Werner Sombart betonte – trotz aller Hymen auf den Merkantilismus8 –, dass obgleich „die größte Sorge aller Theoretiker wie Praktiker“ darin lag, „die Volksmenge zu vergrößern“, dieses Streben nur „in gewissen, nicht sehr weiten Grenzen“ Erfolg hatte (Sombart 1922, Bd. II.2, 1045f.) und am geringen Stand medizinischer und hygienischer Kenntnisse und Techniken sowie an den städtischen Lebensbedingungen weitgehend scheiterte (vgl. ebd., 1123ff.). Sombart hat in diesem Kontext nicht nur auf die „großen Sterben“ durch Seuchen und Hungersnöte hingewiesen, die regelmäßig massive Einbrüche der Produktivität mit sich brachten, sondern auch auf die kontinuierlich hohen Sterberaten, durch die „die Bevölkerung in den Städten […] noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich nicht aus eigener Kraft in ihrem Bestand erhalten konnte“ (ebd., 1123f. [Hervh. i.O.]). Jedoch sollte man die Einflüsse der absolutistischen Bevölkerungspolitik auch nicht klein reden. Zumindest für das französische Beispiel (von dem Foucault überwiegend ausgeht) ist ein Zusammenhang zwischen Absolutismus und Bevölkerungsakkumulation sichtbar (vgl. ebd., 1046). Die „Überwindung der alten biologischen Ordnung“ (Braudel 1986, Bd. 1, 6691), in der jedes temporäre Bevölkerungswachstum mit „jähen Sensenhieben des Todes“ (ebd., 91) in periodischen Missernten, Hungersnöten und zyklisch wiederkehrenden Seuchen und Krankheiten ausgeglichen wurde, erforderte jedoch als permanenter „Zweifrontenkrieg“ (ebd., 88) gegen Krankheiten und Nahrungsmittelmangel auch revolutionäre Umwälzungen der Anbaumethoden und Ernährungsgewohnheiten, die neben den technischen Hemmnissen oft auch an den Widerständen der Bevölkerung scheiterten9 (vgl. ebd., 169-178). Schon weil die Einflussnahme auf die

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seine Kinder leben besser, sterben nicht vorzeitig etc. Kurz, die Population wächst. Ihr Wachstum aber bringt Konkurrenz unter den Arbeitern hervor und zwingt so den Arbeiter, sein Arbeitsvermögen wieder zu seinem Werte dem Kapitalist zu verkaufen oder momentan auch noch darunter.“ (MEW 42, 270 [Hervh. i.O.]) Damit kann das zuvor langsamer gewachsene Kapital wieder stärker akkumulieren, bis es erneut an die Grenzen der Population stößt und sich der Prozess wiederholt. „Für die Wissenschaft hat Marx den Kapitalismus entdeckt; seine Eigenart und Bedeutung für die Praxis erkannt zu haben, ist die große, geniale Tat der Merkantilisten“, die zwar keinen Begriff vom Kapitalismus hatten, aber ein „klares Verständnis“ für die neue „Art, das Wirtschaftsleben zu organisieren“ (Sombart 1922, Bd. II.2, 937). So wurde der diesbezügliche Wert der Kartoffel rasch erkannt. Zwar lehnten Bürgertum und Adel ihren Genuss wegen blähender Wirkung ab, sahen aber ihre Potenziale für die

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„biosoziologischen Prozesse von Menschenmassen“ (Foucault 1999, 289) ein gegenüber der Disziplin technisch und organisatorisch weit schwierigeres Problemfeld darstellte, verlief die „Geburt der Biopolitik“ (Foucault 2004b) also um einiges komplizierter und langwieriger als die der Disziplin. Scheiterten biopolitische Planungsabsichten bis ins 18. Jahrhunderts oft an den technischen Möglichkeiten, fehlten, als die medizinischen und hygienischen Kenntnisse und Techniken zunehmend entwickelt waren, die koordinierten Planungsabsichten, da die globalpolitischen Regulationskalküle des Merkantilismus den nun dominierenden Theorien und Praktiken des ökonomischen und politischen Liberalismus denkbar fremd blieben. Die Größe der Population erscheint vom privatkapitalistischen Standpunkt als vorgefundene Naturtatsache, während sie der liberalen Theorie als selbstregulierte Größe galt, die sich durch rasches Absterben überflüssiger Armer in Notzeiten und rasche Vermehrung in Prosperitätsphasen am besten ohne Zutun des Staates einpendelt (vgl. Smith 1978, 211ff., 473ff.; Malthus 1924/25; Ricardo 1975, 90ff.). Entsprechend betont auch Foucault, dass „biologische, medizinische und eugenische“ Erwägungen, in deren Schnittpunkt der Sex als zu bearbeitendes Problem lag,10 lange ausschließlich oder zumindest primär auf das Bürgertum selbst bezogen blieben, welches bestrebt war, sich „einen ‚Klassenkörper‘ mit einer eigenen Gesundheit, einer Hygiene, einer Nachkommenschaft, einer Rasse zu erschaffen“ (Foucault 1983, 122), während die „Lebensbedingungen, die man dem Proletariat […] in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereitete, zeigen, daß man weit davon entfernt war, sich um dessen Körper und Sex Sorgen zu machen: egal ob diese Leute nun leben oder sterben, so etwas vermehrt sich sowieso von selbst“ (ebd., 124; vgl. auch Thompson 1987, v.a. 350-379).11 Gerade wo die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und die Erschließung kolonialer Ressourcen das Bevölkerungswachstum förderten und jene „elementaren Bedrohungen“ der Seuchen und des Hungers, die bislang ein ständiger Begleiter des Lebens waren, gemildert wurden, womit der gewonnene „Spielraum“ die „Macht- und Wissensverfahren“ prinzipiell in die Lage versetzte, „die Prozesse Massenernährung, denn „was bedeuten schon Winde für die gesunden Därme der Bauern und Arbeitsleute“, wie in der französischen Encyclopédie bemerkt wird (zit. in: Braudel 1986, Bd.1, 175). Gleichwohl konnte sich die Kartoffel (mit Ausnahme Irlands) lange nicht durchsetzten, da sich die Bevölkerung ihrem Genuss widersetzte (vgl. ebd., 175ff.). 10 Sexualität und Wahrheit behandelt den Sex ebenso, wie Überwachen und Strafen das Gefängnis: als Schnittpunkt und Symptom genereller Entwicklungslinien, an dem die Konstitution der Bio-Macht und ihr Verhältnis zur Disziplin exemplarisch untersucht wird. Die Problematisierung und Bearbeitung des Sex im 19. Jahrhundert verdankt sich dem Umstand, dass er im Kreuzpunkt verschiedener Machtechniken ein „Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologien des Lebens“ (Foucault 1983, 140) bildet – als Objekt einer disziplinarischen Dressur und Überwachung und als Gegenstand biopolitischer Praktiken und Kalküle, die auf Gesundheit und Fruchtbarkeit des ‚Gesellschaftskörpers‘ wirken (vgl. ebd., 140-153; Foucault 1999, 290ff.; 1978, 43). 11 Foucault (vgl. 1983, 13ff. & 121ff.) wendet sich damit auch gegen freudo-marxistische Denkschemata, welche die auf die Sexualität gerichteten Techniken des 19. Jahrhunderts primär als Instrument zur Unterdrückung der Arbeiterklasse ansehen. Das negiert natürlich nicht, dass sich einige um Kontrolle und (Um-)Lenkung sexueller Energien zentrierte religiöse und kulturelle Praktiken in einzelnen proletarischen Milieus schon im frühen 19. Jahrhundert verbreiteten, wie Thompson (vgl. 1987, v.a. 385-403) dies etwa detailliert am Methodismus herausgearbeitet hat.

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des Lebens […] zu kontrollieren und zu modifizieren“ (Foucault 1983, 137), ergab sich also die Verbreitung und Optimierung biopolitischer Praktiken keineswegs als logische und lineare Konsequenz. So sehr eine Biopolitik, für die es keine wertvollere Ressource als das Leben gibt, in eine der kapitalistischen Verwertung förderliche Richtung wirken kann, gab es doch eine Reihe von Tendenzen in der Logik der kapitalistischen Wirtschaftsform selbst sowie in den kulturellen, politischen und ökonomischen Dispositionen des Bürgertums, die das kongeniale Zusammenwirken von globaler Biopolitik und kapitalistischer Ökonomie zunächst überaus unwahrscheinlich machten. So erreichte der Kapitalismus in der Verwertung menschlichen Lebens am Beginn des 19. Jahrhunderts bekanntlich eine von allen biologischen und sozialen Rücksichten befreite Kunstfertigkeit, die selbst zur Bedrohung der Reproduktion dieser Ressource wurde, während die Logik der liberalen Philosophie und Praxis allen Formen von koordinierten, regulierenden und reglementierenden Eingriffen des Staates in die ‚Freiheit der Arbeit‘ entgegen stand. Damit sich in dieser Konstellation eine Biopolitik ausbreiten konnte, die gerade auch auf die Lebensbedingungen der Arbeitskräfte zielte, waren daher eine Reihe historischer Veränderungen vorausgesetzt, die Foucault zwar nicht detailliert analysiert, aber doch präzise benannt hat: „Damit das Proletariat mit einem Körper und einer Sexualität ausgestattet wurde, damit seine Gesundheit, sein Sex und seine Fortpflanzung zum Problem wurde, mussten Konflikte auftreten (vor allem im Zusammenhang mit dem Raum der Stadt: […] beengte Verhältnisse, ansteckende Epidemien wie die Cholera von 1832, Prostitution und Geschlechtskrankheiten); es bedurfte ökonomischen Drucks (Entwicklung der Schwerindustrie mit Bedarf an sicherer und qualifizierter Arbeitskraft, Kontrolle der Bevölkerungsbewegungen und demographische Regulierungen); schließlich mußte eine Kontrolltechnologie installiert werden, um den Körper und die Sexualität, die man dem Proletariat endlich zuerkannte, unter Aufsicht zu halten. (Schule, Wohnungspolitik, öffentliche Hygiene, Fürsorge und Versicherungsanstalten, die allgemeine Medizinisierung der Bevölkerung – ein ganzer administrativer und technischer Apparat […]).“ (Foucault 1983, 124; vgl. 2003b, 486ff.)12

Wie die Aufzählung solcher Faktoren zeigt, lässt sich auch die Geschichte der BioMacht nicht im Sinne des Foucault oft unterstellten funktionalistisch-teleologischen Narratives verstehen, in dem sich ein „Systemprozess“ über die „alltäglichen Niederungen“ sozialer „Auseinandersetzungen […] hinweg […] seinen Weg bahnt“ (so Honneth 1989, 216). Vielmehr bedurfte es einer Reihe konkreter gesellschaftlicher Notstände und Konflikte sowie grundlegender Transformationen im Verständnis der (staatlichen) Aufgaben und der Techniken zur Regulation biosozialer Prozesse, damit die Biopolitik zu einem bestimmenden Faktor des gesellschaftlichen Lebens werden konnte. Erst indem die liberalen Auffassungen und Praktiken, in denen der Staat dem ökonomischen Prozess der Kapitalverwertung nur seinen freien Lauf sichern sollte, Mitte des 19. Jahrhunderts problematisch wurden und der Liberalismus zunehmend als „schlechter Verwerter von Leben“ (Ewald 1993, 488) erschien, gewannen langsam neue Formen der Regierung, die sich neuer Sicherheitstechnologien bedienten,

12 Am Beispiel der Familie ist diese relativ späte, dann aber umso konsequentere Erfassung der proletarischen Familie als Problem- und Interventionsfeld gut herausgearbeitet bei Donzelot 1980, v.a. 61-179.

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Konturen und schufen die Voraussetzungen dafür, dass „der Vorsorgestaat den Traum von einer ‚Bio-Macht‘ zu erfüllen vermochte“ (ebd.). Die Herausbildung dieser Technologien, die zugleich zur Grundlage des langfristigen Funktionierens des Kapitalismus wurden, reagiert auf eine Reihe gesellschaftlicher Problemlagen und vollzieht sich im Medium ambivalenter sozialer Konflikte und Strategien (mit unklaren Frontlinien), die es im Folgenden zu skizzieren gilt.

4 Freiheit für Arbeit und Kapital – Der klassische Liberalismus

4.1 D ER L IBERALISMUS UND DIE H ERSTELLUNG ‚ NATÜRLICHEN ‘ O RDNUNG

DER

„Wenn man also verstanden hat, was dieses Regierungssystem ist, das Liberalismus genannt wird, dann, so scheint mir, wird man auch begreifen können, was Biopolitik ist.“ MICHEL FOUCAULT (2004b, 43)

Der klassische Liberalismus, der sich im 18. Jahrhundert herausbildete und im 19. Jahrhundert die Regierungspraxis vieler kapitalistischer Nationen prägte, war – obwohl er als Kritik staatlicher Regulierung antrat – ein wichtiger Faktor in der Ausbildung neuer Formen der Regierung, die als Absicherungs- und Versicherungsmechanismen angelegt waren. Einerseits trug der Liberalismus zur Auflösung und Delegitimation bisheriger Regierungsformen bei, andererseits führte die liberale Politik zu Notständen, die sozialpolitischer Reaktionen bedurften. Die damit verbundene Krise des Liberalismus wurde zum Ausgangspunkt für die Konstitution des „Vorsorgestaates“ (Ewald 1993). Dabei wurde der potenziellen Form akzeptabler Sozialtechniken durch die Logik des Liberalismus aber von vornherein ein Bedingungsrahmen gesetzt. Der Liberalismus steht so nicht in einem rein negativen Verhältnis zu staatlichen Regulationen, er bildet vielmehr den diskurshistorischen Möglichkeitsraum, in dem neue Modi des Regierens Konturen gewinnen konnten. Definiert war der Liberalismus zunächst durch eine Kritik am (absolutistischen) Staat und die Berufung auf eine Naturalität und Eigengesetzlichkeit von Ökonomie und Gesellschaft. Er steht so für eine gänzlich neue Form der Staatskritik, die sich nicht mehr mit der Berufung auf ein Wissen über das Richtige und Wahre gegen eine schlechte Ordnung richtet und keine Ratschläge erteilt, die sich der Rationalität der Staatsräson einfügen, wie es die Physiokraten taten.1 Die liberale Kritik artikuliert vielmehr das Prinzip einer per Definition unbestimmten ursprünglichen Freiheit des Handel(n)s und einer naturalen Ordnung, in der sich entsprechende Freiheiten orga-

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Wissenschaftlich beruft sich die liberale Kritik auf Quesnay. Wo dieser aber Ratschläge für die Regierung artikuliert, stellt die liberale Kritik deren Befugnisse generell in Frage. Vgl. Smith 1978, 560-583; Foucault 2004a, 490-514.

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nisieren, um die Grenzen der Regierung und den Raum der Freiheiten zu bestimmen, den die Regierung herstellen, in den sie aber nicht eingreifen soll. Statt ein ‚schlechtes‘ Regierungshandeln mit Verbesserungsvorschlägen zu kritisieren, installiert der Liberalismus einen Operationsmodus permanenter Kritik in Form der Frage nach den Bedingungen der Freiheit und den Grenzen des Staates. In der Form gleicht das dem Kritikmodus der deutschen Aufklärung (vgl. Foucault 1992, 11-20). Wo aber diese transzendentalphilosophische Linie ihre Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit und den Grenzen des Erkennens, Handelns und Urteilens in die Frage nach dem Subjekt oder ‚dem Menschen‘ eindrehte, um so ihre eigenen Bedingungen zu klären, war der Liberalismus mit den Neigungen, Bedürfnissen und Interessen seines Adams schon im Vorfeld im Reinen2 und konnte auf dieser Grundlage den operativen Modus der Kritik unmittelbar auf den Staat anwenden. Diese liberale Kritik richtet sich gegen die mit dem Prinzip der „Staatsräson“ verknüpfte Vorstellung, dass Wille und Kunstfertigkeit des Souveräns kraft der inneren Rationalität des Regierens Ordnung und Wohlstand mittels Gesetz und Polizei künstlich herstellen könnten.3 Der Referenzpunkt dieser „Häresie“ ist eine neue Vorstellung von Naturalität, die der Künstlichkeit der Staatsräson gegenübersteht. Im Zentrum steht die „Natürlichkeit von etwas [...], das im Grunde bis damals noch nicht existierte und das [...] anfängt, als solches analysiert zu werden, nämlich die Naturalität der Gesellschaft“ (Foucault 2004a, 501). Gesellschaft erscheint als eine „neue Realität“ (Foucault 2005, 327; vgl. Polanyi 1997, 156-181), die im politischen Staat nicht aufgeht und ihre eigenen Gesetze hat. Plausibilität gewinnt das angesichts der Gegenfinalität des Regierungshandelns. Im Fall der merkantilistischen Korngesetzgebung etwa hat es die Regierung offenbar mit Gesetzen zu tun, die sie nicht kennt und die sich ihren Gesetzgebungen widersetzen. Hier sollen niedrige Getreidepreise die Versorgung der Bevölkerung sichern und die Löhne niedrig halten, ihr Effekt aber ist, dass weniger Korn angebaut oder aber mehr Korn zurückgehalten wird, was zur Getreidenot führt und Preise und Löhne steigen lässt.4 Wo die Physiokraten dem Souverän solche Gesetze explizieren wollten, damit er sie in die Regierung einbezieht, bringt die Metapher der den Markt regulierenden „invisible hand“ bei Adam Smith eine „Herabsetzung des politischen Souveräns“ (Foucault 2004b, 389) zum Ausdruck. Der Kern der Metapher liegt in der Unsichtbarkeit der ordnenden Hand. Die „ökonomische Rationalität“ der politischen Ökonomie „ist nicht nur umgeben von der Unerkennbarkeit der Gesamtheit der Prozesse, sondern gründet sich auf sie“ und manifestiert damit „nicht nur die Nutzlosigkeit, sondern die Unmöglichkeit einer souveränen Perspektive“ (ebd., 387). Durch die Selbstregulation und die Unsichtbar-

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In Deutschland, wo die politischen und ökonomischen Verhältnisse noch so weit „unter aller Kritik“ (Marx) waren, dass die Kritik sich nur mit sich selbst beschäftigen konnte, brauchte Kant drei Kritiken, um überhaupt die Frage ‚Was ist der Mensch?‘ zu formulieren. Der Liberalismus hat seine Antwort weitgehend durch Locke geklärt und kann sie im 18. Jahrhundert mit einigen apodiktischen Worten erledigen (vgl. Smith 1978, 16ff.). Vgl. zur Staatsräson ausführlich Foucault 2004a, 369-489; 2004b, 237f. sowie auch Luhmann 1998, 676f., 715-721 & 964f. Die Korngesetze waren ein zentraler Kritikpunkt bei Quesnay wie auch bei Smith (vgl. 1978, 435-453, v.a. 438ff.). Foucault sieht in den Debatten um die Korngesetze „einen radikalen Schnitt“ (Foucault 2004a, 500) gegenüber der Regierungsrationalität der Staatsräson. Vgl. ebd., 490-506 & 53-67.

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KLASSISCHE

L IBERALISMUS | 315

keit ihrer Prinzipien wird der „Herrscher […] vollständig von der Pflicht entbunden, bei deren Ausübung er stets Täuschungen unterworfen sein muß und zu deren Erfüllung keine menschliche Weisheit oder Kenntnis jemals ausreichen könnte“ (Smith 1978, 582). Jeder künstliche Eingriff kann in dieser Sicht das „einfache System der natürlichen Freiheit“, das sich in der Marktkonkurrenz „ganz von selbst“ herstellt (ebd.), nur stören und muss so zum Scheitern jeder Intervention führen. Der „Weltmarkt“ als „Weltgericht“ (Kittsteiner 2008) wird zum Ort einer permanenten „Veridiktion“, eines Dauergerichts über die Regierung (vgl. Foucault 2004b, 55ff. & 72f.), das über die Grenzen und den „Nutzwert der Regierung […] in einer Gesellschaft“ entscheidet, „in der der Tausch den wahren Wert aller Dinge bestimmt“ (ebd., 76). Der Bedeutungsverlust des Souveräns und der Glaube an die eigengesetzliche Harmonie, zu der die Gesellschaft finden wird, wo sie „sich von der Vormundschaft [...] des Staates befreit“ (Foucault 2004a, 510), konnte sich zu eschatologischen Erwartungen steigern (vgl. ebd. 509ff.). Für den klassischen Liberalismus ging es jedoch primär um pragmatische Fragen. Wie Foucault betont, ist das, was diese Position kennzeichnet, „eher ein Naturalismus als ein Liberalismus“, da „Freiheit“ hier „viel mehr die Spontaneität, die innere Mechanik der Wirtschaftsprozesse ist als eine juridische Freiheit[,] die […] den Individuen zuerkannt wird“ (Foucault 2004b, 94). Zugleich gab es im Liberalismus durchaus ein Bewusstsein für die (von Marx oft genüsslich vorgeführte) Paradoxie, dass die ‚natürliche Freiheit‘ etwas ist, das es bisher nicht gab und dem die gesamte bisherige Ordnung des gesellschaftlichen Lebens so radikal entgegensteht, dass diese Freiheit nur staatlich exekutiert werden kann und auf Grundlage zahlreicher Zwangsmittel oft auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden muss. Adam Smith zum Beispiel war sich im Klaren darüber, dass sein eingangs unterstellter Tauschhandel treibender und Vermögen akkumulierender Urmensch (vgl. Smith 1978, 17ff.) realitär nicht existiert: Bei „Jägervölkern […] gibt es kaum Privateigentum, zumindest übersteigt es nicht den Wert von 2 oder 3 Tagen“, deshalb bräuchten sie auch keine „Rechtspflege“. Wo aber die ‚natürliche Ordnung‘ eingerichtet wird, muss dafür zuerst die Ungleichheit des Besitzes staatlich und juristisch garantiert und geschützt werden: „Für den Erwerb wertvoller und großer Vermögen ist es [...] unbedingt erforderlich, dass eine solche Verwaltung eingerichtet wird. Wo es jedoch kein Privateigentum gibt […,] ist eine zivile Behörde nicht so nötig.“ (Ebd., 601) Der Liberalismus beruht insofern auf einer Strategie, „die darauf abzielt, als ihren Endeffekt zu produzieren, was sie als existierend beschreibt“ (Meuret 1994, 15). Statt eine reine Analyse der Marktmechanismen vorzulegen, zielt er auf „eine Planung dessen[,] was geschehen muß“ (Foucault 2004a, 67), um ihre Selbstregulation zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund kann eine liberale Regierung keine Regierung des „laissez faire, laissez passer“5 sein, die die Dinge einfach geschehen lässt. Sie muss vielmehr jene Bedingungen aktiv herstellen, garantieren, schützen und überwachen, die der freien Entfaltung der Wirtschaftskräfte und der ‚Selbstregulie-

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Auf Jean-Baptiste Colberts Frage, wie der Staat die Kaufleute unterstützen könne, antwortete ein Kaufmann aus Rouen „Laissez-nous faire“. Diese Maxime wurde dann u.a. bei d’Argenson, Turgot und de Gournay zum geflügelten Wort und zum Aufruf an den Staat, nicht in die Wirtschaft zu intervenieren. Vgl. u.a. Foucault 2004b, 40 & 47.

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rung‘ des Marktes dienen. Es handelt sich daher um eine Regierung, welche die Freiheit „vollzieht“ (Foucault 2004b, 97), wobei der Vollzug der Freiheit eine potenziell unendliche Vielfalt von „Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen“ (ebd., 98) voraussetzt. Wie ausführlich bereits Polanyi (vgl. 1997, v.a. 187-208) herausgestellt hat, war die Liberalisierung des 19. Jahrhunderts die bis dato radikalste staatliche Umformung und Durchformung der Gesellschaft und erforderte als solche „eine enorme Zunahme eines ständigen, zentral organisierten und kontrollierten Interventionismus“ (ebd., 194). Entsprechend musste etwa in England eine moderne zentralistische Staatsorganisation und Verwaltungsbürokratie überhaupt erst aufgebaut werden, um die radikalliberalen Gesetzgebungen der 1830er Jahre praktisch durchzusetzen. Es soll hier aber nicht beurteilt werden, ob der klassische Liberalismus sein Freiheitsversprechen ‚wirklich eingelöst‘ hat. Foucault hat diesbezüglich betont, dass der Liberalismus ganz sicher keine Form der Regierung ist, die „der Freiheit mehr weiße Felder überließe“ oder die „toleranter, laxer und lockerer“ wäre. Die Frage aber, ob das System von Gewohnheitsrechten und Privilegien des Absolutismus ‚mehr‘ Freiheit gewährt habe, sei dennoch kaum sinnvoll: „Man darf sich Freiheit nicht als ein Universal vorstellen, das über die Zeit hinweg […] quantitative Variationen“ aufweist (Foucault 2004b, 96f.). Stattdessen ist die interessantere Frage, wie der Vollzug der Freiheit im klassischen Liberalismus beschaffen war, welche Interventionen er voraussetzte und welche Funktionen diese erfüllten. Dass ein liberaler Staat so wenig ‚schlank‘ sein konnte wie das 5. Buch des Wohlstands der Nationen, das Smith (vgl. 1978, 587-819) ihm widmete, wird verständlich, wenn man bedenkt, welche radikalen Umbauten aller gesellschaftlichen Bereiche erfordert waren, um das „einfache System der natürlichen Freiheit“ (ebd., 582) durchzusetzen. Neben der oben (2.1) skizzierten Ausweitung der Gesetzgebung und dem Aus- und Umbau der Strafjustiz zur Sicherung des Eigentums erforderte vor allem die komplementäre Durchsetzung der Freiheit der Arbeit radikale legislative und administrative Interventionen. Die Herstellung der „Freiheit des Arbeitsmarktes, für den man […] Arbeiter in genügend großer Zahl braucht, […] Arbeiter, die keine politischen Waffen besitzen, um […] Druck auf dem Arbeitsmarkt auszuüben“ (Foucault 2004b, 99), wurde ein zentraler Stützpfeiler der liberalen Regierungspraxis. Dabei waren die Disziplinartechnologien, mit denen die Kräfte des Lohnproletariats „als ‚politische‘ Kraft zurückgeschraubt und als nutzbare Kraft gesteigert“ wurden (Foucault 1994, 284), aber nur ein Element eines radikalen Umbaus der bisherigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Während die bürgerlichen Eigentumsrechte sich in ein Kontinuum historischer Entwicklungen einfügten, markierte die Durchsetzung der Freiheit der Arbeit einen Bruch mit allen vorangegangenen Formen der Regulation der Arbeits- und Sozialverhältnisse, aus denen die Ware Arbeitskraft herausgeschält werden musste (vgl. Polanyi 1997, 102-112). Zwar galt Arbeit bereits im Frühkapitalismus als ein systematisch auszunutzender Quell des Reichtums, gerade deshalb aber blieb sie in strikte und systematische Regulationen eingefasst, die sowohl Arbeitszeiten und Löhne als auch die Wahl des Wohnsitzes und die ‚persönliche Freiheit‘ betrafen. Ein freier Arbeitsmarkt existierte im 18. Jahrhundert noch nicht einmal in Ansätzen, wie Sombart (vgl. 1922, Bd. I.2, 831ff.; Bd. II.2, 809-840) oder auch Castel (vgl. 2008, 98-162)

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gezeigt haben und selbst in England, also der am weitesten entwickelten kapitalistischen Nation, entzogen sich einzelne Gewerbe – wo immer dies möglich war – noch weit bis ins 19. Jahrhundert dem freien Spiel von Angebot und Nachfrage (vgl. Thompson 1987, 255-292). In dieser historischen Ausgangskonstellation war die Vorstellung, die Regulation der Arbeit dem freien Markt zu überlassen, tatsächlich eine „Fiktion“ und „krasse Utopie“ (Polanyi 1997, 108 & 19). Zur „Gewährleistung der Liberalisierung der Wirtschaft“ war nicht nur die endgültige „Zerschlagung der Zünfte“, sondern die „Aufhebung aller protektionistischen Reglementierungen, die das freie Zirkulieren der Arbeitenden verhindern“, nötig (Castel 2008, 165). Bereits Smith (vgl. 1978, 117-124) führte an, was das alles bedeutet: Abschaffung der Lehrlings- und Arbeitsstatute und aller Zunft- und Handwerksordnungen; Zerschlagung der gesetzlichen Armenfürsorge und der damit verbundenen Versorgungs- und Schutzansprüche; Aufhebung wohnrechtlicher Regulierung, um die Arbeit ungehemmt auf dem Markt flottieren zu lassen; Herstellung eines freien Arbeitsvertrages, also Aufhebung aller Regulierungen des Preises und aller Schutzbestimmung, die der freien Anwendung der Ware Arbeit im Wege standen. Das umfasst den Katalog der Forderungen, die auch in Frankreich nach der Revolution von 1789 formuliert und umgesetzt wurden (vgl. Castel 2008, 162-170). Praktisch erforderte die Befreiung der Arbeiter von den überkommenen Arbeits- und Armenrechten, die selbst in England erst ab 1832 radikal durchgesetzt wurde, nicht nur gesetzliche Reformen, sondern einen erheblichen Kontroll- und Sanktionsaufwand. Deshalb hatte noch wenige Jahre zuvor selbst David Ricardo, der die Aufhebung der Armengesetze ökonomisch vehement forderte, ihre politische Verwirklichung für schwierig erachtet und ihre Umsetzung nur bei einem sehr behutsamen Vorgehen für langfristigen möglich gehalten (vgl. Ricardo 1972, 90ff.). Abgesehen von den zahlreichen Widerständen der betroffenen Bevölkerung bildete der Ausbau der administrativen Apparate, die für die Durchsetzung der veränderten Gesetze erfordert waren, ein wesentliches Hemmnis. Nicht nur musste nun in jedem Einzelfall über die Arbeitsfähigkeit der Armen entschieden und der Müßiggang verfolgt werden, auch das Verbot und die verschärfte juristische Verfolgung von Arbeiterassoziationen setzten rigide staatliche Durchgriffe und Sanktionen voraus. Schließlich musste jede Form der organisierten und koordinierten Interessenvertretung oder der kollektiven Gegenwehr der Arbeiter schon im Ansatz zerschlagen werden, damit der Vertrag zwischen dem Käufer und dem Verkäufer der Arbeitskraft wirklich nur von der wechselseitigen Symmetrie ihrer individuellen Freiheit bestimmt wurde. (Vgl. Polanyi 1997, 120f. & 145f.) Bei Smith wie in späteren Gesetzgebungsdebatten ging es dabei keineswegs um eine bewusst gegen die Arbeiter gerichtete Strategie, vielmehr um eine Überwindung der Armut, deren Ursache man darin sah, dass die Armen bisher durch Gesetze daran gehindert waren, ihre Arbeit auf einem freien Markt zu ihrem ‚natürlichen Preis‘ zu verkaufen. Das hatte im 18. Jahrhundert durchaus Plausibilität. Einerseits wirkten sich zünftische Regelungen der Arbeitsverhältnisse oft als Zwangsbindung oder Zugangsbeschränkung aus, womit ihre Aufhebung durchaus im Interesse eines Teils der Lohnarbeiter lag. Andererseits waren die Auswirkungen der „Teufelsmühle“ (Polanyi 1997, 59-180), die die Einrichtung des ‚selbstregulierten‘ Marktes in Gang setzen würde, kaum absehbar: „[D]ie ersten Liberalen wollten […] die Möglichkeit eines strukturellen Ungleichgewichts zwischen Arbeitsangebot und Nachfrage nicht ins

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Auge fassen“ (Castel 2008, 166) und konnten so auch die sozialen Folgen der ‚Freiheit der Arbeit‘ kaum antizipieren. Retrospektiv lassen sich die Versprechen des liberalen „utopischen Kapitalismus“ (ebd., 178ff.) leicht als Ideologie und angesichts der Elendserscheinungen des 19. Jahrhunderts als Zynismus desavouieren, zur Zeit ihrer Formulierung besaßen sie eine die Klassenschranken überschreitende Attraktivität.6 Es wäre auch, wie Ewald (vgl. 1993, 59ff.) betonte, verkürzt, im Liberalismus nur „die eine gewissenlose Handelsfreiheit“ (MEW 4, 465 [Hervh. i.O.]) zu sehen, die an die Stelle aller früheren sozialen Bindungen und Prinzipien getreten wäre. Schon die Fabrikkommissionsberichte und Parlamentsdebatten zeigen, dass die Arbeits- und Lebenssituation des Proletariats keineswegs allen Bürgern gleichgültig waren und letztlich sollten in England wie in Frankreich gerade liberale Regierungen die Freiheit der Arbeit wieder gesetzlich begrenzen.7 Schon bevor das „Zutagetreten von Rissen im sozialen Körper im Hinblick auf die Lebensbedingungen und Sitten“ als akute politischen Gefahrenquelle diskutiert wurde, da „sie katastrophale Konflikte herbeiführen können, die eine liberale Gesellschaft prinzipiell in Frage stellen“ (Donzelot 1980, 66f.), war der Liberalismus nicht durch eine konstitutive Asozialität gekennzeichnet. Probleme der Sozialität und der sozialen Verpflichtung stellten sich in der liberalen Philosophie in komplexer Weise, wenn auch in einer Form, die letztlich kaum geeignet für die Bearbeitung der ‚sozialen Frage‘ des 19. Jahrhunderts war. In der liberalen Vorstellung eines durch das Interesse und das freie Spiel der Marktkräfte hergestellten Gleichgewichts wurde die Ungleichheit der Individuen keineswegs ignoriert, sondern galt vielmehr als wesentliche Voraussetzung und unerlässliches Moment dieses Gleichgewichts. Als Moment der individuellen Verantwortung – der zentralen Regelgröße liberaler Systeme8 – haben Unterschiede des Lebensstandards wichtige sozioökonomische Funktionen des Ansporns, der Belohnung und der Bestrafung. Schon deshalb dürfen Unterstützungsleistungen für die Armen nicht den Charakter garantierter Rechtsansprüche haben, da dies jede individuelle Verantwortung untergraben würde. Die Ablehnung gesetzlicher Anrechte der Armen auf Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum schließt aber anders geartete soziale Verpflichtungen nicht aus. In der bürgerlichen Gesellschaft – als einer dem Staat vor- und übergeordneten Form gesellschaftlicher Beziehungen – beruhen die Bande zwischen den Individuen der liberalen Vorstellung zufolge nicht nur auf den die öko-

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Castel (2008, 178ff.) betont, dass die Liberalismuskritiken „ausgehend von der Sicht des 19. Jahrhunderts erarbeitet werden, als sich die gesellschaftlichen Folgeerscheinungen […] schon auf breiter Basis durchgesetzt haben“ (ebd., 181). Als die liberale Philosophie Konturen gewann, war dies kaum absehbar, vielmehr fanden sich anfangs zwischen den Positionen des Liberalismus und des Frühsozialismus zahlreiche Konvergenzen. Vgl. hierzu grundlegend die historischen Analysen bei: Ewald 1993, 63-170; Castel 2008, 141-190; s.u. 4.2. „‚Die Verantwortlichkeit ist der vollkommenste Regulator menschlicher Handlungen‘, wird […] J.E. Labbé noch 1884 erklären. Das Prinzip der Verantwortung stützt sich auf einen bestimmten Umgang mit Kausalitäten, der es ermöglicht, eine Selbstregulierung der Verhaltensweisen und Aktivitäten zu denken.“ Wo niemand seine „Leiden einem anderen zuschreiben kann, weil jeder sich selbst als deren einzige Ursache begreifen muß, verwandeln sich Mißerfolg und Leid in das unbestimmte Prinzip ihrer Verbesserung.“ Verantwortlichkeit fungiert als „universeller Umwandler von Übel in Gutes, der keinerlei externen Zwang in Anspruch nehmen muß“, und somit als „Prinzip unbeschränkter individueller und kollektiver Entwicklung“ (Ewald 1993, 81; vgl. ebd., 79-88).

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nomischen Beziehungen regulierenden Zahlungen, sondern auch auf jenen unmittelbar sozialen Affektionen, die Adam Smith (vgl. 2004) in seiner Theorie der ethischen Gefühle beschwor. Wie oft betont wurde, bildet dieses moral- und sozialphilosophische Hauptwerk ein notwendiges Komplement zum Wohlstand der Nationen. Der Markt kann nur deshalb ‚von selbst‘ den allgemeinen Wohlstand herstellen, da die Subjekte zugleich soziale und ethische Affektionen haben (vgl. u.a. Sturn 1991, 91115, v.a. 105ff. & 110ff.). Hier gibt es zahlreiche moralische Anlässe und Pflichten zu Mildtätigkeit und Fürsorge gegenüber den Leidenden, die aber dem Bereich individueller Moral und Ethik angehören und als rein freiwillige Wechselbeziehungen gerade nicht die Form einer juristischen Verpflichtung haben können. Als individuell-moralische Entscheidung ist Wohltätigkeit aber gleichwohl die „wichtigste soziale Tugend“ und die „unverzichtbare Wurzel der Soziabilität“ (Ewald 1993, 89), denn sie mildert nicht nur das Elend, sondern hat zugleich eine „politisch unverzichtbare Sozialisationsfunktion“ (ebd., 91) für beide beteiligten Seiten. Einerseits knüpft sie Bänder unmittelbarer Wechselseitigkeit, andererseits soll sie das Prinzip ihrer eigenen Aufhebung enthalten. Indem sie ein asymmetrisches Verhältnis von Bevormundung und Abhängigkeit stiftet und ein konstitutives Moment der Zufälligkeit und Unsicherheit enthält, garantiert die private Wohltätigkeit, dass der Arme ein Interesse hat, sich eigenverantwortlich durch Arbeit von dieser Beziehung zu emanzipieren (vgl. ebd., 89-103). Beide Funktionen müssten durch rechtliche Sanktionierung zerstört werden.9 Die damit in ihren Grundzügen skizzierte Konzeption einer klassischen liberalen Sozialethik bleibt aber um die Vorstellung zentriert, dass der eigenverantwortliche Weg aus der Armut durch Arbeit prinzipiell jedem offen steht, sobald mit der ‚natürlichen Ordnung der Freiheit‘ die Bedingungen dafür eingerichtet sind. Wo einmal die ökonomischen Interessen und die Kräfte des Marktes frei von künstlichen Einschränkungen und Eingrenzungen wirken, müsste sich das Kapital vermehren und damit auch der Bedarf nach Arbeit steigen, so dass all jene, die bisher zur Armut verdammt und deshalb auf Fürsorge angewiesen waren, aus eigener Kraft ihren Teil am wachsenden Wohlstand erhalten. Es ist bekannt, dass diese liberale Utopie sich zumindest dahingehend erfüllte, dass sowohl das Kapital als auch der Bedarf nach Mehrarbeit am Beginn des 19. Jahrhunderts einen enormen Anstieg erfuhren. Auch ist deutlich, warum die liberale Herstellung der Sicherheit des Eigentums und der Freiheit der Arbeit die Gesellschaft in eine dem kapitalistischen Verwertungsprozess förderliche Form brachte. Erst indem das bürgerliche Eigentum zum „absoluten Eigentum“ (Foucault 1994, 108) wurde, das aus den sozialen Bindungs- und Verpflichtungsgefügen befreit war, die den Feudalbesitz noch kennzeichneten und die freie Verfü9

„Die Wohltätigkeit ist der mächtigste Vermittler zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, die das Schicksal mit einer auf den ersten Blick empörenden Ungleichheit ausgestattet hat; sie stellt die Harmonie wieder her, vereint die Reichen mit den Armen und verwandelt eine verhaßte Überlegenheit in eine schützende und großzügig unterstützende Vormundschaft.“ Diese Harmonie könnten staatliche und rechtliche Verpflichtungen nur zerstören: Der Reiche würde versuchen, sich den Zwangsabgaben zu entziehen, „wie es alle Steuer- und Abgabepflichtigen tun; er wird hart, grausam, geizig“, während der Arme im Gefühl seiner Rechte immer mehr verlangt und „aufmüpfig, gewalttätig, haßerfüllt“ wird. „Eine Beziehung des Friedens und der Einigkeit verwandelt sich in einen Anlaß zu Streitigkeiten“ (M.T. Duchұtel [1836], zit. in: Ewald 1993, 71).

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gungsgewalt der Eigentümer relativiert und beschränkt hatten, wurden der reine Privatcharakter des Besitzes und die absolute Willkür seiner Verwendung garantiert. Erst wo die Arbeit absolut frei war, d.h. dem rechtmäßigen Käufer in ausreichendem Maße und jenseits aller Regulation zur Verfügung stand, wurde jene schrankenlose Verwertung möglich, die den Aufstieg und das dynamische Wachstum der kapitalistischen Ökonomie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten. Ohne sich auf einen reinen ‚Überbaureflex‘ des Kapitalismus reduzieren zu lassen, bestimmte die liberale politische Ökonomie, wie sie Smith formuliert hatte, ein neues Verhältnis von Staat und Ökonomie sowie eine neue Form der Regierungsrationalität, die den kapitalistischen Erfordernissen entsprach und die Durchsetzung dieser Wirtschaftsform befördern konnte. (Vgl. auch Meuret 1994, 13-53) Ebenso bekannt sind aber auch die gesellschaftlichen Problemlagen, die dieser Siegeszug des liberale Kapitalismus hervorbrachte; Problemlagen die nicht nur ‚sozialen‘, sondern vor allem auch ökonomischen und bio-politischen Charakter hatten (s.u. 4.2). Angesichts dieser Effekte der ersten Hochphase der kapitalistischen Industrialisierung erwies sich die um Prinzipien individueller Verantwortung und Moralität zentrierte liberale Sozialethik als unzureichend, auch weil der Fluchpunkt liberaler Sozialregulierung, das Versprechen, dass die Arbeit den universellen Weg aus der Armut weise, durch die Realitäten eines kapitalistischen Verwertungssystems ad absurdum geführt wurde. Hier trat deutlich hervor, dass die destruktiven Effekte einer sachrationalen Verwertungslogik nicht durch normative Appelle und moralische Gesten kompensierbar sind, wie etwa auch Max Weber betonte: „Rationale ökonomische Vergesellschaftung ist immer Versachlichung […], und einen Kosmos sachlich rationalen Gesellschaftshandelns kann man nicht durch karitative Anforderungen […] beherrschen. Der versachlichte Kosmos des Kapitalismus […] bietet dafür gar keine Stätte. An ihm scheitern die Anforderungen der religiösen Karitas nicht nur […] an der Widerspenstigkeit und Unzulänglichkeit der konkreten Personen, sondern sie verlieren ihren Sinn überhaupt.“ (Weber 1984, 353)

Diese Konstellation, kann als eine jener „Krisen des Liberalismus“ verstanden werden, die dessen Geschichte Foucault (vgl. 2004b, 106) zufolge begleiten und mit den Krisen des Kapitalismus zusammenhängen, ohne mit ihnen identisch zu sein. Die Krise führte in allen entwickelten kapitalistischen Nationen Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Transformation der Theorie und Praxis des wirtschafts- und soziapolitischen Regierens, die jenseits aller nationalen und soziokulturellen Besonderheiten eine gemeinsame Kernstruktur aufweisen, die es im Folgenden zu klären gilt. Polanyi (vgl. 1997) hat dabei auf ein grundlegendes „Paradoxon“ hingewiesen: „Während die Wirtschaft des Laissez-faire das Ergebnis bewussten staatlichen Eingreifens war, wurde dieses Laissez-faire später auf spontane Weise eingeschränkt.“ (Ebd., 195 [Hervh. i.O.]) Hinter den heterogenen Bündeln aus legislativen Akten, staatlichen Interventionen, Versicherungs- und Vorsorgemechanismen standen kein theoretisches System und kein praktisch-politisches Gesamtkonzept, wie es der klassische Liberalismus hatte. Es handelte sich vielmehr um partikulare Reaktionen auf akute Problemlagen, in denen sich erst allmählich eine allgemeine Systematik herauskristallisierte, die ihre theoretische Begründung oft erst post-factum erhielt. Gerade der Keynesianismus, der retrospektiv oft als Archetypus eines gedanklich

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vorkonstruierten politisch-ökonomischen Globalkonzeptes dargestellt wurde, ist dafür ein gutes Beispiel, denn die Allgemeine Theorie des Namensgebers (vgl. Keynes 1936) wurde erst publiziert, nachdem entsprechende Maßnahmenbündel bereits in verschiedenen Staaten und verschiedenen Kontexten in Ansätzen etabliert waren (s.u. 6). Die Genealogie des Sozialstaates wie die Funktionen, die ihm zuwuchsen, müssen daher gegen die Bilder einer ‚kollektivistischen‘ Verschwörung, die liberale und neoliberale Theoretiker von diesen Transformationen zeichneten, ebenso wie gegen das Bild einer evolutiven Zwangsläufigkeit, mit der der Kapitalismus zum Sozialstaat führt,10 rekonstruiert werden. Erste Voraussetzung dafür ist es, den besonderen Charakter der Krise zu verstehen, mit der sich die kapitalistischen Gesellschaften und die bisherigen liberalen Theorien und Praktiken konfrontiert sahen.

4.2 D IE BEDROHTE ‚L EBENSWURZEL ‘. D IE K RISE DES KLASSISCHEN L IBERALISMUS „Obgleich die Gesundheit der Bevölkerung ein so wichtiges Element des nationalen Kapitals ist, fürchten wir, gestehn zu müssen, daß die Kapitalisten durchaus nicht bei der Hand sind, diesen Schatz zu erhalten und wert zu achten“. THE TIMES vom 5.11.1861 (zit. in: MEW 23, 285) „Die Barbaren, von denen die Gesellschaft bedroht wird, befinden sich weder im Kaukasus noch in der tartarischen Steppe: sie leben in den Vororten der Industriestädte. Die Mittelklasse muß diese Lage klar erkennen.“ SAINT MARC GIRADIN ([1831], zit. in: Hobsbawm 1978, 289) „‚Am Sozialen arbeiten‘ bedeutet, am Elend der kapitalistischen Welt zu arbeiten, also an den perversen Effekten der wirtschaftlichen Entwicklung. Darin besteht der Versuch, Korrekturen an […] der Gesellschaftsordnung anzubringen, ohne jedoch an ihrer Struktur zu rütteln.“ ROBERT CASTEL (2008, 215f.)

Betrachtet man die Effekte des praktizierten Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so ist der liberalen und neoliberalen Geschichtsschreibung11 darin zuzustimmen, dass die Garantie des Eigentums und die Einrichtung freier Märkte die wesentliche Voraussetzung für den sprunghaften Anstieg des ökonomischen Wachstums am Ende des 18. Jahrhunderts war. Ebenso ist zutreffend, dass erst dadurch Ar10 Vgl. zu liberalen Verschwörungstheorien kritisch u.a.: Polanyi 1997, 196-208. Entsprechende Narrative, die den Sozialstaat als Willkürprodukt einer Verschwörung von Kollektivisten schildern, finden sich noch heute etwa bei Friedman (1980). Die Vorstellung einer evolutiven Logik systemischer Entwicklung hin zum sozialstaatlich regulierten Kapitalismus findet sich tendenziell bei Habermas (vgl. 1995, Bd. 2, v.a. 352-547). 11 Vgl. zu einem Überblick über die liberale und neoliberale Geschichtsschreibung: Lepage 1979, 41-106.

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beit für eine Masse neuer Arbeitskräfte entstand, die zuvor als ‚überzählige‘ Arme galten. Auch mag es für Kinder tatsächlich besser gewesen sein, 14 Stunden in Fabrik oder Bergwerk zu arbeiten, als gleich Hungers zu sterben (so Lepage 1979, 56). Es ist jedoch eine erhebliche Verkürzung, die „vorherrschende Ideologie“ (ebd., 57), der zufolge diese Entwicklung mit gesellschaftlichen Problemlagen verbunden war, nur darauf zurückzuführen, dass die Geschichtsschreibung von verzerrten Darstellungen „eines Zola oder Dickens, eines Marx oder Engels“ (ebd., 41) geprägt sei, von „politischen oder schriftstellerischen Werken“ also, „die weder die Geschichte aufzeichnen noch unparteiische oder objektive Zeugenberichte liefern“ (ebd.). 12 Während Marx und Engels selbst im kommunistischen Manifest die privatwirtschaftliche Wachstumsdynamik ohne Abstriche feierten, entstammen die drastischsten zeitgenössischen Darstellungen zur Arbeits- und Lebenssituation des Proletariats den vielfältigen Fabrikkommissionsberichten und Parlaments-Enqueten, die nicht von sozialistischen Aufrührern oder idealistischen Reformern, sondern von Ärzten, Fabrikanten, Statistikern und Ökonomen im Auftrag liberaler und konservativer Regierungen erstellt wurden. Das zeigt deutlich, dass es seit den 1830er Jahren eine nicht auf eine bestimmte ideologische Perspektive beschränkte gesellschaftliche Wahrnehmung von akuten Krisenerscheinungen gab. Die sich aus der kapitalistischen Wirtschaftsweise ergebenden Konfliktlagen zwischen Lohnarbeit und Kapital und das Heranreifen des Proletariats zu einer ‚sittlich verroht‘ erscheinenden ‚gefährlichen Klasse‘, deren ‚revolutionäre Sprengkraft‘ zahlreiche Zeitgenossen beschworen oder fürchteten, 13 waren dabei nur ein Aspekt, dem eine Reihe anderer Gefährdungen des ‚Gesellschaftskörpers‘ zur Seite standen. Im England des 19. Jahrhunderts beklagten die ‚Public Health Reports‘ immer drängender die Häufung schwerer Unfälle, den schlechten Gesundheitszustand und die hohen Mortalitätsraten unter den Arbeitern.14 Solange der Zustrom verwertbaren Menschenmaterials seinem Absterben die Waage hielt, war das zwar kein ökonomisches Problem, jedoch erschienen die Elendsquartiere auch als mögliche Seuchenherde, von denen aus sich Krankheiten über die gesamte Stadt ausbreiten könnten. Auch die exzessive Kinderarbeit (und -sterblichkeit) galt vermehrt als Bedrohung. Zwar schien der Nachschub preiswerter Kinder aus Waisenhäusern und Familien mittelfristig gesichert, jedoch gab es Anlass zu Befürchtungen, dass die allgemeine physische und psychische ‚Degeneration‘ des Arbeiternachwuchses die ‚Lebenswurzel‘ der Gesell12 Thompson (1987) bietet eine differenzierte Kritik der (neo-)liberalen Geschichtsschreibung, die von Wachstums- und Lohnraten auf eine bessere Lebenssituation schließt. Jedoch sagen solche Daten wenig über allgemeine Lebensstandards und angesichts der konjunkturellen Schwankungen der Lohnhöhe und Arbeitsmöglichkeiten nichts über die Lebenssicherheit. So ging der leichte Anstieg der Lohnhöhe im Bergbau zwischen 1790 und 1840 mit einer enormen Steigerung der Arbeitszeit und -intensität, des Unfallrisiko und der Mortalitätsraten einher, was die Betroffenen als Verelendung erlebten (ebd., 227f.). Insgesamt gingen die zum „take-off“ des Industriekapitalismus erforderten langfristigen Investitionen in Industrie und Infrastruktur „zu Lasten der Konsumtion“, was besonders „die Arbeitergenerationen zwischen 1790 und 1840“ traf (ebd.,219; vgl. ebd., 203-378) 13 Vgl. zu Diskursen um die ‚gefährliche Klasse‘: Castel 2008, u.a. 197ff. 14 „Das Leben von Myriaden von Arbeitern und Arbeiterinnen wird jetzt nutzlos gefoltert und verkürzt durch das endlose physische Leiden, welches ihre bloße Beschäftigung erzeugt.“ (Sir John Simon: Public Health, VI. Report. London 1864, 31, zit. in: MEW 23, 489) Vgl. zu Krankheiten und Mortalität: Thompson 1987, 350-359.

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schaft langfristig bedrohe.15 Die mit dem vermehrten Einsatz weiblicher Billigarbeitskräfte verbundene Desintegration der Familienverhältnisse ließ die soziale und (angesichts der Häufung von Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten und Missbildungen) auch die biologische Reproduktion gefährdet scheinen und ging zudem mit einer allgemeinen Irritation der Geschlechterbilder einher. Marx begrüßte letzteres (trotz aller damit verbundenen akuten Krisensymptome) als Umwälzungsmoment zu einem neuen Verhältnis der Geschlechter und Generationen (vgl. MEW 23, 514), für die meisten Zeitgenossen war die Desintegration der Geschlechterverhältnisse jedoch ein Problem.16 Hinzu kam mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, dass die Entwicklung der Produktivkräfte „in Bezug auf die Population als Verminderung der notwendigen Arbeitsbevölkerung erscheint“ (MEW 42, 661 [Hervh. i.O.]). Der zur Vermehrung der Reservearmee funktionale Mechanismus erschien in seinen sozialen Effekten bedrohlich, da ein Heer von jenseits hinreichender Absicherung vegetierenden Arbeitslosen als ein der Verbreitung von Verbrechen, Krankheiten und Degeneration förderliches Milieu galt. Gefährdet war dadurch aber auch die grundlegende ökonomische Funktion der Arbeitslosen, die als „Reservearmee […] in petto“ gehalten werden (MEW 26.2, 478), um sie bei Bedarf zu verwerten, was eine gewisse minimale ‚Instandhaltung‘ erfordert (vgl. ebd.). Ganz unabhängig von eventuellem moralisch-normativem Unbehagen schien dieses Problembündel geeignet, Funktionsfähigkeit und Bestand der ‚natürlichen‘ Ordnung zu untergraben. Ebenso untergraben wurde die liberale Gewissheit, dass eine Gesellschaft freier, durch ihre wechselseitigen Interessen verknüpfter Individuen automatisch zur Homöostase tendiert. Darüber hinaus musste auch das zentrale „Versprechen des Liberalismus, die Armut in der Arbeit aufzulösen“ (Lemke 1997, 205), angesichts eines Systems, das, statt die alten Formen von Armut zu absorbieren, gerade auf Seiten der ‚labouring poor‘ ein ungekanntes Massenelend produzierte, zunehmend fragwürdig erscheinen. Das Problem, dass gerade die Produktion des Reichtums mit einer Verarmung derer verbunden war, die ihn produzieren, stellte sich keineswegs nur bei Marx, sondern wurde zu einem Grundtopos gerade auch der liberalen Diskurse (vgl. u.a. Foucault 2003b, 675-694). Die Ausprägungen der sich hier stellenden ‚sozialen Frage‘ betrafen aber nicht nur die Lage der ‚working poor‘. Die Effekte der freien Verwertung der Arbeit durch frei konkurrierende Einzelkapitale gaben auch Anlass zu Befürchtungen, dass die massenhafte Zerstörung lebendiger Arbeitskraft das dauerhafte Funktionieren der Ökonomie bedrohen könnte, so dass gerade „die Organisationsweise der kapitalistischen Produktion […] vor den verheerenden Auswirkungen eines selbstregulierten Marktes geschützt werden“ musste (Polanyi 1997, 185). In dieser

15 Vgl. zur großen ökonomischen Bedeutung der Kinderarbeit: Sombart 1927, Bd. III.1, 452ff.; zu ihren Effekten: Thompson 1987, 360-378; zu ihrer besonderen Problematisierung als regulationsbedürftig: Ewald 1993, 117ff. 16 Vgl. die ausführlichen Zitate aus Kommissionsberichten und die eigenen Einschätzungen bei Engels (F.E. in: MEW 2, 366-389). Die gesteigerte diskursive biologistische Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit im 19. Jahrhundert dürfte nicht zuletzt eine Reaktion auf diese ganz praktischen Irritationen gewesen sein. Vgl. dazu auch Bublitz/Hanke/Seier 2000; Foucault 2003a, 352ff.

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Hinsicht führte der bisherige Liberalismus zu einer globalen Gefährdung der Gesellschaft, die biopolitischen Charakter hatte. In der Logik des frühen Liberalismus mussten dem Staat aber die Hände gebunden bleiben, wo er die Grenzen der gerade erst konstituierten natürlichen Freiheit nicht überschreiten sollte. Zwar gehörte etwa bei Smith (vgl. 1978, 668ff. & 695) die allgemeine Schulbildung theoretisch zu den Staatsaufgaben, aber bereits das Verbot der Verwertung von Kindern unter 8 Jahren und die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit für Kinder unter 12 Jahren auf 10 Stunden täglich, um der Bildung angemessenen Raum zu lassen, galt in den 1830er Jahren als verheerender Eingriff in die Freiheit der Arbeit.17 Hatte der absolutistische Staat auf programmatischer Ebene Ansätze einer biopolitischen Rationalität aufgewiesen, die praktisch an den technischen Möglichkeiten Grenzen fand, entfaltete der klassische Liberalismus seine Wirksamkeit in einer Zeit, in der die ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten einer praktizierten Biopolitik wuchsen, während die interne Logik der Regierungsrationalität aufgrund des Prinzips der Grenzen, die der Staat an der ‚natürlichen Freiheit‘ fand, entsprechende Praktiken blockierte. Das bedeutet allerdings nicht, dass der klassische Liberalismus keinerlei Formen biopolitischer Regulation hervorgebracht hätte. Wie Ewald (vgl. 1993, 111ff.) an den Debatten um den „Pauperismus“ zeigt, führten hier auftretende Irritationen liberaler Glaubensgewissheiten zu Verwerfungen und Neuansätzen innerhalb der liberalen Gesamtkonzeption. Irritierend am Pauperismus waren das Ausmaß, die zeitliche Unbegrenztheit und die Verbindung mit der Lohnarbeit. Statt selbstverantwortlicher Individuen stehen hier „zwei verschiedene Gesellschaftsklassen einander gegenüber“ (ebd., 112), die durch ein Kollektivschicksal definiert sind (vgl. Castel 2008, 193204). Theoretisch ließ sich das Problem durch die Unterscheidung von Ursachen und Bedingungen der Armut lösen. Die Ursachen wurden weiter der Verantwortung der Individuen zugerechnet, die Bedingungen machte man nun aber in einem Milieu aus, das den ‚moralischen Verfall‘ der Arbeiter begünstigte. Hier schien die Generalisierung einer vormundschaftlichen Wohlfahrt, die den Bedingungen abhelfen sollte, einen Ausweg zu bieten. Zugleich legte aber die Anerkennung einer Armut, die „nicht aus dem Fehlen von Arbeit, sondern aus der Arbeit selbst hervor[geht]“, den (zumindest vom liberalen Standpunkt betrachtet) „gefährliche[n] Gedanke[n]“ einer „ökonomischen, sozialen und politischen Kausalität des Elends“ nahe (Ewald 1993, 113). Zugleich drohte die Vorstellung, dass das Elend auch mit der Situation in den Fabriken zu tun haben könnte, einen Weg zur legislativen Einschränkung der Freiheit zu öffnen (vgl. ebd., 116ff.). Die Suche nach einer differenzierten Politik vormundschaftlicher Wohlfahrt jenseits des Staates, nach einer „Politik ohne Staat“ (Castel 2008, 192-235), wurde in

17 Die Schutzregeln im Bezug auf die Kinderarbeit waren in England wie in Frankreich ein erstes Anwendungsfeld und ein kontinuierliches Problem in der gesetzlichen Begrenzung der Freiheit der Arbeit. Die Debatten zeigen, wie sehr ihre Durchsetzung allen bisherigen Prinzipien des Liberalismus widersprach (vgl. u.a. Ewald 1993, 117-122). Marx karikierte die von Unternehmern und Ökonomen im Bezug auf die Gesetze gezeichneten Schreckensbilder dahingehend, dass es die „liberale Seele an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters“ erinnere, „wenn die Gesetzgebung verbietet, Kinder von 13 Jahren mehr als 12 Stunden per Tag abzurackern“ (MEW 25, 46).

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diesem Kontext ein Kernmoment des Liberalismus. Die Bewegungen der Philanthropen und Hygieniker ebenso wie Unternehmensformen, die ihre Arbeitskräfte in ein alle Lebensbereiche umfassendes vormundschaftliches Patronatswesen einbanden, bildeten dabei einen Komplex von Regulationstechniken mit gemeinsamen Grundprinzipien. Mit der Generalisierung vormundschaftlicher Praktiken ergibt sich innerhalb des Liberalismus eine Verschiebung der Bearbeitung der ‚sozialen Frage‘, die vom Prinzip individueller Verantwortung wegführt und entsprechende Techniken zur Aufgabe des Bürgertums gegenüber dem Proletariat, zur „sozialen Verpflichtung einer Klasse einer anderen gegenüber“ macht. Damit wurde nicht nur die „Teilung der Gesellschaft in Klassen anerkannt“, es kam hier zugleich die neue Vorstellung einer die Klassen übergreifenden „Solidarität“ auf (Ewald 1993, 116). Indem sich diese ‚Solidarität‘ aber jenseits des allgemeinen Rechts und jenseits von Vertragsverhältnissen bewegt, erhält sie einen strikt asymmetrischen Charakter. Sie soll „zwischen der aufgeklärten Klasse und der, der es an Aufklärung gebricht, zwischen den guten Menschen und denen, deren Moral nicht vollkommen ist, Verhältnisse der Obhut begründen“, denn der „Arbeiter ist ein robustes, aber unwissendes Kind, das umso mehr der Leitung […] bedarf, je schwieriger seine Stellung ist.“18 Die Maßnahmen, deren Zugriffspunkt primär die proletarische Familie wurde19 bildet, richten sich insofern auch nicht darauf, eventuelle ökonomische Ursachen des Elends zu erforschen oder zu verändern. Stattdessen soll wohlwollende Zuwendung sich mit einem sittlichen und moralischen Führungsanspruch verbinden, der auf einer verstetigten Hilfe zur Selbsthilfe beruht, wofür die Förderung freiwilliger Spar- und Unterstützungseinrichtungen ein zentrales Beispiel ist. Im unternehmerischen Patronat, das eine „perfekte Osmose zwischen der Fabrik und dem Alltagsleben der Arbeiter und ihrer Familien anstrebt“ (Castel 2008, 225) zeigt, verband sich der Aufbau solcher asymmetrischen Bindungsverhältnisse durch über den Lohn hinausgehende Vorsorgeleistungen (Werksiedlungen, Unfallschutz, Schulen etc.) mit der Ausdehnung und Festigung der Autorität des Unternehmers, was auch ökonomisch als sinnvoll galt.20 Insofern verbreitete sich im Liberalismus seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterhalb der Ebene staatlicher und politischer Regulationen eine ganze Reihe von sozial- und biopolitischen Praktiken. Das Problem lag dabei darin, „einen kalkulierten Abstand zwischen den Funktionen des liberalen Staates und der Verbreitung von Techniken zur Wohlfahrt und Bevölkerungssteuerung“ (Donzelot 1980, 68) zu halten, um auf drückende Folgeerscheinungen der ökonomischen Freiheit reagieren zu können und doch die Prinzipien von Freiheit und Verantwortung aufrecht zu erhalten. Bereits vor diesem Hintergrund aber enthielten die Theorien und Praktiken der Wohlfahrt und Patronage ein problematisches Moment. Das liberale Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf individueller Verantwortung, sachlichen Interessen und freien, symmetrischen Vertragsbeziehungen aufgebaut ist, wird hier mit permanent asymmetrischen sozialen Bindungsformen ergänzt, die der ‚verzauberten Welt‘ der feudalen Herrschaftsbeziehungen, wie sie Marx und Engels karikierten 18 Baron de Gérando: Le visiteur du pauvre. Paris 1820, 9 & 16, zit. in: Castel 2008, 208. 19 Vgl. zur besonderen Bedeutung der Familie, deren Desintegration zugleich entgegengewirkt wird, indem sie zum Ansatz- und Stützpunkt der Fürsorgepraktiken wird, Donzelot 1980, v.a. 61-107. 20 Vgl. dazu ausführlich Castel 2008, 224ff.; Donzelot 1994; Ewald 1993, 134-170.

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(vgl. MEW 4, 473ff.), so unähnlich nicht sind. Konnte das auf der Programmebene noch durch die Einführung einer naturalisierten Unterscheidung zwischen einer konstitutiv unmündigen ‚proletarischen Rasse‘ und einer aufgeklärten Bourgeoisie entparadoxiert werden, wurden solche Beziehungsformen realiter mit den ökonomischen Erfordernissen einer versachlichten, rationalen Betriebsführung zunehmend unvereinbar und verschärften durch die dem Patronageverhältnis inhärente Entmündigungslogik zudem den Konflikt mit einer zunehmend selbstbewusst und selbstorganisiert auftretenden Arbeiterklasse, den es doch entschärfen sollte.21 Nicht umsonst kam es, wie Castel (vgl. 2008, 229f.) zeigt, in Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade in den Hochburgen des Patronagewesens zu den schärfsten Arbeitskämpfen. Die Ausweitung entsprechender Maßnahmen zur Moralisierung und Normalisierung der Arbeiter, die man – wie Foucault (vgl. 2002, 760f.) betont – als Strategie im Interesse des Bürgertums verstehen kann, kollidierte also spätestens hier mit den sich aus der kapitalistischen Ökonomie ergebenden Entwicklungstendenzen und stand zudem in einem Spannungsverhältnis zu den modernistischen, rationalistischen und kontraktualistischen Idealen, mit denen der Liberalismus einst angetreten war. Zudem waren sie aufgrund ihres optionalen, auf private Initiative angelegten Charakters zu sporadisch, partiell und unkoordiniert, um die mit einer rasanten Industrialisierung und Urbanisierung verbundenen Problemlagen wirklich adäquat bearbeiten zu können. So sahen sich gerade liberale Regierungen genötigt, auf staatliche Interventionen in jene ökonomischen Freiheiten zurückzugreifen, die sie selbst gerade erst hergestellt hatten. Erste, primär in England entwickelte und in anderen Ländern adaptierte Maßnahmenbündel hatten klassisch-juridischen Charakter. Zwangsgesetze sollten die aus der ungehemmten Verfolgung privatwirtschaftlicher Interessen resultierenden Missstände und Gefahren eindämmen. Das kann – wie kein andere als Marx selbst betonte – kaum als ‚Sieg‘ der damals noch wenig organisierten Arbeiterklasse angesehen werden, sondern hatte funktionale Gründe: „Von einer […] anschwellenden Arbeiterbewegung abgesehen, war die Beschränkung der Fabrikarbeit diktiert durch dieselbe Notwendigkeit, welche den Guano auf die englischen Felder ausgoß. Dieselbe blinde Raubgier, die in dem einen Fall die Erde erschöpft, hatte in dem andren die Lebenskraft der Nation an der Wurzel ergriffen. Periodische Epidemien sprachen hier ebenso deutlich als das abnehmende Soldatenmaß in Deutschland und Frankreich.“ (MEW 23, 253)

Entsprechend lagen die Ursachen solcher legislativen Maßnahmen auch kaum in einer moralisch-ethischen Aushandlung von diskursiven Geltungsgründen und Rechtsansprüchen, in denen „eine dem Markt […] zunächst zur Disposition gesellte Lebenswelt nach und nach ihre Ansprüche zur Geltung bringt“ (Habermas 1995, Bd. 2, 527). Die Gesetzgebungen wurden nicht normativ, sondern zweckrational begründet: Der ökonomische Organismus sollte im nachhaltigen volkswirtschaftlichen Sinne

21 Hieran entzündet sich später der von Donzelot (vgl. 1994) prägnant analysierte Konflikt zwischen paternalistischen und kontraktualistischen Unternehmern. Vgl. auch schon Sombart 1927, Bd. III.2, 884-948.

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gegen Bedrohungen abgesichert werden, die sich aus privatwirtschaftlichen Kalkülen ergaben.22 Das zeigen etwa die Forderungen zur weiteren Reglementierung der Kinderarbeit: Die Gesetzgebung würde den Kindern „regelmäßige und ermäßigte Arbeitsstunden aufzwingen“ und dadurch „den Vorrat physischer Kraft, wovon ihr eignes Wohlergehen und das des Landes so sehr abhängt haushalten und häufen“. Es ging hier also im nationalen Interesse darum, „die aufsprossende Generation vor der Überanstrengung in frühem Alter [zu] schützen, welche ihre Konstitution untergräbt und zu vorzeitigem Verfall führt“. Schließlich würde nur eine solche Gesetzgebung auch „die Gelegenheit des Elementarunterrichts bieten und damit der unglaublichen Unwissenheit ein Ende machen“.23 Darin, dass der „Drang des Kapitals nach maßloser Aussaugung der Arbeitskraft durch gewaltsame Beschränkung“ gezügelt werden musste, „und zwar von Seiten eines Staats, den Kapitalist und Landlord beherrschen“ (MEW 23, 253), sah Marx einen Beleg dafür, dass die kapitalistische Produktionsweise zwar zum sparsamen Umgang mit der „in Waren vergegenständlichten Arbeit“ zwingt, hingegen „eine Vergeuderin von Menschen, von lebendiger Arbeit, eine Vergeuderin nicht nur von Fleisch und Blut, sondern auch von Nerven und Hirn“ ist (MEW 25, 99). Die inkonsequente Umsetzung der Gesetze schien zudem dafür zu sprechen, dass sie von zu begrenzter Wirkung blieben, um die langfristige Aufhebung des Kapitalismus zu verhindern (vgl. MEW 23, 504-526). Demgegenüber hat Ewald am Beispiel des französischen Gesetzes zur Regelung der Kinderarbeit (1841) betont, dass dieses – auch wo man es „aufgrund seiner geringen Wirksamkeit getrost vernachlässigen“ könnte – eine nachhaltige „Nebenwirkung“ in der Form des gesetzgeberischen Aktes selbst hatte. Allein das Faktum dieses Gesetzes rührte an die „Grundprinzipien der liberalen Ordnung, nämlich an die Handels- und Gewerbefreiheit und an die Autorität des Familienoberhauptes“, denn es implizierte, dass diese konstitutiven Freiheiten „sich nicht allein regulierten, sondern gesteuert und angeleitet werden mußten“ (Ewald 1993, 118). Über den Bruch mit den liberalen Prinzipien hinaus markiert dies auch einen Bruch mit dem Prinzip, dass die Gesetzgebung „ein allgemeines, überindividuelles und dem Anspruch nach überzeitliches Prinzip“ ausdrückt, da hier eher ein „Kompromiss zwischen drei Interessengruppen“ (Unternehmer, Eltern und Kinder) gesucht wurde. Dabei nahm sich der Staat der Kinder im Namen eines spezifisch sozialen Interesses an, das „nicht mit dem Interesse der Allgemeinheit gleichgesetzt“ war, da es sowohl dem unternehmerischen Interesse (alle Kinder frei und gleich zu

22 Habermas’ (1995) Illusion, frühe Arbeitsschutzgesetze und spätere „sozialstaatliche Errungenschaften“ seien „in freiheitsverbürgender Absicht politisch erkämpft bzw. gewährt“ worden und „vom Pathos der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen getragen“ (ebd., Bd. 2, 530), dürfte daraus resultieren, dass spätere rechtstheoretische Begründung post factum meist diese Gestalt hatten. Demgegenüber sind die Bezugsprobleme der historischen Einführung der Arbeitsschutzgesetze wie des keynesianischen Sozialstaats (s.u. II.6) nicht primär moralische, sondern funktionale. Statt um normatives Unbehagen geht es um die Problematisierung der Gefährdung von Bestandsbedingungen der Kapitalverwertung, die so gravierend scheint, dass sich Kompensationsmaßnahmen sogar gegen ein ihnen widerstrebendes bürgerliches Moral- und Rechtsempfinden durchsetzen. Vgl. zu den Fabrikgesetzen in England und zu ihren Rückwirkungen auf andere Nationen MEW 23, 294-320; Castel 2008; Ewald 1993. 23 Children’s Employment Commission, V. Report [1866], XXV, zit. in: MEW 23, 516.

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verwerten) als auch dem Interesse der Familien (die Kinder zum Unterhalt beitragen zu lassen) widersprach. Das „konstituiert den Staat als Vertreter eines eigenen, positiven Interesses“, welches „der Reproduktion und Erhaltung der Gesellschaft [gilt], und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer materiellen (und nicht nur konstitutionellen) Bedingungen“ (ebd., 121 [Hervh. T.H.]). Damit markierte diese Regelung einen Durchbruch in der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion des Staates, der auch von den Zeitgenossen als solcher angesehen wurde. Denn was „heute für den Schutz der Kinder vorgebracht wird“, könnte „bald für den Schutz […] der gesamten Arbeiterklasse angebracht werden“, wobei dem Staat zur Sicherung der Gesellschaft „eine Reglementierungskompetenz ohne definierbare Begrenzung übertragen“ wird (ebd., 120). Tatsächlich kam es seit den 1830er Jahren im Namen der Reproduktion der Gesellschaft zu immer weiter reichenden legislativen Einschränkungen der Freiheit durch Arbeitszeit-, Arbeitsschutz- und Hygienebestimmungen, durch Reglementierungen für Kinder- und Frauenarbeit oder veränderte Rechtsprechung bei Unfällen (vgl. ebd.,123-134 & 280-413; Castel 2008). Abgesehen von den Widerständen gegen die Ausdehnung staatlicher Kompetenzen und den Paradoxien, die dieser Eingriff in konstitutive Freiheiten innerhalb der liberalen Regierungsrationalität entfalten musste, implizierte eine rein juridische Reglementierung aber auch praktische Probleme. Die Gesetze ließen zahlreiche Wege offen, sie zu umgehen, und der Aufwand zur Kontrolle ihrer Einhaltung war kaum zu bewältigen. Vor allem aber etablierten Gesetzgebung und Rechtsprechung einen Gegensatz zwischen der Partei, welche gesetzlich geschützt wird, und jener, deren Verhaltensspielräume eingeschränkt und sanktioniert werden müssen. Statt Interessenpolaritäten und Spannungen zwischen den Klassen zu neutralisieren, werden sie schärfer konturiert, indem sie eine signifikante juristische Form annehmen. Mit Bezug auf die Rechtsprechung bei Arbeitsunfällen hat Donzelot (vgl. 1994, 116ff.) diese Problematik herausgearbeitet. Einen Anspruch auf Entschädigung hatte der Arbeiter hier nur, wenn er juristisch ein Verschulden des Arbeitgebers nachwies, der vertragliche Arbeitszeit- oder Schutzregelungen verletzt hatte. Angesichts zahlreicher Spielräume und Grauzonen blieb die Mehrzahl solcher Fälle ungeklärt, wo ein Urteil erging, konnte der zu zahlende Betrag für kleine Unternehmen leicht den Ruin bedeuten. In beiden Fällen aber gelang es „der juristischen Verfolgung individueller Verantwortung nur, das schon schwierige Klima der Produktionsbeziehungen zu vergiften“ (ebd., 117), da sie die Vertragspartner als Prozessgegner mit gegensätzlichen Interessen kenntlich machte.24 Auch die Versuche einer juridischen Regulierung der sich aus den Effekten der kapitalistischen Industrialisierung ergebenden Problemlagen und Konfliktpotenziale blieben also problematisch, einerseits da sie selbst als Verstoß gegen liberale Grundprinzipien der Begrenzung der Regierung erschienen, andererseits da sie, gerade in-

24 Ewald (vgl. 1993, 123ff.) zeigt, dass die gesetzliche Regelung von Unfallentschädigungen das liberale Rechtsempfinden tiefe verletzte. Da die Verpflichtungen des Arbeitgebers nur den vertraglich geregelten Tausch von Arbeit und Lohn umfasste und der Arbeiter die Unfallgefahr mit dem Eingehen des Vertrags akzeptierte, erlaubten die Regeln der Gerechtigkeit keine weiteren Ansprüche. Die Veränderung der Rechtsprechung seit den 1840er Jahren, die das Recht über den Vertrag stellt, markiert eine Transformation gegenüber der klassischen liberalen Auffassung.

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dem sie die rechtliche Regulation der Arbeitsverhältnisse zugunsten der Arbeit ausdehnten, die gesellschaftlichen Konfliktlinien nicht neutralisierten, sondern juristisch markierten. Es war diese mehrfache Krisenkonstellation, in der das, was Foucault als „Sicherheitsdispositiv“ charakterisierte, seine moderne Form gewann.

5 Dispositive der Sicherheit: Die Geburt des Sozialstaates

„Die Sicherheit ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft [...], daß die ganze Gesellschaft nur da ist, um jedem ihrer Glieder die Erhaltung seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums zu garantieren.“ KARL MARX (MEW 1, 365f. [Hervh. i.O.]) „Die Versicherung stellt eine Form der Assoziierung dar, die ein Maximum von Sozialleistung mit einem Maximum an Individualisierung verknüpft. Sie gestattet einem jeden von den Vorteilen des Ganzen zu profitieren, und läßt seine individuelle Existenz unberührt. Sie scheint die beiden antagonistischen Begriffe der Gesellschaft und der individuellen Freiheit miteinander zu versöhnen.“ FRANÇOIS EWALD (1993, 216 [Hervh. i.O.])

Stellte sich der klassischen liberalen Gouvernementalität das Problem, eine neue Ordnung herzustellen, verschob sich das Problem seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Frage, wie man diese ‚natürliche‘ Ordnung gegen die von ihr selbst erzeugten Gefährdungen schützt, um sie zu erhalten, wie also autodestruktive Tendenzen einer kapitalistischen Ökonomie bearbeitet werden können, ohne an den Ursachen der Gefährdung und damit an den Grundlagen der Ordnung zu rühren. Da sich die Mittel des klassischen liberalen Vollzugs der Freiheit dafür zunehmend als unzureichend erwiesen, bedurfte es neuer Techniken und Kalküle des Regierens, die schließlich wesentlich darin bestehen sollten, die Gefahren, die die ‚natürliche‘ Ordnung hervorbringt, in Risiken zu verwandeln.1 Während Gefahren als ebenso allgegenwärtige wie unvorhersehbare Bedrohungen Angst erzeugen, aber bestenfalls ein reaktives Verhalten erlauben, zeichnen sich Risiken dadurch aus, dass sie in berechenbarer Verteilung

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Der hier verwendete Risikobegriff entspricht dem Begriff Foucaults, der bei Ewald (vgl. 1993, 175-490) sowohl theoretisch-systematisch als auch historisch-genealogisch näher bestimmt wird. Er unterscheidet sich von jenem Risiko-Begriff, den Ulrich Beck (1986; 2006) seiner (Welt-)Risikogesellschaft zugrunde legt, dadurch, dass er eine Differenzierung von Risiko und Gefahr erlaubt (während Beck die Begriffe eher synonym verwendet) und die konstruktivistische Seite des Risikos herausstellt (während Beck den Begriff eher realistisch-substantiell verwendet). Vgl. dazu auch Lemke 2007, 51ff.

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nach formulierbaren Regeln innerhalb der ‚natürlichen‘ Ordnung wirken. Sie sind antizipierbar und kalkulierbar und erlauben damit ein vorbeugendes und kompensierendes Präventivverhalten. Dies sind wesentliche Momente dessen, was Foucault (vgl. v.a. 2004a, 13-133) das Sicherheitsdispositiv nannte. Das eng mit den modernen Formen der Bio-Macht verknüpfte Sicherheitsdispositiv ist in mehrfacher Hinsicht vom Disziplinarmechanismus unterschieden.2 Sicherheitstechnologien zielen darauf, die problematisierten Phänomene „ins Innere einer Reihe wahrscheinlicher Ereignisse“ einzugliedern, um definierte Risiken und mögliche Reaktionen in eine „Kostenkalkulation“ einzubeziehen. Statt mit einer binären Codierung in Ge- und Verbote zu operieren, definieren sie als optimal bestimmte „Mittelwerte“, um die die statistischen Verteilungen von Verhaltensweisen und Ereignissen oszillieren können, und legen zugleich „Grenzen des Akzeptablen“ fest, die möglichst selten überschritten werden sollten (ebd., 19f.). Während juridische wie disziplinarische Mechanismen auf strikten Normen beruhen – erstere indem sie Verbote formulieren, letztere indem sie Individuen ein positiv bestimmtes Verhalten einzupflanzen suchen (vgl. ebd., 88ff.) – bezieht sich die Sicherheit auf Prozesse, die „nicht als gut oder schlecht“ bewertet, sondern „als Naturvorgänge im weiteren Sinne“ akzeptiert und genutzt werden (ebd., 74). Arbeitet die Disziplin gegen eine gegebene Realität, um eine dem Ziel der Perfektion verpflichtete Ordnung zu konstruieren, zielen Sicherheitstechniken darauf, „in der Realität zu arbeiten, indem sie durch […] eine ganze Serie von Analysen und spezifischen Dispositionen die Elemente der Realität wechselseitig in Gang“ setzen (ebd., 76), um bestimmte Phänomene und Faktoren zu fördern oder zu hemmen, andere zu belassen, aber ihre Wirkungen zu kompensieren. Sicherheitstechniken versuchen, ein Milieu (also einen aggregierten Zusammenhang natürlicher, ökonomischer und kultureller Gegebenheiten) hinsichtlich der in ihm wirksamen Kausalitäten unter dem Gesichtspunkt von Funktionalität und Dysfunktionalität zu verstehen, um es zum Interventionsfeld nicht normierender, sondern regulierender Eingriffe zu machen (vgl. ebd., 40ff.). Statt ein Verhalten nach vorgängigen Normen zu bewerten und auszurichten, werden hier gegebene Normalverteilungen, Risiken, Risikogruppen identifiziert, um erst ausgehend von der vorgefundenen Normalität regulative Normen zu definieren (vgl. ebd., 88-101).3 Inwiefern der Ausbau solcher normalistischen Regulationsmodi (i.S. von Link 1995; 2006) zu den Haupttendenzen kapitalistischer Vergesellschaftung zählt, ist später zu klären (s.u. 8). Es scheint aber schon im Kontext der skizzierten Krise des Liberalismus naheliegend, dass die so verstandenen Sicherheitsdispositive zur Bearbeitung von Problemlagen, die sich aus der Wirtschaftsform ergaben, funktional an-

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Der „Akzent auf die Opposition, jedenfalls auf die Unterscheidung Sicherheit vs. Disziplin“ (Foucault 2004a, 87) meint eine analytische Differenzierung, keine klare historische Abgrenzung von Epochen (vgl. ebd., 21ff. & 26f.). „Die Disziplin arbeitet in einem leeren, künstlichen Raum, der gänzlich konstruiert wird. Die Sicherheit [...] stützt sich auf eine gewisse Anzahl materieller Gegebenheiten“ und zielt nicht auf „einen Punkt der Perfektion“, sondern darauf, „die positiven Elemente zu maximieren“ und Missstände zu minimieren, wissend „daß man sie niemals beseitigen wird“ (Foucault 2004a, 38). Wo die Disziplin auf ein „spezifisches Funktionsfeld“ bezogen bleibt, das sie eingrenzt, um dort ihre Machtmechanismen uneingeschränkt wirken zu lassen, verhalten sich Sicherheitstechniken flexibel zur Realität, die sie in ein Kalkül zu integrieren suchen (vgl. ebd., 73f.).

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schlussfähig wurden (was nicht ausschließt, dass sie umkämpft blieben): Sie erlauben es, sich auf die gegebene Gesellschaft als naturhafte Realität einzustellen und ihre Selbstgefährdungstendenzen zu bearbeiten, um sie dadurch besser zum Funktionieren zu bringen, statt sie zu überwinden. Es bedarf aber einer genaueren Betrachtung der Problemkonstellationen und Strategien, in denen entsprechende Techniken herausgebildet wurden, um ihre Genese und ihre Bedeutung für die weitere Entfaltung des Kapitalismus zu verstehen. Sicherheitstechnologien reagieren auf Problemlagen, die weniger die Optimierung der Produktion betrafen, sondern sich vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene gerade aus den aggregierten Effekten dieser Optimierung ergaben. Marx hat betont, wie sehr die „Herrschaft des Kapitals“ über die gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesse im parzellierten Binnenraum der Unternehmen die Ausbildung einer rationellen Ordnung vorantreibt, gerade dadurch aber auf gesellschaftlicher Ebene Effekte zeitigt, die zur Auflösung oder Gefährdung dieser Ordnung führen: „Während sie [die kapitalistische Produktionsweise T.H.] in den individuellen Werkstätten Gleichförmigkeit, Regelmäßigkeit, Ordnung und Ökonomie erzwingt, vermehrt sie durch den ungeheuren Sporn, den Schranke und Regel des Arbeitstags der Technik aufdrücken, die Anarchie und Katastrophen der kapitalistischen Produktion im großen [...]. Mit den Sphären des Kleinbetriebs und der Hausarbeit vernichtet sie die letzten Zufluchtsstätten der ‚Überzähligen‘ und damit das bisherige Sicherheitsventil[!] des ganzen Gesellschaftsmechanismus. Mit den materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Kombination des Produktionsprozesses reift sie die Widersprüche und Antagonismen seiner kapitalistischen Form, daher gleichzeitig die Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft.“ (MEW 23, 526)

Die These, dass das kapitalistische System im Einzelnen einen wachsenden Rationalisierungsdruck entfaltet, in seiner Gesamtheit aber auf seine eigenen Bedingungen immer irrationaler zurückwirkt, war die Grundlage aller marxistischen Revolutionsund Zusammenbruchshoffnungen, die jedoch gesellschaftliche Gegenstrategien, mit denen solche Irrationalität verarbeitet werden können, nicht hinreichend berücksichtigten. In dieser Hinsicht bot das „Massaker an der europäischen Arbeiterklasse“ (Foucault 2003b, 487) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie oben (II.4.2) herausgearbeitet, zahlreiche Ansatzpunkte für die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen „Notstands“, was nach Foucault (vgl. 1978, 120f.) die Voraussetzung der Ausbildung eines neuen Dispositivs ist. Die Komplexität der von allen kapitalistischen Nationen geteilten Problemlagen und die nicht an Klassengrenzen gebundene Polyvalenz ihrer Formulierung zeigt dabei, dass sich die Einrichtung neuer Absicherungstechniken kaum durch die Zurechnung auf ein Kollektivsubjekt in einem Klassenkampfschema verstehen lässt.4 Entscheidend ist eher die Frage, wie die Reaktionen

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Damit wird die Bedeutung sozialer Kämpfe für die Sozialgesetzgebung nicht negiert (vgl. differenziert Castel 2008, v.a. 236-249). Eine eindeutige Kausalzurechnung auf Klassen wird aber der Ambivalenz der Strategien und Interessen ebenso wenig gerecht wie der Neuartigkeit der Mechanismen, die durch das Handeln der Akteure hindurch ungeplant entstehen (vgl. Lemke 1997, 222f.). Bereits Polanyi (vgl. 1997, v.a. 208-224) hat betont, wie wenig sich die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts direkt auf Klasseninteressen zurückführen lassen. Wie gerade auch Marx’ eigene Analysen der französischen Klassen-

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auf die Problemlagen beschaffen waren, was sie „Spezifisches in das Feld der gesellschaftlichen Verhältnisse einführen“ konnten (Donzelot, zit. in: Lemke 1997, 222) und inwiefern dies zu einer mit grundlegenden Strukturprinzipien des Kapitalismus kompatiblen Transformation der Verhältnisse beitrug. Gegenüber den Grenzen der liberalen Sozialpolitik jenseits des Staates und den Problemen traditioneller legislativer Regulierung stellen die „subtileren und rationaleren Mechanismen der Versicherung“ (Foucault 1999, 282) in vieler Hinsicht eine Alternative dar. Anstelle der asymmetrischen Beziehungen der Mildtätigkeit und des Patronats oder der klar markierten Gegensätze der Parteien in einem arbeitsrechtlichen Prozess wird die Sozialversicherung das symmetrische Band einer vertragsmäßigen Assoziation zwischen den Mitglieder der Gesellschaft in die Produktionsverhältnisse einführen. Diese Assoziation garantiert jedem beitragspflichtigen und leistungsberechtigten Mitglied den Erhalt seiner Existenz und seines Status als unabhängige Person – und zwar unabhängig von den Wechselfällen des Lohnarbeitslebens (Unfälle, Krankheit, Alter) und unabhängig vom Privatbesitz. Dieses Modell, das langfristig in allen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften zum zentralen Instrument der Sozialpolitik wurde, war allerdings alles andere als selbstverständlich. Um das Erstaunliche an der Karriere dieses Archetyps moderner Sicherheitstechniken zu verstehen, ist daran zu erinnern, dass das, was hier Ende des 19. Jahrhunderts etabliert wurde,5 den bisherigen Formen der Regulation ökonomischer und sozialer Prozesse zutiefst widersprach: Die Sozialversicherung unterscheidet sich vom Disziplinarmodell und widerstreitet dem liberalen Prinzip der Zurechnung sozialer Probleme auf die individuelle Verantwortung oder auf die juristisch zu klärende Schuld, da ihre Bezugsgröße nicht das Individuum, sondern eine statistisch-probabilistische Risikoverteilung ist. Ebenso kollidierten die Prinzipien einer allgemeinen Symmetrie zwischen Versicherungsmitgliedern mit den privatwirtschaftlichen Formen eines Patronatswesens, in dem die Gewährung von Fürsorge und Sicherheit für die Arbeiter (betriebliche Schulen, Kranken- und Rentenkassen etc.) mit dem unternehmerischen Kalkül in Form einer asymmetrischen Abhängigkeits- und Autoritätsbeziehung synthetisiert war. Sozialversicherungen desintegrieren dieses innerbetriebliche Autoritätsverhältnis, indem sie Garantieansprüche im Risikofall an die Stelle von Fürsorge und Vormundschaft setzen.6 Für die Plausibilität dieses Modells waren neue Formen vorausgesetzt, in denen die sozialen Beziehungen gedacht werden konnten. War die Ausformung der politischen Ökonomie eng mit der „Geburt“ oder „Entdeckung der Gesellschaft“ (Foucault 2004a, 500f.; Polanyi 1997, 156ff.) verbunden, ging die Durchsetzung des Prinzips der Sozialversicherung mit der „Erfindung des Sozialen“ (Donzelot 1984) einher,

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kämpfe um 1848 (vgl. MEW 7 & 8) gezeigt haben, sind die sozialen Kämpfe keine Zweifrontenkriege mit eindeutigen Gegnerschaften, eher ein Getümmel wechselnder Konstellationen zwischen zahlreichen Klassen, Klassenfraktionen und Interessengruppen, deren Strategien derart miteinander interagieren, dass am Ende ein Ergebnis herauskommt, das so niemand geplant oder gewollt hat. „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Versicherung praktisch nichts“, an seinem Ende wird sie das allgemein akzeptierte Universalmodell zur „Lösung des Konflikts der Verantwortlichkeiten“ (Ewald 1993, 170). Vgl. hierzu ausführlicher: Foucault 2002, 755ff.; Donzelot 1994, 130ff.; Ewald 1993, 131170; Castel 2008, 216-228.

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wobei sich in Frankreich auch eine enge Verbindung zwischen der disziplinären Konstitution der Soziologie und der Durchsetzung des Versicherungsprinzips ergab.7 Im Liberalismus galt Gesellschaft primär als Synonym aggregierter ökonomischer Zusammenhänge, die aus dem Handeln freier Wirtschaftssubjekte beständig hervorgehen und deren Eigengesetzlichkeit der politische Souverän zu akzeptieren hat. Demgegenüber bezeichnet das Soziale einen intermediären Bereich, der weder im Ökonomischen noch im Politischen aufgeht, dessen Gesetzmäßigkeiten und Erfordernisse nicht auf das Handeln und die Interessen von Individuen zurückführbar sind und der zugleich eine Voraussetzung und eine Grenze des Funktionierens von Politik und Ökonomie bildet. In der Ausbildung des soziologischen Denkens wie in der Begründung des Versicherungsprinzips sind die Entdeckung empirischer Regelmäßigkeiten und Wahrscheinlichkeiten (vgl. Ewald 1993, v.a. 171-221) einerseits und die Bildung des Solidaritätsbegriffs – wie er dann bei Durkheim systematisch verwendet wird – andererseits zentral (vgl. ebd., 462ff.; Castel 2008, 243ff.). Die Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf Statistiken objektiviert Regelmäßigkeiten des Auftretens von Ereignissen, die weder auf die Individuen, noch auf die Natur des Menschen8 zurückführbar sind. Dies erlaubt nicht zuletzt auch die Übertragung des für jede Versicherung zentralen Konzepts des kalkulierbaren Risikos auf die Verteilung von Ereignissen in der Gesellschaft. Die um den Solidaritätsbegriff zentrierte Vorstellung einer Sozialität, die – in Umkehr der Blickrichtung der liberalen Theorien – den Individuen stets vorgeordnet ist, fügt dem eine Begründung dafür hinzu, dass soziale Risiken im Rahmen einer Versicherung auch kollektiv zu tragen sind. Denn die Individuen sind hier nicht als selbständige Atome der Gesellschaft vorausgesetzt, sie sind umgekehrt fundamental von den Bändern eines sozialen Zusammenhangs abhängig, dem sie alles verdanken und der daher auch als eine Realität ‚sui generis‘ den Willen und die Interessen jedes Einzelnen transzendiert. Vor dem Hintergrund dieses Denkens lassen sich soziale Fragen nicht in individueller Verantwortung lösen, sondern nur durch eine Aktualisierung und Stärkung der solidarischen Bindungen zwischen den Individuen, die die wechselseitige Entfaltung ihrer individuellen Unterschiede und Freiheiten überhaupt erst ermöglichen. Die sozialen Verpflichtungen sind den ökonomischen und politischen Rechten und Freiheiten der Individuen hier als ihre Bedingung vorangestellt.9

7 8

9

Vgl. hierzu: Ewald 1993, 203ff.; Lemke 1997, 217ff.; Castel 2008, 244ff.; Donzelot 1994. Das markiert eine Differenz zur anthropologischen Begründung des Marktes in der Ökonomie und unterscheidet auch die Begründung der Soziologie bei Comte von jener bei Adolphe Quételet (auf den Ewald 1993, 171-221 sich bezieht). Fügt Comte die Soziologie in das etablierte Narrativ der historischen Entwicklung menschlicher Gattungsanlagen ein, ist mit der statistisch-probabilistischen Objektivierung der Gesellschaft bei Quételet eine radikale „Dezentrierung des Subjekts“ (ebd., 175) verbunden. Gesellschaft ist ein „Synonym für Masse, Vielzahl, Vielfältigkeit, für die Zahl“ (ebd., 178); ‚der Mensch‘ ist nur ein „Mittelwert“ (ebd., 189ff.). Entsprechende Formulierungen finden sich nicht nur bei Durkheim (vgl. u.a. 1988 & 1973). Wie Ewald (vgl. 1993) herausstellt, bildet dieser ‚Solidarismus‘ „eine Art Grundströmung[] um einen obligatorischen, zugleich wissenschaftlichen und ideologischen Bezugspunkt, der eine Unzahl ökonomischer, soziologischer, juristischer und politischer Variationen“ hervorbringt, denen die Suche nach einer neuen „Morallehre“ gemeinsam ist (ebd., 462f., vgl. 464 & 474).

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In diesem Verständnis des Sozialen, dem Durkheims Über soziale Arbeitsteilung einen theoretischen Rahmen nachlieferte, wird gegen den „Irrtum der Ökonomisten“ (Durkheim 1988, 477) die (organische) Solidarität durch Verschiedenheit zur sozialen Bedingung, sowohl des ökonomischen Fortschritts als auch der Freiheit des Individuums in einer differenzierten Gesellschaft (vgl. ebd., 477ff.). Das ermöglichte es prinzipiell auch, das Soziale in neuer Weise als ein Moment der Bedingungen der Freiheit in die liberale Regierungskunst einzubeziehen, zumal der Solidaritätsgedanke sich explizit gegen sozialistische Ziele einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse richtete. Dem Sozialismus wird vorgeworfen, die Zwänge und Gesetzte des Sozialen im Glauben an dessen politische Gestaltbarkeit zu ignorieren. Sozialistische Theorien sehen laut Durkheim in der Gesellschaft nicht „das Zusammenspiel erworbener Fakten, die man studieren muß, sondern eine Art von stets widerrufbarer Gesetzgebung, die jeder Denker aufs neue errichtet“ (Durkheim 1988, 79). Demgegenüber will der ‚Solidarismus‘ eine der bestehenden Gesellschaftsstruktur entsprechende Form der Solidarität innerhalb der bestehenden Ordnung zur Entfaltung bringen. Die ‚organische Solidarität‘ gilt deshalb auch als eine Art ‚Gegenmittel‘ zum Klassenkampf (vgl. ebd., 443ff.).10 Auf dieser Grundlage können auch die Notwendigkeit und die Grenzen staatlichen Handelns neu bestimmt werden. Der Staat gilt nun als Garant und als „sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren Bandes“ zwischen den Angehörigen der Gesellschaft, er hat aber „keineswegs die Rolle des Agenten einer beliebigen politischen Strukturveränderung“ und soll lediglich „der Vervollkommnung wirksamer Solidaritätsbande innerhalb der bestehenden Strukturen“ (Donzelot 1994, 122) dienen. In einer Situation des Scheiterns der klassischliberalen Theorie lag hier auch eine neue Alternative zur drohenden „Option für die sozialistisch-revolutionäre Lösung“ (Lemke 1997, 212). So war das Solidaritätsmodell geeignet, der staatlichen Sozialversicherung als einem Modell der Bewältigung von Problemlagen und Spannungen in der industriekapitalistischen Gesellschaft eine theoretische Begründung zu geben. In Umkehrung der etablierten französisch-deutschen Arbeitsteilung, in der die Franzosen in der politischen Praxis voranstürmten, während in den „deutschen Federbetten“ (Heine) die ideelle Reflexion nachfolgte, wurde aber für die praktische Verwirklichung einer entsprechenden Regulationsform das deutsche Modell der bismarckschen Sozialgesetzgebung ab 1880 wegweisend. Als ‚Zuckerbrot‘ bildeten diese bekanntlich das Gegenstück zur ‚Peitsche‘ der Sozialistengesetze von 1878. Reagierten die Sozialistengesetze mit Verboten auf eine Sozialdemokratie, deren noch nicht domestizierte Rhetorik ihr für viele Zeitgenossen den Charakter einer Umsturzpartei verlieh,11 sollten die Sozialgesetze den Ursachen der Ausbreitung des Sozialismus durch Verbesserung der Lebenssituation des Lohnproletariats auf der Basis staatlicher Absicherungs- und Garantieleistungen entgegenwirken. Gerade im deutschen Fall war die „Versicherung […] nicht das Vorzimmer des Sozialismus, sondern sein Gegenmittel“ (Donzelot

10 Unter der Oberfläche kühler Analyse ist Über soziale Arbeitsteilung auch eine sozialreformerische Programmschrift: Wissenschaftliche Reflexion „kann und muß dazu dienen, das Ziel, das erreicht werden muß, zu verdeutlichen“ (Durkheim 1988, 480). 11 So bezeichnete etwa August Bebel am 25. Mai 1871 die Pariser Kommune in einer Rede vor dem Reichstag als „kleines Vorpostengefecht“ im Vergleich zu den noch kommenden Revolutionen (vgl. Schulze 1996, 135f.).

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1994, 123). Die liberale Kennzeichnung als „Bismarckscher Staatssozialismus“ (Foucault 2004b, 156f.)12 verfehlt sowohl das Ziel als auch die Form des Maßnahmenbündels. Statt die Klassenstruktur oder die Besitzverhältnisse zu verändern, sollte die Unsicherheit, der die besitzlose Arbeitskraft im freien Spiel der Marktkräfte ausgeliefert ist, durch eine Absicherungsmechanik kompensiert werden, um so „das Proletariat […] auf wirksame Weise in den gesellschaftlichen und politischen Konsens“ zu integrieren (ebd., 157). Wenngleich die Standards der allgemeinen Renten-, Kranken- und Unfallversicherungen retrospektiv eher als ein Akt ‚symbolischer Politik‘ erscheinen mögen (kaum ein Lohnarbeiter erreichte das Renteneintrittsalter von 70 Jahren), war ihre Form wegweisend und trug langfristig mehr zur Konstitution eines modernen kapitalistisch vergesellschafteten Arbeitnehmersubjekts bei, als der Umfang der Leistungen. Das Konstruktionsprinzip dieser Sozialgesetzgebung verabschiedete sich konsequent vom Modell öffentlicher Fürsorge und Wohlfahrt für Bedürftige und von jener „zugleich massive[n] und lückenhafte[n] Unterstützung, die im wesentlichen an die Kirche gebunden war“ (Foucault 1999, 282), und setzte auf das Konzept eines mit dem Lohnarbeitsstatus verkoppelten Versicherungssystems: Durch Pflichtbeiträge finanziert verloren die Leistungen den willkürlichen und asymmetrischen Charakter der Mildtätigkeit und gewannen die Form eines Anspruchs, den sich die juristischen Mitglieder im Wortsinne verdient hatten. Was hier ohne Umsturz der Eigentumsverhältnisse durchbrochen wurde, war die von Marx karikierte Form der Freiheit des Lohnarbeiters, der als freies Marktsubjekt zugleich frei von allen Sicherheiten war, die allein der Privatbesitz gewährte. Die Arbeiter erhielten ohne Veränderung der Eigentumsverhältnisse eine alternative Form der Sicherheit in einem kollektiven „Transfereigentum“ (vgl. Castel 2008, 236-282). Der Sozialstaat, der hier erste Konturen gewann, hat dabei nichts mit den irreführenden Begriffsprägungen eines ‚Wohlfahrts-‘ oder ‚Fürsorgestaates‘ zu tun, da dieses Modell kollektiver Risikovorsorge auf einem Modell der symmetrischen und wechselseitigen vertraglichen Absicherung beruht, also gerade nicht nach einem Wohlfahrtsprinzip funktioniert. Bismarcks Sozialgesetzgebung erlangte Vorbildcharakter für andere Staaten mit identischen Problemlagen und machte Deutschland „zum Mekka der ‚neuen‘ Sozialökonomen“ (Donzelot 1994, 115). Obgleich Frankreich eine theoretische Vorreiterstellung hatte, erste legislative Vorstöße bis in die Regierungszeit von Napoleon III. zurückreichten und auch das freiwillige Versicherungswesen fortgeschrittener war (vgl. Ewald 1993, 328-334), verzögerte sich die Etablierung eines dem deutschen Modell vergleichbaren Versicherungssystems, wobei die bei Castel (2008, 249-282) rekonstruierten Debatten zeigen, welche erheblichen Widerstände von Seiten des klassischen Liberalismus – der in Frankreich, anders als in Deutschland, eine gefestigte Position hatte – zu überwinden waren.13 Doch um 1900 schien der Zweifel am Versicherungskonzept auch hier weitgehend ausgeräumt:

12 Foucault paraphrasiert hier den Grundtopos der liberalen Kritik an diesem Modell (vgl. auch Ewald 1993, 352). Vgl. ironisch zu ‚Bismarcks Sozialismus‘ die kleine Schrift von F. Engels in: MEW 19, 166-175. 13 In Deutschland, das seine nachholende kapitalistische Entwicklung erst unter der Protektion des Kaiserreichs absolvierte, war der klassische Liberalismus weit weniger ausgeprägt. In Frankreich mussten bei der parlamentarischen Durchsetzung des Modells größere Wi-

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„Man schwor auf die Versicherung, ob man nun Liberaler oder Sozialist […] war. […] Obwohl die Organisation der Sozialversicherungen Anlass zu zahlreichen Auseinandersetzungen gab, bestand ein Konsens […], daß die sozialen Beziehungen von nun an die Form einer Versicherung annehmen sollen.“ (Ewald 1993, 443)

Der Erfolg und die letztlich breite Anschlussfähigkeit des Versicherungsmechanismus lag zunächst darin begründet, dass er die Form vertragsmäßiger Techniken des Risikomanagements aufgriff, die als genuines Produkt kapitalistischer Entwicklung längst ein „unentbehrliches Teilstück in dem Räderwerk der kapitalistischen Wirtschaft“ (Sombart 1927, Bd. III.2, 683; vgl. ebd., 680ff.) waren. Dabei zielt das zuerst im Transportgewerbe entwickelte Versicherungsmodell in seiner gesamten Anlage nicht darauf, Gefahrenursachen zu beseitigen. Es akzeptiert sie vielmehr, um sie in kalkulierbare und verteilbare Risiken zu verwandeln: Wie ein gewisses Maß an Naturwidrigkeiten und Überfällen zur Normalität des Transports gehören, so gehören Unfälle, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zur Normalität der Gesellschaft. Sie lassen sich weder rechtlich verhindern, noch der individuellen Verantwortung zuschreiben. Sehr wohl aber ist es möglich, die „Ungleichheiten in der Verteilung der sozialen Belastung zu reduzieren“ (Ewald 1993, 21f.), indem alle einen individuell kleinen Vorsorgebeitrage leisten, um für einen Risikofall einzustehen, der jeden, der an einer bestimmten Stelle in der Arbeitsteilung seinen Beitrag leistet, treffen könnte (aber im kalkulierbaren Rahmen nur wenige trifft). Wichtig für die Akzeptanz des Modells war zudem, dass die allgemeine Sozialversicherung zwar durch juridische Maßnahmen flankiert wurde,14 aber ihr Prinzip der Sozialisierung von Risiken einen Bruch mit dem klassischen Recht bedeutete. Hatten Gesetzgebung und Gerichtsprozesse zuvor den Klassengegensatz in einer juristischen Form klar manifestiert, richtet sich das Sozialrecht nun „in der relativ homogenen Sprache der Statistik ein“ (Donzelot 1994, 124) und legt klare Berechtigungssätze für den Risikofall fest, die nicht gegen eine andere Partei erstritten werden, sondern jedem „als Mitglied der Gesellschaft“ zustehen, was „die Solidarität eines jeden mit denen garantiert, die sich in einer [...] aus den Zufällen ihrer Entwicklung herrührenden Notlage befinden“ (ebd., 123). Das macht ein soziales „Bündnisband“ gerade dort sichtbar, „wo die Produktionsstrukturen soziale Klassen zu dem Gedanken verleiten, sie stünden in einem unüberwindbaren Gegensatz“ (ebd.). Indem sich die Versicherung auf ein Bevölkerungskontinuum bezieht, in dem es Unterschiede der Risikoverteilung, aber keine antagonistische Spaltung gibt, löst sie die Klas-

derstände überwunden werden, wobei ab 1880 die Orientierung am deutschen ‚Erbfeind‘ ebenso zentral wie problematisch war (vgl. Ewald 1993, 351f.). Ein Gesetz zur allgemeinen Unfallversicherung, dessen erste Entwürfe auf 1880 datieren, wurde erst 1898 verabschiedet; erst 1905 kamen Gesetze zur Kranken- und Rentenversicherung hinzu, eine Arbeitslosenversicherung folgte in Frankreich erst 1958. 14 Foucaults (vgl. 2004a, 21ff.) Feststellung, dass die Etablierungen der Sicherheitstechniken von einer expansiven Gesetzgebung begleitet war, trifft auch in diesem Fall zu. Aufgrund der „großen Einheitlichkeit des […] vorgeschlagenen Schutzes gegen die von der Arbeiterklasse eingegangenen Risiken erfordert die Versicherungstechnik die Aufstellung allgemeiner Normen, die überall gültig und anwendbar sind“ – etwa „in Bezug auf Stunden, Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit, das Alter und die Beschäftigung des Arbeiters“ (Donzelot 1994, 131).

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senstruktur in den Produktionsverhältnissen nicht auf, führt aber in diese Verhältnisse eine allgemeine und gleiche Teilhabe an einem Kollektivgut ein, das (jenseits der radikalen Lösung der Sozialisierung des Privatbesitzes) nun auch denen, die über kein Privatvermögen verfügen, jene Sicherheit der Erhaltung der eigenen Person gewähren, die nach Marx der „höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW 1, 365) ist. Damit impliziert das Prinzip allgemeiner Sozialversicherung eine Dimension, die Marx in der kapitalistischen Gesellschaftsformation als Potenzialität angelegt sah, deren Realisierung er aber erst in einer postkapitalistischen Gesellschaftsform, die „aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen“ (MEW 19, 21) hervorgehen könnte, für möglich hielt. Der „enge bürgerliche Rechtshorizont“, in dem ein formal gleiches Recht „ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach“ ist (ebd. [Hervh. i.O.]), da es die Unterschiede der Lebensverläufe und Fähigkeiten der Individuen nicht anerkennt und so Ungleichheiten ihrer Lebensmöglichkeiten zementiert, könne nur überschritten werden indem die Ungleichheit der Individuen derart anerkannt wird, dass sich ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Produkt nicht nach einem Äquivalenzprinzip an ihrer Leistung bemisst, sondern (von jedem Prinzip der Verrechnung von individuellen Wert- oder Leistungsäquivalenzen unabhängig) nur an der Sicherstellung ihrer Bedürfnisse (vgl. ebd.). Nun bleibt eine kapitalistische Gesellschaft auch mit Sozialversicherung denkbar weit von dieser Utopie entfernt. Gleichwohl findet hier eine Überschreitung des von Marx geschilderten Rechtshorizonts in dem Sinne statt, dass Versicherungen nicht auf dem Prinzip eines Äquivalenztauschs beruhen, sondern vielmehr die Ungleichheit anerkennen, in der die Individuen von gesellschaftlichen Risiken getroffen werden, um diese Ungleichheit nach einem Prinzip der Risikoumverteilung auszugleichen. Die Leistung, auf die der Einzelne im Risikofall ein Anrecht erwirbt, richtet sich nicht nach dem individuell eingezahlten Beitrag, sondern ausschließlich nach dem besonderen Bedürfnis, das ihm durch Unfall, Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit entsteht.15 Innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse hat dies freilich auch die Funktion, die weiterhin privatkapitalistisch organisierten Prozesse der Wert(ab)schöpfung sicherzustellen. Was Foucault mit Bezug auf die philanthropischen und patronatsförmigen Institutionen „der Arbeitersiedlung, der Sparkasse oder der Unterstützungskasse“ feststellte, nämlich dass sie „in einer sanften, diffusen Form“ auch die Funktion haben, das Proletariat an das Gefüge des (kapitalistischen) „Produktionsapparats zu binden“ (Foucault 2002, 755f.; vgl. Foucault 1983, 124f.), wird durch die Systeme der allgemeinen Sozialversicherung zu einer staatlich organisierten und rationalisierten Funktion. Damit – wie mit einer Reihe anderer Mechanismen (Arbeitsschutzbestimmungen, Kündigungsfristen, Tarifbindung etc.), die die Risiken, denen die Arbeitskraft ausgesetzt ist, kompensierten und den Arbeitsvertrag dem freien Spiel der

15 1843 traf die Formulierung in Marx’ Dekonstruktion der Menschenrechte zu: „Durch den Begriff der Sicherheit erhebt sich die bürgerliche Gesellschaft nicht über ihren Egoismus. Die Sicherheit ist vielmehr die Versicherung ihres Egoismus.“ (MEW 1, 366) Dort war die Sicherheit des Privateigentums und die Freiheit und Gleichheit des Kapitalverhältnisses der in Form der Menschrechte ausgedrückte Inhalt. Die mit der Sozialversicherung in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingeführte Sicherheit funktioniert jedoch ersichtlich nach anderen Prinzipien.

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Marktkräfte entzogen, um ihn zur Grundlage eines mit zahlreichen Schutzklauseln versehenen Rechtsstatus zu machen (vgl. Donzelot 1994, 139; Castel 2008, 285-335; 2001, 14ff.) – etabliert sich eine mit der kapitalistischen Produktionsweise konforme Absicherungsmechanik zur Verarbeitung der ‚sozialen Frage‘. Dass die entsprechenden Sicherheitstechnologien gegen das freie Spiel der Marktkräfte und gegen Tendenzen des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses politisch erkämpft und durchgesetzt werden mussten, sollte also nicht dazu verleiten, sie in einen substantiellen Gegensatz zur Logik der kapitalistischen Marktgesellschaft zu stellen.16 Auch für diese Aspekte der Etablierung eines allgemeinen Sicherheitsdispositivs gilt, dass seine Ausweitung auf „die ausgebeutete Klasse […] nicht der Klassenbehauptung gegen das Bürgertum dienen konnte, sondern ein Instrument von dessen Hegemonie blieb“ (Foucault 1983, 124). Die kapitalistische Ökonomie ist dabei aber ebenso eine gesellschaftliche Form wie die auf ihre sozialen Effekte reagierenden Sicherheitstechniken, und entgegen der binären Opposition zwischen dem sozialen Staat und dem Marktprinzip (die liberale und soziale Theoretiker mit gegensätzlichem Votum teilten) erwiesen sich im 20. Jahrhundert verschiedene Spielweisen von Sicherheitstechniken mit der kapitalistischen Marktökonomie nicht nur als kompatibel, sie wurden zum konstitutiven Moment der Produktionsverhältnisse, nicht nur, indem sie ihren Erhalt garantierten, sondern auch, indem sie zunehmend zu einer neuen Triebkraft ihrer Entwicklung wurden (s.u. 6f.). Statt dass das Sozialrecht, wie von den Gegnern prophezeit, durch seine „Willkürmacht zugleich die Quellen der liberalen Wirtschaft beseitigt“, schuf es auch die Möglichkeit, „eine vollkommen andere Art des Arbeitsmanagements einzurichten“, das den Unternehmer „von der endlosen Inanspruchnahme durch das Überwachen und Bestrafen einer widerspenstigen Arbeiterklasse befreit“, um ihn zugleich zu befähigen, „in einen Vertrag mit dieser Klasse einzutreten, der weniger durch Herrschaft vergiftet ist und dafür mehr mit Produktivität zu tun hat“ (Donzelot 1994, 134f.). Ähnlich sah Sombart (vgl. 1927, Bd. III.2, 658ff.) in den Formen eines kollektiven Arbeitsvertrags ein Moment der Versachlichung und Rationalisierung, das gerade den Unternehmen zugute käme, da es Kalkulations- und Planungssicherheit garantiert, die innerbetrieblichen Reibungspunkte reduziert (vgl. auch ebd., 670ff.) und zugleich durch Lohn- und Statusverbesserung auch die Arbeiter „mit kapitalistischem Geist erfüllt“ (ebd., 688) und zu Leistungen motiviert. Gleichwohl blieb die Sozialversicherung Gegenstand (neo-)liberaler Kritiken, die sich einerseits gegen den Zwangscharakter der Pflichtversicherung richteten, die Teile des Einkommens der freien Verfügung entzieht, andererseits gegen die Erhöhung der Lohnkosten, die nun neben den unmittelbaren Reproduktionskosten der Arbeits16 Dazu tendiert etwa Polanyi (1997), für den „die Geschichte der Zivilisation des 19. Jahrhunderts weitgehend“ aus Versuchen bestand, „die Gesellschaft“ vor den durch den Mechanismus der kapitalistischen Marktwirtschaft „hervorgerufenen Verheerungen zu schützen“ (ebd., 68). Das ist nicht gänzlich falsch, jedoch verbindet sich der Begriff des „Selbstschutzes“ oder der „Verteidigung“ der Gesellschaft, wie Foucault (vgl. 1999, 52-75) aufzeigt, leicht mit der Suggestion einer klaren Binarität zwischen der Einheit der Gesellschaft und den Gefahren, gegen die sie geschützt werden muss. Solche binären Schematisierungen hatten im 20. Jahrhundert nicht nur radikale politische Konsequenzen, die Foucault am „Staatsrassismus“ aufzeigt (vgl. ebd., 299-305; auch Lemke 1997, 224ff.), sie bilden auch ein epistemologisches Hindernis in der Analyse sozio-ökonomischer Wechselbeziehungen.

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kraft, einen zusätzlichen Versicherungsanteil enthalten mussten.17 Damit bewegt sich die Sozialgesetzgebung in einem kontinuierlichen Konflikt mit den Unternehmern, da sie in dieser Hinsicht als eine Behinderung, wenn nicht als „maximale Verhinderung des individuellen Profits“ (Donzelot 1994, 138) erscheint. Umgekehrt lassen sich die mit dem Solidarprinzip verbundenen Vorstellungen sozialer Verpflichtung wieder in eine Kritik der Wirtschaftsform oder der ökonomischen Handlungsagenten wenden, wo die Ursachen von Risiken, die die Arbeiter treffen, auf die „individualistischen Profitinteressen des Arbeitgebers“ zurückführbar sind. In einer „Perspektive der sozialen Rationalität“ behält daher „der ökonomische Faktor“ weiterhin „ein gefährliches Element der Irrationalität, […] das aus der individualistischen Logik des Unternehmens entsteht, aus ihrer Festlegung auf den Profit weniger statt auf das Wohlergehen aller.“ (Ebd.) Gerade wo sozialstaatliche Reglementierungen die Reibungspunkte im unmittelbaren Produktionsprozess minimieren, artikulieren sich die verbleibenden Konfliktpotenziale nun ganz in der Entgegensetzung von ökonomischem Profitinteresse und (gewerkschaftlich artikulierten) sozialen Forderungen nach Sicherheit, Schutz und Status des Arbeitnehmers. Statt Spannungen aufzulösen, bewirkt die sozialrechtliche Standardisierung „lediglich eine Verlagerung des bisher Arbeit und Kapital unmittelbar einander entgegensetzenden Konflikts auf die Ebene dieser beiden Abstraktionen – die soziale und die ökonomische“ (ebd., 140). Nach dem Ersten Weltkrieg erscheint der Staat, der mit dem Anspruch angetreten war, die Förderung des Sozialen und die Wahrung der ökonomischen Interessen in einem verbindenden Fortschrittsmodell zu integrieren, zunehmend als Spielball der außerstaatlichen Kräfte gewerkschaftlicher und unternehmerischer Interessenverbände.18 Hier wurden Positionen anschlussfähig, die es gestatteten, die Sicherheitstechnologien weiterzuentwickeln und zugleich den Konflikt von sozialer und ökonomischer Logik durch ein beide Seiten funktional integrierendes Modell suspendierten. Neben (und vor) dem keynesianischen Ansatz, der für die Neubestimmung der Rolle des Staates zentral werden sollte, war es das privatwirtschaftliche Modell des Fordismus, das eine solche integrative Lösung anbot. Für Fordismus und Keynesianismus ist kennzeichnend, dass sie das Soziale und das Ökonomische nicht als Gegensatzpole behandeln, sondern als sich wechselseitig voraussetzende Elemente eines dynamischen Zyklus, in dem ‚soziale‘ Sicherheitstechnologien gerade ‚ökonomische‘ Funktionen der Produktivitäts- und Absatzsteigerung erfüllen, die den privatwirtschaftlichen Profit zu steigern vermögen. Wenn mit Foucault das Disziplinardispositiv ein wesentliches Element für die Konstitution des Kapitalismus bildete, so wird spätestens hier das Sicherheitsdispositiv ein wesentliches Element der Metamorphose des Kapitalverhältnisses und vielfältiger Transformationen der konkreten Modi kapitalistischer Vergesellschaftung. Statt den Kapitalismus aufzuheben, waren es verschiedene auf der Logik von Sicherheit und Normalisierung beruhende Techniken der Regu-

17 Vgl. u.a. Friedman 1980, 78-84, 114-124 & 127-134. Faktisch schließen beide Argumente einander aus, da ersteres unterstellt, die Versicherungsleistung sei ein Teil des Einkommens, der der Arbeitskraft sonst frei verfügbar wäre; letzteres dagegen auf der Beobachtung beruht, dass die Löhne ohne die staatlich auferlegten Zusatzkosten niedriger wären und keinen Anteil für private Versicherungsleistungen enthielten. 18 Vgl. dazu Donzelot 1994, 140-150; Polanyi 1997, v.a. 270-329; Offe 1972.

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lation, die nach den tiefen Krisenerfahrungen in Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 eine grundlegende Neubestimmung „des Möglichkeitsraums, den der Kapitalismus noch hat“ (Foucault 2004b, 232), bewirkten. Dies soll im Folgenden zunächst am Fordismus und Keynesianismus herausgearbeitet werden, um im Anschluss auf verschiedene Spielweisen des Neoliberalismus einzugehen. Zwar hat Foucault Fordismus und Keynesianismus nur beiläufig erwähnt und nie zum Gegenstand einer systematischen Analyse gemacht, sie spielen aber für die Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung im 20. Jahrhundert eine wesentliche Rolle und eignen sich – entgegen der häufig unreflektierten Gleichsetzung von Fordismus und Keynesianismus mit ‚der Disziplinargesellschaft‘19 – zur Diskussion und Illustration von Foucaults These einer Verschiebung der relationalen Verhältnisse zwischen Disziplinar- und Sicherheitstechnologien. Zugleich sind sie ein wichtiger Bezugs- und Abgrenzungspunkt für die von Foucault untersuchten Formen neoliberaler Gouvernementalität. Fordismus und Keynesianismus bilden insofern historisch und epistemologisch ein entscheidendes Zwischenglied zwischen der klassischen liberaler Gouvernementalität und den verschiedenen Varianten des Neoliberalismus, die Foucault (2004b) ausführlich analysiert hat. Wenn hier also gesondert auf die Regulations- und Regierungsformen des Fordismus und Keynesianismus eingegangen wird, die Foucault selbst nur in Abgrenzung zum deutschen und amerikanischen Neoliberalismus streifte (vgl. u.a. ebd., 105, 117f., 306f., 442), 20 so geht es dabei auch darum, eine zentrale Frage Foucaults weiter zu verfolgen: ob unsere „Gesellschaft dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden […,] ob man tatsächlich von einer ‚Sicherheitsgesellschaft‘ sprechen kann […,] ob es […] eine Gesamtökonomie der Macht gibt, welche die Form der Sicherheitstechnologie hat oder jedenfalls von ihr dominiert ist“ (Foucault 2004a, 26). Um zu verstehen, warum entsprechende Techniken an einem bestimmten Punkt der Entwicklung für den Kapitalismus anschlussfähig werden und welche Transformation der Produktionsverhältnisse und Subjektivierungsformen sie mit sich bringen, ist zunächst aber ein Rückgriff auf Marx sinnvoll.

19 So identifiziert Fraser (vgl. 2003, 239-258) mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit Fordismus mit Disziplin und sieht die Beschränkung von Foucaults Analysen darin, dass dieser, im keynesianischen ‚Wohlfahrtsstaates‘ schreibend, eine für die ‚postfordistische‘ Gegenwart unzutreffende Analyse der Disziplinargesellschaft angeboten habe. 20 In einem geplanten Seminar in Berkeley zur Analyse des modernen Sozialstaates und im Kontext des von Foucault geplanten Forschungszentrums zum Studium der modernen Ideen von Regierung hätte zumindest der Keynesianismus wohl eine weit größere Rolle gespielt. Beides wurde jedoch nicht realisiert. Vgl. dazu: Lemke 1997, 239, Fn. 90.

6 Die Regulation der ‚natürlichen‘ Kreisläufe – Fordismus und Keynesianismus

6.1 L OHN – K ONSUM – S UBJEKTIVIERUNG . E IN R ÜCKBLICK AUF M ARX „Die Konsumtion ist unmittelbar auch Produktion […]. Daß in der Nahrung z.B., einer Form der Konsumtion, der Mensch seinen eignen Leib produziert, ist klar. Es gilt dies aber von jeder andren Art der Konsumtion, die in einer oder der andren Art den Menschen nach einer Seite hin produziert.“ „Daß übrigens die unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann – wie sie vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus erscheint –, versteht sich von selbst.“ KARL MARX (MEW 42, 26 & 607)

In einer Rangliste der verbreiteten Kritiken an Marx’ Theorie des Kapitalismus hätten folgende Vorwürfe vordere Plätze verdient: Marx vernachlässigt die Rolle des Konsums, da er alles von der Produktion her sieht; er hat kein Verständnis für die qualitative Dimension der wertbildenden Arbeit, da er Arbeit einzig auf quantifizierbare Größen von Kraft und Zeit reduziert; er sieht das Subjekt einzig vom Attribut der Arbeit her und kann die subjektivierende Funktion des Konsums nicht verstehen. Tatsächlich aber spielte der Konsum, seine Wirkungen auf die Qualität der Arbeitskraft und die damit verbundene subjektivierende Funktion in Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktion in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Rolle. Neben der dialektischen Grundbetrachtung des produktiven Charakters des Konsums und des konsumtiven Charakters der Produktion1 ist der Konsum in Marx’ dem Kreislaufkonzept Quesnays verpflichteten Modell ein zentrales Funktionselement der Reproduktionsschemata (vgl. MEW 24, 351-518) und zugleich ein Dreh- und Angelpunkt der Konjunktur- und Krisentheorie, in der die mangelnde Abstimmung von Produktion und

1

„Produktion [ist] unmittelbar auch Konsumtion“ von Fähigkeiten, Produktionsmitteln und Rohstoffen. Umgekehrt ist „Konsumtion unmittelbar auch Produktion“ des Körpers, der Fähigkeiten etc. (MEW 13, 622f.).

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Konsum und das Auseinanderklaffen von Produktions- und Konsumtionskraft der Gesellschaft auf der Grundlage antagonistischer Distributionsverhältnisse die Schlüsselfaktoren sind (s.o. III.2.2). Über diese funktionale Verknüpfung der Quantitäten von Produktion und Konsum hinaus spielt der Konsum aber auch in der qualitativen Formung des Arbeiters, die im Fortgang der kapitalistischen Produktionsweise immer wichtiger wird, eine zentrale Rolle. Wollte man Marx’ Missverständnis prägnant auf den Punkt bringen, so lag es nicht darin, die Rolle des Konsums für die Produktion und für die qualitative Formung der Arbeitskraft übersehen zu haben, sondern in der Überzeugung, dass der Kapitalismus genau hier an den von ihm selbst geschaffenen Erfordernissen und Potenzialen scheitern müsse. Es wurde oben (III) gezeigt, dass die Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsform, in der auch zyklische Krisen die „Erweiterung der Produktion“ (MEW 25, 265) befördern, die permanente Revolution der Produktionstechniken und aller gesellschaftlichen Verhältnisse zum Grundgesetz dieser Produktionsweise macht. Das betrifft auch die gesellschaftlichen Formen von Arbeit und Individualität. Permanente technische Innovationen, die Expansion der Sektoren von Luxusproduktion, Dienstleistung und Wissensproduktion sowie ein hoher Qualifikationsbedarf in den wissenschaftlich überformten Produktionsbereichen führen dazu, dass die Arbeitsbevölkerung sich immer rascher der veränderten Nachfrage nach verschieden spezialisierter Arbeit anpassen muss (vgl. u.a. ebd., 274): „Wenn aber der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur […] mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes durchsetzt, das überall auf Hindernisse stößt, macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod, den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen. Sie macht es zu einer Frage von Leben oder Tod, die […] für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des Kapitals in Reserve gehaltenen disponiblen Arbeiterbevölkerungen zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.“ (MEW 23, 512)

In Gegenwartsterminologie geht es Marx hier also um ‚flexible Biographien‘ und ‚lebenslanges Lernen‘ für die ‚Wissensgesellschaft‘.2 Erfordert ist dafür nicht nur der „Fortschritt der Wissenschaft und Volksbildung“, der die notwendige Vorbildung „immer rascher, leichter, allgemeiner, wohlfeiler reproduziert“ (MEW 25, 311), auch der durch die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit und die Massenproduktion expandierende Konsum- und Freizeitbereich wird zum zentralen Faktor des Produktionsprozesses: nicht nur weil der „Konsument […] Produzent seiner Befriedigung“ wäre (Lepage 1979, 185) oder der Konsum „den Produkten erst das Subjekt schafft“ (MEW 13, 623), sondern vor allem, weil sich durch Freizeit und Konsum das Individuum „in ein andres Subjekt verwandelt“, als welches es „in den unmittelbaren Pro-

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Entsprechende Tendenzen können keine „Widerlegung“ von Marx darstellen (so etwa Stehr 1994), da sie den von ihm herausgearbeiteten Tendenzen kapitalistischer Entwicklung entsprechen.

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duktionsprozeß“ zurückkehrt (MEW 42, 607). Konsum und Freizeit sind auch in diesem ganz konkreten Sinne eine Instanz der Produktion, da nur hier die vorausgesetzten Qualitäten der Produzenten produziert werden: „Die wirkliche Ökonomie – Ersparung – besteht in Ersparung von Arbeitszeit; […]; diese Ersparung aber identisch mit Entwicklung der Produktivkraft. Also keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwickeln von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten wie der Mittel des Genusses. Die Fähigkeit des Genusses […] ist Entwicklung einer individuellen Anlage, Produktivkraft. Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. Sie kann vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus betrachtet werden als Produktion von capital fixe; dies capital fixe being man himself.“ (Ebd. [Hervh. i.O.])

Marx hat in solchen Überlegungen Konsum, Freizeit, Bildung etc. lange vor den Ökonomen des 20. Jahrhundert als „Investment in Human Capital“ (Becker 1993, 29158; Schultz 1971; s.u. 7.2) analysiert, wenn auch nicht ‚mikroökonomisch‘, sondern in makroökonomisch-soziologischer Perspektive.3 So ist die Kritik kaum zutreffend, das er die „qualitative[n] Modulationen“ der Arbeitskraft und deren „wirtschaftliche Wirkungen“ außer acht gelassen habe, wie Foucault (2004b, 307ff.) eine mögliche Antwort skizziert, die neoliberale Humankapitaltheorien Marx geben könnten, wenn sie ihn nicht aus einem „ökonomischen Snobismus“ (ebd.) heraus ignorieren würden. Marx’ Fehleinschätzung lag jedoch darin, die tendenziell zunehmende Bedeutung der qualitativen Subjektformierung in Konsum und Bildung für den kapitalistischen Produktionsprozess als mit der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse letztlich unvereinbar anzusehen. Entsprechende Tendenzen gelten so als ein Moment der im Kapitalismus ‚ausgebrüteten‘ gesellschaftlichen Produktivkräfte, die als ‚Umwälzungsmomente‘ der alten und ‚Bildungsmomente‘ einer neuen Gesellschaftsformation schon in ihrer kapitalistischen Entwicklung über den Kapitalismus hinaus weisen. Wie die von der Dynamik der Kapitalverwertung vorangepeitschte Entwicklung der Produktionstechniken und der Arbeitsorganisation im Großen müsste auch die von dieser Entwicklung erforderte Form der Subjektivierung „unverträglich“ mit der „kapitalistischen Hülle“ der Produktionsverhältnisse werden, die schließlich „gesprengt“ würde (MEW 23, 791; vgl. kritisch Schumpeter 1971, 337f.). In Widerspruch zur Betonung der beispiellosen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft betrachtete Marx also auch hier die „Schranken“, die die kapitalistische Logik der Entwicklung der von ihr entfesselten Produktivkräfte setzt, als zu eng und unterschätzte zumindest teilweise die Variabilität der Produktionsverhältnisse. Allerdings bleibt Marx’ Argumentation ambivalent. Denn die Grenzen der „Konsumtionskraft der Gesellschaft [...] auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse“ auf ein nur bedingt „veränderliches 3

Zwar verspottete Marx (MEW 25, 483f.) die Anthropologisierung der gesellschaftlichen Kapitallogik, die nun auch das Individuum als sich selbst verwertenden abstrakten Wert erscheinen lässt, wie dies noch jüngste Definition von Humankapital als „human“, da im Menschen verkörpert, und „Kapital“, da Grundlage künftiger Erträge (Schultz 1971, 48) prägt, er teilte aber den Grundgedanken der (stofflichen, auf die Gebrauchswertseite bezogenen) Verbundenheit von Produktion und Konsum.

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Minimum reduziert“, und der Widerspruch „zwischen den Bedingungen, worin [der] Mehrwert produziert, und den Bedingungen, worin er realisiert wird“ (MEW 25, 254f.), sind keine absoluten, sondern historisch verschiebbare Größen, wenn man (wie Marx es tat) die Bindung des Arbeitslohnes an ein existentielles Minimum aufgibt. Das Erscheinungsbild des Kapitalismus im 19. Jahrhundert ließ Zweifel zu, ob diese Produktionsweise die zu ihrem Fortbestand notwendige Veränderung der Existenzbedingungen der Produzenten gewährleisten könnte. Produktionsverhältnisse sind jedoch nichts Fixes und umfassen mehr als die Spannung von Profitinteresse und Arbeitslohn. Man mag dies als Hinweis dafür nehmen, dass „Marx, oder jedenfalls die Marxisten, sich irren, wenn sie den ausschließlichen […] Ursprung der Rationalität/Irrationalität der kapitalistischen Gesellschaft in der widersprüchlichen Logik des Kapitals und seiner Akkumulation“ sehen (Foucault 2004b, 248). Stattdessen sind die komplexen Verhältnisse und Technologien zu betrachten, welche den Logiken von Kapital und Akkumulation erst ihren konkreten Charakter verleihen. Hier markieren Fordismus und Keynesianismus eine tiefgreifende Transformation.

6.2 D IE R ÜCKKOPPLUNG VON M ASSENPRODUKTION UND KONSUM ODER DIE N ORMALISIERUNG DES L OHNSUBJEKTS . D AS P ROJEKT DES F ORDISMUS „Die Lohnfrage schafft neun Zehntel aller psychischen Fragen aus der Welt, und die Konstruktionstechnik löst die übrigen.“ HENRY M. FORD (1923, 138) „Die Produktion produziert […] nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.“ KARL MARX (MEW 42, 27)

Nicht umsonst wurde die ‚Akkumulationsstrategie‘ oder der ‚Akkumulationsmodus‘, der sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 herausbildete und nach dem Zweiten Weltkrieg als Modell einer langfristigen, durch die Kriegszerstörung zusätzlich begünstigen, Wachstumsphase fungierte, oft mit dem Begriff des Fordismus bezeichnet. Schließlich steht der Namensgeber Henry M. Ford nicht nur für eine weit fortgeschrittene innerbetriebliche Rationalisierung und Effizienzsteigerung, sondern weit darüber hinaus für ein Gesamtprogramm kapitalistischer Vergesellschaftung, das sich von den früheren Modi grundlegend unterscheidet. Am Beispiel Fords bzw. des Fordismus zeigt sich deutlich, dass ein bestimmter Modus der Kapitalakkumulation mehr umfassen muss als nur technische Innovationen. Wenn sich die „gesamte industrielle Aktivität von Henry Ford“ als „fortwährender, unaufhörlicher Kampf, um dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate zu entgehen“ (Gramsci 1991ff., 1292), verstehen lässt, so umfasste dies über die Umgestaltung des unmittelbaren Produktionsprozesses hinaus auch eine Neugestaltung der Produktions- und Distributionsverhältnisse sowie einen grundsätzlich neuen Modus der Subjektivierung der Lohnarbeitskräfte. Dabei enthielten die von Ford (bzw. seinen Ghostwritern) verfass-

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ten programmatischen Publikationen bereits alle zentralen Prinzipien, die dann in der keynesianischen Form staatlicher Regulation entfaltet werden sollten.4 Die zentrale ‚Entdeckung‘ Fords war die des Lohnarbeiters als Konsumenten und des Lohns als Schaltstelle einer regulierten Verknüpfung von Produktion, Distribution und Konsum. Das impliziert zugleich eine neue Form der Vergesellschaftung, Subjektivierung und Integration, die – entgegen der verbreiteten Wahrnehmung der fordistischen Fabriken als vollendetes Disziplinarregime, in dem konservative wie marxistische Kritiker primär die vollendete Subsumption des Menschen unter die Maschine (bzw. unter das Kapital) sahen5 – gerade nicht mehr disziplinarisch ist. Fords Programmatik setzt weniger auf normierende Formung der Subjekte und mehr darauf, bestimmte Verhaltensweisen durch die Ermöglichung von Konsum wahrscheinlich zu machen. Das dem zugrunde gelegte Regulationsmodell ist ebenso frugal wie das Automobil, dem Ford seine Erfolg verdankt, und braucht, neben der technischen und organisatorischen Effizienzsteigerung, nur eine dafür aber polyfunktionale Regelgröße: den Lohn. Dieser leistet die innerbetriebliche Motivation, die makroökonomische Rückkopplung von Produktion, Distribution und Konsum und ermöglicht neue Formen gesellschaftlicher Integration und Individuierung durch Konsum. Fords Projekt soll zunächst (1.) hinsichtlich der Funktionen des Lohnmechanismus für innerbetriebliche Motivation und Kontrolle sowie für die Etablierung einer dynamischen Rückkopplungsschleife zwischen Produktausstoß und Konsum skizziert werden; sodann (2.) ist herauszuarbeiten, welche neue Form integrativer Subjektivierung die Stellung der Arbeitskräfte in diesem Regelkreis beinhaltet; abschließend wird (3.) zu zeigen sein, warum dieses Projekt auf rein privatwirtschaftlicher Ebene nicht realisierbar war und in seinen faktischen Wirkungen zur Weltwirtschaftskrise beitrug. Erst die Transponierung des fordistischen Regelkreises auf die Ebene staatlicher Regulation im Keynesianismus verlieh ihm langfristige Prägekraft (s.u. 6.3). (1.) Die fordistische Lohnform unterscheidet sich radikal von allen vorangegangenen Steuerungen der Arbeitskraft durch die Lohngröße: Der Zeitlohn, wie er sich im 18. Jahrhundert durchsetzte, sollte nur den Kauf von Arbeitszeit zu möglichst niedrigen Kosten garantieren, beschränkte sich auf die Sicherstellung der Reproduktion der Arbeitskraft und überließ alle Fragen ihrer Nutzbarmachung der Fabrikdisziplin. Andere Formen, die den Lohn durch abgestufte Leistungsgratifikation als Steuerungsgröße zur Steigerung der Produktivität gebrauchten – der Stück- und Akkordlohn wie auch die ausgefeilte Feinmechanik des Taylorschen Differentiallohns6

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Vgl. zum Begriff des keynesianisch-fordistischen Akkumulationsregimes u.a. Hirsch/Roth 1986, 46-103. Eine grundlegende, leider fragmentarisch gebliebene Studie zum „fordistischen Sozialcharakter“ bietet Lüscher 1988. Vgl. zur simplen Formel Fordismus=Disziplin; Post-Fordismus=Postdisziplin u.a. Fraser 2003, 239-258. Einige Marxisten sahen die Fordfabriken gar als auf Angst und Gewalt beruhende kapitalistische „Konzentrationslager“ (Bernstein 1966, 737). Es geht nicht darum, Fords Betriebsführung gegen solche Darstellungen zu idealisieren, sie implizierte auch ein repressives Vorgehen gegen gewerkschaftliche Selbstorganisation etc. Eine Konzentration auf diese Aspekte und Klassenkampfrhetorik verfehlt jedoch die neuen und wirksamen Integrationsangebote innerhalb des fordschen Modells. Der Differentiallohn versieht den Akkordmechanismus mit einem Zusatzanreiz, indem die Akkordsätze bei Überschreitung bestimmter Leistungspensen progressiv steigen oder bei

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– folgten völlig der disziplinarischen Logik einer normierenden Sanktion individueller Leistungen. Ford setzte zwar mit Extrazuwendungen auch positive Sanktionen ein, seine generelle Hochlohnstrategie aber, die mit dem „5-Dollar-Lohn“ für den 8Stunden-Tag ungelernten Fordarbeitern einen Mindestlohn garantierte, der ca. 100% über dem damaligen Durchschnittsverdienst eines Arbeiters lag,7 musste vor dem Hintergrund aller bisherigen unternehmerischen Kalküle absurd erscheinen. Allerdings zielt dieser – später auf 6, 1930 auf 7 Dollar erhöhte – Mindestlohn auch auf eine Form der Regulierung, die sich nicht mehr auf disziplinarischer Ebene bewegt. Hier erhält die Regelgröße des Lohns eine dreifache Funktion: Sie soll a) alle anderen Methoden der Arbeitsmotivation und -kontrolle ersetzen; b) durch quantitative Kaufkraftsteuerung Produktion und Absatz rückkoppeln und schließlich eine qualitative Rückkopplung von Konsum, Markt und Produktion einrichten, indem sie die Ausprägung von der neuen Produktions- und Distributionsform entsprechenden Dispositionen wahrscheinlich macht. a) Die Ford-Werke, die auch im Hinblick auf rationalisierte Massenproduktion ein Markstein kapitalistischer Entwicklung waren,8 hatten anfangs angesichts der Monotonie der Tätigkeit mit geringer Motivation und hoher Fluktuation der Arbeitskräfte zu kämpfen (vgl. Ford 1926, 202f.), lösten dieses Problem aber statt mit Disziplin durch den „5-Dollar-Lohn“, der qualitative Fragen der Motivation und Integration aus den Produktionsabläufen in die Sphäre des individuellen und individuierenden Konsums auslagerte, die nur durch die Schnittstelle der Lohntüte mit der Produktion verbunden war (vgl. Ford 1923, 135-152). Der Hochlohn bot einen universellen sachlichen Anreiz für die Eingliederung in die Fabrik und gestattete es, alle soziokulturellen Besonderheiten der Arbeiter (die zum Großteil Migranten waren) zu ignorieren und zudem den Aufwand äußerer Kontrolle zu vermindern: „Die Leute sind so daran gewöhnt, hohe Löhne zu bekommen, daß eine Überwachung überflüssig geworden ist“ (ebd., 157). Gleichzeitig war dieser Stimulus, wie Ford betonte, auf nichts „Menschliches“ angewiesen.9 In einer Zeit, in der die meisten Problematisierungen der desintegrativen Folgen moderner Industrieproduktion auf die Reaktivie-

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Unterschreitung regressiv sinken. Vgl. dazu u.a. Sombart 1927, Bd. III.2, 937f. Vgl. zu den verschiedenen Lohnformen grundlegend MEW 23, 565-589 und differenziert hinsichtlich ihre Genese und Ausprägung Sombart 1927, Bd. III.2, 427ff. & 670ff. Hochlohn reiche aus, die Arbeitsleistung zu verdoppeln und darüber hinaus: „Die Leute wissen genau, sie werden mehr erhalten sobald sie eine höhere Bezahlung wert sind.“ (Ford 1926, 250; vgl. 1923, 157f.; 1930, 66f.) Effiziente Produktion war die Grundlage des Hochlohns (vgl. Ford 1923, 139ff.). Auf der Produktionsseite bestand Fords Innovation aber vor allem in der Optimierung und Neukombination bereits existenter Produktionsverfahren. So war das Fließband schon in den Schlachthöfen Chicagos erprobt. Eine wesentliche Produktivitätssteigerung wurde möglich, da Ford erstmals die maschinelle Produktion von völlig standardisierten Einzelteilen gelang, was die aufwendige (und kostenintensive) Nachbearbeitung durch sogenannte ‚Fitter‘ überflüssig machte (vgl. Hounshell 1984, 5ff.). Ford betont, dass moderne Arbeit keinen intrinsischen Wert hat und wendet sich gegen eine soziale Überfrachtung des Betriebs. „Persönliche Fühlungnahme gibt es bei uns kaum – die Leute verrichten ihre Arbeit und gehen wieder nach Hause – eine Fabrik ist schließlich kein Salon.“ (Ford 1923, 131; vgl. ebd., 115, 141f., 149f.; 1930, 52) „Von patriarchalischer Fürsorge halten wir wenig“, sie kann nie „die Stelle der Löhne ersetzen“ (Ford 1926, 200, 202). Vgl. zur Funktion dieses Modells für die Amerikanisierung der Migranten: Schrage 2009, 170-174 & 180.

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rung vormoderner Tätigkeits- und Bindungsformen setzten, Derivate einer vergangenen Berufskultur beschworen (Weber) oder von solidarischen Bindungen in korporatistischen Berufsgruppen träumten (Durkheim 1988, 41-79),10 akzeptiert der Fordismus die Sinnentleerung und Asozialität der Teilarbeiten und reagierte auf sie mit einem modernen, minimalistischen und rein sachlich-funktionalen Mechanismus. Sobald der Lohn hoch genug ist, kann der Betrieb darauf verzichten, dem Arbeiter Bindung oder Sinn zu vermitteln. Indem „er sich auf den Lohnvertrag eingelassen hat, hat er sich zugleich darauf eingelassen, seine Lohnarbeit als Individuierungsquelle fahren zu lassen“ (Lüscher 1988, 170). Die Individuierung wie die „Motivationsquelle“, die die Arbeit antreibt, wird alle „qualitativen Bestimmungen aus der Konsumsphäre empfangen und keine aus dem Betrieb“, der nur betreten wird, „um sich Zugangsmittel zur Konsumsphäre zu verschaffen“ (ebd., 181). Die ‚nackte bare Zahlung‘ genügt in diesem Modell, solange sie nur hoch genug ausfällt, damit auf ihrer im ‚Reich der Notwendigkeit‘ erarbeiteten Grundlage das ‚Reich der Freizeit‘ aufblühen kann, denn ist nach acht Stunden „die Arbeit erledigt, dann ist es Zeit für Vergnügungen“ (Ford 1923, 107). Der Fordismus ist so weder auf Berufskultur noch auf Leistungsethik angewiesen, ihm genügt ein Leistungskalkül, das die Freiheitsgrade im Konsum an eine Arbeit bindet, deren „alleinige[s] Ziel“ es ist, „dafür gut bezahlt zu werden“ (Ford 1923, 107), während Art und Qualität der Tätigkeit gleichgültig werden. Dies war auch wichtig, da Ford-Arbeiter ihre acht Stunden Arbeit nicht nach Qualifikation oder Status, sondern flexibel nach Bedarf leisten sollten, so dass etwa Buchhalter bei mangelnder Auslastung auch zur Reinigung eingesetzt wurden. Dass dieses – den Erfordernissen einer arbeitsteiligen und mechanisierten Massenproduktion angemessene – Modell auch für die Arbeiter annehmbar war, zeigt sich darin, dass Studien der 1970er Jahre in England (vgl. Goldthorpe et al. 1970) wie in Deutschland (vgl. Knapp 1981; Kudera et al. 1979) auch bei qualifizierten Facharbeitern die Dominanz einer ‚instrumentellen‘ Arbeitshaltung konstatierten, in der das Verdienstinteresse gegenüber sinnhaften Bezugnahmen auf die Arbeit vorherrschte. b) Trotz seiner Funktionalität war das Konzept vom Standpunkt der traditionellen unternehmerischen Kalkulation und der liberalen Wirtschaftstheorie irrational. Dort galt der Lohn als niedrig zu haltende Kostenstelle. Fords Innovation war es, den Lohn von der Nachfrageseite her als im Gewinn zurückfließenden Input zu betrachten. Damit wird es „das Einträglichste aller Geschäftsprinzipien“ (Ford 1923, 151), dass „die höchsten Löhne gezahlt werden, da sich anders der Zirkel der Kaufkraft nicht schließen läßt“ (Ford 1926, 202).11 Für diesen einem nachhaltigen, volkswirtschaftlichen Gleichgewichtsdenken verpflichteten Zugriff war entscheidend, dass

10 Vgl. zur frühen Analyse konsumtiver Integration und Individuierung jedoch bereits: Simmel 1989a, v.a. 593-716. 11 Selbst wo das Kalkül, die eigenen „Arbeiter“ zu den „besten Kunden“ zu machen (Ford 1926, 61), nicht direkt aufgeht, würde der Hochlohn durch Belebung der allgemeinen Kaufkraft über Umwege als Gewinn zurückfließen, denn er vermehrt „die Kaufkraft anderer Schichten“, z.B. der Kleinhändler (ebd., 10; vgl. 189). In schlechten Geschäftszeiten sind die Betriebe zum ‚deficit spending‘ angehalten: „Das Heilmittel für geschäftliche Depressionen liegt in der Hebung der Kaufkraft, und das Kraftreservoir für die Kaufkraft sind die Löhne“ (ebd., 191).

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Ford sich selbst eher als den Massen dienenden Ingenieur denn als profitorientierten Geschäftsmann sah. Dabei verband sich eine (antisemitisch grundierte) Ablehnung von reinen Finanz- und Spekulationsgeschäften mit einer pragmatischen Auffassung der menschlichen Arbeit als Quelle allen Werts, des Kapitals als Mittel, um diese Quelle durch Technik und Organisation besser auszuschöpfen, und des Unternehmers als Diener der Gesellschaft.12 Profit und Akkumulation werden hier dem gesellschaftlichen „Zirkulationssystems der Versorgung“ (Ford 1930, 116) ein- und untergeordnet. Auf Grundlage dieses Verständnisses der Rolle des „Lebens- und Lohnstandards“ der „Mehrzahl der Bevölkerung“ (Ford 1923, 135) in einem makroökonomischen Kreislaufprozess wurde eine Form von Massenproduktion und Massenkonsum möglich, die der präfordistische Kapitalismus nicht kannte. Allerdings lässt sich aus der kapitalistischen Logik theoretisch eine Tendenz deduzieren, die in diese Richtung wirkt. Im ‚ideellen Durchschnitt‘ ist „kapitalistische Produktion von vornherein Massenproduktion“ (MEW 23, 191), die, indem sie den Markt überschwemmt, permanent an dessen Ausdehnung, an der „Durchbrechung seiner Schranken“ (ebd., 349) arbeitet. Logisch konnte man hier die Entwicklung des Massenkonsums als notwendiges Komplement dieser Ausdehnung angelegt sehen, wie Marx es tat, allerdings glaubend, dass die kapitalistischen Distributionsverhältnisse dieser logischen Konsequenz der Produktionsweise nicht gerecht würden, womit hier ein zur Aufhebung drängender Widerspruch reift. Jenseits aller ‚Aufhebungsgedanken‘ und von der Marktlogik ausgehend betonte Simmel, dass wo „Güter in solcher Masse vorhanden“ seien, „daß sie von den zahlungsfähigsten Elementen der Gesellschaft nicht konsumiert werden können“, sie „den ärmsten Schichten angeboten werden müssen“. Das führe zum „Gesetz der konsumtiven Preisbegrenzung [...]: eine Ware kann niemals teurer sein, als die unbemitteltste soziale Schicht noch bezahlen kann, der sie wegen der vorhandenen Menge noch angeboten werden muß.“ In einer „Wendung der Grenznutzentheorie aus dem Individuellen in das Soziale“ werde somit „das Bedürfnis des Niedrigsten für die Preisgestaltung maßgebend“ (Simmel 1989a, 277f.). Jedoch sind gesellschaftliche Verhältnisse keine theoretischen Systeme, die logische Schlüsse aus ihren Prämissen ziehen, und ein Blick auf die präfordistische Massen-

12 Ford (1923, 48ff. & 183-214) galt die „Geschäftemacherei“ und die Auffassung, der Gewinn entstamme dem Kapital, als schädlich. Jeder Gewinn komme „aus der Arbeit“ (ebd., 51). Ein Kohleflöz sei wertlos, erst abgebaute Kohle sei ein „Gegenstand von Wert, denn dann repräsentiert dieser Klumpen einen gewissen Betrag an Arbeit der zu seiner Förderung und seinem Transport verwandten Leute“ (Ford 1926, 115). Kapital sei nur ein vom Unternehmer verwaltetes Mittel, um Produktion und Konsum zu steigern. Unternehmer könnten „keinen Besitz ihr eigen nennen. Sie verwalten nur Besitz zum Wohle der anderen“ (1923, 11; vgl. ebd., 91). „Der oberste Zweck des Kapitals ist nicht, mehr Geld zu schaffen, sondern zu bewirken, daß das Geld sich in den Dienst der Verbesserung des Lebens stellt.“ (Ebd., 227) Daher sei es „Unsinn, wenn Kapital und Arbeit sich als getrennte Parteien betrachten – sie sind Gesellschafter“ derselben „Organisation“ (ebd., 136). Riesman sah Ford daher als Archetyp des veblenschen Ingenieurs (vgl. Riesman 2002, 10; Lüscher 1988, 64; Ford 1926, 322). Das Prinzip, „die Dienstleistung über den Gewinn“ zu stellen (Ford 1923, 23), schloss Gewinnorientierung ein, subsumierte sie aber unter den „Dienst“ (vgl. Ford 1926, 43-62). Vgl. zur Bedeutung dieser Denkdispositionen für Ford auch: Schrage 2009, 180f.

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produktion zeigt, dass die fordistische Form der Verschränkung von Produktion und Konsum ein nicht unmögliches aber doch unwahrscheinliches Konzept war. Im frühen 19. Jahrhundert beruhte die von Marx und Simmel verzeichnete Logik von Massenproduktion und -konsum primär auf der Verbilligung von Gütern des unmittelbaren Bedarfs, was zugleich die Lohnkosten verringerte. Eine um Baumwolle, Kartoffeln und Brandwein zentrierte Produktion mochte genügen, den Akkumulationsmotor auf Touren zu bringen, aber ein sich statisch um die nur graduell bessere oder schlechtere Befriedigung von Grundbedürfnissen drehender Massenkonsum war wenig geeignet, das im Kapitalismus notwendige exponentielle Wachstum zu garantieren. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ermöglichten technische Innovationen (bei gleichzeitig langsam steigenden Löhnen) eine erste Ausdehnung des Massenkonsums, der vor allem einer Logik der „Surrogierung“ (Sombart 1927, Bd. III.2, 623ff.) folgte. Hier ermöglichte die großindustrielle Produktion von Substituten für handwerklich oder luxusindustriell in kleinen Margen gefertigte hochpreisige Waren, die mit billigeren Rohstoffen und Produktionsverfahren imitiert wurden, den Massenkonsumenten einen Scheinluxus und den Anschluss an beschleunigte Modezyklen, die vorher ein Oberschichtenphänomen waren. Zudem sind Surrogate meist auf raschen Verschleiß produziert, was den häufigen Wechsel der Bedarfsgüter wie auch die Mobilitätstendenzen befördert, um so zur Ausbildung von dem Hochkapitalismus entsprechenden unstetigen, beschleunigten und nomadischen ‚Menschentypen‘ beizutragen (vgl. ebd., 603-616). Entscheidend ist in Sombarts Einschätzung der Surrogate aber, dass sie gegenüber dem Original eine konstitutive Minderwertigkeit (in funktioneller wie ästhetischer Hinsicht) aufweisen und zum „Schund und Ramschgeschäft“ (ebd., 558) gehören. Dass standardisierte Massenprodukte den handwerklichen Originalen funktional überlegen sein können, wie Veblen schon 1899 konstatierte,13 ist in dieser (sehr europäischen) Einschätzung ebenso wenig mitgedacht, wie die Verallgemeinerung hochpreisiger Produkte, die kein ‚Original‘ zum Vorbild haben. So bleibt die Differenz von defizitären Surrogaten und qualitativen Originalwaren den sozialstrukturellen Klassendifferenzen strikt homolog. Sombarts abwertende Haltung zum Gebrauchswert und zur Herstellungsweise der Surrogate ist „ständisch konnotiert“ (Schrage 2009, 145), insgesamt hat seine Einschätzung aber für die frühe Ausweitung des Massenkonsums einige Evidenz (vgl. Landau 1990). Vor diesem Hintergrund wird der Bruch deutlich, den der Fordismus nicht nur in den Produktionstechniken, sondern auch in den Distributionsmodi markiert. Bei der von Ford produzierten Massenware handelt es sich um ein dauerhaftes und trotz aller Effizienzsteigerung hochpreisiges Produkt,14 das anders als die bereits in Massenproduktion hergestellte Nähmaschine, die als Produktionsmittel zur Heim13 Veblen (vgl. 1986, 154-163) betont, dass maschinelle Erzeugnisse meist „dem eigentlichen Zweck besser entsprechen. Sie sind insofern vollkommener, als sie ihrer Bestimmung besser angepasst sind.“ So bestehe das „allgemeine Merkmal ihrer Physiognomie [...] im Vergleich zu handgemachten Gütern in der vollkommeneren Ausführung und Sorgfalt.“ (Ebd. 157) Im Gegenzug würden von der ‚leisure class‘ zunehmend mangelhafte Handwerksprodukte oder solche mit künstlichen Produktionsmängeln zum Distinktionsgewinn bevorzugt. 14 Der Preis der einfachsten Ausführung des Modells T lag bei Produktionsbeginn 1908 bei 825 Dollar, was etwa dem Jahresgehalt eines Lehrers entsprach; bis 1912 war der Preis auf 260 Dollar gesunken, lag aber immer noch über allem, was bis dato als Massenprodukt Verbreitung gefunden hatte. Vgl. auch Schrage 2009, 181ff.

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arbeit eher ein Investitions- als ein Konsumgut war, keinem klaren Zweck diente. Hier wurde ein „Plaything of the European rich“ zum „birthright of the American masses“ (Lacey 1986, 98). Wie irrational dieses Konzept erschien, zeigt sich darin, dass die Sprengung der Differenz von Luxus- und Bedarfsartikel auf erhebliche Zweifel und Widerstände traf. Die Idee, aus dem Millionärsspielzeug eine Standardware zu machen, galt seinen Geschäftspartnern wie der Presse als irrwitzig: „Wenn Ford das macht, ist er in sechs Monaten kaputt“ (Ford 1923, 83; vgl. ebd., 54-88). Um dieser Massenware den Absatz zu garantieren, war eine Doppelstrategie erforderlich, in der die Hochlohnpolitik und die Erzeugung einer neuen Bedürfnisstruktur sich ergänzten, um die wirksame Nachfrage auf das Produkt zu lenken.15 Fords Modell T ist so paradigmatisch für eine neuartige Verschaltung von Produktausstoß, Absatz und Konsum, die alle drei Seiten in Proportion zueinander zu entwickeln und aufeinander abzustimmen sucht. Das schloss auch die Verkürzung der Arbeitszeit zur 40-Stunden-Woche ein, da „ohne Verkürzung der Arbeitszeit das Land nicht imstande sein wird, seine Produkte zu konsumieren“ (Ford 1930, 91). Erst in der Freizeit kann das Bedürfnis „nach einem Mehr an allen Dingen“ steigen (ebd., 93). Dabei ging es um mehr, als nur um Quantitätssteigerung. Der höhere Lebensstandard fügt sich in ein utopisches Gesellschaftsprojekt, in dem sich auch die qualitative Veränderung von Konsum und Produktion in einem dynamischen Regelkreis wechselseitig steigern, wobei der Konsum eine Individuierung bewirkt, die ohne disziplinarische Lenkung einen mit den ökonomischen Anforderungen kompatiblen Subjekttypus heranbildet. (2.) Der Kernpunkt von Fords Utopie ist die Vorstellung, dass seine Arbeiter mit ihrem eigenen Modell T zur Arbeit fahren (vgl. Ford 1923, 181). Schon der Begriff Automobil steht für die Verheißung autonomer Mobilität, für Beschleunigung und Unabhängigkeit des Individuums, für die gesellschaftliche Möglichkeit von Dezentralisierung und Enturbanisierung bei gleichzeitiger Vernetzung aller geographischen Punkte. Das Auto selbst trägt zur Verknüpfung von Produktions- und Reproduktionssphäre, von Arbeit und einer von Konsum erfüllten Freizeit bei. Beschleunigung und Wegbewältigung sind zwar ideell noch mit dem Frontiermythos verknüpft, denn es ist dem Auto „vorbehalten, die letzten Grenzen niederzureißen“ (Ford 1926, 207), ist das aber einmal erledigt, bleibt nur noch Pendeln. Die Fabrikarbeiter pendeln zwischen Arbeit, Vorort und städtischem Freizeitvergnügen; die Farmer, die erst durch die Mobilität zu modernen Konsumenten werden, zwischen Landarbeit und städtischem Konsum, bis schließlich die schädliche Trennung von Stadt und Land ganz überwunden wird. Auf dieser technischen Basis sollen die Vorteile moderner Zentralisation erhalten, ihre „Übelstände“ (Vermassung, Reizüberflutung) aber beschränkt werden. Die Präferenz für das heilsame Landleben und die Vision einer dezentralen „Dorfindustrie“ (Ford 1926, 173ff.; 1923, 224ff.) ist dabei nicht regressiv, sondern ihrerseits ökonomisch-rationell. In Zukunft sollten Fabrik- und Landarbeit zum volkswirtschaftlichen Nutzen wechseln: „Wir dürfen nicht vergessen, welche erhöhte 15 Ford setzte auf breites Marketing: Eine „Aufklärungskampagne, um zu beweisen, daß ein Ford kein Sommerluxusartikel, sondern ein Bedarfsgegenstand für das ganze Jahr ist“ (Ford 1923, 195), Beteiligung an Autorennen (von denen Ford nicht viel hielt), die Befahrung des Ben Nevis zur Erschließung des britischen Marktes (vgl. ebd., 43f. & 57ff.). Insgesamt „war es schwierig, den Wunsch anzufeuern.“ (Ford 1930, 191)

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Energie diese Scharen nach 3-4 monatlicher Arbeit an der freien Luft beseelen wird.“ (Ebd., 222; vgl. ebd., 220ff.) Jenseits dieser unmittelbaren Rückwirkungen auf die Produktion teilt das Auto einige zentrale Kennzeichen mit allen preisintensiven Massenwaren, die in den 1920er Jahren Verbreitung fanden: Die Haushaltstechnik beschleunigt die Reproduktionsprozesse und befreit alle „Gebiete des Alltagslebens“ von den „dürren Ästen“ vergeudeter Zeit (Ford 1932, 95f.), um die Zeit für den Konsum zu steigern. Kühlschränke ermöglichen den Großeinkauf, der von täglichen Besorgungen entlastet; die Informationselektronik (Radio und Telefon) ermöglicht individualisiertes dezentrales Leben bei gleichzeitiger Anbindung an Information und Kommunikation. Dabei sind im Gebrauch der Güter multiple Rückkopplungen zur Produktionssphäre wie zur Nachfrage eingerichtet. Grundlegend optimiert wird die Regeneration der Arbeitskraft, indem auch in der Reproduktionssphäre das Reich der Notwendigkeit reduziert und das Reich der Freizeit erweitert wird. Das durch Muße regenerierte Individuum wird der erforderten Effizienz, Präzision und Geschwindigkeit im Betrieb besser gerecht16 und die Gewöhnung an Technik und standardisierte Prozessabläufe im Alltag kommt der Rationalisierung im Betrieb zugute, da z.B. das Auto den Halbwüchsigen „ein besseres Verständnis für Maschinen beigebracht hat, als die geschicktesten Mechaniker vor zwanzig Jahren besaßen“ (Ford 1930, 191). Die Konsumenten werden ganz von selbst die Güter „als Werkzeuge benutzen, um das Ausmaß ihrer Fähigkeiten zu erweitern“ (ebd., 262). Zugleich wird der Haushalt von der statischen Reproduktion auf eine dynamische Steigerung von Bedürfnissen umgeschaltet: Durch Radio und Werbung, Auto und Transport wird noch die letzte Farm angeschlossen.17 Bald würden „die Hauptmahlzeiten […] warm und appetitlich“ angeliefert (Ford 1932, 121f.), und indem Mutter und Kind von der Hausarbeit befreit sind, finden „die beiden mehr Zeit, um auszugehen, werden mit neuen Erzeugnissen bekannt“, und so „steigt der Umsatz“ weiter (ebd., 135). Eine Rückkopplung zur Nachfrage ist nicht nur dadurch gegeben, dass die neuen Waren eine „kontinuierliche Ankopplung an großmaßstäbliche Energieverteilungsnetze, Reparatur- und Unterhaltungsorganisationen“ (Lüscher 1988, 164) voraussetzen, sondern auch da sie, wie Anders (vgl. 1992a, u.a. 39f.) betonte, in Verweisungsbezüge zu weiteren Waren eingebettet sind und zu deren Erwerb einladen. Man muss das nicht (wie Anders) als ‚Imperativ‘ auffassen, wohl aber als Anreizstruktur. Das „frugale Automobil“ (Schrage 2009, 181ff.), als das das Modell T konzipiert war, erfordert zur Nutzung nicht nur Benzin, es lädt in seiner auf die Primärfunktion reduzierten Form auch zum unbegrenzten Kauf von Zusatzaccessoires ein, die zur Funktionserweiterung oder ästhetischen Aufwertung dienen.18 Zudem ermöglichte das Au16 „Muße [ist] keine Zeitverschwendung“, sie macht sich „vom nüchternen Geschäftsstandpunkt aus betrachtet bezahlt“, da sie „ein besseres Erzeugnis gewährleistet“ (Ford 1932, 41; vgl. 1926, 274f.). 17 „Spinnrad und Handwebstuhl sind […] verschwunden. Die Bauern kaufen ihre Kleider fertig, die Farm liegt nicht mehr länger isoliert – Automobil, Telephon und Radio haben das zu Wege gebracht.“ (Ford 1926, 262) Die USA werden so zur „vast neighbourhood“ (Lacey 1986, 98), aber auch zum großen Werbe- und Konsummarkt. 18 Roebacks Versandkatalog führte Anfang der 1920er Jahre 5000(!) Zubehörteile für den Ford T auf, der allerdings auch ohne Scheibenwischer, Türen, Windschutzscheibe etc. ausgeliefert wurde (vgl. Schrage 2009, 186).

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tomobil neue Konsumformen (Reisen, Shopping, Großeinkauf) und begünstigte die Lust auf immer mehr, um das wachsende Angebot zu absorbieren. Das Auto ist dabei erst der Anfang, denn sind die Leute einmal an Geschwindigkeit gewöhnt, werden sie noch schnellere Verkehrsmittel wollen und der Luftverkehr wird aufblühen (vgl. Ford 1932, 86f.). So wirkt das Auto (wie andere Massenkonsumgüter) als Produktionsmittel zur Herstellung und Erweiterung der Konsumtion. Tatsächlich impliziert Fords Konzept umfassende ökonomische und gesellschaftliche Steuerungsvorstellungen, die sich recht einfach im Schema eines Regelkreises darstellen lassen. (Siehe Abb. 2)

Abb. 2: Der Fordistische Regelkreis

Das Schema orientiert sich in den Grundzügen an Henry M. Lüscher (vgl. 1988, 49), bezieht aber weitere Faktoren und Wirkungslinien ein.

Wo viele Kritiker in diesem Schematismus nur die Ausdehnung des Fabrikregimes – Standardisierung, Effizienz, Beschleunigung, Monotonie – auf alle Lebensbereiche und eine ‚zweite Entfremdung im Konsum‘ sahen, die die in der Fabrik dem Imperativ der Maschine unterworfenen Subjekte in der Freizeit dem Imperativ der Ware unterwirft (vgl. u.a. Anders 1992a), soll hier herausgestellt werden, dass der Fordismus in neuer Weise ein Maximum an globaler Regulation mit einem Maximum an indivi-

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dueller Freiheit verbindet und dabei bereits jene Tendenz aufweist, „die Kontaktfläche zwischen dem Individuum und der Macht [...] und folglich die Regelung der Macht auf das Individuum“ zu minimieren, wie Foucault (2004b, 349) sie am Neoliberalismus verzeichnete. Entscheidend ist zunächst, dass Fords Utopie (in Differenz zu anderen zeitgenössischen Gesellschaftsentwürfen) ein Maximum an Sinnfreiheit erreicht, was nicht pejorativ gemeint ist, sondern ihre Stärke bezeichnet. Da sie darauf verzichtet Sinn, Werte und Normen zu vertreten, stellt sie geringe Anforderungen an die Subjekte und kann daher auch weitgehend auf Normierung und direkte Formung verzichten. Das Einzige, was dem fordistischen Subjekt abverlangt wird, ist, dass es immer mehr will und dafür auch für guten Lohn irgendetwas arbeitet. Das Mehrwollen wird zum einzigen Indikator für den Fortschritt in der Entwicklung der Subjekte und bezieht sich nur auf eine exponentielle Steigerung der Quantität der Bedürfnisse.19 Wo die ‚revolution of rising expectations‘ einmal in Gang gesetzt ist, kann von weiterer Einflussnahme abgesehen werden. Galt es anfangs, durch Inspektoren „die Lebenshaltung der Arbeiter nachzuprüfen“, da einige „ihren Lebensstandard nicht entsprechend ihrem höheren Einkommen verbesserten“ (Ford 1930, 201; vgl. 1923, 308), setzte Ford später darauf, dass allein die Quantität von Lohn und Freizeit für die Heranbildung von Hochleistungskonsumenten genüge. Wo einmal Hochlöhne gezahlt sind, werden zunächst vorhandene Bedürfnisse befriedigt, aber bald wird der Konsument „anfangen größere Bedürfnisse zu empfinden, und damit wird der Prozess der materiellen Zivilisation einsetzen“ (Ford 1926, 330). Alle weiteren qualitativen Dispositionen, die das fordistische Subjekt aufweisen soll – gesundes Leben, Sorge um das eigene Wohlergehen, Anreizoffenheit, Leistungskalkül – werden sich im Normalfall mit wachsender Quantität des Konsums von selbst einstellen.20 Der Konsum wird damit zu einer Sphäre der Individuierung mit hohen Freiheitsgraden. Wie das Subjekt die Waren nutzt, in welcher Warenkombination sich seine Identität konstituiert, worauf sich sein Mehrwollen richtet, bleibt ihm selbst überlassen. Vor diesem Hintergrund fügt sich Fords Projekt eher in den Kontext normalistischer Regulation im Sinne von Foucault oder Link (s.u. 8) als in das einer disziplinarischen Normierung ein. Es geht darum, eine Normalverteilung von Dispositionen nutzbar zu machen, die sich einstellen, wenn man die Bedingungen durch die Stellgröße des Lohns entsprechend einrichtet. Der Regelkreis macht in der Betriebs- und 19 „Wir alle haben Fortschritte gemacht, unsere Bedürfnisse haben sich geändert. Wir verlangen mehr.“ (Ford 1932, 19) Andere Ansprüche als dieses Mehrverlangen aufzubauen und zu erfüllen gibt es nicht. „Wenn der Begriff der Zivilisation überhaupt etwas bedeutet“, dann nur „ein gutes Dach, Nahrung und Kleidung zu besitzen und soviel darüber hinaus als der individuelle Verdienst gewährleistet. […] Es ist ohne Bedeutung, was für Bücher geschrieben […], was für Kunstwerke geschaffen werden“ (Ford 1926, 323). Kennzeichnend ist die Verachtung aller Geistigkeit und die Präferenz für eine „Erziehung zum Leben“ (ebd., 221ff.), die sich nur in Arbeit und Konsum vollzieht, um „einen besseren Lebensstandard zu erringen“ (ebd., 222). Lüscher (1988) nannte die effektive Ausprägung des hier angestrebten Subjekttypus, „nicht eben unernst, das Krümelmonster“ (ebd., 34). 20 Als Beleg führt Ford an, dass selbst bei den Iren die Gewohnheit, „nach Erhalt des Wochenlohns sich schleunigst zu besaufen“, bei Hochlohn verschwinde: Sie richten ihre Wohnung und Kleidung her; abends sehe man sie „mit ordentlichen Kragen geschmückt, ihre Stöcke schwingend in die Kinos schlendern“. Wo sie einst „verkatert zu erscheinen pflegten, kommen sie heute frisch und strahlend“ (Ford 1926, 325).

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Menschenführung – die in Fords Vorstellungen „industrieller Führerschaft“ keine innerbetriebliche, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe ist – Normierungen weitgehend verzichtbar. ‚Normalistische‘ Momente finden sich auch in zahlreichen Bereichen der praktischen Betriebsführung. Da die Anforderungen an die meisten Tätigkeiten äußerst gering sind, erübrigt sich eine Einübung. Die Individuen werden einer Aufgabe zugeteilt, und wenn sie diese nicht begreifen, „können wir sie nicht gebrauchen“ (Ford 1923, 91). Darüber hinaus funktioniert diese Betriebsführung auch nicht wie das taylorsche Modell nach dem Prinzip einer hierarchisch-zentralistischen Gesamtsteuerung, sondern beruht auf flachen und rein sachlichen Hierarchien, die garantieren, dass z.B. Beschwerden und Anregungen von Band- oder Reinigungskräften zur Optimierung des Betriebs nutzbar gemacht werden. Und wo Hilfsarbeiter besondere Interessen oder Erfindergeist zeigten, boten sich Karrieremöglichkeiten – vom Kehrichträumer zum Abteilungsleiter; vom Formenmacher zum Werksdirektor (vgl. ebd., 113ff.). Darüber hinaus führten Fords Werke Kartotheken über Qualifikationen, Hobbys und Interessen ihrer Arbeiter, um im Falle einer Expansion oder des Ankaufs neuer Werke auf den eigenen Arbeitskräftepool zurückgreifen zu können – schließlich befanden sich unter den Bandarbeitern viele Migranten mit anderen Qualifikationen. Die Techniken der „industriellen Führerschaft“ (vgl. Ford 1932, 73-81) sollen hier explizit auf den Anspruch verzichten, Menschen zu erziehen und zu formen, um stattdessen die Individuen gemäß ihrer (naturalisierten) Anlagen zu selektieren und ihnen entsprechende, nach Wertigkeit und Geschicklichkeitsgruppen klassifizierte Arbeiten zuzuweisen. „Man kann“ (so Ford) „einem Menschen nicht das Gehirn eines Genies einpflanzen“, aber man könne ihn an Positionen einsetzen, die es gestatten, „das Gehirn[,] das er besitzt, bestmöglich zu gebrauchen“ (Ford 1926, 200f.). Durch rationelle Gliederung lassen sich die „Betagten, Blinden und Lahmen […] an der Produktion beteiligen“ (ebd., 203), da Behinderte, mit den richtigen Tätigkeiten betraut, auf völliger „Gleichheitsstufe mit den Gesunden“ stehen (Ford 1923, 125f.), womit auch auf jede „Wohltätigkeit“ verzichtet werden kann (vgl. ebd., 242ff.). Das entspricht weitgehend bereits dem, was Castel (1983) als postdisziplinäre Form der Menschenführung schilderte (s.u. 8). Wo die Subjekte von selbst Befähigungen und Initiativen entwickeln, werden sie möglichst an entsprechende Positionen versetzt, um diese Fähigkeiten dort optimal anzuwenden. In diesem Kontext fügt sich die Führung der Führer in eine Form des Normalismus: Da kein „Erziehungsplan“ Führer erzeugen könne, sei „eine Methode zu ersinnen“, um „Führermaterial [zu] sammeln, wo und wie es vorhanden ist“ (Ford 1930, 286f.). Aber auch jene „Majorität“, die „dort bleiben will, wo sie hingestellt ist“ (Ford 1923, 116), muss nicht ‚dressiert‘ werden, solange das Lohnmotiv greift. Wenngleich der fordistische Regelkreis ein Steuerungsinstrument ist, das von wenigen, zur ‚Führerschaft‘ berufenen Individuen bedient und strategisch eingesetzt wird – um Gewinne zu steigern, die Produktion auszudehnen und Klassenspannungen zu neutralisieren –, wäre es verkürzt, hier einen reinen Manipulations- und Heteronomiezusammenhang zu sehen. Gegenüber den früheren Lebensbedingungen war das fordistische Modell hinreichend attraktiv, um von Arbeitern autonom gewählt zu werden. Gramsci hat darauf hingewiesen, dass der Fordismus eine so grundlegende „Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen und der individuellen Verhaltens-

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weisen“ erfordert, dass diese „nicht durch bloßen ‚Zwang‘ erfolgen [kann], sondern nur durch Milderung des Zwangs (Selbstdisziplin) und durch Überzeugung, auch in Form hoher Löhne“ (Gramsci 1967, 400). Gerade die von den Arbeitskräften geforderte Einpassung in eine störanfällige Produktionsorganisation erforderte eine nicht von außen erzwingbare Integrationsbereitschaft (vgl. ebd., 394). Für Gramsci wird diese dadurch begünstigt, dass der Fordismus praktisch eine enorme Freisetzung von Autonomie und Individualisierungspotenzialen mit sich bringt. Zwar ist die im individuellen Produkt reflektierte Einzigartigkeit des handwerklichen Produzenten in der fordistischen Produktion endgültig verloren, zugleich aber wird die Beschränkung der Individuierung auf die Arbeit in einem bestimmten Tätigkeitskreis gesprengt. Statt in einen bloßen Roboter verwandelt zu werden, gewinnt die Arbeitskraft die Fähigkeit, in verschiedene Positionen des kombinierten Produktionsprozesses einzuspringen, ohne von irgendeiner dieser Funktionen je ganz okkupiert zu werden. Die völlige Mechanisierung der körperlichen Tätigkeit ist daher nicht notwendig synonym mit geistiger Verödung, sie impliziert vielmehr gerade auch eine Befreiung des Geistes von der Arbeit: Wo die Anpassung an die fordistische Produktion gelingt, erreicht „das Gehirn des Arbeiters, anstatt zu veröden, einen Zustand völliger Freiheit“. Denn gerade indem „die physische Geste […] völlig mechanisiert“ ist und „das berufliche Gedächtnis, auf einfache, mit intensivem Rhythmus wiederholte Gesten reduziert“ wird, haben sich die Arbeitsverrichtungen ganz in „den Muskel- und Nervensträngen eingenistet und so das Gehirn frei für andere Beschäftigung gemacht.“ (Gramsci 1967, 398) Die Erhöhung von Lohn und Freizeit eröffnet darüber hinaus neue Möglichkeiten individueller Lebensführung im Konsum. Anders als die staatlich zum Schutz der Arbeitskräfte durchgesetzten Zwangsgesetze impliziert der Fordismus damit eine potenzielle Interessenkonvergenz von Lohnarbeitern und Unternehmern am neuen Akkumulationsregime. In Europa traten Gewerkschaften oft als entschiedener Vorkämpfer einer nachholenden Fordisierung auf und trotz Fords antisozialistischer Polemiken gab es positive Anschlüsse auf sozialistischer Seite. Berthold Brecht (vgl. 1967, Bd. 20, 24) lobte, Fords Fabriken könnten schon dem Sozialismus entstammen. Andere Zeitgenossen sahen hier den „weißen Sozialismus der reinen, tatfrohen Gesinnung“ als Alternative zum „blutrot umrahmte[n] Wunschbild“ eines „Sozialismus empörten Auftriebs“ (Gottl-Ottlilienfeld 1924, 37); während Schumpeter in der fordistischen Massenproduktion und Massenkonsumtion eine „industrielle[] Mutation“ (Schumpeter 1949, 137) der Ökonomie sah, die einen großen Schritt auf dem, dem Kapitalismus in dieser Perspektive evolutiv vorgezeichneten, „Marsch in den Sozialismus“ (ebd., 509-525) markiere.21 Faktisch zeichnete sich hier aber eine neue kapitalistische Vergesellschaftungsform ab, die geeignet war, die Produktionsverhältnisse wie die Klassenstruktur und die Subjektivierungsformen in eine den veränderten Erfordernissen der Kapitalverwertung entsprechende Form zu bringen.

21 Schumpeters Einschätzung ergibt sich wie ähnliche Vorstellungen bei Sombart (1927, Bd. III.2; 1919) aus der damals verbreiteten Synonymisierung von jeder Massenproduktion inhärenten Tendenzen (Zentralisierung, Konzentration, Bürokratisierung, technokratische Leitung) mit ‚Sozialismus‘ (vgl. auch Simmel 1989b, 260-265).

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Mit seinem nachhaltigen Verständnis des Verwertungskreislaufs stellte der Fordismus prinzipiell auch Möglichkeiten bereit, den von Marx formulierten Krisentendenzen (s.o. III.2) entgegenzuwirken: Den mit dem tendenziellen Fall der Profitrate verknüpften Tendenzen zu Überakkumulationskrisen setzten die radikalen Durchbrüche im Bereich von Produktionsmethoden und Arbeitsorganisation eine massive Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit (im Sinne von Marx) eine Erhöhung der relativen Mehrwertrate entgegen (s.u. III.1.4). Gegen die sich aus antagonistischen Distributionsverhältnissen – oder in anderen Worten aus „der mangelhaften Harmonie zwischen Produktion und Verteilung“ (Ford 1923, 216) – ergebenden Unterkonsumtionskrisen stand die Hochlohnpolitik, die zugleich die Individuierung im Konsum als Funktion erschloss, welche die Arbeitskraft in die Kapitalverwertung integriert und zur Selbststeigerung ihrer produktiven Potenziale anregt. Im „großen Heute“ der USA der 1920er Jahre schien „das größere Morgen“, das Ford (1926) auf dieser Grundlage versprach, sehr nahe. Die „ungestüme[] Hochkonjunktur“ (Polanyi 1997, 322) brachte von 1922 bis 1929 ein ungekanntes Wirtschaftswachstum und bescherte auch den proletarischen Haushalten ungekannten Wohlstand in Form von Kühlschränken, Autos, Radios und Staubsaugern – bis auf die Hochkonjunktur die Rezession folgte und der Börsencrash des „Black Thursday“ am 24.10.1929 eine Weltwirtschaftskrise ungekannten Ausmaßes einleitete. (3.) Zwar hatte das Zusammenspiel vieler Faktoren diese bis dato schwerste Wirtschaftskrise vorbereitet, die eintrat, als den Lehrbuchökonomen die Krisendynamik als endgültig überwunden galt,22 in dem multiplen Faktorengeflecht sind aber zwei Ursachenbündel identifizierbar, die eng mit dem Fordismus zusammenhingen: die expansive Selbstverstärkung der kapitalistischen Wachstumsdynamik, die auf Marktausdehnung mit weiterer Produktionsausdehnung reagiert, bis die Märkte übersättigt sind; und die Eigendynamik der Aktien- und Finanzspekulation, die im Konjunkturhoch einen Spekulationshype auslöste und im Vertrauen auf künftiges Einkommen übermäßige Kredite anregte. Das Wachstum der Realwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg war von dauerhaften Gebrauchsgütern getragen, die durch rationelle Produktionsmethoden dem Massenkonsum erstmals zugänglich wurden. Bei rascher Expansion der Produktionskapazitäten wurden die langfristigen Absatzchancen überschätzt. Das System, durch billigeren Produktausstoß eine wachsende Nachfrage zu induzieren, trug gerade 10 Jahre. 1928/29 besaß fast jeder US-Haushalt Radio und Kühlschrank, jeder fünfte Amerikaner einen PKW. Nun kollidierte eine überdimensionierte Produktionskapazität mit einem schrumpfenden Markt. Hier lag auch ein Pferdefuß von Fords Ansatz, in der Produktion auf „Speed“ zu setzten, aber für den Verbrauch einen „Dauerartikel“ anzustreben, der „niemals veraltet“ und den niemand „zu ersetzten braucht“ (Ford 1923, 65; vgl. ebd., 174), da er nicht auf Verschleiß, sondern auf Langlebigkeit hin produziert ist. Das verkannte die Logik einer Wirtschaftsform, deren Funktionieren exponentielles Wachstum voraussetzt, wofür ab einem gewissen Entwicklungs22 Selbst Sombart (1927, Bd. III.2, 1008-1022) erklärte am Ende seines Modernen Kapitalismus die stürmischen Entwicklungsphasen und scharfen Krisenausprägungen zum Kennzeichen einer abgeschlossenen Epoche und prophezeite einen gemächlichen, dem ‚Altern‘ des Kapitalismus angemessenen Konjunkturzyklus. Zu dieser Zeit entwickelte sich das Faktorengeflecht das zur Weltwirtschaftskrise führte. Vgl. u.a. Blaich 1985, 80ff.; James 1986.

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stand über den von Ford erstrebten nutzbringenden Verbrauch (vgl. ebd., 218) hinaus exponentielle Verschwendung erfordert ist.23 Zudem konnten die Löhne die dafür erforderte Konsumtionskraft noch nicht annähernd gewährleisten. Der Absatzfluss war zum Großteil durch die Expansion des Kreises der Kreditwürdigen nach unten, also durch Ratenverträge und Kleinkredite finanziert (vgl. Blaich 1985, 80f.). Die Veralltäglichung des Kredits wurde auch zur Grundlage der Verwandlung der Aktienspekulation in einen Volkssport, an dem sich weite Teile der Bevölkerung in der Hoffnung beteiligten, dass die Kursgewinne höher ausfielen als die Kredittilgungspflichten. Das half, die Kurse in die Höhe zu treiben, was in kumulierter Selbstverstärkung das Interesse am Spekulationsgeschäft verstärkte – auch als die Realwirtschaft, auf die spekuliert wurde, bereits im Abschwung befindlich war. 1929 genügten dann geringe Kursrückgänge, damit das Spekulationsgebäude implodierte (vgl. ebd., 81ff.). Die Faktoren, die sich in einer Aufwärtsspirale verstärkt hatten, zogen sich nun in einer Abwärtsspirale nach unten: Kreditrückforderungen der Banken zwangen vermehrt zum Abstoß von Aktien, was die Kurse weiter drückte; dies und die Kontraktion des Geldmarktes riss die angeschlagene Realwirtschaft weiter hinab; erhöhte Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen führten zur Kontraktion der Absatzmärkte, was weitere Firmenschließungen nach sich zog. Verschuldete Konsumenten und Investoren konnten ihren Tilgungspflichten nicht mehr nachkommen, wodurch Zwangsverkäufe die Preise auf dem übersättigten Markt weiter drückten und neue Konkurse und Massenentlassungen begünstigten. Die Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, mit denen die amerikanische Hoover-Regierung, aber auch die Mehrzahl der europäischen Regierungen auf die Krise reagierten, verstärkten zunächst die Depression. (Vgl. James 1986) Die Weltwirtschaftskrise und die Große Depression markierten auch ein vorläufiges Scheitern des fordistischen Traums, auf privatwirtschaftlicher Grundlage über die Lohnhöhe eine geregelte Rückkopplung von Produktion und Konsum einzurichten. Das dem stabilen Wachstum vorausgesetzte Lohnniveau blieb hinter dem für die effektive Rückkopplung notwendigen Maß zurück. Das in die Lücke springende, für die USA bis heute typische Modell des kreditbasierten Konsums konnte die effektive Nachfrage kurzfristig enorm erhöhen, wirkte dann aber krisenverschärfend. Ein freies Spiel der Marktkräfte war dem Funktionieren des fordistischen Regelkreises offenbar nicht zuträglich. Die in allen westlichen Ländern spürbaren Folgeerscheinungen unterwarfen die Stabilität, Legitimität und Integrationskraft der kapitalistischen Gesellschaftsform der vielleicht härtesten Probe ihrer Geschichte. Sie begünstigten aber auch die Suche nach praktischen Lösungsmöglichkeiten, die theoretisch bei J.M. Keynes gebündelt wurden. In der Folge wurde das Management des bei Ford angelegten Regelkreises auf die staatliche Ebene transponierten.

23 Dem widersprach Fords (1923, vgl. u.a. 218) Konsumethos, das keiner Verwertungslogik gehorcht, sondern einem Primat der Bedürfniserfüllung. Ein Zustand, in dem „Überproduktion Wahrheit geworden ist“, gilt hier gar als erstrebenswert: „Nichts könnte herrlicher sein, als eine Welt, in der jeder hat, was er braucht.“ (Ebd., 181; vgl. 1926, 341) Vor diesem Hintergrund hatte die Krise für Ford auch nichts mit Überproduktion zu tun, sie entstamme „zum Teil einer unüberlegten Produktion, zum Teil einem ungenügenden Ausbau der Kaufkraft.“ (Ford 1930, 37; vgl. ebd., 21ff.)

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6.3 D IE KEYNESIANISCHE S YNTHESE S ICHERHEIT UND M ARKTPRINZIP

VON SOZIALER

„Das System reguliert sich nicht selbst und ist, ohne zweckgerichtete Steuerung, nicht in der Lage, unsere konkrete Armut in unseren potenziellen Überfluss zu verwandeln.“ JOHN MAYNARD KEYNES (2008, 148) „Keynes hat die den westlichen Gesellschaften eigenen Weisen theoretisch erfaßt, Gesellschaftliches und Wirtschaftliches zu beschreiben. Er hat die Mittel angegeben, beide funktionell anzupassen […]. Dort, wo stets die Suche nach einem doch nur schiefen […] Kompromiß zwischen Unternehmerfreiheit und Fürsorgeproblem […] ansteht, bringt Keynes durch die Einrichtung eines Funktionskreises zwischen beiden Registern der Produktion von Gütern und der Produktion von Produzenten (und Konsumenten) eine positive Lösung. Er stellt den Punkt dar, an dem eine mit der Industrialisierung und den Anfängen der Philanthropie anhebende Suche ihr vorläufiges Ziel erreicht.“ JACQUES DONZELOT (1980, 240f.)

Angesichts der durch die Weltwirtschaftskrise verstärkten sozialen Spannungen und Kämpfe, die zur Verstärkung der „gefährlichen Pendelbewegung der staatlichen Rolle“ (Donzelot 1994, 142) zwischen den Polen der ökonomischen und der sozialen Forderungen führten, und angesichts des Faschismus, der auch wegen des Versprechens eines starken Staates, der diese Pendelbewegung beendet, in den 1930er Jahren in fast allen westlichen Ländern eine mögliche Option war (vgl. Polanyi 1997, 297329), scheint der Erfolg des Keynesianismus retrospektiv naheliegend. Allerdings fiel diese Position, die der dominanten ökonomischen Lehrmeinung zuwiderlief, anfangs durchweg auf Ablehnung und Unverständnis stieß und doch in kurzer Zeit zur neuen Lehrmeinung aufstieg (vgl. Willke 2002, 140-146), nicht vom Himmel, um das Wirtschaftsleben nach einer Idee umzugestalten. Ihr Erfolg verdankte sich einem historischen Plausibilitätshintergrund, zu dem ihre Entsprechung mit dem ökonomischen Programm des Fordismus ebenso gehörte wie eine in Ansätzen bereits praktisch verfolgte Wirtschaftspolitik. Schrage (vgl. 2009, 195f.) hat in diesem Kontext auch darauf hingewiesen, dass sich bereits die Plausibilität des proto-keynesianischen ‚New Deal‘24 den technokratischen Ideen der progressive era verdankte, die in den Arbeiten Veblens einen wichtigen Bezugspunkt hatten. Tatsächlich müssen solche Faktoren wie auch die kapitalistischen Tendenzen in Richtung Massenkonsum berücksich-

24 Der New Deal war die „pragmatische (bis konfuse)“ (Willke 2002, 144) Wirtschafts- und Sozialpolitik, mit der die Roosevelt-Regierung auf die Depression reagierte. Neben dem National Labor Relations Act, der Tarifverträge einführte und die Position der Gewerkschaften stärkte, und dem Social Security Act, der einen Mindestschutz für Arbeitslose, Ältere und Bedürftige garantierte (vgl. u.a. Lekachmann 1970, 138ff.), umfasste dies eine aktive Ausgabenpolitik, vor allem zum Ausbau der Infrastruktur. Vgl. zu einer Gesamtdarstellung: Badger 1999.

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tigt werden, um den Lebensstandard der Nachkriegsära nicht irrtümlich allein auf politische Interventionen zurückzuführen (vgl. ebd., 191-196). Allerdings wird hier die These vertreten, dass die Politik des Keynesianismus erst den Rahmen schuf, in dem diese verschiedenen Tendenzen gebündelt und entfaltet werden konnten. Jenseits eines politizistischen Fehlschlusses ist der Keynesianismus dann ein Schlüssel, um die Vergesellschaftungsmodi der Nachkriegszeit zu verstehen. Keynes’ Allgemeine Theorie lieferte 1936 der seit 1932 in den USA praktizierten Politik des ‚New Deal‘ das theoretische Fundament nach, das nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen kapitalistischen Nationen zum Bezugspunkt der wirtschafts- und sozialpolitischen Praxis wurde. Die wesentliche Innovation bestand in der Rückkehr zum aus der dominanten ökonomischen Lehrmeinung in die „Unterwelten von Karl Marx“ (Keynes 1936, 28) verbannten Problem der durch Investition und Konsum bestimmten „wirksamen Nachfrage“ (ebd., 20-29) als immanenter Regelgröße volkswirtschaftlicher Kreislaufprozesse. Es ging also um die nach Marx aus der beschränkten Konsumtionskraft der Gesellschaft resultierende Krisentendenz, oder, in der Formulierung von Keynes, um die „unbillige Verteilung von Einkommen und Vermögen“ (ebd., 314). Während Marx mit den liberalen Ökonomen darin übereinstimmte, dass die kapitalistischen Krisen selbst die Bedingungen ihrer ‚Heilung‘ schaffen, indem sie eine neue Hochkonjunktur vorbereiten, fürchtete Keynes angesichts der ‚Großen Depression‘, dass sich die Wirtschaft dauerhaft auf ein negatives Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung und Unterinvestition einstellen und sich in einem Teufelskreis festfahren könnte: Mangelnde effektive Nachfrage führt zu Absatzkrisen und Investitionsrückgang, damit zu Entlassungen und sinkenden Löhnen, die wieder zu Nachfragerückgang, Absatzproblemen, Investitionsrückgang, Arbeitslosigkeit und Lohnsenkung führen (vgl. Willke 2002, 118ff.). Die goldenen Regeln liberaler Krisen-Politik, die Löhne zu senken und den Staatshaushalt ausgeglichen zu halten, würden diese Tendenz verschärfen. Die ökonomischen und sozialen Folgen könnten zur Unterminierung jener Gesellschaftsform führen, von deren Alternativlosigkeit Keynes überzeugt war. Gerade als Liberaler suchte er Mittel, um die „Zerstörung der bestehenden wirtschaftlichen Formen in ihrer Gesamtheit zu vermeiden“ (Keynes 1936, 321) und das Marktsystem durch grundlegende Reformen zu erhalten. Das setzte eine Absage an den Mythos des selbstregulierten Marktes voraus, der nur „Armut im Überfluss“ (Keynes 2008, 139ff.) hervorbringe. Vor diesem Hintergrund zielte Keynes auf eine Analyse des volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhangs von Produktion und Konsum, um die Steuerungsgrößen zu bestimmen, mit denen durch eine Beeinflussung des Spar-, Investitions- und Konsumverhaltens der Gesamtprozess regulierbar ist. Die wirtschaftspolitischen Gebote des Keynesianismus zur Steuerung der wirksamen Nachfrage lassen sich einfach zusammenfassen: Die Staatsausgaben müssen antizyklisch in der Talfahrt der privatwirtschaftlichen Konjunktur erhöht werden. Die aufgenommene Staatsverschuldung ist in den Prosperitätsphasen wieder auszugleichen. Niedrige Zinsen sollen Investitionskredite anregen und gleichzeitig die Neigung zum Sparen reduzieren. Die Löhne dürfen nicht gesenkt werden, um die Konsumnachfrage zu stabilisieren. Konsumneigung und wirksame Nachfrage der Endverbraucher sollen durch Umverteilung von Gewinneinkommen zugunsten einkommensschwacher Gruppen (mit dem entsprechend hohem Anteil der Konsumausgaben

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am Gesamtbudget) erhöht werden.25 Staatliche Investitionen (z.B. in die ökonomische und soziale Infrastruktur oder in die Rüstung) sollen die Nachfrage stützen und zur Stabilisierung des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts mit dem Ziel der Vollbeschäftigung beitragen. Eine geregelte Inflation ist dabei in Kauf zu nehmen bzw. sogar zu begrüßen, da sie der Sparneigung entgegenwirkt und im Gegenzug die Investitions- und Konsumneigung hebt.26 Letztlich war keine dieser Maßnahmen neu. Eine Unterkonsumtionstheorie und quasi keynesianische Gegenkonzepte fanden sich schon 1817 in Resolutionen der Strumpfwirker von Leicester (vgl. Thompson 1987, 221ff.). Am Ende der Weimarer Republik bildete Keynes’ Maßnahmenbündel den Standardkatalog von Forderungen, in denen Gewerkschaften, SPD und der linke Strasser-Flügel der NSDAP übereinstimmten. Und die US-Politik des ‚New Deal‘ entsprach dem Ansatz ebenso wie die Politik des NS-Staates. Die nach der Machtübergabe an die NDSAP ab 1933 unter der Ägide des Wirtschaftsministers Hjalmar Schacht durchgeführten Maßnahmen hätten einem keynesianischen Lehrbuch entstammen können und galten international als so erfolgreich (vgl. Benz 2000, 97f.; Aly 2005, 49ff.), dass Keynes selbst ihnen in der Sache Respekt zollte – etwa wenn er ‚Hitlers New Deal‘ als erfolgreicher ansah als den Roosevelts (vgl. Sidelsky 1996, 97) oder indem er in der deutschen Ausgabe seines Hauptwerks der Hoffnung Ausdruck gab, dass seine Vorschläge im nationalsozialistischen Deutschland auf mehr Verständnis treffen würden als in England (vgl. Keynes 1936, VIIIf.).27 Insofern gab es den Keynesianismus vor Keynes (vgl. Bombach/Netzeband 1981). Die Innovation lag in einer konzisen theoretischen Begründung der oft unvermittelten und planlosen Einzelmaßnahmen, die nicht mehr der Logik einer Sozialpolitik folgte, sondern den Gegensatz sozialer und ökonomischer Forderungen aushebelte. Indem soziale Forderungen eine ökonomisch funktionale Begründung in einem volkswirtschaftlichen Gesamtkonzept erhalten, wird „ein Band zwischen dem Ökonomischen und dem Sozialen“ geschmiedet, „das grundsätzlich

25 Das soll weniger die Verteilungsungleichheiten mildern und eher den Absatz steigern: Da die Sparquote bei höheren Einkommen wächst und die Konsumquote bei niedrigeren Einkommen relativ höher liegt – simpel gesagt: wer weniger hat ist eher dazu geneigt (oder genötigt), sein gesamtes Einkommen auszugeben – kommen Zuwendungen an die Ärmsten am vollständigsten der Absatzsteigerung zugute (vgl. Keynes 1936, 90 & 97-112). 26 Vgl. zum Überblick Willke 2002, 131ff. In seiner Kritik an Sparneigung und Zinsen beruft sich Keynes (1936, 298ff.) auf Silvio Gesells antisemitisch gefärbte Freiwirtschaftslehre: „Ich glaube, daß die Zukunft mehr vom Geist Gesells als von jenem von Marx lernen wird.“ (Ebd., 300) Gesells Forderung kontinuierlicher Geldabwertung sei schwer umsetzbar, aber der „Gedanke ist gesund“ (ebd., 302). Zinseinkünfte seien negativ und der „sanfte Tod des Rentners, des funktionslosen Investors“ wünschenswert (ebd., 317). Hier war Marx’ Verständnis der Funktionen von Zins- und Spekulationsgeschäften in der Kapitalverwertung weitsichtiger als das des Geldtheoretikers Keynes. 27 Parallelen von Keynesianismus und NS-Wirtschaftspolitik wurden nicht nur von neoliberalen Kritikern betont. Dass einige der Lösungsansätze des Nationalsozialismus für immanente Probleme kapitalistischer Marktgesellschaften von denen anderer Nationen nicht verschieden waren, heißt aber nicht, dass der Keynesianismus den Weg zum Faschismus ebnete, wie Hayek (vgl. 1971 & 1943) suggeriert (s.u. 7.2). Es liegt nicht in der Logik des Keynesianismus, das Deficit-Spending durch Raubmord an den Juden und die Ausplünderung besetzter Gebiete auszugleichen, wie „Hitlers Volksstaat“ (Aly 2005) es tat (vgl. zur fiskalischen Bilanz des Judenmordes ebd., 54-66 & 209-318; und zu den „Kriegsgewinnen für das Volk“ ebd., 114-208 & 319-327).

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keine Unterordnung des einen unter das andere zur Folge hat, weil es ihre Verbindung durch einen zyklischen Mechanismus vorschlägt“: So springt das Soziale für das Ökonomische ein, „indem es der Gesellschaft künstlich aber wirksam erhöhte Kaufkraft und Beschäftigungsmöglichkeit zuführt. Gleichermaßen ist das auf diese Weise in einem konstanten Zustand guten Funktionierens gehaltene Ökonomische das Mittel für die Aufrechterhaltung einer Sozialpolitik, die den Arbeitern einen Schutz angedeihen läßt, der sie arbeitsfähig erhält“ und sie befähigt, „die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn die Konjunktur anspringt“ (Donzelot 1994, 150f.). Das Kreislaufmodell, das Distributionskorrekturen zugunsten der Lohnabhängigen zum Stimulus der Kapitalverwertung macht, ist prinzipiell auf alle Bereiche der Sozialpolitik übertragbar, da etwa die Ausweitung der medizinischen Versorgung erst jenen „kollektiven Konsum“ garantierte, der den Nachkriegs-Boom in Pharmaindustrie und Gesundheitsdienstleistungen ermöglichte (vgl. Hirsch/Roth 1986, 67f.). Entgegen den Verzerrungen in neoliberalen Kritiken, die den Keynesianismus als vom Sozialismus nicht wesentlich verschiedene Form zentralistischer Wirtschaftslenkung schildern (s.u. 7), zielt diese Regulation des Ökonomischen nicht darauf, den Marktmechanismus und privatwirtschaftliche Entscheidungen durch ‚Planwirtschaft‘ zu suspendieren. Keynes’ bekannte Metapher, dass der ‚Motor‘, d.h. die Grundkonstruktion der kapitalistischen Ökonomie, gut sei, es aber Probleme mit der Zündung gäbe, beschreibt die Intention: Der Staat soll ‚Starthilfe‘ geben und das ‚Getriebe‘ schmieren, nicht aber den ‚Motor‘ umbauen. Statt die Gesetze der Marktkonjunktur zu verändern, sollen ihre Auswirkungen – in Kenntnis der ihnen zugrunde liegenden Mechanismen – beeinflusst werden. Der kombinierte Einsatz der Lohn-, Arbeitsförderungs-, Zins- und Geldmengenhebel soll eine „zeitliche Regulation“ gesellschaftlicher Prozesse gestatten, um „Krisenphänomenen durch das Handeln auf die sie ankündigenden Signale hin entgegenzuwirken“ und „die Schwankungsbreite zwischen Perioden des Gleichgewichts und des Ungleichgewichts [zu] vermindern“ (Donzelot 1994, 151).28 Die Intervention beruht nicht auf der Planung der Produktion, sondern auf der Beeinflussung von Faktoren, an denen das Verhalten freier Wirtschaftssubjekte orientiert ist. Aufgabe der staatlichen Politik ist es explizit, „die Natur der Umwelt zu bestimmen, die das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte erfordert“, um durch den Einfluss auf Umweltfaktoren „das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zu zügeln oder zu leiten“, gerade um das „Feld für die Ausübung der privaten Initiative herzustellen“ (Keynes 1936, 320). Dieses Konzept steht ordoliberalen Vorstellungen einer Rahmenpolitik (s.u. 7.2) nicht so fern. Keynes kritisierte an der liberalen Theorie letztlich ‚nur‘, „daß ihre stillschweigenden Voraussetzungen selten oder nie erfüllt sind, mit der Folge, daß sie die wirtschaftlichen Probleme der wirklichen Welt nicht lösen kann“. Wo dies aber gelänge, würde die liberale Theorie „wieder zu ihrem Recht kommen“ (Keynes 1936, 319). Statt Investitions- oder Konsumentscheidungen zu diktieren, soll eine indirekte Beeinflussung der Neigungen zu Konsum, Investition und Sparen (vgl. ebd., 77-205; Willke 2002, 45-119) die Nachfrage auf hohem Niveau stabilisieren, um so die Wachstumstendenz der kapitalistischen Wirt-

28 Freilich ist die Kennzeichnung des Keynesianismus als „erste ökonomische Theorie, welche der Zeit Beachtung schenkt“ (Donzelots 1994, 151) nur bedingt zutreffend. Man denke an Marx, Sombart, Schumpeter etc.

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schaft in einem Zustand des kontinuierlichen Quasi-Booms zu halten. Hier bleibt die „mikroökonomische Allokationsentscheidung dem Markt vorbehalten […], während der Staat im Bedarfsfall die makroökonomische Niveausteuerung zu übernehmen hätte“ (Willke 2002, 152). Statt den Markt sozialstaatlichen Prinzip unterzuordnen, dehnt der Ansatz ökonomische Prinzipien aus, und subsumiert soziale Mechanismen dem Kontext der Marktregulation. In einer historischen Konstellation, in der die demokratischen Staaten im Dauerkonflikt zwischen ökonomischen und sozialen Forderungen vor den gleichermaßen problematischen Alternativen der autoritären (faschistischen) ‚Lösung‘29 und der Abgabe der staatlichen Macht an gewerkschaftliche und unternehmerische Interessengruppen mit konträren Strategien standen, bot der Keynesianismus einen „Mittelweg“, der es dem Staat gestattete, „den von der Gesellschaft eingeschlagenen Kurs zu kontrollieren und doch in einer Position außerhalb der Gesellschaft zu verharren“ (Donzelot 1994, 151), d.h. sich nicht auf eine Seite in den gesellschaftlichen Interessenkonflikten zu stellen oder eine direkte Lenkung aller gesellschaftlichen Bereiche zu beanspruchen. Zugleich entsprach dieser Ansatz der fordistischen Verkopplung von Massenproduktion und Konsum, bildete also eine Regulationsform, die in dieselbe Richtung wirkte, wie eine vorhandene ökonomische Tendenz. Diese Kompatibilität machte „die Keynesianisierung“ nicht nur zur „konsequente[n] Fortsetzung der fordistischen Regeltechnik“ (Lüscher 1988, 50), vielmehr wurde erst dank der „Zwischenschaltung des Staates in die Produktions-Reproduktionschlaufe“ (ebd., 68) der Regelkreis unabhängig von den Zufällen privater Entscheidungen und globaler Konjunkturen geschlossen. Insofern verhalf erst der Sozialstaat, begünstigt durch die lange Nachkriegskonjunktur, dem fordistischen Schema wirklich zum Durchbruch (vgl. Hirsch/Roth 1986; Bischoff/Detje 1989). Diese Synthese aus fordistischer Akkumulationsform und keynesianischer Regierungspraxis bildete nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Nationen einen relativ homogenen ‚historischen Block‘ kapitalistischer Vergesellschaftung im Sinne Gramscis. Auf der ökonomischen Seite konnte das Zusammenspiel fordistischer Modi der Produktionsorganisation und der durch staatliche Regulation gesicherten Nachfrage- und Investitionsanreize die 1929 kumulierende Überakkumulations- und Unterkonsumtionskrise überwinden und in der Nachkriegszeit die Stagnations- und Krisentendenzen durch Entfaltung ‚entgegenwirkender Ursachen‘ umkehren. Namentlich wirkten hier eine historisch ungekannte Erhöhung der relativen Mehrwertrate, die Erschließung neuer Produktionssektoren und Absatzmärkte und die Verbilligung der Produktions- und Distributionsmittel zusammen.30 In enger Wechselwirkung mit

29 Die Attraktivität und Logik der autoritären, faschistischen Lösung hat Karl Polanyi (1997, 297-329) differenziert herausgearbeitet: „Wenn es je eine politische Bewegung gab, die den Erfordernissen einer objektiven Situation entsprach und nicht das Ergebnis zufälliger Ursachen darstellte, dann war es der Faschismus.“ (Ebd., 314) 30 Die Rate des relativen Mehrwerts stieg dank der Rationalisierung der Produktion, die eine Absenkung des zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Teils des Arbeitstages erlaubte, selbst wo der materielle Umfang des Lohnkonsums wuchs. Durch Rationalisierung der Investitionsgüterindustrie sanken die Kosten von Produktions- und Transporttechnik, was die für einen bestimmten Produktivitätseffekt erforderte Höhe des konstanten Kapitals senkte. Die durch Automatisierung freigesetzte Arbeitskraft konnte durch Ausdehnung von Luxusproduktion und Dienstleistungssektor absorbiert und in Sektoren mit geringer orga-

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dieser ökonomischen Tendenz konnten sich die oben (IV.6.2) skizzierten konsumvermittelten Subjektivierungsmodi entfalten. Die Verbindung allgemein erhöhter Konsummöglichkeiten mit staatlichen Absicherungssystemen ermöglichte dabei eine hohe gesellschaftliche Integration (mit hoher administrativer Kontroll- und Regulationsdichte) bei gleichzeitiger Emanzipation von tradierten sozialen Bindungen. Dies bildete die strukturelle Basis der oft verzeichneten soziokulturellen Charakteristika dieser Periode, etwa der ‚Individualisierungsschübe‘ (vgl. u.a. Beck 1986) der Jugendkultur oder der ‚sexuellen Revolution‘.31 Die geteilte Konsum-, Fortschritts- und Wachstumsorientierung bot nicht nur die Grundlage eines tragfähigen ‚Klassenkompromisses‘, sie ließ die Konturen der Klassen selbst verschwimmen (s.u. V.4). Idealtypisch beruhte der fordistische und keynesianische Akkumulationsmodus ja darauf, Konflikte und politische Selbstorganisationsbestrebungen ökonomischer Klassen durch ein formalisiertes und staatlich moderiertes System von „Tauschbeziehungen“ zu suspendieren, wobei das Grundprinzip des Tauschs „höherer Löhne gegen höhere Produktivität“ die Basis eines beidseitigen „Konsenses“ über einen „um den Massenkonsum zentrierten Akkumulationsmodus“ bildete (Spurk 1986, 166f.).32 Es gab so konkrete und funktionale Gründe dafür, dass der Keynesianismus, der in den 1930er Jahren als Opposition zur dominanten ökonomischen Theorie antrat, nach 1945 seinerseits zur ökonomischen Orthodoxie wurde, die über mehr als zwei Dekaden die Basis eines breiten ‚keynesianischen Konsens‘ bot (vgl. Willke 2002, 149ff.), dem in seinen ökonomischen Grundlagen wie in seinen soziokulturellen Ausprägungen unbeschränkte Stabilität zugeschrieben wurde. Der technischinstrumentelle Glaube an die Steuerbarkeit des Gleichgewichts komplexer Systeme bildete eine kulturelle Grunddisposition dieser Zeit, die im Aufstieg der Kybernetik zum transdisziplinären Paradigma (vgl. u.a. Hirsch/Roth 1986, 74ff.) noch die wissenschaftlichen Weltbilder prägte. Keynes selbst betonte freilich, „daß nur die Erfahrung zeigen“ könne, „inwieweit der gemeinsame Wille, verkörpert in der Politik des Staates, auf die Vermehrung und Ergänzung der Veranlassung zur Investition gerichtet werden sollte, und inwieweit es gefahrlos ist, den Durchschnittshang zum Vernischer Zusammensetzung des Kapitals, d.h. mit einem höheren Anteil an lebendiger Arbeitskraft, gelenkt werden. Die relative Lohnhöhe begünstigte einen kontinuierlichen Absatz, während die Ausweitung der Absicherungs- und Vorsorgetechniken ganzen Produktions- und Dienstleistungszweigen einen enormen Schub gab (v.a. im medizinischen Sektor). Zusätzlich begünstigt wurde die lange Hochkonjunktur durch Kriegszerstörungen und Wettrüsten. Vgl. u.a. Hirsch/Roth: 1986, v.a. 46-103. 31 Die ‚sexuelle Revolution‘ war von zwei Seiten durch das Akkumulationsmodell bedingt. Einerseits setzte sie eine technische Revolution mit hohen Entwicklungskosten voraus: die Antibabypille, die ohne den Boom der Pharmaindustrie (dank der Expansion medizinischer Leistungen) undenkbar gewesen wäre. Andererseits erforderte die Entbindung der Sexualität aus tradierten sozialen Zusammenhängen, dass soziale Reproduktions- und Absicherungsfunktionen von der Familie auf den Staat übergingen, was eine Lösung von tradierten Familienmodellen erlaubte. Vgl. zur fordistischen Transformation der Geschlechterverhältnisse: Kohlmorgen 2004. Ähnlich setzte die Jugendkultur, neben den Innovationen in der Unterhaltungsindustrie, solche Freiheitsgrade und die verlängerte Adoleszenz voraus, die ihrerseits mit veränderten ökonomischen Bildungserfordernissen zusammenhing (s.u. V.4). 32 Idealtypisch heißt selbstverständlich, dass es realitär erhebliche nationale Varianzen gab. So war die Stillstellung der Klassenkonflikte in der BRD erfolgreicher, während – wie Spurk (1987) zeigt – im „Fordismus à la francaise“ (ebd., 162ff.) trotz der Erhöhung des Konsums (vgl. ebd., 110f.) die Klassenspannungen und -kämpfe weit ausgeprägter blieben.

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brauch anzuregen“ (Keynes 1936, 318). Mit Berufung auf die Erfahrungen mit dem praktizierten Keynesianismus wurde Keynes im Zuge der ‚neoliberalen Revolution‘ seit den 1970er Jahren entthront und in den Think-Tanks ökonomischer Politikberatung zur Persona non grata. Auch dies lässt sich allerdings nicht schlichtweg als Ablösung einer beliebigen Ideologie oder Gouvernementalität durch eine andere verstehen. So wie der Erfolg des Keynesianismus konkrete historische Bedingungen in einer Krisenerfahrung und in einer temporären Kompatibilität mit veränderten Erfordernissen der Kapitalverwertung hatte, so lässt sich auch die sukzessive Durchsetzung der neoliberalen Gouvernementalität nur vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden und grundlegenden Krise des durch das Zusammenwirken von fordistischer Produktion und keynesianischer Regulation gekennzeichneten ‚Akkumulationsmodus‘ verstehen.

6.4 K RISE

UND T RANSFORMATION DES FORDISTISCH KEYNESIANISCHEN M ODELLS „In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist von Leuten wie Keynes oder Beveridge […] sehr wichtige Arbeit […] in den Bereichen Politik, Ökonomie und Gesellschaft geleistet worden. Doch stimmen wir darin überein, dass die Krise, die wir durchlaufen, und die bald zehn Jahre alt sein wird, nichts Interessantes und auch nichts Neues von dieser Seite hervorgebracht hat. Es scheint, als sei diese Seite gewissermaßen steril geworden: Man macht darin keine bedeutsamen Erfindungen mehr.“ MICHEL FOUCAULT (2005, 449)

Im Jahrhundertrückblick erklärte die Financial Times am 6.12.1999 das „Zeitalter von Keynes“ zum „erfolgreichste[n] in der Geschichte der Weltwirtschaft“ (zit. in: Willke 2002, 140) und in der Krise seit 2008 beteten manche Ökonomen um Keynes’ Rückkehr (vgl. u.a. Krugman 2008, 211-222). Es gab gleichwohl Gründe dafür, dass der Keynesianismus nicht den austarierten Finalzustand kapitalistischer Gesellschaften markierte, als den viele Zeitdiagnosen ihn ansahen. Die schlagartige theoretische Entthronung von Keynes ab 1970 – der, gerade noch Namensgeber und Schutzpatron der ökonomischen Orthodoxie, plötzlich als ‚toter Hund‘ galt (vgl. Lepage 1979, 226ff.)33 – und das Abrücken vom Keynesianismus in der Realpolitik stand im Zusammenhang mit einer Krise dieser Akkumulations- und Regierungsform, die in allen kapitalistischen Nationen zu Transformationen mit geteilter Grundrichtung führte.34 Wenn im Folgenden auf Konstellationen der Krise und Transformation des for33 Hirsch und Roth bemerken, dass die „Krise der Ökonomie [...] eine ebensolche der Theorie“ produziert: Eine Wirtschaftstheorie, die die „Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt nicht begreift“, ist „gezwungen, die ‚langen Wellen‘ der kapitalistischen Ökonomie […] auf ihrem eigenen Terrain zu reproduzieren“ (Hirsch/Roth 1986, 36). 34 Dass es sich um eine Tendenz mit strukturellen und funktionalen Ursachen handelt, zeigt sich darin, dass die Grundrichtung der Transformation unabhängig von soziokulturellen Besonderheiten oder von der politischen Ausrichtung der Regierungen war, die sie voran-

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distisch-keynesianischen Modells eingegangen wird, so auch, um mit Foucault (vgl. 2004b, 105ff.) und gegen die an ihn anschließenden ‚Gouvernementalitätsstudien‘ (u.a. Bröckling 2007) daran zu erinnern, dass Umbrüche in den Formen der Gouvernementalität nicht unabhängig von den Krisen des Kapitalismus sind. Der globale Siegeszug des Neoliberalismus ist nur aus dem konkreten Kontext der ökonomischen und politisch-kulturellen Krisenkonstellation der 1970er Jahre zu verstehen (vgl. Foucault 2004b, 273ff.). Die praktischen Probleme des ‚hydraulischen Keynesianismus‘, der den Wirtschaftsprozess als geschlossenes System ansieht, das durch einfaches Drehen an den Stellschrauben der Investitions-, Konsum- und Sparneigung gelenkt werden kann, sind oft herausgearbeitet worden, nicht zuletzt schon von Keynes selbst: Öffentliche Beschäftigungsprogramme können in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ohne volkswirtschaftlichen Nutzen ausarten, die Keynes’ Scherz, man könne Löcher graben oder, wie die Keynesianerin Joan Robinson formulierte, „den Schwarzwald weiß anstreichen“ (zit. in: Willke 2002, 64), ernst nehmen. In Krisen gewährte Sozialleistungen werden als erreichter Besitzstand verteidigt, womit durch permanentes deficit spending Staatsverschuldung und Steuerlast steigen, was wachsende Verwaltungsapparate zusätzlich forcieren. Künstliche Nachfrage und die Stützung veralteter nationaler Produktionsstrukturen verhindern die Anpassung an die Innovationszwänge des Weltmarktes. Hohe Reallöhne fördern den Absatz, erscheinen aber auf der Kostenseite als Begrenzung der Kapitalgewinne, was in der globalen Konkurrenz mit Niedriglohnstaaten rasch zum Standortnachteil wird.35 Diese oft aufs Tableau gebrachten Probleme wurden meist darauf zurückgeführt, dass lediglich das Gespür für konkrete Wechselwirkungen verschiedener Faktoren zugunsten eines unkoordinierten Bedienens der vertrauten Hebel verloren gegangen sei.36 Sie liegen jedoch eher an der Oberfläche der keynesianischen Regulation, unter der sich ein Komplex tiefer reichender struktureller Antagonismen, Ambivalenzen und Problemlagen verbirgt. Diese betreffen einerseits die unmittelbar ökonomischen Funktionsbedingungen des Modells, andererseits die besonderen Konfiguration der Verhältnisse von Staat, Gesellschaft und Individuum. In beiden Bereichen zeigten auch die Formen der keynesianisch-fordistischen Subjektivierung zunehmend ambivalente und paradoxe Effekte. Die Krise des Keynesianismus in den 1970er Jahren war also nicht einfach in einer misslungenen Politik oder in externen Faktoren (wie dem ‚Ölpreisschock‘) begründet, sondern in einem Komplex endogener ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Faktoren, die der keynesianischen Regulation inhärent sind. Dass der Keynesianismus gerade aufgrund seiner „ökonomisch-sozialen Dynamik zur Schranke der Kapitalverwertung“ (Hirsch/Roth 1986, 78 [Hervh. i.O.]) wurtrieben. In England erschienen die Reformen der neoliberalen und neokonservativen Thatcher-Regierung noch maßvoll gegenüber jenen, die in den 1990er Jahren von der LabourRegierung durchgesetzt wurden. In Deutschland regierte Rot/Grün weit ‚neoliberaler‘ als die vorherige Koalition aus CDU und FDP. 35 Vgl. zu diesen Problemen Willke 2002, 156-170. In der Kritik der Hochlöhne herrschte in den 1970er Jahren zwischen Neoliberalen und neomarxistischer ‚profit-squeeze‘-Theorie Eintracht. Vgl. u.a. Hirsch/Roth 1986, 34ff. 36 Ein Argument aller Neo-Keynesianer, die eine Besinnung auf die Errungenschaften fordern: Das Modell ist gut, nur die Anwendung und die Umstände waren schlecht (vgl. u.a. Willke 2002, 165-170; Krugmann 2008, 211-222).

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de, zeigte sich darin, dass noch vor dem ‚Ölpreisschock‘ von 1973 in allen Industrienationen klassische Charakteristika einer Überakkumulation (s.o. III.2) vorlagen: ein starker Fall der Durchschnittsprofitrate 1970, Brachliegen von Kapital und steigende Arbeitslosigkeit, Rückgang der Realinvestition und massive Kapitalverschiebung in Spekulationsgeschäfte (der „Spekulationsboom“ auf Gold, Immobilien, Kunst und Rohstoffe 1972-73), eine enorme Aufblähung der privaten und öffentlichen Kreditverschuldung, etc.37 Das Grundproblem jeder Überakkumulationskrise wurde vom (kaum marxismusverdächtigen) The Economist eingängig formuliert: „Profits first, investments later“.38 So wirken die Daten bei Hirsch und Roth (vgl. 1986) oder bei Mandel (vgl. 1987b, v.a. 9-30, 248-259) wie Bilderbuchillustrationen des Umschlagpunkts eines klassischen Kondratieffzyklus, in dem sich nach einem längerfristigen Anstieg die Tendenz zum Fall der Profitrate wieder durchsetzt und in einer allgemeinen Krise mündet. Die offenkundige Erschöpfung der technischen und organisatorischen Reserven des Fordismus zur Erhöhung des relativen Mehrwerts39 reicht jedoch nicht aus, um die konkreten Ursachenkonstellationen dieser Krise zu erschließen, die vom gesellschaftlichen Rahmen des Keynesianismus nicht zu trennen sind, der in mehrfacher Hinsicht vom Garant und Katalysator zum Hemmnis der Kapitalverwertung geworden war. Das System von Tariflöhnen, Arbeits- und Kündigungsschutz und die relative Stärke der Gewerkschaften schränkte den Spielraum für Entlassungen, Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen ein und behinderte die Flexibilität der Ware Arbeitskraft, die anderenfalls den Fall der Profitrate hätte kompensieren können (vgl. u.a. Schmidt 1997). Zudem war die positive Wirkung, die die Lohnhöhe auf der Nachfrageseite zur Vermeidung von Unterkonsumtionskrisen haben sollte, durch Störung der Rückkopplung von Lohnkosten und Konsum gehemmt: Durch den Anstieg der Lohnnebenkosten zum Ausbau der Transfer- und Versicherungssysteme blieb die Steigerung der Realnettolöhne (und damit der freien Nachfrage) weit geringer als die der Lohnkosten. Im Zusammenspiel mit sektorieller Marktübersättigung und der Trägheit der fordistischen Massenproduktion bei der Marktanpassung bewirkt dies wachsende Absatzprobleme.40 Die Krise der führenden westlichen Nationalökonomien wurde noch verstärkt, da die nachholende Fordisierung der Schwellen-

37 Die realwirtschaftliche Durchschnittsprofitrate (vor Steuern), die in den USA von 1948-50 bei 16,2%, 1961-1965 bei 14,1% lag, sank 1970 auf 9% und stagnierte in den Folgejahren auf diesem Niveau, ähnlich verhielt es sich in Europa (vgl. Mandel 1987b, 21ff.). Vgl. zum Steigen der öffentlichen und privaten Verschuldung und der Kreditaufblähung: ebd., 28ff. & 67ff.; zum Rückgang der Realinvestition in den Leitindustrien: ebd., 50-59; zum Spekulationsboom: ebd., 70ff. & 100-120. Da all diese Tendenzen noch vor dem Steigen des Ölpreises ausgeprägt waren, kann dieser Auslöser nicht (wie in der verbreiteten Deutung) als Ursache der Krise angesehen werden (vgl. ebd., 34-39). 38 The Economist v. 6.9.1975, zit. in: Mandel 1987b, 23. 39 Die Erschöpfung fordistischer Potenziale zur Erhöhung der Produktivkräfte war deutlich im Rückgang der Zuwächse bei der Arbeitsproduktivität erkennbar. Zugleich gab es Indikatoren für eine rasch steigende organische Zusammensetzung des Kapitals in der Kapitalintensität (Bruttoanlagevermögen je Beschäftigtem), die von 1960 bis 1970 um 72,5% stieg. Ab 1970 war dann die durchschnittliche Zuwachsrate der Kapitalrentabilität negativ. Vgl. Hirsch/Roth 1986, 79f. 40 Vgl. ausführlich: Mandel 1987b; Hirsch/Roth 1986; Kohlmorgen 2004, 161-172; Lipietz 1985; Schmidt 1997.

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länder zum zunehmenden Kapitalabfluss in diese neuen „Inseln der Überausbeutung“ (Lipietz 1984) führte.41 Die Produktionsverlagerung in die Niedriglohnperipherie förderte die Deindustrialisierung in den einstigen Produktionszentren. Nicht zu vergessen ist auch, dass das dem keynesianischen Modell vorausgesetzte Dauerwachstum von Produktion und Konsum durch schrankenlose Ausbeutung natürlicher ‚Gratisproduktivkräfte‘ erkauft war und die Zerstörung der Naturgrundlagen zu steigenden ökologischen und sozialen Folgekosten des „destruktiven Wachstums“ (Gorz 1977) führte.42 Die ökonomischen Krisenfaktoren verbanden sich mit einer Krise des staatlichen Regulationsmodells, in der die Krise der Staatsfinanzen nur ein Moment bildete. Die Ausweitung sozialstaatlicher Transferleistungen, Konjunkturbelebungsprogramme (die angesichts verschlechterter Kapitalverwertungsbedingungen kaum Effekte zeigten) und Subventionen zur Abschirmung nationaler Produktionsstrukturen gegen den globalen Strukturwandel sollten den keynesianischen Konsens unter Wahrung der Interessen von Gewerkschaften und Unternehmen zunächst stabilisieren, konnten aber die ökonomische Stagnation nicht überwinden, während Staatsverschuldung, Steuerlast und Inflation stiegen. Diese die Spätphase des real existierenden Keynesianismus charakterisierende strukturelle Stagflation (vgl. Friedman 1980, 265-300) trug wesentlich zur wirtschaftstheoretischen Delegitimation des keynesschen Ansatzes bei (vgl. Hirsch/Roth 1986, 81ff.; Willke 2002, 154ff.). Neben dem Scheitern der wirtschaftspolitischen Steuerungsambitionen trat aber in vielfältigen Varianten auch jenes Grundproblem zutage, das Offe (1972; 1984) und daran anschließend Lessenich (2008; 2009a) analysierten: Der für die Kompensation externer Effekte und autodestruktiver Tendenzen der Kapitalverwertung unerlässliche Staat kann auf die in ihren Ursachen ungelösten Problemkonstellationen nur durch „ständig wiederholte Akte der Problemverarbeitung“ reagieren, in denen er „die Selbstwidersprüchlichkeit kapitalistischer Bewegung […] internalisiert“ und sie (in eine andere Funktionslogik transponiert) „reproduziert“, was neue „Folgeprobleme“ hervorbringt (Lessenich 2009a, 142). Als „zugleich problembearbeitende wie problemerzeugende, permanent krisenhafte gesellschaftliche Strukturbildung ‚zwischen‘ Kapitalismus und Demokratie“ (ebd., 130) kann der Sozialstaat seine Funktion, das Prozessieren der Widersprüche des Kapitalverhältnisses in einer Form zu vermitteln, welche die gesellschaftlichen Destruktivkräfte und Konfliktpotenziale zu entschärfen vermag, nur erfüllen, indem er zugleich Krisen- und Konfliktdynamiken auf anderen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenhangs freisetzt. Bereits lange vor dem Ausbruch der ökonomischen Krise hatte die fordistischkeynesianische Konfiguration der Verhältnisse von Staat, Individuen und Ökonomie ihre strukturellen Ambivalenzen gezeigt. Das Spezifikum des keynesianischen Staates war es, nicht nur (wie der klassische Versicherungsstaat; s.o. IV.5) als Garant der

41 Diese boten den Vorteil, dass Arbeitskräfte teils unter dem biologischen Reproduktionsniveau entlohnt werden konnten, da Subsistenzproduktion und soziale Einbindungen die Versorgung garantierten (vgl. Lipietz 1984). 42 Bei destruktivem Wachstum müssen wachsende Teile des Sozialproduktes zur Kompensation ökologischer Folgeschäden aufgewandt werden, ohne eine Steigerung der Befriedigung von Konsumbedürfnissen zu leisten. Vgl. zur Krise der fordistischen Naturverhältnisse: Görg 2004, v.a. 200ff.; Hirsch/Roth 1986, 83ff.; Altvater 2005.

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organischen Solidarität zwischen den Gesellschaftsgliedern aufzutreten, sondern als Verwalter des allgemeinen „Fortschritts“ der Gesellschaft, als „Agent ihres Schicksals“ (Donzelot 1994, 155). Sein Leistungsversprechen lag darin, in einem integrativen Wachstumsmodell den Gleichschritt zwischen den Akkumulationserfordernissen des Kapitals und den sozialen Forderungen der Lohnarbeitsgesellschaft herzustellen. Dies war freilich nur durch (vom Standpunkt der Kapitalverwertung) ebenso systemnotwendige wie systemfremde Regulations- und „Auffang-Mechanismen“ möglich, mit denen „die selbstnegatorischen Tendenzen der kapitalistischen Grundstruktur jeweils abgefangen, gepuffert oder umgeleitet, jedenfalls an der krisenhaften Manifestation gehindert“ werden (Offe 1972, 21), was jedoch statt zur Harmonisierung der sich in objektiven Gegensätzen bewegenden Anforderungen bestenfalls zur temporären Stockung und Verlagerung der Widerspruchsentwicklung durch eine Politik des ständigen ‚Durchwurschtelns‘ führte (vgl. ebd., 27-105). Der dafür erforderte Ausbau einer administrativen Vormundschaft verlangte beiden Seiten, dem Kapital wie der Lohnarbeitskraft, einen Preis für die versprochene Koordination des gemeinsamen Fortschritts ab, der neben der steigenden Abgabenlast in einer zunehmenden Freiheitsbegrenzung bestand: Für das Kapital hinsichtlich der freien Verfügung über die Lohnarbeit, für die Lohnarbeitskräfte in einem Verzicht auf Selbstführungs- und Entfaltungsansprüche im Produktionsprozess und auf eine Selbstorganisation jenseits der formalisierten und staatlich moderierten Aushandlungssysteme. In einer Regulationsform, die darauf beruhte, eine grundlegende „Neuordnung der Gesellschaft zu vermeiden, indem man für das durch die existierende Gesellschaft verursachte Ungemach entschädigt“, womit „die Individuen sich darauf einrichten, ständig Ansprüche an den Staat zu stellen als Ausgleich für den Zugriff auf ihre Entwicklung, dessen sie von ihm beraubt wurden“, stellt sich hier einerseits die Frage, „wo eine Grenze für das Anwachsen dieser Forderungen“ gezogen werden kann (Donzelot 1994, 156f.). Andererseits lässt sich diese Frage nicht mit einem naiv verstandenen Liberalismus dahingehend beantworten, dass der Staat die Anspruchsinflation (der Bürger) abwehren muss (um den Ansprüchen des Kapitals gerecht zu werden), da die wachsenden, durch staatliche Vermittlung erfüllten Bedürfnisse strukturelle Ursachen haben und in multipler Hinsicht systemnotwendig sind: Auf der ökonomischen Seite muss zur dynamischen Reproduktion neben der Produktion auch der Konsum wachsen, der zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung der von veränderten Produktionserfordernissen diktierten neuen Qualitäten der Lohnarbeitssubjekte ist. Auf der politischen Seite ist die repräsentativdemokratische Regierung gezwungen, sich periodischen Wahlen zu stellen, und kann sich daher den sozialen Forderungen nie gänzlich entziehen. Im politisch-ökonomischen Zusammenhang muss schließlich die systemnotwendige Auflösung tradierter unmittelbar sozialer Bindungsformen und Absicherungsverhältnisse durch die Ausbildung objektiver Mechanismen kompensiert werden, um die Reproduktion des gesellschaftlichen Zusammenhangs und der individuellen und kollektiven Existenzbedingungen in anderer Form zu vermitteln.43

43 Vgl. zur funktionellen Gemengelage der Vermittlungsversuche des inneren Zusammenhangs der sich in äußeren Gegensätzen bewegenden sozialen Bedürfnisse und der Kapitalverwertung ausführlicher: Offe 1972; Lessenich 2009a; 2008.

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In diesen komplexen Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie, Staat und Bevölkerung ist selbst wieder eine strukturell krisenhafte Steigerungsdynamik eingebaut: Die soziologisch oft beschriebenen Individualisierungsschübe (vgl. u.a. Beck 1986; Hradil 1990; Schulze 1993) – die im hier diskutierten Zusammenhang wesentlich durch die Anreizung zum individuierenden Konsum, die Kapitalisierung der Reproduktionssphäre zur Verwandlung ehemaliger Haushaltsfunktionen in Anlagefelder und Absatzmärkte sowie durch die gesteigerte soziale und geographische Mobilität induziert waren – sind für die Ausdehnung des Marktes wie für die wachsende Flexibilität der Arbeitskraft konstitutiv und daher eine Voraussetzung kapitalistischen Wachstums. Möglich wird die dafür erforderte Emanzipation der Individuen aus unmittelbaren familiären und nachbarschaftlichen Sozialbeziehungen aber nur durch die Übertragung der gesellschaftlichen Funktionen dieser sozialen Beziehungen auf staatliche Absicherungssysteme. Dieses Strukturarrangement konnte aber nur ausgebaut werden, indem zugleich ein „tieferer Widerspruch in der Funktionsweise des Sozialstaates“ (Castel 2008, 344) entfaltet wurde, der darin liegt, dass die Entwicklung der staatlich objektivierten Absicherungs-, Bindungs- und Kompensationsmechanismen zu einer weiteren Individualisierung und Atomisierung der Gesellschaft beiträgt (vgl. ebd. 344-348; 401-413). Jede Expansion der staatlich verwalteten Sozialleistungen führt zur weiteren Fragmentierung und Desintegration ‚naturwüchsiger‘ (Verwandtschaftlicher) und selbstorganisierter (Vereine, Genossenschaften) Solidarverhältnisse, die wiederum eine weitere Bürokratisierung und „Durchstaatlichung der Gesellschaft“ (Hirsch/Roth 1986, 66ff.) funktional erforderlich macht. Die wachsende ‚fürsorgliche Belagerung‘ durch den „Sicherheitsstaat“ (Hirsch 1980) bei gleichzeitiger Unterhöhlung tradierter Bindungs- und Assoziationsformen beklagte Habermas als ‚Kolonialisierung‘ und ‚Krise der Lebenswelt‘ und formulierte dabei grundlegende Topoi jener allgemeinen Sozial-Staats-Kritik, in der sich in den 1970er Jahren linke, liberale und konservative Stimmen trafen, was die soziokulturellen Legitimationsgrundlagen des Keynesianismus zunehmend zersetzte (s.u. 7.3). Habermas reflektierte freilich ebenso wenig wie viele andere Kritiker des Keynesianismus, dass die angeprangerten Effekte des hypertrophen Sozialstaats (vgl. Habermas 1995, Bd. 2, 530-547) funktionsnotwendige Strukturmomente eben jenes Systemzusammenhangs von Kapitalismus und Staatsverwaltung sind, dessen „evolutionären Eigenwert“ (ebd., 499 [Hervh. i.O.]) er zugleich affirmierte. Obwohl die prinzipiellen Potenziale einer Subjektivierung und Integration durch Konsum (vgl. Schrage 2009) noch nicht ausgeschöpft waren und die Attraktivität und Legitimität des Massenkonsums bei der Mehrheit der Bevölkerung ungebrochen fortbestand, zeigten auch die konkreten Ausprägungen der fordistischen Konsumkultur zunehmende Ambivalenzen. Zwischen der vom fordistischen Subjekt geforderten Leistungsorientierung in der (gegenüber den Verheißungen des Konsums abgewerteten) Arbeit und der konsumistischen Entfaltung in der Freizeit bestand von jeher ein Spannungsverhältnis, das Lüscher (1988) auf die Formel brachte, dass sich „der Haushalt […] zugleich als konsumistischer Suchthaufen und als Erziehungsanstalt mit den Unterrichtszielen Leistungsbereitschaft und Arbeitsdisziplin bewähren“ müsse (ebd., 58). Die Selbstdisziplin des Arbeitssubjekts und das für den exponentiellen Konsum geforderte hedonistisch-narzisstische Genusssubjekt sollten zwar durch ein Leistungskalkül verschränkt sein, welches die Lohnarbeit als Eintrittskarte ins Kon-

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sumparadies behandelt, diese Verkopplung erschien aber in dem Maße bedroht, wie Lohngarantien und Kündigungsschutz zur verstetigten Selbstverständlichkeit wurden und sozialstaatliche Sicherungen auch bei Arbeitsverlust einen tolerablen Konsumstandard garantierten. Das Konsumsubjekt drohte im keynesianisch gesicherten Fordismus destruktiv auf das Arbeitssubjekt zurückzuwirken, was sich seit den 1960er Jahren v.a. bei der jüngeren Generation in abnehmender Leistungsbereitschaft und einer zunehmend negativen Einstellung zur Lohnarbeit bemerkbar machte. Lüschers Kennzeichnung des „fordistischen Sozialcharakters“ als „Krümelmonster“ (ebd. 34) bedient insofern kein Stereotyp neoliberaler Kritik, sondern bezieht sich auf die in vielen Studien bestätigte Tendenz, dass die Sinnentleerung der fordistischen Arbeit durch Partizipation am Massenkonsum, der für Teile der ‚68er Generation‘ seinerseits an Attraktivität verlor, nicht mehr hinreichend kompensiert wurde. Im Produktionssektor führte das zur Häufung passiver Widerständigkeiten in den Formen von Absentismus und Schlamperei, die auch wo sie nicht in gezielter Sabotage mündeten (wie zum Teil in Frankreich und Italien) genügten, um die störanfälligen fordistischen Produktionsformen weiter zu unterminieren. 44 Aktive Kritik, passive Widerstände und die Spirale der Bedürfnisinflation bei abnehmender Leistungsmotivation zeigen auch, dass die in manchen marxistischen Modellen der Real-Subsumtion ebenso wie die in manchen Foucaultinterpretationen unterstellte „grenzenlose Zurechtschleifbarkeit“ der Subjekte „unhaltbar“ ist (Hirsch/Roth 1986, 89). In der diffusen Gemengelage von Emanzipations- und Regressionstendenzen, zu der die fordistischen und keynesianischen Subjektivierungsformen geführt hatten, waren die Frontlinien zwischen den Strategien und Dispositionen aber zunächst ebenso uneindeutig wie die Wertorientierungen.45 Der Ausgang sowohl der politischen Neuorientierung wie auch der heterogenen Strategien und Konflikte, die seit den späten 1960er Jahren mit der Krise des Keynesianismus koinzidierten, war vor diesem Hintergrund offen. Sicher erschien lediglich, dass das keynesianische Regulationsprojekt quasi an sich selbst, an den Langzeiteffekten seiner Erfolge, gescheitert war und sich als „steril“ (Foucaults 2005, 449) erwies, wo es um fruchtbare Antworten auf die gegenwärtigen Krisen ging. Auf Seiten der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte zeichnete sich jedoch ein (früh als solcher erkannter) potenzieller Ausweg aus der Verwertungskrise ab: der Mikroprozessor und die Informationsverarbeitung. Zwar war der Aufstieg dieser Technologien zu Waren des Massenkonsums kaum absehbar, sehr wohl aber ihr Potenzial als revolutionäres Produktionsmittel. War in der fordistischen Fabrik die Gesamtheit der Produktionsinformationen in der ‚Hardware‘ technischer Anlagen materialisiert, was diese erst bei großen Produktserien rentabel und jede Produktionsumstellung kostenintensiv machte, ermöglichte die Kopplung einer variablen maschinellen ‚Hardware‘

44 Vgl. zu den seit den 1960er Jahren vermehrt auftretenden unorganisierte und sporadische passive Widerstandsformen gegen die sinnentleerte Arbeit: Hirsch/Roth 1986, 60f., 80f. & 89ff.; Castells 1980; Spurk 1987, v.a. 197ff. Vgl. zu den organisierten und bewussten Widerstandsformen – etwa im französischen und italienischen Operaismus: Wright 2005. 45 Gegen eindeutige ‚Postmaterialismus‘-Thesen (vgl. Inglehart 1977) bot die Kommission Zukunftsperspektiven (1983, 43) das Bild eines „labilen Zustands“ der Wertorientierungen, in dem eine „instabile Mischung“ einander widersprechender Dispositionen zu starken Pendelbewegungen führte, deren Verlauf von „Umweltreizen“ abhing.

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mit einer flexiblen und leicht austauschbaren Software raschere Variationen und die rentable Produktion kleinerer Stückzahlen. Das erleichterte die Automatisierung und Rationalisierung kleinerer Unternehmen, beschleunigte die Marktanpassung und erlaubte mehr Experimente in der Anreizung und Befriedigung neuer Bedürfnisse, die auch die im Zuge der 68er-Bewegung vermehrt artikulierten Authentizitätssehnsüchte besser bedienten.46 Zudem beförderte die neue Informations- und Kommunikationstechnik das ‚Outsourcing‘ bis hin zum ‚world-wide sourcing‘ (Hill 1984), bei dem Teilfunktionen des Produktionsprozesses global so verteilt werden, dass die Kapitalrentabilität erhöht wird und bei lokalen Verschlechterungen der Verwertungsbedingungen rasche Umstrukturierungen möglich sind. Gegenüber den auf Kontinuität und räumlich-hierarchische Zentralisierung angelegten Produktionsstrukturen des fordistischen Betriebs ermöglichte das neue Formen flexibilisierter, projekt- und netzwerkbasierter Produktion. Diese Potenzialitäten zur Überwindung einer Verwertungskrise bedeuteten freilich auch in diesem Fall nicht, dass technische Innovationszyklen die ‚langen Wellen‘ kapitalistischer Entwicklung direkt bestimmen, wie dies tendenziell bei Schumpeter (vgl. 1961) suggeriert wird. Wissenschaftliche Entdeckungen und technische Innovationen gibt es im Kapitalismus permanent, ohne dass ihre gesellschaftlichen Wirkungen feststehen. Auch der Fordismus beruhte ja weniger auf neuen ‚Erfindungen‘ als auf der Rekombination und Optimierung vorhandener Techniken, die erst in einem neuen Gesamtrahmen der Betriebs- und Menschenführung ihre Wirkung entfalteten. Ebenso konnte die Informationstechnologie nur durch eine Umwälzung der organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen wirksam werden. Die von der Mikroelektronik beförderten Produktionsformen vertragen sich nur sehr begrenzt mit fordistischen Modi der Arbeitsorganisation. Gegenüber einer relativ wenig differenzierten und gegliederten Massenarbeit gewinnen neue Tätigkeitsprofile mit anderen Qualifikations- und Flexibilitätserfordernissen an Gewicht.47 Zusätzlich zu den vielfältigen Auswirkungen der Krise erzeugte das einen weiteren Flexibilisierungsdruck, der kein schlichtes ‚Diktat des Kapitals‘ war, sondern sich mit verbreiteten Forderungen junger qualifizierter Arbeitskräfte nach mehr Autonomie und nach höheren Mitgestaltungsmöglichkeiten im Produktionsprozess verbinden konnte (s.u. 7). Hingegen kollidierten die Flexibilisierungs- und Umstrukturierungstendenzen notwendig mit dem staatlich-institutionellen Rahmen von Arbeitsrechts- und Tarifbestimmungen. Es war auch dieser Widerspruch zwischen bisherigen Modi sozialpolitischer Massenintegration und den ‚Zwängen‘ kapitalistischer Modernisierung, an denen das keynesianische Modell schließlich zerbrach.

46 Vgl. Boltanski/Chiapello 2003; Altvater 2005; Hirsch/Roth 1986, 106-114; Bischoff/Detje 1989, 59-79. 47 Auch hier geht es um ein relationales Argument. Simplifizierende Thesen der postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, in der die industrielle Produktion verschwände, sind naiv. Sie verschwinden nur aus dem Blickfeld der Theorien (vgl. Stehr 1994; Bell 1975; sowie kritisch Beaud/Pialoux 2004, 21-34). Im ‚Postfordismus‘ bestehen fordistische Elemente fort und bieten eher das Bild einer „Hyperindustrialisierung“ (Hirsch/Roth 1986, 115-122). Ebenso naiv ist es aber, mit Berufung auf die hohen Zahl gering qualifizierter Arbeit(er) und der anfangs geringen Zahl computerisierter Arbeitsplätze strukturelle Verschiebungen klein zu reden (so z.B. Bischoff/Detje 1989, 71ff.).

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Langfristig hatte gerade die 25-jährige Erfolgsgeschichte des Keynesianismus zwei sich wechselseitig ergänzende Nebeneffekte, die in dieser Konstellation den Aufstieg des Neoliberalismus förderten: Zum einen begünstigte der keynesianische Glaube an die politische Steuerbarkeit des Kapitalismus bei gleichzeitigem „Schwinden der Einsicht in globale Marktzusammenhänge“ (Kittsteiner 2008, 103) die Offenheit für einfache politische Alternativrezepte.48 Andererseits trugen die sozialen Effekte des Keynesianismus zu einem breiten Konsens darüber bei, dass die kapitalistische „Wunschmaschine“ (Deleuze/Guattari 1979) quasi automatisch nicht nur immer mehr Güter ausstieße, sondern auch die von Smith prophezeite breite Wohlstandsstreuung garantiere. Gerade auch weil antizyklische Gegensteuerungen keynesianischer Prägung die Weltwirtschaftskrise ab 1970 zwar nicht überwinden konnten, aber durch ihre zeitliche Zerdehnung doch die ökonomischen und sozialen Effekte milderten, waren gravierende Krisenerscheinungen und sich vertiefende soziale Spaltungen (wie 1929) in den ökonomischen und soziologischen Glaubensuniversen nicht mehr eingeplant. Der „Spätkapitalismus“ mochte „Legitimationsprobleme“ haben (vgl. Habermas 1973, v.a. 96-105) und – wie jeder Herr, der in die Jahre gekommen ist – mit „Motivationskrisen“ (ebd., 106-128) kämpfen, gegen die Kinderkrankheit der antagonistischen Distributionsverhältnisse und der Krisendynamiken schien er aber auf der erreichten Stufe der ‚Systemevolution‘ so weit immunisiert, dass auch den Analytikern oft jedes Verständnis der Funktionslogik kapitalistischer Krisen abhanden kam: Habermas etwa sah den ökonomischen „Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems“, der früher zu Krisen geführt habe, darin, dass „das ökonomische System das erforderliche Maß an konsumierbaren Werten nicht erzeugt“ (ebd., 72). In dieser Formulierung war die elementare Differenz zwischen einer kapitalistischen Krise der Überproduktion von Tauschwerten und einer vorkapitalistischen (oder auch staatssozialistischen) Krise des Mangels an Gebrauchsgüter vergessen.49 Von derartigen Mangelerscheinungen konnte auch in der globalen Rezession der 1970er Jahre nicht die Rede sein (die Läden waren ja schließlich voll). Ohnehin glaubte nicht nur Habermas, dass „das ökonomische System gegenüber dem Staat seine funktionale Autonomie eingebüßt“ habe, womit auch die „ökonomischen Krisentendenzen […] ins politische System verschoben“ seien, wo sie als „administrativ schon bearbeitete Materie, andererseits als administrativ noch nicht hinreichend kontrollierte Bewegung“ verarbeitet würden (ebd., 129). Der Staat hatte in dieser Sicht sozusagen den Kapitalismus verschluckt, dessen Krisentendenzen in seinem

48 In diesem Sinne profitierten die Neoliberalen, deren kontinuierlich entwickelte Heterodoxie die keynesianische Orthodoxie nach 1970 verdrängte, nicht nur theoretisch von Keynes’ Erbe (vgl. Lepage 1979, 210ff.). 49 Vergessen sind in Habermas’ (1973, 72) Formulierung auch Elementarregeln der sprachlichen Logik: wären ‚zuwenig konsumierbare Werte da, weil zu wenig erzeugt wurde‘, läge kein ‚Widerspruch‘ vor, sondern ein einfacher logischer Schluss. Allerdings gingen auch die Logik des Kapitalismus besser erschließende Spätkapitalismusdiagnosen immer wieder von einer Überwindung der Krisendynamik aus, so etwa bereits Sombart (vgl. 1927, Bd. II.2, 1008-1035). Nachdem der „Spätkapitalismus“ sich der neoliberalen Frischzellenkur unterzogen hatte, spricht man in Frankfurt heute übrigens wieder vom „gegenwärtigen Kapitalismus“, will aber die scharfen „Begriffe des ‚Widerspruchs‘ oder der ‚Krise‘“ endgültig aus dem Wortschatz verbannen, sie seien „in der Forschungsarbeit zukünftig durch die Kategorie der ‚Paradoxie‘ zu ersetzten“ (Honneth 2002, 9; vgl. Hartmann 2002).

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adaptiven und robusten Verdauungssystem zwar noch einige Bewegung verursachten, aber eine kontinuierliche „Abmilderung“ (ebd.) erfuhren. Vor diesem Hintergrund schien es nur konsequent, die ‚Waffen der Kritik‘ künftig primär gegen diesen alles verschlingenden Leviathan und seine die Lebenswelt „versozialstaatlichenden“ Mechanismen zu richten, die drohten „Freiheitsverbürgung in Freiheitsentzug“ umschlagen zu lassen (Habermas 1995, Bd. 2, 535). In dieser „Staatsphobie“ (Foucault 2004b, 262, 112ff.) konvergierten zahlreiche theoretische Kritiken und soziale Bewegungen mit der zeitgenössischen neoliberalen Kritik (s.u. II.7.3). Daher wäre es auch verkürzt, im Neoliberalismus nur eine ‚Revolution von oben‘ oder die Realisierung einer neuen Programmrationalität des Regierens zu sehen. Eher handelt es sich um eine hegemoniale Form im Sinne Gramscis (vgl. 1991ff., 718), also nicht um eine einseitige Beziehung der Herrschaft und Steuerung, sondern um eine Form politischer, geistiger und kultureller Führung, die der Zustimmung und der aktiven Partizipation der Subjekte bedarf. In der Krise des Keynesianismus konnte der Neoliberalismus anschlussfähig werden, da er einerseits Potenziale zur Überwindung der Kapitalverwertungskrise freisetzte (und insofern eine objektive Funktionalität aufwies), andererseits aber auch, da er eine neue Form der ‚Menschenführung‘ implizierte, die verbreiteten Bedürfnissen nach Emanzipation, Autonomie, Eigenverantwortung und ‚Selbstführung‘ entsprach. Diese hatten sich auf der Grundlage der Konsum- und Sicherheitsgarantien des keynesianischen Staates entfalten können, blieben aber gerade durch dessen Organisationsform zugleich gefesselt. Die diese Fesseln überwindende neoliberale Gouvernementalität markierte zudem keinen absoluten Bruch zu vorangegangen Regierungsformen. Gegen das in neoliberalen Kritiken am Sozialstaat wie in sozialen Kritiken am Neoliberalismus verbreitete Bild eines Keynesianismus, der durch sozialstaatlich-kollektivistische Maßnahmen die Gesellschaft gegen das Marktprinzip schützt, sollte nicht vergessen werden, dass Keynes sich nicht nur selbst als aufgeklärten Liberalen sah, sondern dass es sein Ansatz war, der die Regulation des Sozialen nicht mehr als dem Markt äußerliches Problem behandelte, um stattdessen Marktregulation und Sozialregulation zu synthetisieren. Schließlich war es Keynes, der „das Gesellschaftliche in die allgemeine Marktregulation hineingenommen und damit den westlichen Gesellschaften ein Mittel an die Hand gegeben [hat], aus der Alternative von anarchischem Liberalismus und autoritärem Zentralismus herauszukommen“ (Donzelot 1980, 240). Dem hier entwickelten Grundprinzip einer Synthese von Markt- und Sozialregulation folgt auch der Neoliberalismus, wenngleich der Nexus von Staat, Markt, Gesellschaft und Individuum hier in einer gänzlich anderen Form bestimmt wird.

7 Formen „neoliberaler“ Gouvernementalität im entwickelten Kapitalismus

7.1 V ORBEMERKUNG : N EOLIBERALISMUS G OUVERNEMENTALITÄTSSTUDIEN

UND

Im Bezug auf ‚den Neoliberalismus‘ gab es in den letzten Dekaden eine derartige Flut von an Foucaults Gouvernementalitätsvorlesungen anschließenden Publikationen, dass es hier kaum noch möglich scheint, den Überblick zu wahren oder nicht nur Bekanntes zu wiederholen.1 Allerdings zeigt sich ein Grundproblem der im Forschungsfeld der Gouvernementalitätsstudien angesiedelten Untersuchungen in der einseitigen Fokussierung auf Programmrationalitäten, denen zugleich eine erhebliche Wirkmächtigkeit in der Herstellung von Wirklichkeit und in der ‚Zurichtung‘ der Subjekte zugesprochen wird.2 War das Forschungsprogramm mit dem Ziel angetreten, über bisherige „ökonomistische und ideologiekritische Verkürzungen in der Analyse des Neoliberalismus hinauszugehen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 19), haben sich konkrete Untersuchungen inzwischen auf ein Schema der Kritik eingependelt, das hinter eine Ideologiekritik, die ja nach Bedingungsrelationen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Praktiken und Vorstellungen fragt, eher zurückfällt. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Bedingungsrahmen, in dem neoliberale Programme auftauchen, in dem sie ihre Bezugsprobleme formulieren und dem sie ihre Plausibilität verdanken, oder nach den konkreten Funktionen und Effekten, die sie entfalten, wird teils schon einleitend zurückgewiesen (vgl. u.a. Bröckling 2007, 8ff. & 35f.). Es genügt dann, so scheint es, neoliberale Leitbilder wie Eigenverantwortung, Kreativität, Flexibilität, Dynamik, Autonomie, Selbststeigerung, Feedback etc. in einer beliebigen Textsorte – von der Managementliteratur (vgl. Bröckling 2002; 2003 & 2007) über Wellness-Angebote (vgl. Duttweiler 2004) bis zum Glücksratgeber (vgl. Duttweiler 2007) – aufzufinden, um daraus zu schließen, dass längst auch dieser Bereich des Sozialen von der alles durchwaltenden neoliberalen Regierungsrationalität okkupiert ist. Diese erscheint als ebenso subtiler wie unentrinnbarer Hete-

1 2

Vgl. zu einem kritischen Überblick über das Forschungsfeld Lemke 2007, 47-64. Vgl. zur generellen Kritik: Draheim/Opitz/Reitz 2005; Reitz/Draheim 2007; Langemeyer 2002; Müller 2003; Rehmann 2007. Vgl. am Beispiel einer an Foucault anschließenden Analyse von Wellness-Diskursen und -Praktiken in Verbindung mit einer Kritik an den verkürzten Analysen aus dem Feld der Gouvernementalitätsstudien: Weber 2008; 2011.

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ronomiezusammenhang, in dem ‚die Subjekte‘ unter dem Vorwand, Beratung und Orientierungen für das Selbstmanagement zu erhalten, einer ebenso subtilen wie allumfassenden Fremdsteuerung unterworfen werden, denn: „Den Fallstricken der Macht entgehen auch jene nicht, die allen möglichst viel davon versprechen. Auch Aufrichten ist Zurichten.“ (Bröckling 2007, 214) Die ‚Kritik‘ beschränkt sich darauf, die Freiheitsversprechen des Neoliberalismus als scheinhafte zu entlarven: als sich hinter der Floskel von Empowerment verbergende Strategien der „Bemächtigung“ (ebd., 213). Das gelingt umso leichter, da das bloße Faktum, dass Programme, Ratgeber oder „Subjektivierungsregisseure“ (ebd., 41) an ‚die Subjekte‘ bestimmte Leitbilder und Selbsttechniken herantragen, als konstitutiver Widerspruch zum Freiheitsversprechen gilt. Diese ‚Kritik‘ hat den Vorteil, dass sie immer aufgeht, nur darf man fragen, welche impliziten Autonomie- und Subjektvorstellungen dafür mitgeführt werden müssen und wie sie sich mit dem programmatischen Anspruch vertragen, Foucault folgend das Subjekt als soziale Immanenzform zu behandeln.3 Auch die These, dass „den Menschen“ von ‚den‘ neoliberalen „Subjektivierungsregime[n]“ etwas „abverlangt“ wird, was sie konstitutiv überfordert (ebd., 288), da die offerierten Leitbilder unerreichbar und widersprüchlich seien, kann weder besonders überraschen noch Grundlage einer Kritik sein. Folgt man Foucault, liegt es in der Logik der Sache, dass ‚Perfektibilitätsideale‘ unerreichbar und widersprüchlich sind, da sie keine klaren Handlungsanweisungen geben, sondern ambivalente Orientierungspunkte für Selbstpraktiken, denen gerade diese Ambivalenz erhebliche Freiheitsgrade eröffnet. Foucaults Spätwerk zeigt anhand exemplarischer Analysen des Verhältnisses von Moral und Selbstpraktiken in der griechischen und römischen Antike, dass moralische Leitbilder meist „in diffuser Weise übermittelt werden“ und „kein systematisches Ganzes, sondern ein komplexes Spiel von Elementen bilden, die sich kompensieren, korrigieren, stellenweise aufheben“ (Foucault 1989a, 36, vgl. 36-45). Das teilen sie mit Bröcklings Paradoxien des ‚unternehmerischen Selbst‘. Foucault prangert jedoch nicht an, dass die griechischen Philosophen, Ärzte, Lehrer ‚die Subjekte‘ überforderten, sondern sieht eben in diesen Widersprüchlichkeit der Leitbilder, Anforderungen, Idealvorstellungen die Freiheitsgrade der Selbstpraktiken

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Vgl. zum Anspruch Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 29ff. Hingegen kritisiert z.B. Duttweiler (2004) Wellness-Praktiken wie folgt: „[D]ie Mittel der Selbstbearbeitung generiert das Subjekt nicht aus sich selbst“, denn es gebraucht „Techniken und Praktiken, die der Diskurs bereitstellt“, und bleibt „eingelassen in Macht- und Wissensformationen“ (ebd., 77). Das aber gilt Foucault zufolge für jede Selbstpraxis eines jeden Subjekts in jeder Kultur und zu jeder Zeit. Es ist eine analytische Grundannahme und sagt nichts für oder gegen eine Selbsttechnik, außer man glaubt an ‚authentische‘ Selbstführung jenseits von Fremdführung. Existentialistisches Pathos – das übrigens bei Sartre (1998, 405-752) der sozialen Bedingtheit des ‚Für-Andere-Seins‘ weit mehr Rechnung trägt – kann man sich im Forschungsfeld explizit nicht leisten, man kann sich aber auch nicht davon lösen: „Die Genealogie der Subjektivierung weiß nicht, ob es ein Jenseits der Regierungen des Selbst gibt, aber sie insistiert darauf, die Zumutungen sichtbar zu machen, welche die Subjektivierungen dem Einzelnen abverlangen.“ (Bröckling 2007, 44) Bröcklings Studie zum Unternehmerischen Selbst trägt wichtiges zum Verständnis der Binnenrationalität neoliberaler Programme bei, verbeißt sich jedoch in einen Gestus der Kritik, der sich im Vorführen (und Zuspitzen) performativer Selbstwidersprüche, Paradoxien, Aporien, die sich in jedem Programm finden lassen, erschöpft und über die Anrufung einer diffusen und allumfassenden Gegeninstanz (‚der Einzelne‘, ‚die Menschen‘) nicht hinauskommt.

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begründet, da den Subjekten „dergestalt Kompromisse und Ausflüchte gestatten“ (ebd., 36) sind, wenn sie ihnen nicht sogar nahe gelegt werden. Ähnlich wie die Bestimmungen des Verhältnisses ‚der Programme‘ zu ‚den Subjekten‘ fallen auch die Bestimmungen der Verhältnisse von Programmen und gesellschaftlichen Bedingungsgeflechten oft diffus oder kurzschlüssig aus. Dabei ist innerhalb des Forschungsfeldes die Gefahr, dass „die Gouvernementalitätsproblematik von politökonomischen Problemstellungen ab[gekoppelt]“ wird (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 18), in deren Kontext sie bei Foucault noch klar stand, reflexiv bewusst (vgl. Lemke 2007, 58ff.). Jedoch scheint es in praxi kaum Ambitionen zu geben, diese Engführungen und den „selbstgewählte[n] theoretische[n] Isolationismus“ (ebd., 64) zu durchbrechen. Das führt nicht nur zu analytischen Defiziten, sondern auch dazu, dass das kritische Verhältnis zum Neoliberalismus ins Leere läuft. Der triumphierende Gestus, mit dem ‚nachgewiesen‘ wird, dass neoliberale Texte nicht nur deskriptiv, sondern auch präskriptiv argumentieren, dass die Freiheiten, von denen sie sprechen, künstlich und außengeführt sind, dass sie sich mit ökonomischen Kalkülen verbinden und Individuen von den angeratenen Selbstführungskompetenzen auch überfordert sein können, kann nur bedingt als Kritik fungieren, da all dies (wie zu zeigen ist) in neoliberalen Programmen explizit einkalkuliert ist. Der generalisierende Gestus, mit dem ‚die Menschen‘ als von ‚den Subjektivierungsregimen‘ überforderte Opfer präsentiert werden, fällt nicht nur hinter den programmatischen Anspruch zurück, Schnittstellen und Verknüpfungen von Selbst- und Fremdführung zu analysieren, er ignoriert auch, dass eine Reihe empirischer Subjekte die neoliberale ‚Anrufung‘ mit ihren Selbstkonzepten offenbar gut verbinden können und selbst Foucault positive Einschätzungen und Erwartungen mit der neoliberalen Gouvernementalität verband.4 Letztlich bleibt die etwa von Bröckling artikulierte Kritik zu einseitig einer Form der „Künstlerkritik“ im Sinne von Boltanski/Chiapello (2003, v.a. 81ff.; vgl. Weber 2008, 150; 2011) verhaftet – einer Kritik also, die Autonomie- und Authentizitätsforderungen gegen eine ‚repressive‘ und ‚unauthentische‘ Gesellschaft einklagt und die von einer Sozialkritik unterschieden ist, deren bevorzugter Angriffspunkt Fragen der Ungleichheit, Ausbeutung und (Un-)Sicherheit in konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen sind. Hier wird demgegenüber die These vertreten, dass dem Neoliberalismus, der als Programm selbst zahlreiche Momente einer ‚Künstlerkritik‘ enthielt und als praktische Regulationsform zahlreiche Impulse aus dieser Richtung integrieren und bündeln konnte, hinsichtlich der Einrichtung von allgemeinen Bedingungen der Freiheit, die zu einer Selbststeigerung der subjektiven Produktivkräfte anreizen, wenig vorzuwerfen ist. Hinsichtlich der Steigerung subjektiver Freiheitsgrade weisen Programme und Realitäten des Neoliberalismus faktische Potenzialitäten der Selbstentfaltung auf, die über das fordistisch-keynesianische Modell hinausgehen. Entsprechende Selbsttechniken führen aber in der Form ihrer kapitalistischen

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Es ist überzogen, den späten Foucault selbst als Vertreter eines „radikalen Liberalismus“ (Kögler 1990, 222) einzuordnen. Gleichwohl zeigen seine Analysen einige deutlich positive Einschätzungen der Freiheitspotenziale neoliberaler Regierungsrationalität (vgl. Foucault 2004b, 359ff.). Dies wird in den deutschen Gouvernementalitätsstudien ignoriert, sollte aber zur Frage führen, was neoliberale Programme im Kontext der 1970er Jahre auch für ‚kritische Intellektuelle‘ attraktiv machte.

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Anwendung zugleich zu einer Steigerung der Ungleichheits- und Ausbeutungsdynamiken. Eine Kritik, die den Neoliberalismus wirklich ‚treffen‘ will, müsste hier eher im Modus einer ‚Sozialkritik‘ ansetzen. Gegenüber den problematischen Engführungen der Gouvernementalitätsstudien sollen daher die gesellschaftlichen und historischen Kontexte neoliberaler Programme schärfer konturiert werden. Es geht um die Frage, welche Krisen des Kapitalismus und der vorangegangenen Gouvernementalitätsformen den Bedingungsrahmen neoliberaler Strömungen bilden, in welcher Form sie sich auf diese Krisen beziehen, welche Verschiebungen sie vornehmen und warum neoliberale Programme gesellschaftliche anschlussfähig werden. Wenn das Angebot der Selbstführung und Selbststeigerung einen reißenden Absatz findet – ob im Wellness-Bereich (vgl. Weber 2008; 2011) oder in philosophischen Lebenskunstbüchern (vgl. Schmid 1999, 2000) –, spricht das zunächst dafür, dass es Affinitäten zu Orientierungsmustern und Bedürfnissen aufweist, die ‚den Subjekten‘ nicht aufoktroyiert werden müssen. Nimmt man den Hinweis ernst, dass Foucaults späte Analysen von antiken Selbstpraktiken nichts mit einer Flucht in den „Privatismus“ (Kammler 1986, 203) oder „der Suche nach einer neuen Lebenskunst“ (Schmid 2000) zu tun hatten, sondern mit der Frage zusammenhingen, wie eine (vom Neoliberalismus angestrebte) Verkopplung von Selbstführung und Fremdführung, von Selbstpraktiken und externer Steuerung beschaffen sein und funktionieren könnte (vgl. Lemke 1997, 256 & 296ff.; Foucault 2005, 258ff.), müsste man Foucault (vgl. 1989a & 1989b) auch darin folgen, die Dimension der Selbstführung (in ihrer Verschränkung mit den Fremdführungen) ernst zu nehmen, statt sie von vornherein als subtile Heteronomie zu desavouieren. Statt a priori zu skandalisieren, dass die neoliberale Subjektivierung ein konstitutiv überfordertes, getriebenes, zerrissenes Subjekt produziert (vgl. Bröckling 2007) und insofern unlebbar ist, stellt sich die Frage, warum die Subjektivierungsanreize für einige soziale Gruppen praktikabel sind, andere aber tatsächlich überfordern, wodurch eine Freisetzung und Selbststeigerung subjektiver (Produktiv-)Kräfte und die gleichzeitige soziale Selektion und Segregation für einen bestimmten Modus kapitalistischer Vergesellschaftung funktional ist und welche gesellschaftlichen Problemlagen dies zugleich hervorbringt. Erst vor diesem Hintergrund wird dann eine Kritik möglich, die konkrete gesellschaftliche Problemlagen identifiziert, die weniger den immanenten Paradoxien oder den uneingelösten Freiheitsversprechen der Programme geschuldet sind und eher als Effekte einer Form der Regierung der Freiheit auftreten, die tatsächlich „die Kontaktfläche zwischen dem Individuum und der Macht“ reduziert (Foucault 2004b, 349) und die direkte disziplinarische Formung und normative Führung minimiert. Diese Kritik setzt zugespitzt genau bei dem Nachweis an, dass der Neoliberalismus sein Freiheitsversprechen weitgehend einlöst, die damit verbundene Freisetzung der subjektiven Produktivkräfte aber in den Verhältnissen ihrer Anwendung destruktive Tendenzen entfaltet. Im Folgenden sollen zunächst die beiden von Foucault analysierten Hauptströmungen des Neoliberalismus (der deutsche Ordoliberalismus und der seit den 1970er Jahren weltweit zur dominanten ökonomischen Lehrmeinung und zum politischen Leitbild avancierte amerikanische Neoliberalismus) hinsichtlich ihrer internen Logik und in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen und Effekte skizziert werden, um anschließend die Frage noch einmal zuzuspitzen, welche veränderten Modi der

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Regierung sich hier erkennen lassen und inwiefern diese mit langfristigen Entwicklungstendenzen und konkreten Veränderungen der Formen kapitalistischer Vergesellschaftung zusammenhängen.

7.2 V ITALPOLITIK UND S OZIALE M ARKTWIRTSCHAFT . D AS E XPERIMENT DES DEUTSCHEN N EOLIBERALISMUS Der Liberalismus, zu dem wir [...] gelangen, könnte als soziologischer gekennzeichnet werden, und gegen ihn bleiben alle Waffen stumpf, die gegen den alten, rein wirtschaftlichen Liberalismus geschmiedet worden sind.“ WILHELM RÖPKE (1944, 51 [Hervh. i.O.])

Die von Foucault 1979 am College de France gehaltenen Vorlesungen zur neoliberalen Gouvernementalität bilden eine Fundgrube differenzierter Analysen jener Theorien und Praktiken, die man unter dem Namen Neoliberalismus subsumiert. Besondere Aufmerksamkeit widmete Foucault dabei dem ‚deutschen‘ Neoliberalismus, der ihm „theoretisch für das Problem der Gouvernementalität […] wichtiger als die anderen“ schien (Foucault 2004b, 117). Dass diese Strömung eine explizite Form der BioPolitik oder, wie es die Ordoliberalen5 nannten, einer „Vitalpolitik“ (Rüstow 1963, 268ff.) enthielt, dürfte Foucaults Interesse zusätzlich gesteigert haben. Zudem beriefen sich erste französische Ansätze neoliberaler Reformen eher auf das deutsche Modell als auf die an Friedman anknüpfende neoliberale Politik.6 So hatte es eine gewisse Plausibilität, wenn Foucault 1979 glaubte, dass „die Freiheit“, oder „genauer: der Liberalismus, ein Wort ist, das aus Deutschland zu uns kommt“ (ebd., 44). Faktisch waren die späteren neoliberalen Umwälzungen des Wirtschaftsprozesses in Frankreich wie auch in Deutschland eher vom ‚amerikanischen‘ Neoliberalismus angeregt. Man könnte daher meinen, dass die Analyse des ‚deutschen Modells‘ zu vernachlässigen wäre, handelt es sich doch um ein Projekt kapitalistischer Vergesellschaftung, dass nur in einem Land und nur für kurze Zeit (von 1948-1966) eine relevante politische Rolle spielte. Jedoch lassen sich am Ordoliberalismus markante Tendenzen aufzeigen, die für die Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insgesamt charakteristisch sind und sowohl das Verhältnis von Staat und Ökonomie als auch die Modi der Subjektivierung und den Umgang mit sozialen Problemlagen betreffen. Zugleich ist die Utopie des Ordoliberalis-

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Der deutsche Neoliberalismus wurde nach dem zentralen Publikationsorgan, der Zeitschrift Ordo, und wegen der zentralen Stellung des Ordnungsbegriffs auch Ordoliberalismus genannt. Zur einfacheren Unterscheidung wird hier hauptsächlich dieser Begriff verwendet. Vgl. grundlegend zum Ordoliberalismus: Wegmann 2005. Vgl. u.a. Foucault 2004b, 271ff. & 281ff. Bezüge auf den Begriff ‚soziale Marktwirtschaft‘ waren politisch unverfänglicher. Auch war das erste große Versuchsfeld des ‚amerikanischen‘ Neoliberalismus ausgerechnet die Militärdiktatur Pinochets in Chile, was das politische ‚Image‘ dieser Strömung in Europa zeitweilig etwas ankratzte, wie Autoren, die das amerikanische Modell in Frankreich popularisieren wollten, bedauernd feststellten (vgl. etwa Lepage 1979, 226).

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mus für das Verständnis der bleibenden Attraktivität neoliberaler Wettbewerbs- und Selbständigkeitsversprechen relevant. Der Sammelbegriff „Neoliberalismus“ bezeichnet heterogene Positionen, deren Spannweite von „rechtssozialistischen Vorstellungen über zahlreiche Varianten liberalen Denkens bis hin zu konservativen Ansichten“ reicht (Tuchtfeld 1973, 84). Gleichwohl lassen sich eine Reihe geteilter Bezugsprobleme, Programmpunkte, Leitbilder und Techniken erkennen, die dem Begriff einer neoliberalen Gouvernementalität klare Konturen geben. Die Problemlagen, die die theoretische Suche nach einem ‚neuen Liberalismus‘ in den 1930er Jahren motivierten, waren die ökonomischen und politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Nicht umsonst wurden primär deutsche und österreichische Ökonomen die Namensgeber und Begründer dieser Strömungen. Deutschland war neben den USA eines der von der Krise ökonomisch am schwersten betroffenen Länder und bekanntlich waren hier auch die politischen Konsequenzen am drastischsten. Während die Krise damit auch für die Neoliberalen die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus und des politischen Liberalismus in seinen bisherigen Formen in Frage stellte, lehnten sie zugleich keynesianische Maßnahmen ab. Das galt vor allem, da die Neoliberalen auf der Grundlage einer „Reihe von theoretischen und analytischen Gewaltstreichen“ (Foucault 2004b, 167) aus den strukturellen Gemeinsamkeiten des New Deal in den USA mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik auf einen direkten genetischen Zusammenhang von Keynesianismus und Faschismus schlossen (vgl. ebd., 156-167 & 265ff.).7 Trotz des geteilten Grundproblems „des Überlebens des Kapitalismus“ (ebd., 232) und dem gemeinsamen „Feld der Gegnerschaft“ (ebd., 155), das durch die Ablehnung von Keynesianismus, Faschismus und Sozialismus markiert war, zeigte sich schon 1938 anlässlich des ersten Versuchs einer gemeinsamen Positionsbestimmung auf dem Colloque Walter Lippmann,8 für das auch die Selbstbezeichnung als „Neoliberale“ erstmals belegt ist (vgl. Wegmann 2002, 104), eine Spaltung: Während von Hayek und von Mises eine Art puristischen Liberalismus und Marktradikalismus vertraten, hielten vor allem Rüstow, Röpke und Lippmann zur Herstellung und Erhaltung einer freien Marktordnung eine Reihe staatlicher und sozialpolitischer Regulationen für unabdingbar. Letzteres wurde prägend für den deutschen Ordoliberalismus. Kennzeichnend war hier die Ablehnung jeder Vorstellung einer historisch invarianten Naturalität der Marktordnung oder einer einheitlichen Logik ‚des Kapitalismus‘, die die problematischen gesellschaftlichen Tendenzen seit dem 19. Jahrhundert (Kapitalkonzentration, Monopolbildung, Proletarisierung, Wirtschaftskrisen) als unwandelbare oder nur durch Aufhebung der bisherigen Wirtschaftsform überwindbare ‚Naturgesetze‘ erscheinen ließen (vgl. Röpke 1942, 162-231; Lippmann 1945, 246-270). Wo Marx die „widersprüchliche Logik des Kapitals“ zu bestimmen suchte, zielten die Ordoliberalen darauf, eine neue „ökonomische Rationalität [zu] definieren […]

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Die „entfernte Verwandtschaft“ von New Deal und NS-Politik hat Schivelbusch (2005) differenziert gezeigt. Vgl. hingegen zu den oft kurzschlüssigen neoliberalen Deutungen: Hayek 1971; Röpke 1944, 247-263. Anlass war das 1936 publizierte Buch The Good Society; dt. Die Gesellschaft freier Menschen (Lippmann 1945), das ordoliberale Positionen vorwegnahm. Vgl. zum Colloque Walter Lippmann: Plickert 2008, 93-110.

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die es gestattet, die gesellschaftliche Irrationalität des Kapitalismus aufzuheben“ (Foucault 2004b, 153f.). In der radikalen Kritik der „unhaltbaren Entartungen“ des bisherigen „Kapitalismus“ (Röpke 1942, 216) und in manchen historischen Diagnosen überschnitt sich Röpkes Gesellschaftskrisis der Gegenwart – als „Bibel dieses Ordoliberalismus“ (Foucault 2004b, 152) – mit Diagnosen Polanyis (1997). Wo aber dieser das Marktprinzip als Ursache behandelte, ging Röpke (1942, 65-244) davon aus, dass die Krisis aus der ungenügenden Verwirklichung eines echten, vom Kapitalismus unterschiedenen Marktprinzips resultierte. Die gesellschaftspolitischen Ansprüche des Ordoliberalismus zielten daher – anders als etwa Keynes, der seinen Ansatz in dieser Frage zu Recht „gemäßigt konservativ“ (Keynes 1936, 318) nannte – auch auf eine Überwindung des bisherigen „Kapitalismus“ zugunsten einer neuen Form der Marktwirtschaft: Echte „Wettbewerbsordnung, das ist […] der ‚Kapitalismus‘ nie gewesen“ und am „Richtpfahl“ der neuen Ordnung dürfe daher nicht „die alte zerfranste Flagge des Kapitalismus“ wehen (Röpke 1944, 228; vgl. auch Erhard 1948b, 47). Hinter den ordoliberalen Diagnose und Programmen verbirgt sich also etwas anderes, als die klassische liberale Position, welche für ökonomische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen alle „Verantwortung […] den intrinsischen Mängeln des Staats und seiner eigentümlichen Rationalität“ (Foucault 2004b, 167) zugewiesen hatte. Dabei ist entscheidend, dass die ordoliberale Position eine naturalisierte Vorstellung des Marktes ebenso negierte wie eine invariante Logik des Kapitalismus. Das richtete sich gegen marxistische Eschatologien, aber auch gegen den ‚bürgerlichen‘ Pessimismus, der davon ausging, dass die Tendenzen zur Monopolisierung, Konzentration, Zentralisierung und Bürokratisierung den Kapitalismus ebenso schleichend wie unabwendbar in einen Quasi-Sozialismus überführen würden (vgl. Schumpeter 1949; ähnlich Sombart 1927, Bd. III.2, 1008-1024).9 Demgegenüber ging der Ordoliberalismus von einer weitreichenden Konstruiertheit der Wirtschaftsund Sozialordnungen aus, betonte also deren historische Offenheit und politische Gestaltbarkeit. Deshalb kann es hier auch keine Gegenüberstellung von ‚künstlicher‘ Staatsrationalität und ‚natürlicher‘ Marktrationalität geben. Im Zentrum steht stattdessen ein Verhältnis, in dem „sich die Wirtschaftsprozesse und der institutionelle Rahmen gegenseitig bedingen, sich aufeinander stützen, sich gegenseitig verändern und sich unablässig gegenseitig formen“ (Foucault 2004b, 231).10 Damit galt auch der Kapitalismus, wie er sich mit all seinen „Widersprüchen, Sackgassen, Irrationalitäten“ herausgebildet hat, nicht als Ausdruck der ‚Logik des Kapitals‘, sondern als eine bloße historische Singularität, als eine „besondere Gestalt dieses ökonomisch-juridischen Komplexes“ (ebd., 234), womit es möglich schien, „fortan einen anderen Kapitalismus zu erfinden“ (ebd., 245). In diesem Kontext eines politisch-ökonomischen Konstruktivismus steht auch das ordoliberale Marktprinzip. Gegen die „naturalistische Naivität“ (ebd., 172) des klassischen Liberalismus – der als ein robustes „Naturgewächs“ ansah, „was in Wahrheit ein höchst zerbrechliches

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Vgl. zur dementsprechenden Rolle Schumpeters für die Ordoliberalen: Foucault 2004b, 248ff. 10 Vgl. Foucault 2004b, 227-252. Deutlich konturiert ist der Antinaturalismus bei Röpke 1942, 216-231 & 284-308.

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Kunstprodukt“ ist (Röpke 1942, 87) – gilt der Markt hier als ein „formales Spiel“ artifizieller Strukturen, das sich nur unter besonderen Bedingungen, die „künstlich hergestellt werden müssen“, entfaltet. Der Markt erscheint damit als Produkt einer „aktiven Gouvernementalität“, deren Prinzip darin liegt, „für den Markt [zu] regieren, anstatt auf Veranlassung des Marktes zu regieren“ (Foucault 2004b, 173f.). Das formale Prinzip dieses Marktspiels ist nicht der Äquivalenttausch, sondern der Wettbewerb. Da zum Wettbewerb ein Messen der Kräfte mit Siegen und Niederlagen gehört, handelt es sich um ein „Spiel zwischen Ungleichheiten“ (ebd.), die aber möglichst vollständig einem Prinzip der Leistungskonkurrenz verpflichtet sein sollen: Die Ungleichheiten sollen sich im Wettbewerb permanent herstellen, aber an keinem Punkt feststehen. Wettbewerb setzt hier nicht nur Regeln voraus, sondern die permanente Herstellung fairer Bedingungen. Dafür wurde weit über Antimonopol- und Kartellgesetze hinaus selbst eine radikale Reform des Erbschaftsrechts gefordert, das Vererbung von Privatbesitz nur in geringem Maße (etwa bis zum Wertäquivalent eines kleinen Bauernhofs) ermöglicht und den Rest derart umverteilt, dass jedes Individuum mit gleichen Startchancen in den Leistungswettbewerb tritt (vgl. Rüstow 2001, 88ff.). Die Herstellung und Erhaltung der dem Wettbewerb vorausgesetzten „Gesamtordnung“ verlangt daher eine erhebliche Interventionsdichte. „Als fragiles ‚Kunstprodukt‘“ erfordert „[g]erade die Freiheit des Marktes [...] eine äußerst wachsame Wirtschaftspolitik“ und einen dem Wirtschaftsprozess „konformen Interventionismus“ (Röpke 1942, 364f. [Hervh. i.O.]; vgl. ebd., 258ff.). Dieser „liberale Interventionismus“ soll „in Richtung der Marktgesetze“ arbeiten (Rüstow 1932, 225), was konkret etwa bedeutet, das staatliche Investitionen als „Anpassungsinterventionen“ auf eine Adaption an veränderte ökonomische Erfordernisse zielen müssen, statt als „Erhaltungsinterventionen“ (im Partikularinteresse von Gewerkschaften oder Unternehmen bestimmter Branchen) veraltete Strukturen zu stützen (vgl. Röpke 1950, 58). Insgesamt zielt die ordoliberale Regierungskunst damit darauf, weniger in den Marktprozess einzugreifen als vielmehr die „soziale Umwelt“, d.h. die Gesamtheit gesellschaftlicher Bedingungen des Marktes, zum Gegenstand „einer neuen Gesellschaftspolitik“ (Müller-Armack 1960, 63-78) zu machen, die in der aktiven Wirtschaftslenkung Zurückhaltung übt, deren Eingriffe aber „massiv sein sollen, sobald es um die Gesamtheit von technischen, wissenschaftlichen, rechtlichen, demographischen“, kurz: „gesellschaftlichen Gegebenheiten geht“ (Foucault 2004b, 201). Die „wirtschaftlichen Spielregeln festzulegen und sicherzustellen, dass sie wirklich funktionieren“ (ebd., 282), erfordert keinen Abbau, sondern einen Umbau des Staates, d.h. der Ziele und Techniken der Regierung. Dass das Marktprinzip für den Staat „das Prinzip der inneren Regelung“ sein soll, „vom Beginn seiner Existenz an bis zur letzten Form seiner Interventionen“ (ebd., 168), meint daher nur, dass die gesamte Gesellschaftspolitik der Herstellung einer freien Wettbewerbsordnung gemäß sein soll. Dies bedeutet bei den Ordoliberalen gerade nicht, dass alle gesellschaftlichen Bereiche nach Marktprinzipien organisiert werden könnten. Die „sozialen Sicherungen, die der Marktwirtschaft konform sind“ (Müller-Armack 1947, 30), sollen gerade in dieser Konformität einer anderen Logik als der des Marktes folgen. Marktprinzipien gelten als „Ordnungs- und Steuerungsprinzip im engeren Bereich einer arbeitsteiligen Marktwirtschaft“, auf die man aber keine „Gesellschaft als Ganzes aufbauen könnte.“ Sollen sie nicht „entarten“ und „als soziales Sprengmittel wir-

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ken“, setzen sie einen „um so kräftigeren politisch-moralischen Rahmen“ und die „unzersetzte Gemeinschaft kooperationsbereiter, natürlich verwurzelter und sozial eingebetteter Menschen“ voraus (Röpke 1942, 292). Nach ordoliberaler Vorstellung soll daher die „Marktwirtschaft nicht das alleinige, sondern nur das beherrschende Prinzip“ (Röpke 1950, 61) bilden. Gerade damit die Rahmenpolitik marktkonform ist, dürfen ihre Prinzipien nicht marktförmig oder markthörig sein. Das Funktionieren des Marktes setzt in dieser Konzeption also eine konsequente funktionale Differenzierung politischer und ökonomischer Funktionslogiken voraus. Über die Minimalaufgaben (Sicherung der Währungsstabilität, Wirtschaftsgesetzgebung) soll der Staat weitgehende Funktionen zur verkehrs- und kommunikationstechnischen Erschließung aller Regionen und zur Beförderung von Wissenschaft und Technik erfüllen.11 Vor allem aber muss er eine Bevölkerung herstellen, die ausreichend Humankapital in Form allgemeiner Kompetenzen, spezifischer Fachbildung und einer ausgeprägten Arbeitsmotivation aufweist. Neben der zentralen Frage der Bildung, bzw. der Investition „in geistiges Kapital“ als erster Maßnahme zur Förderung des „Wirtschaftsstandortes“ (Müller-Armack 1960, 69), fügen sich eine ganze Reihe bio- oder vitalpolitischer Maßnahmen in diese volkswirtschaftliche Investition in Humankapital ein. Im Kontext ihrer Konzeption einer „Vitalpolitik“ betrachteten Rüstow (1963) und Röpke (1942) die „Arbeiterfrage“ als „vitale Frage [...] der gesamten Arbeits- und Lebensbedingungen“ (ebd., 360 [Hervh. i.O.]). Zur „Produktivitätserhöhung“ bedarf es hier neben Verbesserungen in der Arbeitssituation und der Gesundheitsvorsorge einer „Vitalpolitik“, die „jenseits des Ökonomischen auf die vitale Einheit des Menschen gerichtet ist“, was etwa eine aktive ökologische „Raumpolitik“ oder auch die „Reinhaltung der Luft und des Wasser“ einschließt (MüllerArmack 1960, 71ff.). Damit zählt auch eine breit angelegte Sozialpolitik zu den Grundbeständen des deutschen Neoliberalismus. Die Sicherung des „menschlichen Faktors“ erfordert den Umgang mit gesellschaftlichen Auswirkungen temporärer Wirtschaftskrisen und kontinuierlicher Arbeitslosigkeit. Gerade weil der Ordoliberalismus auf Vollbeschäftigung zielende Staatsinterventionen oder Lohnregulierung keynesianischen Typs ablehnt, wird eine von der Wirtschaftspolitik getrennte Sozialpolitik angestrebt, die „sozial wirksam [ist], ohne wirtschaftlich störend zu sein“ (Foucault 2004b, 286), die also auf Auswirkungen reagiert, ohne in die Ursachen einzugreifen. Dazu soll liberale Sozialpolitik, anders als bei Keynes, nicht direkt mit der Ökonomie gekoppelt sein. Sie zielt nicht auf Vollbeschäftigung und nicht auf Sicherung oder Hebung der Massenkaufkraft, sondern garantiert nur den gerade nicht Wettbewerbsfähigen eine angemessene Existenz, um sie für den Wettebewerb instand zu halten (vgl. ebd., 201ff.). Diese Erwägungen stehen in Zusammenhang mit einer weiter reichenden sozialstrukturellen Utopie. Die Herstellung der Wettbewerbsordnung erfordere die Auflösung der bisherigen Klassenverhältnisse durch eine „Strukturpolitik“, welche „die sozialen Voraussetzungen der Marktwirtschaft – die Einkommens- und Besitzverteilung, die Betriebsgröße, die Bevölkerungsverteilung […] – nicht länger als gegeben hinnimmt, sondern […] verändern will“, und zwar durch eine aktive Politik „zuguns-

11 Vgl. Müller-Armack 1960, 70f.; Eucken 1981, 144ff.; Röpke 1942, 310f.; Foucault 2004b, 225-259.

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ten des Klein und Mittelbetriebs in allen[!] Wirtschaftszweigen“ (Röpke 1944, 230f.). Dieser Ansatz, den Röpke selbst als eine Politik des „Maßvollen“ charakterisierte, sollte insgesamt „zugunsten der Wiederherstellung des Eigentums breitester Kreise, zugunsten […] der Entproletarisierung und der Dezentralisation in der Volkswirtschaft“ wirken (ebd. 231; vgl. Röpke 1950, 59ff.). Hinter dem Konzept der „weitestmöglichen Kapitalisierung für alle sozialen Klassen“ (Foucault 2004b, 204) steht letztlich das Ideal einer gleichzeitig freien und sozialen Marktgesellschaft aus Kleingewerbetreibenden, mittelständischen Unternehmern, freien Handwerkern und Bauern, die in einem nicht durch Kapitalkonzentration und Machtgefälle verzerrten Wettbewerb stehen und von einer „Gesamtordnung, in der sich die Sicherung geistiger und persönlicher Freiheit mit sozialer Sicherung bindet“ (Müller-Armack 1947, 30), gegen die Schattenseiten freier Konkurrenz abgesichert sind. Das erscheint nach einer Seite wie eine modernisierte Variante jener Linien, die Marx den „kleinbürgerlichen Sozialismus“ nannte:12 „Dieser […] zergliederte höchst scharfsinnig die Widersprüche in den modernen Produktionsverhältnissen. […] Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie [...] nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Überproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Mißverhältnisse in der Verteilung des Reichtums, den industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander, die Auflösung der alten Sitten, der alten Familienverhältnisse, der alten Nationalitäten. Seinem posititiven Gehalte nach will [er] jedoch […] entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen […] die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen […] gesprengt werden mußten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte.“ (MEW 4, 484f.)

In Differenz zu dieser Richtung – die sich nach Marx in „ihrer weiteren Entwicklung […] in einen feigen Katzenjammer“ (ebd., 485) verlaufe – hat das ordoliberale Modell aber andererseits genügend Einsicht in den modernen Kapitalismus, um die Bedeutung der Kapitalkonzentration für die positiv gewerteten wissenschaftlichen und technische Innovationsdynamiken zu kennen, die der Staat mit einer Reihe anderer Aufgaben des Hochkapitalismus stellvertretend übernehmen soll. Der Staat stellt den individuellen Produzenten Innovationen im Bereich moderner Produktions-, Transport- und Kommunikationstechnik bereit und sorgt zugleich für ein vitalpolitisches Gleichgewicht zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft. Statt einfach die modernen Produktionsmittel in archaische Verhältnisse einzusperren – wie Marx dem ‚Kleinbürgersozialismus‘ vorwarf (vgl. ebd., 484f.) –, zielt diese Utopie auf einen hypermodernen staatlich-technokratischen Rahmen, der eine entproletarisierte Kleinbürgergesellschaft permanent künstlich herstellt. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das alliierte Zwangswirtschaftssystem in eine Krise geraten und durch den „Hungerwinter“ 1946/47 nachhaltig delegi-

12 Vgl. zur Verbindung frühsozialistischer Ideen mit der neuen ordoliberalen Ordnung: Böhm 1953, 437f.; Müller-Armack 1950, 417-438.

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timiert war, wurden Ordoliberale wie Eucken, Müller-Armack und Miksch zu führenden Köpfen des 1947 ins Leben gerufenen Bizonalen Wirtschaftsrates. In Allianz mit dem 1948 zum Direktor des Wirtschaftsamtes ernannten Ludwig Erhard bot sich die historische Möglichkeit, das Modell in praxi zu testen. Dabei gewann die Neuordnung der Wirtschaft im Nachkriegsdeutschland eine zentrale Rolle für die Staatsgründung.13 Quasi in Inversion der historischen Ausgangslage des klassischen Liberalismus, der gegen eine gegebene staatliche Ordnung die Freiheit des Marktes einrichten wollte, wird hier die Einrichtung der Marktwirtschaft „Sprungbrett“, Bewährungsprobe und Legitimitätsgarant der Staatskonstitution (Foucault 2004b, 122ff.). So erfährt das Verhältnis von Marktwirtschaft und Staat eine Neubestimmung, in der die Erneuerung der Regierungstechniken und die „Erneuerung des Kapitalismus“ (ebd., 240) derart verbunden sind, dass die Neuordnung der Wirtschaft zur „Grundlage sowohl der Existenz des Staates als auch seiner internationalen Anerkennung“ (ebd., 132) wird.14 Die nach der Preisfreigabe und der Währungsreform von 1948 trotz anfänglicher Rückschläge einsetzende Erfolgsgeschichte dieses wirtschaftspolitischen Projekts wurde oft geschildert. Setzte der Werbefachmann Ludwig Erhard anfangs noch auf Reklame für die Marktwirtschaft, sprachen das ‚Schaufensterwunder‘ und die anschließende ‚Fress- und Reisewelle‘ für sich. In der anhaltenden Nachkriegskonjunktur, auf deren günstige Sonderbedingungen ordoliberale Theoretiker schon während des Krieges gerechnet hatten, wurde der sichtbare und für den Großteil der Bevölkerung auch am Hosenbund spürbare Erfolg tatsächlich zum Legitimitätsgaranten nicht nur der Wirtschaftspolitik, sondern auch des 1949 gegründeten Staates. Selbst die SPD versöhnte sich in diesem Kontext mit der neuen liberalen Ordnung und dachte nun Sozialismus und Wettbewerb – so eine Schrift des späteren SPDWirtschaftsministers Karl Schiller (1955) – zusammen. Mehr noch als solch integrativen intellektuellen Synthesen sorgten die neuen Konsummöglichkeiten für eine breit streuende Legitimität der neuen politischen und ökonomischen Ordnung: „Den Westdeutschen ging es am Ende so gut, dass sie sogar Demokraten werden konnten“ (Rehberg 2007, 211).15

13 Vgl. zur Vorgeschichte etwa Gerhard 2005, v.a. 187-250; zur Bedeutung für die soziokulturelle und politische Demokratisierung v.a. Jarausch 2004, v.a. 97-132. 14 Exemplarisch zeigt sich das in einer Rede Ludwig Erhards vom 21.4.1948: Die geforderte Befreiung von der „staatlichen Befehlswirtschaft“ impliziert die dreifache Distanzierung vom NS-Staat, der Sowjetischen Besatzungszone und der Wirtschaftslenkung der Westalliierten. Gleichzeitig wird die Herstellung der (wirtschaftlichen) Freiheit und die Garantie ihrer Bedingungen als eine Art Legitimitätsgarant für einen noch gar nicht existierenden Staat eingeführt: „Nur wo Freiheit und Bindung zum verpflichtenden Gesetz werden, findet der Staat die sittliche Rechtfertigung, im Namen des Volkes zu sprechen.“ (Erhard 1948a, 40) Erhard selbst sagte später: „Mit der wirtschaftspolitischen Wendung [...] haben wir mehr getan, als nur eine [...] wirtschaftliche Maßnahme in die Wege geleitet; wir haben damit unser gesellschaftswirtschaftliches und soziales Leben auf eine neue Grundlage und vor einen neuen Anfang gestellt.“ Der „organische Staat, gegründet auf die Freiheit des Individuums“, solle nun die Grundlage sein, „auf der wir eine neue Wirtschaft, eine neue gesellschaftliche Ordnung aufbauen wollen“ (Erhard 1948b, 47). 15 Vgl. grundlegend Jarausch 2004, v.a. 97-201; Müller-Armack 1960, 63f.; Gebhardt/Heim 2007, 14ff. Wichtig dürfte auch gewesen sein, dass diese zukunftsorientierte Legitimität „die Erlaubnis des Vergessens“ der NS-Zeit (Foucault 2004b, 126) gab.

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Hinter der 16-jährigen Erfolgsgeschichte ist allerdings das Scheitern der ordoliberalen Utopie unverkennbar. Die Antikartellgesetzgebung (ein Grundfeiler der Wettbewerbsordnung) verzögerte sich bis 1957 und hatte eine deutlich moderatere Form als ursprünglich angestrebt. Auch ging der Aufschwung der deutschen Wirtschaft mit einem raschen Anwachsen der Kapitalkonzentration einher, was zum Aufbau einer weltmarktfähigen Industrie unabdingbar war. Zwar stieg der Lebensstandard breiter Schichten, jedoch erwies sich der politische Gestaltungsspielraum zur Herstellung des entproletarisierten, mittelständischen Wettbewerbskapitalismus, von dem Röpke (1942, 284-385) geträumt hatte, als begrenzt. Man mag dies als Hinweis darauf sehen, dass die von Marx herausgearbeiteten Tendenzgesetze kapitalistischer Entwicklung zwar nicht kausalmechanisch wirkten, aber eben doch einen Bedingungsrahmen der mit dieser Wirtschaftsform vereinbaren wirtschafts- und sozialstrukturellen Ordnung setzen, der ihre ordoliberale Gestaltbarkeit begrenzte.16 Die Wirtschaftsordnung blieb durch rasch wachsende Kapitalkonzentration und einen hohen Anteil lohnabhängig Beschäftigter gekennzeichnet. Müller-Armack schätzte in diesem Kontext die einst geplante Aufhebung der Kapitalkonzentration, die Dezentralisierung und Entproletarisierung als unrealisierbar ein: „Gesellschaftspolitik“ müsse von „der Realität“ der „einfach hinzunehmende[n] Großorganisation der Wirtschaft“ ausgehen, und da der künftige europäische Markt noch „größere Betriebseinheiten“ erfordere, sei ein „Kampf gegen die [...] Machtkonzentration in der Wirtschaft“, die schließlich erst die „Wohlstandsmehrung ermöglicht“, keine Option ordoliberaler Gesellschaftspolitik (Müller-Armack 1960, 68). Was blieb war die „psychologische Aufgabe“, ein „gesellschaftspolitisches Leitbild“ zu entwerfen, das „von den Menschen der heutigen Massengesellschaft […] innerlich bejaht“ werden könne (ebd.). Das kam einer Kapitulation der ordoliberalen Utopie vor den Realitäten des Kapitalismus an allen Fronten gleich. Sein faktisches Ende fand das ordoliberale Projekt 1966, als ein Abflachen der Wachstumsrate auf 2,9% und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 0,5% (heute utopisch scheinende Zahlen) Erhard die Kanzlerschaft kosteten. Die nachfolgende große Koalition schwenkte auf ein keynesianisches Modell der „Globalsteuerung“ um, dessen Grundlage das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 (BGBl. I, 582) wurde. Hinsichtlich der Konjunkturbelebung war das zunächst erfolgreich, bis auch die BRD ab 1973 in die stagflationäre Endphase des Keynesianismus eintrat. Eugen Tuchtfeld (vgl. 1973, 83-104) hat zu Recht betont, dass diese wirtschaftspolitische Kehrtwende zu einer dem von Armack geprägten Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ diametral entgegengesetzten Politik führte. Das Wort blieb jedoch die Selbstbeschreibungsformel der BRD, was ein Grund dafür sein dürfte, dass das Ende des ordoliberalen Projekts oft unbemerkt blieb.17 Wenn Foucault (2004b) 13 Jahre nach dem stillen Tod des Ordoliberalismus gleichwohl davon ausging, dass es das „deutsche Modell“ ist, „das sich ausbreitet“,

16 Vgl. zur Analyse der ökonomischen und gesellschaftlichen Grenzen der ordoliberalen Utopie: Wegemann 2005, 214-240. 17 Noch im 2009 beschlossenen Koalitionsvertrag von CDU/FDP bildet der Begriff die zentrale Selbstbeschreibungsformel für die avisierte Politik. Das Wort hat aber mittlerweile für so viele unterschiedliche wirtschaftspolitische Stilrichtungen gestanden, dass damit inzwischen überhaupt kein Konzept mehr verbunden ist.

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das „unserer Gegenwart […] eine Struktur und ein Profil gibt“ und „die Möglichkeit einer neoliberalen Gouvernementalität“ anzeigt (ebd., 269), so liegt dies nicht nur daran, dass damalige neoliberale Reformenansätze in Frankreich sich bevorzugt auf das deutsche „Modell der Sozialen Marktwirtschaft“ bezogen, nur mit „ein bisschen mehr revolutionärer Kühnheit als jenseits des Rheins“.18 Befreit man das ordoliberale Modell von der sozialen und ökologischen Utopie, in die es gehüllt war, lässt sich in ihm tatsächlich die Kernstruktur jener neoliberalen Gouvernementalität erkennen, die seit den 1970er Jahren ein bestimmendes Moment der Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaftsform wurde. Auf den nackten funktionalen Kern reduziert geht es: (1.) um eine Wirtschaftspolitik, die möglichst wenig in privatwirtschaftliche Entscheidungen, dafür aber massiv in andere gesellschaftliche Bereiche eingreift, um dort Bedingungen herzustellen, die den ökonomischen Erfordernissen angepasst sind; (2.) um eine Sozialpolitik, die die Verschaltung ökonomischer und sozialer Ziele im Keynesianismus auflöst und sich vom Ziel der Vollbeschäftigung und der Hebung der Massenkaufkraft (durch Lohngarantien) verabschiedet. Ziel dieser Sozialpolitik, die die strukturelle Arbeitslosigkeit und ihre Funktionalität für die Kapitalverwertung anerkennt, wird es einzig sein, dem „Bodensatz einer flottierenden Bevölkerung […], einer Schwellenbevölkerung“ (Foucault 2004b, 289), eine „minimale Existenz […] zu sichern“ (ebd., 290), damit die Wirtschaft aus diesem „Reservoir“ dann „schöpfen kann, wenn es nötig ist“ (ebd., 289). (3.) geht es um eine Form der Subjektivierung von Arbeitskräften und Wettbewerbssubjekten, die sich weniger auf disziplinarische Formung stützt und mehr mit der Schaffung äußerer Anreize und Möglichkeitsräume arbeitet, wobei nicht auf die Herstellung standardisierter Subjektivitätstypen gesetzt wird, sondern auf die Emergenz eines nutzbaren Systems von Differenzen. All diese Momente waren im oben skizzierten Modell enthalten, konnten aber im Rahmen der kleinbürgerlichen Utopie – die einen Teil des Erfolgs der Ordoliberalen in der sich auf dem Weg zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schelsky 1965) wähnenden BRD ausmachte – nur bedingt entfaltet werden. Zudem implizierten die „vitalpolitischen“ Aspekte der Rahmenpolitik, dadurch dass sie marktkonform wirken, aber eben nicht marktförmig organisiert sein sollten, einen erheblichen staatlichen Regelungsaufwand zur nicht-ökonomischen „Glücksproduktion“ (Rüstow 1963, 286), die Verhältnisse schafft, „in denen der Mensch sich wohl, geborgen und glücklich fühlen kann“ (ebd., 269). Insgesamt erschien hier der Wettbewerbsmarkt nur als Mittel zum Zweck einer volkswirtschaftlich optimalen Bedürfnisbefriedigung. Insofern blieb der Ordoliberalismus einem Bedarfsdeckungsprinzip verhaftet, wie es Sombart (vgl. 1922, Bd. I.1, 31ff.) eigentlich als charakteristisch für vorkapitalistische Wirtschaftsgesinnungen herausgearbeitet hat.19 Das war nicht nur mit einer auf die entgrenzte Verwertung von Wert angelegten Wirtschaftsweise unvereinbar, es zwang dieser Form des Neoliberalismus auch eine „ökonomisch-ethische Zweideutigkeit“ (Foucault 2004b, 333) auf: Einerseits zielte sie auf eine Verallgemeinerung

18 Christian Stofaes: La grande meance industrielle. Paris 1979, 742f., zit. in: Foucault 2004b, 272. 19 Vgl. zu den ‚vormodernen‘ und ‚vorkapitalistischen‘ Elementen in der ordoliberalen Utopie auch Wegmann 2005, u.a. 192-204.

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des Wettbewerbsprinzips im ökonomischen Sektor und insofern auf die „Verallgemeinerung der Unternehmensfunktion innerhalb des sozialen Körpers“ (ebd.); andererseits ist das Ziel die Verwirklichung einer Vielzahl „moralischer und kultureller Werte […], die man ‚warme‘ Werte nennen könnte und die sich gerade antithetisch zum ‚kalten‘ Mechanismus des Wettbewerbs verhalten“ (ebd., 334). Die Gesellschaft, „von der die Ordoliberalen träumen“, ist daher immer zugleich „eine Gesellschaft für den Markt und eine Gesellschaft gegen den Markt“, die derart beschaffen sein muss, dass die gefährlichen Effekte des Marktprinzips, das ihre Bedingung ist, „durch sie selbst ausgeglichen werden“ (ebd., 335). Darin liegt eine grundlegende „Ambiguität“ (ebd., 336) dieses Modells, das die Gesellschaft so gestalten will, dass sie dem Marktprinzip optimal entspricht, dies aber mit Mitteln versucht, die gerade keinem ökonomischen Kalkül folgen, und mit Zielen, die keine ökonomischen sind. Beim dafür erforderten Maximum an politischen Interventionen, bleibt stets fraglich, „ob sie wirklich dem Prinzip entsprechen, daß es sich dabei nicht um Eingriffe in Wirtschaftsprozesse handeln darf, sondern um Interventionen für den Wirtschaftsprozeß“ (ebd., 333). Gegenüber dieser Ambiguität stellt der amerikanische Neoliberalismus ein weit frugaleres und voraussetzungsloseres Modell der Umgestaltung der Gesellschaft für den Markt bereit.

7.3 D IE U NIVERSALISIERUNG DES M ARKTPRINZIPS . N EOLIBERALE M ETAMORPHOSEN DES K APITALVERHÄLTNISSES „Nun glaube ich, daß das […,] wofür die Wirtschaftskrise […] als Vorwand gedient hat, nicht bloß eine dieser Schwankungen zu ein wenig mehr Liberalismus hin und von ein wenig mehr Dirigismus weg ist. Tatsächlich geht es heute […] um den Einsatz einer Politik, die insgesamt neoliberal ist.“ MICHEL FOUCAULT (2004b, 276)

In seinen Analysen des Neoliberalismus, der sich der Prognose von 1979 entsprechend als neue bestimmende Form der Gouvernementalität erwies, geht Foucault (anders als viele Epigonen) nicht von einem willkürlichen Wechsel der Machttechniken aus und umreißt den konkreteren Bedingungsrahmen, in dem die neoliberale Regierungskunst eine praktisch anschlussfähige Option wurde. Dieser ist einerseits durch eine Kapitalverwertungskrise und die gleichzeitige Krise des keynesianischen Regulationsmodells definiert (vgl. Foucault 2004b, 274ff.), andererseits durch eine Form generalisierter Staatskritik, die sich seit den 1960er Jahren in verschiedenen politischen Lagern verbreitete (vgl. ebd., 262ff. & 112ff.). Hier soll zunächst dieser Bedingungsrahmen skizziert werden, um dann auf die innere Rationalität neoliberaler Subjektmodelle und Regierungstechniken einzugehen. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach der Funktionalität der Gouvernementalitätsformen für die Überwindung der Verwertungskrise der 1970er Jahre geklärt. Die neoliberalen Umwälzungen lassen sich dabei nicht einseitig auf Programmrationalitäten und „Subjektivierungsregisseure“ (Bröckling 2007, 41) zurückführen, sie entsprechen Erfordernissen der

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Kapitalverwertung, aber auch Bedürfnissen heterogener Gruppen in sehr verschiedenen Positionen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Erst wo dies berücksichtigt ist, wird es möglich, eine durch neoliberale Regierungsformen geprägte Formation kapitalistischer Vergesellschaftung zu verstehen und Ansatzpunkte der Kritik zu bestimmen (s.u. 8). Hinsichtlich der „wirtschaftlichen Vorwände“ und der „unmittelbar wirtschaftlichen Anreize“ für die neoliberale Option bezieht sich Foucault auf die oben (6.4) skizzierte Krise am Ende der keynesianischen Ära. Ein „konstantes Wachstum der Arbeitslosigkeit, der Rückgang des Habensaldos der Zahlungsbilanz und eine steigende Inflation“ (Foucault 2004b, 274) waren Effekte einer anhaltenden, durch den Ölpreisschock 1973 nur verschärften Stagnation und hektischer Rückgriffe auf bewährte Rezepte keynesianischer Konjunkturbelebung, die nur mehr zur Erhöhung der Staatsverschuldung und der Inflation beitrugen, ohne die erhoffte Wirkung zu zeigen.20 All dies deutete darauf hin, dass es sich „nicht um eine Keynes’sche Krisensituation […] durch Unterkonsum“ handelte, sondern um eine Krise, die in der „Art und Weise der Investition“ bedingt war (ebd., 274). Es ging also in marxscher Terminologie um eine Überakkumulationskrise (s.o. III.2.2), die angesichts ihrer Persistenz den Charakter einer „strukturellen Überakkumulation“ (Kisker 1997; 2007) annahm.21 Dem Keynesianismus ließ sich in diesem Kontext vorwerfen, dass er Investitionen durch künstliche Nachfrage fehllenkte, veraltete Produktionsstrukturen stützte und durch hohe Lohnkosten und Sozialabgaben die Investitionsneigung insgesamt senkte, also das Überakkumulationsproblem verschärfte. Damit schien ein Abrücken von der künstlichen Nachfragesteuerung und der Übergang zu einer stärker auf die freien Marktkräfte setzenden Politik nahe liegend, zumal, wie noch zu zeigen ist, die neoliberale Subjektivierung von Arbeitskraft Möglichkeiten implizierte, durch Anreize zur ‚Selbststeigerung‘ der ‚subjektiven Produktivkräfte‘ einen bislang wenig genutzten Produktionsfaktor gegen den ‚tendenziellen Fall der Profitrate‘ zu mobilisieren (vgl. Foucault 2004b, 321ff.). Ökonomische Begründungen und objektive Funktionalitäten sagen aber noch nichts darüber, wie die Formen neoliberaler Gouvernementalität gesellschaftlich anschlussfähig werden konnten. Hier verzeichnet Foucault einen Plausibilitätshintergrund des Neoliberalismus in einer allgemeinen „Staatsphobie“ (ebd., 262 & 112ff.), die als gemeinsame „kritische Währung“ in ganz verschiedene Diskursen „inflationär“ in Umlauf sei (ebd., 263). Gegenstand dieser Phobie ist „der Staat und sein unbestimmtes Wachstum, […] seine Allgegenwart […] und seine bürokratische Entwicklung, der Staat und die Keime des Faschismus, die er enthält, der Staat und seine intrinsische Gewalttätigkeit“ (ebd., 262). Durch generalisierende Thesen eines „en20 In Deutschland stieg die Staatsverschuldung von 45,4 Milliarden DM 1969 auf 309 Milliarden DM 1982, die Sockelarbeitslosigkeit erreichte zwei Millionen während die Stagnation anhielt. Vgl. Jarausch 2005, 124. 21 Kisker (vgl. u.a. 2007, 335-343) geht davon auf, dass die Überakkumulation sich seit den 1970er Jahren strukturell verfestigt hat und auch in den besseren Konjunkturphasen der 1980er und 1990er Jahre fortwirkte. Dafür spricht neben der geringen Realinvestitionsquote der Umstand, dass temporäre Anstiege der Profitrate maßgeblich Spekulationsblasen und Umverteilungen – etwa durch Privatisierung einstigen Sozialeigentums – geschuldet waren. Auch der langfristige überzyklische Anstieg der Erwerbslosigkeit in allen OECDLändern ist ein Indikator.

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dogenen Imperialismus“ wird dabei eine „Entwicklungsimplikation zwischen verschiedenen Staatsformen“ unterstellt, womit sich der „Verwaltungsstaat, der Wohlfahrtstaat, der bürokratische Staat […], der totalitäre Staat“ (ebd.) in eine Kontinuität staatlicher Expansionsdynamiken einreihen lassen. In der ‚linken‘ Linie der Staatskritik ebenso wie in der konservativen und liberalen Staatskritik führt das zu einer „Austauschbarkeit der Analysen“, die zwar alle „Spezifizität verlieren“, dafür aber, durch die Unterstellung einer „genetischen Verwandtschaft“ zwischen Sozialstaat und Totalitarismus, jede Kritik auf das Prinzip einer „Disqualifikation durch das Schlimmste“ gründen können: Eine „Analyse der Sozialversicherung und des Verwaltungsapparats, auf dem sie beruht“, kann dann „aufgrund einiger Wörter, mit deren Bedeutung man spielt, auf die Analyse der Konzentrationslager verweisen“ (ebd., 263), um damit das Versicherungssystem – etwa mit Verweis auf seinen mit dem Konzentrationslager geteilten ‚instrumentellen Charakter‘ – als eine Bedrohung der Freiheit zu denunzieren. Was Foucault als „große Wahnvorstellung“ eines „alles verschlingenden Staates“ (ebd., 264) charakterisierte, beschränkte sich nicht auf linke Sekten, sondern entsprach – wie oben (6.4) gezeigt – dem Tenor einer auch in der ‚bürgerlichen Mitte‘ verbreiteten Staatskritik. In Deutschland fügt sich hier etwa Habermas’ Kritik an der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ ein, die primär den „Freiheitsentzug“ durch „Sozialstaat“ und „Versicherungen“ (Habermas 1995, Bd. 2, 531ff.) und die Zerstörung des lebensweltlichen Idylls der patriarchalen bürgerlichen Familie durch zunehmende „Verrechtlichung“ – insbesondere in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter (ebd., 540) – beklagte. Habermas sah in „Rechtsansprüche[n] auf Geldeinkommen im Versicherungsfall“ (Arbeitslosigkeit, Krankheit etc.) eine Gefahr für „die Freiheit des Nutznießers“, da sie nur um den „bemerkenswerten Preis“ von administrativen „Eingriffen in die Lebenswelt“ (ebd. 531ff.) möglich sei. Zudem zwinge die systemische „Daseinsfürsorge“ den Individuen zunehmend auch sie verändernde „therapeutische Hilfestellungen“ (ebd., 533 [Hervh. i.O.]) auf. Jede Rechtsgebung, die „Teilhabe an Leistungen positiv verbürgt“, sei „dilemmatisch“ (ebd., 535), da sie die Freiheit und die Eigenverantwortung des Einzelnen zerstöre. Das ist ein paradigmatisches Beispiel für einen neuen „Geist der Kritik“, der in den 1970er Jahren weit verbreitetet war und in allen politischen und ideologischen Lagern ein gemeinsames Grundmuster aufwies: Er „wendet sich ab von den Sozialforderungen“ und „öffnet sich gegenüber einer Kritik, die die Mechanisierung der Welt […] und die Zerstörung von Lebensformen denunziert“ (Boltanski/Chiapello 2003, 257). In Deutschland konnten sich hier verschiedene Schwundstufen der ‚kritischen Theorie‘ in eine „Interessenkoalition mit dem Neoliberalismus“ (Henning 2005, 427f.) fügen, da ihre Kritik am „‚stählerne[n] Gehäuse‘ sozialstaatlicher Bürokratie“ (so Jaeggi 2005, 22) und die Verteidigung des über „Normen“ integrierten Handelns freier Individuen gegen die staatliche Fremddetermination in der Sache oft dem entsprach, was in etwas klareren Worten auch Milton Friedman (vgl. 1971; 1980) artikulierte. Die neoliberale Staatskritik traf sich mit zahlreichen anders gelagerten kritischen Impulsen, die sie auch aktiv zu integrieren suchte.22 Die objektive Koalition

22 Siehe zu solchen Adressen an das ‚linke‘ Lager: Lepage 1979, 236f. Sie finden sich auch bei Friedman (1980; 1971).

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zwischen Neoliberalismus und linker Staats-Kritik dürfte eine Ursachen dafür sein, dass die „von Habermas beeinflusste Linke“ angesichts der neuen Konstellationen des globalen Kapitalismus und des Sozialabbaus „regelrecht paralysiert“ war, „was sollte man auch einwenden gegen das, was man selbst so lange gefordert hatte?“ (Henning 2005, 428) Differenzierter wurden diese Konvergenzen verschiedener kritischer Impulse mit den neoliberalen Umstrukturierungen seit dem 1970er Jahren später von Boltanski und Chiapello (2003, v.a. 211-260) herausgearbeitet. Die Strategien des New Managements konnten mit ihren Versprechen von Autonomie, Selbständigkeit und Flexibilität im Beruf auch an Bedürfnisse und Forderungen einer jungen Arbeitnehmergeneration anknüpfen, während eine linke Experten-Elite sich in den 1980er Jahren unternehmerische Forderungen nach Flexibilisierung und DeRegulierung rasch zu eigen machte, da sie mit Feindbildern und Zielen jener „ultralinken“ Staatskritik konvergierten, mit der sie sozialisiert worden waren; einer Kritik, die „liberal“ war, „ohne sich dessen bewußt zu sein“ (ebd., 258). Umgekehrt bot der Neoliberalismus einen einfachen Mechanismus, um verschiedene Varianten der Staatskritik zu bündeln und zu fundieren. Indem er die Marktlogik als universelles Prinzip der Gestaltung und Regelung aller Bereiche menschlichen Handelns unterstellte, gestattete es das „ökonomische Raster“, eine „ständige Kritik des politischen Handelns […] zu verankern und zu rechtfertigen“, die es ermöglicht, prinzipiell „jede Handlung der öffentlichen Gewalt in Begriffen des Spiels von Angebot und Nachfrage […,] in Begriffen der Kosten, die ein bestimmter Eingriff der öffentlichen Gewalt in das Gebiet des Marktes impliziert, zu überprüfen“ (Foucault 2004b, 340f.). Im Unterschied zum klassischen Liberalismus, der die Herstellung und Achtung einer begrenzten Sphäre der Marktfreiheit forderte, dem Staat aber im Übrigen eine Reihe anderer Funktionen überließ, wird es nun möglich, „im Namen eines Marktgesetzes […] jede Regierungshandlung einzuschätzen und zu bewerten“, um ein ständiges „ökonomische[s] Tribunal gegenüber der Regierung“ zu etablieren (ebd., 342). Als Beispiel einer institutionellen Verankerung eines solchen Tribunals nennt Foucault das American Enterprise Institut, das zum Modell zahlreicher neoliberaler think tanks wurde, die sich auch in Europa zunehmend als Instanz ökonomischer Politikberatung (und Politiksteuerung) etablierten. Der „Zynismus“ einer solchen „Kritik aus der Perspektive des Handels gegenüber dem Handeln der öffentlichen Gewalt“ (ebd., 341) kann den öffentliche Ausgaben stets Ineffizienz nachweisen, da sie keinen direkten Gewinn erzielen und nur Kosten verursachen, während der individuelle Nutzen für den Steuerzahler unsicher ist oder jedenfalls „sehr weit entfernt von der Art von Freiheit, die Sie haben, wenn Sie in einem Supermarkt einkaufen“ (Friedman 1980, 79).23 Zudem knüpften neoliberale Schriften explizit an Forderungen sozialer Bewegungen an und boten zugleich das Modell eines idealen Wettbewerbsmarkts, der von der Überwindung sozialer Diskriminierungen über den Umwelt- und Verbraucherschutz bis hin zur Einrichtung einer echten und direkten Demokratie alle ökonomischen, politischen, ökologischen und

23 Dass staatliche Ausgaben nur als Kosten erscheinen, aber keinen Gewinn abwerfen und dem Bürger die Abgabenlasten auf seinem Lohnbescheid als Abzüge ohne direkt sichtbare Gegenleistung erscheinen, ist bei Friedman (1980) oder Lepage (1979, 131-154) die exzessiv benutzte Basis für geschätzte 70% aller Argumente.

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sozialen Probleme wie von selbst lösen würde.24 Der „Kapitalismus von Morgen“ (Lepage 1979, vgl. v.a. 155-237) implizierte die Verheißung eines neuen Utopia,25 das auf einer gänzlich „neuartigen, emanzipierten, […] libertären Art der Profitmaximierung“ gegründet würde. Dies weckte Hoffnungen auf einen neuen und radikal anderen Kapitalismus, der „alle Gegensätze aufhob: ein Kapitalismus von links“ (Boltanski/Chiapello 2003, 257f.). Die mit der Forderung einer radikalen Privatisierung bisher staatlich geregelter Funktionen und Leistungen verknüpfte neoliberale Kritik setzt zunächst voraus, dass die universelle Gültigkeit des Marktprinzips und seine Überlegenheit im Bereich von bisher öffentlichen Aufgaben plausibilisiert werden. Dafür wie für die gesamte neoliberale Vorstellung gesellschaftlicher Regulation ist das Modell des Homo Oeconomicus entscheidend, wie es etwa der Rational-Choice-Ansatz von Gary S. Becker (vgl. u.a. 1993) konsequent auf die Erklärung auch jener Bereiche des Handelns anwandte, die der klassische Liberalismus noch einer Sphäre der nach anderen Prinzipien strukturierten Sozialität zugeordnet hatte. Prinzipiell erscheint der als analytisches Modell unterstellte Homo Oeconomicus nicht als bloßes Tausch-Subjekt, sondern „als Unternehmer seiner selbst […,] der für sich selbst sein eigenes Kapital, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle“ ist (Foucault 2004b, 314). Unterstellt ist hier nicht nur (wie im klassischen Utilitarismus) ein nach Befriedigung strebendes Subjekt, sondern vielmehr ein sich selbst verwertendes Subjekt, dessen gesamte Aktivitäten – vom Konsum über Gesundheitspflege und Bildung bis zur Wahl der Geschlechtspartner und der Aufzucht der Nachkommen26 – als Investitionen in sich selbst verstanden werden, deren Ertrag wieder gewinnorientiert in das eigene Humankapital investiert wird. Hier wird der Gegensatz des Kapitals als ‚automatisches Subjekt‘ und der Arbeit als Objekt des Verwertungsprozess dahingehend überwunden, dass der Arbeitskraft die Subjekteigenschaften zurückerstattet werden, indem sie nun selbst in der Gesamtheit ihrer Lebensäußerungen als sich selbst verwertendes Kapital erscheint – eine Vorstellung, von der Marx spottet, dass die ‚Vulgärökonomie‘ wohl notwendig dahin gelangen und sich darin erschöpfen müsse: „Die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise“ erreiche schließlich dort „ihre Spitze“, wo „statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, daß Arbeitskraft selbst dies mythische Ding, zinstragendes Kapital ist“ (MEW 25, 483). In jedem Fall gestattet dieses Modell theoretisch, „alle Probleme des Schutzes der Gesundheit, der öffentlichen Hygiene in Elemente“ aufzulösen, „die in der Lage sind, das Humankapital zu

24 Die Diskriminierung von Schwarzen, Schwulen und Frauen würde auf dem Markt, wo nur Leistung und Nachfrage zählen, ohne staatliche Eingriffe suspendiert. Die Überfischung der Weltmeere würde, wie alle Umweltprobleme, durch radikale Privatisierung aller Ressourcen ‚gelöst‘, denn welcher Eigentümer geht nicht sorgfältig mit seinem Eigentum um (vgl. Lepage 1979, 170ff.)? Den Verbraucherschutz leiste der freie Informationsmarkt, auf dem sich alle Konsumenten informieren, besser als staatliche Auflagen (vgl. ebd., 172ff.). Und wäre es nicht viel demokratischer, wenn sich die Politik durchsetzt, für die die Bürgern am meisten zu zahlen bereit wären (vgl. ebd., 155ff.)? 25 Vgl. zum utopischen Charakter des Neoliberalismus auch: Foucault 2004b, 304f. 26 Vgl. zu den Sexual- und Familienbeziehungen sowie der Kinderproduktion: Becker 1993, 187-281; zu Bildung, Gesundheitspflege, Ernährung etc.: Becker 1997, 217-226.

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verbessern“ (Foucault 2004b, 320). Zugleich werden diese Elemente damit in eine Konzeption der individualisierten Biopolitik und des Selbstmanagements verlagert, da – wie Becker (1997, v.a. 217-226) betont – eine den Individuen überlassene Investition in ihr Humankapital effizienter, zielgerichteter und ergebnisorientierter sei als staatliche Leistungen, welche die Individuen nur träge machten, wo selbstfinanzierte Gesundheit und Bildung zu mehr Aktivität anreize.27 Sicher ist dieser Homo oeconomicus nicht nur ein deskriptives Schema, sondern auch eine Art präskriptiver Formel, wie Ulrich Bröckling (vgl. 2003, 18ff.; 2007) oft herausstellte. Tatsächlich wird hier ein neuer Idealtypus mündiger Subjektivität formuliert, um zugleich verschiedene Selbstführungskapazitäten normativ aufzuwerten. Allerdings wäre es ein Missverständnis, aus den normativen Implikationen auf eine Politik der Normierung zu schließen, in der Subjekte als Selbstunternehmer ‚zugerichtet‘ würden. Wo Bröcklings Darstellung suggeriert, es handele sich bei der neoliberalen Gouvernementalität eher um eine Fortsetzung der Disziplin mit subtileren Mitteln,28 betont Foucault, dass die Subjektformierung in der neoliberalen Regierungskunst in vielen Aspekten tatsächlich „postdisziplinären“ Charakter hat. Während die Disziplin auf eine direkte normierende Formung von Subjekten angelegt war, beruht die neoliberale Regierungskunst auf einem Prinzip der „Environmentalität“, auf der Errichtung eines „Rahmens um das Individuum“ und auf der „Regelung von Umwelteffekten“ (Foucault 2004b, 361). Es geht hier um die Einrichtung eines Möglichkeitsraumes individueller Selbstregulierung, der bestimmte Verhaltensweisen und Strategien wahrscheinlich macht und nahe legt, dabei aber nicht direkt die ‚Spieler‘, sondern nur die äußeren Bedingungen ihres Verhaltens formt. Es handelt sich also um eine Form der „Intervention, die die Individuen nicht innerlich unterwerfen würde, sondern sich auf ihre Umwelt bezöge“ (ebd., 359). Da der Neoliberalismus davon ausgeht, dass das analytische Modell des Homo oeconomicus einer Rationalität entspricht, die dem Verhalten der Individuen – in mehr oder weniger reiner Form, mit größerem oder geringerem Geschick – im Normalfall innewohnt, und dass dieses rationale Verhalten jede Form eines Verhaltens ist, „das sensibel auf Veränderungen in den Umgebungsvariablen reagiert und das auf nicht-zufällige, also systematische Weise“ (ebd., 370), müssen die Individuen

27 Empirische Studien müssen diese Glaubensgewissheiten irritieren. Schließlich erzielen die skandinavischen „Wohlfahrtsstaaten“ weit bessere Ergebnisse im Bildungssektor und ihre Bürger haben eine höhere Lebenserwartung als die der USA, ohne dass Arbeitsmotivation und Produktivität geringer wären. Solche kollektivistischen, makrosoziologischen Beobachtungen sind aber für einen individualistisch-mikroökonomischen Ansatz unerheblich. 28 Expressis verbis greift Bröckling (vgl. 2002; 2003; 2007) Begriffe wie ‚Postdisziplin‘ und ‚Rahmensteuerung‘ auf und trägt der Besonderheit dieser Techniken im Detail Rechnung. In den Schlussfolgerungen schlägt die Analyse aber oft in eine Form um, die eine reine Fremdsteuerung zur „Optimierung des Einzelnen“ (Bröckling 2007, 246) und eine „totale Mobilmachung“ (ebd.) suggeriert. Auch die „Selbstformungstätigkeit“ ist kein Moment autonomer Selbstführung, sondern nur Effekt eines „Subjektivierungsprogramms, das als Substanz der Arbeit an sich die Oberfläche des sichtbaren Verhaltens bestimmt und dessen Unterwerfungsmodus in der Nötigung besteht, die gesamte Lebensführung zu ökonomisieren“ (ebd., 243). Begriffe wie „Unterwerfung“, „Nötigung“ oder auch der (bei Foucault direkt auf die Disziplin bezogene) Begriff „Zurichtung“ (ebd., 214) zeigen, dass Bröckling die neoliberale Gouvernementalität auf die normierende Formung von Subjekttypen angelegt sieht, was die Besonderheit dieser Regierungspraxis verfehlt.

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nicht zu bestimmten Verhaltensweisen abgerichtet werden. Es genügt, ihre intrinsischen Kalküle und Dispositionen zu aktivieren. Das impliziert einerseits eine größere Toleranz gegenüber der Varianz individueller Abweichungen vom Durchschnitt, da nicht jeder Moment des Handelns geregelt werden muss und oft gerade in der Abweichung ökonomisch Nutzbares entsteht, andererseits impliziert es auch eine stärkere Ignoranz gegenüber sozialen Unterschieden, die als naturgegeben oder selbstgewählt vorausgesetzt werden können. Generell zielt die neoliberale Gouvernementalität nicht darauf, die Individuen durch Erziehung oder Disziplinierung bestimmten Standards anzupassen, sondern vielmehr darauf, alle Elemente der natürlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Ungleichheit zu nutzen, indem sie „unmittelbar in die Wirtschaft und ihr Wachstum in Form der Bildung eines produktiven Kapitals integriert“ werden (Foucault 2004b, 324). Auf dem Papier ist das idealtypische Subjekt des Neoliberalismus die endgültige Anpassung der Bestimmung des ‚Menschen‘ an die Logik einer um die Verwertung von Wert zentrierten Ökonomie, da sich prinzipiell alle Lebensregungen in das Raster der Selbstverwertung des Humankapitals einordnen lassen. Andererseits bedarf es dazu in der Realitiät nicht unbedingt einer disziplinierenden Normierung, die die Subjekte darauf trimmen würde, ihre gesamte Lebensführung, ihre Motive und Strategien an selbstunternehmerischen Kalkülen auszurichten. Das „Raster des Homo Oeconomicus“ erfasst nur einige Punkte der Umweltanreizung der Subjektivität, auf die „die Kontaktfläche zwischen dem Individuum und der Macht [...] und folglich die Regelung der Macht auf das Individuum“ beschränkt wird. „Der Homo Oeconomicus ist die Schnittstelle zwischen der Regierung und dem Individuum. Und das bedeutet keineswegs, daß jedes Individuum ein ökonomischer Mensch ist.“ (Ebd., 349 [Hervh. i.O.]) Dies löst auch das Problem der „Vervielfachung der Unternehmensfunktion innerhalb des Gesellschaftskörpers“ (ebd., 210) mit dem Ziel einer „Gesellschaft aus Unternehmenseinheiten“ (ebd., 313) weit eleganter als es der Ordoliberalismus vermochte. War dort eine aktive Gesellschaftspolitik erfordert, die möglichst viele Individuen mit hinreichendem Privateigentum ausstattet, so dass sie selbständig werden können, was eine grundlegende Umgestaltung der Sozialstruktur impliziert hätte, genügt im amerikanischen Modell eine terminologische Neubestimmung des Subjekts, um auch die Putzfrau, die im Leiharbeitssektor ihr Humankapital verwertet, in eine Unternehmerin ihrer selbst zu verwandeln. Hier erscheint der lohnabhängige Verkäufer von Arbeitskraft als aktives Wirtschaftssubjekt, dessen Kapital seine Arbeitskraft ist, in die es investiert (Bildung, Ernährung, Mobilität), um sie dann im bestmöglichen Arbeitsverhältnis ‚anzulegen‘, damit dieses Kapital einen ‚Ertrag‘ abwirft.29 Diese Vorstellung, die sich von der klassischen Definition der Lohnarbeit entfernt und „bei einem Kapital gelandet ist, das in ein Unternehmen investiert wird“ (Foucault 2004b, 313), liegt auch dem von Voß und Pongratz konzipierten Idealtypus des „Arbeitskraftunternehmers“ zugrunde, der in den Dimensionen der Selbst-Kontrolle („selbständige Planung, Steuerung und Überwachung der eigenen Tätigkeit“), der Selbst-Ökonomisierung („aktiv zweckgerichtete ‚Produktion‘ und ‚Vermarktung‘ der eigenen Fähigkeiten“) und der Selbst-Rationalisierung („bewusste Durchorganisation von Alltag und Lebensverlauf und [...] Verbetrieblichung der Lebensführung“) zum

29 Vgl. Schultz 1971; Lepage 1979, 190-193; Becker 1976; Foucault 2004b, 308-324.

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„Unternehmer“ seiner Arbeitskraft wird (Pongratz/Voß 2003, 23ff.). Die Autoren sehen hier die „entwickeltste Form von Erwerbsarbeit unter kapitalistischen Bedingungen“ (ebd., 249) verkörpert und betonen, dass sich damit „die ‚Ware Arbeitskraft‘ strukturell verändert“ und ihre bisherigen Formen durch „einen weitgehend neuen Typus ergänzt“ werden (Pongratz/Voß 1998, 132), ohne dass damit grundlegende Veränderungen der Besitzverhältnisse oder der sozialstrukturellen Ungleichheiten verbunden sind. Pongratz (vgl. 2002, 8-23) betont daher, dass auch Arbeitskraftunternehmer abhängig Beschäftigte bleiben, die Arbeit als Ware verkaufen müssen. An den Typus knüpfen sich neue Formen der Ausbeutung und die den Arbeitskräften offen stehenden Chancen aber auch die Gefahren und Risiken, denen sie ausgesetzt sind, „bleiben eng verknüpft mit den bekannten Ungleichheitsfaktoren, insbesondere mit Bildung, Besitz, sozialen Beziehungen, nationaler oder sozialer Herkunft und Geschlecht“ (ebd., 17). Es handelt sich hier lediglich um ein neues Anforderungsprofil, das als „gesellschaftlicher Leittypus von Arbeitskraft für den globalisierten Neokapitalismus“ (Pongratz/Voß 2000, 238) auch die Selbstverhältnisse eines Teils der qualifizierten Arbeitskräfte zunehmend bestimmen wird.30 Angesichts der prekären und irregulären Beschäftigungsverhältnisse, der Schwächung der Interessenvertretungen, der erhöhten Arbeitsbelastung bei stagnierenden Löhnen etc., die der praktizierte Neoliberalismus für einen großen Teil der Lohnabhängigen mit sich bringt, könnte es nahe liegen, in solchen Begriffen wenig mehr als eine ideologische Formel zu sehen, mit der zahlreiche gesellschaftliche Probleme auf den „neuen Zauberlehrling des Selbstunternehmers“ abgeladen werden, der aus der „garbage can, zu der man ihn gemacht hat [...,] ein schöpferisches Projekt seiner selbst“ machen soll (Beck/Wilms, 2000, 91f. [Hervh. i.O.]). Neoliberale Begriffsprägungen, wie die der „Chancengesellschaft“, in der jeder es „selbst in der Hand hat, auf dem [...] ‚Markt der Möglichkeiten‘ seinen Platz zu finden“ (Teufel 2000, 9), wären dann wenig mehr als ein Euphemismus für asymmetrische Abhängigkeits- und Ausbeutungsbeziehungen, die fortbestehen, auch wo „der Arbeiter selbst sich als eine Art Unternehmen erscheint“ (Foucault 2004b, 313). Ginge es nur um solche „unmittelbaren politischen Implikationen“, ließen sich die neoliberalen Programme und Analysen „wohl mit einer Bewegung beiseite schieben oder [...] einfach anprangern“ (Foucault 2004b, 321). Der Neoliberalismus ist aber eben nicht nur ein Projekt des Umbaus sozialer Absicherungssysteme zur Vertiefung der sozialstrukturellen Polarisierungen. Angesichts der Prägekraft, die entsprechende Regierungs- und Regulationsformen als praktisch bestimmende Momente einer Umwälzung der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung gewannen, muss zunächst einmal nach ihren Erfolgsbedingungen gefragt werden, also danach, was sie funktional und (jenseits bloßen Zwangs) auch gesellschaftlich anschlussfähig und akzeptabel macht. Erst vor diesem Hintergrund kann man auch die „[p]olitischen Konnotationen, ihren Ernst, ihre Dichte […], ihren Bedrohungsfaktor“ (ebd., 324) kritisieren. Die Funktionalität des Neoliberalismus für den kapitalistischen Verwertungsprozess brachte Foucault selbst mit der Frage in Verbindung, wie „der tendenzielle Fall

30 Darauf sei ausdrücklich hingewiesen, da viele Anschlüsse und Kritiken die Semantik „Arbeitskraftunternehmer“ so verstehen, als ginge es um die Behauptung einer Auflösung der (Klassen-)Differenzen von Kapital und Arbeit (vgl. u.a. Werner/Höntsch 2007, 307ff.).

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der Profitrate […] korrigiert werden“ kann (Foucault 2004b, 321), die Schumpeter mit der Zauberformel „Innovation“ beantwortet hatte. In Foucaults Beobachtung nehmen die Neoliberalen letztlich „dieses Problem der Innovation, d.h. schließlich des tendenziellen Sinkens der Profitrate wieder auf“, bearbeiten es aber mit einem anderen Analyseraster, in dem „neue Formen der Produktivität“ oder neue technische Erfindungen letztlich „nichts anderes als der Ertrag eines bestimmten Kapitals [sind,] nämlich des Humankapitals, d.h. der Gesamtheit der Innovationen […] auf der Ebene des Menschen“ (ebd., 322). Es geht damit um neue „Prinzipien einer Wachstumspolitik [...], die sich nicht mehr bloß am Problem der materiellen Investition […] und an der Zahl der Arbeiter orientiert“, sondern vielmehr „die Wirtschaftspolitik, aber auch die Sozialpolitik, die Kulturpolitik und die Bildungspolitik“ als Variablen begreifen, die eine „Modifikation des Niveaus und der Investitionsform in Humankapital“ gestatten (ebd., 323).31 Nimmt man diese Hinweise, die Foucault nur unsystematisch weiterverfolgt hat, auf, führen sie zu Problemstellungen, wie sie auch andere an Marx anschließende Ansätze bearbeitet haben (vgl. u.a. Lipietz 1985; Hirsch/Roth 1986; Hirsch 2005). Es stellt sich dabei die Frage, wie genau neoliberale Ansätze dazu beitragen können, dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenwirkende Faktoren zu mobilisieren. Wie oben (6.4) bereits angedeutet und wie hier auch von Foucault (vgl. 2004b, 321ff.) betont, reichen technische ‚Basisinnovationen‘, wie sie in den 1970er Jahren in der Mikroelektronik verfügbar waren, nicht aus, um den zur Überwindung der Stagnation erforderlichen Wachstumsschub und einen Profitratenanstieg zu induzieren. Was die neoliberalen Programme und Techniken hier zu einer veränderten Sozialregulation beitragen konnten, geht über eine Absenkung der Lohnkosten (durch Befristungen, Abbau von Tarifbindungen, Zeitarbeit, Minijobs etc.) hinaus und ist in seinen ökonomischen Effekten nicht auf eine bloße Umverteilung zugunsten des Kapitals reduzierbar. Von mindestens ebenso großer Relevanz sind die Anreizwirkungen, die die neoliberale Regulation auf die Ausbildung neuer Subjekttypen und neuer sozialer Organisationsformen hat. Diese ermöglichen erst die direkte Steigerung und Nutzung des ‚Humankapitals‘ und die reale Ausschöpfung der in den neuen Produktionstechnologien angelegten Produktivitätspotenziale. Der angestrebte „neue Arbeitertyp“ soll durch ein „‚polyvalentes‘ und ‚hybrides‘ Eignungsprofil“ der „flexiblen Umstellbarkeit des Produktionsapparates“ gerecht werden (Hirsch/Roth 1986, 110f.). Der aus Teilarbeitern gebildete Gesamtarbeiter (im Sinne von Marx) verschwindet nicht, er wird aber „neu geformt und zusammengesetzt: mobiler und flexibler einsetzbar, zersplitterter und individualisierter“ (ebd., 112). Die Entwicklung (und Verbilligung) computergestützter Produktions- und Kommunikationstechnik erlaubt Großunternehmen ein zunehmendes ‚Outsourcing‘ von Produktions- und Dienstleistungsfunktionen an scheinselbständige Zulieferunternehmen oder flexible Einzeldienstleister. Mit all dem können nicht nur die fixen Kosten – für Produktionstechnik, Gebäude und reguläre Löhne – minimiert werden. Die Kurzfristigkeit und Unsicherheit der Beschäftigung bei zugleich verhältnismäßig guter Bezahlung der jeweiligen Einzelleistung schafft ein Anreiz- und Motivations-

31 Foucault bezieht sich hier wohl implizit v.a. auf Schultz (1971, 2ff.), der diese Ziele klarer als Becker formuliert.

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system, das die Subjekte anhält, ihre Kreativitäts- und Flexibilitätspotenziale besser anzuzapfen und vollständiger auszunutzen. Der damit beförderte Subjekttypus ist – einer Unterscheidung von Pongratz und Voß (vgl. 2003, 64-84) folgend – anders als der fordistische Lohnarbeiter nicht mehr durch eine Orientierung an Leistungssicherheit gekennzeichnet, die ihn Standards und Normen eines vorgegebenen Verfahrens möglichst korrekt und mit kontinuierlicher aber dosierter Leistung erfüllen lässt, er versucht vielmehr, gestellte Aufgaben effizienz- und lösungsorientiert auch mithilfe von Improvisationen und durch das Eingehen kalkulierter Risiken zu erfüllen, und ist zu einer diskontinuierlichen, dafür aber temporär „exzessiven Leistungsverausgabung“ bereit (vgl. v.a. ebd., 72ff.). Verknüpft ist dies mit neuen Formen der „Selbstverwertung“ und „Selbstausbeutung“, die zentralisierte und hierarchische Kontrollstrategien teilweise überflüssig machen, was Kostenreduzierung bei gleichzeitiger Steigerung der abschöpfbaren produktiven Leistungen ermöglicht. Zwar sind die Potenziale der Selbstregulation, die diese Formen „entgrenzter Arbeit“ (Kratzer/Döhl/Sauer 1998, 177ff.) erschließen, historisch nicht neu, sie sind Moment jeder produktiven Tätigkeiten und etwa auch schon in der bäuerlichen oder handwerklichen Eigenproduktion unverzichtbar (vgl. Negt/Kluge 1993, Bd. 1, 4182), innerhalb des Kapitalismus markiert es jedoch „eine neue Entwicklungsstufe […], wenn derartige Subjektqualitäten im Rahmen der Lohnarbeit nutzbar gemacht werden“ (Pongratz/Voß 2003, 226). Entsprechende Transformationen zeigen sich vor allem in Tätigkeiten mit gehobenem Anforderungsprofil, aber auch in den neuen Formen der kooperativen Organisation von Arbeitsprozessen im Industriesektor. Neben fordistisch-tayloristische Formen der Industriearbeit, in denen ein starres Produktionssystem und auf repetitive Kontinuität angelegte Prozessabläufe eine dauerhaft fixierte Form der Arbeitsteilung erfordern, treten neue Formen teilautonomer Gruppen- und Projektarbeit, in denen eine temporäre problemlösungsorientierte Zusammenarbeit höhere Anforderungen an die autonome Koordination stellt.32 Zugleich wird die in der fordistischen Kooperation ausgeschaltete Konkurrenz am Arbeitsplatz durch Mechanismen der permanenten, enthierarchisierten und wechselseitigen Evaluation zwischen den Arbeitskräften intensiviert, was einen zusätzlichen Produktivitäts-, Kreativitäts- und Innovationsdruck erzeugt, wie Bröckling (vgl. 2007, 236-247) das am Modell der 360°-Feedbacks herausarbeitet. Gerade dies muss aber nicht pauschal als wechselseitiger „Unterwerfungsmodus“ zur „Mobilmachung […] im Zeichen einer umfassenden Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen“ (ebd., 243 [Hervh. i.O.]) verstanden werden. In Bereichen, wo die Subjektivierung von Arbeit fortgeschritten ist, beruht die Steigerung der ‚subjektiven Produktivkraft‘ gerade auch darauf, dass das subjektive Verhältnis zur Arbeit mit einer De-Ökonomisierung individueller Kalküle verbunden sein kann. Die Steigerung beruht darauf, dass die Arbeit – jenseits ökonomischer Leistungskalküle – wegen ihrer Erlebnisqualitäten und wegen ihrer Selbstverwirklichungs-, Mitbestimmungs- und Autonomiepotenziale geschätzt wird. Dabei kann auch die wechselseitige Konkurrenz im Arbeitsbereich, da sie nicht mehr hierar-

32 Vgl. zur systematischen Logik neuer Formen der Projektarbeit: Boltanski/Chiapello 2003, 147-187; Pongratz/Voß 2003, v.a. 199-208; zur Bedeutung in der neuen Managementliteratur: Bröckling 2002 & 2007, 248-282.

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chisch organisiert ist, als Bereicherung empfunden werden – zumindest so lange sie als kreativer Wettstreit und nicht als Verdrängungs- oder Vernichtungskonkurrenz organisiert ist. Die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit ist eben nicht nur als Ökonomisierung der ganzen Lebenszeit zu verstehen, sie bedeutet umgekehrt auch, dass „die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ (MEW 19, 21) ist. Dass Arbeit keine „Einschränkung der Freiheit“ mehr ist, vielmehr als ein „wesentliches Element auf dem Weg zur Selbstverwirklichung“ begriffen wird, so dass scheinbar alle Schranken „zwischen dem Ökonomischen, dem Psychologischen und dem Sozialen“ fallen (Miller/Rose 1994, 102), ist damit mehr als nur eine neoliberale Ideologie. Für einen wachsenden Teil der Beschäftigten bilden sie ein zentrales Moment von Selbstverständnis und Motivation, wie Pongratz und Voß (2003, 66ff. & 108ff.) empirisch zeigen, In der kapitalistischen Anwendung impliziert das jedoch, dass erweiterte Spielräume der Selbstregulation für die Arbeitskräfte „die Voraussetzung ihres Beitrags zu ihrer eigenen Ausbeutung darstellen“: Es ist ein wesentliches Prinzip des ‚New Managements‘, „den Arbeitern die Freiheit, ihre Arbeit zu organisieren“, zu lassen, „wobei es sich die Kontrolle über die Profitquellen freilich vorbehält; so trägt es dazu bei, daß ihr Wohlbefinden steigt, aber auch dazu, daß ihr Interesse sich vom externen Gewinn ihrer Arbeit (dem Lohn) auf interne Gewinne verlagert“ (Bourdieu 2001c, 260). Hier bewirkt die „affektive Besetzung“, die „in der Arbeit einen inneren, auf den bloßen Geldgewinn nicht reduzierbaren Gewinn finden lässt“, ein Verkennen „der objektiven Wahrheit der Arbeit als Ausbeutung“, welches selbst „zu den realen Voraussetzungen der Ausbeutung“ (ebd., 259) gehört. Damit können v.a. in qualifizierten Tätigkeiten und ‚Kreativberufen‘ die intrinsisch-symbolischen Gewinne zu einer wesentlichen Selbststeigerung (und Selbstverausgabung) motivieren, deren subjektive Wertschätzung als ‚Entschädigung‘ für eine objektive Verschlechterung der Lebenslage in Fragen von Lohnhöhe und Sicherheit fungiert. So schätzen junge deutsche Beschäftigte ihre Arbeitsbedingungen hinsichtlich Einkommen, Sicherheit, Aufstiegsperspektiven schlecht ein, während sie subjektive Qualitäten der Arbeit (Sinngehalt, Kreativität, Entwicklungsmöglichkeiten) weit besser bewerten.33 Man kann dies als Hinweis dafür nehmen, dass eine Kritik, die an den Autonomieversprechen ansetzt und die Anreizungen zur Selbststeigerung unter generellen ‚Überforderungsverdacht‘ stellt (vgl. Bröckling 2007), der Problematik nur sehr bedingt gerecht wird. Wo eine historische Form der Vergesellschaftung größere Möglichkeiten zur Selbststeigerung produktiver Kräfte schafft und Momente der Selbstentfaltung und Selbstregulation mit einer Steigerung der gesellschaftlichen Wertschöpfung verbindet, ist das nicht per se problematisch. Es impliziert nach der Seite der gesellschaftlichen Potenzialität sogar eine Annährung an Marx’ Idealvorstellung der Formen der Arbeit in eine nachkapitalistischen Gesellschaft, die durch Auflösung der Differenz von Arbeit und Freizeit und durch allgemeine Kreativität und Flexibilität der Betätigungen gekennzeichnet sein sollte. In einer postkapitalistischen Gesell-

33 Im DGB-Index „Gute Arbeit“ (2007) entsprachen auf der von 0-100 reichenden Skala für Beschäftigte unter 30 die Faktoren Einkommen (39), Sicherheit (46), Aufstiegsperspektiven (50) einer ‚Schlechten Arbeit‘. Faktoren wie Kreativität (67), Sinngehalt (75), und Qualifizierungsmöglichkeiten (60) lagen deutlich höher (INIFES 2007, 16ff.).

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schaft sollte ja „die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden“ sein (flexibler und kreativer Wechsel der Tätigkeitsfelder). Arbeit wäre „selbst das erste Lebensbedürfnis“ (Entgrenzung von Arbeit und Freizeit) und „mit der allseitigen Entwicklung der Individuen“ wären „auch ihre Produktivkräfte gewachsen“ (Selbststeigerung). Und selbstverständlich würden in Marx’ Zukunftsszenario die frei vergesellschafteten Individuen keiner kollektiven Vereinheitlichung unterworfen, da vielmehr nach der Überwindung der bornierten bürgerlichen Gleichheitsfiktionen endlich die Ungleichheiten und Unterschiede in den Anlagen, Fähigkeiten und Interessen voll entfaltet werden könnten, denn es „wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären“ (vgl. MEW 19, 21). Der Unterschied dieser Utopie zum Neoliberalismus liegt ‚nur‘ in den Produktionsverhältnissen. Im Neoliberalismus bleiben all diese Entwicklungen einer Logik der Kapitalverwertung subsumiert. In Marx’ Utopie hingegen würde die freie Entfaltung dadurch gesichert, dass den Individuen die Tätigkeit wirklich Selbstzweck sein kann, da ihre Beteiligung am Konsum und alle anderen Formen der gesellschaftlichen Teilhabe unabhängig von individuellen Besitztiteln und Leistungen wäre – „[j]eder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (Ebd.) Was Marx hinsichtlich der Steigerung der objektiven wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte betonte, nämlich dass das ‚Problem‘ keineswegs in der Technik, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Anwendung liegt, sollte vor diesem Hintergrund auch hinsichtlich der neuen Techniken der Subjektivierung und der Steigerung der subjektiven Produktivkräfte berücksichtigt werden: „Der gesellschaftliche Nutzen oder Schaden einer Produktivkraft erweist sich erst in ihrer ökonomischen Anwendung. In dieser Perspektive ist nicht der Subjektivierungsprozess das potentielle gesellschaftliche Problem, sondern seine ungehinderte betriebliche Verwertung.“ (Pongratz/Voß 2003, 226)

Nicht die Selbsttechniken wirken destruktiv, sondern ihre Subsumption unter den Selbstzweck einer Kapitalverwertung, in der sie synonym mit extensiver und intensiver Belastung werden, die als Selbstausbeutung erscheint, hinter der letztlich aber eine gesteigerte Fremdausbeutung steht (vgl. auch Gollac/Volkoff 2001, 34-53). Dass die neuen Modi der Selbstregulierung und der Projektarbeit das Mantra der neuen Managementliteratur und das dominante gesellschaftliche Leitbild bilden (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 134ff.) heißt freilich nicht, dass traditionelle Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse verschwinden. Insgesamt scheint der neue Akkumulationsmodus durch die Parallelexistenz verschiedener Arbeitskrafttypen und Verwertungsmodi gekennzeichnet. Neben den subjektiv flexibilisierten Arbeitskraftunternehmern wächst ein gering qualifiziertes Subproletariat, das im Niedriglohnsektor durch äußere Zwänge objektiv flexibilisiert wird. Hier finden sich „Anzeichen eine Re-Proletarisierung“ (Pongratz/Voß 2003, 242 [Hervh. i.O.]), in der die Erwerbsund Sicherheitsstandards wieder in Richtung früherer „proletarisierter Arbeitsbedingungen verschoben werden.“ Die Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse und die Veränderung der Arbeitskrafttypen wirken damit in zwei gegenläufige Richtungen. Die „dialektische Weiterentwicklung zum Typus des Arbeitskraftunternehmers“ und der strategische „Rückgriff auf Elemente des für ‚einfache‘ Tätigkeiten besonders kos-

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tengünstigen Nutzungsmodells proletarisierter Arbeitskraft“ (ebd., 242, vgl. 243ff.) bilden die zwei komplementären Seiten der neuen Arbeitswelt. Daher wäre auch der Typus des ‚Arbeitskraftunternehmers‘ vom Typus des ‚Arbeitskrafttagelöhners‘ zu unterscheiden (vgl. Pongratz/Voß 2000, 238). Daneben besteht in den (eher durch Hyperindustrialisierung als durch ‚postindustrielle‘ Arbeit gekennzeichneten) Kernbereichen industrieller Produktion weiter ein Bedarf an eher fordistischen Subjekttypen und Arbeitsverhältnissen, wenn auch mit sukzessiver Verschlechterung der Arbeitsbedingungen – nicht zuletzt durch die „Zumutungen der Selbstregulation“ (Minssen 1999), die mit den Lebensführungsmodellen der Betroffenen oft inkompatibel bleiben.34 Auch Pongratz und Voß (vgl. 2003, 238ff.) kommen zu dem Ergebnis, dass sich eine „dialektische Entwicklungsdynamik“, in der sich historisch drei Haupttypen (proletarische Lohnarbeiter, verberuflichte Arbeitnehmer und Arbeitskraftunternehmer) herausbilden, mit einer „dauerhaften Pluralität der Arbeitskrafttypen verbindet“, die der „Vielfalt kapitalistischer Verwertungsstrategien“ und der großen „Bandbreite der Arbeitsaufgaben und Leistungsanforderungen“ angemessen ist (ebd., 241 [Hervh. i.O.]). Das fügt sich in das neoliberale Regierungsmodell, das insgesamt weniger auf die egalisierende und homogenisierende ‚Zurichtung‘ einheitlicher Subjektivitätstypen angelegt ist, sondern vielmehr die (naturalisierten) sozialen Unterschiede innerhalb der Gesellschaft optimal auszunutzen sucht, indem die Individuen in einer ihren Anlagen und Fähigkeiten entsprechenden Form verwertet werden. Auch wenn damit die auf Selbstregulation, Eigeninitiative und Selbstverwertung angelegten Arbeitsformen nicht alle Arbeitskräfte in gleichem Maße betreffen, kann die „Subjektivierung der Arbeit als Produktivkraftentwicklung“ (Pongratz/Voß 2003, 215ff.) wirken, indem sie einerseits die produktiven Leistungen der individuellen Arbeit durch die gesteigerten Anforderungen an Qualifikation, Kreativität und Flexibilität erhöht, andererseits die Selbstanpassung der Subjekte an rasch wechselnde Produktionstechniken optimiert. Gleichzeitig erlaubt es die damit einhergehende wachsende Segmentierung und Parzellierung individueller Tätigkeitsprofile und Anstellungsverhältnisse, die traditionellen Formen der Selbstorganisation und Interessenvertretung der Arbeiter aufzulösen oder zu umgehen. Als verstärkende Faktoren wirken in diesem Kontext die zunehmend Distanz einer an neuen Leitbildern orientierten ‚Arbeitskräfteelite‘ oder ‚Produktionsintelligenz‘ zum Profil der Gewerkschaften (vgl. Trautwein-Kalms 1995, 45ff.) und die gleichzeitige Abgrenzung der Gewerkschaften von den ‚irregulär‘ Beschäftigten, die nicht zu ihrem traditionellen Klientel

34 Abgesehen von höherem Leistungsdruck, Beschleunigung und der Reduktion von Pausen ist im Bereich der Industriearbeit das, was „als ‚Bereicherung‘ der Arbeit beschrieben wird […,] oft nur Mehrarbeit“ (Beaud/Pialoux 2004, 47), während die Einführung von Versatzstücken neuer Managementtechniken (Briefings, Qualitäts- und Innovationszirkel) oft eine Zusatzbelastung und Kontrolle bedeutet (vgl. ebd., 46ff.). Zudem verlangt das „partizipative Management“ eine Mobilisierung sozialer und kultureller Kompetenzen, die „im Widerspruch zur traditionellen Berufskultur einer Mehrheit der Beschäftigten stehen“ (Castel 2008, 352). Der hohe Evaluations- und Qualifikationsdruck führt zudem zu permanenten Selektionsprozessen (vgl. ebd., 352ff.; Boltanski/Chiapello 2003, 281-293).

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zählen. Im Zusammenspiel mit kontinuierlich hoher Arbeitslosigkeit befördert dies die weitere Verbreitung ‚irregulärer‘ Beschäftigungsverhältnisse.35 Insgesamt kann eine neoliberale Form der Regierung so in mehrfacher Hinsicht helfen, günstigere Verwertungsbedingungen zu schaffen: Sie ermöglicht es, durch ‚Outsourcing‘ die Kosten für fixes Kapital zu senken und durch das Anzapfen der ‚subjektiven Produktivkräfte‘ und verschärfte Konkurrenz die Produktivität zu erhöhen. Zugleich erleichtert die „Destrukturierung der Arbeiterschaft“ (Beaud/Pialoux 1999, 229-330) und eine Verringerung der „Abwehrkräfte der Arbeitswelt“ (Boltanski/Chiapello 2003, 309-376) den Abbau der Lohnkosten und Sozialstandards, womit sich „die Lohn-Profit-Verteilung des Wertzuwachses zugunsten der Kapitalinhaber verlagert“ (ebd., 261). Im Zusammenspiel mit neuen Produktionstechniken und der Erschließung neuer Märkte (etwa dank der Computerisierung der Haushalte und der damit verbundenen neuen Konsum- und Dienstleistungsformen) konnte das in den 1980er und 90er Jahren einen Wiederanstieg der Kapitalgewinne nach den Einbrüchen der 1970er Jahre befördern (vgl. u.a. ebd., 22ff.).36 Da der Anstieg der Kapitalrentabilität aber mit einem Abbau von Lohn- und Sicherheitsstandards einherging,37 ist es eine komplexere Frage, wie ein neoliberaler Modus kapitalistischer Vergesellschaftung funktionieren kann, wie also die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen um- und ausgestaltet werden und wie neoliberalen Führungstechniken jenseits von Zwang auch auf Partizipation und Akzeptanz in breiten Bevölkerungsgruppen treffen können. Diese Fragen nach den gesellschaftlichen Erfolgsbedingungen des neoliberalen Projekts sind im Hinblick auf Foucaults Diagnose postdisziplinärer Tendenzen der Ordnungsbildung weiter zu verfolgen. Dabei kann die neoliberale Gouvernementalität als der bislang entwickeltste Ausdruck eines postdisziplinären Ordnungsmodells verstanden werden. In diesem Kontext ist auch zu klären, ob und wie eine neoliberale Gesellschaft mit den von ihr erzeugten sozialen Differenzie-

35 Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen prognostisch weitsichtig: Hirsch/Roth 1986, v.a. 113ff., 128-138 & 170-193; für eine Gesamtdarstellung: Boltanski/Chiapello 2003, 261376; am konkreten Beispiel der Peugot-Werke: Beaud/Pialoux 2004, v.a. 71-130 & 229330; mit produktivem Rückbezug auf Marx: Streckeisen 2008, v.a. 245-325. Die Studie von Pongratz und Voß gibt Vorschläge für eine der Situation angemessene Reorganisation der gewerkschaftlichen Interessenvertretung (vgl. Pongratz/Voß 2003, 244-252). Darauf scheinen sich die Gewerkschaften bislang nicht einstellen zu können. Sie werden so zunehmend zu Vertretern von Partikularinteressen eines schrumpfenden Klientels (vgl. dazu zynisch Kittsteiner 2008). 36 Allerdings profitierte das neoliberale ‚Akkumulationsregime‘ auch von einer vorteilhaften historisch kontingenten Sonderlage. Wie das keynesianische Modell nach 1945 auf die günstige Ausgangslage enormer Kriegszerstörungen in Industrie und Infrastruktur traf, erhielt das neoliberale Projekt 1989 durch den Zusammenbruch des ‚Ostblocks‘ und die Privatisierung ganzer Volkswirtschaften einen enormen externen Schub durch die globale Erschließung neuer Anlagefelder und Absatzmärkte. Dennoch war es auch hier wesentlich das Regulations- und Regierungsmodell, das darüber bestimmte, in welcher Form diese positiven Bedingungen genutzt werden konnten und in welchen Handlungskorridoren die ‚Globalisierung‘, die ja kein Naturphänomen ist, politisch gestaltet und in den einzelnen Nationalökonomien durchgesetzt wurde. 37 Vgl. u.a. Wacquant 2001; Boltanski/Chiapello 2003, 22-28 & 261-308; Streckeisen 2008. Gegen die Diagnose einer „Gesellschaft des Weniger“ (Beck 2005) deutet alles auf ein anders verteiltes ‚Mehr‘ an Wertschöpfung hin.

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rungs- und Desintegrationstendenzen produktiv umgehen kann oder wo sich Angriffspunkte und Eingriffsmöglichkeiten einer adäquaten Kritik ausmachen lassen.

8 Normalisierung und Postdisziplin

„[I]ch finde es richtig, daß in unserer Leistungsgesellschaft auch eine Kultur des kreativen Scheiterns ihren Platz finden sollte.“ ANNETTE SCHAVAN (2000, 279) „In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft verändert und die Individuen ebenso; sie sind immer mannigfaltiger, unterschiedlicher und unabhängiger. Es gibt mehr und mehr Kategorien von Leuten, die nicht unter dem Zwang der Disziplin stehen, so dass wir die Entwicklung einer Gesellschaft ohne Disziplin denken müssen.“ MICHEL FOUCAULT (2003b: 673)

Will man die Prägekraft verstehen, die der Neoliberalismus weltweit gewonnen hat, müssen entsprechende Regierungsformen ernster genommen werden als viele Kritiker es tun. Statt die Versprechen von Autonomie und Kreativität als „Betrug mit der Freiheit“ (Schneider 1972) oder als subtiles Zwangssystem zu denunzieren, ist zu fragen, warum die neuen Formen der Betriebs- und Menschenführung den Eindruck wecken konnten, dass die Arbeitskraft wieder „Subjekt des Geschehens“ wird, was Möglichkeiten öffnet, „die Arbeit als eine Zwangsorganisation aufzuheben“ (Lohmar 1985, 60). Die Frage ist also, wie die Freiheit beschaffen ist, die hier eingerichtet wird, und was sie jenseits des Zwangs zu einer attraktiven Option machte. Statt auf der anderen Seite des Spannungsfeldes von individueller Freiheit und sozialer Bindung im Neoliberalismus nur den „‚Tod des Sozialen‘ und die Freisetzung eines naturwüchsig-ahistorischen Individualismus“ (Hirsch/Roth 1986, 103) zu sehen, wäre zu fragen, wie sich mit den neoliberalen Regulationsformen die „Topographie des Sozialen“ verändert, da die Absicherungssysteme nicht verschwinden, sondern vielmehr ein „Umcodieren der Sicherheitspolitik“ (Lemke 1997, 253; vgl. Lessenich 2008 & 2009a) stattfindet. Schließlich wäre gegen Thesen der radikalen Diskontinuität zu vorangegangenen Regulationsformen zu fragen, wie verschiedene Formen kapitalistischer Vergesellschaftung sich aufeinander aufbauend entwickelt haben. Wenn in der folgenden Darstellung, die diesen Fragen zusammenfassend nachgeht, der ‚Neoliberalismus‘ in ‚positiverem‘ Licht erscheint als in vielen Kritiken, so werden destruktive Effekte nicht ausgeblendet. Es geht vielmehr darum, an ein Verdienst der marxschen Methode einer kritischen Darstellung anzuknüpfen, das darin liegt, die innere Funktionalität einer Gesellschaftsformation nicht durch Verweis auf ihre Dysfunktionen zu bestreiten, sondern gerade die systematische Verknüpfung funktionaler und dysfunktionaler Elementen aufzuzeigen, um hinter Erscheinungen,

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die sich normativ leicht anprangern ließen, auch die Potenzialitäten für alternierende Formen der Vergesellschaftung zu erkennen. Überblickt man die Abfolge der bisher rekonstruierten historischen Modi kapitalistischer Vergesellschaftung, so fällt auf, dass sie zwar keiner prädeterminierten historischen Entwicklungslogik entsprechen, gleichwohl aber Tendenzen, die Marx in der Logik der Kapitalverwertung angelegt sah, zu einer je historisch besonderen Entfaltung brachten. Die dafür vorausgesetzten Umwälzungen der Formen und Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens implizieren keine absolute Diskontinuität, sondern bauen auf dem in den jeweils vorangegangenen ‚Stufen‘ kapitalistischer Vergesellschaftung geschaffenem Bedingungsrahmen und auf den darin angelegten Potenzialitäten auf. Die Genese der Disziplinarmechanismen ermöglichte eine Verbesserung der Organisation der Arbeitsprozesse und die Herausbildung von in ihren Dispositionen und Fähigkeiten auf den kapitalistischen Produktionsprozess abgestimmten Arbeitskräften. Die liberalen Techniken der Regierung schufen einen politischen Rahmen, in dem sich die Ausbeutung dieser Arbeitskraft und die Konkurrenz und Akkumulation der Einzelkapitale freier entfalten konnten, setzten damit aber, gerade durch die Erhöhung der Produktivkräfte, Destruktivkräfte frei, die auf die biologische und soziale Reproduktion der Voraussetzungen der Kapitalakkumulation gefährdend zurückwirkten. Die Einrichtung sozialer Absicherungssysteme bearbeitete und kompensierte diese Probleme und schuf zugleich Bedingungen für eine neue Form der Integration, Bildung und Verwertung der Arbeitskräfte. Diese auch im Kontext veränderter Qualifikationsanforderungen funktionale Entwicklung wurde im fordistischen und keynesianischen Modell auf eine neue Stufe gehoben. Mit der Abstimmung von Massenproduktion und Massenkonsum über die Regelgrößen des Lohns und der Sozialstandards wurde nicht nur eine für die Kontinuität des Akkumulationsprozesses förderliche Rückkopplungsschleife eingerichtet, es entstanden auch neue Formen der Subjektivierung, die nicht mehr nur auf einem Modell der Arbeitsdisziplin aufbauten, sondern vielmehr auf die freie Entfaltung nutzbarer produktiver Kräfte durch Partizipation am Konsum und durch individuelle Erwerbskalküle setzten. In der Krise dieses Akkumulations- und Vergesellschaftungsmodells kam es zur Ausbildung neuer Regulations- und Regierungstechniken. Diese setzten die durch die vorangegangenen Sicherheitstechniken und durch die erhöhte Konsumbeteiligung gesteigerte Qualität und Motivation der Arbeitskräfte voraus, konnten sie aber durch eine partielle ‚Entsicherung‘ und Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse für einen veränderten Verwertungsprozess besser nutzbar machen, wobei auch eine Vielzahl von Autonomie- und Emanzipationsinteressen aufgenommen wurden, die sich auf fordistischer Grundlage entwickelt hatten.1 Betrachtet man diese schematisch zusammengefasste Entwicklung unter dem Gesichtspunkt des liberalen Grundprinzips einer ‚Regierung der Freiheit‘, so ließe sich sagen, dass die in der ersten Hochphase der kapitalistischen Produktion für die Arbeitskräfte primär negativ bestimmte und auch deshalb mit einem rigiden Disziplinarregime verkoppelte ‚Freiheit‘ durch Formen der sozialen Sicherheit und der konsumvermittelten Bindung an die Produktionsweise abgelöst wurde, die die Bedin-

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Eine ähnliche Entwicklungslogik verzeichnen Pongratz und Voß (2003, v.a. 215-226) im Bezug auf die historische Entwicklung der kapitalistischen Arbeitskrafttypen.

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gungen einer positiv bestimmten Freiheit im Konsum schufen (vgl. Schrage 2009, 130ff.), die Freiheitsgrade der Arbeitskraft im unmittelbaren Produktionsprozess aber gleichzeitig beschränkt hielten. Das traf sowohl auf die Einbringung von Kreativität und Selbstregulation in die strikt durchregulierte fordistische Produktion zu, als auch auf die freie Verwertung der Arbeitskräfte, die der mit Schutz- und Sicherheitsklauseln versehene Lohnarbeiterstatus begrenzte. Auf beiden Seiten stellt der Neoliberalismus eine flexiblere und entwicklungsoffenere Regulationsform mit größeren Freiheitsgraden her. Rückt man diese Verschiebungen in den unmittelbaren Produktionsverhältnissen in den Kontext der gesamtgesellschaftlichen Formen der Regierung, so fügen sie sich in den Kontext einer Entwicklung, die Foucault – der die Gegenwartsgesellschaft anfangs noch wesentlich durch Disziplinarmechanismen geprägt gesehen hatte (vgl. Foucault 2002, 748ff.) – angesichts der sich in den 1970er Jahren abzeichnenden Verschiebungen mit den Begriffen der „Postdisziplin“ und der „Normalisierung“ zu fassen suchte. Diese beiden Begriffe bieten auch einen Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Modi kapitalistischer Vergesellschaftung. Der Begriff der Postdisziplin markiert (wie alle Post-Begriffe) zunächst eine negative Abgrenzung gegenwärtiger Regierungstechniken zu früheren Konstellationen, in denen die Techniken der Disziplin ein dominantes Moment waren. Demgegenüber zielt der oft ge- und missbrauchte Begriff der Normalisierung2 auf eine positive Charakterisierung dieser Techniken. Ausgangspunkt der Disziplin ist die Norm, also ein vorgegebener „Richtwert“, um das „Normale vom Anormalen [zu] unterscheiden“ und das Individuum der Norm anzupassen (Foucault 2004a, 98). Diese normierende Ausrichtung bezeichnet Foucault mit dem Kunstwort „Normation“ (ebd., 90).3 Die davon unterschiedene Normalisierung, wie sie mit den Sicherheits- und Versicherungstechnologien verbunden war, geht stattdessen von einer „Ortung des Normalen“ im Sinne der statistischen Normalverteilungen von Ereignissen und Verhaltensweisen aus. Ihr Ziel ist es weniger, Individuen einer Norm entsprechend zu formen, vielmehr sucht sie die vorgefundenen „Normalitätskurven […] wechselseitig in Gang zu setzen“, um „auf diese Weise zu bewirken, daß die ungünstigen auf die günstigen zurückgeführt werden“. Hier werden bestimmte Normalverteilungen, „die für günstiger als die anderen gehalten werden“, befördert, ohne eine a priori definierte präskriptive Norm vorauszusetzen. Es sind hier vielmehr die zunächst in der Realität geortete Verteilungen, die dann als Norm dienen. „Die Norm ist ein Spiel im inneren der Differential-Normalitäten. Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab“, sie wird erst „ausgehend von diesen Untersuchungen fest[gesetzt] und spielt ihre operative Rolle“ (ebd., 98). Dieser sicherheitstechnologische Zugriff auf die Realität bildet in gewisser Weise das „Gegenteil des Disziplinarsystems“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000, 13) und ersetzt die relativ starre Form der prä-

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Foucault dazu ironisch: „Sie kennen das fatale Schicksal dieses Wortes ‚Normalisierung‘ […]. Was ist nicht alles Normalisierung? Ich normalisiere, du normalisierst usw.“ (Foucault 2004a, 88) Dies ist eine terminologische Verschiebung gegenüber Überwachen und Strafen, wo Foucault (vgl. 1994) die Disziplinartechniken noch in einem gänzlich anderen Sinne als dem hier gebrauchten als Techniken der „Normalisierung“ bezeichnet, wobei Normalisierung dort gerade die normierende Zurichtung der Individuen meint.

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skriptive Norm durch die flexiblere Norm des in einer statistischen Verteilung (mehr oder weniger) ‚Normalen‘. An Foucault anknüpfend hat Jürgen Link (vgl. 1995; 2006) diesen Begriff aufgegriffen und teilweise präzisiert. „Normalisierung“ als historisch bisher „‚letzte‘ regulative Idee“ (Link 1995, 24) bezieht sich hier auf eine gesellschaftliche Konstellation, die durch die „funktionale Dominanz von ‚Normalität‘ über ‚Normativität‘“ (ebd., 25) bestimmt ist. Wie bei Foucault meint das nicht, dass Normativität oder Disziplin verschwinden, vielmehr dass eine Verschiebung des Verhältnisses zweier regulativer Orientierungs- und Ordnungsmuster zu verzeichnen ist. Grundlage normalistischer Regulationsformen ist eine gesteigerte „Verdatung“ des Sozialen, die eine Bestimmung der Normalverteilungen und der Ansatzpunkte zu ihrer Bearbeitung erst ermöglicht. Dabei sind die „Normalitätsgrenzen“, die darüber entscheiden, was in einer gegebenen Verteilung noch „normal“ und was „anormal“ ist, aber notwendig unbestimmt und flexibel. Normalistische Kalküle sind daher immer mit einer „Denormalisierungsangst“ (ebd., 26) verbunden. Link unterscheidet zwei Normalisierungsstrategien, die der Denormalisierungsgefahr zu begegnen suchen. Die (historisch frühere) „protonormalistische“ Strategie setzt auf die „Etablierung möglichst fixer Normalitätsgrenzen auf möglichst lange Zeiträume“ mit „möglichst enge[n] Toleranzen-Zonen“ (ebd., 27). Die Ausprägung eines solchen „Protonormalismus“ überschneidet sich historisch mit der Ausbildung der oben diskutierten Versicherungstechniken und bleibt bis Mitte des 20. Jahrhunderts die dominante Form. Die rigide Stabilisierung der Normalitätsgrenzen setzt „‚außengelenkte‘ Subjektivität, ‚Dressur‘ und ‚Repression‘ voraus. Die Individuen müssen häufig gegen ihren Willen […] auf geplante Vorgaben hin ‚normalisiert‘ werden“ (ebd., 28), und die symbolische Verstärkung der Normalitätsgrenzen verwandelt diese in „StigmaGrenzen“ (ebd., 27). Demgegenüber agiert die „flexibel-normalistische“ Strategie, deren Aufstieg in der hier verwendeten Phasierung mit der Endphase des fordistischkeynesianischen Akkumulationsmodells und dem Übergang zum ‚Neoliberalismus‘ zusammenfällt, genau entgegengesetzt, indem die „Normalitätsgrenzen […] möglichst flexibel und für möglichst kurze Zeiträume festgelegt, die Toleranzen-Zonen […] möglichst ‚breit‘ etabliert“ (ebd.) werden. Ein flexibler Normalismus gewinnt seine regulatorische und integrative Kraft gerade dadurch, dass er die Grenzen des ‚Normalen‘ und die Abweichungstoleranz möglichst weit dehnt. Aus dem Kontinuum des Normalen und gesellschaftlich Akzeptablen fallen im Grenzfall nur Handlungen heraus, welche die Grundlagen der Ordnung oder die Integrität anderer Individuen direkt verletzen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung wird die Übertragung der Normalisierungskalküle von den Versicherungstechniken auf immer weitere Bereiche der gesellschaftlichen Regulation und eine schrittweise Verdrängung protonormalistischer Strategien durch Formen der flexibelnormalistischen Regulierung in dem Maße möglich, wie bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, die historisch durch die Disziplin und den Protonormalismus mit geschaffen wurden. Einerseits müssen grundlegende, der kapitalistischen Logik angemessene Einstellungs- und Verhaltensmuster (Erwerbsstreben, rationale KostenNutzen-Kalküle, Arbeits- und Leistungsdispositionen, Kapazitäten der Selbstführung und Selbstkontrolle) hinreichend verbreitet sein, um entsprechende nutzbare Verhal-

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tensweisen bei einem Großteil der Bevölkerung auch ohne explizite Präskription und Dressur wahrscheinlich zu machen. Andererseits muss die Mehrzahl der Individuen über hinreichende (materielle, intellektuelle und kulturelle) Ressourcen verfügen, um solche Verhaltensweisen auch sinnvoll entfalten zu können. Damit der „Flexibilitätsnormalismus […] funktionieren kann, müssen die Subjekte sich selbst zu ‚normalisieren‘ imstande sein.“ Das meint konkret: „Sie müssen ihre ‚Orte‘ in den jeweiligen Normalfeldern (ob nah beim Durchschnitt oder mehr oder weniger entfernt von ihm in den Toleranzen-Zonen oder gar an der Normalitätsgrenze) nach taktischen Kalkülen, insbesondere Risiko-Kalkülen, häufig aber auch mit einer gewissen ‚Spontaneität‘ […] ‚frei‘ wählen können (stets allerdings unter Berücksichtigung der Gesamt-Normalität, die sie nicht gefährden dürfen).“ (Ebd., 28f.)4

Wo diese Voraussetzungen aber hinreichend erfüllt sind, werden rigide Präskriptionen nicht nur überflüssig, sondern hinderlich für die Entfaltung des Kapitalismus. Dieser ist ja nicht nur in seinen Anfängen darauf angewiesen, überkomme normative Vorgaben zu überwinden, um das Gewinnstreben zu entgrenzen und eine sachlich rationale Kapitalverwertung zu garantieren – wie dies Sombart (vgl. 1922) oder Braudel (vgl. 1986) herausgearbeitet haben. Auch für die weitere Entwicklung des Kapitalismus ist jede normative Einschränkung von Verhaltensmustern eine zu durchstoßende Grenze des Verwertungsprozesses, hinter der potenzielle Produktionssektoren und Absatzmärkte, potenzielle Produzenten und Konsumenten liegen. Hier setzt die mit dem Kapitalismus verbundene Entgrenzungs-, Wachstums- und Steigerungsdynamik auf Seiten der Subjekte beständig Entfaltungspotenziale und Erwartungen frei, die von den protonormalistischen Grenzziehungen blockiert werden, was „StauKrisen mit Deichbrüchen und daraus folgenden katastrophischen Denormalisierungen“ zu erzeugen droht (Link 1995, 27). Zugleich erlaubt es die gegen alle Inhalte neutrale abstrakt-formale Verwertungslogik des Kapitals, die ‚Toleranzen-Zonen‘ immer weiter hinauszuschieben und Impulse, die gegebene Normalitätsgrenzen sprengen, aufzunehmen und zu verarbeiten. Entgegen ‚freudomarxistischer‘ Thesen vom triebunterdrückenden Charakter kapitalistischer Gesellschaften (die auf eine Reihe unerschlossener Bedürfnisse und Märkte hinwiesen) ist die Logik des Kapitalismus weit über eine bloß „repressive Toleranz“5 hinaus auf Anreizung, Erzeugung

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Die „Fähigkeit zur Selbst-Normalisierung (Selbst-Adjustierung) setzt eine wirkliche ‚Innen-Lenkung‘ voraus, die mit dem entsprechenden Begriff von Riesman allerdings gerade nicht übereinstimmt. Diese (flexibel-normalistische) Art der ‚Innen-Lenkung‘ wird insbesondere durch psychotherapeutische Trainingsprogramme im weitesten Sinne (‚counseling‘, ‚Selbsterfahrung‘, ‚Kreativität‘ usw.) erworben“ (Link 1995, 29). Marcuse (vgl. 1966, 91-128), der ein aufmerksamer Beobachter der Verschiebungen der 1960er und 70er Jahre blieb, versuchte mit Begriffen wie ‚repressive Toleranz‘ oder ‚repressive Entsublimierung‘ auf die hier verzeichneten Entwicklungen (vor allem im Bereich der Sexualität) zu reagieren. Beide Begriffe bleiben aber kontrastive Wertungsformeln. Sie funktionieren in einem dualen Schema, in dem eine abstrakte ursprüngliche und authentische Sexualität einer ebenso abstrakten Gesellschaft gegenübergestellt wird, deren Toleranz nur scheinbar und in Wirklichkeit repressiv ist (indem sie das, was Sexualität sein könnte, auf eine größere Bandbreite von Triebbefriedigung reduziert). Foucault teilt demgegenüber mit Marx eine Haltung zu den Objektivationen kapitalistischer Subjektivität, die im Marxismus oft verloren ging, wo Verdinglichung nur negativ, als bloße Verfälschung

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und Förderung von Begehrlichkeiten angelegt. Die Geschwindigkeit, mit der die Privatwirtschaft Ende der 1960er Jahre die Führung der ‚sexuellen Revolution‘ übernahm, mit der Homosexuelle seit den 1980er Jahren von Stigmaträgern zu Trendsettern aufstiegen oder mit der die verschiedensten ‚nonkonforme‘ Lebensentwürfe von Randgruppen (Punks, Ökos, Rapper etc.) erschlossen und durch Massenvermarktung von den Rändern in die Mitte der Normalverteilung überführt wurden, lässt dies deutlich erkennen. Spätestens hier zeigt sich, dass der Glaube, „die Emanzipation der Begierde“ könne der „Anfang vom Ende des Kapitalismus“ sein, eine erhebliche Blindheit dagegen erforderte, „wie sehr die Freiheit Teil des Kapitalregimes ist“ und wie stark das „kapitalistische System mit dem Begehren verbunden ist, auf dem ein Großteil seiner Dynamiken beruht“ (Boltanski/Chiapello 2003, 506, vgl. ebd., 473-508). Natürlich ist diese Vereinnahmungslogik nicht unproblematisch: Einerseits kann sie rasche „Enttäuschungszyklen“ auslösen, da der Authentizitätscharakter des jeweils Neuen durch seine Vermarktung rasch verloren geht (vgl. ebd., 478-485). Zum anderen sind kulturelle Muster und Habitusprägungen weitaus träger als die Dynamik der kapitalistischen Integration jeder Abweichung. Das kann anhaltenden Widerstand gegen die Verschiebung von Normalitätsgrenzen hervorbringen, da das für den flexiblen Normalismus charakteristische „‚Verschwimmen‘ der Grenzen“ (Link 1995, 27) für viele Individuen als bedrohlich erlebte Orientierungsprobleme erzeugt, was zu wertkonservativen oder fundamentalistischen Gegenbewegungen führt. Insofern aber gerade auch solche konservativen oder reaktionären Gegentendenzen eher einer Logik der Abwehr und der Verteidigungsgefechte folgen, die sich gegen die charakteristischen Systemdynamiken zu stellen suchen, sah auch Foucault, ähnlich wie Deleuze und Guattari,6 die kapitalistischen Marktgesellschaften der Gegenwart gerade durch ihre gesteigerten Freiräume der individuellen Entfaltung innerhalb flexibler Grenzen der Absicherung gekennzeichnet: „Die Absicherungsgesellschaften, die gegenwärtig entstehen, tolerieren eine Reihe unterschiedlicher, abweichender und sogar gegensätzlicher Verhaltensweisen, sofern diese Verhaltensweisen sich in einem gewissen Rahmen bewegen, der als gefährlich erachtete Dinge [...] ausschließt. Die Abgrenzung der ‚gefährlichen Umtriebe‘ wird tatsächlich von der Macht vorgenommen. Doch innerhalb des Rahmens gibt es einen sehr viel größeren Spielraum und Pluralismus.“ (Foucault 2003b, 499f.)

Dass diese Tendenzen gerade in der neoliberalen Gouvernementalität angelegt sind, lässt sich anhand des Kriminalitätsproblems illustrieren. Diesbezügliche Analysen und Vorschläge von Becker (vgl. 1993) und anderen zeichnet zunächst aus, dass sie den Verbrecher als ‚normalen‘ Homo oeconomicus ansehen: Es handelt sich nicht um

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eines ursprünglichen Substrats erschien. Demgegenüber war Marx zumindest darin Hegelianer, dass er Objektivationen als Bedingungen der Möglichkeit real veränderter Subjektivität und realer Freiheitsgrade verstand. „Welche Geschmeidigkeit in der Axiomatik des Kapitalismus, immer bereit, seine eigenen Grenzen zu erweitern, um ein neues Axiom dem eben noch saturierten System anzufügen! Sie möchten ein Axiom für die Lohnabhängigen, die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften, wird gemacht [....]. Selbst für die Sprache der Delphine werden wir ein Axiom finden.“ (Deleuze/Guattari 1979, 306f.)

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ein abnormes Individuum, dessen Dispositionen ergründet und disziplinarisch umgeformt werden müssten oder könnten. In radikaler Differenz zu den früheren Formen des Umgangs mit den „Anormalen“, in denen der Verbrecher seit dem 18. Jahrhundert unter dem „systematischen Verdacht einer aller Kriminalität zugrundeliegenden Monstrosität“ (Foucault 2003a, 108) auf seine Besonderheiten und Perversionen hin durchleuchtet werden sollte (vgl. ebd. v.a. 108-142), gilt der Verbrecher in der neoliberalen Sicht nur noch als „irgendein beliebiger Mensch“ (Foucault 2004b, 350), der auf der Grundlage eines Nutzenkalküls ein besonderes Risiko eingeht. Dieser Zugriff unterscheidet sich gravierend von den disziplinarischen Problemstellungen und Praktiken: Da Verbrecher normale Menschen mit normalen Kalkülen sind, gehört das Verbrechen zur Normalität des gesellschaftlichen Lebens und kann nie gänzlich ausgeschlossen werden. Man kann nur versuchen, den Bedingungsrahmen der Verbrechen so zu gestalten, dass sie unwahrscheinlicher werden und ihr Auftreten möglichst effizient bearbeitet werden kann. Dafür gibt es die klassische Methode, für das Angebot der Verbrechen eine negative Nachfrage in Form von Sanktionen zu etablieren, die das Verbrechen unattraktiv machen. Mit dieser (sozusagen protonormalistischen Strategie) greifen die Neoliberalen die Vorstellungen utilitaristischer Reformjuristen des 18. Jahrhunderts wieder auf, deren Modell einer ‚Strafsemiotik‘ Foucault (vgl. v.a. 1994, 133-170) bereits in Überwachen und Strafen als den konkurrierenden Gegenentwurf zum Disziplinarmodell untersucht hatte.7 Anders als die Reformjuristen verzichten neoliberale Autoren aber auf das Ziel einer ‚Besserung‘ der Delinquenten und führen darüber hinaus eine Reihe von Strategien ein, die man flexibel normalistisch nennen kann. Dazu gehört etwa Beckers Frage, wie viele Verbrechen zugelassen werden und wie viele Täter straffrei ausgehen sollen, die flexibel nach einem Kostenkalkül (denn auch Strafen verursachen Kosten) zu entscheiden ist. So lassen sich Ladendiebstähle nicht vermeiden, und es ist nur die Frage, auf welchen Prozentsatz sich die damit verbundenen Verluste durch Verfolgung reduzieren lassen und welcher Prozentsatz toleriert oder auf anderem Wege (z.B. Versicherung gegen Diebstahlverluste) bearbeitet werden könnte. Ebenso flexibel normalistisch ist die Frage, welche Verbrechensmärkte sinnvoll in legale Märkte überführbar sind, um eine gegebene Nachfrage (etwa nach Drogen, nach sexuellen Dienstleistungen oder nach Pornographie) zu befriedigen, die entsprechende Kaufkraft regulär abzuschöpfen und zugleich die Zahl der Strafdelikte (inklusive der Beschaffungs- und Zugangskriminalität) zu minimieren.8 Wo diese Legalisierung nicht möglich ist, wäre zu fragen, wie man auch illegale Märkte sinnvoll regulieren kann, etwa indem man eine bestimmte Grundversorgung mit Drogen zulässt und (illegale) Anbieter toleriert, die bestimmte Grenzen (Drogenverkauf an Kinder, Gewaltdelikte etc.) möglichst wenig überschreiten.9

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Vgl. zu den Beziehung zwischen neoliberalen und reformjuristischen Vorstellungen ausführlich auch: Foucault 2004b, 346ff. Vgl. zu den Drogenmärkten (deren Legalisierung eine klassische neoliberale Forderung ist) Lepage 1979,174ff. Vgl. zum Überblick Lepage 1979; zur Analyse Foucault 2004b, v.a. 344-360. Auch wenn es unüblich ist, in soziologischen Arbeiten auf die Massenkultur zu verweisen, sei hier auf die amerikanische Fernsehserie „The Wire“ hingewiesen, die Formen und Probleme einer flexibel-normalistischen Polizeiarbeit eindrücklich darstellt.

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Foucault sah in solchen neoliberalen Analysen, Konzepten und Programmen zum Umgang mit Verbrechen generelle Dispositionen und Ansatzpunkte neoliberaler Regulationsstrategien prägnant ausgedrückt: „[W]as am Horizont einer solchen Analyse erscheint, [ist] überhaupt nicht das Ideal oder das Projekt einer erschöpfend disziplinarischen Gesellschaft [...], in der das Netzwerk der Gesetze, das die Individuen umschließt, von […] normativen Mechanismen fortgesetzt und verlängert würde. Es ist auch keine Gesellschaft, in der ein Mechanismus der allgemeinen Normalisierung und des Ausschlusses des Nicht-Normalisierbaren erforderlich wäre. Im Gegenteil haben wir in diesem Horizont […] das programmatische Thema einer Gesellschaft, in der es eine Optimierung der Systeme von Unterschieden gäbe, in der man Schwankungsprozessen freien Raum zugestehen würde, in der es eine Toleranz gäbe, die man den Individuen und den Praktiken von Minderheiten zugesteht, in der es keine Einflußnahme auf die Spieler des Spiels, sondern auf die Spielregeln geben würde und in der es schließlich eine Intervention gäbe, die die Individuen nicht innerlich unterwerfen würde, sondern sich auf ihre Umwelt bezöge.“ (Foucault, 2004b, 359)

Auch diese Form der Regierung der Freiheit schließt exzessive Kontrolle ein. So bildet die Zunahme der Überwachung des öffentlichen Raums und die Annährung an das Ideal des gläsernen Menschen in einzelnen Sektoren (der gläserner Kunde, der gläserne Patient oder der gläserne Arbeitssuchende), also alle Formen der „Verdatung“ des Sozialen (vgl. Link 2006, v.a. 154ff.), eine Voraussetzung flexibelnormalistischer Strategien. Schließlich bedarf es einer möglichst lückenlosen Erfassung aller Lebensäußerungen, um ihre Normalverteilung und ihre Zusammenhänge zu erschließen und optimal zu nutzen. Zudem müssen, gerade weil das Ideal disziplinarischer Besserung aufgegeben wurde, delinquente Individuen möglichst rasch unschädlich gemacht werden. In Bezug auf eine bedrohliche Überschreitung der Toleranzen-Zonen (Jugendgewalt, als Systemgefährdung eingestufte politische Bewegungen) können flexibel normalistische Strategien auch „sektoriell, partiell und zeitlich begrenzt ‚härtere‘ Normalitätsgrenzen in ihren Mix aufnehmen“ (Link 1995, 33). Innerhalb des flexiblen Normalitätsrahmens aber ist die erhöhte Freiheit des Verhaltens nicht nur eine Ideologie, sondern eine Realität, die auch impliziert, dass die Individuen die Verantwortung für das eigene Verhalten und seine Folgen in höherem Maße selbst zu tragen haben. Der „massive Rückzug beim normativ-disziplinarischen System“ (Foucault 2004b, 359) und die „Errichtung eines ziemlich lockeren Rahmens um das Individuum“, innerhalb dessen es sein Handeln und dessen „Wirkungen selbst reguliert“ (ebd., 361), impliziert, dass es „keine vereinheitlichende, gleichmachende, hierarchisierende Individualisierung mehr“ (ebd.) gibt, die vorhandene sozial bedingte Ungleichheiten (disziplinarisch) regulieren und kompensieren soll. Insofern ist auch das Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ keine präskriptive Form, der ‚die Subjekte‘ eingepasst werden, wie Bröckling (vgl. 2007) dies suggeriert. Es ist vielmehr ein Orientierungspunkt zur Schaffung allgemeiner Umweltbedingungen und Anreize, die selbstunternehmerisches Verhalten ermöglichen, es aber den Individuen überlassen, ob und wieweit sie sich entsprechend verhalten wollen oder können. Große Abweichungen vom Typus des Selbstunternehmers sind dabei eingeplant. Die neoliberale Politik schließt den breiten „Bodensatz“ (Foucault 2004b, 289) einer Bevölkerung ein, die kaum dem unternehmerischen Leitbild entspricht, aber in anderer Weise

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nutzbar ist. Im Neoliberalismus ist schließlich eine relative Armut als Dauerzustand für breite Gruppen eingeplant. Die Sozialpolitik garantiert eine Schwelle minimaler Existenzsicherheit, und eine „Gesellschaft, die nach dem Modell […] des konkurrierenden Unternehmens eingerichtet ist, wird oberhalb dieser Schwelle möglich“. Im Übrigen aber gibt es „bloß eine Sicherheit nach unten“, die zwar den freien Fall ins Elend abfängt, jedoch nicht versucht die Lebensbedingungen künstlich anzuheben oder anzugleichen. Es wird mithin neben den Selbstunternehmern stets eine „Bevölkerung geben, die oberhalb und unterhalb der Schwelle schwebt“ (ebd., 288f.). Die Regierung der Freiheit ist auch eine Regierung der Ungleichheit, in der die „Optimierung der Systeme von Unterschieden“ (ebd., 359) zu schärferen sozialstrukturellen Polarisierungen führt, zumal sich die neoliberale Sozialpolitik dezidiert vom Anspruch, ökonomische Differenzen auszugleichen oder soziale Probleme (Armut, Arbeitslosigkeit) zu lösen, verabschiedet und sich auf die Verwaltung ihrer Wirkungen beschränkt (vgl. ebd., 286ff.). Den sich ‚naturwüchsig‘ herstellenden sozioökonomischen Ungleichheiten wird ihr Lauf gelassen oder sie werden, statt sie zu kompensieren, zur Grundlage von Selektion und Profilbildung, um den Individuen eine ihnen ‚entsprechende‘ Laufbahn zuzuweisen, wie dies Castel (vgl. 1983) als zentrales Moment einer „nachdisziplinarischen Ordnung“ beschrieb: Der Umgang mit ‚Problempopulationen‘ in Psychiatrie und Sozialarbeit verschiebt sich vom disziplinarische Zugriff mit „korrigierenden und therapeutischen Interventionen“ (ebd., 68) auf eine präventive Kontrolle, die auf der Einordnung der Individuen nach ihren Verhaltensweisen aufbaut. Daten und Gutachten erlauben es, das Individuum „zu kennzeichnen, es mit einem Profil zu versehen, das ihm eine bestimmte Laufbahn vorschreibt“ (ebd., 63 [Hervh. i.O.]). Für Sonderprofile kann ein ihnen gemäßer Sonderrahmen eingerichtet werden. Das entlastet die Individuen einerseits von Anpassungsund Konversionszwängen, schränkt aber gleichzeitig alternierende Entwicklungspotenziale zusätzlich ein, die aufgrund der bisherigen Biographie und der sozialen Umstände blockiert waren. Bei hinreichend entwickelter Verdatung ist dieses Modell auf alle möglichen Individuen übertragbar: Prinzipiell „kann man jede beliebige Population objektivieren“, um „differenzierte Populationsprofile“ zu konstruieren. „Der Rest, d.h. der Schritt, auf dieser Grundlage bestimmten, nach dieser Methode definierten Gruppen ein besonderes Schicksal zuzuweisen, ist eine Frage des politischen Wollens.“ (Ebd., 69) Bildungssysteme mit sozialen Segregationseffekten oder die Verlagerung hochwertiger Weiterbildungsangebote in den privatwirtschaftlichen Sektor bewirken eine entsprechende Verfestigung sozialer Laufbahnen auch ohne zentralistische Erfassung oder Lenkung.10 Auch ein Strafsystem, das sich, wie in den USA, zunehmend vom Resozialisierungsanspruch löst, sich auf eine Verwaltung des „Elends hinter Gittern“ (Wacquant 2000) beschränkt und sich so weiter jenen Funktionen annährt, die schon Foucault (vgl. 1994, 351ff.) für ein Gefängnis beschrieb, das als Disziplinarsystem versagt und stattdessen ein System der Verwaltung von Delinquenz wird, gehört in diesen Kontext. Postdisziplin heißt in diesem Sinne auch, dass in dem Maße, wie all10 Vgl. in diesem Kontext etwa Friebel 1993, 158. „Weiterbildungsprozesse schließen im Lebenslauf nahtlos an die selektiven Mechanismen primärer und sekundärer Bildungsgänge an“ und erscheinen „de facto als Kumulation sozialer Chancen [...] einer erstaunlich kleinen [...] Gruppe von Privilegierten.“ (Ahlheit 1998, 95f.)

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gemeine Freiheitsgrade zunehmen, der Anspruch zurückgeht, ökonomische und soziale Ungleichheiten politisch zu kompensieren oder die aus ihnen resultierenden anomischen und devianten Verhaltensweisen der betroffenen Individuen zu korrigieren. Es ist in der Fachdiskussion und der Öffentlichkeit ja kein Geheimnis, dass die neoliberale Umformung der gesellschaftlichen Verhältnisse mit einer stärkeren Ausprägung sozialstruktureller und soziokultureller Segregation, mit einem ‚Schrumpfen der Mittelschicht‘, mit einer Ausweitung der Unsicherheits- und Prekaritätszonen in der Gesellschaft oder mit der Ausprägung permanent abgehängter ‚Exklusionsbereiche‘ einhergeht.11 An dieser Stelle gibt es genügend Ansatzpunkte einer Kritik, die sich nicht abstrakt auf ‚das neoliberale Subjektivierungsregime‘ bezöge, wozu die deutschen Gouvernementalitätsstudien tendieren, sondern auf konkrete politisch-ökonomische Zusammenhänge: auf Arbeitsverhältnisse, in denen die Selbstausbeutung zum Moment verschärfter Fremdausbeutung wird und Autonomie oder „‚Flexibilität‘ [...] eindeutig für ‚sinkende Löhne‘“ stehen (Thurow 1996, 62); auf einen Druck zu entgrenzter Selbstverwertung, der auf die physische, psychische und soziale Regeneration des ‚Humankapitals‘ destruktiv zurückwirkt – und zwar bei denen, die als den Erfordernissen nicht gemäß in verfestigte Prekaritätsprofile abgeschoben werden, ebenso wie in jener Fraktion der ‚Generation Burn-Out‘, die finanziell auf der Gewinnerseite der neuen Arbeitswelt steht; auf Formen sozialer ‚Desintegration‘ und einer ‚Entsolidarisierung‘, die kein ‚moralisches‘ Problem darstellen, dass sich qua zivilgesellschaftlicher Appelle bearbeiten ließe, sondern strukturelle Ursache haben. Eine hier ansetzende Kritik müsste, wie auch Boltanski und Chiapello (vgl. 2003, 574f. & 380-412) betonen, wieder stärker die Form einer ‚Sozialkritik‘ haben. Auch bei einer solchen Sozialkritik ist aber ein differenzierteres Vorgehen geboten als jenes, das einer hypertrophierenden Marktlogik im Neoliberalismus die zuvor erreichten sozialstaatlichen Errungenschaften bloß gegenüberstellt – wozu teilweise auch Bourdieu (vgl. v.a. 2004c) tendierte. Es ist unbestritten, dass der praktizierte Neoliberalismus in allen entwickelten kapitalistischen Nationen zur Verschärfung sozialer Problemlagen führt. Dazu gehören die Zunahme von „Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, berufsbedingten Krankheiten oder Erkrankung durch qualitativ mangelhafte Produkte“ (Boltanski/Chiapello 2003, 549), die generelle „Verschlechterung der Gesundheitsbedingungen der Arbeiter“, „wachsende Kriminalität“, „Industrie- und Umweltkrisen“ (ebd., 552), die generelle Prekarität der Zukunftsperspektiven, die damit und mit der Fokussierung auf die eigene Selbstverwertung abnehmende Bereitschaft und Fähigkeit zur Familiengründung oder auch der zunehmende „Fatalismus“ (vgl. ebd., 569f.). Ebenso offenkundig sind die Paradoxien im Hinblick auf die Humankapitaloptimierungsrhetorik einer „Aktivierungspolitik“, die sich „tendenziell selbst unterläuft, indem sie ebenjene subjektiven Ressourcen sozialer Produktivität bedroht, die sie politisch zu mobilisieren sucht.“ (Lessenich 2009a, 131) Statt sich aber für eine hier ansetzende Sozialkritik zu sehr darauf zu verlassen, dass der in der aktuellen Formation kapitalistischer Vergesellschaftung sich entfaltende Verwer-

11 Vgl. Göbel/Cornig/Häußermann 2010; zur sozialen Ausprägung zusammenfassend Castel 2008, 336-400; zur „Exklusion“ (ein, wie noch zu zeigen ist, problematischer Begriff) u.a. die Beiträge in: Bude/Willisch 2006.

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tungsprozess „das gesellschaftliche Substrat zerstört, auf dem er gedeiht“, und bald genötigt sein wird, „der Kritik Rechnung zu tragen“ (Boltanski/Chiapello 2003, 554), soll hier zunächst umgekehrt gefragt werden, inwiefern die neoliberale Regulationsform fähig ist, mit den von ihr produzierten sozialen Effekten und Paradoxien umzugehen oder sie sogar funktional zu nutzen, um erst dann die Frage nach möglichen Grenzen dieses ‚historischen Blocks‘ zu stellen. In der aktuellen Krisenkonstellation seit 2008 wurde nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökonomischen Gründen vielfach eine nachfrageorientierte (keynesianische) Konjunkturbelebung durch Hebung der Massenkaufkraft gefordert.12 So wünschenswert dies aus sozialen Gründen scheinen mag, bleibt es eine andere Frage, ob die neoliberale „Optimierung der Systeme von Unterschieden“ (Foucault 2004b, 359) bereits an ihre ökonomischen Grenzen gestoßen ist, so dass neo-keynesianische Korrekturen der Distributionsverhältnisse unabdingbar sind. Marx entwickelte seine Schemata der kapitalistischen „Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter“ (MEW 24, 485-518, v.a. 501-517) ausgehend von einer Gesellschaft, in der der Lohnkonsum und die ‚Massenkaufkraft‘ weit geringer waren als heute, und ging dennoch davon aus, dass diese Akkumulation, trotz regulärer Unterkonsumtionskrisen, funktioniert. Das fordistisch-keynesianische Akkumulationsmodell war ein historischer Sonderfall und keine universelle Bedingung der Kapitalverwertung. Einerseits kann eine dauerhafte Expansion des Investitionsgütersektors eine dynamische Akkumulation fördern. Hier bietet die ‚mikroelektronische Revolution‘ durch das immer raschere Veralten der Basistechnologien eine dauerhafte Grundlage, da damit eine enorme Beschleunigung der zyklischen Umstrukturierungen aller Produktions- und Distributionsprozesse erzwungen wird.13 Andererseits bleibt der wachsende Verbrauch von Konsumgütern zwar eine Bedingung der Akkumulation, muss aber nicht die Form des relativ ‚nivellierten‘ fordistischen Massenkonsums behalten. Hirsch und Roth (vgl. 1986) gingen früh davon aus, dass ein ‚postfordistisches‘ Akkumulationsmodel imstande ist, „die Produktivität von der Entwicklung des Reproduktionsniveaus der Arbeitklasse insgesamt abzukoppeln“, wenn die Ausbildung „eines neuen ‚postfordistischen‘ Konsummodells“ (ebd., 114f.) gelingt. Dessen Konturen liegen in einer „sich pluralisierenden Konsumwelt“, in der sich zugleich die sozialen „Spaltungen […] in neuen Warenangeboten und Konsummodellen spiegeln“. Dabei werden die „typischsten fordistischen Institutionen“, die großen Waren- und Versandhäuser, „zwischen Boutiquen und Diskontmärkten zerrieben“ (ebd., 120f.). Ein jüngster Beleg für diese Tendenz ist es, dass klassische Konsuminstitutionen der Nachkriegszeit, also Warenhäuser wie Karstadt oder Versandhäuser wie Quelle von

12 Entsprechende Argumente bestimmten öffentliche Debatten und wurden auch von Ökonomen wie Krugmann (2009) vorgebracht. Es ging dabei nicht um Einzelmaßnahmen zur Stützung gefährdeter Produktionssektoren und zugunsten einer kaufkräftigen ‚Mittelschicht‘, wie im Fall der ‚Abwrackprämie‘, sondern generell um höhere Löhne und eine neue Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands zur Hebung der Massenkaufkraft, also um eine echte ‚Rückkehr zu Keynes‘ (ebd., 211f.). 13 Zusätzlich gestützt wird diese Innovationsdynamik, wie Hirsch und Roth schon 1986 feststellten, durch die Forcierung des staatlichen Ausbaus der elektronischen Infrastruktur (Stichwort Glasfaserverkabelung) sowie die kontinuierliche Nachfrage der öffentlichen Hand nach verbesserten Technologien zur weiteren Optimierung und Ausweitung der Überwachung der Bürger.

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der Wirtschaftskrise besonders betroffen waren. Die große und stetig wachsende Kaufkraft eines privilegierten Teils der Bevölkerung kann in diesem veränderten Konsummodell durch neue, auf die „Gesundheits-, Fitness- und Selbstdarstellungsbedürfnisse der besser Verdienenden“ (ebd.) abgestimmte Märkte besser abgeschöpft werden, gerade wenn Leistungen im Gesundheits-, Bildungs- und Kultursektor zunehmend wieder einkommensabhängig sind.14 Die Kaufkraft des ‚abgehängten Prekariats‘, die individuell geringer ausfällt, in der Summe aber ebenso relevante bleibt, wird mit Billigangeboten und Wegwerfprodukten sowie durch Ausdehnung „privater ‚Konsumarbeit‘“ (ebd., 116), die viele Produkte verbilligt,15 kontinuierlich erfasst. Rein ökonomisch stehen also die Stagnation oder sogar ein relationales Sinken der Reallöhne für einen Großteil der Population und die Ausdehnung von Absatzmärkten nicht in einem notwendigen Widerspruch zueinander. Aber auch das soziopolitische Argument, dass „ein Kapitalismus, der den Lebensstandard – vor allem der Ärmsten – nicht erhöht, [...] nicht länger glaubwürdig“ ist und auch individuelle „Emanzipationsbedürfnisse […] über Waren und mithin über die Umverteilung von Kaufkraft“ befriedigt werden müssen (Boltanski/Chiapello 2003, 553), womit die Kapitalverwertung langfristig von der Seite der gesellschaftlichen Legitimations- und Integrationskraft her wieder auf andere Distributionsformen angewiesen sei, überzeugt nicht unbedingt. Die kontinuierliche Verbilligung von Massenwaren erlaubt auch bei geringer Kaufkraft eine Varianz des individuierenden Konsums im Billigpreissegment, wie ein Blick in die Produktpalette von „1-Euro-Shops“ zeigt, und die weite Verbreitung der Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik macht die Erfüllung selbstbezüglicher Individuierungs- und Konsumbedürfnisse relativ einkommensunabhängig. Zugleich erlaubt dies weitere Fortschritte in der „Segmentierung, Atomisierung und ‚Entgesellschaftlichung der Gesellschaft‘“, was für die unmittelbaren Sozialbeziehungen einen „Desintegrationsschub“ (Hirsch/Roth 1986, 119) bedeuten mag, aber gerade deshalb für eine kapitalistische Vergesellschaftung integrativ wirkt, da die individuellen Bedürfnisse so noch stärker auf den Konsumbereich gelenkt werden und selbst bei verbreiteter subjektiver Unzufriedenheit die Formierung kollektive Gegenbewegungen unwahrscheinlicher wird. Zudem bedeuten die neoliberalen Umwälzungen keinen Abbau, sondern einen Umbau des Sozialstaats, dessen Leistungen mit dem Anwachsen unterstützungsbedürftiger Populationen eher zunehmen, während sich ‚nur‘ seine Funktionslogik verändert: Die keynesianische Sozialpolitik, die Vollbeschäftigung im Rahmen gut entlohnter, versicherungspflichtiger Arbeit avisierte und das Lohn-Profit-Verhältnis zugunsten der Löhne verschob, wird von einer neoliberalen Sozialpolitik verdrängt, deren Ideal ein ‚Bürgergeld‘ oder eine ‚negative Einkommenssteuer‘ ist, wie Milton Friedman sie konzipierte. Hier werden Massenarbeitslosigkeit und Lohnarmut als gegeben anerkannt. Aufgabe der Sozialpolitik ist es nur, allen Individuen, die „eine

14 Hier sei nur auf die rasante Expansion des „Wellness-Marktes“ oder auch des Marktes für hochwertige Vital- und Bioprodukte in den letzten Dekaden verwiesen. Vgl. Horx/HorxStrathern/Gaspar 2002; Weber 2008. 15 Insofern kann auch die Kennzeichnung als ‚Dienstleistungsgesellschaft‘ nicht überzeugen. Zumindest für einen Großteil der Bevölkerung wäre wohl der Begriff ‚Selbstbedienungsgesellschaft‘ oder ‚Do-it-yourself-Gesellschaft‘ passender. Vgl. zur wachsenden Bedeutung der „Mitarbeit des Kunden“ aktuell: Voß 2009.

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bestimmte Schwelle des Konsums nicht erreichen können, die die Gesellschaft für angemessen hält“, ein Grundeinkommen zu garantieren, das hoch genug ist um zu existieren und niedrig genug, um „mit genügend Anreizen“ und „Frustrationen“ verbunden zu sein, um Lohnarbeit für attraktiv zu halten (Foucault 2004b, 285). Zentral ist es, dass „die negative Steuer in keiner Weise […] zum Ziel hätte, diese oder jene Ursache der Armut zu verändern“ und „nie auf der Ebene der Bedingungen“ ansetzt (ebd., 286).16 Idealitär kann ein solcher Ansatz, dem es nicht um die Überwindung, sondern um die effiziente Verwaltung von Armut geht, darauf verzichten, die Armen über die Feststellung der Bedürftigkeit hinaus zu disziplinieren, was auch die Verwaltungskosten senkt. Es ist tolerierbar, wenn sich Teile der Bevölkerung auf der Schwelle der Grundsicherung einrichten, solange die Mehrheit bereit ist, ihre Situation durch Arbeit zu verbessern. Realitär waren zwar in Deutschland die ‚HartzReformen‘ und die ‚Agenda 2010‘ mit einem enormen Ausbau leerlaufender Kontroll-, Sanktions- und Disziplinarmaßnahmen verbunden, die gegen die terminologisch in ‚Kunden‘ einer ‚Agentur‘ verwandelten Mitglieder der industriellen und intellektuellen Reservearmee zum Einsatz gebracht wurden (vgl. Legnaro/Birenheide 2008), was aber nicht übersehen lassen sollte, dass diese Gesetzgebung insgesamt auf der Linie einer neoliberalen Sozialpolitik lag: Einerseits förderte sie die Zunahme ‚irregulärer‘ Arbeitsverhältnisse und die Herausbildung einer neuen Lohnarmut nachhaltig. Andererseits erzeugte die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum ALG II und die Beschränkung des Arbeitslosengeldes (ALG I) auf ein Jahr eine relativ homogene „Schwellenbevölkerung“ (Foucault 2004b, 289), die nach einheitlichen Standards verwaltet werden kann. Vom Standpunkt der Kapitalverwertung ist diese Neuorganisation der Sozialpolitik in mehrfacher Hinsicht funktional. Einerseits erlaubt sie jene „Umlagerung der Lohnkosten auf den Staat“, die Boltanski und Chiapello (2003, v.a. 309ff.) als wesentliches Element des ‚neuen Kapitalismus‘ herausgearbeitet haben, d.h. eine Absenkung eines Teils privatwirtschaftlicher Löhne unter die Schwelle des anerkannten minimalen Reproduktionsniveaus, da die Differenz durch staatliche Beihilfen ausgeglichen wird.17 Andererseits wird hier ein neuer Umgang mit der intellektuellen und industriellen ‚Reservearmee‘ möglich, dessen Entwicklungstendenz Foucault präzise herausgearbeitet hat. Es handelt sich um „ein ganz anderes System als das, wodurch der Kapitalismus des 18. oder 19. Jahrhunderts sich gebildet hat“. Konnte dort die Dislokation der Landbevölkerung eine „Art von ständigem Bodensatz an Handarbeit garantieren“, muss der entwickelte Kapitalismus sich den Bodensatz potenzieller Arbeitskräfte „auf ganz andere Weise sichern“ (Foucault 2004b, 289f.). Hier muss (im Markt-Interesse) nicht nur die physische Existenz, sondern auch die Qualität der Ar-

16 Vgl. zur Negativsteuer Lepage 1979, 161ff. Ein Grundeinkommen soll hoch genug sein, um „angemessen“ zu leben, und niedrig genug, um zur Lohnarbeit anzureizen. Wenn Foucault (2004b) die „liberale und viel weniger bürokratische und disziplinierende Weise“ (ebd., 290) neoliberaler Sozialpolitik betont, bezieht er sich auf solche Konzepte, die „nicht wissen wollen“, warum ein Individuum arm ist, die sich „auf die Lage und nicht auf die Ursprünge“ gründen und Arbeitanreize ohne „Verwaltungszusatz“ nur durch den „Veranlagungssatz“ herstellen (Lionel Stoléru, zit. in: ebd., 299). 17 Vgl. zur Expansion des Niedriglohnsektors in Deutschland (in dem inzwischen jeder fünfte Erwerbstätige beschäftigt ist) u.a. Rhein et al. 2005; Bispinck/Schäfer 2006.

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beitskraft der ‚Überschussbevölkerung‘ erhalten werden, um für eine Ökonomie, die auf „Vollbeschäftigung verzichtet hat, eine ständige Reserve“ zu schaffen, „aus der man schöpfen kann, wenn es nötigt ist, die man aber auch auf ihren unterstützten Status verweisen kann, wenn man will“ (ebd., 289). Die öffentliche Besoldung der Reservearmee muss das Subjekt in der Warteschleife des Übergangs zu rentablerer Arbeit nur soweit instand halten, dass sein ‚Humankapital‘ keinen grundlegenden Schaden nimmt, es also potenziell verwertbar bleibt, wo „die Bedingungen des Marktes es verlangen“ (ebd.). Ganz unabhängig von diesem ökonomischen Kalkül könnten die Anerkennung der Systemimmanenz der Arbeitslosigkeit und die Garantie einer arbeitsunabhängigen Existenz einen für die Betroffenen weniger entwürdigenden Umgang mit der Situation bedeuten. Anstelle von Kontrolle und Arbeitszwang wäre eine „tatsächlich liberale und viel weniger bürokratische und disziplinierende“ Form der Verwaltung möglich. Man müsste die Individuen „nicht zur Arbeit [...] zwingen, wenn man kein Interesse hat, sie arbeiten zu lassen, man garantiert ihnen einfach die Möglichkeit einer minimalen Existenz […] und auf diese Weise kann diese neoliberale Politik funktionieren“ (ebd., 290). Das beträfe auch das bei Boltanski und Chiapello zentrale Legitimitätsproblem, denn die Utopie des garantierten Grundeinkommens und einer Existenz und Entfaltung jenseits des Lohnarbeitszwangs sind weit über neoliberale Kreise hinaus (und oft in Unkenntnis der Herkunft des Modells) eine attraktive Option.18 Die Grenzen ihrer Realisierbarkeit sind jedoch nicht der Anpassungsunfähigkeit der Politik geschuldet. Sie haben strukturelle Ursachen in der „Entkopplung von Kapitalismus und Staat“ (Boltanski/Chiapello 2003, 552), die der neoliberalen Sozialpolitik zugrunde liegt. Zwar war auch der keynessche Sozialstaat „das ‚Auffangnetz‘ des Kapitalismus“, er verfügte aber zugleich über „Mittel, um die Akkumulationsformen an strenge Normen zu binden“, was eine „Komplementarität zwischen Kapitalismus und Staat“ gewährleistete. Demgegenüber folgt die neoliberale Trennung von ‚freiem Markt‘ und Sozialstaat dem Prinzip, „die Verantwortung für die Schäden und Risiken, die durch den Akkumulationsprozess entstanden, auf den Staat abzuwälzen“ (ebd., 552f.) und zugleich die Akkumulation der staatlichen Regulation zu entziehen. Versicherungssysteme und Transfereinkommen stehen damit vor gravierenden Finanzierungsproblemen: In dem Maße wie der Staat Niedriglöhne auf ein garantiertes Mindestniveau aufstockt, greift das Kapital stärker auf diese kostengünstige Arbeit zurück und minimiert den Anteil versicherungspflichtig Beschäftigter. Zur Finanzierung wachsender Aufstockungen müssten reguläre Beschäftigungsverhältnisse stärker mit Abgaben belastet werden, worauf der Markt mit weiteren Verschiebungen zugunsten des Niedriglohnsektors reagiert. Dieser Teufelskreis könnte nur durchbrochen werden, wo der Staat wieder regulierend (durch Mindestlöhne und Kündigungsschutz) in die ‚Freiheit der Arbeit‘ eingreift, was angesichts der geschwächten Position der Nationalstaaten gegenüber dem global agierenden Kapital problematisch ist. Ein Bürgergeld wäre in diesem System synonym mit der Verallgemeinerung von ‚Dumpinglöhnen‘ und würde die Nutzung der Sozialsysteme zur

18 Bekanntlich erwartet man sich hier auch eine positive Wirkung auf zivilgesellschaftliches und ehrenamtliches Engagement. Vgl. zu deutschen Konzepten u.a. Mitschke 1985; Werner 2006; Borchard 2007.

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Segmentierung des Arbeitsmarktes in eine Elite von Spitzenverdienern, ein schrumpfendes Mittelfeld regulärer Arbeit und einen wachsenden Bodensatz ‚irregulärer Arbeit‘ zementieren.19 Dass damit die im neoliberalen Modell unterstellte prästabilierte Harmonie von freiem Markt zur Privatisierung der Gewinne und staatlicher Übernahme der Folgekosten funktional prekär ist, kann ein Ansatzpunkt für Kritik werden. Darüber hinaus behält das Argument seine Gültigkeit, dass der Verwertungsprozess auf hinreichende Motivationen, Erwartungshaltungen, Legitimations- und Integrationsangebote angewiesen bleibt (vgl. ebd., 43). Der ‚neue Geist‘ des Kapitalismus bindet das nicht mehr an die stabile Wohlstandspartizipation durch den dauerhaft geregelten Lohnarbeitsstatus, sehr wohl aber an das Versprechen, dass die ‚Arbeit an sich selbst‘, an Flexibilität, Qualifikation und Kreativität den Aufstieg zu einem prinzipiell erreichbar erscheinendem Status und Wohlstand ermöglicht. Dies scheint inzwischen nicht mehr nur im Bereich qualifizierter Fabrikarbeit fragwürdig. Auch im Segment der Hochqualifizierten steigt der Anteil prekärer und schlecht entlohnter Arbeitsverhältnisse (vgl. Brenke 2006).20 Der „Anlaß zu Optimismus“, den die CDU-Politikerin Annette Schavan (2000, 279) darin sah, dass sich qualifizierte Berufseinsteiger auf die „Sicherheit von Institutionen und bildungspolitischen Königswegen nicht mehr verlassen können“ und wissen, „daß zu ihrem Leben auch Trampelpfade gehören“ (ebd.), kann dauerhaft nicht durch bloße verbale Suggestion aufrechterhalten werden. Damit die „Freude an der Eigenleistung“ (ebd., 276) ein Motivationsfaktor auf den ‚Trampelpfaden‘ (Praktika, Umschulungen, Zeitarbeit, Quereinstiege) bleibt, muss es eine realistische Erwartung geben, dass am Ende mehr als die versprochene Teilhabe an der „Kultur des kreativen Scheiterns“ (ebd., 279) steht. Unabhängig davon, wie groß oder gering man derzeit die Perspektiven einer „Erneuerung der Kritik“ (Boltanski/Chiapello 2003, 379-514) einschätzt, welche zu einer Neuformierung des Kapitalismus beitragen kann, wird deutlich, dass mit der Auflösung des keynesianisch-fordistischen ‚Klassenkompromisses‘ Fragen der sozialstrukturellen Ungleichheit, nach Formen der Ausbeutung und nach sozialen Konfliktpotenzialen wieder einen größeren Stellenwert gewinnen. Das gilt nicht nur für die (Sozial-)Kritik, sondern auch für das theoretisch-analytische Verständnis der kapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer historischen Ausprägungen. Nimmt man die Diagnose einer Verschiebung der Techniken und Praktiken des Regierens in Richtung auf postdisziplinarische (Foucault 2004b) bzw. flexibel normalistische (Link 1995; 2006) Regierungsstrategien ernst, so heißt dies auch, dass sich gerade mit der steigenden Freiheit von normierenden, disziplinarischen Einflüssen die ökonomischen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der (Re-)Produktion von sozialstruktureller Ungleichheit wieder ungehemmter durchsetzen. Zugleich wird die strukturelle Ungleichheit in ungekanntem Maße in ihrem gesellschaftlichen Charak-

19 Vgl. aktuell Dettmer et al. 2010. Bei den bis 25-Jährigen betrug der Anteil ‚atypisch Beschäftigter‘ bereits 2008 37,3%; bei den 25-35 Jährigen 24,3%. Gegenüber 1996 waren 2008 geringfügige Beschäftigungen um 136%, Zeitarbeit um 200%, befristete Beschäftigungen um 50%, Teilzeitarbeit um 53% gewachsen (vgl. ebd., 84ff.). 20 Vgl. zur Desillusionierung der klassischen Qualifikations- und Aufstiegsversprechen eindrücklich: Beaud/Pialoux 2004, v.a. 99-165; und zur Detailanalyse eines Einzelfalls ebd., 229-258; aktuell für die BRD: Dettmer et al. 2010, 82-94.

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ter verleugnet und naturalisiert bzw. individualisiert. Wo sich Soziologie nicht darauf beschränken will, sich an der Zurechnung sozialstruktureller Differenzen auf die Individuen oder auf eine ‚Kultur der Unterschicht‘ (vgl. Bude 2008) zu beteiligen, wird es für eine (kritische) Analyse der Gegenwartsgesellschaft zentral, die gesellschaftlichen Ursachen und Funktionen dieser Reproduktion aufzuklären. Bourdieu hat in diesem Kontext auf eine Gefahr hingewiesen, die in einem großen Teil der FoucaultRezeption (wenn auch nicht unbedingt bei Foucault selbst) deutlich sichtbar ist. Wo nach der Einschreibung der gesellschaftlichen Ordnung in den individuellen Körper gefragt wird, drohen über den offenkundigen „von der Disziplin der Institutionen ausgehenden Normierungsdruck“ andere Formen der gesellschaftlichen Prägung individueller Dispositionen und Lebenschancen aus dem Blick zu geraten: „Man hat sich […] davor zu hüten, den Druck oder die Unterdrückung zu unterschätzen, die kontinuierlich und oft unmerklich von der gewöhnlichen Ordnung der Dinge ausgehen, die Konditionierungen, die von den materiellen Lebensbedingungen, von den stummen Befehlen und von der […] ‚trägen Gewalt‘ der ökonomischen und sozialen Strukturen und der ihrer Reproduktion dienenden Mechanismen“ auferlegt werden.“ (Bourdieu 2001c, 181)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum in den verschiedenen Formen des Umgangs mit sozialstruktureller Ungleichheit, die ja in den hier skizzierten historischen Verschiebungen der Machttechniken und Regierungsformen stets eine Rolle spielten, durch alle Transformationen hindurch sozialstrukturelle Grundmuster reproduziert werden, die bei aller Veränderung einzelner Merkmale verschiedener (zunächst einmal statistischer) Klassen von Individuen – hinsichtlich ihres Lebensstandards, ihres Bildungsgrades, ihrer politischen und gesellschaftlichen Partizipationschancen etc. – doch bestimmte stabile Grundverhältnisse in den Relationen der Klassen zueinander aufweisen. Allein das Faktum der generationenübergreifenden Stabilität dieser Muster deutet dabei darauf hin, das hinter ihrer Reproduktion noch andere gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten stehen als solche, die sich auf die Individuen und das freie Spiel ihrer Kräfte in der Konkurrenz zurückführen lassen. Dies führt zur Theorie und Analyse der Klassenverhältnisse im Kapitalismus. Allerdings weniger im Sinne einer Theorie sozial manifester, organisierter und strategisch agierender oder gar offen kämpfender Klassen, auf die dieser Begriff oft bezogen wurde, sondern im Sinne der Frage nach den funktionell bestimmten Gesellschaftsklassen, deren Reproduktion einer bestimmten Gesellschaftsformation vorausgesetzt ist. In diesem Kontext bieten Bourdieus Analysen gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse, die in anderer Weise an marxsche Analysen anknüpfen, eine Ergänzung zur hier diskutierten Perspektive auf die Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung. Dabei wird auch die Frage weiterverfolgt, welche funktionellen und strukturellen Mechanismen dazu führen, dass die neoliberale Regierung der Freiheit für manche Individuen eine reale Befreiung ist, für andere jedoch notwendig eine Zumutung bleibt. Auch eine Kritik am Neoliberalismus kann nicht nur an der Freiheitsprogrammatik ansetzen, sondern muss vielmehr den in dieser Programmatik verdeckten (und durch sie beförderten) ‚stummen Zwang der Verhältnisse‘ aufdecken.

V Dynamische Reproduktion. Funktionen und Metamorphosen der kapitalistischen Klassenverhältnisse (Bourdieu und Marx)

1 Die allgemeine ‚Ökonomie der Praxisformen‘ als soziologische Fortführung der Kritik der politischen Ökonomie (Vorbemerkung)

„Gut ersichtlich ist […], dass die Ökonomie derart in das Soziale eingebettet ist, […] dass der […] Gegenstand einer wahrhaften Ökonomie der Praktiken letzten Endes nichts anderes ist als die Ökonomie der Produktions- und Reproduktionsbedingungen der Agenten und Institutionen ökonomischer, kultureller und sozialer Produktion und Reproduktion, das heißt, der Gegenstand der Soziologie in seiner vollständigsten und allgemeinsten Definition.“ PIERRE BOURDIEU (2002b, 35) „Marx hat hinreichend für sich den Titel eines Wissenschaftlers in Anspruch genommen, damit die einzige Würdigung, die man ihm erweisen kann, darin besteht, sich dessen zu bedienen, was er geschaffen hat […], um darüber hinauszugehen was er zu schaffen glaubte.“ PIERRE BOURDIEU (1992b, 68)

Trotz aller wechselseitigen Distanz zwischen Bourdieu und dem „Marxismus“, kommen auch in marxscher Tradition stehende Ansätze der Klassenanalyse um Seitenblicke und Anleihen bei Bourdieu nicht mehr herum.1 Dabei wurden die theoretischen Konvergenzen und wechselseitigen Ergänzungspotenziale beider Ansätze jedoch nur selten so klar gesehen und so produktiv genutzt wie bei Vester (vgl. 2002; Vester et al. 2001). Meist galt Bourdieus Beitrag nur als auflösungsstärkeres Instrument zur deskriptiven Abbildung von Klassenlagen, während die theoretischanalytischen Potenziale im Hinblick auf das Verständnis moderner kapitalistischer Gesellschaften explizit negiert oder schlichtweg ignoriert wurden. So urteilte Herkommer (2004) Bourdieu könne systematisch „keine kapitalismusspezifische Ideologiekritik“ entwickeln, da ihn sein „Vermeiden des marxschen Kapitalbegriffs und der […] Werttheorie hindert […], die formationsspezifischen Mystifikationen zum Ausgangspunkt zu nehmen“ (ebd., 64). Ersetzt Herkommer eine systematische Auseinandersetzung mit Bourdieu letztlich durch den Vorwurf, dass dieser kein Marxist

1

Vgl. u.a. Herkommer 2004; Koch 1994, 90-106; Ritsert 1998, 108-119; vgl. zum Überblick auch Lauermann 2007.

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war, geht etwa Henning (2005), der der Soziologie generell vorwirft, mit dem Klassenbegriff ihren Gegenstand verloren zu haben, auf Bourdieus Klassenanalysen überhaupt nicht ein. Gerade wo marxsche Fragen nach der funktionellen Bestimmung der Klassen in den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozessen weiterverfolgt wurden, folgte die Bourdieu-Rezeption der oben (II.2.3) angesprochenen Verkürzung der Analysen auf Detaildeskriptionen. Zwar könne der Ansatz sozialstrukturelle Differenzen und ihre Beziehungen zu kulturellen Praktiken gut kartieren, zugleich verdecke er aber die „grundlegenden ökonomischen Bestimmungen“ der Klassen, indem er sie auf die universale Konkurrenz um ‚knappe Güter‘ zurückführe und „eine Anthropologisierung des Klassenbegriffs“ vollziehe (Koch 1994, 106). Zwischen einer dominanten soziologischen Rezeption, die Bourdieus Analysen als Verallgemeinerung eines utilitaristischen oder neoklassischen ökonomischen Paradigmas deutete (vgl. u.a. Miller 1989; Nassehi 2004), und einer an Marx anschließenden Rezeptionslinie, die zwar das auflösungsstarke Klassenmodell würdigte, aber die dahinter stehende Theorie aus demselben Missverständnis heraus ablehnte, fiel der gesellschaftsanalytische Gehalt von Bourdieus Untersuchungen hindurch. Gegenüber diesen verbreiteten Rezeptionslinien wurde oben (II.2.3) gezeigt, dass entsprechende Interpretationen bereits die Bestimmungen und Verwendungsweisen des erweiterten Kapitalbegriffs verfehlen, die auch in der Übertragung auf andere Problemfelder dem marxschen Begriff verpflichtet bleiben. Ebenso übergehen sie Bourdieus (vgl. 1976; 1987; 2000a; 2010a) detaillierte Analysen der Differenzen von kapitalistischen und vorkapitalistischen Formationen der Ökonomie und ihrer je spezifischen Mystifikationen. Bourdieus Problemstellungen und Analysen erschließen sich nur dann adäquat, wenn sie nicht als Verallgemeinerung des Paradigmas einer neoklassischen Ökonomie verstanden werden, sondern als Anknüpfung an Marx’ Kritik der klassischen politischen Ökonomie. Das gilt gerade auch für die Klassentheorie, die nicht im Kontext eines abstrakten Modells von Markt und Konkurrenz formuliert wird, sondern mit der Analyse gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozesse in modernen kapitalistischen Gesellschaften zusammenhängt (s.u. V.3). Obwohl die soziologische Rezeption im Klassenbegriff am ehesten die Verbindungslinie zwischen Marx und Bourdieu sah, wurden die Konvergenzen der dahinter stehenden Theorien einer funktionellen und sozialstrukturellen Reproduktion also wenig beachtet.2 Um ausgehend von der Klassentheorie verbindende Momente beider Ansätze einer Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung herauszuarbeiten, müssen diese (über eine bloße Ungleichheits-Deskription weit hinausgehenden) theoretischen Implikationen schärfer konturiert werden. Wo das Wort „Klasse“ nicht einfach als Synonym anderer Worte zur Bezeichnung sozioökonomischer Ungleichheiten verwendet wurde, konzentrierte sich eine lange, nicht nur marxistische Tradition primär auf die soziale und politische Begriffsdimension der Bezeichnung sozialer und politischer Interessengruppen, die etwa

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Vgl. u.a. Rehbein 2006, 34f., 63f., 122ff. & 240f.; Eder 1989a, 15ff.; 1989b, 371ff. Wo Marx auf die in der soziologischen Rezeption üblichen Absurditäten reduziert wird (ZweiKlassen-Antagonismus, Revolutionsautomatismus), um Bourdieu als „Klassenanalyse […] jenseits von Marx“ (Eder 1989a, 15) zu lesen, werden auch die in Kontinuität zu Marx stehenden Gehalte von Bourdieus Analysen der klaren Abgrenzung von Marx geopfert. Vgl. kritisch Vester 2002, 69ff. & 78ff.

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bei Dahrendorf (vgl. 1957 & 1968) weitgehend von ihrer ökonomischen Grundierung gelöst wurden. Demgegenüber soll hier eine Dimension des Klassenbegriffes in den Vordergrund gestellt werden, die in den hitzigen Debatten um seine analytische Relevanz erstaunlich selten berücksichtigt wurde, obwohl sie für die Klassenkonzepte bei Bourdieu und Marx zentral ist. Die Besonderheit des Klassenbegriffs liegt darin, dass er zugleich ein ökonomischer und soziologischer Funktionsbegriff und ein Begriff zur Analyse von Ungleichheiten, sozialen Bewegungen und Konfliktdynamiken ist. Die Klassensemantik diente seit ihren Anfängen nicht nur dazu, soziale Ungleichverteilungen zu bezeichnen oder anzuprangern, sondern galt bereits bei Quesnay als Instrument der Analyse gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozesse, wofür die „zahllosen individuellen Zirkulationsakte“ so zusammengefasst werden, dass sie „in ihrer charakteristisch-gesellschaftlichen Massenbewegung der Zirkulation zwischen großen, funktionell bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen“ (MEW 24, 359; Hervh. T.H.) erfassbar werden. Zugleich erfasst der Begriff Verhältnisse zwischen den durch ihre funktionale Stellung in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen definierten Gruppen, die als politische und soziale Kräfteverhältnisse in der ökonomischen Funktions-Dimension bedingt sind, ohne auf diese reduzierbar zu sein. Die sozialen Charakteristika der Klassenbeziehungen und Klassenkonflikte, besitzen gegenüber der ökonomischen Funktionslogik Freiheitsgrade, da sie von anderen (politischen, rechtlichen oder kulturellen) Funktionslogiken ebenso beeinflusst sind wie von der symbolischen Repräsentation und Konstruktion der Klassenverhältnisse in der Dimension von Sinn und Bedeutung. Vor allem aber sind die der Reproduktion spezifischer Klassenverhältnisse zugrunde liegenden gesellschaftlichen Funktionslogiken ihrerseits das Produkt individueller und kollektiver Handlungen der in diesen Verhältnissen vergesellschafteten Individuen. So richtig es daher ist, „das Problem […] der vom Widerspruch ausgehenden Entwicklungsdynamik“ kapitalistischer Gesellschaften bei Marx „als ein Problem der ‚funktionellen Vereinbarkeit‘ verschiedener Strukturen“ zu sehen, d.h. „nicht primär als Konflikt zwischen Gruppen oder selbst Klassen“ (Offe 1972, 12), so sehr entscheiden doch erst die sozialen, politischen und kulturellen Klassenbeziehungen und Klassenkonflikte darüber, in welcher konkreten Form die funktionellen Zusammenhänge und ihre prozessierten Widersprüche reproduziert und verändert werden. Der Klassenbegriff dient damit – im Sinne der oben (II.3) als Kennzeichen der Ansätze von Marx und Bourdieu konturierten Verknüpfung von Sach- und Sozialdimension – zur Analyse komplexer Interdependenzen zwischen den Strukturantagonismen und Entwicklungstendenzen in der Sachdimension gesellschaftlicher Funktionslogiken, den symbolischen Repräsentationen auf der Ebene der sozialen Relationen und den Aktionen und Reaktionen auf der Ebene politischer Konflikte und Kämpfe. Gleichwohl wird sich die folgende Darstellung primär auf die funktionslogischen Aspekte der Klassenkonzepte und -analysen bei Marx und Bourdieu konzentrieren, da gerade diese für den theoretischen und analytischen ‚Gebrauchswert‘ des Klassenkonzepts zentrale ‚Sachdimension‘ in vielen Anschlüssen und Kritiken wenig verstanden wurde. Hier geht es daher um eine Fokussierung auf bestimmte Aspekte der jeweiligen Klassenanalysen, in der andere Momente, die in der Rezeption bisher im Vordergrund standen, in den Hintergrund rücken. Bei Bourdieu betrifft dies etwa den distinktiven Kulturkonsum, der nur soweit berücksichtigt wird, wie

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dies für die kritisch-funktionale Ausrichtung seiner Analysen von Belang ist. Das soll nicht heißen, dass die auf Kulturkonsum und Lebensstil gerichteten Anschlüsse verfehlt oder unproduktiv waren. Es geht lediglich um eine Akzentverschiebung, die ein Korrektiv gegen die Vereinseitigung anbietet, welche sich aus der primären Ausrichtung auf Distinktionspraktiken ergab, ohne dass dies zu einer entgegengesetzten Vereinseitigung führen soll.3 Ähnlich verhält es sich mit jener wichtigen Dimension der Klassenanalyse, die primär die Fragen nach der Konstitution dessen betrifft, was Marx als ‚Klasse für sich‘ bezeichnete. Neben verschiedenen Spielweisen marxistischer ‚Klassenmetaphysik‘, in denen die ökonomische Strukturdimension quasi aus sich selbst heraus bewusst agierende Gruppen setzt, gab es seit den 1960er Jahren einige wichtige Untersuchungen, die die aktive soziale, politische und symbolische Konstruktion sozialer und politischer Klassen, d.h. repräsentierter und aktiver (oder zumindest als aktivierbar erscheinender) sozialer und politischer Gruppen, die unter einem Klassen-Label firmieren, als einen relativ eigenständigen, nicht mechanisch auf ökonomische Determinanten zurückführbaren Prozess untersuchten. Die Arbeiten von Thompson (vgl. 1987; 1980b) und daran anschließend von Vester (vgl. 1970b) boten mit ihren historischen Analysen zur sozialen Konstitution der Arbeiterklasse und dem soziologischen Modell der Lernzyklen die Grundlage einer Reihe produktiver Forschungen zur praktischen Konstitution sozialer Klassen, zu der auch zahlreiche Arbeiten aus dem Umfeld der an Gramsci anschließenden Cultural Studies wichtiges beitrugen. Wenn diese Linie der Analyse der sozialen, politischen und symbolischen Konstitution sozialer Klassen in der vorliegenden Arbeit zunächst eine untergeordnete Rolle spielt, liegt dies nicht nur daran, dass Bourdieu diesen Aspekt zwar nicht vernachlässigte (vgl. Bourdieu 1997, 102-129), ihm aber gegenüber den eher funktionalen Analysen der Klassenbeziehungen eine untergeordnete Rolle zuwies,4 sondern auch an historischen Verschiebungen innerhalb des Gegenstandsbereichs der Klassenanalyse: Thompson (vgl. u.a. 1980b, 264ff.) selbst bezeichnete jene Form der Klassenbildung, wie er sie exemplarisch am Proletariat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts analysiert hatte, als einen historischen Sonderfall, dessen Übertragbarkeit auf die veränderten Konstellationen kapitalistischer Vergesellschaftung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als zweifelhaft gelten kann, was auch einen Hintergrund für die radikale Infragestellung der Klassentheorie seit den 1970er Jahren bildete.5 Da hier der theoretisch-analytische Gehalt und die fortgesetzte wissenschaftli3

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Positiv formuliert haben die auf Konsum, Lebensstil und kulturelle Distinktionspraktiken fokussierten Anschlüsse an Bourdieu so grundlegende Arbeit geleistet, dass dem wenig Neues hinzuzufügen ist, womit es im Sinne der akademischen Arbeitsteilung produktiver scheint, andere Dimensionen des Werks zu erschließen. Vgl. zu entsprechenden Anschlüssen u.a.: Luger 1994; Wuggenig 1994; Behnke/Wuggenig 1994; Hummel 1994; Gerdes 1994; Richter 1994; Hitzler 1994a; 1994b; Koennen 1994; Vester 1994; 1992. Bourdieu und Thompson vertraten in ihren anerkennenden gegenseitigen Bezugnahmen (vgl. u.a. Thompson 1980a, 237; Bourdieu 1997, 115) ein Konzept akademischer Arbeitsteilung, wodurch sich die verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Analysemodi gerade nicht ausschließen. Vgl. zu diesem Komplementärverhältnis: Vester 2002, v.a. 62f., 72ff. Vgl. zur Auflösung der klassischen Formen von Klassenkultur und Klassenrepräsentation, die spätestens im Zuge des Wandels von den fordistischen zu den nachfordistischen Modi der Kapitalakkumulation und der kapitalistischen Vergesellschaftung zu verzeichnen waren, u.a. Vester et al. 2001; Vester 2002; Hirsch/Roth 1986, 170-192; Boltanski/Chiapello 2003, v.a. 309-361; Beaud/Pialoux 2004; Streckeisen 2008 sowie die empirische Studie zu

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che Relevanz der Klassenkonzepte von Marx und Bourdieu für das Verständnis dieser gewandelten Konstellation herausgearbeitet werden soll, ist es auch argumentationsstrategisch sinnvoll, den Sonderfall der Konstitution einer Arbeiterklasse in den Kampf- und Lernzyklen des 19. Jahrhunderts zunächst auszuklammern. Das folgende Kapitel soll die Klassenkonzepte bei Marx und Bourdieu in ihrem Zusammenhang mit Funktionsprinzipien und Wandlungsdynamiken kapitalistischer Gesellschaften rekonstruieren. Gerade weil die entsprechenden Klassenbegriffe, Klassentheorien und Klassenanalysen auf äußerst heterogene Verständnisse gestoßen sind, ist es zunächst nötig, sie in Abgrenzung zu verbreiteten (Miss-)Verständnissen präzise zu bestimmen. Dazu werden einige ‚Verwirrungen‘ um den Klassenbegriff skizziert (2.1), um im Anschluss auf Geschichte und Konstruktionsprinzipien von Klassentheorien (2.2) und die Rolle der Verknüpfung von Klassenbegriff und Kapitalbegriff einzugehen (2.3). Zudem wird die Bedeutung der symbolischen Dimension der Klassenverhältnisse (2.4) zu klären sein, um schließlich die Frage zu diskutieren, inwiefern Klassenverhältnisse als strukturell asymmetrische Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen sind (2.5). Während es sich dabei primär um eine notwendige Rekonstruktionsarbeit handelt, stellt dass anschließende dritte Kapitel das theoretische Kernstück dieses Teils der Studie dar. Dort wird die spezifische Verschränkung einer Theorie und Analyse funktionaler Differenzierung und einer Theorie und Analyse der sozialen Differenzierung in den Klassenkonzepten von Marx und Bourdieu herausgearbeitet. Während gemeinhin akzeptiert ist, dass Bourdieus Theorie und Analyse ausdifferenzierter Felder der Bedeutung funktionaler Differenzierung für moderne Gesellschaften Rechnung trägt, wurde Marx oft ein ökonomischer Reduktionismus unterstellt‚ der eine solche Differenzierung relativ autonomer versachlichter Sphären gesellschaftlicher Praxis geradezu ausschließt. Hier wird demgegenüber zu zeigen sein, dass kapitalistische Gesellschaften bei Marx notwendig ‚funktional differenzierte‘ Gesellschaften sind und sich innerhalb seiner Theorie die erste systematische Reflexion auf einen primär in der Sachdimension organisierten Differenzierungsmodus findet. Beide Theorien werden in vergleichendem Kontrast zur Systemtheorie Luhmanns diskutiert. Da diese Theorie funktionaler Differenzierung in der Theoriekonstruktion wie in Einzelanalysen viele Konvergenzen mit marxschen und bourdieuschen Beobachtungen hinsichtlich der ‚Sachdimension‘ aufweist (3.1), zugleich aber einen der theoretisch anspruchsvolleren Widerlegungsversuche klassentheoretischer Analysen darstellt, lassen sich hier besonders prägnant analytische Defizite herausarbeiten, in die die Nicht-Beachtung der funktionellen Ursachen und der funktionslogischen Stellung der Klassenstruktur in modernen (kapitalistischen) Gesellschaften führt. Im Anschluss wird zu zeigen sein, warum die Systemtheorie zu Fragen sozialstruktureller Differenzierung angesichts ihrer theoretischen Prämissen eigentlich ‚nichts mehr zu sagen hat‘, d.h. entsprechende Phänomene kaum adäquat analysieren und erklären kann. Deutlich wird dies an Luhmanns später Zuwendung zu diesen Fragen, in denen er Ungleichheitsphänomene mit dem (problematischen)

den Lern- und Kampfzyklen der französischen Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg bei Spurk (1986), der zu dem Schluss kommt, dass es im Untersuchungszeitraum keine ‚revolutionäre Arbeiterklasse‘ gegeben habe, und der es für möglich hält, „daß der neue Akkumulationsmodus Lernprozesse verunmöglicht hat“ (ebd., 287f.).

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Begriff der ‚Exklusion‘ zu erfassen versuchte (3.2). Demgegenüber wird im folgenden Kapitel herauszuarbeiten sein, dass Marx’ Theorie nach wie vor eine analytisch präzisere Analyse und Erklärung sozialstruktureller Ungleichheitsverhältnisse und ihrer historischen Entwicklungstendenzen aus grundlegenden funktionalen Zusammenhängen einer ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie ermöglicht (3.3). Wenngleich so die zentrale ökonomische Funktion der Reproduktion und Veränderung der Klassenstrukturen im Kapitalismus aufgezeigt werden kann, ist die Frage, wie entsprechende Verhältnisse auch als soziale und politische Verhältnisse verstetigt oder variiert werden, mit Marx allein kaum zu beantworten. Bourdieus Ansätze können hier nicht nur in der oft diskutierten Dimension der symbolischen Legitimation in distinktiven Praktiken und Kämpfen einen Beitrag leisten, vielmehr bietet sein analytisches Konzept ausdifferenzierter Felder eine Erklärung der dynamischen Reproduktion der Klassenstruktur im Zusammenspiel der relativ autonomen Funktionslogiken von ökonomischer, politischer und kultureller Produktion (3.4). Gegen den Bourdieu oft vorgeworfenen Determinismus und die Suggestion, es handele sich um ein Modell der endlosen statischen Reproduktion der immer gleichen Verhältnisse, vertieft das 4. Kapitel dann das Verständnis des Wandels der Klassenverhältnisse in einer dynamischen kapitalistischen Gesellschaft, in der radikaler Wandel und die Kontinuität grundlegender Merkmale der Klassenstruktur sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen. Da der ökonomische Reproduktionsmodus kapitalistischer Gesellschaften eine dynamische Reproduktion auf ständig erweiterter Stufenleiter erzwingt, müssen auch die Klassenverhältnisse in ihren konkreten Merkmalen und Binnendifferenzierungen immer wieder umgewälzt werden. In diesem Kontext wird auch auf Ergebnisse des historisch-genealogischen Teils dieser Arbeit (IV) zurückzukommen sein.

2 Die theoretische Konzeption ökonomischer, soziologischer und sozialer Klassen

2.1 V ERWIRRUNGEN

UM DEN

K LASSENBEGRIFF

„Den Marxschen Klassenbegriff gibt es nicht. Es gibt [...] zahllose Textstellen, an denen Marx den Begriff […] benutzt. Es gibt vergleichsweise wenige Stellen, wo er ihn ausführlicher […] erläutert.“ JÜRGEN RITSERT (1998, 58 [Hervh. i.O.]) „Das Wort ‚Klasse‘ wird solange nicht neutral sein, als es Klassen gibt: Die Frage ob es Klassen gibt oder nicht, ist auch ein Kampfobjekt zwischen den Klassen.“ PIERRE BOURDIEU (1993, 37)

Der Begriff der Klasse, die Charakterisierung der kapitalistischen Gesellschaft als Klassengesellschaft oder der Geschichte als einer „Geschichte von Klassenkämpfen“ (MEW 4, 462) wurden oft so eng mit Marx verbunden, dass Stellungnahmen zu Klassenkonzepten stets auch Stellungnahmen zu Marx oder zum Marxismus waren. Da Marx aber gerade diesem für seine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zentralen Begriff keine systematische Gesamtdarstellung widmete1 und sich in seinem Werk eine Reihe heterogener und ambivalenter Verwendungen des Klassenbegriffs auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus finden, die ohne Klärung des sie verknüpfenden theoretischen Bandes widersprüchlich bleiben, waren Missverständnisse vorprogrammiert. Die zahllosen sozialwissenschaftlichen Klassenkontroversen blieben durch eine systematische Verwirrung gekennzeichnet, aus der sich auch Forderungen begründen ließen, dem Begriff zwar eine Gedenknische in der soziologischen Effektenkammer zu reservieren, ihn aber angesichts einer Begriffsgeschichte, die „in Konfusion bzw. in dogmatische[r] Erstarrung“ verharrte (Luhmann 1985, 119), aus der Analyse der Gegenwartsgesellschaft zu verbannen. Mit Verweis auf die Entschärfung der ökonomischen Differenzen und der sozialen Spannungen in der ‚nivellierten Mit-

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Die Gliederung der Gesellschaft in über ökonomische Funktionen bestimmte Klassen übernahm Marx aus der politischen Ökonomie, und auch die Verwendung des Begriffs zur Bestimmung sozialer Konfliktdynamiken war zu seiner Zeit so geläufig, dass er eine systematische Begriffsklärung wohl für überflüssig hielt (vgl. MEW 28, 507). Vgl. zum historischen Kontext u.a. auch: Ritsert 1988; 1998 und die Textsammlung bei Vester 1970a.

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telstandsgesellschaft‘ (Schelsky 1965) oder auf die ‚neue‘ Pluralisierung und Individualisierung sozialer Ungleichheiten, die sich nicht mehr an ‚alte‘ Klassengrenzen hielten (vgl. Hradil 1987 & 1992), war es in der deutschen Soziologie zeitweilig konsensfähig, diesen Begriff, „dem die Wirklichkeit davongelaufen“ (Beck 1986, 140; vgl. Beck/Willms 2000, 134ff.) sei, ad acta zu legen.2 Obwohl es im Gegenzug einige differenzierte Darstellungen zur Geschichte, zum theoretischen Gehalt und zur fortgesetzten Anwendbarkeit von Klassenkonzepten gab, die genügen sollten, um die meisten dieser Argumente zu entkräften (vgl. u.a. Ritsert 1998; Koch 1994), zeigt die Form, in der jede Verwendung des Klassenbegriffs die immer gleichen Pauschaleinwände hervorrief, dass offenbar das Reizwort ‚Klasse‘ jenseits aller wissenschaftlichen Bestimmungen Missverständnisse provoziert. Zusammenfassend lassen sich in den heterogenen Haltungen zur soziologischen Verwendung des Klassenbegriffs drei zentrale Verzerrungen seiner Konstruktionsprinzipien und seines analytischen Gebrauchs herausstellen. Die erste Gruppe (1.) beruht auf einer Reduktion des Gehalts der Klassenterminologie auf ihre normativen und politischen Funktionen als Element einer „Kampfsemantik“ (Luhmann 1988b, 161) zur Symbolisierung, Forcierung oder ‚Erzeugung‘ sozialer Konflikte, die jede wissenschaftliche Verwendbarkeit fragwürdig mache. Der zweiten Gruppe (2.) liegt ein empirisch-positivistisches Missverständnis zugrunde, das analytische Konstrukte zur Erklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge als Aussagen über unmittelbar empirisch evidente Ausprägungen sozialer Phänomene und Konflikte deutet und als solche kritisiert. Die dritte Gruppe (3.) schließlich betrifft das Verhältnis soziologischer Klassen zur Konstitution eines entsprechenden sozialen Bewusstseins auf Seiten der klassifizierten Akteure und zur Formierung von sich selbst repräsentierenden und artikulierenden sozialen Bewegungen. (1.) In Gesellschaften, in denen die Gleichheitssemantik und Prinzipien wie Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zentrale und multifunktionale Legitimationskonstrukte bilden, ist prinzipiell jede Diagnose der Reproduktion sozialstruktureller Ungleichheit geeignet, „mit dem legitimatorischen Fundament“ der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kollidieren (Bornschier 1991, 17).3 Klassenkonzepte betrifft dies in besonderem Maße, da sie in der Analyse und Erklärung struktureller Ungleichheitsbeziehungen konstitutiv mit einer Reihe anderer Begriffe verbunden sind, die ihrerseits normative Stellungnahmen evozieren – etwa wo die Beziehungen der

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Bereits Geiger (1949) forderte, Marx und mit ihm den Klassenbegriff konsequent zu historisieren: Für eine für das 19. Jahrhundert zutreffende Diagnose solle man ihm „seinen Ehrenplatz in einer Nische des Pantheons der Gesellschaftsforschung anweisen“, wer aber Marx lese, um sich über die gegenwärtige „soziale Wirklichkeit zu unterrichten, hat seine Zeit vertan“ (ebd., 140f.). Die dort vorgebrachten Argumente blieben auch für spätere Kritiken zentral (vgl. Schelsky 1965; Hradil 1987; Beck 1986; vgl. zusammenfassend zur ähnlich begründeten Infragestellung der sozialen Klassen in Frankreich: Boltanski/Chiapello 2003, 338-361). Während der Kampf um die Ausschaltung des Klassenbegriffs in der deutschen Soziologie besonders intensiv geführt wurde (vgl. Ritsert 1998 und die Beiträge in Gebhard/Heim/Rehberg 2007), wurde das Wort ‚class‘ im englischen Sprachraum relativ ungebrochen, dafür aber auch eher unspezifisch weiter verwendet. Vgl. zur zentralen Rolle der Prinzipien von Chancengleichheit und Leistung, zur Legitimation sozialer Differenzen und zur entsprechenden Problematik der Reproduktion von Ungleichheit auch: Luhmann/Schorr 1979, 315ff.

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Klassen als ökonomischer Ausbeutungs- und als politischer und kultureller Heteronomiezusammenhang gekennzeichnet werden. Das machte die Klassenterminologie einerseits zu einem bevorzugten Instrument der Artikulation von Sozialkritik (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 79ff., 338-361 & 389f.), andererseits gab gerade dies Anlass, ihre ‚wissenschaftliche Dignität‘ zu bezweifeln. Tatsächlich war lange vor Marx die ökonomisch fundierte Unterscheidung von Klassen im Kontext der Auflösung der Ständeordnung mit politischer Sprengkraft aufgeladen. Bereits das Bürgertum des 18. Jahrhunderts knüpfte an die ökonomische Bestimmung der Klassen die Frage, welche soziale und politische Stellung ihnen gemäß ihrer Leistungen für die Gesellschaft zustehe.4 Richtete sich das zunächst gegen den Adel, erlaubte die Bestimmung der Arbeit als Quelle des Wertes (ebenfalls vor Marx) auch eine Kritik der Verhältnisse im Namen des Proletariats.5 In Folge dieser Begriffsgeschichte greifen öffentliche Debatten bis heute meist dann auf die Klassenterminologie zurück, wenn es um die normative Skandalisierung von Ungleichheit geht.6 Dass die Klassensemantik seit dem 18. Jahrhundert „mit Ressentiments, mit politischer Munition und humanen Appellen“ (Luhmann 1985, 123) gefüllt war und es offenbar „schwer [fiel], einen rein analytischen Begriff durchzuhalten“ (ebd., 121), wurde zentraler Bezugspunkt einer Kritik, die Klassenkonzepten einen von ideologischen Funktionen trennbaren wissenschaftlichen Gehalt absprach. In solchen Perspektiven galt der Klassenbegriff zudem als so eng an die sozialen Kämpfe des 19. Jahrhunderts gebunden, dass er „zu beliebigen, aus wissenshypothetischen Annahmen erfolgten Umdeutungen gar nicht mehr zur Verfügung“ stünde (Schelsky 1965, 360f.). Wissenschaftlich funktionslos geworden diene er nur mehr den Gewerkschaften, der SPD, den „Massenorganisationen der Daseinsfürsorge“ und den Intellektuellen dazu, „die alten Ideologien“ zur „Legitimierung ihrer immer umfassenderen Herrschafts- und Verfügungsgewalt“ aufrecht zu erhalten (ebd., 409) und „‚Klasse‘ als Meinungsstereotyp“ (ebd., 366) zu restaurieren. Diese Reduktion von Klassenkonzepten auf Ideologien erlaubte es auch, das Ausbleiben der postulierten Auflösung der Klassenstruktur in der sozialen Wirklichkeit auf die Auswirkungen verfehlter Theorien und Begriffe zurückzuführen. Schelsky interpretierte alle empirische Abweichungen vom Ideal der nivellierten Mittelstandsgesellschaft als Effekt des durch die Ideologieproduktion bewirkten „Realitätsverlust[es] der modernen Gesellschaft“ (ebd., 391-404; vgl. auch Schelsky 1975). Die ‚Neue soziale Ungleichheitsforschung‘ der 1980er Jahre übernahm dieses ‚Argument‘: „Im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens allgemein“ schlage sich die „Dominanz“ der Klassenmodelle

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Sieyès (1988) begründete 1788 die Ansprüche des „dritten Standes“ zwar auch noch aus dessen ‚rassischer‘ Abstammung, rückte aber verstärkt auch seine Produktivität für die Gesellschaft in den Vordergrund, denn er übernimmt „die Arbeiten, welche die bürgerliche Gesellschaft erhalten“ (ebd., 30). Das ließ sich bis zu Saint-Simons (1819, 119ff.) schroffer Entgegensetzung produktiver und unproduktiver Klassen steigern, um mit Berufung auf die produktive Leistungen auch rechtliche und politische Ansprüche des Bürgertums gegen Adel und Klerus geltend zu machen. Vgl. Thompson 1987; Vester 1970b und die wenig beachtete, aber hervorragende Detailstudie von Burkardt 1980. Man denke an Debatten um eine „Zwei-Klassen-Medizin“, das „Prekariat“ oder um die Pisa-2000-Studie (vgl. Heim 2007; vgl. zu den politisch-normativen Dimensionen der Klassensemantik: Gebhard/Heim 2007, 10ff., 18ff.).

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„als bewusstseinsleitendes, erkenntnisleitendes und handlungsleitendes Interpretationsmuster nieder“. Überholte Charakteristika früherer Gesellschaften würden „auf diesem Wege des alltäglichen Denkens und Handelns auch dort [tradiert], wo Hierarchien, Überordnung oder die Arbeitsorientierung keinen Platz mehr haben“ (Hradil 1987, 95). Solche in der deutschen Nachkriegssoziologie verbreitete Versuche, disparate Lebensbedingungen allein aus dem durch falsche Modelle verwirrten ‚Bewusstsein‘ zu erklären (vgl. auch Beck/Beck-Gernsheim 1994, 29; Luhmann 1988b, 164f.), erinnerten an die von Gehlen (2004a) verzeichneten „magischen Bestände einer Intellektuellenkultur“ und deren „Glaube[n] an die realen Fernwirkungen von Meinungen“, die „vom Bewusstsein her das Verhalten [...] stabilisieren“ (ebd., 49). Aber auch wo die welterschaffende Macht der Soziologie nicht derart deutlich überschätzt wurde, galt die Klassensemantik zunehmend als auf „normative Supplemente angewiesen“ (Luhmann 1998, 1059). Sie eigne sich noch, um „die Gesellschaft als ungerecht beschreiben und Änderungen fordern“ zu können (Luhmann 1995, 262), sei für wissenschaftliche Analysen aber unbrauchbar. Besonders die Differenz von Kapital und Arbeit sei mit der ideologischen Erzeugung sozialer Konflikte verbunden, auf die sie nach dem Verlust jeder Gegenstandsadäquanz ganz zurückfalle.7 Nun sind normative und politische Funktionen der Klassensemantik ebenso unbestreitbar wie die Effekte früherer Analysen auf die soziale, politische und symbolische Dimension der Klassenbeziehungen.8 Nur hat es die Soziologie (egal ob sie sich ‚kritisch‘ oder ‚positivistisch‘ versteht) stets mit Begriffen zu tun, die in praxi mit politischen und normativen Implikationen aufgeladen sind. Es wäre daher ein in seiner Konsequenz unpraktizierbares Verständnis von ‚Werturteilsfreiheit‘, alle derart kontaminierten Termini auszuschließen.9 Die normative Aufladung kann Grundlage der individuellen Ablehnung einer Terminologie sein (vgl. Luhmann 1985, 149; 1995, 262), sie kann aber nicht grundsätzlich über die wissenschaftliche Verwendbarkeit entscheiden, zumal auch der gezielte Ausschluss bestimmter Begriffe politischnormative Dimensionen hat: Da „Theorien sozialer Differenzierung [...] nicht nur

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Teilweise scheint es bei Luhmann, als habe Marx die Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts qua logischer Operation erzeugt, indem er die Sozialstruktur auf das binäre Schema von Kapital und Arbeit reduzierte (was nicht zutrifft, s.u. 2.3): „Alle stabilen Hierarchien setzten mindestens drei Ebenen voraus. […] Die Reduktion auf eine Zweierbeziehung […] torpediert diese Absicherung. Sie[!] transformiert […] die Ständeordnung in einen Klassengegensatz. Die Instabilität der Zweierbeziehung wird benutzt, um Änderungserwartungen zu stimulieren“. Nur „mit Hilfe des Zweierschemas kann man eine radikale Wandlung ins Auge fassen. […] Der Klassenbegriff wird über Dualisierung zum politischen Kampfbegriff, und die theoretische Konstruktion dafür findet sich im ‚Kapital‘“ (Luhmann 1985, 124; vgl. 1988b, 161f.). Erst durch diese „ideologischen […] Bemühungen“ sei der „Gegensatz dieser Klassen […] evident geworden“. Dank der sozialen Frage habe der Begriff im 19. Jahrhundert von „einer relativen historischen Übereinstimmung von Idee und Realität“ gezehrt, die heute jedoch „vergangen“ sei (Luhmann 1988b, 163). Eine praxeologische Theorieanlage, die wissenschaftliche Analysen als Moment gesellschaftlicher Praxis ansieht (s.o. II.3), schließt diese Konsequenz ein, zumal Marx seine Theorie auch als Instrument der Bewusstseinsbildung verstand (s.o. II.4). Die Berücksichtigung der Einflüsse früherer Analysen auf historische Konstitutionsprozesse sozialer Klassen (vgl. u.a. Bourdieu 1997; Thompson 1987; Vester 1970b) unterscheidet sich aber vom idealistischen Kurzschluss, den Klassentheorien die Erzeugung klassenspezifischer Konfliktlagen direkt zuzurechnen. Vgl. z.B. zum ‚Krieg‘: Bröckling (2000, 81); zu ‚Elite‘ und ‚Masse‘: Sloterdijk 2000, 31f.

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Hilfsmittel einer wissenschaftlichen Erkenntnis“ sind und ihre „Herstellung und Verbreitung […] auch gesellschaftliche Aktivität“ ist, bei der politische, ökonomische, soziale und ideologische Faktoren intervenieren, sind gerade hier „die Bedingungen kommunikativen Erfolgs nicht allein durch die Wissenschaft zu regulieren“ (Luhmann 1985, 148). Eine Selbstexemtion davon können auch Kritiker des Klassenbegriffs nicht beanspruchen (vgl. Bourdieu 1993, 37f.)10 Entscheidend für die Prüfung des wissenschaftlichen Gebrauchswerts ist – auch im Hinblick auf Webers (vgl. 1968, 489-540) Forderung der Werturteilsfreiheit – dann nur die Frage, ob Klassentheorien unabhängig von eventuellen normativen Implikationen nachvollziehbar sind und ob sie einen Beitrag zum Verständnis und zur Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und Phänomene leisten, den andere Ansätze (etwa Milieu- oder Schichtungsanalysen) nicht erbringen. (2.) Viele wissenschaftliche Argumente gegen die Übertragbarkeit von Klassenkonzepten auf die Gegenwart beruhen auf einem empiristischen Kurzschluss, der die (bei Marx wie Bourdieu klar formulierte; s.u. 2.2) Ebenendifferenzierung zwischen theoretischen Konstruktionen zur Analyse und Erklärung sozialer Phänomene und empirischen Aussagen ignoriert. Bereits Geiger (1949) und ihm folgend Schelsky (1965) missverstanden den klaren Zweiklassenantagonismus von Arbeit und Kapital, wie ihn Marx im ersten Band des Kapitals teilweise unterstellte, als empirische Deskription, die eine „geschichtlich eindeutige soziale Wirklichkeit“ (ebd., 360) hinsichtlich ihrer Sozialstruktur, ihrer sozialen und politischen Organisationsformen und ihrer Konfliktdynamiken umfassend zu beschreiben beanspruche (vgl. ebd., 358ff., 334). Indem Schelsky Marx den Anspruch einer deskriptiven Soziologie (vgl. ebd., 368) unterschob, reduzierte sich die „Frage nach der Klassengesellschaft, wie sie“ (angeblich) „von Marx aus zu definieren“ sei, auf die nach „‚zwei großen feindlichen Lager[n]‘, die sich auf allen[!] Lebensgebieten im Interessengegensatz gegenüber stehen“ (ebd., 339) und deren Klassenzugehörigkeit sie in „allen[!] […] sozialen Lebenserscheinungen“ (ebd., 358) bestimme. Ausgehend von dieser „populären Ausdeutung“ (ebd., 361) war es dann leicht, die marxsche Theorie mit Verweis auf eine Reihe empirischer Erscheinungen als historisch widerlegt anzusehen. Diese Vorgehensweise blieb für die meisten Zurückweisungen von Klassenkonzepten prägend, die mit Verweis auf vielfältigere Erscheinungen sozialer Ungleichheit und sozialer Konflikte in der Gegenwart kategorisch ausschlossen, dass der ‚alte‘ Begriff der Klasse eine gegenüber dem 19. Jahrhundert veränderte Sozialstruktur noch adäquat erfassen könne.11 Übergangen wurde dabei, dass Marx’ Analysen im ersten Band des

10 Vgl. kritisch zu den Forderungen, Klassenkonzepte aus der Soziologie auszuschließen: Ritsert 1998, 88-147; Henning 2005, 237-250 und generell zum Werturteilsproblem in der Klassenanalyse: Heim/Gebhard 2007, 19ff. 11 Vgl. die Argumente bei Beck 1983; 1986; Hradil 1987; 1992; Stehr 1994; kritisch: Heim 2007, 136-152. Selbst Kritiker, die sich stärker auf die Binnenlogik marxscher Argumente einlassen, wie Elster (1985, 96-118), verfallen in totalisierende Unterstellungen, denen zufolge Marx „glaubte, dass in jeder Gesellschaft die Klasse das wichtigste Problem überhaupt wäre“ (ebd., 115), womit das Faktum, dass es „bei sozialen Konflikten durchaus nicht immer um Klassen im eigentlichen Sinne geht“ (ebd., 113), hinreiche, um Marx’ Theorie zu ‚widerlegen‘. Vgl. dagegen nur die Analysen der Klassenkämpfe in Frankreich von 1848-1850, in denen „der Kampf des industriellen Lohnarbeiters gegen den industriellen Bourgeois [...] ein partielles Faktum“ (MEW 7, 20) bildet und neben zahllosen Klas-

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Kapitals einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen und die dort getroffenen Aussagen zum Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit als kontrafaktische, idealisierende Unterstellungen gekennzeichnet sind, die aus methodisch-analytischen Gründen zunächst von vielen entscheidenden Faktoren und Erscheinungen realer kapitalistischer Gesellschaften absehen (vgl. u.a. MEW 23, 642, Fn. 70 & 669f.). Als Phänomendeskription hätte ein Zweiklassenschema also auch historisch nie jene Geltung gehabt, die Schelsky (1965, 358ff.) ihm für das 19. Jahrhundert zusprach. Noch bezüglich komplexerer Klassen-Modelle am Ende des Kapitals betonte Marx, dass selbst in England, wo „die moderne Gesellschaft in ihrer ökonomischen Gliederung am weitesten […] entwickelt“ sei, „diese Klassengliederung nicht rein hervor[tritt]. Mittel und Übergangsstufen“ überlagern „überall die Grenzbestimmung“ (MEW 25, 892).12 Wie noch zu zeigen ist, folgt Marx’ Darstellung auch hier der Methode einer sukzessiven Konkretisierung, die zwar an keinem Punkt zur empirischen Deskription wird, sehr wohl aber ein differenziertes Instrumentarium bereitstellt, um vielfältige Fraktionierungen der Sozialstruktur nicht nur zu beschreiben, sondern zu erklären (s.u. 3.3). Wenn Marx in empirischen Analysen bis zu 10 Klassen und zahllose nicht direkt aus ökonomischen Verhältnissen ableitbare politische, militärische, klerikale und kulturelle Gruppierungen einbezog, war das keine im Widerspruch zur Theorie stehende Konzession an die Empirie (vgl. u.a. Luhmann 1988b, 163), sondern fügt sich in einen methodischen Zusammenhang, in dem idealisierende Annahmen auf verschiedenen Abstraktionsniveaus erst die Systematisierung, Gliederung und Erklärung empirischer Fakten ermöglichen. Nicht umsonst sollte das unvollendete Klassenkapitel erst am Ende des dritten Bandes des Kapitals stehen (vgl. MEW 25, 892f.), da es alle vorangehenden Konkretisierungen vorausgesetzt hätte. 13 Bourdieus – am Strukturalismus und der Wissenschaftstheorie Bachelards und Canguilhems geschulte – Klassentheorie war vergleichbaren Missverständnissen ausgesetzt. Zwar ließ sich angesichts der offenkundigen Differenziertheit seiner Modelle kaum eine Vereinfachung der Sozialstruktur auf ein Zweiklassenschema unterstellen,14 sehr wohl aber führte die Ignoranz gegenüber der Ebenendifferenz von theoretisch-analytischer Konstruktionsarbeit und empirischen Aussagen auch hier zu grundlegenden Verzerrungen. Wird etwa die Aussage, dass es soziologisch sinnvoll sein kann, „alle biologischen Individuen als identisch [zu behandeln], die als Erzeugnisse derselben objektiven Existenzbedingungen mit denselben Habitusformen ausgestattet sind“ (Bourdieu 1987, 111), in die – explizit ausgeschlossene (vgl. ebd., 112f.) – empirische Behauptung der völligen Homogenität der Existenzbedingungen und der Identität des Habitus aller Mitglieder einer Klasse ‚übersetzt‘ (so Hradil 1989, 125f.), lässt sich zwar diese absurde These umstandslos empirisch ‚widerlegen‘, womit aber noch nichts gegen den analytischen Sinn und die Erklärungskraft

sen(fraktionen) klerikale, politische, militärische, intellektuelle Gruppen (und kontingente Koalitionen zwischen ihnen) eine weit zentralere Rolle spielen. 12 Vgl. u.a. MEW 23, 590 & 607 (Fn. 212); MEW 24, 133 & 419; MEW 25, 59; s.u. 2.3. 13 Vgl. zu Marx’ Methodik MEW 42, 34ff.; s.o. II; zur Systematik der Idealisierungen und Konkretisierungen in Marx’ Klassentheorie: Jasinska/Nowak 1976, 175-213. 14 Allerdings wurde Bourdieus (vgl. u.a. 1999) Grundunterscheidung von strukturell herrschenden und strukturell beherrschten Klassen auch in diesem Sinne kritisiert. Vgl. u.a. Hradil 1987; 1989 & Miller 1989.

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der Modelle bewiesen ist, die als solche überprüft werden müssten. Dazu müssten freilich zunächst Konstruktion und Methodik der theoretischen und analytischen Instrumente nachvollzogen werden, um dann zu prüfen, ob entsprechende relationale Zusammenhänge sich empirisch falsifizieren lassen. Ein eigentlich selbstverständliches Vorgehen, das aber bei der ‚Widerlegung‘ von Klassentheorien fast immer vermieden worden ist.15 (3.) Ein entsprechender Klärungsbedarf besteht auch für die Frage des Verhältnisses verschiedener Bedeutungen des Klassenbegriffs auf verschiedenen Argumentationsebenen. Gerade in der Frage des Zusammenhangs analytischer Modelle, die nur „auf dem Papier“ (Bourdieu 1997, 112f.; vgl. F.E. in: MEW 39, 433) existieren, mit realen Gruppen, Bewusstseinsphänomenen oder akuten Konflikten sind die soziologischen Verwendungen so uneinheitlich, dass Dahrendorf (1968) den einzigen „guten Grund [...], den Begriff der ‚Klasse‘ aus der Soziologie auszuschalten [...,] in der beinahe hoffnungslosen Verwirrung im Gebrauch des Wortes“ (ebd., 283) sah. Mitunter ist das Wort ‚Klasse‘ ein bloßes Synonym anderer Klassifikationsbegriffe zur Einordnung von Individuen nach klassifizierbaren Merkmalen. Erhebliche Differenzen bestehen jedoch in der Frage, ob Klassen ‚nur‘ zu Forschungszwecken konstruierte statistische und theoretische Gruppen sind oder aber sich selbst in der sozialen Praxis repräsentierende ‚reale Gruppen‘. Manche Ansätze erklärten ‚Klasse‘ kurzerhand zur Sache von Identifikation und Zugehörigkeitsgefühl, kurz: zu einem psychologischen Phänomen (vgl. Centers 1949, 27f.). Meist dominierte aber die Frage, wie Variablen von objektiver Klassenlage, sozialer Organisation und individuellem Bewusstsein zusammenhängen, wobei wiederum strittig war, ob Klassenbewusstsein ein echtes politisches „Gemeinschaftsbewußtsein“ (Bottomore 1967, 88) meint, oder nur statistisch ähnliche Bewusstseinsprägungen (vgl. u.a. Giddens 1979, 134ff.). Zentrale klassentheoretische Ansätze betrachteten von Marx über Weber (1984) bis zu Bourdieu (1999; 1985) die bewusste Identifikation und die Bildung von unter dem Klassenlabel auftretenden Gruppierungen nicht als systematischen Kern von Klassenkonzepten, sondern als Sonderproblem, für dessen Erklärung verschiedene über die Variablen zur Bestimmung der Klassenlage hinausgehende Faktoren einzubeziehen sind. Eine funktionelle Position in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen (Marx), die ‚Marktlage‘ (Weber) oder die über Kapitalvolumen und Kapitalstruktur bestimmte Stellung im sozialen Raum (Bourdieu) machen durch ähnliche Existenzbedingungen und Erfahrungen die Bildung ähnlicher Dispositionen wahrscheinlich. Für die Bildung einer Klasse im Sinne einer sozialen Gruppe sind aber Fragen der aktuellen Konfliktlage, der Organisation und der symbolischen Repräsentation entscheidend, während gegenläufige Faktoren die Organisation fortwährend „sprengen“ (MEW 4, 471). Demgegenüber unterstellten die meisten Kritiken an

15 Wenn etwa „Lebensstil“ a priori „als eigenwertige soziale Integrationsform“ konzeptualisiert und „nicht auf andere Variablen (z.B. Schichtindizes)“ (Michailow 1994, 108) bezogen wird, kann dies kaum den Zusammenhang von Klassenlage und Lebensstil bei Bourdieu ‚widerlegen‘, der von vornherein außerhalb der Beobachtung blieb! Wird das NichtSehen-Können eines Zusammenhangs, der nicht in den Blick genommen wurde, dann als Indiz genommen, „daß sich objektive Lebensbedingungen von der Art und Weise der Lebensführung [...] entkoppelt haben“ (ebd., 125), bleibt das eine ‚self-fulfilling prophecy‘. Vgl. ähnlich: Schulze 1993.

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Klassenkonzepten eine mechanische Kausalität von Klassenlage und Klassenbewusstsein, die in dieser Form nicht einmal die den Klassenbegriff am stärksten ontologisierenden Marxisten (u.a. Lukács 1923) behaupteten. Das „Forschen in traditionalen Großgruppen-Kategorien“ gilt dann bereits als „fragwürdig“, wenn den soziologischen Klassen keine „real in ihrem [...] Leben aufeinander bezogene[n] Großgruppen“ entsprechen, die „ihre bewusste und gelebte Besonderheit [...] suchen und bestimmen“ (Beck 1986, 139f.; vgl. Schelsky 1965, 339). Indem dem konzeptionellen Aufbau von Klassenkonzepten keine Rechnung getragen wurde, haben die meisten Generalwiderlegungen Methode und „Gegenstand der […] Klassentheorie [...] an keiner Stelle berührt“ (Henning 2005, 244). Das schließt nicht aus, dass die gegen Zerrbilder ‚der Klassentheorie‘ angeführten empirischen und konzeptionellen Argumente oft Wichtiges zum Verständnis von Mentalitätslagen, Lebensstilen, politischen Dispositionen oder zur Erfassung dominanter symbolischer Repräsentationen gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen (s.u.V.4), nur leisten sie dabei oft nur Momentdeskriptionen sozialstruktureller und kultureller Verschiebungen, für die Klassenkonzepte eine Erklärungen anbieten können. Angesichts der skizzierten Konfusion um den Klassenbegriff, ist es zunächst notwendig, die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen der Klassenkonzepte bei Marx und Bourdieu zu klären, um dann die Grundannahmen über den Zusammenhang einer – in unterschiedlicher Weise über den Kapitalbegriff bestimmten – sozioökonomischen Klassenlage mit spezifischen Strukturierungen von Praktiken und Habitusprägungen zu umreißen. Erst auf Grundlage dieses (in vielen Kritiken fehlenden) Minimalverständnisses, wird es möglich, den Stellenwert von Klassenkonzepten für das Verständnis der grundlegenden Funktionslogiken und der historischen Metamorphosen kapitalistischer Vergesellschaftung näher zu bestimmen.

2.2 G ENESE UND K ONSTRUKTIONSPRINZIPIEN K LASSENTHEORIEN

VON

„In Wirklichkeit ist es möglich, die Existenz von Klassen in Form homogener Ensembles [...] objektiv zu Gruppen konstituierter Individuen zu bestreiten und zugleich die Existenz eines auf einem ökonomischen und sozialen Differenzierungsprinzip basierenden Raumes von Unterschieden zu behaupten. Um das tun zu können, muß man lediglich die relationale oder strukturale Denkweise, wie sie die moderne Mathematik oder Physik charakterisiert, übernehmen, welche das Wirklich nicht mit Substanzen identifiziert, sondern mit Relationen.“ PIERRE BOURDIEU (1997, 105f.)

Die oben skizzierten prinzipiellen Kritiken an Klassentheorien betrafen neben den normativen Implikationen vor allem ihre empirische Adäquanz für die umfassende Beschreibung der Sozialstruktur oder konkreter soziokultureller Milieus. Die Detaildeskription der Erscheinungsweisen sozialer Ungleichheit war aber nicht der seit dem 18. Jahrhundert mit dem Klassenbegriff verbundene Anspruch. Hier ging es vielmehr darum, im Kontext grundlegender Umbrüche gesellschaftlicher Struktur-

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und Funktionsprinzipien im Übergang von den feudal-absolutistischen Ständegesellschaften zur ‚modernen‘ Gesellschaft überhaupt einen den veränderten Formen sozialer Ungleichheit angemessenen Begriff zu finden. Die Klasseneinteilung sollte nicht alle buntscheckigen Formen sozialer Ungleichheit kartieren, sondern die für kapitalistische Gesellschaften grundlegenden sozialstrukturellen Differenzierungsprinzipien bestimmen und ihre Ursachen und Funktionen in gesellschaftlichen Zusammenhängen analysieren. Bereits die Physiokraten und die politische Ökonomie des 18. Jahrhunderts vollzogen eine Trennung der analytischen Kennzeichnung von nach ihrer ökonomischen Funktion bestimmten Klassen von den soziokulturellen oder politischen Gruppen. Waren die „Stände“ des Mittelalters und der frühen Neuzeit durch ein relativ homogenes Erscheinungsbild hinsichtlich Geburt, Tätigkeit, Kleidung, rechtlicher und politischer Stellung etc. gekennzeichnet, wurden Klassen nur durch wenige latente Faktoren der ökonomischen Stellung bestimmt. Diese Klassifikationen, die sich am Vorbild der neuzeitlichen Naturwissenschaften orientierten, dienten dazu, spezifische Positionen und Funktionen in wirtschaftlichen Produktions-, Distributions- und Konsumtionsprozessen kenntlich zu machen. François Quesnay, der in seinem Ökonomischen Tableau von 1758 dem Klassenbegriff erstmals eine systematische Stellung verlieh, bestimmte die gesellschaftlichen Klassen allein nach ihrer Funktion und Leistung in den wirtschaftlichen Reproduktionskreisläufen. Konkret unterschied er dabei zwischen der „produktiven Klasse“ (die Bearbeiter des Bodens als Quelle des Reichtums), der „Klasse der Eigentümer“ (König, Adel, Klerus), die „von den Revenuen – oder dem Nettoprodukt – aus der Bodenkultur, welche von der produktiven Klasse jährlich an sie ausgezahlt werden“, zehrt, und der „sterilen Klassen“ der das Bodenprodukt weiterverarbeitenden Gewerke (vgl. Quesnay 1976, 79ff.). Adam Smith brachte Quesnays (noch auf eine agrikulturelle Gesellschaft bezogene) Einteilung mit der Leitdifferenz von Kapital und Arbeit dann in eine neue Form, die der Analyse einer kapitalistischen Produktionsweise angemessener war und reflektierte bereits auf die Einflüsse der ökonomischen Stellung auf weitere soziale und kulturelle Eigenschaften (vgl. Smith 1978, 18f.), was später für soziologische Klassenkonzepte zentral wurde. Dass damit ein sachlich neutral und nominalistisch gebrauchter Klassifikationsbegriff16 zur Kennzeichnung gesellschaftlicher Differenzen übernommen wurde und überkommene Begriffe sozialer Differenzierung (wie den des Standes) zunehmend verdrängte, ist selbst ein semantischer Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Transformationen. Wie Marx (vgl. u.a. MEW 1, 263-287) und zahllose spätere Studien zur Klassensemantik betonen, war eine ‚Entzauberung‘ der sozialen Stratifikation vorausgesetzt, welche die vormals in Natur, Geburt und göttlichem Willen begründete ständische Ordnung des Schleiers der unmittelbaren Evidenz und Unumstößlichkeit entkleidete, um „die Menschen selbst (und nicht nur ihre […] Kunstfer-

16 Im Zuge der Renaissance antiker Begriffe seit dem 16. Jahrhundert wurde der Begriff in den Naturwissenschaften und der Verwaltung zur Konstruktion flexibler Ordnungsraster verwendet. Herrnstadt (vgl. 1965, 105f.) gibt als erste neuzeitliche Nennung die Einteilung verschiedener Klassen von Schiffen um 1530 an. Gebräuchlich wurde der Begriff zur Festlegung von Besteuerungsgruppen etc. Hier und später in der Ökonomie wird der Begriff „realitätsbezogen gehandhabt, aber doch mit dem Bewusstsein, daß es vielerlei Einteilungen geben kann“ (Luhmann 1998, 1056).

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tigkeiten)“ (Luhmann 1985, 121) in Klassen einzuteilen. Zudem musste die Ökonomie bereits partiell aus der soziokulturellen Reproduktion entbunden sein und als eigenständige und wirkmächtige Potenz erscheinen, um gerade ökonomische Indikatoren als Variablen sozialer Klassifikation nahe zu legen. Marx selbst sah moderne kapitalistische Gesellschaften dadurch ausgezeichnet, dass sie jede rechtliche und politische Schranke zwischen den Individuen einreißen. In ihnen gibt es daher „Klassen, aber keine Stände mehr“ (MEW 6, 254; vgl. MEW 14, 450). Die Klassensemantik setzte insofern den Zerfall homogener, klar umgrenzter und relativ statischer sozialer Gruppen schon voraus, der ihr später auf den „Totenschein“ geschrieben wurde.17 Diesbezüglich betonte bereits der Historiker Heinrich Treitschke, dass sich seit dem 18. Jahrhundert aus den „rechtlich getrennten Ständen […] eine freiere Bildung von Klassen“ entwickelt habe, „die rechtlich nicht mehr geschieden sind, wo dem Einzelnen durch Glück und Begabung ein Aufstieg möglich ist.“ Da diese Unterschiede rechtlich „nicht mehr definierbar“ seien, kämen „Halbdenker […] dann zu der Meinung, dass es überhaupt keine Klassen mehr gibt“ (Treitschke 1899, 300). Tatsächlich hatte Marx die Auflösung der ständischen Stratifikation schon früh als Kennzeichen und historische Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft bestimmt (s.u. 3.1). Im Unterschied zum Stand, der zugleich und untrennbar die ökonomische, politische, rechtliche und kulturelle Stellung des Individuums bestimmte und eine „von seiner Individualität unzertrennliche Qualität“ bildete (MEW 3, 76), bewegen sich die sozialen Differenzen nun „innerhalb der Gesellschaft […] in beweglichen, nicht festen Kreisen, deren Prinzip die Willkür ist. Geld und Bildung sind die Hauptkriterien“, womit „teils Zufall, teils Arbeit etc. des Individuums“ (MEW 1, 284 [Hervh. i.O.]) über seine Stellung entscheiden, die wiederum in differenten gesellschaftlichen Sphären (Ökonomie, Recht, Politik etc.) unterschiedlich ist und kein fixes Moment der Identität mehr bildet. Das Klassenkonzept sollte erklären, welche gesellschaftlichen Kräfte die sozialstrukturelle Differenzierung bewirken, wenn die klare politische Trennung der sakralisierten und rechtlich sanktionierten ständischen Stratifikation sich auflöst und die Individuen formal frei und gleich sind.18 In dieser wissenschaftlichen Gebrauchsweise waren bereits die Klassen der politischen Ökonomie Produkte einer Klassifikations- und Konstruktionsarbeit, die je nach Forschungsfrage verschieden ausfiel. Auch Marx gebrauchte, statt aus der Leitdifferenz von Kapital und Arbeit zu folgern, „daß es nur diese zwei Klassen gibt“ 17 Vgl. zur Auflösung der Ständeordnung als Voraussetzung des Klassenbegriffs: Luhmann 1998, 1057f.; Henning 2007, 80ff.; Heim 2007, 147ff.; Heim/Gebhard 2007, 17ff.; vgl. zur Auflösung fixierter sozialer Gruppen als Argument gegen den Klassenbegriff: Beck 1986; Hradil 1992; Pakulski/Waters 1996. 18 Allerdings gibt es in Marx’ Begriffsverwendung eine deutliche Ambivalenz. Oft wird ‚Klasse‘ als eine ökonomisch bestimmte soziale Formation kapitalistischer Gesellschaften von anderen historischen Formen sozialer Differenzierung unterschieden. Das „Auftreten der Klasse, die selbst ein Produkt der Bourgeoisie“ (MEW 3, 76) sei, ist hier so eng an die moderne Gesellschaft (geldvermittelter Tausch, individuelle Freiheit, soziale Mobilität, funktionale Differenzierung etc.) gebunden, dass eine direkte Übertragung des Begriffs auf vorkapitalistische Gesellschaften problematisch scheint. In Spannung dazu stehen die Eingangspassagen des Manifests, die Formationen sozialer Differenzierung in allen Gesellschaften als Klasse bezeichnen. Die Frage der retrospektiven Übertragung der Terminologie wird hier vernachlässigt, vgl. jedoch zur Kontroverse: Finley 1977, 42ff., 48ff.; Ritsert 1998; Elster 1985, 102ff.; Spurk 1986, 16.

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(Luhmann 1985, 123f.; vgl. Schelsky 1965), je nach Gegenstand und Anliegen der Untersuchung verschiedene Klassenmodelle und glaubte nicht, aus den drei Hauptklassen nach Revenuequellen (Lohn, Profit, Grundrente), die er im Kapital auf der Abstraktionsstufe der ökonomischen „Anatomie“ der bürgerlichen Gesellschaft verwendete, politische Haltungen, kulturelle Praktiken oder konkrete Ausprägungen der sozialen Ordnung deduzieren zu können. Zwar liege im „Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten [...] die verborgne[!] Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“, die konkrete Gestalt dieser Konstruktion und das Verhalten Einzelner in ihr sind aber nur durch Analyse der je „empirisch gegebnen Umstände“ erschließbar (MEW 25, 799f.). Auch betonte Marx entgegen der frühen Prognose der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in Bourgeoisie und Proletariat (vgl. MEW 4, 463) später „die beständige Vermehrung[!] der zwischen Arbeitern auf der einen Seite, Kapitalisten und Grundeigentümern auf der andern Seite […] stehenden, großenteils von der Revenue direkt erhaltenen Mittelklassen“ (MEW 26.2, 576), denen er auch in seinen zeitgeschichtlichen Analysen breiten Raum einräumte.19 Damit ergibt sich scheinbar eine Ambiguität der Begriffsverwendung, die oft auf einen internen ‚Rollenkonflikt‘ von Marx zurückgeführt wurde, der in seinen Eigenschaften als „Revolutionär, Nationalökonom und Soziologe“ drei verschiedene „Typen der Auffassung der Klassenstruktur“ beerbt habe: „dichotomisches Schema, Graduationsschema und funktionelles Schema“ (Ossowski 1962, 107). Es scheint so bei Marx drei nicht miteinander vermittelbare Argumentationsstränge zu geben, weshalb man säuberlich unterscheiden müsse, welcher Teil dieses ‚schizophrenen‘ Autors gerade spricht: Der Revolutionär und Prophet brauche für „seine dramatische Vision […] die dichotomische Konzeption der Klassengesellschaft“ mit ihrem unausweichlichen Antagonismus; „der Soziologe“ müsse „in Analysen der Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft die Schärfe des Gegensatzes durch Einführung der Mittelklassen beeinträchtigen“; und schließlich spräche im Kapital der Erbe der bürgerlichen Ökonomie mit einem „funktionellen Schema“ (ebd., 98f.). Gegenüber dieser klaren Trennung wird hier davon ausgegangen, dass in Marx’ Analysen dichotomes, ökonomisch-funktionelles und gradualistisch-soziologisches Schema einen methodisch-theoretischen Zusammenhang bilden, der sich aus Marx’ Wissenschaftsverständnis und seiner Methode der Idealisierung und Konkretisierung im Aufstieg vom „Abstrakten zum Konkreten“ (MEW 42, 35) verstehen lässt. Ebenso wie im Kapital keine reale kapitalistische Gesellschaft beschrieben, sondern ein Modell der Logik des Kapitalverhältnisses im ideellen Durchschnitt entfaltet wird, sind die in Gestalt von Kapitalisten und Lohnarbeitern auftretenden „dramatis personae“ (MEW 23, 191) keine realen sozialen Klassen, sondern „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ (ebd., 16), die nur als Träger typischer Funktionen des Kapitalverhältnisses in Betracht kommen.20 Es ist dabei entscheidend, dass die Klassen, deren ökonomi-

19 Vgl. MEW 8, 204ff.; MEW 7, 89ff.; MEW 17, 344f. Marx unterscheidet Großgrundbesitzer und Bauern (diese in kleine Parzellenbauer und Großbauern), Adel, Finanzkapital, industrielle Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Intellektuelle, Proletariat und Lumpenproletariat. Hinzu kommen Machtgruppen in Staatsverwaltung, Armee und Klerus. 20 „Unter ‚Proletarier‘ ist ökonomisch nichts zu verstehen als der Lohnarbeiter, der Kapital produziert und verwertet.“ Ebenso hängt die „ökonomische Charaktermaske des Kapitalis-

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sche Verhältnisse Marx hier analysiert, im größten Teil der Darstellung – mit Ausnahme der historisch-rekonstruktiven Kapitel21 – überhaupt keine sozialen Klassen sind, sondern einzig über ein funktionelles Schema definierte objektive Klassen. Zu den idealisierenden Annahmen gehört es dabei, dass diese rein „funktionell bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen“ (MEW 24, 359) kein Bewusstsein ihrer Funktionen und Interessen haben und keine soziale Organisation, keine politische und symbolische Repräsentation aufweisen, die einen Zusammenhalt stiften könnten (vgl. Jasinska/Nowak 1976, 186ff.). Diese idealisierenden Unterstellungen sollen es ermöglichen, objektive Beziehungen und sich daraus ergebende Mechanismen und Tendenzgesetze innerhalb der „Grundform des Akkumulationsprozesses“, wie sie sich hinter dem Rücken und jenseits des Wissens und Wollens der Agenten blind durchsetzen, in Reinform zu konstruieren: „Seine reine Analyse erheischt daher vorläufiges Wegsehen von allen Phänomenen, welche das innere Spiel seines Mechanismus verstecken.“ (MEW 23, 590) Dazu zählen alle Formen bewusster Klassenaktion, da sich hier aus den durch zahllose Faktoren beeinflussten sozialen und politischen Kräfteverhältnissen endlose Variationen in den konkreten Formen ergeben, in denen sich die Tendenzgesetze realiter entfalten.22 Der Sinn dieses Vorgehens liegt darin, basale objektive Relationen zwischen den Klassen zu bestimmen, die den variablen historischen Ausformungen der Klassenverhältnisse in verschiedenen Formen kapitalistischer Vergesellschaftung zugrunde liegen und die Grenzen und den Möglichkeitsraum ihrer Variation bestimmen. Das funktionelle Klassenschema des Kapitals wird in verschiedenen Graden der Konkretisierung entfaltet. Der Antagonismus von Kapital und Arbeit stellt dabei die höchste Abstraktionsstufe dar und ist vom Anspruch einer Deskription der Sozialstruktur denkbar weit entfernt. Explizit abgesehen wird hier von den Residuen früherer Produktionsweisen, von internen Fraktionierungen, die sich aus heterogenen Funktionen innerhalb des Produktionsprozesses und den graduellen Abstufungen von Einkommen und Besitz ergeben, sowie von aus Steuern finanzierten politischen, kulturellen, religiösen etc. Funktionsträgern der gesellschaftlichen Reproduktion.23 Das dichotome Schema ist nicht der Plausibilisierung von Revolutionshoffnungen geschuldet,24 es soll grundlegende Verteilungs-, Ausbeutungs- und Abhängigkeitsrelationen verdeutlichen, die durch die Vielfalt sozialstruktureller Differenzierungen, die der Vielfalt der funktionellen Differenzierungen im Produktionsprozess wie in der

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ten [...] nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert“ (MEW 23, 591, vgl. ebd., 642, Fn. 70). In ihrem Zusammenhang impliziert aber bereits diese sachlich-funktionelle Beziehung ein Dominanz- und Ausbeutungsverhältnis. Ausnahmen bilden die Abschnitte zum ‚Kampf um den Arbeitstag‘ (MEW 23, 279-320), zur ursprünglichen Akkumulation (ebd., 741-791) sowie die historischen Exkurse zu Kaufmannskapital (MEW 25, 335-349), Bankenkapital (ebd., 607-626) und kapitalistischer Grundrente (ebd., 790-821). So betont Marx zum allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, dass „[j]eder Zusammenhalt zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten […] das ‚reine‘ Spiel jenes Gesetzes [stört]“ (MEW 23, 670). Vgl. u.a. MEW 23, 590f., 607, Fn. 21a, 669f.; MEW 24, 56f., 133, 348, 419; MEW 25, 59; MEW 16, 137. Vgl. zur Reduktion des Antagonismus von Kapital und Lohnarbeit auf diese politische Funktion: Luhmann 1985; 1988b; Ossowski 1962, 98f.

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Reproduktion der ihm vorausgesetzten gesellschaftlichen Formen entspricht, „verdunkelt“ (MEW 23, 590) werden. Da der Status des binären Schemas von Kapital und Lohnarbeit der einer methodischen Abstraktion ist, bildet es keinen Widerspruch, wenn spätere Passagen des Kapitals und erst recht sozialhistorische Schriften von komplexeren Differenzierungen ausgehen. Ossowski (vgl. 1962), zählt allein in „der funktionellen Differenzierung der kapitalistischen Gesellschaft [...] sieben, acht oder sogar neun Klassen“ (ebd., 106). Je nachdem, wie man Marx’ Analysen (die ja kein ausgereiftes Modell des sozialen Raumes bieten) systematisiert, fällt die Differenzierung noch komplexer aus (s.u. 2.3; 3.3). Mit Erhöhung des Differenzierungsgrades werden die auf Grundlage des binären Modells entwickelten analytischen Aussagen nicht negiert, sondern erfahren durch sukzessive Anreicherung mit konkreteren Abstraktionen eine Spezifikation in einem komplexeren Modell der Klassenverhältnisse, die als funktionelles Moment der Produktionsverhältnisse begriffen werden. Die analytische Kraft und die empirische Triftigkeit dieses Modells wären dann im Einzelnen zu prüfen. Obgleich sich so bereits aus dem funktionellen Schema des Kapitals differenziertere Aussagen über wahrscheinliche sozialstrukturelle Charakteristika kapitalistischer Gesellschaften ergeben als viele Interpretationen unterstellten, sind genuin soziologische Fragen – nach Zusammenhängen von Klassenlage, Lebensstil und politischen Dispositionen, nach der Bildung sozialer Gruppierungen, nach den Klassenbeziehungen jenseits der ökonomischen Relationen etc. – auf dieser Ebene der Konkretisierung noch nicht einbezogen. Da Marx’ Klassenanalysen mehr beanspruchten als ein abstraktes Funktionsmodell des Kapitalverhältnisses zu konstruieren, stellt sich die Frage, wie sich das funktionelle Klassenschema zu solchen soziologischen Problemstellungen verhält. Wenn die ökonomischen Relationen als „verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ (MEW 25, 799) gelten, die den „sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß“ bedingt (MEW 13, 9), müssten zwischen dem funktionell-ökonomischen und dem gradualistischsoziologischen Klassenschema der zeitgeschichtlichen Analysen – etwa im „soziologischen Juwel“ (Dahrendorf 1999, 60) Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (vgl. MEW 8) – theoretische und analytische Zusammenhänge bestehen, die einer empirischen Prüfung zugänglich sind. Marx bot zwar keine stringente Darstellung des begrifflichen Zusammenhangs der heterogenen Verwendungen des Klassenbegriffs,25 jedoch lassen verstreute Äußerungen die Konturen dieses Zusammenhangs klar erkennen. Prägnant heißt es etwa im 18. Brumaire mit Bezug auf die französischen Parzellenbauern: „Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Diesselbigkeit ihrer Interessen keine

25 Das Klassenkapitel im Kapital (MEW 25, 892f.) bricht nach wenigen einleitenden Bemerkungen ab. Einen instruktiven, wenngleich einseitig auf eine empirisch-deskriptive Verwendung ausgerichteten Versuch, dieses ungeschriebene Kapitel aus anderen Passagen des Werks zu rekonstruieren, bietet Dahrendorf 1957. Eine gute Skizze des begrifflichen Zusammenhangs zwischen dem Klassenbegriff des Kapital und den zeithistorischen Analysen bieten Jasinska/Nowak 1976, 204-213.

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Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen.“ (MEW 8, 198; Hervh. T.H.)

Diese Passage impliziert einige Konkretisierungen, die vom rein ökonomischfunktionellen Schema zu reichhaltigeren soziologischen Bestimmungen führen und zugleich verdeutlichen, dass soziologische Analysen einer ‚Klasse an sich‘ nicht an die Existenz einer ‚Klasse für sich‘ gebunden sind. Eine Klasse im analytischempirischen Sinne wird primär durch ökonomische Existenzbedingungen definiert, was Faktoren einbezieht, die über die rein funktionelle Bestimmung hinausgehen, da Existenzbedingungen auch von der konkreten Produktionsform und vom graduellen Umfang von Besitz und Einkünften abhängen, die über die Beschaffenheit des Konsums (vgl. ebd.) entscheiden. Vorausgesetzt wird zudem ein Bedingungsverhältnis zwischen den ökonomischen Faktoren und der Ausformung von Lebensweise, Interessen und Bildung der klassifizierten Individuen. Darüber hinaus ist jede Klasse durch die relationale Position definiert, die sie im Verhältnis zu anderen Klassen einnimmt, wobei das Verhältnis als latent konfliktiv26 gefasst wird. Latente Gegensätze und Spannungen können, in dem Maße wie sie in akuten Konflikten bewusst werden, zur sozialen Organisation beitragen: Die „gemeinsame Situation“ erzeugt für Marx eine objektive Klasse, aber erst im Konflikt „findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst“ (MEW 4, 181f.). Das bedeutet aber in keiner Weise, dass eine objektive Klasse – „gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet“ (MEW 8, 198) – automatisch auch zur Formierung eine sich selbst repräsentierenden Gruppe mit klarem ‚Zugehörigkeitsbewusstsein‘ der Mitglieder führt. Vielmehr können gerade jene Eigenschaften, durch die eine ökonomische oder soziologische Klasse objektiv definiert ist, die Bildung einer politischen ‚Klasse für sich‘ ausschließen, wie Marx ebenfalls am Beispiel der französischen Parzellenbauern gezeigt hat.27 Auch die kapitalistischen Klassen Bourgeoisie und Proletariat meinen keine homogenen Gruppen, sondern sind durch intern „unendliche Zersplitterung der Interessen und Stellungen“ (MEW 25, 893) in heterogene „Klassenfraktionen“ (MEW 7, 88, 460) oder „Klassenabteilungen“ (MEW 24, 205) differenziert. Die funktionellen Zusammenhänge und sozialen Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien von Lohnabhängigen einerseits und Kapitalisten andererseits implizieren zahllose je ei26 Vgl. MEW 3, 54. Latent konfliktiv meint, dass der Konflikt nicht ständig gezielt ausgetragen werden muss. So äußert sich der „Kampf zwischen der Proletarierklasse und der Bourgeoisklasse […,] bevor er auf beiden Seiten empfunden“ wird, „vorläufig nur in teilweisen und vorübergehenden Konflikten“ (MEW 4, 141). 27 „Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie“. Diese Atomisierung wird „gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel […]. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt […] keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Jede „Bauernfamilie […] produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft.“ (MEW 8, 198)

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gene latente oder manifeste Konflikte, die auch zwischen den Angehörigen derselben Klasse permanent bestehen. Ein „gleiches Interesse“ haben etwa die „Angehörigen der modernen Bourgeoisie“ nur „insoweit sie eine Klasse gegenüber einer anderen Klasse bilden“, hingegen „haben sie entgegengesetzte, widerstreitende Interessen, sobald sie selbst einander gegenüberstehen“ (MEW 4, 141). Ebenso wird die „Organisation der Proletarier […] zur politischen Partei […] jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ (ebd., 471) In seinen zeithistorischen Analysen ließ Marx zudem keinen Zweifel daran, dass die je konkreten Konflikte zwischen verschiedenen „Fraktionen“ (vgl. u.a.: MEW 7, 29, 41 & 58f.) die reale politische Entwicklungen oft stärker und unmittelbarer beeinflussen als der abstrakte Antagonismus von Kapital und Lohnarbeit. So bildet in den Klassenkämpfen in Frankreich von 1848-1850 „der Kampf des industriellen Lohnarbeiters gegen den industriellen Bourgeois“ lediglich „ein partielles Faktum“ (ebd., 20), während Marx den ambivalenten Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen (Finanzbürgertum, Großindustrie, Landeigentümer) und deren wechselnden Koalitionen mit verschiedenen Fraktionen der beherrschten Klassen (Kleinbürgertum, Proletariat und Bauern), eine prägende Rolle zusprach (vgl. ebd., 12-34, 41ff.). Angesichts dieser Komplexität und Dynamik der Klassenbeziehungen entspricht auch der Weg von der objektiven Klassenlage zur Bildung kollektiv agierender und ihre Interessen vertretender Gruppen keinem Automatismus. Objektiv geteilte Bedingungen und Relationen, manifeste Konfliktlinien oder die massenhafte räumliche Vereinigung machen die Bildung einer Gruppe wahrscheinlicher, ihre Konstitution bedarf aber der Kommunikation und Organisation ebenso wie kognitiver „Bildungselemente“ (MEW 4, 471) zum Verständnis der eigenen Lage, ist also an prekäre Zusatzvoraussetzungen gebunden. Daran, dass die Konstitution der Arbeiterklasse auch ihre aktive soziale, kulturelle, politische und symbolische Konstruktion als soziale Gruppe voraussetzte, wie Thompson (1987) differenziert zeigte, ließ Marx als Theoretiker und Praktiker des Klassenkampfes keinen Zweifel.28 Klassenkampf meint dabei nicht, dass fixe Gruppen mit eindeutigen Zielen einander in klarer Front gegenüberstehen. Marx verwendete den Begriff vielmehr für verwickelte soziale Kämpfe, die analytisch aus der Klassenstruktur der Gesellschaft erklärbar sind, ohne dass den Akteuren entsprechende Bedingungsrelationen bewusst sein müssen. Auch Klassenkämpfe setzen daher keine ‚Klasse für sich‘ voraus, obwohl sie deren Bildung befördern können.29 In diesen Kontext die „reale Konstruktionsmacht“ einzubeziehen, die die „marxistische Theorie“ gewann (Bourdieu 1992b, 143), ist kein Idealismus, wie Henning (vgl. 2005, 190-250) ihn in solchen soziologischen Argumenten vermutet,

28 Schon der wiederholte Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ (ebd., 493; vgl. MEW 5, 3; MEW 16, 13) und jedes persönliche Engagement wären überflüssig gewesen, wenn Marx an den ihm immer wieder unterstellten „Automatismus“ (vgl. u.a. Geißler 2002, 113; 1994, 23f.; Kreckel 2004, 59) geglaubt hätte. 29 Vgl. zu diesem analytischen Verständnis von Klassenkampf: MEW 7, 9-107; MEW 8, 111207. Auf der Oberfläche der Ereignisse ist in dem dort geschilderten ‚Chaos‘ wechselnder Positionierungen, Koalitionen und Dissoziationen, unintendierter Effekte etc. keine Strategie und kein Ziel zu erkennen, die die Zurechnung auf Kollektivsubjekte des Kampfes gestatten würden. ‚Klassenkampf‘ ist das Analyseraster, mit dem die Ereignisse untersucht werden. Der Kampf setzt keine ‚Klasse für sich‘ voraus, sondern ist nur eine ihrer Bedingung (vgl. MEW 4, 470ff.).

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es entspricht Marx’ praxeologischem Materialismus. Die ‚Bildungselemente‘ (MEW 4, 471), die auch die für das Proletariat parteinehmenden Intellektuellen einbringen, sind im Doppelsinn von Bildung zu verstehen: als Wissens- und Reflexionselemente und als Voraussetzung der Konstitution einer organisierten Gruppe.30 Gesellschaft wird hier weder aus einem einzigen Antagonismus erklärt, noch setzt wissenschaftliche Klassenanalyse homogene soziale Gruppen voraus. Analytische Klassen können durch den Verweise auf unmittelbare ‚Evidenz‘ weder gebildet noch geprüft werden und auch der empirisch Fundus sozial gebrauchter Klassifikationen, den die Soziologie in ihrem Gegenstandsbereich vorfindet, ist so heterogen, dass es stets einer wissenschaftlichen Entscheidung bedürfte, mit welchen Klassifikationen man das empirische Material ordnet (vgl. auch MEW 25, 893). Insofern beruht die Klassenanalyse auch in Marx’ Perspektive auf dem reflexiven Gebrauch wissenschaftlicher Konstrukte. Eine explizite methodisch kontrollierte und reflektierte Konstruktion der Klassenstruktur fehlt allerdings bei Marx ebenso wie eine heutigen Ansprüchen genügende empirische Forschung. Orthodox-marxistische Klassenkonzepte haben sich um die Analyse der „empirisch gegebnen Umstände“ (MEW 25, 800) zudem oft kaum verdient gemacht und weckten in ihrer Ignoranz gegen veränderte Formen sozialer Ungleichheit mitunter eher den Eindruck, als berichteten sie „über eine imaginäre Gesellschaft […], in der ein reiner Klassenkampf unerbittlich andauerte, unbeeindruckt von den Ereignissen der Wirklichkeit“ (Bottomore 1967, 101).31 Ungeachtet dessen sind viele marxsche Thesen über die Wirkung objektiver Existenzbedingungen auf Lebensweisen und Praktiken in die Kernbestände der modernen Sozialforschung eingegangen (unabhängig davon ob diese Zusammenhänge dann Klassenlage, Schicht oder Milieu genannt werden). Geht man von der obigen Skizze aus, ist Marx’ Klassenverständnis in vielem mit der wissenschaftstheoretisch und methodisch reflektierten Bestimmung soziologischer und sozialer Klassen kompatibel, die Bourdieu dem Schematismus vieler (nicht nur marxistischer) Modelle entgegensetzte. Gegen verbreitete Tendenzen, die Originalität von Bourdieus Ansatz durch die Kontrastierung mit einem reduzierten Marxbild überzupointieren,32 könnte vermittelt über dessen „relationales Feldkonzept“ auch „Marx […] noch einmal neu entdeckt werden“ (Vester 2002, 67). Bourdieus über Marx hinausgehender Beitrag zur Analyse der Klassenverhältnisse besteht, neben den materialreichen empirischen Untersuchungen, vor allem in der Erarbeitung theoretischer und analytischer Instrumente, die die Klassenstruktur der Gesellschaft und die Mechanismen ihrer Reproduktion aus der Gesamtkonstellation

30 Dies prägte auch Marx’ Praxis als parteiischer Intellektueller (s.o. II.4). Dass es dabei nicht um leninistische Führungsvorstellungen geht, haben Marx und Engels oft betont (vgl. u.a. MEW 19, 164ff.). Die Theoretiker sind weder ‚Erzieher‘ noch ‚Führer‘ des Proletariats, sie hätten „sich zum Organ desselben zu machen“ (MEW 4, 143). 31 Dies trifft auch auf Analysen zu, die die Entwicklungen der ‚ökonomischen Kernstruktur‘ präzise erfassen, aber ohne Umweg über soziologische Analysen in Klassenkampfaussagen springen – so etwa einige Passagen bei Mandel (1987, 260-274). Vgl. zur Kritik marxistischer Klassenanalysen: Koch 1994, 42-50; Hirsch/Roth 1986, 179-192. 32 Schwingel (vgl. 1998, 100ff.; 1993, 140ff.) oder Rehbein (vgl. 2006) verwenden Marx nur als Kontrastfolie. Neben schlichter Unkenntnis ist das wohl auch der Hoffnung geschuldet, mit Bourdieu Klassenstrukturen analysieren zu können, ohne in ideologische Grabenkämpfe verwickelt zu werden.

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aller Felder gesellschaftlicher Produktion zu erschließen erlauben (s.u. 3.4). Darüber hinaus verlieh er vielen wissenschaftlichen Prinzipien der Theorie und Analyse von Klassenbeziehungen, die bei Marx nur beiläufig formuliert waren, eine systematische Fassung. Bourdieu besteht auf der strikten kategorialen Trennung von theoretischanalytischen Klassen, klassenspezifisch verteilten Praxisformen und organisierten sozialen Klassen und setzt gegen voreilige ‚Wirkungsgesetze‘ eine zunächst getrennte analytische (Re-)Konstruktion der Bedingungen und Relationen, die sich in den Dimensionen der Klassenlage (nach der Verteilung verschiedener Kapitalien), der Praxisformen (Lebensstile und Dispositionen) und der sozialen Kämpfe und Hegemonieverhältnisse (Feld der Macht) objektivieren lassen, um erst dann die Homologien, also die strukturellen und funktionellen Entsprechungsverhältnisse zwischen den nach verschiedenen systematischen Taxonomien gebildeten topologischen Räumen bzw. Feldern, zu analysieren. Gegen substantialisierende Terminologien werden Klassenpositionen dabei nicht durch eine bestimmte Summe von Merkmalen definiert, die den jeweiligen Individuen oder Klassen als fixe Qualität anhaften würden, sondern durch ein System von Beziehungen, in dem erst die relationalen Verhältnisse zwischen den verschiedenen positionalen Merkmalen jedem einzelnen Moment seine spezifische Bedeutung und Funktion verleihen.33 Klassen sind dabei zunächst „Klassen auf dem Papier“ (Bourdieu 1992b, 140ff.; 1997, 112f.), wissenschaftliche Konstruktionen, die sich ausgehend von den differenten Positionen im sozialen Raum – also innerhalb eines Ensembles objektiver, für die Akteure aber oft „unsichtbarer Beziehungen“ (Bourdieu 1997, 105) – „im Sinne der Logik herauspräperieren“ lassen (Bourdieu 1985, 12). Als solche müssen die soziologischen Klassen nicht unmittelbar identisch mit empirisch manifesten sozialen Gruppen sein. Auf die Konstruktion dieses „Raumes der Unterschiede“, im auf der Kapitalverteilung basierten „sozialen Raum“ und im auf der Grundlage von Konsumpraktiken und Einstellungen konstruierten „Raum der Lebensstile“ (vgl. u.a. Bourdieu 1985, 9-40), ist unten (2.3f.) zurückzukommen. Hier genügt es zunächst festzuhalten, dass auch Bourdieus relationaler Klassenbegriff insofern funktionell grundiert ist, als die statistische Verteilung der Individuen im sozialen Raum zwar nach Indikatoren eines graduellen Schemas von Kapitalvolumen (Summe der effektiv aufwendbaren Kapitalien) und Kapitalstruktur (Verhältnis von ökonomischem und kulturellem Kapital) ermittelt wird, die Positionen aber zugleich nach sozioprofessionellen Kategorien bestimmt sind, also nach funktionellen Positionen in gesellschaftlichen Produktions- und Distributionsprozessen, in denen die sozialen Unterschiede produziert werden.34 Zudem sind moderne Klassengesellschaften dadurch von frühe-

33 Vgl. Bourdieu 1999, 182f.; 1985, 9ff.; 1997, 106ff. Vester (2002) sieht in diesem vom Strukturalismus geprägten relationalen Paradigma Konturen „einer sozialen Relativitätstheorie“ (ebd., 63; vgl. ebd., 60-121). Bourdieus ‚Relationismus‘ bildet allerdings keine Differenz zum marxschen Ansatz (wie etwa Schwingel 1998 suggeriert). Auch bei Marx ergibt sich die Bestimmung der Klassen nicht aus den Indikatoren von Besitz/Nichtbesitz, sondern aus dem prozessierenden System der Relationen des Kapitalverhältnisses (vgl. MEW 23, 603; MEW 40.1, 523). 34 Bourdieu folgt darin dem Prinzip der Klassifikation nach sozioprofessionellen Kategorien, wie sie seit den 1950er Jahren vom französischen Statistikamt (INSEE) verwendet wurden. Vgl. zu deren Prägekraft für die politische, bürokratische und mentale Repräsentation der Klassenstruktur: Boltanski/Chiapello 2003, 339ff.

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ren Modi der Stratifikation unterschieden, dass mit der „Unterscheidung zwischen Funktion und Person“ (Bourdieu 1987, 243) gesellschaftliche Ausbeutungs- und Dominanzverhältnisse keine unmittelbaren, durch persönliche Attribute bestimmten Beziehungen zwischen Individuen mehr sind. Hier „werden die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse nicht mehr unmittelbar zwischen Menschen hergestellt; sie werden in der Objektivität selbst […,] zwischen gesellschaftlich garantierten Titeln und gesellschaftlich definierten Posten, gesetzt“ und durch objektive Mechanismen vermittelt, „die den gesellschaftlichen Wert der Titel und Posten und die Verteilung“ der an diese geknüpften „sozialen Attribute auf die biologischen Individuen […] absichern“ (ebd., 242f.). Wie die funktionalen Logiken der Felder dabei jeweils „genau durch die Logik, nach der sie funktionieren, auch […] zur Reproduktion der Gesellschaftsordnung“ (ebd., 243) und zur Perpetuierung oder Veränderung der Klassenverhältnisse beitragen, wird unten (3.4) herauszuarbeiten sein. Auch für Bourdieu bilden diese im sozialen Raum der Kapitalverteilung objektivierbaren positionalen Klassen in ihrem funktionalen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Produktionsfeldern nur ein grundlegendes Moment der objektivierbaren Klassenbeziehungen. Nicht umsonst dient der bekannteste Teil seines Werkes der Analyse der Bedingungsverhältnisse zwischen der Kapitalverteilung und der Ordnung der kulturellen und symbolischen Beziehungen, die sich in den strukturalen Homologien zwischen den unabhängig voneinander konstruierten Räumen von Klassenlage und Lebensstil zeigen (vgl. Bourdieu 1999, 212f.). Dieser Zusammenhang, den Bourdieu wie Marx auf geteilte objektive Lebensbedingungen und Erfahrungsräume zurückführt, dem er mit seiner Habitustheorie aber eine differenziertere Erklärung verleiht (s.u. 2.4), gilt wiederum als Moment der zwischen den Klassen objektivierbaren Macht- und Herrschaftsbeziehungen (s.u. 2.5). Statt dem Klassenbegriff eine radikal nominalistische Wendung zur beliebigen Bildung logischer Klassen nach beliebigen Merkmalen zu geben,35 sollen damit die durch multifaktoriale Konstruktionsarbeit erstellten soziologischen Klassen „wohlbegründet in der Realität“ (Bourdieu 1997, 108) objektiv geteilter Bedingungen, Praktiken und objektiver gesellschaftlicher Beziehungen sein, was auch die Wahrscheinlichkeiten der Konstitution realer sozialer Gruppen entlang der analysierten Differenzbeziehungen erhöht. Diese Konstitution hängt jedoch (wie bei Marx) zusätzlich von expliziten Akten der Benennung, der Bezugnahme oder der Abgrenzung ab, die eine erkannte und anerkannte symbolische Repräsentation als soziale oder politische Gruppe konstituieren. Eine „Klasse“ in diesem Sinne „existiert genau dann, wenn es Akteure gibt, die sich anderen als autorisiert, offiziell an ihrer Stelle und in ihrem Namen zu sprechen und zu handeln, aufzudrängen vermögen” (ebd., 127).

35 Marxisten kritisierten, Bourdieus ‚Nominalismus‘ blende reale Ursachen der Klassenstruktur aus (vgl. Koch 1994, 101-106). Rehberg (2007) monierte, die „heuristische Bestimmung“ habe es der Soziologie erlaubt, „unbeschwert wieder von ‚Klassen‘ sprechen zu können, während man gleichzeitig […] weiter an deren Verschwinden glauben konnte“ (ebd., 34). Bourdieus Konstruktivismus zielte jedoch nur auf heuristische Ebenendifferenzierung und richtet sich gegen jeden reinen Nominalismus (vgl. u.a. Bourdieu 1985, 12f.; 1992b, 142). Die falsch gestellte Frage „Sind Klassen ein wissenschaftliches Konstrukt oder existieren sie tatsächlich?“ sei nur „ein Euphemismus“ für die „unmittelbar politische Frage ‚Existieren Klassen oder gibt es sie nicht?‘“ (Bourdieu 1997, 104).

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Der wissenschaftliche Wert soziologischer Klassen liegt aber nicht primär in der Schilderung solcher Gruppen, und ihre Gültigkeit bemisst sich nicht am Grade der Übereinstimmung mit sozialen Selbsteinschätzungen. Dass die Soziologie – statt „phänomenorientiert“ soziale Repräsentationen in ihrem Gegenstandsbereich nachzuzeichnen – eigene Klassifikationen bilden muss, hat Gründe darin, dass (ähnlich wie in der Botanik und Zoologie) die „explikativen Klassifikationen“ nicht nur eine Einteilung, sondern „die Erklärung und Prognose der Praktiken und Eigenschaften der klassifizierten Dinge“ (Bourdieu 1985, 12 [Hervh. i.O.]) ermöglichen sollen, wofür alltägliche Klassifikationen oft nicht die besten Kriterien bieten.36 So sehr sich Bourdieu durch Einbeziehung qualitativen Materials auf anderer Ebene um ‚Lebensnähe‘ bemühte, dient die Konzeption der Klassen damit nicht der Deskription, sondern der Analyse und Erklärung sozialstruktureller Verteilungen und kultureller, politischer und ökonomischer Phänomene. Für diese explikative Funktion spricht Bourdieu im Anschluss an klassische Klassenkonzeptionen der Klassifikation nach Kategorien der Kapitalverfügung eine besondere Kraft zu.

2.3 K APITALVERFÜGUNG , K APITALVERWERTUNG UND DIE B ESTIMMUNG SOZIOÖKONOMISCHER K LASSENLAGEN „[A]uf der Basis des Kapitals als eines gesellschaftlichen Verhältnisses, mit anderen Worten einer sozialen Energie, die Bestand und Wirkung nur in dem Feld hat, in dem sie sich […] reproduziert, [erhält] jedes der klassengebundenen Merkmale Wert und Wirksamkeit durch die besonderen Gesetze eines jeden Feldes[.]“ PIERRE BOURDIEU (1999, 194 [Hervh. i.O.])

Schon die erste bekannte Verwendung des Klassenbegriffs zur sozialen Einteilung bei Servius Tullius (578-534 v.u.Z.) unterschied „classis“ nach der in „facultas“ ausgedrückten Wirtschaftskraft. Kriterium war das Geldvermögen; jedoch meinte facultas auch Vermögen im weiten Sinne von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Möglichkeiten (vgl. Ritsert 1998, 11ff.). Eine derartige Klassifikation nach der im Geldvermögen ausgedrückten quantitativen Verteilung des akkumulierten gesellschaftlichen Surplusproduktes, die auch die Verteilung der über die bloße Subsistenz hinausgehende Handlungsvermögen beeinflusst,37 ist bis heute ein Element jeder Sozialstruk-

36 Auch Milieumodelle weichen bekanntlich von den Selbsteinordnungen der Akteure deutlich ab, was soziologisch jedoch nicht gegen den Gebrauchswert der Modelle spricht, sondern nur deren Anspruch auf „größere Lebensnähe“ (Hradil 1987, 169f.) revidiert. Laut Weber-Menges (2004, 120ff.) denken die Befragten auch in Deutschland weiter „in Klassen und Schichten“, während „keinem […] die Zugehörigkeit zu einem [...] Milieu bewusst war“ (ebd., 125). 37 Vgl. zu dieser allgemeinen Bestimmung: Ritsert 1988 & 1998, 23ff. Ein Surplusprodukt muss nicht notwendig in der Form von Kapital auftreten, so dass auch retrospektiv für Gesellschaften, die irgendeine Form der Vorratswirtschaft und der ungleichen Verteilung aufweisen, von „Klassen“ gesprochen werden könnte.

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turanalyse, die nach dem Zusammenhang quantifizierbarer Variablen von Eigentum und Einkommen mit anderen soziokulturellen Variablen fragt.38 Allerdings bestimmte die politische Ökonomie Klassen primär nicht nach der graduellen Abstufung der Quantität von Besitz und Einkommen, sondern nach der qualitativen Stellung der Individuen in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Produktion und Appropriation. Klassen sind hier ein konstitutives Element in der Funktionslogik ökonomischer Prozesse sowie innerhalb der diese Prozesse ermöglichenden politischen und sozialen Verhältnisse. Ungleichheiten wurden so nicht nur klassifiziert, sondern in einem ökonomischen Funktionszusammenhang analysiert. Die Leitfragen, die Marx von Smith und Ricardo übernahm, waren: „zu welchen systematischen, aus der Logik des Prozesses selbst resultierenden Ungleichverteilungen es in der Wirtschaft kommt [...,] wie diese Ungleichheiten bei den verschiedenen Gruppen verschiedene Verhaltensdispositionen prägen“, wie damit weitere Ungleichverteilungen – etwa der politischen, kulturellen und sozialen Partizipation – verwoben sind und wie sich die daraus resultierenden „Mächteungleichgewichte schließlich zu dauerhaften Strukturen kristallisieren“ (Henning 2007, 91). Obgleich das funktionelle Schema der politischen Ökonomie in der Soziologie meist durch ein quantitativ-graduelles Verteilungsschema verdrängt wurde, unterscheiden sich auch soziologische Klassenkonzepte im engeren Sinne von anderen Klassifikationen dadurch, dass sie die Einordnung nach der Stellung in den gesellschaftlichen Produktions- und/oder Distributionsprozessen mit weiterführenden theoretischen Ansprüchen verbinden. In modernen Gesellschaften bildet dabei die Verteilung von Kapital im weitesten Sinne der produktiv verwertbaren Formen akkumulierter Arbeit das Klassifikationskriterium. Der explanatorische Vorteil im Vergleich zur Verteilung anderer isolierter Merkmale (etwa Präferenzen für Fußballvereine, Musik, Essen, o.ä.) liegt darin, dass die Kapitalverfügung die Ausprägung zahlreicher weiterer Merkmale beeinflusst. Als „Verfügungsmacht über das in der Vergangenheit erarbeitete Produkt (insbesondere Produktionsmittel) wie zugleich über die Mechanismen zur Produktion einer bestimmten Kategorie von Gütern“ (Bourdieu 1985, 10) entscheidet sie darüber, was in einer bestimmten Position der Sozialstruktur möglich und unmöglich ist.39 Entsprechende Klassifikationen eignen sich daher als Ausgangspunkt der Analyse von Wirkungszusammenhängen zwischen sozioökonomischer Position und den Ausprägungen manifester Dispositionen in Lebensführung (Weber) oder Lebensstil (Bourdieu). Sie ermöglichen darüber hinaus die Analyse asymmetrischer Beziehungen von Abhängigkeit, Ausbeutung und Herrschaft, der

38 Auch die konkurrierenden Hauptanbieter der deutschen Sozialstrukturanalyse konnten sich von diesem Einteilungskriterium nie wirklich lösen, ganz gleich, ob man die entsprechenden statistischen Gruppen dann ‚Klasse‘, ‚Schicht‘ oder ‚soziale Lage‘ nennt (vgl. Geißler 2002; Hradil 2004; Kreckel 2004). Luhmann (1998) räumt ein, dass sich entsprechende Annahmen „vorzüglich als Theoriehintergrund für die statistische Auswertung empirischer Daten“ (ebd., 1057) eignen. 39 Die Kapitalverfügung bestimmt z.B. schon auf der oberflächlichsten Beobachtungsebene wesentlich darüber, ob ein Individuum Profit erwirtschaften kann oder Arbeitskraft verkaufen muss, und im letzteren Fall, ob und zu welchem Preis eine Qualifikation (kulturelles Kapital) losgeschlagen werden kann; was an Gütern ver- oder gekauft, was konsumiert werden kann etc.

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Mechanismen der Reproduktion entsprechender Verhältnisse oder der sich aus ihnen ergebenden Konfliktpotenziale. Ob als Ausgangspunkt solcher Analysen im Anschluss an Marx die Stellung im Produktionsprozess oder in Anknüpfung an Weber die Marktposition gewählt wird, ist ein Unterschied, aber kein unvereinbarer Gegensatz. Marx nahm im Kapital den Produktionsmittelbesitz oder die Einkommenstypen Profit, Rente, Arbeitslohn (vgl. MEW 25, 892f.) als primäre Indikatoren zur Bestimmung der Klassen. Daraus sind einige Beziehungen (z.B. Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse) und typische Interessengegensätze40 erklärbar. Diese Einteilung bleibt aber nicht auf die Differenz von Kapital und Lohnarbeit beschränkt. Wird der „Gesamtkreislauf des Kapitals“ zugrunde gelegt, lassen sich auch Mittler- und Mittelklassen der mit der Vermarktung von Gütern und Diensten befassten „Zirkulationsagenten“ erfassen und in Selbständige (kommerzielle Kapitalisten) und lohnabhängige Angestellte unterscheiden – deren wachsende Bedeutung Marx früh prognostizierte (MEW 24, 135ff.; MEW 25, 283ff.). Ebenso fraktioniert sich die Klasse der Kapitalisten nach den Formen, in denen ihr Kapital fungiert (industrielles Kapital, kommerzielles oder Handelskapital, Aktienkapital, Bankenkapital und andere Formen des Finanzkapitals), und nach der Zerspaltung des Mehrwertes „in verschiedene Unterformen“ (MEW 25, 59), die ihren Anteil am gesellschaftlichen Mehrprodukt bilden (industrieller und kommerzieller Profit, Zins, Rendite, Grundrente etc.). Hinzu kämen Klassen, die nicht unmittelbar im Kreislauf des Kapitals fungieren, aber seiner gesellschaftlichen Reproduktion vorausgesetzt sind. Hierzu zählen in vermittelter Form (meist über Steuern) finanzierte Beamte, Staatsangestellte, Professoren, Bürokraten, Literaten etc.41 Weiterhin können „Kleinhändler, Handwerker, Kaufleute“ (MEW 17, 344) oder Kleinbauern berücksichtigt werden. Auch hielt Marx weitere Konkretisierungen durch die Einbeziehung gradueller Abstufungen, die verschiedene quantitative Niveaus von Besitz und Einkommen berücksichtigen, für ein unverzichtbares Instrument jeder empirischen Analyse (vgl. Jasinska/Nowak 1976, 205ff.; Ritsert 1998, 58-68). Neben der Unterscheidung von großen, mittleren und kleinen Kapitalisten betrifft dies vor allem die interne Differenzierung der lohnabhängigen Klasse(n), unter denen die „besser bezahlten geschickten Lohnarbeiter“ höhere Einkünfte haben können als kleine Kapitalisten (MEW 25, 301). Nach den Einkommensniveaus (und dem Grad der Qualifikation) unterschieden sind nach ‚oben‘ „eine besser bezahlte Klasse von Lohnarbeitern“ (ebd., 311) sowie der „bestbezahlte Teil“, die „Aristokratie“ der Arbeiterklasse – etwa die Fachintelligenz der Meister oder Ingenieursberufe – (vgl. u.a. MEW 23, 698), und nach ‚unten‘ verschiedene Fraktionen der „Reservearmee“, zu denen auch Arbeiter im Niedriglohnsektor und in dauerhaft prekären Arbeitsverhältnissen zählen (vgl. ebd., 670ff.). In beide Richtungen prognostizierte Marx eine zunehmende Binnendifferenzierung (s.u. 3.3). Die angeführten Faktoren der Klassenlage ergeben da-

40 So ist die fortgesetzte Valenz der typischen Lohn-, Arbeitszeit- und Arbeitsrechtkonflikte angesichts ihrer medialen Dauerpräsenz kaum zu bestreiten. 41 Dass Marx diesen im Kapital aus Gründen der Vereinfachung ausgeklammerten Klassen (vgl. u.a. MEW 24, 419; MEW 25, 59) für eine konkrete Analyse kapitalistischer Gesellschaften eine wichtige Rolle beimaß, zeigt sich schon in dem breiten Raum, den sie in den zeithistorischen Frankreichstudien einnehmen (vgl. MEW 7, 9-107; MEW 8, 111-207; MEW 17, 313-365 & 493-610; s.u. 3.1).

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bei insgesamt ein kompliziertes Bild von „wechselseitigen Beziehungen“, das auch „Antagonismen in verschiedenen Kategorien“ kennt, „zwischen Bürokraten und Kapitalisten, zwischen spezifischen Kategorien der Arbeiter usf.“ (Jasinska/Nowak 1976, 205; vgl. u.a. MEW 25, 393ff.). Die Einteilung nach der Stellung in den Produktionsverhältnissen erweist sich so als flexibler als verbreitete Darstellungen unterstellen. Solange das Modell aber ausschließlich im Sinne eines engen Ökonomismus verstanden wird, sind manche von Marx’ Klassifikationen (z.B. der Ideologieproduzenten als Fraktion der „herrschenden Klasse“ (MEW 3, 46ff.) nur bedingt nachvollziehbar. Auch der Einfluss qualitativer kultureller Vermögen auf Lebensbedingungen, Praktiken und Einstellungen wird von Marx zwar oft angedeutet, aber kaum systematisch ausgearbeitet, was eine (offen gehaltene) Erweiterung um andere Indikatoren nahelegt. Abgesehen von den quantitiven Differenzierungen böte etwa das „capital fixe being man himself“ (MEW 42, 607) die Möglichkeit, Faktoren wie den Bildungsgrad etc. einzubeziehen: „Das Modell ließe sich durch zahlreiche Schritte […] auf dem Weg seiner Relationierung zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen immer weiter konkretisieren. Je nach semantischer Breite und empirischer Reichhaltigkeit derartiger Konkretisierungen […] tauchen weitere und immanent immer spezifischer bestimmte Klassenlagen auf.“ (Ritsert 1998, 63)

Insofern ist Marx’ Ansatz sensibler für die Erfassung vielfältiger Zusammenhänge zwischen ökonomischen Existenzbedingungen, soziokulturellen Praxisformen und heterogenen sozialen Kräfteverhältnissen als die Verkürzung auf das Grundverhältnis von Kapital und Arbeit erwarten ließe. Gegenüber dieser Einteilung nach der Stellung im Produktionsprozess legte die für die Soziologie folgenreichere Klassendefinition Webers (1984) eine „ursächliche Komponente“ der „Lebenschancen“ im „ökonomischen Güterbesitz- und Erwerbsinteresse [...] unter den Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-)Markts“ zugrunde, betraf also die Distributionsverhältnisse: „‚Klassenlage‘ ist in diesem Sinne letztlich: ‚Marktlage‘“; Grundlage der Einteilung sind „verwertbarer Besitz“ und „auf dem Markt anzubietende Leistungen“ (ebd., 531f.). Der Vorteil des Ansatzes ist die leichtere Differenzierbarkeit nach quantitativer Ressourcenverteilung und die höhere Flexibilität in der Erfassung konkreter Lebenslagen und -stile. Der komplementäre Nachteil liegt in der größeren Beliebigkeit der Klassifikationen. Entsprechende Modelle erreichen im Bemühen, die Differenziertheit der Lebenslagen möglichst adäquat abzubilden, rasch ein hohes Maß an Unübersichtlichkeit.42 Bei einseitiger Ausrichtung auf den Markt können zudem auch die Ursachen der Marktlagen in den Produktionsprozessen aus dem Blick geraten. Der Vorteil an Marx’ Bestimmung ist hier, dass sie aus der Logik des Produktionsprozesses erklärt, warum eine Klasse von Individuen stets mit mehr, eine andere mit weniger anzubietenden Ressourcen auf den Markt zurückkehrt. Allerdings schließen sich Webers und Marx’ Ansätze nicht aus – wie diese etwa Henning (2005, 231ff.) mit sehr pauschalem Votum gegen Weber suggeriert –, sie verhalten sich komplementär: Da Klassenlagen im zirkulären Prozess der Kapitalverwertung reproduziert werden, dessen End- und Ausgangspunkt

42 Vgl. exemplarisch die Kritik bei: Giddens 1979, 126; Hradil 1987, 63f.

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der Arbeits- und Gütermarkt ist, kann man auch über die Marktlage in das Modell ‚einsteigen‘, wie es Marx im Kapital ja selbst tat.43 Umgekehrt ist für Weber die „Verwertbarkeit“ der Güter und Leistungen zur „Erzielung von Einkommen und Einkünften“ nur „in einer gegebenen Wirtschaftsordnung“ (Weber 1984, 223) möglich. Dass sich auf dem Markt „Lohnarbeiter“ und „Unternehmer“ (ebd., 225) begegnen, setzt den „kapitalistische[n] Betrieb“ voraus, der „unmittelbar die Klassenlage der Arbeiter und Unternehmer“ (ebd., 682) bestimmt. „‚Klassen‘ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb von Gütern“ (ebd., 688). In beiden Ansätzen sind Marktlage und Produktionsprozess mithin nur die „Kehrseite der gleichen Medaille. In einem Verhältnis der logischen Kontradiktion stehen sie jedenfalls nicht“ (Ritsert 1998, 83). Produktive Klassenkonzepte der jüngeren Soziologie – zu denen neben den Untersuchungen Bourdieus auch frühe Arbeiten von Giddens (1979) zählen – beruhen daher auf weitere Kapitalformen (z.B. akkumulierte Kompetenzen) berücksichtigenden Verschränkungen der auf Marx und Weber zurückgehenden Ansätze. Bourdieus Klassenkonzept wurde gleichwohl überwiegend als in der Tradition Webers stehende Synthese der Kategorien von Klasse und Stand interpretiert (vgl. Bohn/Hahn 1999, 265; Rehberg 2007, 35). Allerdings bleibt auch in Bourdieus Ansatz die Klassenanalyse an die Analyse gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse gebunden und der Grundbegriff des Kapitals meint (bei allen Erweiterungen der Kapitalformen) keine auf dem Markt vorhandenen und nur noch zu verteilenden ‚Ressourcen‘, sondern einen auf akkumulierter Arbeit basierenden Wert, der in bestimmten historischen Verhältnissen der profitorientierten Verwertung fungiert und dabei zur Erzeugung bzw. Aneignung eines (ökonomischen oder symbolischen) Mehrwerts dient. Als Medien des Austauschs wirken die Kapitalformen dabei zugleich als „Instrumente zur Aneignung der gegenständlichen Produkte gesellschaftlicher Arbeit“ (Bourdieu 1985, 11; s.o. II.2.3). In solchen Bestimmungen knüpft Bourdieus Ansatz deutlich an die marxsche Linie an. Hier ist der – eigentlich triviale, aber angesichts vieler Missverständnisse zentrale – Hinweis zu beachten, dass auch „verbesserte und verfeinerte Indikatoren wie die bourdieuschen Kapitalsorten nur Indikatoren, also Hinweise auf eine theoretisch mögliche und wahrscheinliche Klassen- oder Schichtzugehörigkeit sind und nicht deren Ursache“ (Vester 2002, 69 [Hervh. i.O.]). Sie können daher nicht als Substanzmerkmale verstanden werden, die für sich schon irgendetwas über die auf ihrer Grundlage gebildeten Klassen und ihre relationalen Verhältnisse besagen. Eine Erklärung ist nur aus der Gesamtheit der historisch gewachsenen Austausch- und Kräfteverhältnisse möglich, in denen das Kapital nicht nur in seiner Quantität, sondern auch in seiner Qualität als gesellschaftliche Form und als Medium der Reproduktion eines sozialen Verhältnisses zwischen Klassen erst konstituiert wird. In diesem Sinne (nicht im Sinne irgendeiner Sozialmetaphysik) ist es auch zu verstehen, wenn Bourdieu (1992a) die Aneignung von Kapital durch „Aktoren oder Gruppen“ als „Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit“

43 Das Kapital (MEW 23, 49-191) beginnt bekanntlich mit der Analyse der Warenform und des geldvermittelten Markttausches und leitet erst dann mit der „besonderen Ware“ Lohnarbeit über zur Analyse der Produktion.

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schildert oder Kapital als „vis insita“ bezeichnet, als „Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen innewohnt“ (ebd., 49f.). Es geht hier nicht um Eigenschaften der Dinge oder Kompetenzen, sondern um die Funktionen, mit denen die Dinge und Kompetenzen in sozialen Kräftefeldern aufgeladen werden: Erst „die Struktur des gesamten Feldes“ ermöglicht „die spezifische Wirkung von Kapital“, die darin besteht, als Grundlage einer „Aneignung von Profiten“ dienen zu können (ebd., 58 [Hervh. i.O.]). Für Bourdieus relationales Paradigma ist daher kennzeichnend, dass die den Individuen zugerechneten Kapitalien strikt „beziehungsgebunden sind und für sich selbst, unabhängig von den Beziehungen, nicht existieren“ (Vester 2002, 71; vgl. Bourdieu 1992a, 61; 1987, 224ff.). Die Indikatoren der Kapitalverfügung bieten für sich genommen noch keinerlei Erklärung, sie ermöglichen nur eine differenzierte und methodisch kontrollierte Klassifikationsarbeit. Die darauf basierende Konstruktion eines sozialen Raums bietet dann ein Instrument, eine Grundlage für Analysen und Erklärungen der so erfassten Verhältnisse. Konstruiert wird der soziale Raum anhand der drei Dimensionen von Kapitalvolumen (Summe der Verfügungsmacht über verwertbare ökonomische und kulturelle Formen akkumulierter Arbeit), Kapitalstruktur (Zusammensetzung der verschiedenen Kapitalien) und soziale Laufbahn (Auf- und Abstiegsmobilität) (vgl. Bourdieu 1999, 171-209). Das Kapitalvolumen erlaubt eine vertikale Grobgliederung in obere (strukturell herrschende), mittlere und untere (strukturell beherrschte) Klassen. Die Kapitalstruktur, also die relationale Gewichtung verschiedener Kapitalformen im Verhältnis zueinander, gestattet eine horizontale Fraktionierung der Klassen. Entlang eines durch die Pole ökonomisches Kapital + / kulturelles Kapital - und kulturelles Kapital + / ökonomisches Kapital - markierten Kontinuums lassen sich zum Beispiel verschiedene Fraktionen der strukturell herrschenden Klassen bestimmen. Auf der einen Seite stehen durch ein Übergewicht des ökonomischen Kapitals definierte Unternehmer, auf der anderen die durch ein Übergewicht an kulturellem Kapital definierten Kulturproduzenten und -vermittler (Hochschullehrer, Kunstproduzenten, Intellektuelle etc.), während die durch eine gleichgewichtigere Kapitalstruktur bestimmten freien Berufe und privatwirtschaftlichen Führungskräfte in der Mitte stehen. Ähnlich lassen sich die mittleren Klassenlagen fraktionieren. Die Berücksichtigung des kulturellen Kapitals gibt der Zurechnung der Kulturproduzenten und Kulturvermittler zur herrschenden Klasse, die sich schon bei Marx (MEW 3, 46ff.) fand, eine kategoriale Grundlage. In der dritten Dimension sind Klassen diachron durch die statistischen Relationen „zwischen Startkapital und erreichtem Kapital“ (Bourdieu 1999, 190, vgl. 187f.), also durch ihre soziale Laufbahn bestimmt. So kann die Aufstiegs- oder Abstiegsmobilität der Individuen ebenso berücksichtigt werden, wie die statistische Gesamtentwicklung des jeweiligen Klassenschicksals. Das ermöglicht eine weitere Fraktionierung (z.B. in absteigendes, exekutives sowie neues Kleinbürgertum), die es erlaubt, Auswirkungen der Effekte der individuellen oder kollektiven Laufbahn auf politische und kulturelle Einstellungen zu berücksichtigen, statt diese kurzschlüssig aus der gegenwärtigen Position zu erklären. Solche diachronen Relationen sind wichtig, da „Praxisformen nicht vollständig durch die Merkmale zu erklären sind, die eine zu einem bestimmten Zeitpunkt eingenommene Position im Sozialraum definieren“ (ebd., 190). So lassen sich viele kulturelle Einstellungen nur aus dem Zusammenhang von vergangenen Erfahrungen und zukünftigen Erwartungen

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und Chancen erschließen, etwa wenn trotz gleichem Kapitalvolumen die politischen Dispositionen des neuen Kleinbürgertums von denen des absteigenden Kleinbürgertums drastisch verschieden sind (vgl. ebd., 541-572). Ebenso sind die „immensen Unterschiede“ zwischen den „im objektiven Raum durchaus nahe stehenden Kategorien wie Handwerkern und Landwirten oder Vorarbeitern und Technikern nur dann effektiv begreifbar“, wenn deren „zeitliche Entwicklung“ betrachtet wird (ebd., 709f., vgl. 707-719 & 187-193). Besonders zentral ist die Berücksichtigung diachroner Faktoren in Phasen gesteigerte Mobilität, die auch zur Veränderung der Reproduktionsmechanismen sozialstruktureller Ungleichheit führen, wie Bourdieu dies im Zusammenhang von ökonomischen Umstrukturierungen und Bildungsexpansionen analysierte (vgl. ebd., 210-276; s.u. 4). Gegen verbreitete Vorwürfe der Statik (vgl. u.a. Miller 1989; Hradil 1989) schließt Bourdieus Ansatz so selbst im am stärksten schematisierten Modell diachrone Kategorien von Dynamik und Veränderung ein. Eine soziologische Klasse wird in diesem sozialen Raum „weder durch ein Merkmal [...] noch durch eine Summe [...] noch auch durch eine Kette von Merkmalen“, sondern erst „durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“ definiert, die „jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht“ (Bourdieu 1999, 182 [Hervh. i.O.]; vgl. 1970, 42-74). Erst aus den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen mit Kapitalvolumen, Kapitalstruktur und Laufbahn verbundenen Faktoren lassen sich die konkreten Ausprägungen der kulturellen Dispositionen und der politischen Einstellungen adäquat verstehen, die zudem (wie auch Marx betonte) nicht nur durch die Binnenstruktur der Klassifikationsmerkmale, sondern stets auch durch die Relationen bestimmt werden, die zwischen verschiedenen Positionen des sozialen Raums bestehen. So bestimmen sich die Positionen und Dispositionen der Kulturproduzenten erst in Relation zum ökonomischen Pol der Kapitalverteilung (vgl. Bourdieu 2001a). Ebenso sind die Lebenslagen und Habitusformen der strukturell beherrschten wie der strukturell herrschenden Klassen erst durch die distinkten Positionen definiert, die sie in Differenz zueinander einnehmen. Soziokulturell sichtbar werden die theoretisch objektivierbaren Beziehungen freilich erst, wenn sie sich in besonderen symbolisch distinkten und distinktiven Praktiken und Einstellungen manifestieren. Diese rekonstruiert Bourdieu zunächst unabhängig vom sozialen Raum in einem „Raum der Lebensstile“, der viele Aspekte der seit den 1980er Jahren in Deutschland dominanten Milieuforschungen vorwegnimmt. Der Kern seiner Analysen besteht allerdings im Unterschied zu diesen Ansätzen in der Objektivierung von strukturalen Homologien und Interdependenzbeziehungen zwischen Klassenlagen und Lebensstilen, die zudem eng mit der Analyse gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse verbunden ist. Die Reproduktion und Variation der Klassenverhältnisse wird dabei (anders als bei Marx) auch aus der differenzierten Analyse der symbolischen Mechanismen erklärt, die in den kulturellen Praktiken wirksam sind.

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2.4 S YMBOLISCHE F ORMEN DER K LASSENVERHÄLTNISSE : H ABITUS , D ISTINKTION UND L EBENSSTIL „Es sieht […] ganz so aus, als seien die symbolischen Systeme, der Logik ihrer Betriebsweise entsprechend, […] dazu geschaffen, eine gesellschaftliche Funktion von Trennung und Verbindung zu erfüllen, genauer gesagt: die Unterscheidungsmerkmale auszudrücken, die für die Struktur einer Gesellschaft jeweils kennzeichnend sind, indem sie die konstitutiven Elemente dieser Struktur, Gruppen oder Individuen, der Bedeutungslosigkeit entreißen.“ PIERRE BOURDIEU (1970, 62f. [Hervh. i.O.])

Schon Marx betonte, dass es die „juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen“ sind, in denen sich Individuen der in den Produktionsverhältnissen angelegten Konflikte bewusst werden und sie „ausfechten“ (MEW 13, 9), und es genügt ein Blick in die Darstellungen der Klassenkämpfe in Frankreich (MEW 7, 9-107; vgl. MEW 8, 115-207), um zu bemerken, dass er den symbolischen Formen für das Verständnis konkreter historischer Verläufe keineswegs nur theoretisch eine zentrale Rolle beimaß.44 Der Schwerpunkt seiner gegen den Idealismus gerichteten Argumentation lag aber auf der Rückführung der Ideologien auf ihre materiellen Voraussetzungen, während der „Eigensinn des Überbaus“ (Ritsert 1998, 66ff.) zwar vielen Konzeptionen vorausgesetzt war, aber keine systematische Darstellung erfuhr, so dass Marx’ Analysen in diesem Bereich, „mit Ausnahme seiner Texte zum Fetischcharakter der Ware, sehr schwach“ (Bourdieu 1992a, 45) erscheinen mögen. Demgegenüber verband Bourdieu (vgl. 1970; 1976) die Analyse der Zusammenhänge von objektiver Klassenlage und symbolischen Praktiken mit einer differenzierten Berücksichtigung der relativen Eigenlogik symbolischer Formen. Die Verfügung über ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital bedingt nicht nur die Chancen der Positionierung im ökonomischen Feld konkurrierender Unternehmen oder auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt. Sie gewinnt auch entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung verschiedener kultureller Einstellungen und Praktiken ebenso wie auf den Geschmack für Essen, Musik, Kunst oder Kleidung. Bourdieu hat die Verteilung dieser Präferenzen und Praktiken des Konsums statistisch im ‚Raum der Lebensstile‘ erfasst. Unter Lebensstil versteht Bourdieu – wie schon Simmel (1989a, v.a. 591-716) – die Gesamtheit eines Präferenzsystems, in dem Vorlieben für Nahrung, Kunst und Kultur, Sport, Kleidung, Reisen etc. in ihrem systematischen

44 Die berühmte Einleitungspassage des 18. Brumaire, der zufolge die Menschen „ihre eigene Geschichte“ machen, aber „nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, bezieht sich nicht nur auf ökonomische Umstände, sondern auf die „Tradition aller toten Geschlechter“, welche „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ laste: Gerade wo sie „damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, […] beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (MEW 8, 115)

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Zusammenhang eine in den Konsumpraktiken sichtbare Identität konstituieren. Erklärtes Ziel war es dabei, den beschränkten Kulturbegriff im „normativen Sinn von ‚Bildung‘ dem globaleren ethnologischen Begriff von ‚Kultur‘“ einzufügen, damit „noch der raffinierteste Geschmack für erlesene Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken von Zunge und Gaumen verknüpft wird“, um beides auf die „gesellschaftlichen Bedingungen“ der Produktion kultureller Güter wie „der als legitim anerkannten Aneignungsweisen“ zu beziehen (Bourdieu 1999, 17). Die klassenspezifische Verteilung distinkter und distinktiver Lebensstile – die selbstverständlich nicht meint, dass bestimmte Konsumpräferenzen und Praktiken invariante Merkmale einer bestimmten Klasse wären45 – ist anhand der Homologien zwischen dem sozialen Raum der Kapitalverteilung und dem Raum der Lebensstile auch für Deutschland objektivierbar und gehört wegen der guten Eignung zur Auswertung statistischer Daten zu den am häufigsten aufgegriffenen Aspekten von Bourdieus Werk.46 Eine Erklärung für diese Homologien, die nicht allein auf die ökonomische Konsumtionskraft zurückführbar sind, bietet Bourdieus Theorie des Klassenhabitus,47 der als Vermittlungsglied zwischen objektiven Bedingungen und individuellen Praktiken und Dispositionen fungiert. Da die Kapitalverteilung den Möglichkeitsraum individuellen Handelns bestimmt, macht eine ähnliche Verfügung über Kapitalien die Konfrontation mit spezifischen Bedingungen, Situationen und Handlungsmöglichkeiten wahrscheinlicher. Das begünstigt in einer milieuspezifischen Praxis (also weniger im expliziten Lernen als im praktischen Miterleben und Nachvollziehen) die Ausbildung bestimmter Dispositionen, die als „aktive Präsenz früherer Erfahrungen“ die weitere, in den gegebenen Grenzen immer kreative Praxis „in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, 101) präfigurieren. Habitusformen, also „Systeme dauerhafter Dispositionen, […] die geeignet sind, als [...] Erzeugungsund Strukturierungsprinzip von Praxisformen“ (Bourdieu 1976, 165) zu wirken, sind so in der „Struktur des Systems der Existenzbedingungen“ bedingt, „wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt” (Bourdieu 1999, 279). Das negiert keineswegs die Besonderheit des je individuellen Habitus als „strukturale Variante [...], in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse […] zum Ausdruck kommt“ (Bourdieu 1987, 113), führt aber zu quantifizierbaren Häufungen von Dispositionen, Einstellungen und Praktiken, welche die „Mitglieder der selben Klasse statistisch miteinander gemein haben“ (ebd.).

45 Die Zusammenhänge von Konsumpräferenzen und Klassenlage meinen keine substantiellen Eigenschaften und sind einem beständigen Wandel ausgesetzt (Verallgemeinerung ehemaliger Luxusgüter, Verschiebung der Präferenzen für Sportarten oder Komponisten etc.), in dem jedoch die Relationen verschiedener klassenspezifischer Präferenzsysteme relativ konstant bleiben. Diese statistischen Zusammenhänge werden nicht durch den historischen Wandel oder verschiedene nationale Ausprägungen von Konsumpraktiken widerlegt, wie viele Kritiken an Bourdieu suggerieren. Hradil (1989) verfährt in seiner Kritik besonders ökonomisch, indem er anhand eines[!] Interviews zeigt, dass sich bei einer Person, die ökonomisch dem Kleinbürgertum zugehört, auch einige Einstellungen zeigen, die nicht mit Bourdieus Schilderung des kleinbürgerlichen Habitus übereinstimmen (vgl. ebd., 128ff.). 46 Vgl. Bourdieu 1999, 212f. & 277-354 sowie zu den Lebensstilen einzelner Klassen: ebd., 405-619; vgl. für Deutschland: Vester 1994, 129-166; Vester et al. 2001, 253-451. 47 Vgl. hierzu insbesondere Bourdieu 1987, v.a. 97-179; 1997, 59-78; 1999, 277-354.

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Indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Habitusformen unmittelbare Affinitäten oder Abneigungen evozieren, so dass der Geschmack die Menschen vereint und trennt, wirken die Lebensstilmerkmale auch als Zugangs- und Erfolgsbedingungen in feldspezifischen Praktiken.48 Bereits Marx hatte hervorgehoben, wie gerade die zunehmende Ausweitung und Versachlichung der ökonomischen Beziehungen, die damit gesteigerte prinzipielle Austauschbarkeit der Handlungsagenten und die wachsende Abhängigkeit der Produktion vom Kreditwesen (s.o. III.2) – und mithin von der Einschätzung der Kreditwürdigkeit – dazu führt, dass die Beziehungspflege und Selbstrepräsentation für den individuellen Erfolg eine unabdingbare Vorbedingungen werden: „[D]er Fortschritt der kapitalistischen Produktion schafft nicht nur eine Welt von Genüssen. Er öffnet mit der Spekulation und dem Kreditwesen tausend Quellen der plötzlichen Bereicherung. Auf einer gewissen Entwicklungshöhe wird ein konventioneller Grad von Verschwendung, die zugleich Schaustellung des Reichtums und daher Kreditmittel ist, sogar zu einer Geschäftsnotwendigkeit des […] Kapitalisten. Der Luxus geht in die Repräsentationskosten des Kapitals ein.“ (MEW 23, 620)

Bourdieu hat die Bedeutung von solchen – eng mit dem Lebensstil und den Formen des Konsums verbundenen – kulturellen Zugangsvoraussetzungen und Zugangsschranken für zahlreiche andere Felder aufgezeigt (s.u. 3.4). Über die spezifischen Beiträge hinaus, die Bourdieu hier etwa für eine Theorie der Elitenreproduktion leistet (vgl. Hartmann 2002; 1996), liegt die Prägnanz seiner Analyse aber in der Achtsamkeit für Relationen, die zwischen den Klassen in der symbolischen Dimension manifest werden: Die symbolischen Beziehungen, die zwischen den Lebensstilen schon dadurch bestehen, dass diese sich erst darüber definieren, was sie im Gegensatz zu anderen nicht sind, sind für Bourdieu nicht durch Gleichwertigkeit geprägt. Sie drücken „letztlich Herrschaftsbeziehungen aus“ (Bourdieu 1970, 74), die zwischen den Klassen aufgrund der asymmetrischen Kapitalverteilung und damit der asymmetrischen Möglichkeiten des Handelns bzw. der Artikulation und Durchsetzung von Interessen bestehen. Jenseits einer bloßen ‚Widerspiegelung‘ ermöglicht dabei erst die Eigenlogik symbolischer Ordnungen die Ausbildung der in jeder Machtbeziehung erforderten Kooperation der Unterworfenen und die Anerkennung oder Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse und der eigenen Position in ihnen, ohne die es keine Herrschaft gäbe.

48 Die Wahlverwandtschaften von Habitus und Feld bilden ein von der Sachlogik untrennbares Moment der Feldpraktiken (s.u. 3.4). Vgl. zum ökonomischen Feld: Bourdieu 1998a; 2000a; zum akademischen Feld: Bourdieu 1988, 132-212; zum Feld der Kulturproduktion: Bourdieu 2001a, 340-431; Janing 2002, 97-126.

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2.5 K LASSENVERHÄLTNISSE ALS OBJEKTIVE H ERRSCHAFTSVERHÄLTNISSE „Der private Austausch aller Arbeitsprodukte, Vermögen und Tätigkeiten steht im Gegensatz [...] zu der auf Über- und Unterordnung (naturwüchsig oder politisch) der Individuen untereinander begründeten Verteilung.“ KARL MARX (MEW 42, 92 [Hervh. i.O.])

Von der politischen Ökonomie über Marx und Weber bis zu Bourdieu sahen Klassenkonzepte die Klassenstruktur moderner Gesellschaften durch eine vertikalhierarchische Gliederung geprägt, wobei strukturelle Beziehungen von Ausbeutung und Abhängigkeit sowie asymmetrisch verteilte Möglichkeiten des Handelns und der Beeinflussung fremden Handelns sich in objektiven Macht- und Herrschaftsverhältnissen niederschlagen. Zugleich war dieser Aspekt in den Kritiken am heftigsten umstritten. Ließ sich die generationenübergreifende Stabilität von durch die Kapitalverteilung bestimmten sozialen Lagen kaum leugnen,49 schien die Existenz asymmetrischer Machtverhältnisse oder gar einer relativen Minorität von Individuen in den herrschenden und einer Majorität in den beherrschten Klassen schon durch Verweis auf die ‚freiheitlich demokratische Grundordnung‘ widerlegt, die schließlich formal gleiche Rechte der politischen Partizipation und der Beteiligung an der kommunikativen Aushandlung der geltenden gesellschaftlichen Ordnung garantiert.50 Hinter solchen Einwänden stehen heterogene Begriffsverständnisse von Macht und Herrschaft. So gründeten schon Dahrendorfs (vgl. 1957) Schwierigkeiten, die „herrschende Klasse“ zu finden, darin, dass er nicht von struktureller Herrschaft im Sinne von in der Kapitalverteilung angelegten Dominanzverhältnissen ausging, sondern den Begriff als Aussage über die offen politische Herrschaft einer Gruppe (fehl-)interpretierte.51 Gegen solche politizistischen Deutungen betonte Marx, dass die Macht- und Herrschaftsverhältnisse unter kapitalistischen Bedingungen gerade keine unmittelbar soziale und politische Form mehr haben. (vgl. MEW 42, 92; MEW 3, 75f.) War in früheren Gesellschaftsformen die Aneignung des Surplusprodukts ein untrennbares Moment sozialer und politischer Verhältnisse der Über- und Unterordnung, schließt der geldvermittelte Äquivalententausch, wie oben (II.4.3) gezeigt, diese Form der Herrschaft weitgehend aus. Die Ausbeutung und die Reproduktion der Klassenlagen mit ihren asymmetrisch verteilten Möglichkeiten stellen sich als Ergebnisse einer sachlichen Logik ein, die die formelle Freiheit und Gleichheit der Individuen voraus-

49 Vgl. zu Zugeständnissen gegenüber der „überraschenden Stabilität“ (Beck 1986, 121) grundlegender sozialstruktureller Ungleichverteilung bei Kritikern der Klassentheorie: Bolte/Hradil 1988, 168ff.; Stehr 1994, 220. 50 Vgl. etwa die Kritik bei Honneth 1999, 189-202; sowie ähnliche Kritiken bei Miller 1989; Hradil 1989, 132ff.; Elster 1985, 107ff. 51 Dahrendorfs (1957) Vorschlag, Klassen gleich über den „Anteil an legitimer Macht“ in einem Herrschaftsverband zu bestimmen (ebd., 144f.), stellte die Fragen und Erklärungsangebote von Klassenkonzepten auf den Kopf. Wird Herrschaft als Bestimmungsgrundlage vorausgesetzt, bleibt nur die Tautologie: „Die herrschende Klasse besteht aus den bestimmbaren Trägern der politischen Herrschaftspositionen“ (ebd., 253).

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setzt. Unter diesen Bedingungen nehmen die Modi der Herrschaft nur noch in Ausnahmefällen die Form der sichtbaren „politische[n] Gewalt im eigentlichen Sinne“, der „organisierte[n] Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern“ (MEW 4, 482) an. Auch andere Formen „außerökonomische[r], unmittelbare[r] Gewalt“, werden „nur ausnahmsweise“ angewandt, da für den „gewöhnlichen Gang der Dinge […] der Arbeiter den ‚Naturgesetzen der Produktion‘ überlassen bleiben [kann], d.h. seiner aus den Produktionsbedingungen selbst entspringenden, durch sie garantierten […] Abhängigkeit vom Kapital.“ (MEW 23, 765) Ähnlich wie Marx behandelte Bourdieu (vgl. v.a. 1987, 222-245) den Bedeutungsverlust unmittelbar sozialer Macht- und Herrschaftsbeziehungen als ein zentrales Merkmal kapitalistischer Gesellschaften, in denen sich Herrschaftsverhältnisse über objektivierte gesellschaftliche Mechanismen reproduzieren, so dass „die Besitzer der Mittel zur Beherrschung dieser Mechanismen und zur Aneignung der durch sie erzeugten materiellen und symbolischen Gewinne sich ersparen können, unmittelbar auf die Herrschaft über Menschen ausgerichtete Strategien anzuwenden“ (ebd., 239 [Hervh. i.O.]), da es im Normalfall genügt, „das von ihnen beherrschte System laufen zu lassen, um ihre Herrschaft auf Dauer“ zu stellen (ebd., 236 [Hervh. i.O.]). Anders als in verbreiteten (Fehl-)Interpretationen (vgl. u.a. Elster 1985, 107-113) meint die Kennzeichnung der Klassenverhältnisse als Herrschaftsverhältnisse bei Marx wie bei Bourdieu mithin keine direkte soziale, politische und rechtliche Subordination, wie sie die stratifikatorische Ordnung der Ständegesellschaft prägte. Weder sind die Klassen durch Beziehungen von Befehl und Gehorsam verbunden, noch werden politische Herrschaftspositionen stets aus den Reihen der herrschenden Klasse besetzt oder vertreten ausschließlich deren Interessen. Bereits das kontrafaktische Idealmodell „absoluter Klassenherrschaft“ (Jasinska/Nowak 1976, 188ff.) in Marx Kapital abstrahiert dezidiert von jeder unmittelbar politischen (oder überhaupt bewussten) Herrschaft. Stattdessen geht es um eine aus der Ungleichverteilung von Kapitalformen resultierende Asymmetrie der Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten, hinsichtlich derer eine strukturell privilegierte und eine strukturell dominierte Klasse unterscheidbar sind. Die Reproduktion der Dominanzverhältnisse greift dabei mit den sachlichen Funktionslogiken von Ökonomie, Politik, Bildung, Kulturproduktion etc. derart ineinander, dass die strukturellen Dominanzverhältnisse unabhängig von intentionalen, auf Individuen zurechenbaren Herrschaftsakten bestehen (s.u. 3). Trotz des „deterministischen Zungenschlags“ (Ritsert 1998, 116) solcher Funktionsmodelle sahen Marx wie Bourdieu gesellschaftliche Zusammenhänge nicht als selbstläufige Funktionssysteme, in die sich die zu „Funktionären“ geprägten Individuen widerspruchslos einpassen (vgl. ebd., 113), sondern als dynamische Kräfteverhältnisse, in denen die objektiven Mechanismen stets von Konflikten und Kämpfen beeinflusst sind. Daher bedürfen auch strukturelle Dominanzverhältnisse eines Mindestmaßes an Akzeptanz oder Duldung, wenn sie nicht zur Zielscheibe revolutionärer Umwälzungen werden sollen. Dass die im Kapitalismus strukturell beherrschten Klassen dazu tendieren, „aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze“ anzuerkennen (MEW 23, 765), sich also in die bestehende Ordnung zu fügen, erklärte schon Marx nicht nur aus dem „stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (ebd.), sondern auch aus kulturellen und symbolischen Wirkungen. Wesentliche Aspekte späterer

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Analysen Bourdieus sind in nuce bereits in der bekannten Äußerungen formuliert, der zufolge die „Gedanken der herrschenden Klasse [...] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken [sind], d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht“ (MEW 3, 46 [Hervh. i.O.]; vgl. MEW 4, 480). Diese „Gedankenherrschaft“ (MEW 3, 49) gründet ebenso wie die materielle Macht nicht auf direkten Beziehungen zwischen Personen und hat nicht den Charakter gezielter Ideologieproduktion und Indoktrination.52 Sie beruht auf einer strukturellen Ungleichverteilung: „Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt[!] die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“ (MEW 3, 46)

Es geht hier um die Verteilung der ‚subjektiven’ Kapazitäten zur Bewusstwerdung oder Formulierung von Ideen und auch der objektiven Mittel, die zu ihrer Kommunikation und Verbreitung erfordert sind. Diese Kontrolle über die kulturellen Produktions- und Distributionsmittel führt (jenseits direkter Machtausübung und unabhängig von den Intentionen der Beteiligten) dazu, dass Angehörigen der herrschenden Klasse „auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln“ können (ebd.). Solche Verhältnisse sind unabhängig von gezielten Aktionen der strukturell herrschenden Klasse, zumal Klassen gerade in der Dimension der kulturellen und symbolischen Kämpfe und Dominanzverhältnisse keine homogenen Gruppen meinen. Marx forderte daher, hinsichtlich der ideellen Vertreter einer Klasse die „bornierte Vorstellung“ zu vermeiden, dass diese bewusst und koordiniert „ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wollen“ (MEW 8, 141). Konkret heißt es etwa zum Kleinbürgertum: „Man muß sich ebenso wenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“ (Ebd., 142 [Hervh. i.O.])

Die Übereinstimmung resultiert hier aus dem, was Bourdieu (2001a, 259-270 & 340445) später als „sowohl strukturelle als auch funktionelle Homologie“ (ebd., 259) der Positionen in den Feldern kultureller Produktion und der Struktur des sozialen Raums bzw. des Felds der Macht analysierte. Gesellschaftlich ergibt sich bereits bei Marx das Bild einer arbeitsteiligen Fraktionierung der „herrschenden Klasse“ in die kulturell „aktiven konzeptiven Ideologen [...], welche die Ausbildung der Illusion [...] zu 52 Anders als politizistische Interpretationen des Begriffs ‚Klassenherrschaft‘ (vgl. u.a. Dahrendorf 1957; Elster 1985) unterstellen, ist Marx’ „herrschende Klasse“ also auch in der kulturellen und ideellen Dimension kein Herrschaftsverband und ihre „geistige Macht“ beruht nicht auf einem ideellen Erzwingungsstab (im Sinne von Orwells Gedankenpolizei).

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ihrem Hauptnahrungszweige machen“, und die ökonomisch „aktiven Mitglieder[] dieser Klasse“, die „weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen [...] über sich selbst zu machen“. Das Verhältnis zwischen diesen Fraktionen ist keines der harmonischen Kooperation, vielmehr können die unterschiedlichen Positionen und Interessen zu „Entgegensetzung und Feindschaft beider Teile“ führen (MEW 3, 46f.),53 was in Bourdieus (vgl. 1999; 2001a) Analysen zu den Kulturproduzenten und Intellektuellen als beherrschter Fraktion der herrschenden Klasse eine zentrale Rolle spielt. Die Reproduktion der Dominanzverhältnisse unterstützen die Kultur- oder Gedankenproduzenten aber dort, wo sie (unabhängig von den Intentionen) dazu beitragen, die gegebene Verhältnisse als universell begründet erscheinen zu lassen, was in letzter Instanz dazu beiträgt, die Interessen und Illusionen der dominanten Klassen „als das gemeinschaftliche Interesse aller [...] darzustellen, d.h. [...] ihren Gedanken die Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen, allgemein gültigen darzustellen“ (MEW 3, 47; vgl. MEW 4, 478).54 Die ideell-symbolische Form der Herrschaft ist nicht nur Ausdruck von Machtverhältnissen, sie ist zugleich ein zentrales Moment ihrer Konstitution, wo sie eine Anerkennung oder zumindest stillschweigende Akzeptanz auch auf Seiten der strukturell beherrschten Klassen bewirkt und so deren praktische Mitwirkung an der Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse begünstigt. Die „Überbauphänomene“ sind in diesem Sinne ein konstitutives Moment der Formung der „ökonomische[n] Basis“, die als „objektiver Reproduktionsprozeß […] subjektive Komponenten des ideell/normativen Überbaus“ voraussetzt (Ritsert 1998, 63). In Marx’ Analysen spielte dieses Moment symbolischer Machtverhältnisse aber eine eher periphere Rolle. Insgesamt wurde die Frage nach den Herrschaftsverhältnissen – wie viele Fragen, die die konkrete Gestalt der Gesellschaftsformation betrafen – einer späteren Analyse der empirischen Umstände anheimgestellt. Das führte zu generellen Vorwürfen, „klassentheoretische Analysen“ würden „die herrschende Klasse nicht empirisch [verifizieren], sondern sie strukturgenetisch aus historisch-materialistisch unterlegten Entwicklungsgesetzten [deduzieren]“ (Hradil/Imbusch 2003, 19). Bourdieu maß demgegenüber den symbolischen Formen des Ausdrucks strukturell angelegter Herrschaftsverhältnisse nicht nur theoretisch einen entscheidenden Stellenwert zu (vgl. u.a. Schwingel 1993, 21 & 167-188), er konnte anhand der Stellung klassenspezifischer Praktiken in kulturellen Wertehierarchien, der Chancen des Zugangs zu Politik, Wirt53 In gesellschaftlichen Konfliktsituationen ist es daher auch möglich, dass ein „Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt“ (MEW 4, 471f.), wie auch Bourdieu dies für die Intellektuellen analysierte. 54 Das muss nicht die leicht durchschaubare Form von Slogans wie „Sozial ist, was Arbeit schafft.“ haben, mit denen die Senkung der Lohnkosten, die Auflösung von Tarifbestimmungen und der Abbau sozialer Sicherungen zum allgemeinen Interesse erklärt werden. Auch im Namen der ‚Menschenrechte‘ formulierte Forderungen, die im Fall ‚kleinbürgerlicher‘ Spielweisen des Sozialismus explizit revolutionär auftreten, tragen insofern zur Verstetigung der Herrschaftsverhältnisse bei, als in den Menschenrechten (Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Sicherheit) eine Repräsentation bürgerlicher Eigentums- und Austauschverhältnisse als universell gültig behauptet wird (vgl. MEW 1, 362-367; MEW 2, 92f. & 120f.; MEW 42, 170f.). Marx’ Dekonstruktion der Menschenrechte negiert selbstverständlich weder deren emanzipatorischen Charakter gegenüber vorkapitalistischen Verhältnissen noch die Möglichkeit, dass in der bürgerlichen Gesellschaft konkrete Emanzipationsforderungen an diese geknüpft werden können.

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schaft, Bildung, der Möglichkeit zur Artikulation von Interessen, dem Grad der politischen Partizipation etc. die Ausprägungen struktureller Herrschaft auch empirisch differenziert aufzeigen (s.u. 3.4). Dafür, dass die bestehende Ordnung „grosso modo respektiert wird“ und mit ihren Benachteiligungen und Privilegien „so häufig als akzeptabel oder sogar natürlich“ erscheint (Bourdieu 2005, 7), ist die „symbolische Macht“ entscheidend, „Bedeutungen [...] als legitim durchzusetzen“, wobei die der gesellschaftlichen Ordnung wie der symbolischen Macht zugrunde liegenden „Kräfteverhältnisse verschleiert“ (Bourdieu/Passeron 1973, 12) werden. „Bedeutung“ meint nicht, dass entsprechende Mechanismen auf der Ebene des Bewusstseins wirken. Bourdieu erschien hier der Begriff ‚Ideologie‘ selbst zu idealistisch, da er ein falsches Bewusstsein suggeriert, das qua Kritik auf der Ebene der Vorstellungen korrigierbar wäre: „[V]on ‚Ideologie‘ sprechen heißt das, was in den Bereich des Glaubens, also zu den tiefen körperlichen Dispositionen gehört, in den Bereich von Vorstellungen einordnen, die durch eine geistige Umkehr, die sogenannte ‚Bewusstwerdung‘, verwandelt werden könnten.“ (Bourdieu 2001c, 227)

Demgegenüber kann die symbolische Macht ihren Machtcharakter eben deshalb effektiv vergessen machen, um als „Macht zur Durchsetzung der Anerkennung der Macht“ (Bourdieu 1987, 240) zu wirken, weil sie auf Unterschieden aufbaut, die in die grundlegenden objektiven Ordnungsprinzipien55 ebenso unmittelbar eingelassen sind wie in die einverleibten Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen, die jeder bewussten Erfahrung präreflexiv vorausgehen. In einer Übertragung der marxschen Fetischanalysen (MEW 23, 85ff.) auf kulturelle Werte hat Bourdieu (vgl. 2001a, 360ff.; 1999, 355ff.) herausgearbeitet, dass Kunstgegenstände und Konsumgüter, denen gesellschaftlich konstituierte Werte als substantielle Eigenschaft zugeschrieben werden, den Individuen auch soziale Werthierarchien als objektive Hierarchien kultureller Werte zurückspiegeln. Indem ein Kunstobjekt als „Objektivierung einer Distinktionsbeziehung“ in der Form eines „zum Ding gewordenen Distinktionsverhältnisses“ fungiert, bringt seine Aneignung (jenseits aller Intentionen) wieder „ein soziale Unterschiede implizierendes Verhältnis“ zum Ausdruck (Bourdieu 1999, 356f.), das die objektiven gesellschaftlichen Hierarchien bestätigen und verstetigen hilft. Hier basiert die symbolische Macht nicht auf expliziten (und damit angreifbaren) Geltungsansprüchen, sondern auf der alltäglichen Reproduktion von als selbstverständlich geltenden hierarchischen Unterscheidungen, „zu deren Entfaltung es keiner Worte, sondern nur der Duldung und des stillschweigenden Einvernehmens bedarf“ (Bourdieu 1987, 244). Bourdieu (vgl. v.a. 1999) hat extensiv gezeigt, wie nach Maßstäben des „sensus communis“, jener „Matrix aller Gemeinplätze“ (ebd., 730 [Hervh. i.O.]), in die die fundamentalen Teilungsprinzipien der sozialen Welt eingegangen sind, die KapitalPrivilegien der herrschenden Klassen durch kulturelle Überlegenheit (des Stils, der ‚Kompetenz‘ etc.) ebenso gerechtfertigt scheinen wie die Benachteiligung der Be55 Dazu zählt die Ordnung der Konsumgüter und Werthierarchien ebenso, wie die architektonische und räumliche Gestaltung, Vgl. zur raumsoziologischen Dimension in Bourdieus Theorie zusammenfassend: Löw 2000.

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herrschten in ihrer kulturellen Unterlegenheit. In den symbolischen Kämpfen um die Durchsetzung arbiträrer kultureller Praktiken als „legitime Praktiken“, denen gegenüber andere Praxisformen als illegitim, „unkultiviert“, „kulturlos“ erscheinen, geht es damit immer auch um die „Legitimierung sozialer Unterschiede“ (ebd., 27). Da die Beherrschten wenig kulturelles oder symbolisches Kapital in die Auseinandersetzung einbringen können, entscheidet sich die Bestimmung der „legitimen Kultur“, die als „Herrschaftsprodukt dazu bestimmt [ist], Herrschaft auszudrücken und zu legitimieren“ (ebd., 359), primär zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse. Auch die symbolischen Revolutionen vollziehen sich daher für Bourdieu meist nur innerhalb der herrschenden Klasse (vgl. ebd., 395f.; Bourdieu 1992a, 38f.). Gegenüber den distinkten und distinktiven Praktiken der herrschenden Klassen weisen die Gegensatzpaare der Unterscheidungen, die alles Sprechen organisieren, dem (aus Notwendigkeit geborenen) „Materialismus“ in der „pragmatischen und funktionalistischen Ästhetik“ (Bourdieu 1999, 591) unterer Klassen abwertende Attribute zu.56 Das schließt nicht aus, dass die beherrschten Klassen eine eigene Kultur selbstbewusst pflegen, doch bleibt diese in den Positionierungs-, Verteilungs- und Klassifikationskämpfen, etwa auf dem Bildungsmarkt, wertlos oder hinderlich. Zudem impliziert die „Treue zu sich selbst“ (ebd., 601) in traditionalistischen Milieus ebenso wie in rebellischen Gegenkulturen ein amor fati, eine Anerkennung des sozialen Schicksals, durch das man wurde, was man natürlicherweise zu sein scheint.57 Das begünstigt eine Verkehrung der Ursache-Wirkungs-Relationen, bei der der Habitus, als Produkt der Anpassung an eine soziale Stellung, diese Stellung schließlich der Person angemessen scheinen lässt. Selbst Produkt der an bestimmten Positionen des sozialen Raums wirksamen „Herrschaftseffekte“ (ebd.) und einer „stillen Pädagogik“, die in scheinbar marginalen Anpassungszwängen und Ermahnungen eine „komplette Kosmologie, Ethik oder Metaphysik“ einprägt, kann der Habitus „über die scheinbar unbedeutendsten Einzelheiten von Haltung, Betragen oder körperlichen und verbalen Manieren den Grundprinzipien des kulturell Willkürlichen Geltung“ (Bourdieu 1987, 128 [Hervh. i.O.]) verschaffen. So begünstigt die Ubiquität von Macht und Herrschaft ihre Verkennung, da ihre Effekte in die Fundamente prakti-

56 Expressionen des unterprivilegierten Geschmacks sind „mit dick, fett, gemein, grob assoziiert: gemeiner Rotwein, klobige Holzschuhe, [...] gemeines Lachen, Zoten, gemeiner Menschenverstand“ (Bourdieu 1999, 291). Vorlieben für kalorienreiche und preiswerte Nahrungsmittel (Hülsenfrüchte statt Frischgemüse, Schweinefleisch statt Fisch und Wild) oder für, im doppelten Sinne, billige Unterhaltung (Fernsehen und Radio statt Theater, Konzert, Museum) (vgl. ebd., 294f., 585-601) werden unmittelbar als Ausdruck von Minderwertigkeit beurteilt. 57 Die „Gegen-Schulkultur“ von Arbeiterjugendlichen trägt gerade durch die Weigerung, an „der eigenen Unterdrückung durch Bildung mitzuwirken“ (Willis 1979, 199), zur Reproduktion der geltenden Ordnung bei, da diese Weigerung eine subjektive Anpassung an den objektiven Ausschluss durch das Bildungssystem impliziert (vgl. Bourdieu 1992, 39f.). Dies zu übersehen warf Bourdieu den Cultural Studies vor, deren Rehabilitierung proletarischer Praktiken als Kultur ausblendete, wie sehr sich diese Praktiken der Einrichtung in einen durch strukturelle Zwänge geprägten Möglichkeitsraum verdankt, statt eine frei gewählte Kultur zu sein. Die theoretische Erhöhung zur Kultur hebt die Zwänge ebenso wenig auf, wie die praktische Abwertung dieser Kultur in den Bildungsinstitutionen. Der akademische Kult um die Volkskultur bleibe daher lediglich „eine verbale und wirkungslose, also scheinrevolutionäre Umkehrung des Klassenrassismus“ (Bourdieu 2001c, 96ff.).

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scher Selbstverständlichkeiten und habitueller Selbstverständnisse eingelassen sind. Das „begriffslose Erkennen“ (Bourdieu 1999, 734-740) des Habitus, der als „praktischer Operator für die Umwandlung der Dinge in distinkte und distinktive Zeichen“ (ebd., 374) alle Wahrnehmungen und Reaktionen ganz unmittelbar mit Bewertungsunterschieden auflädt, trägt so tendenziell dazu bei, kulturelle Hierarchien und Anerkennungsverhältnisse performativ zu reproduzieren. Obwohl Bourdieus Studien sich empirisch auf die symbolischen Klassenkämpfe in Frankreich bezogen, ist das analytische Grundgerüst der symbolischen Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung auf andere nationale Kulturräume übertragbar. Zwar ist unbestreitbar, dass ein guter Teil der ‚lebensweltlichen Evidenz‘ der feinen Unterschiede sich den Besonderheiten einer französischen Distinktionskultur verdankte (vgl. Rehberg 2007, 34ff.), was ja ein Hauptargument gegen die Übertragung dieser Analysen auf die scheinbar ganz anders gearteten deutschen Verhältnisse war (vgl. u.a. Hradil 1989, 111-142), jedoch konnten auch für den Fall der BRD, mit ihrer (im Vergleich zu Frankreich) weniger gepflegten Distinktionskultur, die Zusammenhänge von Klassenlage, Habitusprägung und Lebensstil in der Reproduktion der Klassenstruktur vielfältig bestätigt werden. Das gilt für die Homologien zwischen Kapitalverteilung und Lebensstil (vgl. Vester et al. 2001, 253-426) ebenso wie für die Frage der politischen Einstellungen und Partizipationsformen (vgl. ebd., 100ff., 427502; Vester 2002, 74-114). Ein darüber hinausgehendes Verdienst der Untersuchungen von Michael Vester war es in diesem Kontext, auch die emanzipatorischen Potenziale und Bewegungen besser erfasst zu haben, die der (bei Bourdieu mitunter überakzentuierten) Tendenz zur Reproduktion der Klassenverhältnisse entgegenwirken. Da entsprechende Bewegungen und Gruppierungen, die innerhalb sozialer Kräfteverhältnisse die „historische Dynamik der Produktivkräfte“ (Vester 2002, 96 [Hervh. i.O.]) vertreten, auf allen Ebenen des sozialen Raums in der horizontalen Gliederungsebene der Kapitalstruktur auf der Seite des kulturellem Kapitals nachweisbar sind, werden mit Bourdieus Modell auch vielfältige Dynamiken des sozialen Wandels erfassbar (s.u. 3.4.4 & 4). Bourdieu (vgl. 1999, v.a. 210-276) selbst wies darauf etwa im Kontext der Wirkungen von Bildungsexpansion und Bildungsinflation hin. Allgemein erhöhte Bildungschancen führen zwar zur Entwertung der Titel in ihrer gesellschaftlichen Form als kulturelles Kapital, da die Konkurrenz um entsprechende Berufspositionen steigt. Gerade aber durch die damit einhergehende strukturelle Enttäuschung der Aufstiegserwartungen steigen bei der „geprellten Generation“ (ebd., 241ff.) auch die Protestund Kritikpotenziale, da Bildung jenseits ihrer Kapitalform die Qualität eines Reflexions- und Bewusstwerdungspotenzials besitzt. Ähnlich wie bei Marx (vgl. MEW 25, 311f.; MEW 4, 471) begründet dies bei Bourdieu die Hoffnung, dass die Erhöhung kultureller Kompetenzen bei gleichzeitiger Verschlechterung der beruflichen Perspektiven das „Verhaftetsein der beherrschten Klassen […] an den bislang stillschweigend akzeptierten Zielsetzungen der Herrschenden tiefgreifend unterminiert“ (Bourdieu 1999, 276) und damit auch eine „praktische Aufkündigung der doxischen Zustimmung“ zur herrschenden Ordnung (ebd., 243) begünstigen könnte. Bei allen Hoffnungen auf eine bildungsinduzierte Auflösung des ‚symbolischen Schleiers‘ der legitimen Kultur bildet diese jedoch nur ein Moment der Reproduktion der Klassenverhältnisse. Bourdieu, der nicht nur der Theoretiker der Feinen Unter-

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schiede war, betonte selbst, dass in modernen kapitalistischen Gesellschaften die auf Habitusformung und kultureller Distinktion beruhenden symbolischen Reproduktionsmechanismen an Bedeutung verlieren und durch andere Medien der Reproduktion und Legitimation der Klassenverhältnisse in funktional ausdifferenzierten Produktionsfeldern ergänzt oder ersetzt werden.58 Gegen Vorwürfe, nicht die moderne Klassengesellschaft, sondern nur ihre „ständische Ausformung“ (Rehberg 2007, 35) analysiert zu haben, behandelte Bourdieu die Markierung und Euphemisierung der Klassendifferenzen im distinktiven Kulturkonsum als quasi ‚vormoderne‘ Mechanismen. Anders aber als Habermas (vgl. v.a. 2001) oder Luhmann (vgl. 1998; s.u. 3.2), die der ‚Selbstbeschreibung‘ moderner Gesellschaften folgend glaubten, soziale Unterschiede und symbolische Distinktionen würden durch die Umstellung der Gesellschaft auf sachrationale und funktionale Differenzierungsformen zu funktionslosen Residualkategorien, zielte Bourdieu (wie Marx) darauf, die sozialen Verhältnisse sichtbar zu machen, die in kapitalistischen Gesellschaften im Medium sachlicher Formen reproduziert werden. Einerseits sind in diesem Sinne die Habitusprägungen und die kulturellen Wertehierarchien mit den objektiven Funktionen der Felder verzahnt,59 andererseits bleiben symbolische Praktiken der Distinktion ein Fluchtpunkt der Legitimationsbeschaffung, auf den gerade in Zeiten der Krise der automatisierten Reproduktionsmechanismen von Ökonomie, Politik und Bildung vermehrt zurückgegriffen wird: „[D]as Entstehen der von den krassesten Formen der ‚ökonomischen‘ Ausbeutung geweckten Kräfte von Zersetzung und Kritik und die Enthüllung der Mechanismen zur Gewährleistung der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse“ bewirken „eine Rückkehr zu den Akkumulationsweisen, die auf der Umwandlung von ökonomischem Kapital in symbolisches beruhen, wie alle Formen der legitimatorischen Rückverteilung […] (Finanzierung ‚gemeinnütziger‘ Stiftungen, Spenden an Kliniken, Bildungs- und Kultureinrichtungen usw.), durch die sich die Herrschenden ein Kapital an ‚Glaubwürdigkeit‘ verschaffen, das mit der Logik der Ausbeutung nichts zu tun zu haben scheint, oder auch die Anhäufung von Luxusgütern, die ihrem Besitzer hohen Rang und guten Geschmack bescheinigen. Die Verneinung von Ökonomie und ökonomischem Eigennutz, die sich in den vorkapitalistischen Gesellschaften zunächst noch genau auf dem Boden der ‚ökonomischen‘ Geschäfte abspielte und dort ausquartiert werden mußte, damit die ‚Ökonomie‘ als solche entstehen konnte, findet so ihre bevorzugte Zuflucht auf dem Gebiet von Kunst und ‚Kultur‘ als einem […] geheiligten Inselchen, das sich ostentativ von der profanen Welt der Produktion distanziert, einem Hort der Unentgeltlichkeit und Uneigennützigkeit, der wie früher die Theologie eine immaginäre Anthropologie verbreitet, entstanden aus der Verneinung aller Negationen, die die ‚Ökonomie‘ real zustande bringt.“ (Bourdieu 1987, 244f.)

Wo im Gefolge ‚neoliberaler‘ Transformationen die Klassenstruktur der Gesellschaft wieder offener zutage tritt (vgl. Rehberg 2007 & 2005, 27-43) und zentrale Legitima58 Vgl. Bourdieu 2001c, 277ff.; 1987, 222-258; 1976, 335-377; vgl. auch die Passagen zum Bildungssystem und zu den Feldern kultureller Produktion bei Bourdieu 1999, 31-276, 355-399; s.u. V.3.4. 59 Schließlich geht es hier nicht um über den Niederungen sozialer Praxis prozessierende, operativ geschlossene Funktionssysteme, sondern um ausdifferenzierte Praxisfelder, in denen Habitusprägung und kulturelle Hierarchien eine Grundlage der Selektion und Allokation bilden, was zur Reproduktion der Klassenstruktur beiträgt (s.u. 3.4).

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tionskonstrukte – wie etwa die Illusionen von ‚Chancengleichheit‘ und ‚Leistungsgerechtigkeit‘ – zunehmend an Glaubwürdigkeit verlieren, lassen sich auch solche Reaktivierungen ‚vormoderner‘ Herrschaftsweisen vermehrt beobachten. Die Beschwörung einer neuen Generation von Stiftern und Mäzenen, der Boom, den die internationalen Kunstmärkte seit den 1990er Jahren dank der Distinktionsbedürfnisse der ‚Globalisierungsgewinner‘ erlebten, oder die Debatten um eine ‚neue Bürgerlichkeit‘, in denen die Aufwertung bürgerlicher Kulturformen und die komplementäre Abwertung der ‚Unterschichtenkultur‘ die legitimatorische Begleitmusik zur Vertiefung sozialer Spaltungen liefern, sind dafür aktuelle Beispiele.60 Formen des ostentativen Kulturkonsums oder der expliziten Akklamation eines Hegemonieanspruchs bürgerlicher Kulturformen, die in Situationen der Krise und Transformation automatisierter Reproduktionsmechanismen wieder verstärkt aktiviert werden, sind allerdings in dem Maße problematisch und riskant, in dem sie zum Ausdruck eines kenntlichen und damit angreifbaren Geltungsanspruchs und Partikularinteresses machen, was anderenfalls in den unhinterfragten Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung verankert ist. Im ‚normalen‘ Gang gesellschaftlicher Reproduktion wird daher in modernen kapitalistischen Gesellschaften auch die Reproduktion der Klassenverhältnisse durch die Sachlogiken ausdifferenzierter Praxisfelder von Wirtschaft, Bildung, Kulturproduktion und Politik in weit diskreterer und effizienterer Form gewährleistet. Unter den Bedingungen eines objektiven Dominanzverhältnisses, dessen Tendenz zur Selbstreproduktion in ökonomischen, juristischen, kulturellen und politischen Logiken verankert ist, erscheinen subjektive Geltungsund Dominanzansprüche ebenso wie eine offene Konstitution der ‚herrschenden Klasse‘ zum organisierten ‚Herrschaftsverband‘ nicht nur überflüssig (vgl. Kieserling 2006, 185),61 sondern kontraproduktiv. Soll dieses Argument aber nicht darauf verkürzt werden, dass hier eine Gruppe (‚die Kapitalisten‘) sich einer Reihe politischer, juristischer, religiöser etc. Vertreter bedient, die ihre Macht sozusagen als „Leihgabe von den Kapitalisten“ erhielten (Elster 1985, 112),62 müsste sich zeigen lassen, wie jenseits einer Stellvertretung von Gruppeninteressen die funktionellen Logiken von Ökonomie, Politik und Bildung derart aufeinander abgestimmt sind, dass sie auf eine Reproduktion der Klassenverhältnisse hinwirken. Diese Dimension der sachlichen

60 Bei den Propheten der ‚neuen Bürgerlichkeit‘ geht die Überhöhung ‚bürgerlicher Tugenden‘ mit einer radikalen Abwertung anderer kultureller ‚Milieus‘ einher, gegenüber denen auch vom Staat eine Politik der „zero tolerance“ (Nolte 2004, 68ff.) gefordert wird, um dem „universalistischen Anspruch“ bürgerlicher Werte (ebd., 66) wieder Geltung zu verschaffen (vgl. Nolte 2006, 96). Siehe kritisch zu den neuen Bürgerlichkeitsdebatten auch: Heim 2007b; Rehberg 2010 zu Stifterbeschwörung, Kunstmarktboom und den neuen Käuferschichten: Rehberg/Heim/Kaiser 2008. 61 „Eine Gruppe von ökonomischen Funktionären, die sämtliche nicht-ökonomische Institutionen der modernen Gesellschaft auf ihrer Seite hat (vom Staat bis zur Rechtsprechung, und von der Religion bis zur Erziehung), braucht nicht zusätzlich ein Klassenbewusstsein oder eine politische Partei, um mit den eigenen ‚Strategien‘ erfolgreich zu sein.“ (Kieserling 2006, 185) 62 Elster (vgl. 1985, 107-113) verkürzt Marx’ Position auf die Vorstellung, „daß die Staatsmacht ausschließlich ein Werkzeug der ökonomischen herrschenden Klasse“ (ebd., 109) und die relative Autonomie des Staates nur „eine Leihgabe seitens der Bourgeoisie“ sei (ebd., 110), um diese Position zu kritisieren. Marx’ Verständnis des Verhältnisses von Ökonomie und Politik war jedoch deutlich ambivalenter und komplexer (s.u. 3).

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und funktionellen Reproduktion der Klassenverhältnisse haben Marx und Bourdieu in Zusammenhang mit jenen Charakteristika moderner Gesellschaften analysiert, die in der Soziologie üblicherweise mit dem Begriff der ‚funktionalen Differenzierung‘ gefasst werden. In Differenz zu verbreiteten Thesen einer damit verbundenen Auflösung der Klassenstruktur der Gesellschaft, gilt in Bourdieus und in Marx’ Verständnis jedoch: Wer von der modernen kapitalistischen Gesellschaft als ‚Klassengesellschaft‘ sprechen will, kann von der funktionalen Differenzierung nicht schweigen.63 Umgekehrt bleiben die konkreten Formen funktionaler Differenzierung ohne ihre Beziehung zur sozialstrukturellen Differenzierung unverständlich. Diese Verkopplung einer Analyse funktionaler und sozialer Differenzierung soll im Folgenden umrissen werden.

63 Selbst Luhmann (vgl. 1985 & 1998) bestimmt funktionale Differenzierung historisch als Voraussetzung der Klassensemantik. Diese biete „Ansatzpunkte [...] für eine Registrierung radikaler Veränderungen“, lasse aber „die alte Gesellschaft noch nicht aus den Augen“, indem sie an sozialen Rangordnungen festhalte. Mit der Vollendung funktionaler Differenzierung scheinen diese Residuen der ‚alten Gesellschaft‘ dann aber überwunden, weshalb das „Gesamtkonzept zusammenzubrechen“ müsse. (Luhmann 1998, 1055ff.)

3 Gesellschaftsstruktur und Klassenstruktur Funktionale- und soziale Differenzierung in kapitalistischen Gesellschaften

„Es versteht sich, daß da erst die politische Verfassung als solche ausgebildet ist, wo die Privatsphären eine selbständige Existenz erlangt haben. Wo Handel und Grundeigentum unfrei, noch nicht verselbständigt sind, ist es auch noch nicht die politische Verfassung. […] Die Abstraktion des Staats […] gehört erst der modernen Zeit, weil die Abstraktion des Privatlebens erst der modernen Zeit gehört. Die Abstraktion des politischen Staats ist ein modernes Produkt.“ Karl Marx (MEW 1, 233)

Betrachtet man die obige Skizze, wird deutlich, dass nahezu alles, was in der jüngeren Soziologie zur Begründung der Unanwendbarkeit des Klassenbegriffs auf die gesellschaftlichen Konstellationen der Gegenwart vorgebracht wurde, von jeher zu dessen Prämissen gehörte. In Marx’ und Bourdieus Verständnis gehört zu den Voraussetzungen einer kapitalistische Klassengesellschaft etwa: 1. eine entwickelte Arbeitsteilung, die vor allem sachlichen Differenzierungsprinzipien folgt; 2. die gesteigerte soziale Auf- und Abstiegsmobilität zwischen den nach Sachfunktionen definierten Positionen (vgl. MEW 3, 48; MEW 25, 311ff.); 3. mit den beiden genannten Charakteristika eng verbunden: Individualisierung, d.h. eine Gesellschaft, die das „durchgeführte Prinzip des Individualismus [ist]; die individuelle Existenz ist der letzte Zweck; Tätigkeit, Arbeit, Inhalt etc. sind nur Mittel“ (MEW 1, 285); 4. eine weitgehende Versachlichung und Rationalisierung der gesellschaftlichen Organisationsformen. All dies impliziert 5. eine Umstellung der primären gesellschaftlichen Differenzierungsmodi von den unmittelbar sozial-stratifikatorischen Differenzierungsprinzipien der feudalen Ständegesellschaften auf funktionale Differenzierungsprinzipien. Man könnte diese Reihung weiter fortführen und etwa noch Beschleunigung und Flexibilisierung anfügen (vgl. u.a. MEW 23, 668ff.) und indem Marx die verschiedenen Formen funktionaler Ausdifferenzierung früh als eine wesentliche Voraussetzung der Konstitution des modernen Individuums und des Individualismus behandelte (vgl. MEW 1, 283ff.), nahm er ganz nebenbei einen zentralen Gedanken der späteren Soziologie (von Durkheim und Simmel bis zu Luhmann) vorweg, der später mit

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erstaunlicher Regelmäßigkeit gegen die Tragfähigkeit seines Klassenkonzeptes gewendet werden sollte.1 Dies führt zwar zahlreiche konventionelle Argumente gegen Klassentheorien ad absurdum, gleichwohl ließe sich einwenden, dass der Klassenbegriff – auch wo er dieser Verschiebung gesellschaftlicher Differenzierungsformen Rechnung trägt – als Semantik sozialer Ungleichheit für eine Theorie funktionaler Differenzierung dennoch irrelevant ist, da funktional differenzierte Gesellschaften soziale Ungleichheit ‚tolerieren‘ können, ohne in ihren Funktionsprinzipien auf Ungleichheit angewiesen zu sein (vgl. Luhmann 1998; 1985). Dieser Einwand lässt sich nur entkräften, wenn im Folgenden gezeigt werden kann, dass reine Theorien funktionaler Differenzierung (gegenüber Klassenkonzepten) Erklärungslücken aufweisen, wo sie die Verschränkungen funktionaler Prozesslogiken mit der Reproduktion sozialstruktureller Differenzen nicht berücksichtigen. Gegen schematische Polarisierungen von Theorien funktionaler Differenzierung und Klassentheorien ist dabei zunächst (3.1) die Rolle der Analyse funktionaler Differenzierungsformen in den Ansätzen von Marx und Bourdieu genauer aufzuzeigen. Dabei werden vergleichende Bezüge zu Luhmanns Konzept funktionaler Differenzierung hergestellt, da sich gerade an den „oberflächlichen Ähnlichkeiten“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 134) zwischen dessen System- und Bourdieus Feldtheorie die Differenzen kontrastiv verdeutlichen lassen.2 Diese Differenzen liegen nicht in lehrbuchhaften Gegensätzen, denen zufolge für Luhmann funktionale Differenzierung primär ist, während ihr bei Bourdieu „kein Primat zukommt“, sie vielmehr „von einer stratifikatorischen Differenzierung […] dominiert“ sei (Kneer 2004, 40; vgl. Nassehi 2004, 179ff.). Marx wie Bourdieu behandeln funktionale Differenzierung als Voraussetzung (nicht nur als sekundären Effekt) einer modernen, von ständischer Stratifikation unterschiedenen Klassenstruktur. Die Unterschiede folgen keinem dualen Schema, sie ergeben sich aus der Bestimmung der Relation beider Dimensionen. Während Luhmann von der Ablösung stratifikatorischer durch funktionale Differenzierungsformen ausgeht und gegenwärtige sozialstrukturelle Differenzen kaum erklären kann (3.2), ist die Ausprägung der Sozialstruktur bei Marx und Bourdieu eine Folge und eine funktionale Voraussetzung der ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie (Marx) (3.3) oder der Logik verschiedener gesellschaftlicher Felder (Bourdieu) (3.4). Funktionale Prozesslogiken sind von der Reproduktion der Klassenstrukturen nicht zu trennen.

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Wie Henning (vgl. 2007, 94f.) betont, hätte über diese Implikationen des Klassenbegriffs auch schon ein Blick in ältere Lexika informieren können. So heißt es etwa in einem älteren Wörterbuch der Soziologie: „Das Klassensystem ist [...] ein Produkt des Industrialismus und der Gesellschaft, die ihn […] hervorbrachte. Es entstand, weil die industrielle Gesellschaft die folgenden grundlegenden Voraussetzungen schuf: 1. eine weitgehende Arbeitsteilung; 2. eine verstärkte soziale Mobilität zwischen den Klassen und genügend Möglichkeiten für eine solche Bewegung; 3. eine Höherbewertung von individueller Leistung und persönlicher Begabung gegenüber Zuweisung und Erblichkeit als Kriterien der Klassenlage; 4. eine Verlagerung des Schwerpunks von traditionalen auf rationale soziale Organisationsformen.“ (Reissmann 1969, 541) Es sei betont, dass bei so verschiedenen Theoriedispositionen – Nassehi (2004, 156) spricht vom grundverschiedenen „Habitus“ der Theorien – jeder ‚Vergleich‘ durch eigene Theorieentscheidungen angeleitet ist. Nassehis Präferenz für Luhmann ist dabei ebenso deutlich wie die umgekehrte Präferenz für Bourdieu und Marx in dieser Arbeit.

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3.1 B EOBACHTUNGEN FUNKTIONALER D IFFERENZIERUNG M ARX , B OURDIEU UND L UHMANN Wurde Marx oft eine „Extremreduktion der Gesellschaft auf Wirtschaft“ (Luhmann 1988a, 235) unterstellt, die ihn geradezu als Antipoden jeder Theorie funktionaler Differenzierung erscheinen ließ (vgl. Jetzkowitz/Stark 2003, 9f.; Tyrell 2008, 75), galt der „Ausdifferenzierungsprozeß, durch den die unterschiedlichen Felder der symbolischen Produktion sich autonom gemacht und als solche konstituiert haben, womit sie sich aus dem seinerseits im Konstitutionsprozeß begriffenen ökonomischen Universum lösten“ (Bourdieu 2001c, 28), bei Bourdieu stets als Signum moderner Gesellschaften. Auch die Rezeption sah im Feldkonzept den Platzhalter einer „Differenzierungstheorie“, die „von der Theoriestelle her vergleichbar mit […] Luhmanns ‚Subsystemen‘“ sei (Bohn/Hahn 1999, 261).3 Gleichwohl blieb die deutsche Bourdieu-Rezeption entlang der Trennung von Theorien funktionaler Differenzierung und Sozialtheorie polarisiert, wobei Bourdieu primär als Analytiker der sozialen Differenzierungen und Kämpfe galt. Zwar ist es eine Extremposition, Felder nur als „Replikationen“ der Sozialstruktur und „Aspekte des einen Klassenkampfes“ (Rehbein 2006, 116) anzusehen, aber die anwendungsbezogene Attraktivität des FeldKonzepts lag fraglos zunächst darin, jenseits akteurszentrierter Ansätze soziale Kräfteverhältnisse und Strategien zu objektivieren, in denen das, was als ‚rein sachliche‘ Logik von Kunst, Politik oder Ökonomie erscheint, erst im Kontext sozialer Positionierungskämpfe konstituiert wird.4 Diese Fokussierung auf die Objektivierung sozialer Relationen und Konflikte führte am entgegengesetzten Pol der nach sachlichen Logiken fragenden Theorien funktionaler Differenzierung zu Vorwürfen, Bourdieu könne nur die (zudem auf ökonomische Konkurrenz reduzierte) „Sozialdimension“ erfassen, während die „funktionale bzw. sachliche Beschreibung der Feldpraxis unterkomplex“ bleibe (Nassehi 2004, 181f. [Hervh. i.O.]; vgl. 2006a, 265ff.; Kneer 2004, 38ff.; Nollmann 2004, 138ff.). Gegen solche verbreiteten Polarisierungen, die Marx gänzlich und Bourdieu zumindest hinsichtlich des ‚sachlichen‘ Gehalts seiner Analysen in Opposition zu Theorien funktionaler Differenzierung stellen, wurde oben (II.4.2) gezeigt, dass diese Ansätze in der Analyse emergenter und kontingenter gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge und ihrer rekursiven Reproduktion in der Form einiges mit Luhmanns funktionaler Analyse teilen. Hier soll nun genauer auf inhaltliche Gemeinsamkeiten in den Theorien von Marx und Luhmann (3.1.1) sowie von Bourdieu und Luhmann (3.1.2) eingegangen werden, die sich im Hinblick auf die konkreten Analysen der ‚Sachdimension‘ moderner Vergesellschaftungsmodi und Differenzierungsprozesse ergeben. Auf Grundlage dieser Gemeinsamkeiten lassen sich dann umso deutlicher

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Vgl. Krais/Gebauer 2002, 55; Nassehi 2004; Rehbein 2006, 108 & 118f.; Kneer 2004, 26ff.; Weinbach 2004, 57f. Bourdieus Feldkonzept fehlte zwar in keiner Überblicksdarstellung, jedoch blieb die Rezeption lange einseitig auf Die feinen Unterschiede konzentriert (vgl. Schwingel 1993, 78ff.). Erst seit Mitte der 1990er Jahre wird das Feldkonzept vermehrt aufgegriffen. Vgl. zum literarischen Feld: Jurt 1995; zu einer Untersuchung der Berliner Volksbühne: Bogusz 2007; zu einer Analyse des ‚deutsch-deutschen Bilderstreits‘: Heim 2013.

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die Differenzen herausarbeiten, die sich hinsichtlich des Zusammenhangs funktionaler und sozialer Differenzierungsformen ergeben.

3.1.1 Die komplementäre Ausdifferenzierung ökonomischer, politischer und rechtlicher Formen (Marx und Luhmann) „Der Durchstoß des römischen Zivilrechts […] findet – sicher nicht zufällig – vor allem mit denjenigen Rechtsbegriffen statt, die sich dann für eine strukturelle Kopplung von Rechtssystem und Wirtschaftssystem empfehlen, nämlich Eigentum und Vertrag.“ Niklas Luhmann (1997a, 266) „Es ist […] klar, daß dies Recht [das römische T.H.], obgleich es einem Gesellschaftszustand entspricht, in welchem keineswegs der Austausch entwickelt war, doch, insofern er in bestimmtem Kreise entwickelt war, die Bestimmungen der juristischen Person, eben des Individuums des Austauschs, entwickeln […] und so das Recht […] für die industrielle Gesellschaft antizipieren [konnte], vor allem aber dem Mittelalter gegenüber als das Recht der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft geltend gemacht werden mußte.“ KARL MARX (MEW 42, 171 [Hervh. i.O.])

Sieht man von Details und formallogischen Spielereien ab, ergeben Luhmanns historische Skizzen zur Genese funktionaler Differenzierung inhaltlich ein aus Analysen von Marx, Foucault und Bourdieu oder auch von Sombart (1922), Simmel (1989a), Braudel (1986) und Weber (1984; 1986) vertrautes Bild: In den historischen Konstellationen des Spätmittelalters kommt es zur kumulativen Verdichtung der Regelung gesellschaftlicher Beziehungen und Austauschakte um symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie Geld, Macht und Recht, die zunehmend spezifiziert und für die Bearbeitung besonderer Bezugsprobleme universalisiert werden (vgl. Luhmann 1998, 709f. & 316-412). Die Spezifika der ständisch stratifizierten Gesellschaft Europas beförderten diese (funktionale) Ausdifferenzierung zunächst. Die genuin europäische Verbindung der Stratifikation mit einem „politischen Zentralismus“ begünstigte die „Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ (Luhmann 1998, 682f.; vgl. ebd., 713ff.), während die politische und ökonomische „Ressourcenkonzentration in der Oberschicht“ die für die Ausdifferenzierung der Ökonomie zentrale „politisch-rechtliche Regulierung ‚abhängiger‘ Arbeit“ (ebd., 708) anreizte. Zentral war auch das Fehlen von Clan-Strukturen, die als „Sicherheitsnetz“ das „Eindringen von Marktorientierungen, rechtlichen Regulierungen und politischen Zugriffen“ in den Alltag hätten „abfedern“ können (ebd., 709). Gleichwohl wurde die funktionale Differenzierung zunehmend unvereinbar mit den überkommenen Formen sozialer Ordnung, da die differenten, um jeweils ein Medium zentrierten und dessen Zirkulation monopolisierenden Funktionssysteme sich weder an die stratifikatorische Ordnung noch an territoriale Grenzen hielten, sondern diese vielmehr destabilisierten, wobei auch Luhmann (vgl. 1998, 710-724; 1997a, 447-

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468) der Ausdifferenzierung einer geldvermittelten Marktökonomie eine herausgehobene Rolle zuspricht, da diese wesentlich zur Destabilisierung der Ständeordnung beitrug und die durch sie geschaffenen Bezugsprobleme als Triebkraft der Ausdifferenzierung von Recht und Politik wirkten. Die Entwicklungsdynamiken dieser Ausdifferenzierung führten zu einem „‚katastrophalen‘ Umbau“ (Luhmann 1998, 710) der Gesellschaft, der mit der Auflösung der Ständeordnung und mit zahllosen Koordinationsproblemen hinsichtlich des Verhältnisses der Teilsysteme zueinander verbunden war. Evolutiv führen strukturelle und semantische Innovationen in einzelnen Systemen sowie durch strukturelle Kopplungen begünstigte Co-Evolutionen in Ökonomie, Recht und Politik aber zu (labilen) Abstimmungen der differenten Funktionen und Leistungen.5 Da die Funktionssysteme in ihrem funktionsbezogenen Strukturaufbau rekursiv geschlossenen und autonom operieren, gibt es aber keine die Gesellschaft als Ganzes in ihrer Einheit repräsentierende und koordinierende Instanz mehr. Weder die Oberschicht noch der Souverän oder der politische Staat können als übergeordneter Repräsentant der Totalität der gesellschaftlichen Zusammenhänge auftreten, wie schon Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie betonte (vgl. MEW 1, 275-285). Die funktional differenzierte Gesellschaft ist daher eine polykontextuale Gesellschaft ohne Zentrum und ohne eine privilegierte Position, von der aus eine Repräsentation oder Regulation des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs möglich wäre. So lassen sich in der Moderne etwa Wirtschaft und Politik „nicht mehr zur Deckung bringen“ (Luhmann 1998, 723). Zwar bleibt die Politik mit beständigen (und in Krisenzeiten steigenden) Erwartungen konfrontiert, dass das, „was die Wirtschaft an Selbststeuerung nicht […] erbringen könne, eben von der Politik geleistet werden müsse“ (Luhmann 1988b, 325), sie findet aber im Scheitern der Steuerungsfiktionen ihre Grenzen an der Eigenkomplexität der Ökonomie (vgl. ebd., 324-349; Luhmann 1987, 629f.). Die „Einheit der Gesellschaft“ ist unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung dann „nichts anderes als diese Differenz der Funktionssysteme“ in ihrer wechselseitigen „Unsubstituierbarkeit“ (Luhmann 1988a, 216).6 Legt man diese Skizze zugrunde, ergeben sich einige Affinitäten zu Marx’ Verständnis moderner gesellschaftlicher Differenzierung, was Unvereinbarkeiten in den Theorieanlagen nicht nivelliert.7 Luhmann selbst betonte diesbezüglich, dass es kein

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Strukturelle Kopplung liegt vor, „wenn ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verläßt“ (Luhmann 1997a, 441), was „den Bereich möglicher Strukturen, mit denen ein System seine Autopoiesis durchführen kann“, beschränkt, ohne dass „Umweltgegebenheiten nach Maßgaben eigener Strukturen spezifizieren könnten, was im System geschieht“ (Luhmann 1998, 100). Einfach formuliert: Gerichtsurteile kann man nicht kaufen (jedenfalls nicht ohne Rechtsverstoß) und Zahlungsfähigkeit lässt sich nicht politisch herstellen, dennoch setzen Recht, Politik und Ökonomie die Eigenarten des je anderen Bereichs voraus und bedingen und beschränken dessen Möglichkeitsraum. Vgl. v.a. auch Luhmann 1997a, 452-495. Obwohl „alle Kommunikation Gesellschaft reproduziert“ (Luhmann 1987, 643), ist dieses den Zusammenhang aller Teilsysteme umfassende Sozialsystem unerreichbar. „Jedes Funktionssystem operiert in einer für es unkontrollierbaren innergesellschaftlichen Umwelt“ und macht für andere Systeme „deren Umwelt unkontrollierbar“ (Luhmann 1998, 770; vgl. 1997a, 573; 1988b, 67f.; zu den ökologischen Konsequenzen: 1988a). Vgl. zu Affinitäten von Marx und Luhmann ausführlich: Lauermann 1998. Für Marx wäre Luhmanns Fokussierung auf Kommunikation jedoch eine idealistische Verkürzung und die

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anderer als Marx gewesen sei, der als erster den Charakter der modernen Wirtschaft als emergentes Sozialsystem herausgearbeitet habe: „Was an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit bemerkenswert bleibt, ist die Überführung eines Wissens, das sich früher naturbezogen gerechtfertigt hat, in einen sozialen Kontext. Die Wirtschaftsordnung des Kapitalismus folgt nach Marx nicht der Natur wirtschaftlichen Handelns mit eingebauten Trends zur individuellen und kollektiven Rationalität. Sie ist vielmehr eine soziale Konstruktion. Die Referenz auf Natur wird als ‚Reifikation‘ dargestellt, also als Moment der sozialen Konstruktion analysiert. Der Wirtschaftstheorie wird der Anspruch bestritten, eine extra-soziale Objektivität zu vertreten. Sie reflektiert nur die Logik eines sozialen Konstrukts. […] Auch wenn man alles andere aufgibt, dies sollte man beibehalten.“ (Luhmann 1991b, 92f.)

Tatsächlich zeigt Marx’ Behandlung der „Ausdifferenzierung des Ökonomischen, sobald das Geld zum Kapital wird“ (Nassehi 2006a, 327), zahlreiche Parallelen zu Luhmanns Beschreibung. Auch Marx sieht diese Ausdifferenzierung nicht als durch invariante Funktionserfordernisse determinierten Prozess, sondern als historisches Emergenzphänomen, das aus dem kontingenten Zusammentreffen heterogener Faktoren hervorgeht (s.o. IV). Seine Kritik an ökonomischen Theorien, die als gegeben voraussetzen, was in seiner Genese und Funktionslogik zu erklären wäre, gleicht Luhmanns (1998) Kritik an Theorien, die so tun, als ob es „einen natürlichen Trend zum rationalen Wirtschaften gäbe“ (ebd., 707). In beiden Ansätzen verliert „die Anthropologie der Bedürfnisse“ und Kalküle „ihre grundbegriffliche Selbstverständlichkeit“ (Luhmann 1988b, 9). Auch die Unterscheidung der Funktion der Ökonomie von der Leistung der Bedürfnisbefriedung (vgl. ebd., 63ff.) entspricht Marx’ Erklärung der progressiven Dynamik kapitalistischer Güter- und Bedürfnisproduktion aus einer neuartigen Funktion der Ökonomie mit besonderen Bezugsproblemen: Die von Bedarfsdeckungsprinzipien getrennte Verwertung von Wert kreiselt als „Selbstzweck“ (MEW 23, 167) nur um sich selbst, wobei das Kapital als „prozessierender Wert“ (ebd., 170) nur in der Form dieses „Prozesses, der seine eigenen Bedingungen stets reproduziert“ (ebd., 662), existiert (vgl. ebd., 591-604; MEW 24, 351-519). Luhmann (1988b) sieht im „Profitmotiv“ genau diese „Funktion […] der selbstreferentiellen Schließung des Funktionssystems“ (ebd., 57) und wiederholt letztlich genuin marxsche Argumente, wenn er betont, dass diese ökonomische Logik der Profitorientierung von der Qualität der erzeugten Produkte, vom sozialen Rang der involvierten Individuen oder von sozialen Reziprozitätsbeziehungen, die in traditionellen Formen des Austauschs zentral waren, unabhängig ist (vgl. ebd., 55ff.).8

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Setzung von Systemen als grammatische Subjekte eine Fetischisierung gesellschaftlicher Relationen, während für Luhmann (vgl. 1998, 728; 1988a, 235) das Primat der Ökonomie unvereinbar mit der nicht-hierarchischen Ordnung der Subsysteme ist. „In fact ist [der] […] Arbeiter grade ebenso interessiert in dem Scheißdreck, den er machen muß, wie der Kapitalist selber, der ihn anwendet und der auch den Teufel nach dem Plunder fragt.“ (MEW 42, 199) Da Marx die kapitalistische Ökonomie als nicht um Gebrauchswerte, sondern nur um den Tauschwert zentriertes Verwertungssystem analysiert, ist es merkwürdig, wenn Luhmann (vgl. 1988b) die Erkenntnis, dass im „Profit als Gesichtspunkt der Selbststeuerung“ die Wirtschaft unabhängig von „privaten Wertschätzungen“ der Produkte wird, als systemtheoretische Innovation präsentiert und unterstellt, dass die marxistische „Theorie, die Privatwirtschaft abschaffen will, das Gegenteil behaupten muß“. Voll-

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Die wesentlichen Differenzen zwischen beiden Beobachtungen der Ökonomie liegen damit nicht auf der Ebene grundlegender theoretischer Konstruktionsprinzipien, sondern in der Form der Theoriesemantik und in der Tragweite der damit möglichen Analysen. Luhmanns ‚Innovation‘ liegt in der Übersetzung von Profit in die Semantik „progressiver Regeneration von Zahlungsfähigkeit“, um die Beschreibung der Wirtschaft ganz auf der Ebene geldvermittelter Transaktionen zu halten und „alles, was sonst als Grundbegriff der Wirtschaftstheorie fungiert – also etwa Produktion, Tausch, Verteilung, Kapital, Arbeit –, als derivativen Sachverhalt“ zu behandeln (ebd., 54f.). Damit werden „vermeintliche Mehrwertabschöpfungsinteressen des ‚Kapitalisten‘“ (ebd., 55) und strukturelle Ausbeutungsbeziehungen, die sich mit der alteuropäischen Semantik von Kapital und Arbeit beobachten ließen, für Luhmanns Theorie sozialer Systeme unsichtbar (vgl. ebd., 151-176). Diesen systemtheoretischen Rückzug auf formale Beschreibungen der Wirtschaft, die die „Oberflächenstrukturen der Wort- und Begriffsgeschichte“ der Neoklassik als einzige „Datenbasis“ ihrer „Beweisführung“ (Luhmann 1998, 963) nimmt, dabei nur über zahlen/nicht zahlen geregelte Zirkulationsprozesse kennt und Produktion und Arbeit in die Umwelt verweist, 9 träfe dann Marx’ Kritik an der Vulgärökonomie: Sie beobachtet mit der „Geldzirkulation“ nur „die oberflächlichste […] und abstrakteste Form des ganzen Produktionsprozesses“, die aber „an sich selbst durchaus inhaltslos [ist], außer soweit ihre eignen Formunterschiede […] ihren Inhalt bilden“ (MEW 42, 681). Jedoch könne diese „einfache Geldzirkulation, an sich selbst betrachtet, nicht in sich selbst zurückgebogen“ (ebd.) sein, da sie nur der Vermittlung eines Äquivalenttauschs dient und so als Selbstzweck (d.h. im Austausch absolut äquivalenter Geldquanta) sinnlos wäre. Wo im Profit die ‚rekursive Schließung‘ (Luhmann 1988b, 55ff.) oder, in Marx’ Worten, eine „Rückbiegung“ stattfinde, „erscheint die Geldzirkulation als bloße Erscheinung einer hinter ihr liegenden und sie bestimmenden Zirkulation“, da etwa „die Geldzirkulation zwischen Fabrikant, Arbeiter, Shopkeeper und Bankier“ nur die mediale Form ist, in der die Zirkulation von Arbeitsquanta und Produkten sowie die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den entsprechenden Klassen vermittelt wird. Damit seien aber auch „die Ursachen, die die Masse der in Zirkulation geworfnen Waren, das Steigen und Fallen der Preise, die Geschwindigkeit der Zirkulation, das Quantum der gleichzeitigen Zahlungen etc. betreffen“ – also letztlich die Erklärungsgründe aller ökonomischen Erscheinungen – von Umständen abhängig, „die außerhalb der einfachen Geldzirkulation selbst liegen. Es sind Verhältnisse, die sich in ihr ausdrücken; sie gibt sozusagen die Namen für sie her; aber aus ihrer eignen Differenzierung sind sie nicht zu erklären.“10 (MEW 42, 681f. [Hervh. i.O.]) endet absurd wird es, wenn aus der Gleichgültigkeit der Ökonomie gegen den Gebrauchswert gefolgert wird, dass „die Privatwirtschaft [...] seit langem schon abgeschafft [ist]“ (ebd., 56, Fn. 22). 9 Wirtschaft ist für Luhmann (1988a) nur in Geldtransaktionen involviert, „nicht jedoch bei dem Pumpvorgang, der Öl aus dem Boden holt“ (ebd., 101; vgl. 1987, 625ff.). Damit übernimmt er den ‚blinden Fleck‘ der Neoklassik. 10 Luhmann (1988b) weiß selbstverständlich um die entsprechende „Nichtigkeit“ des Zahlungsverkehrs: „Er produziert im Maße der Summe, die gezahlt wird, immer zweierlei: Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit, also nichts“ (ebd., 134). An der entsprechenden „Paradoxie“ der Wertschöpfung interessiert ihn aber nur die systeminterne Entparado-

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Trotz aller Differenzen der Analysen, die daraus resultieren, dass Marx nach dem Inhalt der in der Geldzirkulation heraustretenden Formen fragt, wo Luhmann sich auf formale Rekonstruktionen beschränkt, bildeten die Übereinstimmungen in den Formen der Beobachtung der selbstreferentiellen Logik der Ökonomie und ihrer historischen Ausdifferenzierung einen Hintergrund der häufigen Konversion einstiger Marxisten zur Systemtheorie (vgl. Henning 2005, 321f.; Lauermann 1998). Entsprechende Konvergenzen wurden auch in der systemtheoretischen Gemeinde bemerkt (vgl. Nassehi 2006a, 227f. & 415f.). Jedoch galt Marx’ Theorie dort insgesamt als Ansatz, der die Eigenlogik und Eigendynamik anderer Ausdifferenzierungsprozesse (in Politik, Recht, Kunst etc.) negiere. Nun sprach Marx zwar der „Analyse des Kapitals in seiner Kernstruktur“ (MEW 25, 278) eine Schlüsselrolle für das Verständnis der modernen Gesellschaft zu, ohne aber damit die gesellschaftlichen Beziehungen in ihrer Gesamtheit auf Wirtschaft zu reduzieren. Die historische Rolle ökonomischer Ausdifferenzierung als Triebkraft und Bedingungsrahmen politisch-rechtlicher Entwicklungen, stellte auch Luhmann, der theoretisch jedes Primat der Ökonomie ausschloss, nie in Frage: Es ist die „Geldwirtschaft“, die sich seit dem „Mittelalter der territorialpolitischen Kontrolle“ entzieht und eine „internationale Arbeitsteilung“ organisiert, welche dann „ihrerseits das politische Schicksal der Territorien mitbestimmt“ (Luhmann 1998, 710). Die damit freigesetzte ökonomische „Dynamik außerhalb von politischen Kontrollen“ befördert die Auflösung der Ständeordnung und die Ablösung des politischen Systems vom Adel (ebd., 723ff.). Das Recht wird für „Folgeprobleme dieser Entwicklung aktiviert, etwa als Eigentums- und Vertragsrecht für die Freiheitsnotwendigkeiten der Geldwirtschaft“ (ebd., 713). Umgekehrt sah Marx die historische Genese der kapitalistischen Ökonomie gerade nicht als selbstläufigen ökonomischen Prozess, sondern benannte historisch kontingente politische, religiöse, kulturelle Faktoren, die der Ausdifferenzierung der Ökonomie als außerökonomische Bedingungen vorausgesetzt waren. So betont er, man müsse nicht nur (wie Proudhon) das Grundeigentum, sondern ebenso „Kapital und Lohnarbeit […] außerökonomischer Entstehung bezichtigen“, denn die Verwandlung der objektiven Bedingungen der Arbeit in Kapital, der Arbeit in Lohnarbeit sowie die Form ihres Austauschs „unterstellt einen historischen Prozeß“, in dem die „Entstehungsgeschichte des Kapitals und der Lohnarbeit“ von zahllosen gesellschaftlichen Faktoren bestimmt wurde: „Die außerökonomische Entstehung des Eigentums heißt nichts als die historische Entstehung […] der Produktionsformen, die durch die Kategorien der politischen Ökonomie […] ausgedrückt werden.“ (MEW 42, 396f. [Hervh. i.O.]; s.o. IV) Um Marx’ Verständnis der Entsprechungen und wechselseitigen Bedingungsrelationen ökonomischer, rechtlicher und politischer Verhältnisse und Formen (gegen ökonomistische Verkürzungen) gerecht zu werden, ist an seine Bestimmung der kapitalistischen Gesellschaft als werdende konkrete Totalität zu erinnern. Es handelt sich um einen dynamischen gesellschaftlichen Zusammenhang, der keiner apriorischen geschichtsphilosophischen Entwicklungslogik gehorcht, da er erst im Effekt des Zu-

xierung: Das „Kapitalproblem“ reduziert sich auf ein „Zeitproblem“: „Wer warten kann, kann […] einen ‚Mehrwert‘ herauswirtschaften“ – die älteste und nichtssagendste ‚Erklärung‘ (oder besser Rechtfertigung) des Profits als Lohn der Geduld und „Kompensation für das Risiko“ (ebd., 136).

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sammentreffens heterogener Entwicklungslinien als „objektiver Zusammenhang […] naturwüchsig entsteht“: Er geht „zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervor“, ist „aber weder in ihrem Bewusstsein“ präsent, noch kann er „als Ganzes unter sie subsumiert“ werden. „Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht“, in der die Subjekte „ihre Wechselwirkung als von ihnen unabhängigen Prozeß“ erleben (MEW 42, 127). Als Totalität objektiver Relationen ist das „organische System“ der bürgerlichen Gesellschaft bedingt in der historischen Konstitution seiner Elemente, wird aber selbst zum Bedingungsrahmen, der jedem seiner Momente seine konkrete Bestimmtheit verleiht: „[S]eine Entwicklung zur Totalität besteht eben [darin], alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen“ (ebd., 203). Marx sah es zwar als spekulativ an, objektive Systeme von Relationen als autopoietische Erzeugungssubjekte zu behandeln, ging aber davon aus, dass der gesellschaftliche Zusammenhang eine immanente Logik entwickelt, die den Möglichkeitsraum des Handelns und der Ausformung konkreter Verhältnisse bedingt. Es ist dann die „immanente Logik“ des Zusammenhangs, die „die verschiedenen Komponenten koordiniert“ und „Abweichungen und Ungleichmäßigkeiten zu korrigieren neigt“ (Basso 1975, 20), ohne sie deshalb selbst zu erzeugen. Innerhalb dieses Zusammenhangs haben die Bedingungen und Erfordernisse der Produktionsweise eine strukturelle Dominanz, insofern sie auch politische, wissenschaftliche, kulturelle und rechtliche Entwicklungen prägen, die aber nicht auf die Ökonomie reduzierbar sind. Die „Glieder einer Totalität“ sind „nicht […] identisch [...], sondern […] Unterschiede innerhalb einer Einheit“ (MEW 42, 34), die erst durch die Differenz der einzelnen Momente bestimmt wird. Politische, rechtliche und kulturelle Formen haben deshalb keine unabhängige Existenz, sehr wohl aber eine relative Autonomie als bedingte und bedingende Elemente des gesellschaftlichen Zusammenhangs, der nur aus der „Wechselwirkung dieser verschiednen Seiten aufeinander“ (MEW 3, 38) verstehbar ist.11 Dass „jede Form der Produktion ihre eignen Rechtsverhältnisse, Regierungsform etc. erzeugt“ (MEW 42, 23), meint hier schon deshalb keine mechanische Kausalität, da die Genese von Produktionsweisen, Rechtsverhältnissen und politischen Formen keiner logischen Chronologie gehorcht und die „Disproportion“ der Entwicklung verschiedener Momente „innerhalb praktisch-sozialer Verhältnisse“ als Normalfall gilt. So können „Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten“, etwa wenn historisch ältere Rechtsformen Kompatibilitäten mit historisch späteren Produktionsweisen entfalten, wie „das Verhältnis des römischen Privatrechts […] zur modernen Produktion“ zeigt (ebd., 43, vgl. ebd. 171). Aufgrund des kontingenten Charakters solcher historischer Koinzidenzen, die Luhmann (vgl. 1997a, 264ff. & 452-468) gerade hinsichtlich des Zusammenhangs rechtlicher und ökonomischer Entwicklungen ganz ähnlich verzeichnete, forderte Marx, den „Begriff

11 Engels wendet sich 1893 gegen die „blödsinnige Vorstellung“, er und Marx sprächen, indem sie „den verschiedenen ideologischen Sphären, die in der Geschichte eine Rolle spielen, eine selbstständige historische Entwicklung“ absprachen, „ihnen auch jede historische Wirksamkeit ab. Es liegt hier die ordinäre, undialektische Vorstellung von Ursache und Wirkung als starr einander entgegengesetzten Polen zugrunde, die absolute Vergessung der Wechselwirkung.“ (F.E., MEW 39, 98)

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des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion“ (MEW 42, 43), also nicht als einen Prozess der klar gerichteten lineareren Entwicklung zu fassen. Eher bietet sich, auf der Ebene funktioneller Betrachtung, ein evolutives Verständnis an, in dem ungleichzeitige und heterogene Entwicklungen verschiedener Momente in praxi durch Variation, Selektion und Adaption zu neuen Entsprechungsverhältnissen und Disproportionen führen.12 Gegen die reine Selbstläufigkeit evolutiver gesellschaftlicher Prozesse, die Luhmanns (vgl. v.a. 1998, 413-594) Evolutionstheorie mitunter suggeriert, schließt das aber den Einfluss bewusster sozialer Aktionen ein. „Störungen“, die eintreten, wo die einer Produktionsweise „entsprechenden gesellschaftlichen Zustände erst entstehn oder wenn sie schon vergehn“ (MEW 42, 23), führen nicht durch sachliche Automatismen zu neuen gesellschaftlichen Formen, sondern nur, wo sie reflexive Verhältnisse zu den gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen und Kämpfe um ihr Veränderung begünstigen, die ihrerseits nicht voluntaristisch zu verstehen sind, sondern Grundlagen in den in der bestehenden Gesellschaft entwickelten Potenzialitäten haben.13 Unabhängig davon, ob sich die Genese evolutiv oder revolutionär vollzieht, erfordert die Ausdifferenzierung einer kapitalistischen Ökonomie gravierende Transformationen der rechtlichen und politischen Verhältnisse: Frühere (patriarchalische, antike und feudale) Formen der politischen und rechtlichen Organisation „verfallen daher ebensosehr mit der Entwicklung des Handels, des Luxus, des Geldes, des Tauschwerts, wie die moderne Gesellschaft in gleichem Schritt mit ihnen emporwächst.“ (MEW 42, 91) Diese moderne Gesellschaft erscheint bereits in den Frühschriften als funktional differenziert, insofern sich mit der Auflösung der Ständeordnung parallel zur Ausdifferenzierung der Ökonomie die Ausdifferenzierung einer auch von der Religion unterschiedenen gesonderten politischen „Sphäre“ vollzieht, in der ökonomische Unterschiede keinen Unterschied machen (vgl. MEW 1, 285f.). Indem „auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben“ gilt, sobald die politische Verfassung „den Zensus für aktive und passive Wählbarkeit aufhebt“, werden „Unterschiede der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung […] unpolitische Unterschiede“ (ebd., 354 [Hervh. i.O.]). Dies bedeutet aber keineswegs, dass

12 Vgl. zur evolutionistischen Interpretation von Marx: Haustein 1998; Weise 1998; Lauermann 1998. Marx war bekanntlich ein Bewunderer von Darwins Evolutionstheorie und betonte im Briefwechsel Analogien. Die Revolutionstheorie widerspricht dem nicht. Revolutionen gelten als besondere Form evolutiver Veränderungen in Verhältnissen mit ausgeprägten Klassenspannungen: „Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es […] keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein.“ (MEW 4, 182 [Hervh. i.O]) 13 Als „selbstbewußte Teilnahme“ am „geschichtlichen Umwälzungsprozeß“ (MEW 14, 439) setzen revolutionäre Aktionen evolutionäre Umwälzungen, in denen Potenziale anderer Formen der Vergesellschaftung „ausgebrütet“ werden, voraus. Revolutionen sind „Geburtshelfer“, wo die „alte Gesellschaft […] mit einer neuen schwanger geht“ (MEW 25, 779), sie machen aber – in einer Formulierung Hannah Arendts (vgl. 1970, 15) – die neue Gesellschaft ebenso wenig wie die Hebamme das Kind. Vgl. zum Zusammenhang evolutiver und revolutionärer Momente: MEW 42, 93; Basso 1975, 47-135. Im theoretischen Metanarrativ versucht Luhmann (1987, 488-550), die Rolle sozialer Konflikte für die gesellschaftliche Evolution in ähnlichem Sinne zu integrieren, fordert aber die Soziologie auf, die „penetrante Suche“ nach „Gründen des Konflikts, ihr marxistisches Erbe also“, aufzugeben (Luhmann 1998, 469).

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entsprechende Differenzen verschwinden, sondern vielmehr, dass sie in einer anderen, nicht mehr politischen Logik reproduziert werden. Erst mit der Ausdifferenzierung des politischen Staates können „das Privateigentum, die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise, d.h. als Privateigentum, als Bildung, als Beschäftigung wirken und ihr besondres Wesen geltend machen.“ Statt „diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiert“ der moderne Staat „vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung“, da „seine Allgemeinheit nur im Gegensatz“ zu diesen Momenten gründet (MEW 1, 354f.). Erst die Verselbständigung verschiedener gesellschaftlicher Funktionen gegeneinander und gegen die unmittelbar sozialen Beziehungen erlaubt die Ausbildung der je eigenen Logiken und der immanenten Universalität ökonomischer, politischer und religiöser Prinzipien, die, indem sie in Gegensatz zueinander treten und sich wechselseitig negieren, als Momente eines gesellschaftlichen Zusammenhangs fungieren, dessen Einheit sich erst in dieser Differenz herstellt, ohne politisch dargestellt werden zu können. Daraus begründete sich auch Marx Kritik an Hegel, der mit der „Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staats“ – d.h. von Ökonomie und Politik14 – „einen modernen Zustand“ (ebd., 276f.) voraussetzt hatte, in seiner „allgemeinen Staatsillusion“ (ebd., 268) aber im Staat, dem Monarchen und den Ständen „Repräsentant[en] einer Identität“ suchte, die in diesem modernen Zustand „nicht vorhanden ist“ (ebd., 277) und nicht vorhanden sein kann.15 In Abgrenzung gegen den Staatsidealismus, dem politische Ideen einseitig als die Ursache oder als der alle Differenzen integrierende Repräsentant realer gesellschaftlicher Zusammenhänge galten, werden politische und juristische Formen bei Marx in der weiteren Werkentwicklung als Moment eines praktischen Zusammenhangs behandelt: „Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen ‚Willen‘ abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats“, welche „keineswegs von der Staatsmacht geschaffen“ werde (MEW 3, 311). Diese praktische Basis besteht relativ unabhängig davon, ob „irgendein politischer oder religiöser Nonsens […] die Menschen noch extra zusammenhalte“ (ebd., 30; vgl. MEW 4, 109; MEW 2, 128).

14 Bei Hegel (1995, v.a. 339-398) meint der Begriff ‚bürgerliche Gesellschaft‘ primär die ausdifferenzierte Ökonomie. Aufgrund der von ihm konstatierten Widersprüchlichkeit und höchsten Zerrissenheit, in der diese sachliche Form der Vergesellschaftung resultiert, bedurfte es aus Hegels Sicht des Staates als übergeordneter, die unmittelbaren Sozialbeziehungen (Familie) und die versachtlichten Austauschbeziehungen (bürgerliche Gesellschaft) integrierender Syntheseinstanz (vgl. ebd., 398-440). Das bleibt ein für spätere Begründungen des Sozialstaates prägendes Prinzip. 15 Erst die Herauslösung einzelner Funktionen aus der stratifikatorischen Ständeordnung erlaubt die Entfaltung genuin politischer, ökonomischer etc. Prinzipien „in ihrer praktischen Universalität“ (MEW 2, 124; vgl. Luhmann 1998, 720f.). Marx wendete sich damit gegen Hegels Vorstellung einer teleologischen Aufhebungsbewegung mit dem Staat als finaler Synthese: „In der Wirklichkeit bleiben Privatrecht, Moral, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat etc. bestehn, nur sind sie zu Momenten geworden […], die nicht isoliert gelten, sich wechselseitig auflösen und erzeugen etc.“ (MEW 40.1, 581f.). Die Differenz zur Ökonomie ist für den Staat konstitutiv: „Wollte der moderne Staat die Ohnmacht seiner Administration aufheben, so müßte er das jetzige Privatleben aufheben. Wollte er das Privatleben aufheben, so müßte er sich selbst aufheben, denn er existiert nur im Gegensatz zu demselben.“ (MEW 1, 402)

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Diese gegenüber dem Idealismus deutliche Relativierung bedeutet aber keineswegs, dass Politik und Recht zu irrelevanten oder nur sekundären Größen erklärt würden. Bereits die entscheidende Rolle, die Marx der Veränderung der politischen und rechtlichen Formen für gesellschaftliche Umwälzungen zuwies, zeigt, dass er diese Sphären als aktive und dynamische Momente der gesellschaftlichen Verhältnisse verstand. Die Arbeiten zur Pariser Kommune, deren Dezentralisierung, Dynamisierung und Enthierarchisierung des politischen Lebens Marx utopisch überhöhte, sind als historische Analysen sicher weit kritischer zu betrachten als andere Schriften. Die Behandlung der Verfassung der Kommune, welche als die „endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen“ könnte (MEW 17, 342) idealisiert wird, verdeutlicht aber zumindest, dass Marx die politischen Formen nicht nur als einen Reflex der Ökonomie verstand, sondern auch als eine Voraussetzung jeder Veränderung der ökonomischen Verhältnisse.16 Politische Formen erzeugen zwar nicht (wie in den Vorstellungen des Staatsidealismus) aus sich selbst heraus die gesellschaftlichen Verhältnisse, sie sind aber eine wichtige Bedingung und das zentrale Medium ihrer historischen Aus- und Umgestaltung. So hielt Marx eine wirkliche Emanzipation nur für möglich, wenn zuerst überkommene politische Formen des zentralistischen Staates und der Interessendelegation überwunden würden (vgl. u.a. MEW 17, 592; s.u. 3.4.4). Die dafür vorausgesetzte relative Autonomie der Politik wird bereits in der Variabilität der mit dem Kapitalismus vereinbaren politischen Formen deutlich: „Die ‚heutige Gesellschaft‘ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert […], mehr oder weniger durch die besondre geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der ‚heutige Staat‘ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im deutschen Reich als in der Schweiz […]. ‚Der heutige Staat‘ ist also eine Fiktion. Jedoch haben die verschiednen Staaten […,] trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, daß sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn […]. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein“ (MEW 19, 28).

Die politischen Formen sind autonom, insofern der Aufbau konkreter politischer Strukturen (der Verfassung, der Regierung, der politischen Partizipation etc.) nicht direkt von der Wirtschaftsweise determiniert ist. Diese Autonomie ist aber relativ im Verhältnis zur Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem politische und ökonomische Formen vereinbar sein müssen. Deshalb konnte Marx auch davon ausgehen, dass alle „Revolutionen der französischen Bourgeoisie […] die bürgerliche Ordnung bestehen [ließen], sooft auch die politische Form […] wechselte“ (MEW 5, 135; vgl. MEW 8, 32). Diese begrenzte Varianz der mit der ökonomischen Form kompatiblen politischen Formen betrifft die für die Wirtschaftsweise erforderten politisch-rechtlichen Leistungen – ein Eigentums-, Vertrags-, Erb- und Steuerrecht, die Garantie der Währungssicherheit oder die Regulierung sozialer Folgeerscheinungen der Wirtschaftsweise –, aber auch grundlegende Strukturmerkmale moderner Politik, die den ökonomischen Formen der Freiheit und Gleichheit der Individuen tendenziell

16 Vgl. MEW 17, 591-597, 538-549 & 336-350; MEW 8, 197f.; vgl. daran anknüpfend: Basso 1975; Hochberger 1974; Abendroth 1967.

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entsprechen müssen. In diesem Sinne ist der „vollendete moderne Staat“ der rechtsund verfassungsstaatliche „demokratische Repräsentativstaat“ (MEW 2, 121), in dem eine verselbständigte „Regierungsmaschine“, die „einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet“ (MEW 19, 29), die sozialen und persönlichen Privilegien und Machtbeziehungen der Ständegesellschaft suspendiert, 17 womit die Individuen auch der Politik gegenüber als freie und gleiche gesetzt sind. Diese politische Form ist mit der ökonomischen Form nicht identisch und geht nicht notwendig aus ihr hervor, sie ist ihr aber in besonderer Weise strukturell und funktionell homolog. Die objektive Homologie impliziert keine Reduktion des Staates auf einen Reflex der ökonomischen Basis oder auf den Exekutivagenten eines partikularen Klasseninteresses. Eine relative Autonomie der Politik wäre vielmehr selbst dann gegeben, wenn der Staat nur der „ideelle Gesamtkapitalist“ und die „kapitalistische Maschine“ (F.E., MEW 19, 222; vgl. MEW 20, 260) zur Aufrechterhaltung der Produktionsweise wäre, als den Engels ihn schilderte. Angesichts der von Marx herausgearbeiteten selbstnegatorischen und autodestruktiven Tendenzen der privatkapitalistischen Ökonomie (s.o. III) müsste der Staat auch als ‚ideeller Gesamtkapitalist‘ autonom gegenüber der Gesamtheit der Kapitalisten sein, die – wie Marx in den zeithistorischen Frankreichschriften herausarbeitete – durch konkurrierende Privatinteressen und verschiedene Funktionen in der Kapitalverwertung so grundlegend getrennt sind, dass diese ständig miteinander „ringenden Fraktionen der herrschenden Klasse“ stets nur temporär „zu einem Kompromiß“ finden (MEW 7, 41). Gerade um die Aufrechterhaltung der Produktionsverhältnisse zu sichern, muss sich die politische Macht gegenüber den widerstreitenden Partikularinteressen konfligierender Fraktionen der ‚herrschenden Klasse‘ durchsetzen oder als übergeordnete Vermittlungsinstanz auftreten können, was ihre Verselbständigung gegenüber den ökonomisch dominanten Klassen voraussetzt.18 Entgegen der These, dass sich in der von Marx analysierten Entwicklungsphase des Kapitalismus grundlegende Strukturantagonismen der Produktions- und Herrschaftsverhältnisse noch „problemlos auf das Substrat sozialer Klassen abbilden“ ließen (Offe 1972, 18), zeigen seine Analysen bereits viele Charakteristika die Offe als Kennzeichen des ‚spätkapitalistischen‘ Staates deuten: die Unfestgelegtheit und Kontingenz, in der dieselben Antagonismen sich in verschiedenen Konfliktkonstellationen ausdrücken, die relative Autonomie der Parteipräferenzen gegenüber der Klassenlage; vor allem aber die Trennung der Herrschaftsfunktionen von jeder eindeutigen Bindung an die unmittelbare Herrschaft einer Klasse. Wie

17 Vgl. zur Umstellung stratifikatorischer Herrschaftsformen auf eine nach sachlichen Prinzipien ausdifferenzierte Politik v.a. die historischen Frankreichschriften: „Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandelten sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt, die […] widerstreitenden mittelalterlichen Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren Arbeit fabrikmäßig geteilt und zentralisiert ist.“ (MEW 8, 196f.) 18 Vgl. zum Staat als Resultat des Widerstreits der Partikularinteressen verschiedener Kapitalfraktionen untereinander: MEW 7, 9-107; MEW 8, 111-207; MEW 17, 538ff., 592ff. Das allgemeine Wahlrecht eröffnet auch die Möglichkeit, dass die Lohnabhängigen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften auf politische Entscheidungen und legislative Akte einwirken können, die ökonomisch destruktiven Tendenzen entgegenwirken. Vgl. u.a. MEW 17, 641; Basso 1975, 90-109 & 136-186.

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für Offe (vgl. v.a. ebd., 74-105) und in ähnlicher Weise für Bourdieu (vgl. 1999, 620726; 2010b) stellt sich der Klassencharakter der Herrschaft und des politischen Staats, erst vermittelt über die Funktionslogiken und Strukturmerkmale institutionalisierter Formen politischer Herrschaft her, die objektiv – d.h. unabhängig von den Motiven, Sinnsetzungen und Wissensbeständen der involvierten Subjekte – die Produktion klassenspezifischer Selektionsleistungen garantieren. Ein Beispiel bei Marx wäre die Selektivität des politischen Staates im Bezug auf den Umgang mit den Sozialleistungen und Schutzrechte für das Proletariat. Diese werden nur selten unmittelbar im Interesse der ‚herrschenden Klasse‘ beschnitten, vielmehr garantiert die objektive Logik der Staatsverschuldung, dass ihr Abbau regelmäßig als fiskalischer Sachzwang und Strukturnotwendigkeit erscheint.19 Impliziert damit bereits die moderne Funktionslogik der Klassenherrschaft eine relative Autonomie des Staates gegenüber den direkten und bewussten Interessen der herrschenden Klasse, müssen die politischen Verhältnisse erst recht eine von den unmittelbar ökonomischen Verhältnissen unterschiedene Form haben, wo sie jene Funktionen erfüllen, die sich mit Offe (1972) auf die Kurzformel des ‚systemnotwendigen, systemfremden Abfangjägers‘ bringen ließe (s.o. IV). Insofern die Politik Aufgaben erfüllt, die jedem Gemeinwesen vorausgesetzt sind oder die historisch aus der kapitalistischen Produktionsweise resultieren, ohne dass die ökonomischen Formen sie aus sich selbst heraus erfüllen könnten, können gerade unter kapitalistischen Bedingungen die politischen Formen nie direkt und nie vollständig durch die Ökonomie determiniert sein, die nur die historischen „Möglichkeitsspielräume“ (Henning 2005, 457 [Hervh. i.O.]) der Entfaltung politischer Formen setzt, die umgekehrt wieder als Möglichkeitsbedingung der ökonomischen Formen wirken. Dass „Rechtsverhältnisse wie Staatsformen“ nicht „aus sich selbst zu begreifen sind“ (MEW 13, 7), meint in diesem Sinne lediglich, dass sie in ihrem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen behandelt werden müssen. In einer nicht mechanischen, sondern organischen Metaphorik ist dabei die Wechselseitigkeit der Bedingungsrelationen relativ autonomer aber nicht autarker Einheiten kein Widerspruch (vgl. u.a. MEW 42, 34). Bereits die basalen ökonomischen Kategorien zeigen bei Marx diese Wechselseitigkeit der Bedingungsrelationen: „[D]ie einfachste ökonomische Kategorie, sage z.B. Tauschwert, unterstellt Bevölkerung […] produzierend in bestimmten Verhältnissen; auch gewisse Sorte von Familien- oder Gemeinde- oder Staatswesen etc. Er kann nie existieren außer als abstrakte, einseitige Beziehung eines schon gegebnen konkreten, lebendigen Ganzen.“ (MEW 42, 35f.)

Für das Recht, das einen wesentlichen Moment dieses ‚konkreten, lebendigen Ganzen‘ bildet, zeigen neben den weiterhin grundlegenden Arbeiten von Wolfgang Abendroth (vgl. v.a. 1967) die Studien von Andrea Maihofer (1992) und Andreas Böhm (1998), dass der studierte Jurist Marx das Recht als eine besondere Dimension gesellschaftlicher Praxis und keineswegs als ein bloßes Abbild der Ökonomie ansah. Gegen die „juristische Einbildung“ (MEW 6, 245), die Gesellschaft beruhe auf dem Recht, betonte er zwar, dass die „juristischen Formen“ den durch sie kodifizierten

19 Vgl. zu diesem sehr aktuellem Beispiel: MEW 7, v.a. 25ff.; s.u. V.4.3.

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„Inhalt selbst nicht bestimmen“ (MEW 25, 352) können, der in den gesellschaftlichen Verhältnissen gegeben sei, aber das heißt letztlich nur, dass zum Beispiel die bürgerlichen Besitz- und Tauschverhältnisse (inklusive der mit ihnen verbundenen besonderen Konfliktpotenziale) im Ansatz bereits entwickelt sein müssen, bevor das Recht sie regeln kann (und muss). In diesem Sinne hat der gesellschaftliche Regelungsbedarf ein Primat vor der juristischen Regelung. Aber das ist – zumindest jenseits rechtsidealistischer Konstitutionstheorien – eine relativ triviale Beobachtung, die auch von Luhmann in der Sache bestätigt wird: „Die bloße Garantie des Eigentums […] ist noch kein Mechanismus, der den Übergang zu einer marktwirtschaftlichen (‚kapitalistischen‘) Wirtschaftsordnung einleiten würde. Die Wirtschaft muss sich selber transformieren, um dann das Problem und Fallmaterial zu liefern, mit dem das Rechtsystem konfrontiert und irritiert wird.“ (Luhmann 1997a, 455)

Nicht ein Rechtscode erzeugt die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, diese finden „im code nur ihren gesetzlichen Ausdruck“ (MEW 6, 245), jedoch „in einer anderen Potenz“ (MEW 42, 170).20 Die Autonomie des Rechts liegt darin, gesellschaftliche Verhältnisse in eine Form zu bringen, die durch die Rechtsgeschichte, die Logik juristischer Diskurse und eine gegenüber anderen Sphären versetzte „Eigenzeit“ (Maihofer 1992, 160ff.) geprägt ist, wobei die Übersetzung auch zu Verschiebungen und zur „Nichtidentität“ mit dem Übersetzten führt. Es „kann nicht alles von einer Potenz in die andere hinübergenommen werden, der in der ‚Form‘ aufgehobene ‚Inhalt‘ bleibt nicht derselbe“ (Henning 2005, 458). Letztlich meint Luhmanns „Autopoiesis“ des Rechts nichts anderes als diese selektive Formgebung eines gesellschaftlich gegebenen Inhalts durch die Verwendung eigener Codes (vgl. Luhmann 1997a, 165-213). Als besondere Praxis mit eigenen Regeln bilden Rechtsformen dabei in beiden Fällen „historisch bestimmte reflexive Ausarbeitungen gesellschaftlicher Verhältnisse“, welche die „Art und Weise“ mitbestimmen, in der „gesellschaftliche Verhältnisse gelebt werden“ (Maihofer 1992, 199). Juristische Formen bilden in diesem Sinne auch zentrale Medien und Produkte der Klassenkämpfe, in denen die Art der Rechtsgebung und Rechtssprechung zur Reproduktion und/oder Veränderung der Klassenverhältnisse beitragen.21 Der Zusammenhang juristischer und ökonomischer Formen ist dabei weder mechanisch noch monolinear. Die Ökonomie setzt bei Marx rechtliche Formen nicht ‚aus sich heraus‘ (was nur eine Umkehrung des Erzeugungsidealismus wäre), vielmehr erfordert die Veränderung der ökonomischen Formen auch veränderte Rechtsformen, deren konkrete Gestalt aber variabel ist und von der historisch ausdifferenzierten Eigenlogik des Rechts abhängt. Konkret betonte Marx etwa hinsichtlich des Grundeigentums: „Die Form [...], worin die beginnende kapitalistische Produktionsweise das Grundeigentum vorfindet, entspricht ihr nicht“, was eine Transformation des Rechts erforderlich mache. Erst durch „Unterordnung der Agrikultur unter das Kapital“ wurde „auch feudales Grundeigentum, Claneigentum oder kleines Bauerneigentum mit Marktgemeinschaft, in die dieser Produktionsweise entsprechende öko-

20 Vgl. MEW 6, 245; MEW 19, 377; MEW 23, 99 & 609; Luhmann 1997a, 266ff.; 1998, 713. 21 Vgl. dazu: Basso 1975, 136-186; Abendroth 1967; MEW 23, 279-320 & 504-526.

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nomische Form verwandelt [...], wie verschieden auch deren juristische Formen seien“ (MEW 25, 629f.; Hervh. T.H.). Dem stehen Luhmanns (vgl. 1997a, 455ff.) Thesen zur Co-Evolution von Wirtschaft und Recht inhaltlich nicht so fern. Die Differenz von Marx’ historisch-genetischen Darstellungen des Zusammenhangs von Recht und Ökonomie zur Systemtheorie liegt (einmal mehr) in den Formen der Analyse. Wo Marx verschiedene Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnisse als Momente eines objektiven Zusammenhangs analysiert, geht Luhmann von der theoretischen Setzung operativer Geschlossenheit autopoietischer Systeme aus und bezieht wechselseitige Bedingungsverhältnisse erst durch die sekundäre Umwegoperation der ‚strukturellen Kopplung‘ mit ein. Wo Luhmann historische Zusammenhänge auf einer Abstraktionsebene schildert, die politische, rechtliche und ökonomische Entwicklungen als eine – nur durch die Entfaltung logischer Paradoxien angetriebene – Selbstbewegung erscheinen lässt, analysiert Marx die Genese der rechtlichen, ökonomischen und politischen Formen auch als Produkt und Medium praktischer Kämpfe, die in objektiven Verhältnissen bedingt sind, ohne dass die Systeme von gesellschaftlichen Relationen selbst agieren würden. Selbstverständlich musste die Fabrikgesetzgebung des 19. Jahrhunderts politisch entschieden und rechtlich formuliert werden und dies heißt ebenso selbstverständlich, dass die Möglichkeiten und die konkrete Form ihrer Formulierung wesentlich von den Logiken, Zwängen und Paradoxien mitbestimmt waren, die aus den gegebenen politischen und rechtlichen Formen resultierten (vgl. MEW 23, 245-320; s.o. IV.4f.). Der Einfluss relativ autonomer politischer und rechtlicher Logiken macht diese Regulierungen aber noch lange nicht zu reinen Produkten einer ‚Autopoiesis des Rechts‘ oder ‚der Politik‘: „Diese minutiösen Bestimmungen […] waren keineswegs Produkte parlamentarischer Hirnweberei. Sie entwickelten sich allmählich aus den Verhältnissen heraus […]. Ihre Formulierung, offizielle Anerkennung und staatliche Proklamation waren Ergebnis langwieriger Klassenkämpfe“ (ebd., 299).

Eine ähnlich gelagerte Konzeptionen der relativen Autonomie von nach sachlichen Funktionslogiken ausdifferenzierten Sphären der Praxis, die innerhalb des Zusammenhangs einer konkreten Totalität umkämpfter gesellschaftlicher Verhältnisse zu analysieren sind, zeigen auch Marx’ verstreute Äußerungen zu Fragen der Kunst und der Religion.22 Gleichwohl stand im Zentrum seiner Analysen die ausdifferenzierte kapitalistische Ökonomie, während andere Dimensionen und Momente der gesellschaftlichen Praxis diesem Schwerpunkt – im Sinne einer forschungspragmatischen Beschränkung – nachgeordnet blieben. Insofern finden sich bei Marx auch nur die oben skizzierten Ansätze, aber keine theoretisch-systematische Ausarbeitung zum Problem der funktionalen Differenzierung. Hier eröffnet Bourdieus Konzeption ausdifferenzierter Felder, die explizit an die von Marx formulierte Aufgabe einer materialistischen Praxistheorie anknüpft,23 reichhaltigere analytische Perspektiven, die zumindest im Bezug auf die ‚Sachdimension‘ funktionaler Differenzierung ihrerseits einige Konvergenzen mit systemtheoretischen Ansätzen aufweisen. 22 Vgl. zur Kunst: MEW 13, 641f.; daran anknüpfend: Raphael 1975; 1983; zur Religion: Zodel 1991, 27-31; Bader 2009, 133-198. 23 Vgl. zur Feldtheorie als Anschluss an Marx: Bourdieu 2000b, 49ff., 109f., 114ff. & 120f.

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3.1.2 Sachliche Funktionslogiken und die Autonomie der Felder „[W]enn sich auch zwischen dem sozialen Feld in seiner Gesamtheit oder dem politischen und dem literarischen Feld alle Arten von strukturellen und funktionellen Homologien beobachten lassen […], so weist doch jedes dieser Phänomene in sich eine ganz und gar spezifische Form auf. […] Von Homologie […] zu sprechen heißt, das Vorhandensein strukturell äquivalenter – was nicht heißt: identischer – Merkmale in unterschiedlichen Komplexen zu postulieren.“ PIERRE BOURDIEU (1992b, 155f.)

Bourdieus Analysen ausdifferenzierter Felder widmen der Sozialdimension der Feldpraxis fraglos mehr Aufmerksamkeit als systemtheoretische Beobachtungen funktionaler Differenzierung. Die Semantik des Feldkonzepts zielt daher auch auf eine Objektivierung sozialstruktureller Relationen und Konfliktdynamiken zwischen den feldinternen Positionen. Schon auf grundbegrifflicher Ebene gelten Felder als soziale Kräfte- und Kampffelder, deren Grenzen auch soziale Grenzen der „Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit“ (Bourdieu 2010b, 105; vgl. 2001a, 353ff.; 1993, 109ff.) sind, die über „soziale Bedingungen des Zugangs“ (Bourdieu 2010b, 99) und sozioprofessionelle Trennungen zwischen „Eingeweihten und Nichteingeweihten“ (ebd., 98) definiert werden. In diesem Sinne weist ein Feld, als „kleine, relativ autonome soziale Welt“, einige „Eigenschaften, Beziehungen, Handlungen und Prozesse“ auf, die man „auch in der großen Welt findet“ (ebd., 97) – einschließlich sozialer Positionierungskämpfe und Hierarchien. Dies sollte aber nicht vergessen machen, dass die basalen Unterscheidungskriterien, die den verschiedenen Funktionslogiken und damit der relativen Autonomie der Felder zugrunde liegen, durch sachlogische Kategorien bestimmt sind, welche auch allgemeinen sozialen Phänomenen eine feldspezifisch „besondere Form“ (ebd.; vgl. Bourdieu 1992b, 160ff.) verleihen. Gegen Kritiken, Bourdieu könne funktionale Differenzierung letztlich nicht adäquat verstehen, da er einer ‚alteuropäischen‘ Semantik sozialer Stratifikation verpflichtet bleibe (vgl. Nassehi 2004; Kneer 2004), soll daher zunächst die feldtheoretische Perspektive auf die ‚Sachdimension‘ funktionaler Differenzierung klarer konturiert werden. Bereits oben (II.4) wurde auf die von Luhmann und Bourdieu geteilte Absetzung vom klassischen Funktionalismus hingewiesen. Gegen den Struktur-Funktionalismus betont Bourdieu entsprechend, dass der von ihm untersuchte Differenzierungsprozess „kein Produkt irgendeiner immanenten Eigenentwicklung der Struktur“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 135) ist, die ein Set invarianter Funktionserfordernisse vorschriebe, zu deren Erfüllung sich die Teilsysteme innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs ausdifferenzieren würden.24 Bourdieu beschreibt daher Ausdifferenzierung (ebenso wie Luhmann) nicht als „Dekomposition eines ‚Ganzen‘ in Teile“ (Luhmann 1998, 598 [Hervh. i.O.], vgl. ebd., 743ff.), also nicht als Zergliederung der Gesellschaft in Teilsysteme zur Gewährleistung historisch invarianter Funktionen, sondern vielmehr als kontingenten historischen Prozess der Emergenz neuartiger Funktionen, Strukturen und Logiken, die oft keine Äquivalente in früheren Gesell-

24 Vgl. zu Parallelen dieser Kritik mit Luhmanns Kritik an Parsons: Kneer 2004, 31.

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schaftsformationen haben (s.o. II.4.2). Exemplarisch zeigt etwa die Analyse der „Genese und Struktur des literarischen Feldes“ (Bourdieu 2001a) einen im 19. Jahrhundert kulminierenden „Prozeß, der die Emergenz der unterschiedlichen Felder kultureller Produktion […] möglich machte“ (ebd., 407, Fn. 62): In besonderen kulturellen und ökonomischen Konstellationen entstanden Voraussetzungen des symbolischen Bruchs mit der (ökonomischen) Bourgeoisie (vgl. ebd., 88-103), auf dessen Grundlage sich um die neuartige – das bürgerliche Nutzenkalkül ebenso wie Vorstellungen „sozialer Kunst“ (etwa bei Proudhon) negierende – Sache der Kunst als Selbstzweck ein relativ autonomes Universum mit eigenen Gesetzen entwickelte. Statt in der „Logik des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs begründet“ zu sein, war die für die Autonomisierung des Feldes entscheidende „l’art pour l’art eine aufzubauende Position, der jedes Äquivalent […] fehlt, eine Position, die es auch nicht geben könnte oder nicht unbedingt geben müsste“ und die sich nur entwickeln konnte, „indem sie zugleich das Feld entwickel[te,] in dem sie Platz finden könnte“ (ebd., 127 [Hervh. i.O.]). Ähnlich zeigten die Studien zur Ausdifferenzierung des ökonomischen Feldes, von den frühen Analysen der algerischen Ökonomie (vgl. Bourdieu 2000a; 2010a) bis zu den Untersuchungen des französischen Eigenheimmarktes (vgl. Bourdieu et al. 1998), stets den emergenter Charakter der ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie. Deren spezifische Funktionslogiken (Kapitalakkumulation und Lohnarbeit, gewinnorientierte Waren-Produktion für einen Markt etc.) haben kein Pendant in vorkapitalistischer Gesellschaften und entstehen – ebenso wie die von diesen Funktionen geforderten Dispositionen (des Arbeitsethos, der Zeitstrukturen, des individuellen Nutzenkalküls) – erst im Prozess der Durchsetzung dieser ausdifferenzierten Ökonomie.25 Der Prozess, in dem ‚Sachlogiken‘ und Strukturen aufgebaut, in Institutionen objektiviert und in subjektiven Dispositionen inkorporiert werden, hat je konkrete historische Voraussetzungen, geht aber nicht auf invariante gesellschaftliche Funktionen oder Entwicklungsgesetzte zurück (vgl. Bourdieu 2000a, 104139; 2010a, 73-142 & 303-335). Obgleich es damit keine der Ausdifferenzierung vorausgesetzte Gesamtstruktur des gesellschaftlichen Zusammenhangs gibt, geht Bourdieu (darin Marx folgend) davon aus, dass verschiedene Ausdifferenzierungsprozesse sich wechselseitig bedingten und verstärkten, wie seine Analysen dies vor allem für das Verhältnis von Ökonomie und kultureller Produktion zeigten: „Erst am Ende einer allmählichen Entwicklung, die den Produktionsakten und –verhältnissen ihren symbolischen Aspekt entzog, konnte sich die Ökonomie als solche in der Objektivität eines abgetrennten Universums konstituieren, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht: denen des Interessenkalküls, der Konkurrenz und der Ausbeutung […]. Umgekehrt aber konnten die [...] Universen symbolischer Produktion, als in sich geschlossene […] Mikro-

25 In Zusammenfassung früher Studien zur „Geschichte der Ursprünge, an denen die kapitalistischen Dispositionen aufkommen und zugleich das Feld zu ihrer Betätigung entsteht“, betont Bourdieu, „daß die vom ökonomischen Feld […] verlangten Dispositionen nichts […] Allgemeingültiges an sich haben, sondern Produkt der gesamten Kollektivgeschichte sind, die unablässig in den Individualgeschichten reproduziert werden muß“. Dies zeigt sich in den „(oft kolonialen) Situationen, in denen Agenten mit Dispositionen, die noch auf eine vorkapitalistische Ordnung ausgerichtet sind, brutal in eine kapitalistische Welt geschleudert werden“ (Bourdieu 1998a, 169).

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kosmen, in denen sich durch und durch symbolische [...], auf der Zurückweisung […] des in ihnen implizierten Anteils an produktiver Arbeit gegründete Handlungen vollziehen, sich nur um den Preis einer Zäsur konstituieren, die den ökonomischen Aspekt der im eigentlichen Sinne symbolischen Produktionsakte und -verhältnisse in die niedere Welt der Ökonomie verweist“ (Bourdieu 2001c, 30 [Hervh. i.O.]).

Diese Koabhängigkeit der Differenzierungsprozesse lässt sich auch im Verhältnis verschiedener Kapitalformen erkennen. So spräche vieles dafür, dass eine Akkumulation „‚ökonomischen Kapitals‘ [...] im Feudalismus erst dann möglich“ wurde, als sich zugleich „die Möglichkeit eröffnet, die Reproduktion des symbolischen Kapitals dauerhaft und zu geringsten Kosten zu gewährleisten und den eigentlich politischen Krieg um Rang, Auszeichnung, Überlegenheit mit anderen, ‚sparsamen‘ Mitteln weiterzuführen“ (Bourdieu 1987, 241), womit die Ausdifferenzierung des ökonomischen Kapitals eine komplementäre Ausdifferenzierung und Institutionalisierung genuin politischer Kapitalformen (vgl. Bourdieu 2010b, 80-86) voraussetzt. Bourdieu geht somit davon aus, dass die von Marx, Weber und Sombart als Signum der kapitalistischen Produktionsweise gekennzeichnete Versachlichung ökonomischer Beziehungen, die es erst erlaubt, eine von sozialen Verpflichtungen, Rücksichten und Hemmnissen befreite, profitorientierte Verwertung von Wert zur Grundlage der Wirtschaftsweise zu machen, untrennbar mit der Ausdifferenzierung anderer Felder – der Politik, der kulturellen Produktion oder der Bildung – verschlungen ist. Nicht nur hinsichtlich der Genese, auch bezüglich der Bestimmung des Verhältnisses von Bedingtheit und Autonomie feldinterner Praktiken – die „vom marxistischen Begriff der relativen Autonomie“ (Bourdieu 1992b, 26), vor allem in der Fassung bei Max Raphael (vgl. 1983), angeregt war – ist Bourdieu Ansatz von Marx fraglos stärker geprägt als von der soziologischen Systemtheorie. Gleichwohl hat die Konzeption der relativen Autonomie ausdifferenzierter Felder durchaus auch Parallelen zur Autonomie der Teilsysteme bei Luhmann, die mit Begriffen wie operativer Geschlossenheit und Autopoiesis allerdings radikaler gefasst scheint: Felder sind gekennzeichnet durch je eigene sachrationale Zielsetzungen und Logiken, die durch eine spezifische Wertung der im Feld zirkulierenden und der feldinternen Akkumulation und Konkurrenz zugrunde liegenden Kapitalformen vermittelt werden. Dabei ist „[j]ede Art von Kapital an ein Feld gebunden und hat die gleichen Gültigkeits- und Wirksamkeitsgrenzen wie das Feld, in dem es Geltung hat“ (Bourdieu 2010b, 107; vgl. 1985, 11f.; 1993, 107ff.). Die je eigenen Logiken des wissenschaftlichen, politischen, religiösen etc. Kapitals, die von der Logik des ökonomischen Kapitals unterschieden und nicht auf diese reduzierbar sind, wirkt dabei konstitutiv für den Aufbau der Autonomie des Feldes und für die Grenzziehung zu einer Umwelt, in der dem feldspezifischen Kapital nicht dieselbe Wirksamkeit zukommt. Da der Kapitalbegriff wie schon bei Marx keine dingliche Ressource meint, sondern ein Medium, also eine besondere gesellschaftliche Form, in der spezifische Produktionsprozesse und Sozialverhältnisse vermittelt werden (s.o. II.2 & III.1f.; vgl. Scholz 2006; Gernalzick 2006), sind die feldspezifischen Kapitalformen von der Theoriestellung her vergleichbar mit den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien innerhalb der Systemtheorie (vgl. Luhmann 1998, 190-412, v.a. 316-412).

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Diese Analogie hat im übrigen Luhmann selbst (im Unterschied zu den meisten seiner Jünger) zumindest am Rande vermerkt.26 In beiden Fällen geht es um eine Erhöhung unwahrscheinlicher Anschlusschancen, die die Kontinuität einer operativen Praxis ermöglichen, wobei die Medien „eine Autokatalyse“ (ebd., 331) von Funktionszusammenhängen einleiten können, indem ihre spezifischen Selektionskriterien als „Kristallisationskerne“ (ebd., 393) des Aufbaus spezifischer Strukturmerkmale wirken. Wie Luhmanns Subsysteme sind auch Bourdieus Felder durch eigene Leitdifferenzen und Selektionskriterien charakterisiert, die primär über die je besonderen Kapitalformen vermittelt werden, die als Medien feldspezifischer Praxisformen eine operative Anschlussfähigkeit über alle Konkurrenz (um ‚dieselbe Sache‘) hinweg garantieren. Im Sinne einer Reduktion von Umweltkomplexität durch den Aufbau von Eigenkomplexität konstituieren die feldspezifischen Praktiken interne Eigenrealitäten mit je eigenen Zwängen und selektiven Sicht(un)möglichkeiten. So ist die „objektive Realität“ der Wissenschaft nur „das, was die am Feld beteiligten Forscher [...] als solche anerkennen“, und existiert „im Feld nur durch Repräsentationen“ (Bourdieu 1998c, 29). Die jeder Beobachtung zugrunde liegenden Unterscheidungen schließen dabei – wie in Luhmanns (vgl. 1990a & 1990b) Wissenschaftstheorie – notwendig „einen blinden Fleck“ ein, „und das ist genau der (Blick-)Punkt, von dem sie sehen“ (Bourdieu 2001a, 308; vgl. 2001c, 125ff.).27 Anders als bei Luhmann aber wären die grammatischen Subjekte, denen die beobachtungs- und handlungskonstitutive Unterscheidungskraft zugeschrieben wird, nicht ‚die Systeme‘ oder ‚die Felder‘, sondern je konkrete vergesellschaftete Individuen, die innerhalb ihrer in Relation zu anderen Akteuren definierten Position und innerhalb der durch das Feld bestimmten Grenzen, Zwänge und Möglichkeiten strategisch agieren. Markiert letzteres eine zentrale Differenz in der Form der Theorien, sind Sachaussagen zu konkreten feld- bzw. systemspezifischen Logiken und den gesellschaftlichen Funktionen, die ihnen zuwachsen, oft homolog. Wenn Bourdieu (2001a) die Funktion der „Erfindung der ‚reinen‘ Ästhetik“ (ebd., 174ff.), mit der die Felder kultureller Produktion Kunst als „autonome Wirklichkeit ohne weiteren Referenten“ (ebd., 178) konstituieren, darin sieht, durch „die Arbeit an der Form“ (ebd., 185) eine „Revolution des Blicks“ (ebd., 181) zu bewirken, um neue Beobachtungen in die Ge-

26 Luhmann (1998) konstatierte beiläufig, dass „der Begriff des ‚capital symbolique‘ von Pierre Bourdieu“ einen „vergleichbaren (aber viel weniger ausgearbeiteten) Theorieanspruch verfolgt“, wie der Medienbegriff der Systemtheorie (ebd., 318, Fn. 220). In Vergleichen beider Theorien durch andere Systemtheoretiker wird diese Affinität jedoch meist gar nicht bemerkt oder explizit negiert. Kneer (2004) meint gar, dass sich bei Bourdieu „die moderne Sozialordnung nicht als funktional differenzierte Gesellschaft“ darstelle (ebd., 38), sondern auf einer „Differenzierung von Knappheiten“ beruhe: „Bei Feldern handelt es sich um soziale Sonderbereiche, die durch die Ausdifferenzierung von Verteilungskonflikten um verschiedene Kapitalsorten […] zustande kommen“ (ebd., 39). ‚Kapital‘ wird hier offenbar auf eine Ressource verkürzt, die man hat oder nicht hat, und die auch ohne das Feld vorhanden wäre. Der medien- und sozialtheoretische Gehalt des Begriffs wird damit vollständig unterschlagen. An einer ähnlichen Reduktion krankt auch der Bourdieu-LuhmannVergleich bei Nassehi (2004, 174ff.). 27 Dies bezieht sich hier im Übrigen auf jene Form eines „reduktionistischen Soziologismus“ (Bourdieu 2001a, 307), der Bourdieu selbst oft vorgeworfen wurde und dessen epistemologisches Defizit darin liegt, Felder zu objektivieren, ohne die Position der eigenen Objektivierung zu objektivieren (vgl. ebd., 309ff.).

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sellschaft einzuführen, „die gleich einer Zauberformel das Reale zur Erscheinung“ bringen (ebd., 179), entspricht das systemtheoretischen Bestimmungen moderner Kunst (vgl. Luhmann 1990c, 7-45; 1997b; 1998, 352f.). Ähnliche inhaltliche Übereinstimmungen finden sich bezüglich der ausdifferenzierten Ökonomie, Wissenschaft28 oder Politik, an der beide Theorien – Luhmann (2000a) eher ironisierend, Bourdieu (2010b) eher dramatisierend – die Tendenz selbstbezüglicher Funktionslogiken „leerzulaufen“ (ebd., 104) illustrieren. In der Identifikation sachlicher Bezugsprobleme, Logiken und Leistungen haben beide Ansätze insofern einen geteilten Gegenstandsbereich. Die Differenzen ergeben sich in der Form der Analyse und der theoretischen Konstruktion des Gegenstandes. Luhmann geht es primär um die „Nachzeichnung von selbstidentifizierenden Prozessen“, weshalb ökonomische, politische, juristische „Reflexionstheorien“ als einzige „Datengrundlage“ (Saake 2004, 111) fungieren. Die systemtheoretische Beschreibung fügt Abstraktionsgewinne hinzu und leistet Dekonstruktionsarbeit, wo sie operative Sinnkonstruktionen auf die in ihnen invisibilisierten Paradoxien hin analysiert. Die Theoriekonstruktion übernimmt aus ihrer „Datenbasis“ (Luhmann 1998, 963) aber die Engführung auf sachliche Bezugsprobleme und die Dethematisierung sozialer Ungleichheiten und Konflikte: Da Ungleichheit in juristischen, ökonomischen und politischen Selbstbeschreibungssemantiken keine Rolle spielt oder nur ex negativo benannt wird, gilt sie auch der systemtheoretischen Fremdbeschreibung als irrelevant, da „funktionslos geworden“ (Luhmann 1998, 366; vgl. ebd., 370f. & 1059f.). Demgegenüber bezieht Bourdieus theoretische Konstruktion des Gegenstandes soziale Relationen und Bedingungsgefüge ein, durch die die Positionen bestimmt sind, aus denen heraus Reflexionstheorien formuliert werden, und objektiviert praktische Funktionen, welche die Felder für die Reproduktion und Legitimation sozialer Ungleichheiten gewinnen, gerade indem feldspezifische Selbstbeschreibungen die Sozialdimension ignorieren. Beides setzt die Einbeziehung anderer Daten und Kategorien voraus, die wie die Modelle von Habitus und Kapital oder der Begriff der Homologie die Interdependenzen feldinterner Produktionsprozesse mit der Sozialstruktur zu fassen erlauben (s.u. 3.4). Ein Ziel dieser Objektivierungsarbeit ist es, die Wechselwirkungen der ‚sachlichen‘ Bezugsprobleme mit den sozialen Bedingungen und Interessen herauszuarbeiten und gegen die „Illusion der Reinheit“, die Bourdieu (2001a, 450ff.) an den ‚Selbstbeschreibungen‘ der Feldern kultureller Produktion ebenso kritisierte, wie an den Repräsentationen des politischen Feldes (vgl. Bourdieu 2010b), die objektiven Funktionen aufzuzeigen, die noch diese feldspezifische illusio für die Reproduktion der Klassenstruktur hat. Dies heißt jedoch nicht, dass alle Momente der Sachdimension in das Einerlei sozialer Allokationskämpfe und Dominanzverhältnisse aufgelöst 28 Bezüglich der Wissenschaft teilen Luhmann (1990a, 1990b) und Bourdieu (1998c, 2001c) die Spannung einer Beobachtung dritter Ordnung, die Wissenschaft als auf einem Bruch mit der Primärerfahrung (Beobachtung erster Ordnung) und auf aktiver Konstruktion eigener Kategorien beruhende Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet. Die im Feld (oder System) geltenden Wahrheitskriterien werden als Konstrukte beobachtet, die innerhalb der Feldlogik aber nicht auf Handeln, sondern auf Erleben, auf die Erfahrung von Wirklichkeit zugerechnet werden: Die im Feld Engagierten erkennen als „letzten Schiedsrichter das Urteil der Erfahrung, also der ‚Wirklichkeit‘ an“, obwohl „diese ‚objektive Wirklichkeit‘ […] nichts anderes als das [ist], was die in dem jeweiligen Feld tätigen Forscher zu einem gegebenen Zeitpunkt als solches zu erachten übereinkommen“ (Bourdieu 2001c, 144).

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würden, wie der Generaleinwand systemtheoretischer Kritiker unterstellt (vgl. Kneer 2004, 38ff. & 44ff.; Nassehi 2004, 172-185). Bourdieu selbst betont, dass „man sich hüten sollte“, den „Prozeß der Differenzierung und Autonomisierung“, aus dem die Felder hervorgegangen sind, „mit einem Prozeß der Stratifizierung zu verwechseln, auch wenn dieser zur Instauration sozialer Hierarchien führt“ (Bourdieu 2004a, 321, Fn. 2). Das Spezifikum der sozialstrukturellen Differenzierung in der Moderne ist ja seiner Analyse zufolge gerade, dass diese keiner Logik unmittelbarer Stratifikation nach Rangunterschieden zwischen Personen mehr folgt. Vielmehr werden hier auch die sozialen Hierarchien und Asymmetrien „vermittelt durch objektivierte […] Mechanismen“ (re-)produziert, durch den „self-regulating market […], das Bildungssystem oder den Justizapparat“, die formell gleichgültig gegen soziale Unterschiede einer Sachlogik folgen und selbst „so undurchsichtig und dauerhaft wie Sachen“ erscheinen (Bourdieu 1987, 238 [Hervh. i.O.]). Selbst wenn die „sachliche Dimension eines Feldes für Bourdieu sich allenfalls als illusio“ (Nassehi 2004, 181 [Hervh. i.O.]) zeigen würde (was keineswegs zutrifft), wäre sie damit nicht negiert. Wie anderenorts auch Nassehi (2006a) weiß, meint „illusio kein falsches, sondern ein praktisches Bewusstsein“ (ebd., 267 [Hervh. i.O.]). Der Begriff erklärt nicht zur bloßen Illusion, dass es in der Wissenschaft um die Produktion von Wissen, in Feldern kultureller Produktion um Kunst, in der Ökonomie um Profit oder in der Religion um Glauben geht. Als feldintern erzeugter, die Praktiken leitender Glaube an die Sache bestimmt die illusio „den gänzlich realen Wert dessen, worum es geht, sowie des Spiels selber” (Bourdieu 1988, 10f.), ohne den es „weder Spiel noch Einsätze gäbe” (ebd., 110). Als Grundlage eines „SichInvestierens […], das die Akteure […] disponiert, die von der Logik des Feldes aus gesehen relevanten Unterscheidungen zu treffen (das, was […] von Gewicht ist, von dem, was […] gleich-gültig ist, zu unterscheiden)“ (Bourdieu 2001a, 360 [Hervh. i.O.]), ist die illusio ein Moment der Erzeugung und Reproduktion der Realität der Sachlogik. Es handelt sich um ein habituelles Korrelat jener Leitdifferenzen, mit denen Luhmanns Systeme „dem eigenen Realitätsanspruch Ausschließlichkeit“ verleihen „im Sinne einer operationsnotwendigen Illusion“ (Luhmann 1988a, 205). Einer autonomen Sachlogik entsprechende „dauerhaft freie Praktiken“ werden nur möglich, wo „sie nicht […] in voluntaristischen Entschlüssen […] gründen, sondern in der [...] Notwendigkeit eines sozialen Universums, dessen grundlegendes Gesetz, nomos, auf der Unabhängigkeit von den wirtschaftlichen und politischen Machtinstanzen beruht“, und wo dies zugleich in orientierende „mentale Strukturen“ eingeht (Bourdieu 2001a, 104). Aufzuzeigen, dass der Selbstwert der Sache, um derentwillen gehandelt wird, „Voraussetzung und Ergebnis des funktionierenden Spiels zugleich“ (Bourdieu 2001a, 363), also Bestimmungsfaktor und Produkt von Praktiken ist, die nicht unabhängig von sozialen Bedingungen, Motiven und Konflikten sind, bedeutet nicht, die Sachlogik „im Stile eines Entlarvungstheoretikers“ (Nassehi 2004, 182) zu denunzieren um nachzuweisen, dass es „in Wirklichkeit“ nur um den „Kampf um knappe Güter“ (ebd. [Hervh. i.O.]) geht. Selbst wenn Bourdieus Analysen ein „Paradigma des sozialen Kampfes zugrundeliegt“ (Schwingel 1993, 82 [Hervh. i.O.]), wenden sie sich gegen jede „Form des Reduktionismus“, der „die Funktionsgesetze des Feldes auf externe soziale Gesetze“ oder feldspezifische Strategien, „auf soziale Strategien

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und soziale Determinanten zu verkürzen“ sucht (Bourdieu 1998c, 26). Dies wäre ein „Kurzschluß“ (ebd.), da gerade feldspezifische Kämpfe nur unter Berücksichtigung der je autonomen, historisch gewachsenen Funktionslogiken und Problemstellungen erklärbar sind, die Inhalt, Form und Zweck der kulturellen, wissenschaftlichen, politischen oder ökonomischen Auseinandersetzungen definieren. Die „Inhalte, um die es beim Kampf“ geht, die „Thesen und Antithesen“, die formuliert werden können und die Form, in der Kämpfe geführt werden, hängen vom „Bestand an legitimen Problemen“ ab, d.h. vom „aus vergangenen Kämpfen ererbten Raum der Möglichkeiten, der die Suche nach Lösungen und folglich die Gegenwart und Zukunft der Produktion lenkt“ (Bourdieu 2001a, 330). So bliebe etwa die besondere Form und Produktivität des wissenschaftlichen Feldes unverstanden, würde man darin nur eine beliebige Gestalt sozialer Kämpfe sehen. Erst die „Einigkeit der Konkurrenten über die Grundsätze der Bewahrheitung von ‚Realität‘, über gemeinsame Methoden der Bestätigung von Thesen und Hypothesen“ (Bourdieu 1998c, 28f.) – also in systemtheoretischer Semantik der mediale Code ‚wahr/unwahr‘ und die über die entsprechende Zuordnung eines Wissens entscheidenden ‚Programme‘ (vgl. Luhmann 1990a) – bestimmen die spezifische Logik des Feldes. Daher nehmen im Wissenschaftsfeld auch „[s]oziale Zwänge […] die Form logischer Zwänge“ an, „müssen Beweise und Gegenbeweise triumphieren“ (Bourdieu 1998c, 29). Dies bedeutet, das die Felddynamik auch dem Positionierungskampf eine Form aufzwingt, in der er nur geführt werden kann, „indem er die Wahrheit vorantreibt“ (ebd., 77; vgl. 2001c, 138-146). Entgegen der Unterstellung, es sei für Bourdieu undenkbar, „dass es in den Feldern womöglich noch andere Bezugsprobleme geben könnte, als dass Akteure sich bezwingen wollen“ (Nassehi 2004, 181), zeigt dieser gerade, dass die Logik des Feldes auch gänzlich anders motivierten Auseinandersetzungen (unabhängig von den Intentionen der Agenten) wissenschaftliche Formen aufzwingt. So wichtig aber die sachlichen Inhalte und Formen sind, um die Eigenlogiken feldspezifischer Praktiken zu erfassen, so sehr läuft eine nur auf die Sachdimension fokussierte Analyse Gefahr, die „in den Beziehungen zwischen den Produzenten verankerten (wenngleich nicht auf diese reduzierbaren) Gegensätze und Antagonismen in den Ideenhimmel“ (Bourdieu 2001a, 317) objektiver, von den Akteuren unabhängiger Sachgesetze zu projizieren.29 Die Analyse der relativ autonomen Sachdimension historisch gewachsener politischer, kultureller, religiöser, ökonomischer und wissenschaftlicher Logiken suspendiert nicht die Aufgabe, die Kulturprodukte auch zu den gesellschaftlichen und sozialen Produktionsbedingungen in Beziehung zu setzen. Da es „nicht einmal im Fall des Wissenschaftsfeldes möglich“ sei, „die kulturelle Ordnung (episteme) als von den Akteuren und Institutionen völlig unabhängig zu behandeln“, müssen stets auch „die sozio-logischen Verkettungen […], die mit den logischen einhergehen“, berücksichtigt werden, wenn soziologische Erklärung nicht durch Rekurs auf „eine geheimnisvolle Form der Selbstbewegung“ ersetzt werden soll (ebd. [Hervh. i.O.]). Gegen die (die Systemtheorie kennzeichnende) objektivistische Tendenz „die innere Logik des Systems […] zu hypostasieren“, erinnert die

29 Darin liegt auch ein Problem einer rein „strukturale[n] Analyse kultureller Produkte“, deren „stringenteste Formulierung“ Bourdieu (2001a, 316f.; vgl. 2001c, 226) in Foucaults Archäologie ausmachte.

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feldtheoretische Verschränkung sachlicher und sozialer Momente der Praxis daher daran, dass der „‚Einfluß der Werke auf die Werke‘ […] stets nur vermittels der Produzenten ausgeübt“ wird (Bourdieu 1997, 76).30 Da das Feldkonzept neben den Eigendynamiken der Sachdimension auch die sozialen Logiken der Relationen zwischen den Produzenten – innerhalb eines Feldes und im sozialen Raum bzw. dem Feld der Macht (vgl. Bourdieu 2001a, 341-351) – berücksichtigt, hat auch die in der ‚Sachdimension‘ bestimmte relative Autonomie der Felder einen anderen Stellenwert als die Autonomie der Systeme bei Luhmann. In beiden Fällen meint Autonomie keineswegs Autarkie im Sinne von ‚Umweltunabhängigkeit‘, sondern vielmehr, dass externe Einflüsse in einer von internen Funktionslogiken und Strukturvorgaben bestimmten Form bearbeitet werden: „Tatsächlich kommen äußere Zwänge“ immer nur „vermittelt durch die Logik des Feldes“ zum Tragen, und eines der „sichtbarsten Zeichen der Autonomie des Feldes ist seine Fähigkeit, äußere Zwänge […] zu brechen, in eine spezifische Form zu bringen.“ (Bourdieu 1998c, 19) Wie in Marx’ Verständnis relativer Autonomie (s.o. 3.1.1) ist etwa die kulturelle Produktion von ökonomischen und politischen Bedingungen abhängig, aber diese „externen Faktoren – Wirtschaftskrisen, technischer Wandel, politische Revolutionen oder schlicht die soziale Nachfrage einer besonderen Gruppe […] – können sich nur über die von ihnen ausgelösten Veränderungen in der Struktur des Feldes auswirken“ (Bourdieu 2001a, 326). Die „Richtung und Form“ solcher Auswirkungen hängt „vom ‚Zustand des Systems‘“ ab, also „vom Bestand an aktuellen und virtuellen Möglichkeiten, die der Raum kultureller Positionierungen (Werke, Schulen, beispielhafte Gestalten, zur Verfügung stehende Gattungen und Formen usw.) zu einem gegebenen Zeitpunkt bietet“ (ebd., 323). Insofern aber externe Faktoren (wenn auch durch die Feldlogik gebrochen) Strukturveränderungen auslösen, bleibt die Autonomie der Felder stets nur eine relative. Während im Modell operativer Schließung den Systemen per Definition absolute Autonomie zukommt,31 sind die „Brechungsstärke“ oder „Übersetzungsmacht“ eines Feldes, die „äußere Zwänge […] bis zur Unkenntlichkeit[] umgestaltet“ (Bourdieu 1998c, 19; vgl. 1998b, 62), graduelle und relative Begriffe. Die „Autonomie der Felder […] variiert erheblich je nach Gesellschaft und innerhalb einer Gesellschaft je nach Epoche“ (Bourdieu 1992b, 161). Deshalb kann auch die Frage des „Grades der Autonomie“ (Bourdieu 2010b, 270) – in welchem Maße z.B. die Wissenschaft gerade autonom oder heteronom gegenüber politischen und ökonomischen Zwängen ist – nur je empirisch geklärt und nicht qua theoretischer Setzung entschieden werden.

30 Dies ist eine wesentlich Differenz zur Systemtheorie, die soziale Ungleichheiten, Interessen und Konflikte in die von den Funktionssystemen abgegrenzten Organisationen und Milieus verweist. Bourdieus ‚Vermengung‘ der bei Luhmann (vgl. u.a. 1988b, 302-323) sauber geschiedenen Ebenen von System, Organisation und Milieu im Feldbegriff, wurde auf systemtheoretischer Seite moniert (vgl. u.a. Kneer 2004; Nollmann 2004), hat aber einen forschungspragmatischen Grund, da die Verschränkung und Wechselwirkung sozialer und sachlicher Logiken nicht mehr in den Blick kommen, wenn diese Dimensionen schon auf grundbegrifflicher Ebene als selbständige Entitäten gesetzt werden. 31 In Luhmanns (vgl. u.a. 1990a, 293ff.; 2000b, 51) Sicht wäre es sinnlos, „von relativer Autonomie […] zu sprechen. Sobald sich ein soziales System [...] konstituiert, operiert das System vollständig autonom.“ (Kneer 2004, 46)

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In dieser Perspektive sind die Prekarität, Gradualität und Relativität der Autonomie unaufhebbar, da die Autonomisierung der Felder nie abgeschlossen ist und feldspezifische Praktiken – anders als die sich über die Verwendung eines spezifischen Codes operativ schließende systemische Kommunikation – über die Zirkulation verschiedener, nicht nur feldintern definierter Kapitalformen reguliert sind.32 Die Produktion und Distribution kultureller Güter und wissenschaftlichen Wissens ist auf ökonomische Mittel angewiesen, was – trotz aller feldinternen Negation des ökonomischen Kalküls (vgl. Bourdieu 2001a, 344ff.) – ein permanentes Einfallstor externer (ökonomischer und politischer) Zwänge bildet.33 Daher bleiben selbst die am stärksten autonomisierten Subfelder der künstlerischen und literarischen Produktion, die intern eine „verkehrte ökonomische Welt“ entwickeln, in der sich die Eigenlogiken des „künstlerischen Werts“ der Logik des ökonomischen Erfolgs entgegengesetzt verhält (vgl. ebd., 134ff. & 228-249), über die Vermittlungsinstanzen der Absatzmärkte oder der Märkte für Hochschulpositionen und Stipendien ökonomischen und politischen Einflüssen ausgesetzt (vgl. u.a. ebd., 86f.). Diese Zwänge wirken sich selten direkt (z.B. in der Lieferung erwünschter Ergebnisse) aus, sehr wohl aber als „strukturelle Unterordnung“ (ebd., 86 [Hervh. i.O.]), die die feldinternen Möglichkeitsräume präjudiziert. Die Produktion für eine externe Nachfrage und die Abhängigkeit von externen Finanzierungsquellen binden Kunst und Wissenschaft indirekt an ökonomische Märkt und politische Entscheidungen, womit in jedem Feld neben dem autonomen Pol ein heteronomer Pol verankert ist. In diesem Sinne wären etwa auch zwei Formen wissenschaftlichen Kapitals zu unterscheiden: Der „reinen“, durch Produktion feldrelevanten Wissens akkumulierten Form steht ein von „politischen Strategien“ bestimmtes Kapital gegenüber – „Mitgliedschaft in Kommissionen, in Prüfungsausschüssen und Preisgerichten, Teilnahme an sachlich mehr oder minder fiktiven Kolloquien“ (Bourdieu 1998c, 31ff.) –, das für die Mittelvergabe eine entscheidende Rolle spielen kann. Inhaltlich entspricht das dem „Nebencode“ der Reputation, der im Wissenschaftssystem der Systemtheorie dem „Wahrheitscode“ koexistiert (vgl. Luhmann 1990a, 244ff.). Gegen die definitorische Festlegung, dass Reputation nie als Primärcode fungiert, denn sonst „liefe alles auf Politik hinaus“ (ebd., 246), kann die so eingeräumte faktische Verfügung über die wissenschaftlichen „Produktionsmittel“ (Bourdieu 1998c, 31) aber „über die Forschung eine Macht ausüben“, die „(im Sinne Pascals) tyrannisch“ ist, da „sie ihre Grundlagen nicht in der spezifischen Logik des Feldes findet“ (ebd., 36), sondern in der Beziehungen zu Ökonomie und Politik. Zwar kennt Bourdieus Theorie (parallel zur Systemtheorie) „kein transistorisches Gesetz der Verhältnisse zwischen Feldern“, womit ihre Relationen, Überlagerungen 32 Die Logik der „reinen Ökonomie“ hat soziale, symbolische und kulturelle Momente, wie umgekehrt symbolische Tätigkeiten von ökonomischen Dimensionen nie ganz gelöst sind (vgl. Bourdieu 1998a, 171ff.; 2001c, 30). 33 Gegen den Einwurf, Bourdieu stilisiere die Soziologie zur letzten Bastion der Autonomie (vgl. Kaube 1998), erscheint diese, durch den Grad der „Politisierung“ des Faches, besonders heteronomiegefährdet: „[W]ährend wir auf autonome […] Probleme zu antworten glauben, sind wir [...] Fragestellungen ausgeliefert“, die durch „politisierende […] Vorgänge entstehen“ (Bourdieu 1998c, 67; vgl. ebd., 19f., 31-38 & 66f.). Diese „Heteronomie“ hat zur Folge, dass „sozialwissenschaftliche Forschung in einer pseudo-wissenschaftlichen Rückübersetzung politischer Probleme […] befangen bleibt.“ (Bourdieu 2010b, 113)

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und Kopplungen „nie ein für allemal fest[stehen], nicht einmal ihrer Entwicklungstendenz nach“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 141f.), sie kann aber auf der Grundlage des anders gelagerten Analyserasters gleichwohl für die Gegenwart eine „tendenzielle Dominanz des ökonomischen Feldes“ (Bourdieu 1985, 11) konstatieren, ohne dass diese Beobachtung wie bei Luhmann in einen Konflikt mit den eigenen Theorieprämissen führt. Luhmann (1988b) zog eine „latente Dominanz der Wirtschaft“, die in „leicht nachzuweisenden empirischen Abhängigkeiten“ sichtbar sei (ebd., 322f.), ja durchaus in Erwägung, verfolgte diesen Gedanken aber mit Verweis auf seine Theorieprämissen nicht weiter. Auch die Frage, was gelegentliche Konzessionen an die triviale Realität – „[n]atürlich kann man mit Geld besser Forschen als ohne“ (Luhmann 1998, 367, Fn. 311) – für eine angemessene Theorie kultureller Produktion konkret bedeuten, bleibt aus der theoretischen Beobachtung ausgeschlossen. Der Vorteil gradueller Begriffe von funktionaler Differenzierung und relativer Autonomie gegenüber theorieimmanenten Setzungen operativer Geschlossenheit liegt darin, dass Heteronomieeffekte und ihre feldinternen Wirkungen sich hier innerhalb eines Konzepts funktionaler Differenzierung analysieren lassen, statt in jüngsten Formen einer graduell verstärkten Heteronomie politischer oder kulturellere Felder gegenüber ökonomischen ‚Sachzwängen‘ (s.u. 4) gleich eine „Entdifferenzierung“ (so Richter 2009) zu sehen. Solche Differenzen zwischen feld- und systemtheoretischen Analyseperspektiven und einige blinde Flecken der Systemtheorie treten in der Frage des Verhältnisses funktionaler und sozialstruktureller Differenzierungsformen in modernen (kapitalistischen) Gesellschaften noch deutlicher zutage.

3.2 S OZIALE D IFFERENZIERUNG UND DER ‚ BLINDE F LECK ‘ DER S YSTEMTHEORIE „Je mehr man auf die Details zugeht, desto auffälliger werden die Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt.“ NIKLAS LUHMANN (1998a, 806f.) „Das sog. Betrachten vom Standpunkt der Gesellschaft aus heißt nichts, als die Unterschiede übersehen, die grade die gesellschaftliche Beziehung (Beziehung der bürgerlichen Gesellschaft) ausdrücken.“ KARL MARX (MEW 42, 189)

„Funktionale Differenzierung wurde in systemtheoretischen Zusammenhängen […] nicht als zu erreichendes Ziel, als Utopie gar, behandelt, sondern als pure Faktizität“, schreibt Markus Schroer (2004, 235), um sogleich in „Luhmanns Entdeckung der Exkludierten“ große „Gefahren für eine funktional differenzierte Gesellschaft“ zu sehen: „Inklusion/Exklusion“ könne zur „Leitdifferenz des 21. Jahrhunderts“ (ebd. 265) werden. Zumindest legte laut Luhmann das „reichlich verfügbare Material […] den Schluß nahe, daß […] Inklusion/Exklusion […] drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz zu rücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren.“ Ob deren sachlogische Unterscheidungen „überhaupt noch zum Zuge“ kämen,

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hinge dann „von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab“ (Luhmann 1998, 632; vgl. 1995, 260; 1997a, 583f.). Diese Diagnose verschärfe sich, da für die verzeichnete Entwicklung „keine externen Gründe verantwortlich gemacht werden können, es sich vielmehr um die Effekte funktionaler Differenzierung selbst handelt.“ Insofern sei die „funktional differenzierte Gesellschaft“ offenbar „dabei, sich selbst abzuschaffen, was die Theorie sozialer Systeme in höchste Alarmbereitschaft versetzt“ (Schroer 2004, 265f.).34 Solche Reaktionen löste das von Luhmann (vgl. v.a. 1995, 237-264) ‚entdeckte‘ Phänomen – und angesichts der sprachlichen Dramatik der Formulierungen wohl Problem – der ‚Exklusion‘ vielerorts in der systemtheoretischen Beobachtergemeinde aus (vgl. u.a. Schroer 2001; Kronauer 2002). Einige empfanden „Exklusion“ gar als eine „Provokation der Moderne“, deren „evolutionäre Universalie Inklusion“ und deren „Zentralfunktion[!] Integration“ sei (Nassehi 2006b, 47f. [Hervh. i.O.]). So erfreulich Irritationsbereitschaft bei einer Theorie ist, die stets damit kokettierte, sich (wie jedes System) gegen Irritationen immunisieren und sich bei ihrem Blindflug ‚über den Wolken‘ nur auf die eigenen ‚Instrumente‘ verlassen zu müssen,35 sollte die kurze Bodensicht nicht gleich zum Schluss auf eine „Gefährdung der funktional differenzierten Gesellschaft“ (Schroer 2004, 265) führen. Eingedenk der Einsicht, dass „man nur sehen kann, was man sehen kann“ (Luhmann 1988a, 52), wäre zuerst zu fragen, ob vielleicht nur die Bordinstrumente bislang auf die nun unter dem Exklusionsbegriff subsumierten Phänomene nicht ansprachen, während ‚die moderne Gesellschaft‘ eine „in die Milliarden gehende Menge“ (Luhmann 2000b, 390) von entsprechenden Erscheinungen betroffener Individuen seit ihren Anfängen in unterschiedlicher Form verkraftet hatte. Zumindest waren die Slums der USA, die Favelas Lateinamerikas, die Bergbausiedlungen in Wales oder die ungleichen Zugangs- und Inklusionschancen, die in Mitteleuropa etwa in Fragen von Bildung und politischer Partizipation fortbestehen (vgl. Luhmann 1996, 227f.; 1995, 237ff.; 1998, 630ff.), kontinuierlich aus den archaischen Ballons der sozialen Ungleichheitsforschung beobachtet worden – die Luhmann freilich ob ihrer geringen Flughöhe lange nicht wahrgenommen oder wegen ihrer ‚alteuropäischen‘ Bordtechnik verspottet hatte. Lange bevor Luhmann der entsetzten systemtheoretischen Bordmannschaft und dem weniger überraschten Boden-Publikum seine Sichtung erheblicher sozialer Ungleichheiten meldete, hatte Marx die ‚neuen‘ Phänomene als notwendige und funktionale Aspekte des Kapitalismus (s.u. 3.3) behandelt. Der Eindruck eines unerwartbaren und unvermittelt hereinbrechenden Ereignisses, den das ‚Auftauchen‘ der ‚Exkludierten‘ – „[p]lötzlich waren sie da“ (Schroer 2004, 235) – in der systemtheoretischen Gemeinde hinterließ, spricht vor diesem Hintergrund für einen ‚Instrumentenfehler‘ innerhalb der Theorie. Die Frage nach möglichen Theoriemängeln wird dadurch verstärkt, dass Luhmann selbst zwar unge-

34 Vgl. zum Befund: Luhmann 1998, 631f.; vgl. hingegen analytisch zum „Alarm“ bzw. zu solchem Alarmismus: Luhmann 1988a, 16. 35 Vgl. Luhmanns (1987) Bordansage zum Theorie-Take-off: „Der Flug muß über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Man muß sich auf die eigenen Instrumente verlassen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich […]. Aber niemand sollte der Illusion zum Opfer fallen, daß diese wenigen Anhaltspunkte genügen, um den Flug zu steuern.“ (ebd., 13)

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wohnt dramatische Phänomenschilderungen bot, der Kontrollblick auf die eigenen Instrumente aber kaum Erklärungen ermöglichte, sondern vor allem „Ratlosigkeit“ (Luhmann 1995, 261) hinterließ.36 Das Problem besteht allerdings nicht darin, dass Luhmann (wie zahllose andere Autoren seit dem 19. Jahrhundert) funktionale Differenzierung als ‚pure Faktizität‘ behandelte, sondern darin, dass er das „differenzierungstheoretische Motiv“ primär und einseitig „an die Frage der sachlichen Bezugsprobleme“ band (Nassehi 2004, 180 [Hervh. i.O.]) und soziale Differenzen kaum beachtete. Stattdessen identifizierte er funktionale Differenzierung nicht nur mit der Auflösung ständischer Stratifikation, er lud denn Begriff hinsichtlich der sozialen Ungleichheit mit starken, letztlich normativen Implikationen auf. Deutlich wird das, wenn man Äußerungen zur „Exklusion“ genauer betrachtet: Wo der Zugang zu den Funktionssystemen für breite Bevölkerungsgruppen „nicht erreicht wird und gesamtgesellschaftlich die Differenz von Inklusion und Exklusion dominiert“ – wie dies „in vielen Ländern der peripheren Moderne und selbst in Industrieländern wie Brasilien“ der Fall sei –, heiße dies „zugleich, daß funktionale Differenzierung nicht oder allenfalls für die inkludierten Bevölkerungsteile realisiert werden kann“ (Luhmann 2000a, 231f., Fn. 7). Diese Aussage hätte keinerlei Sinn, wenn man unter funktionaler Differenzierung nur die kumulative Verdichtung besonderer Formen kommunikativer Anschlussfähigkeit um spezifische symbolisch generalisierte Medien und die Herausbildung von Teilsystemen verstünde, die ihre je eigenen Bezugsprobleme definieren, sie durch den Aufbau eigener Strukturen, Codes und Programme bearbeiten und sich dadurch operativ schließen (vgl. Luhmann 1998, 707-776; 1987, 624-631). Ebenso unverständlich bliebe Luhmanns Äußerung, wenn Inklusion nichts anderes meinen würde, als „die Art und Weise […], in der im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten“, d.h. durch Systeme „als Person behandelt werden“ (Luhmann 1995, 241; vgl. 1998, 620). Funktionale Differenzierung würde sich realisieren, nicht für eine Bevölkerung realisiert werden; und als Adresse von Wirtschaft, Politik, Recht, Religion wären auch die Bewohner der Favelas ‚inkludiert‘, sofern sie Waren kaufen und Arbeitskraft verkaufen, als Täter und Opfer von Verbrechen Rechtsubjekte werden, Objekte und Subjekte politischer Kommunikation sind, religiöse Praktiken vollziehen etc.37 Angesichts gegenteiliger Deutungen stellte sich an-

36 Luhmann, verfiel angesichts eines „Ausmaß[es] an Elend, das jeder Beschreibung spottet und an das empirische Untersuchungen kaum heranzureichen vermögen“ (Luhmann 1995, 227), und „dramatische[r] Konsequenzen[] für die Stabilität, die Entwicklungsfähigkeit, die Zukunft der modernen Gesellschaft“ (ebd., 245) in dramatisierende Darstellungen (die er eigentlich ablehnte). Fragen nach den Ursachen vermied er jedoch wohl auch, weil er darin „das Sprungbrett einer kritischen Gesellschaftstheorie vermutete, die sich an [...] Randerscheinungen abarbeitet“ (Balke 2002, 127). 37 Auch wo das Geld aus einem Raubmord stammt, sichert es Anschlussfähigkeit im Wirtschaftssystem. Um den Raubmord kümmert sich das Rechtssystem, das Angeklagten auch in Brasilien einen Anwalt gestattet und sie als Rechtssubjekte inkludiert. Häufige Raubmorde, zumal wenn Touristen auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt bedroht sind, werden Gegenstand politischer Kommunikation, die sich mit Versprechen und Drohungen an die Einwohner wendet, die als Wahlberechtigte ohnehin inkludiert sind. Subjektive Seiten des Elends werden vom Religionssystem adressiert. Anderenorts ging Luhmann (vgl. 2000c, 303) so von keiner prinzipiellen Exklusion aus, da die Religion noch ein Auffangbecken der sonst ‚Exkludierten‘ bilde.

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deren Systemtheoretiker die verwirrende Frage, wie denn in einer nur aus Kommunikation bestehenden Gesellschaft Exkludierte überhaupt vorhanden sein können. Auf den Punkt gebracht: „Wenn Inklusion […] nichts anderes bedeutet als die Art [...], wie soziale Systeme Menschen bezeichnen […], bezeichnet Exklusion den Mechanismus, wie Personen nicht bezeichnet und nicht für relevant gehalten werden. Exkludierte dürften genau genommen gar nicht sichtbar sein.“ (Nassehi 2000, 19 [Hervh. i.O.])

Insgesamt zeigen diese und andere Aussagen, dass Luhmann unter funktionaler Differenzierung offenbar mehr verstand als eine Differenzierung nach sachlichen Bezugsproblemen und Funktionen, nämlich eine soziale Entdifferenzierung.38 Der Übergang von der ständischen Stratifikation zur funktionalen Differenzierung sollte auch zur gesellschaftlichen Irrelevanz sozialer Ungleichheit und zum Veralten der Klassenmodelle führen (vgl. Luhmann 1998, 1058ff.). Obwohl Luhmann sich von der „Idealisierung des Postulats einer Vollinklusion“ (ebd., 630f.) distanzierte, legte er seinen Analysen die Semantik der Gleichheit und „Allinklusion“ zugrunde, die er in seinem Gegenstandsbereich vorfand und vor deren Hintergrund Exklusion erst zum Skandal wird. Die unterstellte „Logik“ funktionaler Differenzierung scheint hier vom „Verständnis der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ (Schelsky) zu zehren und damit den inklusiven Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme auf den Leim zu gehen“ (Nassehi 2006b, 52f. [Hervh. i.O.]; vgl. Henning 2005, 246f.). In einer Theorie, die von der als „offizielle[s] Gedächtnis der Gesellschaft“ (Luhmann 1998, 627) angesehenen Semantik unmittelbar auf die Gesellschaftsstruktur schließt, ist diese Tendenz ohnehin angelegt.39 Will man von sozialer Stratifikation „nur sprechen, wenn die Gesellschaft als Rangordnung repräsentiert wird“ (ebd., 679), ist eine als nivelliert, enthierarchisiert oder gleichheitsbasiert repräsentierte Gesellschaft per Definition nicht stratifiziert. Wo Selbstbeschreibungen als einzige „Datenbasis“ der „Beweisführung“ (ebd., 963) dienen, gilt es etwa als ‚evident‘, dass es keinen Zusammenhang von sozialer Lage und Bildungschancen gibt, da die Selbstbeschreibung des Bildungssystems ‚beweist‘, dass die „Herkunft eines Kindes für dessen Erziehung unerheblich ist“ (ebd., 980f.). Aus „soziologischer Sicht“ gilt damit die Behauptung, dass schulische „Selektion nach wie vor ein Klassenphänomen sei“, als „widerlegt“ (ebd., 978, Fn. 189). Legt man einer Theorie nur die Repräsentationen

38 „Diese Logik der funktionalen Differenzierung gerät […] in Widerspruch zu den Tatsachen der Exklusion. […] Ihre Codes gelten und gelten nicht in derselben Gesellschaft.“ (Luhmann 1995, 260) Für eine Systemtheorie, die nur als Kommunikationsadresse inkludierte Personen kennt, läge hier kein Widerspruch. Der Geltungsbereich der Codes erstreckt sich logischerweise nur auf ‚inkludierte‘ Personen, während andere bio-psychische Systeme (Menschen) eben auch nicht Teil der Gesellschaft, sondern ein Umweltphänomen wären. 39 Gegen Koselleck beansprucht Luhmann zwar, semantische Transformationen aus der Gesellschaftsstruktur zu erklären, er selbst erschließt die ‚Gesellschaftsstruktur‘ aber nur über die semantischen „Oberflächenstrukturen der Wort- und Begriffsgeschichte“ (Luhmann 1998, 963). Damit wird die Differenz von Repräsentation und Gesellschaftsstruktur eingezogen (vgl. Henning 2005, 247f. & 321ff.). Trotz Luhmanns (1987, 647-661) erkenntnistheoretischer Plausibilisierung dieses Vorgehens bleibt die Entscheidung, welche Repräsentation der Gesellschaft als Realität genommen wird, willkürlich.

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einer Epoche zugrunde, wird man auch „die Illusionen dieser Epoche teilen müssen“ (MEW 3, 39 [Hervh. i.O.]). Soziale Ungleichheiten konnten in diesem Kontext zwar fortbestehen, sollten aber für das Primärprinzip funktionaler Differenzierung irrelevant sein und es nicht überlagern. Als „funktionslose Ungleichheiten“ (Luhmann 1987, 517) in Unterschieden, die gesellschaftlich keinen Unterschied machen, seien sie „sozial“ und „funktional ohne Bedeutung“ (Luhmann 1985, 145; vgl. 1998, 774). Die Möglichkeit einer „Bündelung“ und die „wechselseitige Verstärkung“ interdependenter Ungleichheitsfaktoren (z.B. von Besitz, Bildung, politischer Partizipation etc.), „die als ‚Klasse‘ […] identifiziert werden“ (Luhmann 1985, 144), war dabei theoriesystematisch ausgeschlossen: Funktional differenzierte Gesellschaften könnten zwar „extreme Ungleichheiten […] tolerieren“, doch von der „Semantik“ her stehe „dieser Effekt unter zwei Beschränkungen: daß er als nur temporär gesehen“ und „auf die einzelnen Funktionsbereiche beschränkt wird“, zwischen denen „Interdependenzunterbrechungen eingerichtet“ seien. „Die Realitäten der modernen Gesellschaft zeigen, daß beides, Temporalisierung (Riskanz) und Interdependenzunterbrechung (Separierung), sich in erstaunlichem Umfang hat einrichten lassen.“ (Luhmann 1995, 249) 40 Für die Semantik (formale Gleichheit in Recht, Bildung etc., Chancengleichheit, Leistungsgerechtigkeit) steht das außer Frage, für die Realitäten traf die Diagnose selbst in den keynesianischen Sozialstaaten Westeuropas (die bei aller Rede von ‚der Weltgesellschaft‘ die Primärreferenz der Systemtheorie waren) nie zu.41 Als „Schlüsselkategorie für die Beschreibung der modernen Gesellschaft“ (Stichweh 1999, 225) muss ‚funktionale Differenzierung‘ damit keineswegs aufgegeben werden. In Frage steht nur das suggerierte Ausschließungsverhältnis zu den Klassendifferenzen, dass der späte Luhmann partiell revidierte: „Bei funktionaler Differenzierung findet man auch heute noch Stratifikation in der Form von sozialen Klassen“ (Luhmann 1998, 612). Luhmann optierte nun dafür, „daß Gemengelagen mehrerer Differenzierungsformen typisch“, wenn nicht gar „evolutionsnotwendig“ (ebd.) seien. So habe auch „funktionale Differenzierung […] keineswegs [...] Schichtung beseitigt“, deren Effekte sich weiterhin „auf Lebensformen und auf Zugang zu Sozialchancen“ auswirken (ebd., 772).

40 Vgl. Luhmann 1998, 768f. Eben diese „Clusterbildung“ irritiert an der Exklusion: „keine Arbeit, kein Geld, kein Ausweis, keine Berechtigung, […] oft nicht die geringste Schulbildung, keine ausreichende medizinische Versorgung und mit all dem dann wieder: keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht gegen die Polizei oder vor Gericht recht zu bekommen“ (Luhmann 2000c, 242; vgl. 1995, 259f.; 1997a, 584f.). Zudem: „keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen unterscheiden zu können“ (1998, 630), obwohl letzteres wohl auch im Inklusionsbereich zunehmend schwerer wird. 41 Die Interdependenz sozio-ökonomischer Ungleichheit mit dem Zugang zu Bildung, Recht, politischer Partizipation etc. sind ein Standardbefund auch der deutschen Sozialstrukturanalyse (vgl. Kreckel 2004; Geißler 2004). Die systemtheoretische Behauptung, „Ungleichstellungen [...] verdichten sich im Regelfall nicht zur Ungleichstellung einer ganzen Person und damit auch nicht zur Verfügungsgewalt ganzer […] Akteursgruppen über akkumulierte Arbeit, wie Bourdieu sie im Sinn hat“ (Weiß 2004, 213), erscheint als Verwechslung von Theorie und Empirie. Bourdieu hat diese Verdichtungen nicht „im Sinn“, er zeigt sie als empirischen Regelfall. Die gegenteilige Behauptung ist kein Regelfall, sondern das, was Luhmann „im Sinn“ hatte.

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Festgehalten wurde jedoch an der These, die sozialstrukturellen Differenzen seien nur ein „Nebenprodukt der Eigendynamik der Funktionssysteme“ (ebd.). Als bloßer Nebeneffekt von (nicht näher erklärten) Eigentümlichkeiten „des Wirtschaftssystems und des Erziehungssystems“ könne „selbst eine fast erreichte Nivellierung wieder in soziale Differenzierung umgeformt“ werden und so die Semantik moderner Gesellschaft „irritieren“, auch wenn „dieser Effekt keinerlei soziale Funktion“ habe (ebd., 774). Die Frage, warum Wirtschaft und Erziehung „kleinste Unterschiede (der Arbeitsfähigkeit, der Kreditwürdigkeit, des Standortvorteils, der Begabung, der Diszipliniertheit etc.)“ ausnutzen, um sie im Sinne einer Abweichungsverstärkung auszubauen“ (ebd.), wird damit nicht beantwortet, sondern sogar explizit zurückgewiesen. Die Soziologie soll auch hier die „penetrante Suche“ nach den „Gründen […], ihr marxistisches Erbe also“, aufgeben (Luhmann 1998, 469). Entsprechend sah Luhmann in Bourdieus Feinen Unterschieden nur Einblicke in „den verbissenen Kampf gegen Nivellierung“, musste gegen die funktionale Verschränkung sozialer Differenzen mit gesellschaftlichen Funktionslogiken „jedoch meinen“ (belegen konnte er es nicht), dass das „Bemühen, kleinsten ‚feinsten‘ Unterschieden soziale Bedeutung abzugewinnen […] gerade in seiner Vergeblichkeit und im Fehlen eines gesellschaftsstrukturellen Hintergrundes beeindruckt“ (ebd., 774f., Fn. 333).42 Auch wo Luhmann das Fortbestehen sozialer Klassen zugestand, versuchte er also, jeden Gedanken einer möglichen ‚strukturellen Kopplung‘ zwischen den funktional differenzierten Teilsystemen und der Klassenstruktur der Gesellschaft zu vertreiben; beides kann koexistieren, darf aber nicht als co-evolutiv aufgefasst werden. Diesem Purismus der Scheidung von funktionaler und sozialstruktureller Differenzierung mag es auch geschuldet sein, dass der Wiedereintritt sozialer ‚Ungleichheitscluster‘ in die Systemtheorie entlang des (Sonder-)Phänomens radikaler Exklusion erfolgt, also dort, wo jede strukturelle oder funktionelle Verbindung zwischen den in der Sozialstruktur verorteten Personen und den Funktionssystemen durch kontingente Prozesse der Aussonderung suspendiert scheint.43 Exkludierte zeichnet eben aus, dass sie in keiner positiv bestimmten Beziehung zu den Funktionssysteme stehen

42 Bezeichnend ist das multiple Missverständnis der Untersuchungen Bourdieus. Dort geht es nicht um ein „Bemühen“, mit dem sich Individuen gegen Nivellierung wehren, sondern um Unterschiede, die der symbolischen Ordnung der Konsumgüter und den Habitusformen eingeschrieben sind. Distinktionen sind nicht „vergeblich“, sie sind für den Zugang zu den Feldern, die Ausübung von Macht etc. entscheidend (wie Bourdieu statistisch belegt) und haben „gesellschaftsstrukturelle Hintergründe“ in der Kapitalverteilung und der Funktionslogik differenzierter Felder (s.u. 3.4). Luhmanns Referenz auf Schelskys (1965) Nivellierungsthese, die ein Leitbild auf den Punkt brachte, das nie der Sozialstruktur entsprach, zeigt die Verwechslung von Repräsentation und Gesellschaftsstruktur. 43 In der systemtheoretischen Gemeinde gehen die Versuche, die Verbindung von Funktionssystemen und Sozialstruktur zu kappen, um die funktionale Differenzierung von sozialer Ungleichheit rein zu halten, noch weiter. Erkennt Luhmann immerhin eine Verbindung im Sinne bedeutungsloser Nebeneffekte an, wird die ‚Verantwortung‘ bei Weiß (vgl. 2004) ganz auf Organisationen abgewälzt, die „Personen nach kontingenten Kriterien exkludier[en], die im Prinzip für die Funktionssysteme anschlussfähig wären“ (ebd., 229). Möglich ist das, da Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung auf eine ‚Ebenendifferenzierung‘ zwischen Funktionssystem, Organisation und Interaktion setzt, in der die verschiedenen Ebenen anderen Prinzipien folgen können (vgl. auch Tyrell 2008, 55-74).

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und im strengen Sinn in der Umwelt der Gesellschaft nicht als kommunikativ adressierbare Personen, sondern nur mehr als Körper vorkommen: „Während im Inklusionsbereich Menschen als Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur auf Körper anzukommen. Die symbiotischen Mechanismen der Kommunikationsmedien verlieren ihre spezifische Zuordnung. Physische Gewalt, Sexualität und elementare, triebhafte Bedürfnisbefriedigung werden freigesetzt und unmittelbar relevant“ (Luhmann 1998, 216f.; vgl. drastischer: Luhmann 1995, 262f. & 2000c, 303).

Per Definition bilden sich nur „an den Rändern der Systeme Exklusionseffekte“, und auch räumlich können die Betroffenen am Rand der Städte „separiert und damit unsichtbar gemacht werden“ (ebd., 630).44 In manchen an Luhmann anschließenden Arbeiten werden Fragen der Klassenbildung generell an die gesellschaftliche Peripherie verschoben, wie bei jenen Soziologien, die mit „Klasse“ entweder eine „Position innerhalb des städtischen sozialen Raums“ assoziieren oder „‚under‘ hören und an Horden gefährlicher und unmoralischer Armer denken“ (Bourdieu/Wacquant 1998, 14). Das fügt sich in eine generell mit der Karriere des Exklusionsbegriffs in den Sozialwissenschaften verbundene Tendenz, soziale Probleme aus ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu lösen und sie „analytisch in der Peripherie“ bei den „nicht integrierten Gruppen“ zu verorten. Soziale Erscheinungen in diesen „Konfliktbereichen“ werden damit „dem Außen, dem Fremden zugeordnet, so dass die Problemzusammenhänge außerhalb des Zentrums der Gesellschaft angesiedelt werden“ (Hepp 2007, 151).45 Jenseits der Verarbeitung von Störungen, die vor das Problem stellen, „wie eine Rückkopplung aus dem Exklusionsbereich in den Inklusionsbereich vermieden“ (Luhmann 1998, 634) werden kann – wie also das ‚Innen‘ der Gesellschaft gegen die barbarischen Horden an ihren Ränder zu schützen ist –, gilt soziale Ungleichheit als Variable ohne gesellschaftlichen Funktionswert und ist daher mit systemtheoretischen Mitteln nicht erklärbar. Die Form, in der die zeitdiagnostisch nicht mehr ignorierbaren sozialen Verwerfungen der 1990er Jahre zur funktionslosen Randerscheinung erklärt wurden, zeigt, dass sie im systemtheoretischen Verständnis funktionaler Differenzierung kaum verarbeitet werden konnten. Vor dem Hintergrund der eingestandenen systemtheoretischen „Ratlosigkeit“ (Luhmann 1995, 261) gegenüber der „Frage […], wie es kommt, daß nach wie vor krasse Unterschiede der Lebenschancen reproduziert werden, auch wenn die Differenzierungsform der Gesellschaft darauf nicht mehr angewiesen ist“ (Luhmann 1998, 774), ließe sich fragen, ob nicht schon diese Frage falsch gestellt war. Zumal Luhmann selbst zugesteht, dass das Wirtschafts- und das Erziehungssystem „Ungleichheiten als Momente der Rationalität ihrer eigenen Operationen nutzen und damit steigern“ (ebd., 776), wäre die alternative Frage, ob und wie die Reproduktion sozialer Ungleichheitsrelationen ein funktionales Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs bildet. Bereits die alternative Stellung der Frage impliziert freilich einen mehrfachen Bruch mit der systemtheoretischen Konzeption funktionaler Differenzie-

44 Hier rückt auch eine andere, in Luhmanns Moderne eigentlich irrelevante Kategorie, nämlich die des Raums, wieder in den Vordergrund. Vgl. auch Schroer 2006. 45 Vgl. zu grundlegenden Kritiken dieser Implikationen und zu den „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“ auch Castel 2000; 2008, 385ff.; Kronauer 1999 & 2006.

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rung. Während auch der Systemtheorie nahe stehende Autoren betonen, dass ein „Einbau“ sozialstruktureller Differenzierungsformen (ob man sie nun Klasse, Lage oder Schicht nennt) „in eine systemtheoretisch angelegte Konzeption gesellschaftlicher Differenzierung [….] nicht problemlos möglich ist“ (Tyrell 2008, 86), bieten die Ansätze von Marx und Bourdieu Möglichkeiten, den in manchen Aspekten ähnlich wie bei Luhmann konzipierten eigendynamischen Aufbau funktional differenzierter Praxisfelder in seiner funktionalen Verbindung mit der Klassenstruktur der Gesellschaft zu analysieren, wobei auch jene Phänomene einbezogen werden können, die Luhmann mit dem Begriff der Exklusion eher skandalisierte als erklärte.

3.3 D ER F UNKTIONSZUSAMMENHANG VON K APITAL K LASSENSTRUKTUR BEI M ARX

UND

„Der kapitalistische Produktionsprozeß, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozeß, produziert [...] nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter.“ KARL MARX (MEW 23, 604)

Um die Potenziale des Klassenbegriffs sowohl für die Analyse als auch für die Kritik sozialstruktureller Ungleichheiten in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft herauszuarbeiten, ist es zunächst sinnvoll, einige Defizite des Exklusionsbegriffs aufzuzeigen, dem im Gefolge der „Infragestellung der sozialen Klassen“ (Boltanski/Chiapello 2003, 338-361) eine zentrale Rolle für die Deskription einer sozialen ‚Spaltung‘ der Gesellschaft zuwuchs.46 Es bildete eine besondere Stärke von Klassenkonzepten, die trotz Auflösung der ständischen Stratifikation fortbestehenden Ungleichheiten auf Zusammenhänge des Produktionsprozesses zurückzuführen, in dem die ungleichen soziökonomischen Positionen kausal verknüpft sind. Das galt nicht nur für den marxistischen Ausbeutungsbegriff. Ein Verständnis der strukturellen und funktionellen Verbundenheit verschiedener sozialer Lagen war auch die Grundlage all jener Kritiken, die eine grundsätzliche Akzeptanz der kapitalistischen Ungleichheitsrelationen mit Fragen der Kooperation und der graduellen Verteilung des Produktes zwischen den Klassen im Sinne einer „Gerechtigkeitsbalance“ verbanden (vgl. ebd., 390, 339ff., 380ff. & 414). Demgegenüber verdeckt der seit den 1970er Jahren gebräuchliche Exklusionsbegriff solche Relationen eher. Indem er Gruppen identifiziert, die aufgrund sozialer Eigenschaften und ‚Handicaps‘ per Definition außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs zu stehen scheinen, kann der Exklusionsbegriff zwar Leiden und Notlagen normativ problematisieren, erschwert aber zugleich die Ursachenanalyse. Was bleibt, ist die Artikulation von Mitleid oder die Forderung nach humanitären Gesten. Der Begriff gehört insofern „eher zu einer ‚Topik des Gefühls‘ als zu einer ‚Topik der

46 Vgl. u.a. Baumann 2005; Nassehi 2006b; Solga 2006; Tietze 2006; Bude 2008.

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Kritik‘“ (ebd., 382) und verlagert die Sozialkritik auf ihren „ursprünglichen Impuls, die Empörung über das bestehende Leid, zurück“ (ebd., 384). Wird die Analyse von Zusammenhängen durch die Aufzählung von bloßen Elendsattributen und NegativEigenschaften der Betroffenen ersetzt, legt das zudem eine Personalisierung der Ursachen nahe, die „sich ohne weiteres zu Faktoren individueller Verantwortung umdeuten“ lassen (ebd., 390), was in Deutschland etwa in soziologischen Debatten um die vermeintliche ‚Selbstexklusion‘ der ‚Unterschichtenkultur‘ zu verzeichnen war.47 Diese von vielen Autoren herausgearbeiteten „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“ (vgl. Castel 2000 & 2008; Kronauer 1999 & 2002) sind nicht nur problematisch, weil damit „der Diskurs der traditionellen Sozialkritik [...] seine Grundlage“ verliert (Boltanski/Chiapello 2003, 357), sondern auch, weil entsprechende Debatten, bei aller zeitdiagnostischen Prägnanz, analytisch oft defizitär bleiben, während analytisch gehaltvollere Verwendungen des Exklusionsbegriffs ohnehin auf Elemente klassischer Klassentheorien zurückgreifen müssen.48 Wo (kritische) Soziologie mehr leisten soll als dramatisierende Betroffenheitsrhetorik, könnten also auch jüngste Debatten um eine neue soziale Spaltung von den analytischen Instrumenten der Klassentheorie profitieren. Dabei geht es nicht darum, Passagen auszugraben, in denen Marx entsprechende Phänomene beschrieben hat. Zwar mögen manche Schilderungen – etwa des „Lumpenproletariats“ als „passive Verfaulung der untersten Schichten“ (MEW 4, 472) – manchmal an jüngere Exklusionsdebatten erinnern, Marx zielte jedoch auf mehr als bloße Elendsschilderungen. Entsprechend sollen hier primär die funktionellen Zusammenhänge rekonstruiert werden, aus denen die vermeintlich „funktionslose[n] Ungleichheiten“ (Luhmann 1987, 517) erklärbar sind.

47 Die „Unterschicht als eine Kultur eigener Art“ (Bude 2008, 126), in der „alle zivilisatorischen Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Korrektheit und Ordentlichkeit verblassen“ (ebd., 65), scheint selbst für die ‚Exklusion‘ verantwortlich, da sie „sich[!] der Dominanzkultur der Mittelschicht gegenüberstellt“ (ebd., 126), wenngleich die „Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit“ (ebd., 16) durch den Sozialstaat negative Eigenschaften noch verstärkt. Gegen die „Alltagskultur der Unterschichten“, welche die „Assimilation an die bürgerlichen Mittelschichten“ verweigern und sich durch „äußere Abgrenzung […] einkapsel[n]“ (Nolte 2006, 96), fordern Propheten der ‚neuen Bürgerlichkeit‘ eine Politik der „zero tolerance“, die mit „spürbaren Zumutungen für die Klienten“ (Nolte 2004, 68ff.) dem „universalistischen Anspruch“ bürgerlicher Werte – „Leistung und Disziplin, Bildung und Benehmen, Höflichkeit und Toleranz“ (ebd., 66) – Geltung verschafft. Gegen solche Aktivierungsphantasien berücksichtigt Bude (2008) eine „Restkategorie von Menschen, die sich trotz aller Angebote und Anreize nicht aktivieren und mobilisieren lassen“ (ebd., 28). Diese „stellt sich[!] im Prinzip außerhalb der Allgemeinheit“, die ihre „Versorgung finanziert“ (Bude/Willisch 2006, 13f.). Gegen solche Zuschreibungen zeigen Studien, wie die des Jenenser SFB 580, „keine empirischen Anhaltspunkte“ für das „Bild einer kulturell relativ homogenen, aufstiegsunwilligen Unterschicht“ oder für eine „kulturell verfestigte[] Unterschichtenmentalität“ (Dörre et al. 2008, 11; vgl. 2004). Vgl. kritisch zu den Debatten um die neue Bürgerlichkeit: Heim 2007b; Rehberg 2010. 48 Auch Boltanski und Chiapello (2003) wollen den Exklusionsbegriff nicht als Ideologie abtun, da das Konzept auf „Formen der Armut verweist, die im Zuge der kapitalistischen Formation in den 1980er Jahren entstanden“. Jedoch sei die Analyse zu vertiefen um zu zeigen, wie sich Exklusion als „Form der Ausbeutung in einer konnexionistischen Welt“ mit neuen Formen der „Profiterwirtschaftung in Zusammenhang bringen lässt“ (ebd., 391, vgl. 397ff.; vgl. auch die Ausarbeitungen bei Kronauer 2006, 27-45).

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Wie bereits betont, ist die primäre Bestimmung der Klassen in kapitalistischen Gesellschaften eine funktionale. Jenseits der konkreten Ausprägung politischer, sozialer und kultureller Relationen, sind Klassen durch die Form bestimmt, in der sie „als Träger des durch die Zirkulation [des Kapitals, T.H.] vermittelten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses figurieren“ (MEW 24, 360), also durch die funktionelle Positionen innerhalb der Produktionsverhältnisse. Damit wird eine Form gesellschaftlicher Reproduktion fassbar, in der soziale Differenzen nicht mehr stratifikatorisch durch Rangordnung oder Geburt begründet sind, sondern klassifizierbaren Positionen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang entsprechen. In der Logik sozialwissenschaftlicher Erklärung sind die Klassendifferenzen hier als das zu Erklärende der funktionalen Differenzierungsform der Gesellschaft nachgeordnet und nicht (wie oft unterstellt) als Erklärungsgrundlage vorausgesetzt. Um zu beweisen, dass die ‚Klassensemantik‘ überholt und die Unterscheidung von „Kapital und Arbeit“ eine „längst obsolete Opposition“ (Luhmann 1988b, 153) ist, wäre daher zunächst zu rekonstruieren, wie die „funktionell bestimmten ökonomischen Gesellschaftsklassen“ (MEW 24, 359) in der Funktionslogik der Wirtschaftsform verortet sind, um dann zu prüfen, ob dies noch zum Verständnis gegenwärtiger Vergesellschaftung beiträgt. 49 Schon Marx hat herausgearbeitet, dass eine vergleichsweise hohe Auf- und Abstiegsmobilität für kapitalistische Gesellschaften charakteristisch und funktional vorteilhaft ist. Dass Individuen „ohne Vermögen, aber mit Energie, Solidität, Fähigkeit und Geschäftskenntnis“ sich jederzeit durch Kredit in „Kapitalisten verwandeln“ können, „befestigt die Herrschaft des Kapitals, erweitert ihre Basis und erlaubt ihr, sich mit stets neuen Kräften aus der gesellschaftlichen Unterlage zu rekrutieren.“ (MEW 25, 614; vgl. MEW 3, 48). Gleichwohl müssen aber die positionalen Klassen als konstitutives Moment eines Funktionszusammenhangs reproduziert werden. Da dabei die Individuen aus ständisch begründeten, direkten Ausbeutungsverhältnissen (Leibeigenschaft, Frondienst etc.) entbunden sind, sich als freie und gleiche Rechtssubjekte begegnen und sachliche Faktoren von Besitz und Bildung über ihre Verhältnisse entscheiden, sind auch die Ausbeutungsbeziehungen im Kapitalismus „systemischer Natur“: Die beteiligten Akteure handeln „in Distanz zueinander“, haben oft „keinerlei Kenntnis voneinander“ und verfolgen ganz „unterschiedliche Intentionen“, so dass oft „umständliche Vermittlungsketten, mit einer Vielzahl von […] Zwischenschritten notwendig“ (Boltanski/Chiapello 2003, 414) sind, um die zwischen den Agenten bestehenden Beziehungen sichtbar zu machen. Jenseits der damit entstehenden Probleme bei der Zurechnung auf konkrete Individuen ist aber die Sachdimensi-

49 Laut Luhmann trägt die Unterscheidung Kapital/Arbeit zum Verständnis „der modernen Gesellschaft“ nichts mehr bei, da deren Probleme in den „Umweltveränderungen“ und „der eigentümlichen Wachstumsdynamik“ (Luhmann 1988b, 169) lägen (zu Marx’ Analysen dieser Probleme aus dem Kapitalverhältnis s.o. III). Neben normativer Ablehnung der Klassensemantik und Verweisen darauf, dass Hradil, Beck, etc. sie auch nicht mehr verwenden (vgl. Luhmann 1998, 728, 1059ff.; 1985) reduziert sich Luhmanns (1988b, 164ff.) Begründung dafür, dass die Semantik „von Kapital und Arbeit“ den „Realitätsbezug“ verliert, darauf, dass die „Rolle des Arbeiters als Konsument“ sich „diesem Schema nicht“ füge. Da seine „Wirtschaftssorgen […] Sorgen eines Konsumenten“ sind, beträfe die Ungleichheit „den Konsumsektor und nicht das Einkommen“. Dass Lohn und Konsum nichts miteinander und beides nichts mit Kapital und Arbeit zu tun hat, ‚belegt‘ nur ein unklarer Verweis auf lebensweltliche Evidenz: „man frage die Hausfrauen“ (ebd., 165).

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on der Kapitalverwertung immer schon in mehrfachem Sinne mit der Sozialstruktur verkoppelt. Eine historische Ausgangsbedingung des Kapitalismus ist die Trennung der Verfügungsmacht über die Produktionsmittel von der Arbeitskraft und ökonomische Verhältnisse, in denen die Verwertung des Kapitals – über wie viele Zwischenglieder auch immer vermittelt – eine Klasse von Individuen voraussetzt, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Sobald die Prozesslogik der Kapitalverwertung sich rekursiv in sich selbst erfasst, muss auch diese Differenz von Kapital(isten) und Lohnarbeit(ern) – als der Kapitalakkumulation zugrunde liegende „Exploitationsbedingung“ (MEW 23, 603) – „vermittelst der bloßen Kontinuität des Prozesses […] stets aufs neue produziert und verewigt“ werden (ebd., 595). Solange die Quantität des Arbeitslohnes so beschaffen ist, dass die Arbeitskraft nicht dauerhaft unabhängig von der Lohnarbeit wird und der Mehrwert den Kapitaleigentümern zufällt, ist es dann die „Zwickmühle des Prozesses selbst, die den einen stets als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf den Warenmarkt zurückschleudert und sein eignes Produkt stets in das Kaufmittel des andren verwandelt“ (ebd., 603). Diese Grundvoraussetzung der Kapitalverwertung impliziert nicht nur ein Ausbeutungsverhältnis, sondern auch ein Abhängigkeits- und Dominanzverhältnis, eine „ökonomische Hörigkeit“ der Arbeit gegenüber dem Kapital, die aber (im Unterschied etwa zur Fronarbeit) durch die sachliche und freie Form des Austauschs „zugleich vermittelt und [...] versteckt“ ist (ebd., vgl. auch: 593f.). Alle Freiheitsgrade individueller Arbeitskräfte gegenüber individuellen Kapitalisten ändern dieses objektive Abhängigkeitsverhältnis nicht, das durch die sachliche Gestalt der Produktions- und Distributionsverhältnisse über die Generationen hinweg tradiert und verfestigt wird. Die damit verbundene „problematische Fatalität“ der „Klassensemantik“ (Luhmann 1998, 728), der zufolge die biologische Reproduktion tendenziell der Reproduktion der Klassen entspricht, Arbeiter also wieder Arbeiter zeugen (vgl. MEW 23, 597), ist nicht der Trägheit stratifikatorischer Vorstellung geschuldet (wie Luhmann unterstellt). Stattdessen wird hier ein bis heute statistisch signifikanter Sachverhalt aus einer ökonomischen Prozesslogik erklärt. Die Reproduktion sozialstruktureller Ungleichheit ist dabei kein Nebeneffekt, vielmehr eine conditio „sine qua non der kapitalistischen Produktion“ (ebd., 596), die die Klassenverhältnisse als Moment und Bedingung des Verwertungsprozesses endogenetisch reproduzieren muss. Dieses Grundverhältnis ist unabhängig von der konkreten sozialen Lebenssituation des Proletariats, die, wie Marx oft genug betonte, nicht notwendig ‚elend‘ ist. Sie kann durchaus auch die „bequeme und liberale“ Form annehmen, unter der die Arbeiter mit der „goldnen Kette“ eines erweiterten „Konsumtionsfonds“ und kleiner „Reservefonds von Geld“ (MEW 23, 645) an das Kapital geschmiedet sind. Zudem umfasst die ökonomisch-funktionelle Bestimmung der Klassen mehr als die unmittelbare Ausbeutung. Eingeschlossen sind hier auch die Konsumverhältnisse, in denen der Lohnkonsum die Reproduktion der Arbeitskraft auf einem den Verwertungsbedürfnissen entsprechenden und damit historisch variablen Niveau gewährleistet und Konsumwaren abgesetzt werden, um den Rückfluss des zur Produktion verauslagten Kapitals und des Profits zu ermöglichen:

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„Das Geld, das der Arbeiter erhält, wird von ihm verausgabt, um seine Arbeitskraft zu erhalten, also – Arbeiterklasse und Kapitalklasse in ihrer Gesamtheit betrachtet – um dem Kapitalisten das Werkzeug zu erhalten, wodurch er allein Kapitalist bleiben kann. Der beständige Kauf und Verkauf der Arbeitskraft verewigt also einerseits die Arbeitskraft als Element des Kapitals, wodurch es als Schöpfer von Waren […] erscheint, wodurch ferner der Kapitalteil, der die Arbeitskraft kauft durch ihr eigenes Produkt beständig hergestellt wird, der Arbeiter selbst also beständig den Kapitalfonds schafft, aus dem er bezahlt wird. Andrerseits wird der beständige Verkauf der Arbeitskraft zur stets sich erneuernden Lebenserhaltungsquelle des Arbeiters.“ (MEW 24, 380f.)50

Dieser vor allem im zweiten Band des Kapitals analysierte Prozess, in dem in der Zirkulation des Kapitals zugleich die der Kapitalverwertung vorausgesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert werden, stellt keinen statischen Kreislauf dar, in dem die Ausgangsbedingungen identisch reproduziert würden. Da die kapitalistische Produktion – gegenüber allen anderen Produktionsweisen – als Reproduktion auf ständig erweiterter Stufenleiter ausgezeichnet ist, die ein exponentielles Wachstum und die permanente Revolution des Produktionsprozesses erzwingt (vgl. ebd., 485-518; s.o. III), sind auch die konkreten Verhältnisse zwischen den funktionell bestimmten Klassen einer permanenten Wandlungsdynamik in quantitativer und qualitativer Hinsicht unterworfen. Am Beginn des Industriekapitalismus erzwingen die Verwertungserfordernisse des wachsenden Kapitals eine Ausdehnung der Produktion, die auf Seiten der lohnabhängigen Klasse „nicht nur ihre Erhaltung […], sondern auch ihre Vermehrung“ (MEW 23, 607) fordert. Auch wo der Lohn hoch genug ist, um die biologische Vermehrung durch Senkung der Mortalitätsrate zu fördern, reicht dies nicht aus, um den steigenden Bedarf nach Arbeitskraft zu decken, so dass der Produktion durch Umschichtung Individuen aus anderen Bevölkerungsteilen zugeführt werden müssen. Hier gewinnt die Entwicklung der Produktivkräfte zur Erhöhung des relativen Mehrwerts (s.o. III.1.4) zugleich die Funktion, verwertbares ‚Menschenmaterial‘ flüssig zu machen. Einerseits wird eine permanente Umverteilung innerhalb der Arbeiterklasse möglich, da die durch technische und organisatorische Innovationen in einem Bereich freigesetzten Individuen anderen Bereichen mit steigendem Verwertungsbedarf zugeführt werden; andererseits kann eine große Zahl bisher selbständiger Handwerker, Bauern, Händler etc. mit der Innovationsdynamik (sei es aus Kapitalmangel, sei es aufgrund ihrer Dispositionen) nicht Schritt halten, verliert durch die Marktkonkurrenz ihre selbständige Existenzgrundlage und wird dem Lohnproletariat zugeführt. In diesem Sinn schafft sich „der Mechanismus des Akkumulationsprozesses selbst mit dem Kapital die Masse […] der Lohnarbeiter, die ihre Arbeitskraft in

50 Der Inhalt des für Lohn verausgabten variablen Kapitals ist „eine besondre historische Erscheinungsform des Fonds von Lebensmitteln […], den der Arbeiter zu seiner Selbsterhaltung […] in allen Systemen der gesellschaftlichen Produktion […] reproduzieren muß“ (MEW 23, 593). Insofern dient auch dieser Kapitalteil letztlich dem Kapital, denn wie sollte es „nützliche Verwendung finden, wenn es nicht Sorge trüge, sich das Ausbeutungsmaterial, die Arbeiter, zu erhalten, um sie von neuem ausbeuten zu können?“ (MEW 4, 454) Indem es der Arbeitskraft Lebensmittel zusetzt, um sie „im Gang zu halten, wie der Dampfmaschine Kohle und Wasser“, wirkt der Lohn als Moment der „Reproduktion des Kapitals“ (MEW 23, 597).

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wachsende Verwertungskraft des wachsenden Kapitals verwandeln und ebendadurch ihr Abhängigkeitsverhältnis von ihrem eignen, im Kapitalisten personifizierten Produkt verewigen“ (MEW 23, 643). Diese historisch nachweisbare Umschichtung, die den Bevölkerungsanteil der Lohnabhängigen kontinuierlich steigen lässt (vgl. Sombart 1922; Castel 2008), führt jedoch zu keiner Vereinfachung der Sozialstruktur im Sinne eines klar konturierten Antagonismus zweier homogener Gesellschaftsklassen. Vielmehr ergeben sich schon aus den unmittelbaren Funktionserfordernissen der Produktionsweise (unabhängig von politischen, kulturellen oder moralischen Faktoren) Tendenzen zur wachsenden sozialstrukturellen Binnendifferenzierung, die das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit ebenso betreffen, wie die aus diesem Verhältnis temporär oder dauerhaft ‚Exkludierten‘. Auf Seiten der durch die Verfügungsmacht über die Produktionsmittel (und damit über das Mehrprodukt) gekennzeichneten Klassen folgt eine zunehmende Differenzierung aus der Verselbständigung verschiedener Kapitalfunktionen in der Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals (s.o. III.2), die eine entsprechende Fraktionierung der Funktionsträger bewirkt. Gegenüber den unmittelbar fungierenden Unternehmen im Produktionssektor und den kaufmännischen Kapitalisten im Distributionssektor (vgl. MEW 25, 278-349) gewinnen dabei die Agenten des Geldkapitals, das als Aktien-, Spekulations- und Bankenkapital nur noch in vermittelter Form mit der unmittelbaren Wertschöpfung verbunden ist, aber in seiner Vermittlungsrolle immer bestimmender auf den Produktionsprozess einwirkt, eine zunehmende strukturelle Dominanz. Diese Dominanz wächst „mit jeder Ausdehnung des Kreditwesens, wie es die wirkliche Erweiterung des Reproduktionsprozesses begleitet“ (MEW 25, 519; vgl. Bourdieu 2004a, 319-412; s.u. 4). Hinzu tritt eine Fraktion formell abhängig Beschäftigter – die „managers“ (MEW 25, 400), Aufsichträte und „nominellen Direktoren“ (ebd., 454) –, die zwar kein Eigentum an den Produktionsmitteln haben, durch ihre Funktion aber faktische Verfügungsmacht über ihre Anwendung gewinnen und sich im Ausgleich, etwa durch Kreativität im „Schwindel mit dem Verwaltungslohn“ (ebd., 403), Zugriff auf wachsende Teile des Mehrwerts sichern. Zwischen den Kapital-Fraktionen bestehen vielfältige Konfliktpotenziale. Hinsichtlich der empfundenen ‚Leistungsgerechtigkeit‘ in der Verteilung des Mehrwerts können sich etwa die unmittelbar fungierenden Kapitalisten in einem Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu den Geldkapitalisten stehend erleben, das der Stellung der Arbeiter in der unmittelbaren Wert(ab)schöpfung homolog ist, was auch zu temporären Interessenkoalitionen in sozialen und politischen Kämpfen beitragen kann.51

51 „Der fungierende Kapitalist leitet seinen Anspruch auf den Unternehmergewinn […] nicht von seinem Eigentum am Kapital, sondern von der Funktion des Kapitals“ ab, die er aktiv vermittelt. „Die Exploitation der produktiven Arbeit kostet Anstrengung […]. Im Gegensatz zum Zins stellt sich ihm also sein Unternehmergewinn dar […] als Resultat seiner Funktionen als Nichteigentümer, als – Arbeiter. […] Es entwickelt sich daher notwendig in seinem Hirnkasten die Vorstellung, daß sein Unternehmergewinn […] selbst Arbeitslohn ist“ (MEW 25, 393 [Hervh. i.O.]). Ein Gegensatz zu den nicht fungierenden Eigentümern des Leihkapitals besteht schon dadurch, dass der an sie gezahlte Zins – mit dem „der Geldkapitalist […] an der Exploitation der Arbeit teil“ hat (ebd., 394), ohne selbst die „Arbeit des Exploitierens“ (ebd., 396) verrichtet zu haben – einen Abzug vom Unternehmergewinn bildet. V.a. wo aktiv fungierende Unternehmer mit der Tendenz zur wachsenden Kapitalkonzentration in zunehmende strukturelle Abhängigkeit vom Finanzkapital geraten, wird

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Eine noch erheblichere sozialstrukturelle Differenzierung ergibt sich bei der Bevölkerungsmehrzahl. Abgesehen vom Fortbestehen überkommener Produktionsformen und entsprechender Klassen (Handwerk, Kleingewerbe) setzt die in der kapitalistischen Produktion und Distribution erforderte Zergliederung der kombinierten gesellschaftlichen Arbeit in unzählige Detailfunktionen entsprechend unterschiedliche Funktionsglieder voraus. Dieser oben (IV) hinsichtlich der damit verbundenen Veränderungen der Subjektivierungs- und Regierungsformen behandelte Prozess führt auch zur sozialstrukturellen Ausdifferenzierung der lohnabhängigen Klassen. Neben dem mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses einhergehenden Anstieg technisch qualifizierter Ingenieurs- und Facharbeitsberufe resultiert dies v.a. aus der im Fortgang kapitalistischer Entwicklung wachsenden Zahl von Vermittlungs- und Koordinationsfunktionen. Diese (anfangs von unmittelbar fungierenden Kapitalisten erfüllten) Funktionen werden im Zuge der Trennung von Kapitalfunktion und Kapitalbesitz in verschieden qualifizierte Lohnarbeit verwandelt. Die Vergütung der in jedem gesellschaftlich kombinierten Produktionsprozess notwendigen Arbeit der Aufsicht und Leitung „trennt sich vollständig vom Profit und nimmt auch die Form des Arbeitslohns für geschickte Arbeit an, sobald das Geschäft auf hinreichender Stufenleiter betrieben wird“ (MEW 25, 400). Das betrifft sowohl die Kontroll- und Leitungsfunktionen im unmittelbaren Produktionsprozess (vgl. u.a. MEW 23, 351) als auch die kaufmännischen und buchhalterischen Tätigkeiten, die zusammen mit der Ausbildung neuer Distributions- und Kommunikationsaufgaben zur wachsenden Zahl der Angestellten in der Zirkulationssphäre führt.52 Darüber hinaus erlaubt es die „außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, […] in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größren Teil der Arbeiterklasse […] unter dem Namen der ‚dienenden Klasse‘ […] stets massenhafter[!] zu reproduzieren.“ (MEW 23, 469) Verschiedene Arbeiten, ob im Produktions-, Distributions- oder im expandierenden Dienstleistungssektor, verlangen „sehr verschiedne Grade der Ausbildung und besitzen daher sehr verschiedne Werte“; und so versteht es sich, dass in der entwickelten kapitalistischen Produktion, wie schon in der gegliederten Manufakturarbeit, der „Hierarchie der Arbeitskräfte“ eine „Stufenleiter der Arbeitslöhne entspricht“ (MEW 23, 370), die auch den Lebensbedingungen, Erwerbsgesinnungen, Lebensstilen und Interessen entsprechend differenzierte

„[ü]ber der gegensätzlichen Form der beiden Teile, worin […] der Mehrwert zerfällt, […] vergessen, daß beide bloß Teile des Mehrwerts sind“ (ebd., 393), der aus der Exploitation von Arbeit resultiert. Die zugrundeliegende „Scheidung zwischen den beiden Teilen des Rohprofits […] ist keineswegs bloß subjektive Auffassung des Geldkapitalisten hier und des industriellen Kapitalisten dort. Sie beruht auf objektiver Tatsache“ (ebd., 387), der Trennung von aus bloßem Kapitaleigentum und aus aktiven Kapitalfunktionen abgeleiteten Ansprüchen auf das gesellschaftliche Mehrprodukt (vgl. ebd., 383-403). Vgl. zu den ‚Ausbeutungsrelationen‘ zwischen den Kapitalfraktionen u.a. Altvater 2005; Boltanski/Chiapello 2003, 397-412; zu politischen Konflikten verschiedener Kapitalfraktionen und ihren Koalitionen mit anderen Klassen: MEW 7, 9-107; MEW 8, 111-207. 52 Vgl. v.a. MEW 24, 131-153. Marx betonte, dass auch der hier verausgabte Teil der gesellschaftlichen Arbeitskraft dem Produkt Tauschwert zusetzt und daher (je nach „dem Umfang […], worin der Kapitalist sie bezahlt“) Quelle des Mehrwerts wird. „Kosten also, die die Ware verteuern, ohne ihr Gebrauchswert zuzusetzen, für die Gesellschaft also zu den faux frais der Produktion gehören, können für den individuellen Kapitalisten [eine] Quelle der Bereicherung bilden.“ (Ebd., 139)

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Ausprägungen verleiht. Jenseits aller Lohnkämpfe folgt aus dem wachsenden Bedürfnis nach qualifizierter Arbeit auch, dass ein Teil des Produkts, der früher als Mehrwert angeeignet wurde, zur „Versilberung [...] der Ware Arbeitskraft“ (MEW 24, 118) für einen Teil der qualifizierten Lohnabhängigen verwendet wird. Dafür, dass die Arbeitskraft meist nur versilbert und nicht vergoldet wird, sorgt einerseits die von Marx präzise beschriebene Logik von Bildungsexpansion und Bildungsinflation, die garantiert, dass „aller Lohn für geschickte Arbeit[] mit der allgemeinen Entwicklung, die die Produktionskosten spezifisch geschulter Arbeit herabsetzt“ (MEW 25, 402f.), in dem Maße sinken kann, wie die Verallgemeinerung der Bildung die Zufuhr an qualifizierter Arbeit steigert (vgl. ebd., 311ff.). Andererseits wird eine Austarierung der Lohnhöhe zugunsten des Kapitals dadurch gewährleistet, dass ein übermäßiges Steigen der Löhne – sei es durch hohe Nachfrage nach Arbeit, sei es durch eine bessere Organisation der Arbeiter – durch Verminderung der Mehrwertrate den „Stachel des Gewinns abstumpft“, womit die Akkumulation abnimmt, die Nachfrage nach Arbeit sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt und die Verhandlungsbasis der Arbeiter geschwächt wird. Durch diesen „Mechanismus“ bleiben die Variationen des Lohnniveaus „eingebannt in Grenzen, die die Grundlagen des kapitalistischen Systems nicht nur unangetastet lassen, sondern auch seine Reproduktion auf wachsender Stufenleiter sichern“ (MEW 23, 648f.). An diesem Punkt gewinnen auch temporär oder permanent von der Lohnarbeit exkludierte Gruppen eine zentrale Funktion innerhalb des Kapitalverhältnisses. Gegen ein Hauptargument der Exklusionsdebatten, nämlich dass die ‚neuen‘ sozialen Problemlagen gerade Individuen beträfen, die außerhalb des inklusiven Zusammenhangs von Kapital und Arbeit stünden, weshalb sie mit den Instrumenten einer marxistischen oder sonstigen Klassentheorie nicht erfassbar seien (vgl. Bude 2008; Luhmann 1995; Baumann 2005), bietet Marx eine Erklärung des funktionsnotwendigen Wachstums dieser Gruppe, die – so überflüssig sie als direktes Exploitationsmaterial erscheinen mag – eine Existenzbedingung der Reproduktion und der Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaftsformation wird. Wie oben (III.2) gezeigt, drückt sich die Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen in einer veränderten organischen Zusammensetzung des Kapitals aus, d.h. der Teil des in Technologie angelegten Kapitals steigt relational gegenüber dem für Löhne verauslagten. Zudem sinkt mit steigender Arbeitsproduktivität die zur Produktion eines bestimmten Warenquantums notwendige gesellschaftliche Arbeitszeit. Obwohl die daraus folgende Erhöhung des relativen Mehrwerts ein Sinken der individuellen Arbeitszeit und so die Verteilung der Arbeit auf mehr Individuen erlaubt und die expandierenden Sektoren von Luxusproduktion und Dienstleistung große Teile der freigesetzten Arbeitskraft rasch absorbieren, ging Marx davon aus, dass der Anteil der für den Zweck der Kapitalverwertung überflüssigen Individuen langfristig tendenziell steigen müsse.53 Betroffen sind davon zu-

53 „Mit dem Fortgang der Akkumulation wandelt sich [...] das Verhältnis von konstantem zu variablem Kapitalteil, wenn ursprünglich 1:1, in 2:1, 3:1, 4:1, 5:1, 6:1, 7:1 usw., so daß, wie das Kapital wächst, statt 1/2 seines Gesamtwerts progressiv nur 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, 1/7 usw. in Arbeitskraft, dagegen 2/3, 3/4, 4/5, 5/6, 6/7 usw. in Produktionsmittel umgesetzt wird.“ So fällt „die Nachfrage nach Arbeit […] relativ zur Größe des Gesamtkapitals und in beschleunigter Progression mit dem Wachstum dieser Größe. Mit dem Wachstum des Ge-

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nächst primär jene physisch, geistig und moralisch elenden Massenarbeitskräfte, welche die für die Frühzeit der Automatisierung charakteristische Vereinheitlichung und Nivellierung der Tätigkeitsprofile hervorbrachte (vgl. u.a. MEW 23, 369f., 508ff.) und die nun „an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehn“ (ebd., 673), da mit dem weiteren Fortschreiten der Technisierung der Bedarf an gering qualifizierter Arbeit sinkt. Dank der mit der Verwissenschaftlichung der Produktion einhergehenden Verallgemeinerung der Bildung wird aber auch für qualifizierte Tätigkeiten zunehmend ein dauerhaftes Überangebot an Arbeitskraft geschaffen (vgl. MEW 25, 311ff., 402f.). Diese Produktion überflüssigen Menschenmaterials ist bei Marx, anders als bei Luhmann, kein Nebeneffekt oder Betriebsunfall, vielmehr bildet die „ZuschußArbeiterbevölkerung“ (MEW 23, 658) als „Reservearmee“ einen der mächtigsten „Hebel der kapitalistischen Akkumulation“, eine „Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise“ und eine „ihrer energischsten Reproduktionsagentien“ (ebd., 661). Zunächst finden die „wechselnden Verwertungsbedürfnisse“ des Kapitals hier „das stets bereite exploitable Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme“ (ebd.). Mit dem Fortschritt der kapitalistischen Produktion wird das umso wichtiger, als die Umstellungen der Produktionsweisen, das Auftauchen und Absterben ganzer Produktionszweige, die Schwankung zwischen Prosperitäts-, Krisen- und Depressionsphasen, die mit sich ablösenden Spekulationsblasen unvorhersehbare Ausdehnung der Sektoren, auf die spekuliert wird, etc. immer rascher vonstatten gehen. Eine der Elastizität des Kapitals entsprechende disponible Arbeitskraft, über die „jedes neue funktionslustige Kapital […] verfügen“ kann (ebd., 669), muss daher als Bodensatz längerfristig überflüssiger Individuen auf Vorrat gehalten werden.54 Über diese Funktion hinaus erfüllen die ‚Exkludierten‘ aber auch gesellschaftliche Regulationsfunktionen. In dem Maße, wie es im Fortschritt der kapitalistischen Produktion gelingt, ein Millionenheer von Überflüssigen auch in Prosperitätsphasen zu erhalten (was inzwischen in allen Industrienationen gewährleistet ist), unterstützt das den Mechanismus der Lohnregulierung dahingehend, dass die Ansprüche der „aktiven Arbeiterarmee“ auch „während der Periode der Überproduktion und des Paroxysmus im Zaum“ gehalten werden. So wird die „relative Übervölkerung […] der Hintergrund, worauf das Gesetz der Nachfrage und Zufuhr von Arbeit sich bewegt“. Sie „zwängt den Spielraum dieses Gesetsamtkapitals wächst zwar auch […] die ihm einverleibte Arbeitskraft, aber in beständig abnehmender Proportion. Die Zwischenpausen, worin die Akkumulation als bloße Erweiterung der Produktion auf gegebner technischer Grundlage wirkt, verkürzen sich. Nicht nur wird eine in wachsender Progression beschleunigte Akkumulation des Gesamtkapitals erheischt, um eine zusätzliche Arbeiterzahl von gegebner Größe zu absorbieren […]. Ihrerseits schlägt diese wachsende Akkumulation […] selbst wieder um in eine Quelle neuer Wechsel der Zusammensetzung des Kapitals oder abermalig beschleunigter Abnahme seines variablen Bestandteils […]. Die kapitalistische Akkumulation produziert“ so „beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals […] überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung.“ (MEW 23, 658) 54 Man denke etwa an die zügellose Expansion, die das Baugewerbe in Spanien zwischen 2001 und 2007 erlebte, als im Effekt der internationalen Immobilienblase ganze Siedlungen aus dem Boden gestampft wurden, die, auch wenn sie als reine Spekulationsobjekte unbewohnt blieben, zunächst einmal gebaut werden mussten, um sie dann (nach dem Platzen der Blase) wieder abzureißen, was seinerseits Arbeitskraft erfordert.

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zes“ permanent in die den Ansprüchen des Kapitals „zusagenden Schranken“ (ebd., 668). Desweiteren erhöhen sich dadurch die internen Konkurrenz-, Fragmentierungsund Abgrenzungsdynamiken unter den Lohnanhängigen, was eine kollektive Organisation hemmt. Neben diesen allgemeinen Funktionen gliedert sich die ‚Reservearmee‘ intern in verschiedene Existenzformen (vgl. ebd., 670ff.), die verschiedenen Teilfunktionen entsprechen. Marx’ Binnendifferenzierung überschneidet sich dabei mit der Unterscheidung verschiedener Grade von Integration, Verwundbarkeit (vulnérabilité) und Entkopplung (désaffiliation), die Castel (vgl. u.a. 2008, 11-21 & 336-413, v.a. 360ff.) vorgeschlagen hat, um die problematischen Implikationen des Exklusionsbegriffs zu umgehen.55 Die Mehrzahl der irgendwann einmal „halb oder gar nicht beschäftigt[en]“ Lohnabhängigen bildet „ein Element der fließenden Übervölkerung, das mit dem Umfang der Industrie wächst“ (MEW 23, 670). Fließend ist dieser Teil, da er mit wechselnder Repulsion oder Attraktion durch das Kapital zwischen verschiedenen Tätigkeiten fluktuiert. Es handelt sich meist um junge, ungebundene und besser qualifizierte Individuen in den Produktionszentren, die fähig sind, „dem auswandernden Kapital nach[zureisen]“ (ebd.). Dieser in seiner Flexibilität und Mobilität der Elastizität der Verwertungsbedürfnisse am besten entsprechende Teil der Reservearmee integriert sich rasch in neue Arbeit und befindet sich, in dem Maße wie die Gesellschaft Mechanismen ausbildet, um dem Kapital „sein virtuelles Arbeitsinstrument – dessen wear und tear – instand zu halten auf Reserve für spätren Gebrauch“ (MEW 42, 511), in einer Situation prekärer Schwebe an den Rändern des Integrationsbereichs, wie sie seit den 1990er Jahren oft für jüngere qualifizierte Arbeitskräfte beschrieben wurde.56 Sobald aber der „Konsum der Arbeitskraft durch das Kapital“ solche Arbeiter in einem gewissen „Alter […] mehr oder minder überlebt hat“, werden sie in den „Reihen der Überzähligen […] von einer höheren auf eine niedrigere Staffel hinabgedrängt“ (MEW 23, 671), während ihre Position aus einer anderen Fraktion der Reservearmee, den „fortwährend auf dem Sprung“ in die Lohnarbeit lebenden „und in der Lauer auf dieser Verwandlung günstige Umstände“ (ebd.) liegenden Individuen aufgefüllt wird. Zu Marx’ Zeiten erfüllte diese Funktion primär die ländliche Überbevölkerung, heute stehen dafür zahlreiche in- oder ausländische Arbeitsmigranten oder auch der in Wartestellung befindliche Nachwuchs zur Verfügung (vgl. u.a. Oswald 2006). Auch die „niedrigere Staffel“ der (in Neusprech) ‚schwer Vermittelbaren‘ ist nicht funktionslos, sondern fungiert als Teil der „stockenden“ Reserve, welche als Marx’ dritte Kategorie der relativen Übervölkerung der Zone der massenhaften Verwundbarkeit bei Castel (2008, 11ff. & 360ff.) entspricht. Es handelt sich um „einen 55 Castel (vgl. 2008) wendet sich gegen den Exklusionsbegriff, der nur den Einschnitt bestätige, der vermeintlich kritisiert wird. Demgegenüber soll die differenziertere Begriffsunterscheidung und die ausführliche sozialhistorische Analyse das Phänomen als „Teil einer globalen gesellschaftlichen Dynamik“ (ebd., 19f.) erfassbar machen. 56 „Ein ganzer Teil der Bevölkerung, vor allem junge Leute, erscheint für Aufgaben von kurzer Dauer, für einige Monate oder ein paar Wochen, relativ leicht vermittelbar und noch viel leichter wieder kündbar. […] Wie soll man sich in solchen Situationen einrichten und in solchen Verlaufskurven einen Lebensentwurf verankern.“ (Castel 2008, 358, vgl. v.a. 348-364) Vgl. für die innerbetriebliche Situation Beaud/Pialoux 2004, v.a. 131-227; für Deutschland u.a. Streckeisen 2008; Konietzka/Sopp 2006.

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Teil der aktiven Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung“, der durch die gesteigerte Diskontinuität der Arbeitsverhältnisse „dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft“ bietet. Zudem sinkt die Lebenslage der Betroffenen „unter das durchschnittliche Normalniveau der arbeitenden Klasse, und grade dies macht sie zur breiten Grundlage eigner Exploitationszweige“, die durch „Maximum der Arbeitszeit und Minimum des Salairs“ charakterisiert sind (MEW 23, 672). Diese Gruppe wird auf ständig erweiterter Stufenleiter produziert: „Ihr Umfang dehnt sich, wie mit Umfang und Energie der Akkumulation die ‚Überzähligmachung‘ fortschreitet“, während die schlechten soziökonomischen Bedingungen in entsprechenden Milieus ein sich über die Generationen „selbst reproduzierendes und verewigendes Element der Arbeiterklasse“ garantieren (ebd.). Auch die gegenwärtigen Formen der „Prekarisierung der Arbeit“, denen Castel (2008, 349 [Hervh. i.O.], vgl. 348-364) große Aufmerksamkeit widmete und die auch in Deutschland in den letzten Jahren die Konturen einer dauerhaft in prekären Lebenssituationen gehaltenen Reservearmee wieder in ‚reinerer Form‘ hervortreten ließen,57 führen zu vielfältigen Mustern eines „Sich-Einrichten[s] in der Prekarität“ (ebd., 357 [Hervh. i.O.]), zu einem „Realismus der Hoffnungslosigkeit“, der einer „aus provisorischem Durchwursteln bestehenden Mobilität“ (ebd., 358) angepasst ist. Die jüngsten ‚neoliberalen‘ Modelle einer auf die minimale Wartung und Instandhaltung einer „Schwellenbevölkerung“ (Foucault 2004b, 289f.; s.o. IV.7) ausgerichteten Sozialpolitik – der es „nicht mehr um eine Verringerung der Ungleichheit“ geht, „sondern darum, allein durch die Kontrolle der extremsten Auswirkungen des Liberalismus dem Markt maximale Spielräume zu überlassen“ (Castel 2008, 366) – lassen in Ansätzen bereits die Konturen einer neuen Form der politischen Institutionalisierung dieser ‚stockenden Reserve‘ erkennen. Das unterste Segment in Marx’ Modell bildet die „Sphäre des Pauperismus“, in der neben prinzipiell Arbeitsfähigen, die längerfristig überzählig sind, aber in Zeiten enormer Prosperität in die Verwertung „einrolliert“ werden, „Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige“ auf Gesellschaftskosten im „Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee“ (MEW 23, 673) – der „Zone der Fürsorge“ bei Castel (2008, 361) – auf niedrigem Niveau am Leben erhalten werden. Insofern diese Milieus die „Brutalisierung und moralische Degeneration“ (ebd., 675) fördern, rekrutiert sich aus diesen Gruppen auch der zu Gewalt und Kleinkriminalität neigende Teil des „Lumpenproletariats“. Es ist diese Zone der Entkopplung (i.S. von Castel 2008), die, besonders wo sich Verhaltensauffälligkeiten mehren, heute verstärkte mediale Beachtung findet und zum beliebtesten Bezugspunkt der Exklusionsdebatten wird. Ökonomisch sind die Betroffenen tatsächlich endgültig überflüssig, so dass ihre Erhaltung „zu den faux frais der kapitalistischen Produktion“ (MEW 23, 673) zählt. Allerdings bilden diese „Überzähligen […], die in einer Art gesellschaftlichem no man’s land herumtreiben, die nicht integriert und zweifellos auch nicht integrierbar sind“ (Castel 2008, 359), für Marx insofern ein funktionelles Element der Produktionsweise, als die permanen-

57 2008 befanden sich bereits 37,3% der unter 25-jährigen und 24,3% der 25-35-jährigen in ‚atypischen‘ und prekären Erwerbsverhältnissen (vgl. Dettmer et al. 2010, 86). Eine Studie der Ebertstiftung (2006) prägte mit dem Begriff des „abgehängten Prekariats“ eine beliebte Formel für Schilderungen des Elends von ca. 8% der Bevölkerung. Vgl. u.a. Siems 2009.

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te Drohung des Absturzes in diesen Sektor endgültiger ‚Entkopplung‘ bei den anderen verwertbaren Bevölkerungsgruppen eine Bereitschaft zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft zu jedweden Bedingungen sichert. Gleichzeitig erfüllen die Abgrenzung von diesem Milieu und die geteilte Ablehnung der dort ausgebildeten Dispositionen wichtige Funktionen für die normativen Selbstverständnisse im Inklusionsbereich und damit für die Legitimität und Stabilität der gesellschaftlichen Ordnung. Dies gilt vor allem, da die von den Betroffenen entwickelten oder die ihnen zugeschriebenen Verhaltensattribute sich besonders zur Personalisierung der Ungleichheit und damit zur Verdeckung der gesellschaftlichen Ursachen eignen. Zugleich werden sozial und ökonomisch erwünschte Dispositionen im Inklusionsbereich primär in Differenz zu diesem Exklusionsbereich markiert und definiert. Im Neusprech jüngerer Exklusionsdebatten scheitert hier etwa eine „Restkategorie von Menschen“ (Bude 2008, 28) an einem Mangel bürgerlicher Tugenden, etwa daran, dass sie nicht an die „Selbstverwirklichung glaubt“ und „sich dem Schicksal“ überlässt (ebd., 126). Als ‚Erklärung‘ genügt in solchen jüngeren soziologischen Diagnosen eine Attribuierung auf die Kultur der Unterschicht. Zugleich lebt die komplementäre Aufwertung der Attribute einer ‚neuen Bürgerlichkeit‘ bei Bude wie bei Nolte (vgl. 2004 & 2006) wesentlich von der effektvollen Kontrastierung mit den Exklusionsmilieus. Demgegenüber bot Marx das analytische Modell eines für kapitalistische Gesellschaften konstitutiven Funktionszusammenhangs: „[J]e höher die Produktivkraft der Arbeit, desto größer der Druck der Arbeiter auf ihre Beschäftigungsmittel, desto prekärer also ihre Existenzbedingungen […]. Das Gesetz [...], welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen.“ (MEW 23, 674f.)

Als multifunktionale gesellschaftliche Regulationsgröße hat diese exponentielle Produktion von ‚Überflüssigen‘ nichts mit einem natürlichen Populationsgesetz zu tun. Die Gesetzmäßigkeit, nach der die Arbeitskräfte mit „der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals“ stets auch „die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung“ produzieren, ist „ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat.“ (Ebd., 660) So bleibt die Selbststeuerungsmechanik der kapitalistischen Gesellschaftsformation – im Unterschied zum „Bevölkerungsgesetz“ von Malthus (vgl. 1924/25) – von anthropologischen Bedingungen, äußeren Faktoren und auch von der absoluten Bevölkerungsgröße relativ unabhängig: „Im […] Ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee […]. Sie sind also nicht bestimmt durch die Bewegung der absoluten Anzahl der Arbeiterbevölkerung, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armee und Reservearmee zerfällt, […], durch den Grad, worin sie bald absorbiert, bald wieder freigesetzt wird“ (MEW 23, 666; vgl. daran anschließend: Sombart 1927, Bd. III.1, 303-324).

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Es versteht sich darüber hinaus, dass ein solches gesellschaftliches und historisches Populations- und Akkumulationsgesetz auch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation – „gleich allen andren Gesetzen“ – in seiner je konkreten „Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert“ (MEW 23, 674) wird und etwa im fordistisch-keynesianischen Akkumulationsmodus (s.o. IV.6) weniger deutlich zutage trat. Zudem ging Marx davon aus, dass soziale Organisation und politische Kämpfe erhebliche Variationen der empirischen Formen bewirken können – v.a. im Fall des Zusammenwirkens von Fraktionen der Reservearmee mit den Beschäftigten und ihren Interessenvertretungen (vgl. MEW 23, 669f.). Allerdings ergibt sich angesichts der wachsenden Binnendifferenzierung (innerhalb der Reservearmee wie auch unter den ‚regulär‘ fungierenden Lohnabhängigen und Kapitalfunktionären) ein „Bild des Klassenkampfs“, das diesen „außerordentlich verwickelt, kompliziert erscheinen“ lässt (Jasinska/Nowak 1976, 211) und allzu simplen Klassenkampfschemata und Revolutionshoffnungen zuwider läuft, zumal über die hier skizzierten Fraktionierungen hinaus zahllose Klassen zu berücksichtigen wären, die jenseits des unmittelbaren Kapitalverhältnisses staatliche oder kulturelle Funktionen erfüllen oder als Residuen vorkapitalistischer Wirtschaftsformen fortbestehen. Diese (keineswegs neue) Komplexität und Unübersichtlichkeit sozialer Ungleichheiten und Konfliktkonstellationen schließt weitere analytische Verwendungen des Klassenkampfbegriffs nicht aus. Marx selbst gebrauchte den Begriff in seinen zeithistorischen Analysen ja nicht zur Bezeichnung klar kenntlicher und bewusst agierender Großgruppen, sondern zur Identifikation latenter Konfliktlinien, um im Wirrwarr der Differenzen, Konflikte und Koalitionen hintergründig wirksame Ursachen und Tendenzen zu identifizieren (vgl. White 1994, 365-425). Unabhängig vom Grad der Organisation oder der Fragmentierung der Klassen und von den graduellen Verschiebungen ihrer Kräfteverhältnisse kann aber unter den dargestellten Voraussetzungen davon ausgegangen werden, dass innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine strukturelle Dominanz des Kapitals durch die skizzierten Prozesslogiken gewährleistet bleibt. So unbehaglich letzteres vor dem Hintergrund legitimatorischer Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft scheinen mag, lässt es sich in der Sache doch schwer negieren und wird von zahllosen empirischen Untersuchungen bis in die Gegenwart bestätigt.58 Selbst Luhmann (1988b), für den die funktional differenzierte Gesellschaft sozial durch Gleichheit strukturiert ist, verzeichnet eine „Ungleichheit der Konfliktfähigkeit“ von Unternehmen und Arbeiterorganisationen, da der Abbau von Arbeitsplätzen und die Verschiebung des Kapitals „dem Kapitalisten gleichgültig sein kann, nicht jedoch den Gewerkschaften“. Qua logischer Operation kann dieses strukturelle Dominanzverhältnis aus der Theorie verschwinden – als Ungleichheit, die „sich selbst aufhebt“, da die auf Arbeit angewiesene „Arbeiterschaft […] nur un-

58 Auch als sich die Sozialstruktur der BRD laut soziologischen Zeitdiagnosen schon „Jenseits von Klasse und Schicht“ (Beck 1983) befand, besaßen nach Mierheim/Wicke (1978, 256) 1,7% der Haushalte 70-74% des Produktivvermögens. Laut DGB (2002, 31) verfügten die unteren 50% der Haushalte zusammen nur über 4,5%, die reichsten 10% hingegen über 42% des Nettovermögens. In sozioökonomischen und politischen Fragen muss man „kein Marxist sein um zu sehen, dass der Antagonismus von Kapital und Arbeit in unserer Gesellschaft nach wie vor zu den zentralen Konflikten gehört“ (Krais 2003, 103; vgl. Mayer/Müller 1978, 112f.; Kreckel 1990, 51; 2004, 165).

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ter Einbeziehung der Interessen des Kapitals kalkulieren“ kann und das „taking the role of the other“ die Differenzen auflöse (ebd., 166f.). Ob mit dieser veränderten Semantik auch die sozialen Asymmetrien und ihre gesellschaftlichen Ursachen aus der Welt sind, ist eine andere Frage. Hinsichtlich der Muster sozialstruktureller Differenzierung bietet Marx’ funktionell grundierte Klassentheorie hier nach wie vor fruchtbarere Erklärungsansätze, die weit über die Verteilung des Produktivvermögens und das Grundverhältnis von Kapital und Lohnarbeit hinausgehen. Seine prognostischen Argumente zur Ausdifferenzierung der Sozialstruktur kapitalistischer Gesellschaften sind nicht nur mit der „weit streuende[n] graduelle[n] Differenzierung in den Vorteilen und Nachteilen, die den Inhabern verschiedener Berufspositionen zukommen“ (Mayer/Müller 1978, 112), vereinbar, sie konnten deren Hauptentwicklungstendenzen auf der Seite der Lohnabhängigen (Verwissenschaftlichung der Arbeit, Expansion des tertiären Sektors, Prekarisierung der Erwerbsformen) wie auf der Seite des Kapitals (wachsende Dominanz des Geldkapitals, Trennung der Kapitalfunktionen vom nominellen Besitz etc.) bereits 100 Jahre, bevor die Soziologie sie ‚entdeckte‘, relativ präzise identifizieren. Auch wenn es nie Marx’ Anspruch war, „die Gesamtgesellschaft aus der Sonderperspektive der Wirtschaft“ zu beschreiben (Luhmann 1998, 728), lassen sich aus dieser Perspektive, die Wirtschaft nicht als autistisch in sich geschlossenes Funktionssystem sieht, sondern als einen Zusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse, differenzierte Schlussfolgerungen über die Ausprägung sozialstruktureller und soziokultureller Beziehungen ziehen. Jedoch hat Marx den Anteil anderer, nicht im engeren Sinne ökonomischer Felder gesellschaftlicher Praxis an der Konstitution, Reproduktion und Veränderung der ‚konkreten Totalität‘ der kapitalistischen Gesellschaft und die Verkopplung ihrer Funktionslogik mit den sozialstrukturellen Voraussetzungen und Effekten des Kapitalismus kaum systematisch behandelt. So sehr er die Bedeutung der Bildung für eine zunehmend wissensbasierte Ökonomie betonte oder die Rolle der Ideologieproduzenten als Fraktion der herrschenden Klasse und der kulturellen und politischen Formen für die Reproduktion der Klassenstruktur hervorhob, reichen entsprechende Skizzen kaum aus, um die Funktionen solcher relativ autonomer Sphären für die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse zu erklären. Hier ermöglicht Bourdieus Konzeption einen systematischeren Zugriff.

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3.4 D IE F UNKTIONSLOGIKEN DER F ELDER UND DIE DYNAMISCHE R EPRODUKTION DER K LASSEN „[V]orkapitalistische Gesellschaften hängen für ihre Reproduktion vor allem von dem Habitus ab, wohingegen in den kapitalistischen Ländern diese Rolle hauptsächlich von objektiven Mechanismen übernommen wird […], die tendenziell die Reproduktion des ökonomischen und des kulturellen Kapitals sichern.“ PIERRE BOURDIEU (2001C, 277)

Seit den frühesten Studien zur Transformation der Wirtschaftsweisen und Wirtschaftsgesinnungen in Algerien behandelte Bourdieu die Reproduktion gesellschaftlicher Zusammenhänge über objektive und versachlichte Mechanismen der Kapitalakkumulation als zentrales Kriterium der Unterscheidung kapitalistischer von vorkapitalistischen Gesellschaften. Dabei gilt Kapital nicht als Sache oder Ressource, sondern als eine gesellschaftliche Form, die Dinge, Mittel, Kompetenzen in einem bestimmten „System der Produktion“ (Bourdieu 1976, 362) annehmen, wobei hinter der sachlichen Hülle objektive Relationen zwischen Klassen von Individuen stehen (s.o. II.2). Um den gesellschaftlichen Charakter der ‚sachlich‘-funktionellen Reproduktionsprozesse zu verstehen, darf also der „Fetischismus“, der dem „stofflichen Ding an sich“ Waren- oder Kapitalcharakter zuschreibt (Bourdieu 1992b, 114), in der wissenschaftlichen Erklärung nicht reproduziert werden. Im Bezug auf den Wert von Kunstwerken (vgl. Bourdieu 2001a) wie im Bezug auf den „politischen Fetischismus“ (Bourdieu 2010b, 23ff.), der dem ‚politischen Kapital‘ einer auf Personen oder Parteien zugerechneten Benennungs-, Stellvertretungs- und Entscheidungsmacht zugrunde liegt, müssen die dahinter stehenden sozialen Verhältnisse objektiviert werden. Hinter den Erscheinungen von Marktkonkurrenz und funktionaler Differenzierung stehen Klassenverhältnisse, die der Marktkonkurrenz und den sachlichen Funktionen der Felder vorausgesetzt sind. Da aber (wie bei Marx) die Reproduktion der Klassenstruktur über versachlichte Prozesslogiken in der Form des Kapitals vermittelt wird, kann auch die Reproduktion der Klassen stets nur über diesen sachlichfunktionalen Vermittlungsprozess verstanden werden. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses eines sachlich vermittelten Reproduktionsprozesses kann es, wie Bourdieu (vgl. u.a. 2001a, 137f.) betonte, nicht darum gehen, feldspezifische Praxisformen direkt aus einem „Klasseninteresse“ zu erklären. Ebenso sind Klassenlagen und -kämpfe den Feldern weder genetisch noch logisch vorgeordnet, wie dies etwa Kneer (vgl. 2004, 40) oder auch Nassehi (vgl. 2004, 181f.) suggerieren. Da Klassenrelationen in Feldern nicht nur ausagiert, sondern in ihrer konkreten Gestalt überhaupt erst konstituiert und reproduziert werden, erklärt Bourdieu eher „Klassifikationen, soziale Schichtungen (objektive Klassen) und Mobilisierung von Klassen (subjektive Klassen) aus den Strukturen der Felder“ (Rehbein 2006, 137) als umgekehrt. In einem Modell der dynamischen Reproduktion hat die Frage nach dem logischen oder genetischen Primat (nach der Henne oder dem Ei) aber weder in die eine noch in die andere Richtung besonders viel Sinn. Es geht hier vielmehr um einen Prozess, in dem die sachlich-funktionale und die sozialstrukturelle und soziokulturelle Dimension immer schon wechselseitig aufeinander bezogen sind.

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Statt um eine kausale Erzeugungslogik geht es um die konkreten Interdependenzen eines wechselseitigen und dynamischen Reproduktionszusammenhangs. Dieser Zusammenhang soll hier in vier zentralen Aspekten herausgearbeitet werden: 1. ist zu zeigen, wie die „Sache“, um die es in feldspezifischen Praktiken geht, und der Anschein ihrer Selbständigkeit in der Praxis sozial produziert und reproduziert wird. 2. ist herauszuarbeiten, wie in einzelnen Feldern die sachbezogenen Praktiken mit sozialstrukturellen und soziokulturellen Dimensionen der Klassenverhältnisse in einem wechselseitigen Reproduktionsprozess verbunden sind. 3. wird zu fragen sein, welchen objektiv-funktionalen Beitrag die verschiedenen relativ autonomen Felder gerade auf der Grundlage ihrer Eigenlogik zur Reproduktion von genuin kapitalistischen Klassenverhältnissen leisten, wie also Bildung, Kulturproduktion, Politik etc. zur Reproduktion der gesellschaftlichen Voraussetzungen des kapitalistischen Produktionsprozesses beitragen. 4. soll der relativen Autonomie der Felder Rechnung getragen werden, da die Feldlogiken nicht auf ihre äußeren Funktionen (sozusagen als Dienstleister des ökonomischen Verwertungsprozesses) reduzierbar sind. Einerseits folgen die Kapitalformen, um die es in den jeweiligen Feldern geht, Eigenlogiken, die zur Logik des ökonomischen Kapitals in Widerspruch treten können. Andererseits werden in den Produktionsfeldern auch Produkte erzeugt, die – wie bereits in Marx’ Unterscheidung von Gebrauchswert und Warenform; von Produktionsmitteln bzw. Produktivkräften und Kapitalform (s.o. III) – nichts mit der historischen Form zu tun haben, in der sie als Kapital fungieren. Daher implizieren die feldspezifischen Produkte und Produktionsverhältnisse stets auch zahlreiche Möglichkeiten anderer gesellschaftlicher Verwendungen und subversiver Entwendungen.

3.4.1 Die soziale Produktion des feldspezifischen Fetischismus „Im Alltagsleben tendieren die Klassifizierungen, durch die die sozialen Akteure die Welt konstruieren, dazu, sich selbst mit ihrer Verwirklichung in den sozialen Einheiten, die sie produzieren – Familie, Stamm, Region, Nation: Konstrukte, die sich […] ganz den Anschein von Dingen geben –, in Vergessenheit zu bringen.“ Pierre Bourdieu (2001c, 234)

Die sachlichen Funktionen und Strukturen eines Feldes sind nach Bourdieu ihrerseits an die soziale „Produktion des Glaubens“ (Bourdieu 2001a, 270ff.) gebunden, der die Form und den spezifischen Wert dessen, worum es in einem Feld geht, erst konstituiert und als feldspezifische illusio eine die Praktiken motivierende und orientierende Funktion gewinnt. Dabei geht es nicht um einen individuellen Glauben oder um eine intendierte (manipulative) Glaubensproduktion, sondern um einen aus den relational aufeinander bezogenen Praktiken selbst entspringenden Effekt (vgl. u.a. Bourdieu 2000b, 82f.), der für die Realität des Feldes und die Sinn- und Handlungsorientierungen der in ihm engagierten Akteure konstitutiv ist. Felder beruhen in diesem Sinne – hierin schließt Bourdieu an Durkheim, Mauss und Marx an – immer auch „auf einer Form des Fetischismus“ (Bourdieu 2001a, 279; vgl. ebd., 361ff.; 1999, 389f.). Fetischismus bezeichnet dabei ein Verhältnis, in dem vergesellschaftete Individuen die

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materiellen und symbolischen Produkte ihrer kollektiven Verhältnisse und Praktiken als Werte ansehen, die den Dingen, den Ideen, den ‚sachlichen Bezugsproblemen‘ einer Praxis als intrinsischer Eigenwert innezuwohnen scheinen. Fetische wirken in diesem Sinne als „von ihren Schöpfern verehrte Schöpfungen“, die ein das Denken und Handeln der Akteure beherrschendes „Eigendasein zu führen scheinen, wo doch soziale Akteure ihnen dieses Dasein erst geschenkt haben“ (Bourdieu 2010b, 25). Was die Primärerfahrung der in die Praxis involvierten Akteure wie auch die Systemtheorie in der ‚Sachdimension‘ verortet und so als eine von den sozialen Beziehungen, Hierarchien und Kämpfen unabhängige Bezugsgröße der Praktiken ansieht, wird hier als spezifisches Verhältnis der Produzenten zu den Produkten einer sozialen Praxis analysiert, in der die scheinbare Verselbständigung der Produkte und Sachlogiken gegen ihre Schöpfer selbst ein Ausdruck ihrer sozialen Verhältnisse ist. Dies gilt nicht nur für die Heilsgüter des religiösen Feldes (vgl. Bourdieu 2000b), für die Selbstzweckhaftigkeit des Kunstschönen (vgl. Bourdieu 2001a) oder für die zweckfreie wissenschaftliche Erkenntnis (vgl. Bourdieu 1988 & 1998c) – die Außenstehenden, die illusio nicht teilenden Beobachtern (Atheisten, Kunstfremden, Praktikern des ‚gesunden Menschenverstandes‘) leicht als bloße Einbildungen erscheinen. Auch die Bezugsgrößen des ökonomischen, politischen oder journalistischen Feldes, die für eine Mehrzahl der Akteure den Charakter selbständiger und ihr Leben äußerlich bestimmender Mächte haben, werden in der analytischen Objektivierung als ‚Fetische kenntlich. Die „Marktorientierung“, der Profit oder die Börsennotierung sind in ihrer abstrakten Form wie in ihrer konkreten Gestalt ebenso „Produkt[e] einer sozialen Konstruktionsarbeit“ (Bourdieu 1998a, 165) wie die ‚öffentliche Meinung‘, auf die sich Journalismus und Politik als realen externen Referenten beziehen (vgl. Bourdieu 1993, 213-223; 1992b, 208-216). Die „ökonomische illusio“, die die „Maximierung von […] Profit zur Grundregel erhebt“, ist ebenso „eine historische Institution“ wie „die künstlerische illusio“ (Bourdieu 2001a, 361; vgl. 2000a, 43ff.).59 Auch das ‚politische Kapital‘, das einer Person (Charisma) oder einem Apparat die Macht verleiht, kollektiv bindende Entscheidungen zu fällen, folgt dieser Logik des Fetischismus. Als „Form des symbolischen Kapitals“ beruht es auf „zahllosen Operationen“, mit denen „Akteure einer Person (oder einem Objekt) […] Machtbefugnisse erteilen.“ Als „Fetisch bezieht der Politiker seine magische Macht über die Gruppe aus dem Glauben der Gruppe an seine Repräsentation“ (Bourdieu 2010b, 74). In diesem Sinne behandelt Bourdieu alle der sozialen Realität zugrunde liegenden Unterscheidungs- und Teilungsprinzipien als Produkte symbolischer Arbeit und in ihrem Charakter als die Praktiken äußerlich bestimmende Entitäten als Fetische. Wie aber der „Fetischcharakter der Ware“ (MEW 23, 85ff.) die gesellschaftliche Realität der über den Warenmarkt vermittelten ökonomischen Beziehungen nicht negieren,

59 Ökonomische Kategorien wie „Angebot“ und „Nachfrage“ haben nur dann einen Sinn, wenn ein Warenmarkt und eine auf diesen Markt orientierte Warenproduktion (nebst der entsprechenden Wirtschaftsgesinnungen) existieren (vgl. Bourdieu 2000a, 7-20; 1976, 357ff., 378ff.). Auch die konkrete „Nachfrage, mit der die Produzenten zu rechnen haben“, ist „ein soziales Produkt“, wie Bourdieu am Beispiel des Eigenheimmarktes zeigt, in dem ein „Nachfrage“ konstituierendes Präferenzsystem im Zusammenspiel von Krediten, Werbestrategien und einer Wohnungspolitik, die den Markt nicht nur „kontrolliert, sondern regelrecht konstruiert“, erst entstehen (Bourdieu et al. 1998a, 62; vgl. ebd., 47-71).

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sondern sie in ihren Grundlagen und Besonderheiten erklären sollte, leugnet auch die Definition des kulturellen „Produktionsfeld[es] als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerkes als Fetisch schafft“ (Bourdieu 2001a, 362), nicht die Relevanz dieses Wertes. Als Moment der „für ein Feld konstitutive[n] Sicht“ (Bourdieu 2001c, 122), in der die Übereinstimmung zwischen der Logik des Feldes und „den Dispositionen, die es weckt und voraussetzt, bewirkt, daß alles was es an Willkür enthalten mag, sich unter dem [...] Anschein überzeitlicher, universell gültiger Evidenz“ verbirgt (ebd., 42), ist der feldspezifische Fetischismus in all seiner Konsequenz real. Allerdings setzt wissenschaftliche Analyse, wo sie mehr sein will als eine Sekundärbeschreibung, die den ‚blinden Fleck‘ ihres Gegenstands übernimmt, einen Bruch mit dem feldinternen Glauben voraus, um ihn auf seine praktische Produktion zurückzuführen.60 Die sachlichen Bezugsprobleme feldspezifischer Praktiken als historisch-soziales Produkt zu verstehen, dient der Auflösung des Bildes einer Universalität und Selbstläufigkeit der Prozesse, das feldinterne ‚Selbstbeschreibungen‘ oder ‚Eigengeschichten‘61 ebenso prägt wie die Dispositionen der Agenten. Die Betonung der Historizität soll dabei der historischen Dynamik einer Praxis gerecht werden, die nicht nur auf dynamische Reproduktion ausgerichtet ist, sondern als Produkt einer konfliktiven sozialen Konstruktionsarbeit umkämpft und wandelbar bleibt. Hier sieht Bourdieu auch den Hauptunterschied zur Systemmetaphorik: „In einem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte.“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 133) Trotz der Verwendung von Spielmetaphern betont er daher – gegen soziologische und ökonomische Spieltheorien – die Differenz von in ihren konstitutiven Regeln festgelegten Spielen zu dynamischen Feldern, in denen „die Spielregeln selbst ins Spiel gebracht werden“ (Bourdieu 1998c, 25). Das schließt die Möglichkeit „symbolischer Revolutionen“, die zur Neubestimmung der Funktionen und zur Umwertung der feldintern gültigen Werte führen, ebenso ein wie die (Denk-)Möglichkeit gesellschaftlicher Revolutionen, die die gesellschaftlichen Produktionsmittel – seien es die unmittelbar ökonomischen, seien es die Kompetenzen, Fähigkeiten und technischen Mittel, die als Produktionsmittel wissenschaftlicher Erkenntnis oder kollektiv bindender politischer Entscheidungen wirken – dem fetischisierten Charakter der Kapitalform entreißen und sie einer veränderten kollektiven Form der Praxis verfügbar machen. Dass Bourdieu (entgegen des ihm oft vorgeworfenen Fatalismus) diese Möglichkeit nie ausschloss, zeigt etwa die Formulierung, dass „die letzte[!] politische Revolution, die Revolution gegen die politische Klerikatur und gegen die in jedem[!] Delegationsakt potenziell enthaltene Usurpation, noch immer aussteht“ (Bourdieu 2010b, 41). Zugespitzte Äußerungen – „Keine Aufhebung von politischer Entfremdung ohne das Risi-

60 „Eine wirkliche Wissenschaft des Kunstwerkes läßt sich [...] nur auf den Bruch mit […] dem komplizenhaften Einverständnis gründen, das jeden Gebildeten mit dem Bildungsspiel verknüpft. Dieses Spiel zum Gegenstand zu machen, heißt aber zugleich nicht zu vergessen, daß die illusio zu eben der Wirklichkeit gehört, die es zu verstehen gilt, und sie […,] in das Erklärungsmodell ein[zu]beziehen.“ (Bourdieu 2001a, 364 [Hervh. i.O.]) 61 Der von Rehberg (vgl. u.a. 1994; 1998; 2002) im Rahmen der Institutionenanalyse vorgeschlagene Begriff der Eigengeschichten trifft das von Bourdieu Geschilderte besser als Luhmanns Begriff der Selbstbeschreibung, da er auf den aktiven und umkämpften Konstruktionscharakter von Geltungsbehauptungen verweist.

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ko politischer Entfremdung!“ (ebd., 24) – bezogen sich insofern nur auf eine historisch entstandene Form des Politischen. Bourdieu wendet sich daher auch gegen Theorien, die (wie Robert Michels) „Funktionsgesetze, die durch veränderte Bedingungen […] außer Kraft gesetzt werden können, zu Naturgesetzen“ erklären, indem sie dem „Führungs-“ oder „Verehrungsbedürfnis der Massen“ zuschreiben, was „Produkt einer bestimmten Konstellation des Feldes ist, also veränderbar“ (ebd., 44). Eine entsprechende revolutionäre Veränderung, die die Paradoxien politischer Delegation tatsächlich überwinden könnte, würde freilich eine Sprengung der derzeitigen politischen Formen einschließen, also die Erfindung einer neuen politischen Praxis jenseits der auf Delegation beruhenden Repräsentativdemokratie. Jenseits dieser (Denk-)Möglichkeit, also innerhalb des Kontinuums einer Gesellschaftsformation, in der materielle und symbolische Güter in der Form feldspezifischer Kapitalien fungieren, impliziert der Fetischismus, der die Bezugsgrößen einer Praxis als Eigenwerte anerkennt und sie damit in ihrem Charakter als Produkte einer kollektiven Konstruktionsarbeit verkennt, immer auch ein Moment der Verkennung und Anerkennung von Klassenverhältnissen. Dies liegt schon in der Kapitalform selbst begründet, deren Genese für Bourdieu konstitutiv auf einer sozialen Ungleichverteilung der Verfügungsmacht über die feldspezifischen Produktionsmittel beruht: Wie ein genuin religiöses Kapital sich nur dort herausbildet, wo die „Mittel der Produktion und Distribution der Heilsgüter“ (Bourdieu 2000b, 78f.) durch eine Gruppe von Klerikern usurpiert werden, was mit „der objektiven Enteignung“ und der „religiösen ‚Pauperisierung‘“ der „Laien“ einhergeht, die des „religiösen Kapitals (als akkumulierter symbolischer Arbeit) beraubt“ werden (ebd., 56ff. [Hervh. i.O.]), besteht das politische Kapital nur auf der Grundlage „der Enteignung im Zusammenhang mit der Konzentration […] der Produktionsinstrumente der gesellschaftlich als politisch anerkannten Diskurse oder Handlungen“ (Bourdieu 2010b, 51). In diesem Sinne geht bereits die Verselbständigung spezifischer gesellschaftlicher Funktionen und Leistungen zu den Inhalten und Medien ausdifferenzierter Produktionsfelder mit Monopolisierungen und Professionalisierungen einher, die soziale Differenzierungen implizieren. Diese sozialen Differenzen werden in den feldspezifischen Praktiken reproduziert. So enthält jeder Akt der politischen Repräsentation (durch Parteien, Gewerkschaften oder Intellektuelle), auf die beherrschte Gruppen um so mehr angewiesen sind, je mehr ihnen die Autorität und die Mittel zur selbständigen Artikulation und Vertretung ihrer Interessen fehlen, ein (von den Intentionen der Beteiligten unabhängiges) Moment der Verstärkung dieser Asymmetrie: Da die Individuen sich als eine in der Logik des Feldes politisch relevante Gruppe nur konstituieren können und sich nur Gehör zu verschaffen vermögen, indem sie sich unter einen politischen Fetisch (eine Idee, ein Wortführer, eine Partei oder ein Gewerkschaftsapparat) subsumieren, „sich ihm ausliefern, zugunsten seiner abdanken“, geht der Prozess der „Selbst- (oder Fremd-)Konstitution der Individuen zu einer Gruppe“ für die ‚Vertretenen‘ mit dem „Verlust ihrer Kontrolle über die Gruppe“ einher, „innerhalb und Kraft derer sie sich konstituieren“ (ebd., 24). Der Prozess der Formierung und Professionalisierung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien seit dem 19. Jahrhundert etwa trug zwar zur Konstitution neuer Positionen innerhalb des politischen Feldes und zur Veränderung politischer Kräfteverhältnisse bei, stabilisierte aber auch soziale

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Differenzen hinsichtlich der professionalisierten Verfügung über die Mittel politischer Interessenvertretung.62 Diese Effekte und Tendenzen der Ausdifferenzierung des politischen Feldes sind nur ein Beispiel für eine generelle Tendenz, in der funktionsspezifische Differenzierungen mit sozialen Differenzierungen verbunden sind. Da ein Feld als objektives System sozialer Relationen keine selbsttätige Entität ist, sondern nur ein Bedingungsrahmen und ein Kräfteverhältnis, innerhalb dessen Individuen in spezifischer Weise agieren, bedarf es zur Erfüllung seiner Funktionen auch besonderer sozialer „Dispositionen, Bedürfnisse, Präferenzen, Neigungen“, die, wie jene der Lohnarbeit, Kalkulation und Profitorientierung, dem Feld „nicht exogen“ vorausgesetzt sind, sondern nur „endogen und abhängig von einer Geschichte […] des ökonomischen Kosmos, worin sie gefordert sind und belohnt werden“ (Bourdieu 1998a, 173), existieren. Als Produkt klassenspezifischer Prägung sind entsprechende Habitusformen, und damit die Beteiligungschancen (und -interessen) der Individuen, ungleich verteilt. Im Zusammentreffen von zwei Formen akkumulierter Geschichte – der im Habitus in Dispositionen sedimentierten subjektiven Geschichte und der in den feldspezifischen Positionen, Kapitalformen und Institutionen akkumulierten objektiven Geschichte (vgl. u.a. Bourdieu 2001c, 193-204) – wird schon deshalb die Position in den Klassenverhältnissen entscheidend.

62 Bourdieus häufige Bezugnahmen auf die (De-)Formierung proletarischer Bewegungen knüpfen oft an Gramsci an, also an einen reflektierten Marxisten (vgl. Bourdieu 2010b, 49f. & 80ff.) und sind ist kein Ausdruck von Fatalismus.

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3.4.2 Feldstrukturen und Klassenstrukturen „Auf dem Gebiet der Politik wie auf dem der Kunst ist die Enteignung der Mehrheit ein Korrelat […] der Konzentration der […] Produktionsmittel in den Händen von Professionellen, die nur dann eine Chance haben, bei dem politischen Spiel mitzuspielen, wenn sie über eine spezifische Kompetenz verfügen.“ PIERRE BOURDIEU (2010b, 50)

Zwar ist ein Feld kein Geflecht von Beziehungen zwischen Personen, sondern „eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 127 [Hervh. i.O.]), zwischen denen Kräfteverhältnisse bestehen, die von den biologischen und sozialen Einzelwesen unabhängig sind, jedoch müssen Positionen ebenso von Funktionsträgern ausgefüllt werden, wie umgekehrt Individuen nur innerhalb von feldspezifischen Produktions- und Austauschverhältnissen Kapitalien akkumulieren können.63 Da Positionen von prinzipiell „austauschbaren Subjekten eingenommen werden“ (Bourdieu 1976, 363f.), hängt die Allokation der Individuen in einem Feld primär von der Struktur und dem Volumen des Kapitals ab, über das sie aufgrund von Herkunft und sozialer Laufbahn verfügen. Die daraus resultierenden, statistisch leicht nachweisbaren Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und feldspezifischen Positionierungschancen versteht Bourdieu allerdings nicht im Sinne einer simplen mechanischen Kausalität, in der Felder nur „Replikationen“ (Rehbein 2006, 116) der Sozialstruktur wären. Da die Kapitalformen nicht einfach ‚Ressourcen‘ oder ‚Kompetenzen‘ sind, die ein vereinzeltes Individuum für sich akkumuliert, sondern Kapital die sachliche Form „eines gesellschaftlichen Verhältnisses, […] einer sozialen Energie“ ist, welche „Bestand und Wirkung nur in dem Feld hat, in dem sie sich produziert und reproduziert“, gewinnt „jedes der klassengebundenen Merkmale Wert und Wirksamkeit durch die besonderen Gesetze eines jeden Feldes“, die jeweils bestimmen, „was in Beziehung auf dieses Feld als spezifisches Kapital […] fungiert“ (Bourdieu 1999, 194 [Hervh. i.O.]). Da damit je besondere Kapitalformen ihr Gewicht nur als Medien in feldinternen Austauschprozessen haben und nur in ihnen akkumuliert werden (wissenschaftliches Kapital, religiöses Kapital etc.), ist die Besetzung von Feldpositionen nie direkt durch die Merkmale der sozialstrukturellen Ausgangspositionen bestimmt. Kein Individuum verfügt z.B. aufgrund seiner sozialen Herkunft schon über ‚wissenschaftliches Kapital‘, aber je nach sozial ererbtem und im Bildungstitel zertifiziertem kulturellem Kapital ist der soziale Abstand zu den feldspezifischen Positionen und Praktiken größer oder geringer (vgl. Bourdieu 1998c; 1988). Daher zeigen die Homologien

63 Die Analysen zum Homo Academicus richten sich z.B. explizit gegen Perspektiven, die „ein Universum objektiver Beziehungen […] auf eine Population von Universitätsprofessoren verkürz[en]“ und so „weder das universitäre Feld“, noch seine Beziehung zum Feld der Macht erfassen können (Bourdieu 1988, 48). Gleichwohl wird die „objektivierte Geschichte“ eines Feldes „nur agiert und agierend, wenn der […] institutionalisierte Posten samt seinem impliziten […] Handlungsprogramm […] jemanden findet, der sich darin hinreichend wiederfindet […,] um ihn zu übernehmen […] und sich zugleich von ihm besitzen zu lassen.“ (Bourdieu 2001c, 197)

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zwischen den Feldpositionen und den sozialstrukturellen Positionen die Klassengebundenheit der feldspezifischen Positionierungschancen. Offenkundig ist diese Klassengebundenheit in der hochgradig formalisierten Alchemie von „Titel und Stelle“ (vgl. Bourdieu/Boltanski 1981; Bourdieu 2004a, 21-46.), bei der die Verteilung der den Zugang zu Positionen regelnden Bildungstitel zu großen Teilen vom ererbten kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapital abhängt. Mindestens ebenso wichtig sind die Wahlverwandtschaften von Habitus- und Lebensstilprägungen mit feldspezifischen Erwartungen, wie Hartmann (vgl. 2002 & 1996) an der Selbstreproduktion deutscher Eliten zeigt.64 Bourdieus Reproduktionsmodell ist dabei nicht auf besondere historische Konstellationen des Fordismus beschränkt, in denen der Zugang zu technisch definierten Berufspositionen durch klar definierte Titel geregelt war. Vielmehr weisen gerade Positionen mit geringem Formalisierungsgrad, die in den dynamischen Feldern beständig neu geschaffen werden, Anforderungen auf, die (wie Flexibilität, Kreativität, Entscheidungsautonomie etc.) in hohem Maße klassenspezifischen Habitusprägungen entsprechen: „Diese eher zu schaffenden als bereits geschaffenen Posten, dazu geschaffen, geschaffen zu werden, sind für diejenigen geschaffen, die [...] sich dazu geschaffen fühlen, ihre Posten zu schaffen […] und die sich, in Ausdrücken der klassischen Alternativen, gegen das Fertige und für das Werdende, gegen das Geschlossene und für das Offene entscheiden.“ (Bourdieu 1997, 39f.)

Wie sehr gerade diese ‚Entscheidung für das Werdende‘ klassenspezifische Dispositionen und Freiheitsgrade voraussetzt, hat Bourdieu am Beispiel der Konstitution des literarischen Feldes im 19. Jahrhundert herausgearbeitet (vgl. Bourdieu 2001a, 118127). Vieles spricht vor diesem Hintergrund dafür, dass auch die neuen ‚aktivierenden‘ Managementtechniken und die Formen der Entformalisierung, Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit (s.o. IV.7f.), die den formalisierten Zusammenhang von Bildungstiteln und Professionen lockern, die generationenübergreifende Vererbung von Klassenlage und Positionierungschancen eher noch verstärken werden‚ da die hier geforderten ‚soft-skills‘ über eine formalisierte Schulbildung kaum zu vermitteln sind und mithin noch stärker von der klassenspezifischen Primärsozialisation abhängen. Es handelt sich insofern um eine Modifikation der Reproduktionsmodi, keineswegs aber um eine Auflösung des Reproduktionszusammenhangs.65 Gegen schematische Modelle, die die Positionierungen in Ökonomie, Politik, Kulturproduktion etc. direkt aus der Klassenlage ableiten, entscheidet erst das kontingente Zusammentreffen konkreter individueller Dispositionen mit dem historischen Zustand eines Feldes über die reale Positionierung. In Zeiten massiver Transformationen der feldspezifischen Reproduktionsmodi kann dies auch erhöhte Zu64 Vgl. Bourdieu 2004a, 319-409. Hartmann (vgl. u.a. 1994, 365ff.) zeigt, dass von sozialer Offenheit auch bei deutschen Eliten keine Rede sein kann. Gerade in Reaktion auf die Verallgemeinerung der Bildungstitel dominiert der Rückgriff auf klassenspezifische Habitusprägungen als Selektionskriterium über die bildungsspezifische Qualifikation. 65 Vgl. u.a. Voß/Pongratz 2003; Boltanski/Chiapello 2003. Bourdieu hat früh Wandlungsprozesse im ökonomischen Feld herausgearbeitet, die v.a. in den Führungspositionen zur Verdrängung technisch-naturwissenschaftlicher Titel durch unspezifischere (kulturelle und soziale) Qualifikationen führen (vgl. Bourdieu et al. 1981a, 40ff.; 2004a, 317-425).

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gangschancen für bislang eher ausgeschlossene Individuen ermöglichen.66 Aber auch wenn Positionen – anders als die Rangordnung ständischer Stratifikation – nie direkt vererbt werden, präfigurieren die soziale Herkunft und der aktuelle Stand der Klassenverhältnisse den Bedingungsrahmen möglicher Positionierungen. Damit wird ein in der Sache unstrittiges Phänomen innerhalb eines spezifischen Analyserahmens erschlossen, der sich von funktionsanalytisch oder individualistisch verkürzten Interpretationen von Ungleichheit – als Ausdruck individueller „Leistungen“ (vgl. u.a. Stehr 1994, 186-202) oder als sekundärer ‚Nebeneffekt‘ eines Funktionsprozesses (Luhmann; s.o. 3.2) – unterscheidet. Gegenüber solchen Rechtfertigungen sozialer Ungleichheit durch die Zurechnung auf Leistung und Zufall, in der sich ökonomische und politische Rhetorik und eine sich diesen Vorgaben unreflektiert ausliefernde soziologische Sekundärbeschreibung treffen, zielt Bourdieu auf eine Erklärung des in allen empirischen Untersuchungen – ob zur Elitenreproduktion, den Bildungs- und Berufschancen oder den politischen Partizipationsformen – gezeigten gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem die Fähigkeiten der Individuen und die Zugangsmöglichkeiten zu funktionellen Positionen mit der sozialen Herkunft verwoben sind. 67 Zur Erklärung der Persistenz der Klassenstruktur erinnert Bourdieu zunächst an einen trivialen, tautologischen und noch in der oberflächlichsten Erscheinung einer kapitalistischen Ökonomie erkennbaren (in der politischen Rhetorik und auch in der Soziologie aber oft verdrängten) Zusammenhang: Chancen und Risiken oder überhaupt die Möglichkeit einer Investition hängen von der Verfügung über Kapital – durch eigene Akkumulation, Erbe oder Kreditwürdigkeit – ab, womit ungleiche Ausgangspositionen nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit zu verschiedenen Endpositionen führen. Bourdieus Kapitalbegriff eignet sich zur Kennzeichnung des Vermittlungszusammenhangs von Ausgangs- und Endposition prinzipiell besser als Luhmanns Medienbegriff, der lediglich das Modell einer einfachen Zirkulation zugrunde legt und eine Akkumulationslogik begrifflich nicht einbezieht. Zudem sind verschiedene Kapitalien (anders als Luhmanns Medien) – durch Transferarbeit und unter Inkaufnahme von Risiken und Transformationskosten – ineinander konvertierbar (vgl. Bourdieu 1992a, 70ff.). Schon auf dieser (immer noch oberflächlichen) Beobachtungsebene wird sichtbar, dass die Verfügung über ökonomisches Kapital hinsichtlich der Freiheitsgrade und Möglichkeiten zur Transformation in kulturelle, politische, soziale etc. Kapitalformen eine privilegierte Stellung einnimmt. Zwar sind

66 Vgl. im Zusammenhang mit der Bildungsexpansion und ihren Effekten im akademischen Feld: Bourdieu 1988, v.a. 213-305. Zur Umstellung der Reproduktionsstrategien im Zusammenhang mit zahlreichen anderen Feldern: Bourdieu 1999, 210-276. 67 Die Behauptung, „externe Ungleichheiten“ seien aus jedem Klassenzusammenhang entbunden, da „in den Familien“ eventuelle „Vorteilskonglomerate funktionsspezifischer Art“ (Reichtum, kulturelle und politische Kompetenzen) „kaum noch transferierbar“ seien (Luhmann 1998, 768f.), ist empirisch leicht widerlegt (vgl. Hartmann 1996; 2002; Geißler 2004; Kreckel 2004; selbst Hradil 2004). Auch Ulrich Beck (vgl. 1986) sprach von der „überraschenden Stabilität“ (ebd., 121) sozialstruktureller Verteilungen. Dass sozialstrukturelle Positionen von der Berufsposition abhängen, dass dafür Qualifikationen, Fähigkeiten und Dispositionen ausschlaggebend sind und dass dabei das Bildungssystem eine selektive Allokationsfunktion hat, wird auch von vehementen Gegnern einer Klassenanalyse nicht bestritten und ist mit den Legitimationsnarrativen moderner Gesellschaften vereinbar (vgl. Luhmann/Schorr 1979, v.a. 230-320). Die Frage ist, wie man diese Befunde erklärt.

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Kapitalformen wie Luhmanns Medien nicht durch einander substituierbar – was letztlich nur die von Luhmann endlos variierte Feststellung beinhaltet, dass eine Barzahlung oder ein Gerichtsurteil nicht über Wahrheit oder Schönheit entscheiden können, dass man politische Entscheidungen oder akademische Titel nicht kaufen kann, jedenfalls nicht ohne justiziable Korruption etc. –, jedoch ist ökonomisches Kapital ebenso eine Voraussetzung der Kulturproduktion wie auf der Akteursebene die durch Geldverfügung eröffneten Freiheitsgrade mit darüber entscheiden, welche Zeit z.B. in die Akkumulation kultureller Kapitalien investierbar ist. Angesichts der unendlichen „Offenheit für einen noch unbestimmten Nutzen“ (Bourdieu 2000a, 36, vgl. Simmel 1989a) ist ökonomisches Kapital generell besser konvertierbar als andere Kapitalformen.68 Insofern haben feldspezifische Positionierungen klassenspezifische Bedingungen und tragen zur generationenübergreifenden Reproduktion von Positionierungschancen bei. Alle Rede von „Chancengleichheit“ vergisst, dass „das ökonomische Spiel, aber auch die kulturellen Spiele (Feld der Religion, des Rechts, der Philosophie usw.) keine fair Games sind“, womit die ‚freie Konkurrenz‘ eher „einem seit Generationen währenden Handicaprennen“ gleicht, bei dem die Chancen des Einzelnen durch die „positiven oder negativen Resultate“ der „kumulierten Spielergebnisse aller seiner Vorfahren“ prädeterminiert sind (Bourdieu 2001c, 275f.). Bis zu diesem Punkt verbleibt die Analyse auf dem Boden oder besser an der Oberfläche des für den soziologischen Common Sense Akzeptablen, da sie von den Grundbeständen sozialer Ungleichheitsforschung nicht wesentlich abweicht, die sie allenfalls durch neue Analyseraster und dankbare Begrifflichkeiten ergänzt. Dass Bildungschancen vom Herkunftsmilieu abhängen, die Primärsozialisation für kulturelle und sprachliche Kompetenzen ausschlaggebend ist oder Eliten zu sozialer Schließung neigen, ist tausendfach in dieser Form erklärt worden. Inhaltlich und formal konvergieren Bourdieus Beiträge hier mit zahlreichen anderen zeitgenössischen Deutungen (vgl. Petrat 1969; Bernstein 1970; Oevermann 1969). Der Begriff ‚kulturelles Kapital‘ gehört längst zur unabhängig von Bourdieu gebräuchlichen Grundterminologie der Bildungsforschung (vgl. u.a. Baumert/Schümer 2002). Hartmann (vgl. 1996 & 2002) hätte seine empirisch reichhaltigen Befunde zur Elitenreproduktion prinzipiell auch ohne Rekurs auf Bourdieu interpretieren können. Und auch Gegner der ‚Klassensemantik‘ könnten diese Befunde noch akzeptieren und – von Schelsky (1965, 334) über Hradil (1987, 95) bis Luhmann (1998, 774f., Fn. 333) – so deuten, dass ‚die Gesellschaft‘ zwar längst auf Gleichheit beruhe, aber ‚die Menschen‘ (aufgrund von Statusverlustängsten und hierarchischen Orientierungen) weiterhin überholte soziale Unterschiede tradieren, die jedoch als „Randerscheinungen“ (Balke 2002, 127) zum Verständnis der Strukturprinzipien moderner Gesellschaften nichts beitragen.

68 Auch wo Bildung keine direkte Geld-Investition erfordert, setzt sie einen Zeitaufwand voraus, der durch Verfügung über ökonomisches Kapital ermöglicht wird (vgl. Bourdieu 1992a, 72; Volkmann/Schimank 2006, 225f.). Bei freischaffenden Literaten fördert gerade der Besitz die freie Akkumulation kulturellen Kapitals: „Das (geerbte) Geld sichert […] die Freiheit vom Geld. Umso mehr, als das Vermögen, indem es […] Netz und doppelten Boden gibt, […] Wagemut verleiht“. Das „erspart den ‚reinen‘ Schriftstellern Kompromisse, zu denen fehlende Einkünfte […] zwingen würden.“ (Bourdieu 2001a, 138)

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Der über andere Theorien sozialer Ungleichheit hinausgehende soziologische Gehalt von Bourdieus Reproduktionstheorie ist aber an diesem Punkt, über den ein Großteil der Rezeption nie hinausgelangte, noch kaum berührt. Dieser Gehalt liegt nicht in einer Theorie der generationenübergreifenden ‚Vererbung‘ sozialer Ungleichheit in der familiären Primärsozialisation und der darauf aufbauenden schulischen Sozialisation, sondern in einer Theorie und Analyse der Reproduktion der Klassenstruktur einer genuin kapitalistischen Gesellschaft, die keine akzidentielle Erscheinung, sondern eine funktionale Voraussetzung dieser Gesellschaftsform ist. Diese Reproduktion wird weder auf ein Klassenhandeln noch allein auf die Vererbung von Kapitalformen zurückgeführt, sie wird vielmehr aus dem funktionalen Zusammenspiel verschiedener ausdifferenzierter Felder hergeleitet, die gerade in ihrer relativen Autonomie und auf der Grundlage ihrer inneren (von der unmittelbar ökonomischen Dimension unterschiedenen) Funktionslogik zur Reproduktion der gesellschaftlichen Voraussetzungen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise beitragen, ohne auf diese Funktion reduzierbar zu sein.

3.4.3 Die Funktionen der Felder für die Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse „Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, daß in der heutigen Gesellschaft […] die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann?“ KARL MARX (MEW 19, 30 [Hervh. i.O.]) „Wenn man dem Bildungssystem […] absolute Unabhängigkeit zuerkennt oder […] es im Gegenteil nur als Funktion des jeweiligen Wirtschaftsystems […] ansieht, kann man nicht mehr erkennen, daß es gerade aufgrund seiner relativen Autonomie unter dem Anschein von Neutralität […] ihm äußerliche Funktionen erfüllen kann[.]“ PIERRE BOURDIEU/JEAN-CLAUDE PASSERON (1971, 191 [Hervh. i.O.])

Obwohl Bourdieu die Existenz unterschiedlicher Kapitalformen auf Klassenverhältnisse als Verhältnisse der Ausbeutung, Enteignung und Aneignung zurückführte, und die moderne Gesellschaft als kapitalistische Gesellschaft charakterisierte, in der das ökonomische Feld eine latente Dominanz hat (vgl. Bourdieu 1985, 11; 2004a, 326f.), fehlt bei ihm eine eigene Analyse der Kernstruktur der kapitalistischen Produktionsweise, was in der Rezeption oft moniert wurde (vgl. Volkmann/Schimank 2006; Herkommer 2002). Selbst das ökonomische Feld wird primär auf soziale und kulturelle Voraussetzungen kapitalistischer Wirtschaftspraktiken hin untersucht (vgl. Bourdieu et al. 1998a), während etwa die Analyse der „Reservearmee“ als „letzte[r] Grundlage dieser ganzen wirtschaftlichen Ordnung“ (Bourdieu 2004c, 124f.; vgl. 2001c, 263) wenig mehr als ein Marx-Resümee ist. Man kann diese ‚Abstinenz‘ aber auch dahingehend verstehen, dass Bourdieu diese Analyse der ‚Kernstruktur‘ der kapitalistischen Ökonomie seinen eigenen Analysen als nicht weiter klärungsbedürftig schlicht voraussetzte, um (ähnlich wie Foucault) eher nach den gesellschaftlichen Vorausset-

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zungen des Funktionierens dieser Wirtschaftsform zu fragen. Dafür spricht auch, dass Bourdieu nicht nur abstrakt von einer tendenziellen Dominanz des ökonomischen Feldes sprach, sondern in den Untersuchungen zur Wandlung der Interrelationen verschiedener Felder oft von konkreten Transformationen der Modi der ökonomischen „Profitabschöpfung“ (Bourdieu et al. 1981a, 50; vgl. Bourdieu 2004a; Bourdieu/Boltanski 1981) ausging. Während diese ökonomischen Transformationen stillschweigend auf der Grundlage genuin marxscher Analyseraster beobachtet werden können, ist die eigentliche Frage dann, wie die Metamorphosen der Produktionsweise mit anderen sozialen, kulturellen und politischen Transformationen verwoben sind. Dass solche Fragen auch hinter dem Feldkonzept stehen, zeigen die (selten rezipierten, für das Feldkonzept aber wegweisenden) Analysen zum Religiösen Feld von 1971, in denen in einer „freien Interpretation“ (Bourdieu 2000b, 11 [Hervh. i.O.]) sozialhistorischer Analysen Max Webers die erste begrifflich scharfe Fassung des Feldbegriffs entwickelt wird. Bourdieu will hier Durkheims „Frage nach den ‚gesellschaftlichen Funktionen‘“ der Religion „für den gesamten ‚Gesellschaftskörper‘ in der Form der marxistischen Fragestellung nach den politischen Funktionen, welche die Religion aufgrund der ihr eigenen symbolischen Wirksamkeit für die unterschiedlichen Klassen einer bestimmten Gesellschaftsform erfüllt, neu formulieren“ (ebd., 48). In der Bearbeitung dieses Problems knüpft er jedoch primär an Weber an, dessen über marxistische Ansätze hinausweisende Stärke es war, Marx’ Frage nach der Funktion der Religionen für die „Legitimierung“ der Herrschenden und die „Domestizierung der Beherrschten“ in einer Weise zu bearbeiten, die es erlaubt, „die relative Autonomie“ besser zu erfassen, „welche die marxistische Tradition der Religion zuspricht, ohne daraus [...] alle Konsequenzen zu ziehen“ (ebd., 47f.). In den Analysen zum Verhältnis von „Stände[n], Klassen und Religion“ bestimmte Weber (1984, 285-314) sozialstrukturelle Gruppen zwar als Träger der Religionen, aber „nicht als Exponenten ihres Berufes oder materieller ‚Klasseninteressen‘, sondern als ideologische Träger einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte“ (ebd., 311). Die Ausdifferenzierung eines Korps religiöser Spezialisten führt dazu, dass in der Bearbeitung der Heilsprobleme genuin religiöse Interessen verfolgt werden. Durch die Bedingtheiten in objektiven Lebenslagen und die „Wahlverwandtschaft“ (ebd., 703) von Spezialisten und Laien bleibt die religiöse Sachlogik aber mit der sozialen Herrschaftsordnung verknüpft. Dass Weber damit keine idealistische Gegenposition zu Marx vertrat, zeigt schon die Erklärung der „ökonomische[n] Existenz des Bürgertums“ zum eigentlichen Nährboden des Protestantismus. Selbst in Epochen enthusiastischer „Hingabe an die jenseitigen Interessen“ würde mit der „Veralltäglichung der neuen religiösen Gehalte […] die Wahlverwandtschaft des religiös geforderten mit dem sozial bedingten Lebensstil der […] Klassen fühlbar“ (ebd., 703ff.). Bourdieu (2000b) übernahm den Gedanken, dass die Interdependenzen zwischen dem religiösen Feld und den Klassenverhältnissen weniger auf direkter Kausalität und eher auf Entsprechungsverhältnissen beruhen.69 Zur Charakterisierung dieser

69 Bourdieu (2000b, vgl. v.a. 15ff.) fasst das, was Weber eher als Interaktionsgefüge schilderte, stärker als objektives Gefüge, indem er die objektiven Relationen zwischen den Positionen der Priester und den konkurrierenden Propheten einerseits und zwischen den sozial-

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funktionellen Homologien wird die zentrale Unterscheidung interner Funktionen und externer Funktionen des Feldes eingeführt (vgl. ebd., 58f.), was Luhmanns (vgl. 1988b, 63ff.) Differenz von Funktion und Leistung eines Systems entspricht. In der internen Funktion des Feldes geht es um feldspezifische sachliche Bezugsprobleme und der Grad seiner Autonomie entscheidet sich eben daran, inwieweit die um eine interne Sachlogik zentrierten Diskurse und Praktiken einen esoterischen und selbstbezüglichen Charakter annehmen.70 Gerade durch die Erfüllung seiner internen Funktion gewinnt das Feld aber auch „eine externe Funktion der Legitimation der etablierten Ordnung“ (Bourdieu 2000b, 97): Da das Heils- und Erlösungswissen einer kosmologischen Ordnung nicht im Jenseits produziert wird, muss es die wirkliche Welt als Ausdruck und Teil der göttlichen Ordnung berücksichtigen. Dadurch, dass die „symbolische Ordnung“ der Religion in verklärter Form auch den sozialen, politischen und ökonomischen Teilungsprinzipien entspricht, trägt sie zu deren Reproduktion bei, indem sie den Laien daran „angepaßte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata aufprägt“, die den bestehenden gesellschaftlichen Relationen „die in der ‚Naturalisierung‘ bestehende höchste Legitimation verleiht“ (ebd.). Entscheidend ist aber, dass die Religion nicht aus dieser externen Funktion heraus zu erklären ist, deren spezifische Form umgekehrt selbst erst aus der Analyse der internenen Funktionen und des internen Strukturaufbaus des religiösen Feldes erschlossen werden kann (vgl. ebd., 62ff.). Dies gilt ebenso für die den Reproduktionsdynamiken entgegen wirkenden religiösen Kämpfe, die als ein Medium sozialer Kämpfe fungieren. Denn auch diese „Klassenkämpfe“ sind nur zu verstehen, wenn man dem „Verkennungseffekt Rechnung trägt, der bewirkt, daß es zum Klassenkampf zu einer gegebenen Zeit nur kommen kann, wenn er die Form […] des Religionskriegs annimmt“ (ebd., 68, vgl. 66-76 & 102-110). Dieses Grundmodell und die Unterscheidung interner und externer Funktionen der Felder legte Bourdieu auch den Analysen zur Reproduktion der Klassenstruktur moderner Gesellschaften zugrunde, die um zwei zentrale Problemstellungen kreisen: Einerseits wird die Frage verfolgt, wie der dynamische Reproduktionsprozess kapitalistischer Gesellschaften, der in Differenz zur relativen Statik vorkapitalistischer Gesellschaften einer Entwicklungs- und Krisendynamik unterliegt, die eine beständige Umstellung der Reproduktionsmodi erfordert (vgl. Bourdieu 2000a, v.a. 43ff.; Bourdieu et al. 1981a & 1981b), sich im unkoordinierten Zusammenwirken heterogener Felder und „in Form der scheinbaren Anarchie der Reproduktionsstrategien und der kollektiven Auseinandersetzungen zwischen Verbänden, Interessengruppen und Parteien“ (Bourdieu 2004a, 475) herstellt. Andererseits geht es um die Frage, wie eine Gesellschaftsform, deren Klassenverhältnisse als Ausbeutungs-, Dominanz- und Ab-

strukturellen Positionen der legitimationsbedürftigen herrschenden Klassen und denen der erlösungsbedürftigen beherrschten Klassen andererseits schärfer konturiert. 70 „Die Autonomie des religiösen Feldes zeigt sich in der Neigung der Spezialisten, sich in eine schon autark zu nennende Bezugsnahme auf das schon akkumulierte religiöse Wissen und im Esoterismus einer quasi-kumulativen, vor allem für die Produzenten selbst bestimmten, Produktion einzuschließen.“ (Bourdieu 2000b, 55f.) Anders als in Luhmanns (2000c) Religion auf Scholastik reduzierender Perspektive muss in einem Feld dafür allerdings auch die praktische „Reproduktion austauschbarer Produzenten von Heilsgütern“ (Bourdieu 2000b, 80) gesichert sein.

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hängigkeitszusammenhang konfliktträchtig sind, ihre sozialen Legitimitätsbedingungen reproduziert.71 Bourdieu verfolgt diese miteinander verbundenen Fragen weniger auf der Ebene des Sinns oder der aktiven Politik und weitet stattdessen Marx’ Frage nach den sich blind hinter dem Rücken der Handlungsagenten durchsetzenden Zusammenhängen auf das Wechselverhältnis verschiedener gesellschaftlicher Felder aus. In der Frage der funktionellen Reproduktion wie in der Frage der Legitimitätsproduktion bestehen komplexe Interdependenzbeziehungen zwischen der kapitalistischen Ökonomie und den anderen relativ autonomen Feldern, die vielfältige Abstufungen aufweisen – von eher losen und diffusen Entsprechungen bis zu klaren Kausaldeterminationen: „Zwischen dem ökonomischen Produktionsfeld und den übrigen Feldern liegen Beziehungen sowohl der strukturalen Homologie als auch der Kausalabhängigkeit vor, wobei die Form der Kausalbestimmungen durch die strukturalen Beziehungen definiert werden und die Dominanz [des ökonomischen Feldes T.H.] um so ausgeprägter ist, je näher die Produktionsfelder, in denen sie wirkt, dem Bereich der ökonomischen Produktionsverhältnisse stehen[.]“ (Bourdieu 1985, 33)

Entsprechend dieser Beobachtung sind die Interdependenzbeziehungen mit der kapitalistischen Produktion im Feld der Freien Künste weniger stark ausgeprägt und wirken weniger direkt als etwa im Bildungssystem, das in Bourdieus Reproduktionsanalysen stets besondere Beachtung fand. Bourdieus Analysen stellen die Transformationen des Bildungssystems explizit in den Kontext einer „Umstrukturierung des ökonomischen Feldes“, welche „über eine Veränderung im Modus der Kapitalprofite zu einer Umstrukturierung des Systems der Beziehungen zwischen Wirtschaftsbereich und dem System der Reproduktionsinstrumente, insbesondere auch dem Bildungssystem“ führt. Dies bedingt einen „tiefgreifenden Funktionswandel des gesamten Felds der Institutionen, die speziell der Reproduktion der herrschenden Klasse dienen“ (Bourdieu et al. 1981a, 44 [Hervh. i.O.]). Statt des bloßen Nachweises der herkunftsbezogenen Selektivität des Bildungssystems steht hier die funktionsanalytische Frage im Zentrum, wie die Transformationen des Bildungssystems mit Metamorphosen der kapitalistischen Ökonomie zusammenhängen. Es sind dabei Anforderungen, die den von Marx prognostizierten Entwicklungstendenzen – Verwissenschaftlichung der Produktion, Expansion der Distributionsberufe, Trennung der ausdifferenzierten Kapitalfunktionen vom Kapitalbesitz (s.o. III.2 & V.3.3) – folgen, welche der „Klassen-Bildung“ (im doppelten Sinne des Wortes; vgl. Heim 2007) eine wachsende Bedeutung verleihen. Die öko-

71 Das knüpft an das bei Foucault und vielen anderen Autoren diskutierte Problem an, dass die von Marx geschilderte ökonomische Funktionslogik für die gesellschaftliche Reproduktion der Klassenverhältnisse nicht hinreicht. Diese erfordern historisch variable institutionelle Arrangements (Hall/Soskice 2001; Offe 1972), Regulationsmodi (Hirsch/Roth 1986) oder einen sie legitimierenden „Geist“ (Boltanski/Chiapello 2003) (s.o. IV). Auf den Punkt gebracht: „By virtue of their exploitative character, class structures are inherently unstable forms of social relations and require active institutional arrangements for their reproduction. Where class relations exist, therefore, it is predicted that various forms of political and ideological institutions will develop to defend and reproduce them.” (Burawoy/Wright 2000, 24f.).

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nomischen Verschiebungen führen einerseits zu einem wachsenden Bedarf für qualifizierte Arbeit, was in den 1960er Jahren auch ein wesentlicher Anlass war, die „deutsche Bildungskatastrophe“ (Picht 1965) auszurufen, da „Bildungsnotstand [...] wirtschaftlicher Notstand“ (ebd., 9f.) sei. Hier muss das Bildungssystem den „Gesetze[n] des Wandels im Bereich der Produktion von Arbeitskräften“ (Bourdieu/Boltanski 1981, 89ff. [Hervh. i.O.]) genügen. Andererseits muss es dem „Wandel der zur Appropriierung der Kapitalprofite eingesetzten Instrumente“ (Bourdieu et al. 1981a, 38) Rechnung tragen, der eintritt, wo die „Managers“ zur „Seele“ des Verwertungsprozesses werden (vgl. MEW 25, 400ff.). Das zu Marx’ Zeiten noch vorherrschende Modell eines von den Besitzern besoldeten Fabrikdirektors, der einen Modus stellvertretender „personaler Herrschaft“ verkörperte, wird zunehmend durch einen „strukturellen Herrschaftsmodus“ (Bourdieu et al. 1981a, 41 [Hervh. i.O.]) ersetzt, in dem die Führungs- und Kontrollfunktionen auf ein „System differenzierter Positionen“ verteilt sind, „die durch objektive Komplementaritäts-, Konkurrenz- und Konfliktbeziehungen miteinander verbunden sind und die mit Akteuren besetzt werden, die relativ austauschbar sind“ (ebd., 39f.). Die dafür vorausgesetzte wachsende Zahl von Führungskräften kennzeichnet ein neuer „Profitaneignungsmodus“, der auf der „Abschöpfung des ökonomischen Gewinns […] in Gehaltsform“ beruht und als sachlich „verschleierte Form der Profitabschöpfung“ im „Vergleich zur offenen Gewinnentnahme weniger ins Auge fällt“ (ebd., 50). Der Aufstieg dieser ‚Lohnbourgeoisie‘ (vgl. Boltanski 1990) markiert eine Umstellung des Reproduktionsmodus der Klassenverhältnisse. Die Reproduktion löst sich partiell von der direkten Vererbung ökonomischer Besitztitel und wird stärker über den sachlichen Mechanismus der Bildung vermittelt. In diesen Konstellationen erfüllt das Bildungssystem neben der Produktion technisch qualifizierter Arbeits- und Führungskräfte vermehrt die Doppelfunktion, die Reproduktion der Klassenstruktur zu vermitteln und sie zugleich nach den Prinzipien von Gleichheit, Leistungsgerechtigkeit etc. zu legitimieren. Die Analysen zum Wandel des Reproduktionsmodus (vgl. Bourdieu et al. 1981a, 44ff.) wenden sich daher explizit gegen den normativen Gestus und gegen die Erwartungen, Bildung könne zur Überwindung sozialstruktureller Ungleichheitsrelationen beitragen, von denen die Bildungsforschung oft getragen war.72 Das heißt jedoch nicht, dass Bildung im Gegenzug auf ein ‚Instrument der Klassenherrschaft‘ reduziert würde. Vielmehr dient die Unterscheidung externer und interner Funktionen dazu, die „doppelte Wahrheit eines Systems [zu] begreifen, das der ihm äußerlichen Funktion, die ‚Sozialordnung‘ zu erhalten, die innere Logik seines Funktionierens nutzbar zu machen versteht“ (Bourdieu/Passeron 1971, 191 [Hervh. i.O.]). Das richtet sich gegen marxistische und wirtschaftstechnokratische Reduktionen des Bildungssystems auf seine ökonomische Funktion, aber auch gegen Verwendungen des marxschen Begriffs der „konkreten Totalität“, die zwar komplexere funktionelle Relationen berücksichtigen, aber „Gefahr [laufen], die Besonderheit

72 Man denke an das „Bürgerrecht Bildung“ (Dahrendorf 1965) und die Rede von „Gerechtigkeit“, ja von der „Sozialtherapie mit dem Ziel tatsächlicher demokratischer Verhältnisse“ (Petrat 1969, 12f.). Von solchen Gemeinwohl-Ideologien setzte sich die Kritik der „Illusion der Chancengleichheit“ (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, v.a. 15f. & 193ff.; Bourdieu 1999, 227ff.; 2004a, v.a. 319-412) explizit ab, was ein lebenslanges Engagement für eine Verringerung der im Bildungssystem wirksamen Selektionsmechanismen nicht ausschloss.

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der verschiedenen Subsysteme zu vernachlässigen, indem man jedes einzelne so behandelt, als gehorchte es nur der einen immer gleichen ursprünglichen Dynamik“ (ebd., 201). Tatsächlich wäre eine Gesellschaft, in der das Bildungswesen „ausschließlich die Rolle eines rein ökonomischen Zwecken gehorchenden Industriebetriebs“ oder einer Klassenreproduktionsmaschine spielt, eine „sozio-logisch unmögliche Idee“ (ebd., 200): Gerade die ökonomische Zweckbestimmtheit der ‚Produktion von Produzenten‘ setzt eine Grundlagenbildung voraus, die in ihrer ökonomischen Funktion nie aufgeht, da die Vermittlung von Bildungsinhalten stets auch Freiheitsgrade ihres Gebrauchs eröffnet, die ihre gesellschaftliche Funktion und Form als ‚kulturelles Kapital‘ übersteigen.73 Ähnliches gilt für weitere Funktionen des Bildungssystems, wie die kulturelle Integration, die Vermittlung normativer Einstellungsmuster aber auch eines individuellen Urteilsvermögens. Nicht zuletzt muss für die Bildungsvermittler, vor allem in höheren Bildungseinrichtungen, die handlungskonstitutive illusio aufrecht erhalten werden, dass es in ihrem Tun auch noch um etwas anderes geht als um die Erfüllung ökonomischer Funktionen.74 Auch die Zuschreibung von Bourdieu und Boltanski (1981), der zufolge es „im Interesse der Käufer von Arbeitskraft“ sei, „die Autonomie des Bildungssystems […] auf ein Minimum zu reduzieren“ und es „in direkte Abhängigkeit von der Wirtschaft zu bringen“, da seine Autonomie „ein gegenüber dem ökonomischen Apparat langsameres Veränderungstempo“ mit sich bringe (ebd., 93), greift in dieser Hinsicht zu kurz. Sie entspricht zwar einzelnen Stimmen aus Wirtschaft und Politik, jedoch sind gerade die zunehmend nachgefragten soft-skills (Kreativität, Reflexivität, Eigeninitiative, allgemeine Kompetenzen etc.), mit denen sich die Subjekte selbst den unabsehbaren ökonomischen Erfordernissen adaptieren sollen, nicht durch ein ökonomisiertes und entautonomisiertes Bildungssystem vermittelbar. Die diesbezügliche Gegenfinalität einer Ökonomisierung der Bildung für die Ökonomie wurde jüngst angesichts der Bologna-Reformen offenkundig und führte auch zu Klagen von Unternehmen über das gelieferte Produkt (v.a. der Bachelor-Studiengänge). Insofern kann in einer entwickelten kapitalistischen Ökonomie nur eine relativ autonome Bildung ihre „technische Reproduktionsfunktion“ als „beherrschende Instanz für die Produktion von Arbeitskräften“ (ebd., 91) und Kapitalfunktionären erfüllen. Eine relative Autonomie der internen Bildungsfunktionen ist auch den externen Funktionen vorausgesetzt, die der Bildung bei der sozialen Reproduktion und Legitimation der Klassenverhältnisse zuwachsen. Schließlich erfordert jede erfolgreiche Legitimationsarbeit eine erkennbare Differenz und Unabhängigkeit von legitimierender und legitimierter Instanz (vgl. Bourdieu 2001c, 133ff.; 2004a, 467ff.). Allerdings besteht zwischen den inneren und äußeren Funktionen des Bildungswesens eine prästabilierte Harmonie, insofern schulische Klassifikationssysteme – wie alle gesellschaftlichen Taxonomien von der Klassifikation der Nahrung bis zu den ‚höchsten‘

73 Angesichts solcher Kritiken und der ausführlichen Berücksichtigung feldspezifischer Eigenlogiken, ist der Einwand unverständlich, Bourdieu leite „das Einzelne aus einer unveränderten Grundstruktur“ ab (Rehbein 2006, 123). 74 Vgl. zur akademischen illusio: Bourdieu 1988; 1998c. Diese kann unterschiedliche Formen annehmen und etwa auch zu einer Haltung des kultivierten Zynismus gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb führen (vgl. u.a. Kittsteiner 2008, 164f.), die aber dann ihrerseits noch von einem Glauben an den Selbstwert von Bildung und Wissenschaft zehrt.

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metaphysischen Kategorien – symbolische Ausdrücke sozialer Klassenverhältnisse sind, die sie zugleich naturalisieren, universalisieren und legitimieren (vgl. Bourdieu 1999, 727-783). Die objektiven Entsprechungen zwischen den Taxonomien schulischer Bewertungen und den Klassenverhältnissen führen dazu, dass die innere Logik schulischer Bewertung „vielfach nur die sozial bedingte Einstellung zur Bildung beurteilt“, wo sie „einen ‚brillanten‘ oder ‚begabten‘ Schüler einem fleißigen vorzieht“ (Bourdieu/Passeron 1971, 41).75 Zudem werden nicht alle als Ausdruck von ‚Begabung‘ und ‚Leistung‘ sanktionierten Kompetenzen auch schulisch vermittelt. Ihren Wert gewinnen die schulischen „Bildungspartikel“ daher oft erst in umfassenderen Kontexten, während (als scheinbar paradoxer Effekt) das ausschließlich von den Bildungsinstitutionen vermittelte Wissen mit dem „Etikett des ‚Schulmäßigen‘“ (Bourdieu 1999, 48) abgewertet wird (vgl. Bourdieu/Passeron, 1971, 37). Insgesamt resultiert bei diesen und anderen Mechanismen die Perpetuierung der Struktur der Klassenbeziehungen gerade aus dem formalen Ignorieren des Klassenhabitus. Die Gleichgültigkeit gegen die sozialen Determinanten der individuellen Leistungen und die formale Gleichbehandlung von sozial ungleichen Individuen bewirkt, dass verschiedene Dispositionen unintendiert sanktioniert und verschärft werden.76 Indem das Bildungssystem auf dieser Grundlage „die unterprivilegierten Klassen […] eliminiert“ (ebd., 16) und die Positionsvorteile sowie das ererbte kulturelle Kapital privilegierter Klassen in das symbolische Kapital der Titel transformiert, trägt es zur ‚Vererbung‘ der Klassenzugehörigkeit über die Generationen bei.77 Zugleich leistet es „die praktische Rechtfertigung der bestehenden Ordnung“, da die „von ihm garantierten sichtbaren Beziehungen zwischen Titeln und Posten“ diejenigen von „erlangtem Titel und ererbtem kulturellen Kapital verschleiern“ (Bourdieu 1987, 243): Indem eine „charismatische Ideologie“ (Bourdieu 1999, 606) die im Bildungsabschluss autorisierten Positionierungschancen auf Begabung und Leistung des Einzelnen zurückführt, wird verborgen, dass die Bildungshierarchien soziale Hierarchien reproduzieren. Diese Doppelfunktion des Bildungssystems, „mit seiner sozialen Funktion der Reproduktion der Klassenbeziehungen seine ideologische Funktion der

75 Vgl. zur Klassenspezifik schulischer Taxonomien auch Bourdieu/Passeron 1971, 216f. Unabhängig von Bourdieu zeigte für Deutschland etwa Preuß (1970), wie die Einordnung von Schülern durch die Lehrer in ein charakterologisches Polaritätsprofil (z.B. reiche/dürftige Phantasie, interessierbar/schwer anregbar etc.) mit anderen Lehrerurteilen und der Klassenherkunft der Schüler korrelierte (vgl. ebd., 61-76). So wirkt das Bildungssystem als „institutionalisierte Apparatur für Klassifizierungen, die ihrerseits [...] die gesellschaftlichen Hierarchien reproduziert […]; es transformiert […] gesellschaftliche Klassifizierungen in solche des Ausbildungserfolgs und etabliert damit Hierarchien“, die als „in der Natur begründete“ gelten (Bourdieu 1999, 605). 76 Gleichbehandlung verstärkt etwa die Differenzen der Sprachkompetenz, da die implizit geforderten Ausgangsvoraussetzungen für Schüler aus unteren Gesellschaftsklassen bereits eine den Anschluss erschwerende Überforderung darstellen oder die Differenzen zur Sprache und Kultur des Herkunftsmilieus Irritations- und Irrealitätseffekte gegenüber der schulischen Sprache und Praxis hervorruft (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, 29-39 & 93-129; OECD 2001, 171f.). 77 Vererbung“ meint, dass das schulisch sanktionierte kulturelle Kapital von Kindern „privilegierter Klassen“ im Hineinwachsen in die Praktiken des Elternhauses relativ mühelos und selbstverständlich angeeignet wird. Eine der in Bourdieu/Passeron (1971) aufgenommenen Studien heißt im Original entsprechend Les Héritiers.

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Verschleierung dieser Reproduktionsfunktion“ zu erfüllen (Bourdieu/Passeron 1971, 215), beruht gerade darauf, dass es seine „innere Funktion“ (Vermittlung, Tradierung und Kontrolle von Wissen) auf der Grundlage seiner eigenen Logik und in relativer Autonomie gegenüber äußeren Interessen erfüllt. Erst die formale und neutrale Bewertung der Leistung nach einheitlichen Kriterien ermöglicht „die soziale Anerkennung der pädagogischen Legitimität“, die Voraussetzung der „pädagogischen Legitimation der bestehenden Ordnung“ (ebd., 223) ist. Indem das Bildungssystem allen Individuen zwar nicht die Kenntnis, wohl aber die Anerkennung der legitimen Kultur und der Kriterien schulischer Bewertung als allgemein gültige Maßstäbe vermittelt, werden gerade die durch diese Mechanismen Exkludierten zur Akzeptanz ihrer Exklusion gebracht. Letzteres zeigt sich etwa darin, dass gerade bei den beherrschten Klassen der Glaube an die Bildung als Ausdruck individueller Fähigkeiten und Verdienste besonders ausgeprägt ist (vgl. Bourdieu 1999, 606-619; 1988, 233f.). Für die alltägliche Sicht, die politische Rhetorik und eine Soziologie, die dazu tendiert, sich diesen „legitimatorischen Mechanismen blindlings auszuliefern“ (Schwingel 1993, 144), erscheinen die im Bildungstitel zertifizierten Kompetenzen dann als legitimer Grund jener sozioökonomischen Positionen, von denen ihr Erwerb abhing. Die „soziale Magie“ dieser Transubstitution von Verhältnissen der Willkür in solche der Anerkennung macht Bildung zum „privilegierte[n] Instrument der bürgerlichen Soziodizee, das den Privilegierten jenes höchste Privileg verschafft, nicht als Privilegierte zu erscheinen“ (Bourdieu/Passeron 1971, 228). Jene Klassen, die das Bildungssystem „hindert, die Prinzipien, aufgrund derer es sie ausschließt, zu erkennen und anzufechten“ (ebd., 225), werden (indem sie ihre soziale Position als in ihrem Unvermögen gerechtfertigt anerkennen) zu Komplizen ihrer Unterdrückung, die oft genug – etwa im Selbstausschluss von weiteren Bildungsmöglichkeiten – die strukturelle Herrschaft gegen sich selbst exekutieren. Was der Bildungssoziologie meist als isolierte, der ‚eigentlichen‘ Funktion der Bildung widersprechende Dysfunktion erschien, fügt sich hier in einen gesellschaftlichen Funktionszusammenhang, in dem die relative Autonomie und Eigenlogik der inneren Funktionen des Bildungssystems seinen äußeren ökonomischen und politischen Funktionen vorausgesetzt ist. Das Modell entgeht damit den Problemen einer ‚materialistischen Bildungsökonomie‘ (vgl. Becker 1976, 248-345) ebenso wie denen einer Soziologie des „gesunden Menschenverstands“, die abwechselnd das Bildungssystem für die „Ungleichheit, die es reproduziert, verantwortlich macht“, um dann wieder dem „Gesellschaftssystem […] die Ungleichheit in einem an sich untadeligen Bildungssystem“ anzulasten (Bourdieu/Passeron 1971, 192). Die (auch für Deutschland gut belegte) Reproduktionsfunktion der Bildung78 meint dabei keinen unausweichlichen und unveränderlichen Kreislauf. Als voraussetzungsreiches Produkt sozialer Kräfteverhältnisse kann die konkrete Form der Reproduktionstendenzen transformiert und abgemildert werden,79 zumal wo ein demokratischeres Bildungssystem zur besseren Nutzung des Humankapitals aller Klassen auch ökonomisch funktiona-

78 Vgl. nur: Ditton 1992; Köhler 1992; Baumert et al. 2003; OECD 2001; Geißler 2004. 79 Das ist eine Frage nationaler Ausgestaltungen. Im skandinavischen Modell, das Chancengleichheit als sozialstaatlich umzusetzendes Leitbild behandelt, ist die Bildungsmobilität bekanntlich weit höher als im deutschen.

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ler wirkt. Entsprechende Reformen ermöglichten seit den 1970er Jahren eine stärkere Bildungsaufstiegsmobilität, während das Bildungssystem umgekehrt als „blinde[s] Instrument stochastisch erfolgender Reproduktion“ die Positionsvererbung „der herrschenden Klasse“ nur sichert, „indem es einzelne Individuen opfert“ (Bourdieu et al. 1981a, 45; vgl. Bourdieu 1999, 248ff.), die dann durch Kompensationsstrategien (ökonomisches Erbe, soziale Netzwerke) ihre Stellung behaupten müssen. Die statistische Mehrzahl der Bildungsaufsteiger trifft jedoch der schon von Marx geschilderte Mechanismus: Wo die für qualifizierte Tätigkeiten erforderte „Vorbildung, Handelsund Sprachkenntnisse usw. mit dem Fortschritt der Wissenschaft […] immer rascher, leichter, allgemeiner, wohlfeiler reproduziert“ werden, wird auch diese „Sorte“ Arbeitskraft aus Klassen rekrutierbar, die „an schlechtere Lebensbedingungen gewöhnt waren“. Mit vermehrter „Konkurrenz […] entwertet sich daher im Fortgang der kapitalistischen Produktion die Arbeitskraft dieser Leute […,] während ihre Arbeitsfähigkeit zunimmt“ (MEW 25, 311f.). Im Zuge der seit den 1980er Jahren oft geschilderten Bildungsinflation führten höhere Bildungstitel nicht zum kollektiven sozialen Aufstieg, sie wurden eher zu einer notwendigen, aber keineswegs hinreichenden Voraussetzung der Verhinderung des sozialen Abstiegs. 80 Bourdieu hatte früh betont, dass mit der „Titelinflation“ jede Klasse und Klassenfraktion „ihre Position in der Sozialstruktur […] zu halten sucht, indem sie sich ändert, da man sich in diesem Entwicklungsstadium der Klassengesellschaft nur durch Veränderung halten kann“ (Bourdieu et al. 1981a, 68f.; vgl. Bourdieu 1999, 210-276). Während so der ökonomischen Nachfrage ein steigendes Angebot hochwertiger Arbeitskraft zu fallenden Preisen geschaffen wird, führt die vermehrte Beteiligung der Akteure aus unteren Klassen am Konkurrenzkampf um Bildungstitel dazu, dass sie durch ihre Teilnahme die Legitimität der Kriterien, Verfahren und Ziele des Bildungswettlaufs anerkennen. Einzelfälle von qua Bildung ermöglichter Aufstiegsmobilität unterstützen zudem die Vorstellung, dass Begabung und Leistung sich durchsetzten (vgl. Bourdieu 1999, 272ff.). Gegen die im politischen und soziologischen Bildungsmantra bis heute beschworene Illusion, die Klassenstruktur oder die Ausprägung konkreter sozialer und ökonomischer Problemlagen (Arbeitslosigkeit, Kriminalität) seien durch eine Erhöhung der Bildung veränderbar, werden mit der Titelinflation und den veränderten Reproduktionsstrategien die Klassenverhältnisse nur den Bedingungen einer dynamischen kapitalistischen Wissensökonomie angepasst.81 Im Zusammenspiel verschiedener Felder in der dynamischen Reproduktion moderner Gesellschaften ist die klassenspezifische Bildungsverteilung zugleich eine wichtige Grundlage charakteristischer Strukturmerkmale des politischen Feldes, dessen innere Funktionen nicht nur um die Herstellung kollektiv bindender Entschei80 Die über soziales Kapital vermittelten Kooptationsstrategien greifen in ökonomischen und administrativen Führungspositionen auf Kriterien zurück, „die niemals nur auf schulische Titel und noch weniger darauf zurückzuführen sind, was jene offiziell zu bewerten vorgeben“ (Bourdieu 2004a, 373; vgl. ebd.: 368-388).Vgl. zu dieser Entwicklung für Deutschland: Beck 1985, 325ff.; Blossfeld 1985, 100ff.; Geißler 1996, 250ff.; Rodax 1989, 169ff. 81 Da das Bildungswesen die Klassenstruktur der Gesellschaft nicht ‚herstellt‘, sondern nur eine Vermittlungsfunktion erfüllt, würde selbst reale Chancengleichheit die Klassenstruktur nicht aufheben. Bei vermehrtem Bildungsaufstieg garantieren andere Mechanismen die Entsprechung von Positionierungschancen und sozialer Herkunft. Vgl. zu entsprechenden Wirkungen des sozialen Kapitals in der Elitenreproduktion: Hartmann 1996 & 2002.

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dungen zentriert sind, sondern primär „um die legitime Durchsetzung der Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt“ (Bourdieu 2010b, 110). Indem diese die „Grenze zwischen dem politisch Sagbaren oder Nicht-Sagbaren, Denkbaren oder Nicht-Denkbaren bestimmen“ (ebd., 46), bestimmen sie auch den Möglichkeitsraum der Formulierbarkeit und Durchsetzbarkeit konkreter politischer Entscheidungen und der politisch legitimen Ideen. Eine unmittelbar-demokratische freie und gleiche Beteiligung an dieser ‚Aushandlung‘ des politischen Möglichkeitsraumes könnte allerdings – wie auch Abendroth (1967), Offe (1972) und Lessenich (2009a) herausgearbeitet haben – in eine Gefährdung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung umschlagen, indem sie die rechtlichen Grundlagen der Kapitalakkumulation einer Mehrheit zur politischen Disposition stellt, die von deren ökonomischen und sozialen Effekten oft negativ betroffenen ist.82 Liberale Forderungen, den Einfluss der ‚Armen‘ auf politische Prozesse durch ein offenes Zensuswahlrecht zu minimieren, um gravierenden Störungen des Kapitalverhältnisses (etwa durch radikale Reformen des Eigentums-, Erbschafts-, Steuer- und Arbeitsrechts) vorzubeugen, kollidieren jedoch mit dem politischen Anspruch egalitärer Chancen der Partizipation und Interessenvertretung.83 Damit die Repräsentativdemokratie ihre äußere Funktion erfüllt, die ökonomische Ordnung zu garantieren, sind also subtilere Mechanismen vorausgesetzt, um den Zugang zur politischen Partizipation zu regulieren. Hier kommt der klassenspezifischen Bildung auch in politischer Hinsicht besondere Relevanz zu. Nach Bourdieu (1999) ist es „im Funktionsgefüge der ‚liberalen Demokratie‘“ (ebd., 622) entscheidend, die strukturell beherrschten Klassen dazu zu bringen, sich „‚aus freien Stücken‘ aus dem Demokratiespiel auszuschließen“ (ebd., 632; Hervh. T.H.), da dies eine „Voraussetzung seines Funktionierens als verkanntes, folglich anerkanntes Zensus-System“ (ebd., 622 [Hervh. i.O.]; vgl. Bourdieu 2010b, 99) bildet. Funktionell bewältigt wird die Spannung zwischen der Reproduktion einer konstitutiv inegalitären Ökonomie und einer aus egalitären Partizipationsmöglichkeiten legitimierten Politik durch die Ausdifferenzierung einer professionellen Politik (Politiker, Berater, Journalisten), die von den ‚Laien‘ durch eine besondere politische Sprache, eine Kenntnis der Konfigurationen und Kräfteverhältnisse innerhalb des politischen Feldes und durch spezifische Problembearbeitungsstrategien getrennt ist (vgl. Bourdieu 2010b, 45-57). Die funktionelle „Autonomisierung des Feldes der politischen Produktion geht […] einher mit einer Erhöhung der ‚Eintrittsgebühren‘ in das Feld, insbesondere […] was die allgemeine oder spezifische Kompetenz betrifft“ (ebd., 52). Bildungsdifferenzen bilden so eine Zugangsbarriere zum politischen Feld und in diesem wiederum eine wichtige Grundlage der relationalen Entmachtung der Parteibasis gegenüber der Führungsspitze, die oft auf einer Rationalisierung beruht, in der die Darstellung und die Begründung politischer Entscheidungen „den An-

82 „Die demokratische Mobilisierung der Subjekte, von diesen allzu ernst genommen, gefährdet den kapitalistischen Prozess privatautonomer Produktionsentscheidungen: womöglich votieren sie, einmal gefragt und selbst entscheidungsmächtig, gegen Kinderarbeit, Niedriglöhne oder Strommonopole.“ (Lessenich 2009a, 150) 83 Daher bleiben auch Forderungen problematisch, „das Stimmrecht proportional zum Vermögen“ zuzuweisen (wie sie in Deutschland noch 2008 der RCDS erhob). Jedoch braucht es keine „so ungeschliffenen Lösung“, solange „Menschen prozentual umso seltener zur Wahl [gehen], je weniger sie verdienen“ (Thurow 1996, 369f.).

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schein von Wissenschaftlichkeit“ annehmen, was „politische Fragen zur Angelegenheit von Spezialisten macht, deren Sache es ist, im Namen des Wissens […] zu entscheiden.“ (Ebd.) Indem politische Diskurse sich „vor allem auf dem Gebiet der Ökonomie“ vermehrt des „Siegels wissenschaftlicher Wahrheit“ (ebd., 111) bedienen, wird die Partizipation all jener behindert, denen die Kompetenz zur ‚Einsicht in die Notwendigkeit‘ abgesprochen wird, oder denen die Mittel fehlen, die Sachzwangsuggestionen zu hinterfragen. Abgesehen von der Errichtung solcher Barrieren, die den Zugang zur professionellen Politik und damit zur aktiven Beeinflussung konkreter politischer Entscheidungen regulieren, begünstigt der mit der Klassenposition variierende Abstand zum Feld auch unter verschiedenen Gruppen von Laien ein unterschiedliches Verhältnis zur Politik. Einige damit verbundene Funktionen hat Bourdieu (vgl. 1999, 624-641) an der Wahlbeteiligung und vor allem auch an der Ausprägung von „Meinungslosigkeit“ aufgezeigt. Die ausgeprägte Korrelation der Kapitalverteilung mit der Rate der „Nicht-Antworten“ in politischen Umfragen (vgl. ebd., 641) ist ein Indikator des ‚Selbstausschlusses‘ der strukturell Beherrschten von basalen Formen politischer Partizipation. Dieser Herrschaftseffekt resultiert daraus, dass die Fähigkeit, aber auch das „Gefühl, berechtigt zu sein, sich überhaupt mit Politik zu beschäftigen, ermächtigt zu sein, politisch zu argumentieren“ (ebd., 639; vgl. ebd., 642ff.), mit der Klassenlage und dem Bildungsgrad zusammenhängt. Verstärkt werden solche Tendenzen durch die Abstimmung von Meinungsangebot und Meinungsnachfrage in den Massenmedien, wobei sich in der (politische Lager überschreitenden) Differenz von Qualitäts- und Sensationspresse (deren Rezeption wiederum vom kulturellen Kapital abhängt) weniger eine Differenz von politisch/unpolitisch ausdrückt als vielmehr „ein grundlegend andersartiges Verhältnis zur Politik“ (ebd., 695): Der Unterschied der Berichterstattung (Hintergrundinformation, Darstellung verschiedener Standpunkte vs. Präsentation von Ereignissen und Sensationen; Kontextanalyse vs. Personalisierung) entspricht letztlich der Differenz zwischen jenen, die sich aktiv (und sei es ‚nur‘ reflexiv) zur Politik verhalten, und denen, die sie erleiden (vgl. ebd., 695ff.). Da die politische Urteilskraft ein Produkt sozialer Bedingungen ist und die Chance, zu politischen Belangen aktiv Position zu beziehen oder ihre Konsequenzen zu erfassen, mit dem Abstand der Klassen zur genuin politischen Sprache sinkt, ist gerade in der Politik Sprache das Medium par excellence, um Herrschaft auszuüben und zu legitimieren.84 Die grundlegende Asymmetrie beruht dabei weniger auf der „Komplexität der Sprache“ selbst – zumal professionelle politische Kommunikation meist auf populistische Vereinfachung setzt –, als vielmehr auf der noch in den scheinbar einfachsten Aussagen „zum Ausdruck kommende[n] Komplexität der für das politische Feld konstitutiven sozialen Beziehungen“, die dazu führt, dass die ‚Externen‘ oft

84 „Dem autorisierten Machtwort der qua Status verliehenen Kompetenz [...] entspricht das Schweigen der […] zugewiesenen Inkompetenz, die, als sachliches Unvermögen erfahren“, im Sinne einer „verkannten und damit anerkannten Enteignung der ‚Minderfähigen‘ zugunsten der ‚Fähigen‘: […] der ‚Sprachlosen‘ zugunsten der ‚Sprachmächtigen‘“ (Bourdieu 1999, 647), wirkt. Werden entsprechende Kompetenzen allen Individuen gleichermaßen unterstellt, verkennt dies die realen Unterschiede der Lebenssituationen und Partizipationsmöglichkeiten und dient in letzter Instanz ihrer Legitimation (vgl. v.a. Bourdieu 1990, 11f., 26ff. & 71-113; 2001c, 106f.).

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kaum „verstehen können, warum eine bestimmte Nuancierung zwischen zwei […] Wendungen eines Diskurses […] Anlass zu derartigen Debatten“ gibt, „weil sie das Prinzip der Oppositionen nicht teilen, die diese Nuancierungen hervorgebracht haben.“85 (Bourdieu 2010b, 64) Die mit der Autonomisierung des politischen Feldes verbundene Enteignung der Mehrheit von den Mitteln politischer Partizipation tendiert in mehrfacher Hinsicht zu kumulativer Selbstverstärkung: Die Feld-Autonomie impliziert, dass die politischen ‚Repräsentanten‘ „ein spezifisches politisches Interesse verfolgen, dass sich nicht automatisch auf die Interessen der Mandanten zurückführen lässt“ (ebd., 102), da es primär an den Eigenlogiken des Feldes orientiert ist – am jeweiligen Kräfteverhältnis der Parteien, Fraktionen und Generationen, an der variablen Zuordnung austauschbarer politischer ‚Probleme‘, ‚Ideale‘ und ‚Werte‘ zu den aktuellen feldinternen Oppositionen (links/rechts; liberal/konservativ),86 am an einer bestimmten Position dieses Kräftefeldes gerade politisch Sag- und Machbaren. Der daraus resultierende „Abschottungseffekt“ und „Bruch mit den Laien“ (ebd., 102f.) wird in der politischen Kommunikation als ‚Politikverdrossenheit‘ den Bürgern angelastet, ist aber Effekt und Voraussetzung der Funktionslogik des Feldes. Die Laien haben hier die Wahl, entweder unmittelbar auf die Einbringung ihrer Interessen zu verzichten, oder sich selbst politische Produktionsmittel anzueignen, was aber (jenseits von Revolutionen) nur möglich ist, indem sie sich professionalisieren, sich also der Feldlogik subsumieren und ihre ursprünglichen Interessen sukzessive zugunsten feldinterner politischer Interessen aufgeben.87 Zusätzlich erhöht die fortschreitende Akademisierung professioneller Positionen in den Parteiapparaten, Ministerien, Öffentlichkeitsabteilungen und Expertengremien, die Programme und Gesetzentwürfe oft stärker beeinflussen als die Darsteller auf der parlamentarischen Vorderbühne, die Tendenz zur Monopolisierung des politischen Kapitals und zur esoterischen Schließung politischer Diskurse (vgl. ebd., 51ff. & 63f.). Das Korrelat dieses Konzentrationsprozesses ist die weitere Enteignung der Mehrheit von einer dem politischen Feld entsprechenden politischen Urteilskraft. In den durch geringes kulturelles Kapital gekennzeichneten 85 Die „genuin politischen Fragen“ gewinnen „ihren umfassenden Sinn nur im Kontext eines semantischen Feldes“, das „im Kern nichts anderes darstellt als die den diversen Stellungen im Kräftefeld der Ideologieproduktion entsprechenden Stellungnahmen.“ Wer „den Sinn verstehen will, der in einer rein summarischen Antwort […] auf eine Frage wie ‚Sind Sie für oder gegen eine Regionalreform, deren Ziel es ist, Regionen mit erweiterten Vollmachten zu schaffen?‘ objektiv steckt, muß die […] Kompetenz der politischen Kommentatoren“ aufbringen, um „die relevanten Positionen zu jenem Problem“ zu registrieren und „die Bedeutung dieser Positionen innerhalb der internen und externen Strategien der betreffenden politischen Gruppierungen“ zu bestimmen (Bourdieu 1999, 725). 86 Die politische Zuordnung von Leitideen und Werten folgt keiner universellen Sach-Logik, sondern variiert mit der Konfiguration des Feldes. So war der „Glaube an Wissenschaft und Technik“ lange „Sache der Linken“, während sich Konservative „eher dem Irrationalismus und dem Kult der Natur verschrieben“. Derzeit ist der Fortschrittsglaube ein Attribut des Neokonservatismus, während linke Parteien Themen bedienen, die wie Ökologie, Regionalismus oder „die Verteidigung der Person“ einst zum „konservativen Pol“ gehörten (Bourdieu 2010b, 66). 87 Laufbahnen von der Lokalpolitik über die Departementsebene bis zur ‚großen Politik‘ sind nur um den Preis einer genuin politischen Sozialisation möglich, die den „Neulingen […] spontane politische Reaktionen aus[treibt], die keine Politik im Sinne des Feldes sind“ (Bourdieu 2010b, 103).

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Fraktionen der strukturell beherrschten Klassen folgt die Positionierung zu politischen Fragen (wo sie nicht durch Meinungslosigkeit vermieden wird) daher eher einer Logik der Rückübersetzung in alltagspraktische Orientierungen oder moralisierende und personalisierende Bewertungen, was ebenso wie die Flucht in die ‚erborgte Sprache‘ konventioneller Wendungen zu Effekten der Sinnentstellung und des Sinnverlustes führt (vgl. Bourdieu 1999, 669-685). Aus diesen spezifischen Konstellationen – nicht aus irgendeiner anthropologischen oder ‚massenpsychologischen‘ Gesetzmäßigkeit – erklärt sich auch der in Umbruchsituationen und im Verhältnis zu sozialen Bewegungen oft verzeichnete ‚Autoritarismus‘ bzw. ‚Konservatismus‘ der Beherrschten, der eher als „ethisch motivierte Aversion“ oder als Festhalten vertrauter „Orientierungspunkte“ zu verstehen ist (ebd., 682ff.). In dem Maße wie im Zuge der skizzierten Tendenzen die Chancen selbständiger politischer Partizipation sinken, werden die Betroffenen auf jenen Prozess politischer ‚Stellvertretung‘ zurückverwiesen, der seinerseits eine Logik der Usurpation impliziert.88 Bourdieus Darstellung der objektiven Funktions-, Herrschafts- und Enteignungslogiken des politischen Feldes ist in wesentlichen Aspekten auch für Deutschland empirisch bestätigt worden,89 traf aber gleichwohl auf heftige Zurückweisung ob ihrer ‚normativen Defizite‘ und ihrer Verkennung der positiven Gehalte repräsentativdemokratischer Prinzipien (vgl. Honneth 1999; Miller 1989). Provokante Äußerungen, dass „im Gegensatz zu dem, was die Opposition von ‚Totalitarismus‘ und ‚Demokratie‘ suggeriert, das Sowjetregime […] sich nur durch einen graduellen Unterschied von dem Parteienregime unterscheidet, dass unter dem Namen Demokratie gepriesen wird“ (Bourdieu 2010b, 329), mochten solche Reaktionen nahe legen. Auch hier ging es aber nicht um eine Denunziation der westlichen Demokratien, sondern um eine kritische Analyse der Implikationen und potenziellen Konsequenzen zweier „konvergente[r] Legitimationsformen“ – des „populistischen Szientismus“ einerseits und der Stellvertretung und Delegierung andererseits –, die in verschiedenen Varianten den Parteidiktaturen sowjetischen Typs wie der „Funktionslogik auch der ‚demokratischen‘ Parteien und der Bürokratien mit wissenschaftlichem Anspruch eingeschrieben sind“ (ebd., 330f.). Die Verstärkung der von Bourdieu verzeichneten Tendenzen der Verschiebung politischer Legitimitätskonstrukte vom Delegationsprinzip auf epistemokratische und technokratische Verfahrenstechniken (bei steigendem Einfluss ökonomischer Interessenverbände) lassen manche Autoren inzwischen von einem „postdemokratischen Zeitalter“ sprechen (vgl. Crouch 2008, v.a. 71-91).

88 Der ‚Stellvertreter‘ „macht sich nicht nur die Stimme einer Gruppe von Laien zu eigen, das heißt zumeist ihr Schweigen, sondern auch ihre Stärke, die er selbst miterzeugt, indem er ihnen eine Stimme leiht, die im politischen Feld als legitim anerkannt ist.“ (Bourdieu 2010b, 71, vgl. zur Logik der Usurpation v.a. auch: ebd., 23-41). 89 Weber-Menges (2004) zeigt u.a., dass die Nicht-Einordnung bezüglich politischer Parteipräferenzen mit sinkender Qualifikation steigt: Sie ist bei den un- und angelernten Arbeitern mit 19,7% am höchsten, während höhere Angestellte sich zu 100% zuordnen (vgl. ebd., 282). Auch die Wahlbeteiligung sinkt mit der Qualifikation (vgl. ebd., 286f.). Zudem geben un- und angelernte Arbeiter, die sich am häufigsten als mit der politischen Situation wenig (38,6%) oder nicht (16,8%) zufrieden einordnen, am häufigsten an, wenig (52,8%) oder kein (25,3%) politisches Interesse zu haben und sich selten (56,1%) oder nie (34,9%) über politische Themen zu unterhalten (vgl. ebd., 284ff.; vgl. auch Geißler 1994, 76-110; Vester et al. 2001, 427-540; Statistisches Bundesamtes 2005, 639-648).

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Bourdieus Analyse solcher Tendenzen impliziert jedoch keine fatale Gesetzmäßigkeit, da sie gerade in der relativen Autonomie von Politik und Bildung auch Gegentendenzen identifizierbar macht (vgl. Vester 2002, 96-118; s.u. V.3.4.4). Über die naheliegende Verbindung von Ökonomie, Bildung und Politik hinaus lässt sich auch für die Felder kultureller Produktion eine äußere Funktion für die Reproduktion der Klassenverhältnisse aufzeigen, die weit über die Rekrutierung der Produktionsagenten hinausreicht und die Durchsetzung der symbolischen Mechanismen betrifft, mit denen Klassenverhältnisse nicht nur ausgedrückt, sondern praktisch verstetigt und legitimiert werden. Hier erscheinen in der Moderne auch die Distinktionspraktiken (s.o. V.2.5) – anders als in der ständischen Stratifikation – weniger als unmittelbar soziale Beziehungen, sondern vielmehr als ein Moment der sachlichen und funktional vermittelten Reproduktion der Klassenverhältnisse. Zunächst werden in den Feldern jene materiellen und symbolischen Konsumgüter produziert, die zur symbolischen Repräsentation der Klassenbeziehungen dienen. Produktions- und Konsumtionsfelder sind zwar relativ unabhängigen Logiken unterworfen, die wechselseitigen Entsprechungen sozialstruktureller Relationen mit den Relationen und Positionen in den Produktionsfeldern resultieren aber in einem „Prinzip funktionaler und strukturaler Homologie, welches bewirkt, daß die Logik des Produktionsfeldes und die des Konsumtionsfeldes objektiv aufeinander abgestimmt sind“ (Bourdieu 1999, 365). Einerseits sind die Agenten der Produktionsfelder selbst durch klassenspezifische Dispositionssysteme geprägt, was zwischen der durch die AbsatzKonkurrenz in den Produktionsfeldern verursachten Wandlungsdynamik des Warenangebots und der durch die Distinktionskonkurrenz verursachten Dynamik des Geschmackswandels jenseits aller gezielten Bedürfnisproduktion eine „objektive Tendenz zum Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage“ herstellt (ebd., 362). Andererseits ergeben sich gerade durch den radikalen Bruch mit dem Publikum, der dazu führt, dass am autonomen Pol der kulturellen Produktionsfelder die Produktion primär auf andere Produzenten (andere Künstler, Kritiker etc.) ausgerichtet ist, „Homologien zwischen dem kulturellen Produktionsfeld und dem Machtfeld“,90 die bewirken, „daß die auf rein ‚interne‘ Ziele hin produzierten Werke immer auch zusätzliche externe Funktionen erfüllen können; und dies um so wirksamer, je weniger ihre Angleichung an die Nachfrage bewußt angestrebt wird, vielmehr Ergebnis einer strukturellen Korrespondenz ist“ (Bourdieu 2001a, 269; vgl. ebd., 259-270). Die „prästabilierte Harmonie“ von Produktion und Konsumtion distinktiv wirksamer Kulturgüter beruht darauf, dass die Felder kultureller Produktion und die Klassenbeziehungen und -kämpfe auf einer ähnlichen Distinktionslogik basieren: „Die Konkurrenz um Luxusgüter, die ‚Klasse‘ symbolisieren, stellt eine Ebene des Kampfes dar, der in der herrschenden Klasse um die Durchsetzung des dominierenden Herrschaftsprinzips ausgetragen wird […]; um diese unterschiedlichen und Unterschiedlichkeit produzierenden Merkmale von ‚Klasse‘ herzustellen, braucht das Produktionsfeld [...] sich [...] bloß seiner eigenen Logik zu überlassen, der Logik der Distinktion, die es stets dahin

90 Als Machtfeld bezeichnet Bourdieu (v.a. 2004a, 319-412) jenes Relationensystem, in dem zwischen verschiedenen Fraktionen der ‚herrschenden Klasse‘ über die legitime Ordnung der sozialen Welt, über die Modi ihrer Reproduktion und Veränderung sowie über die Stellung differenter Produktionsfelder entschieden wird.

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drängt, sich zu organisieren analog der Struktur der Symbolsysteme, die es durch seine eigene Tätigkeit hervorbringt und in denen jedes Element die Funktion erfüllt zu unterscheiden.“ (Bourdieu 1999, 366f.)

Solche strukturellen Korrespondenzen bestehen nicht nur zwischen der Produktion von Kulturgütern und Distinktionsbedürfnissen, sondern vor allem auch zwischen den Klassenverhältnissen und den kulturellen Wertehierarchien. Da die Felder kultureller Produktion (Wissenschaft, Kunst, Literatur) ihre Autonomie einem Bruch mit dem ökonomischen Erfolgsstreben, dem ‚Massenpublikum‘, dem ‚vulgären‘ Geschmack und dem ‚gemeinen Menschenverstand‘ verdanken, weisen ihre internen Wertehierarchien eine Affinität zu jenen Organisationsprinzipien auf, die dem Geschmack der herrschenden Klassen seinen höheren Wert gegenüber dem Geschmack der Beherrschten verleihen: Entsinnlichung, Triumph der Form über den Inhalt, des Ideellen über das Materielle, der Zwecklosigkeit über das Interesse etc. Damit tragen diese Felder, gerade indem sie „nicht nur auf dieses Ziel hin ausgerichtet sind, zur Produktion und Durchsetzung der Konstruktions- und Bewertungsprinzipien der sozialen Welt bei“ (Bourdieu 2001c, 241) – wenn etwa universalistische philosophische Wert-Hierarchien unreflektiert klassenspezifische Differenzierungen von Tätigkeitsformen reproduzieren, und so die universelle Geltung sozialer Hierarchien evozieren, wie dies etwa die Hierarchie von ‚Arbeiten‘ (=proletarische Lohnarbeit), ‚Herstellen‘ (=besitzbürgerlich-instrumentelles Zweckhandeln) und ‚Handeln‘ (=echtes politischkommunikatives Handeln des Bildungsbürgers) bei Arendt (vgl. 2002) tut. Dass derart noch sublimste philosophische Taxonomien in einen funktionellen Interdependenzzusammenhang mit den Teilungsprinzipien einer auf versachlichten Ausbeutungs- und Dominanzverhältnissen beruhenden sozialen Welt gebracht werden, führte zu Kritiken, Bourdieu ziele mit einer Reduktion alles ‚Höheren‘ auf ‚niedere‘ utilitaristische Kalküle auf „die soziologische Dekonstruktion der Sphäre des Ästhetischen überhaupt“, entziehe auch Politik und Wissenschaft „kurzerhand jeden Rationalitätsanspruch“ (Honneth 1999, 184f.)91 und mache „aus dem Verlust einer erklärbaren Welt eine Beschreibung von Täterschaft“ (Saake 2004, 113). Demgegenüber sollte deutlich geworden sein, dass die hier analysierten Herrschaftsfunktionen und -effekte wenig mit dem interessengeleiteten Zusammenwirken eines ‚Herrschaftsverbands‘ zu tun haben und keine Reduktion von Kunst, Wissenschaft oder Politik auf ihre äußeren Funktionen implizieren. Wenn Bourdieu (2004a) aufzeigt, dass die Felder „autonom und zugleich durch die organische Solidarität einer wirklichen Arbeitsteilung der Herrschaft miteinander verbunden sind“ (ebd., 319), meint dies objektivierbare funktionale Relationen, die in Homologien der sozialen Stellungen und Einstellungen bedingt sind, während die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse und die verschiedenen Logiken der Felder zugleich zahllose Momente der Differenz und Dissoziation implizieren. Ebenso wie die Produktion der Legitimationsmodi sich nie in Form eines „einheitlichen Diskurses“ vollzieht, wie ihn der Begriff der „herrschenden Ideologie“ suggeriert, sondern in der Form eines

91 Bourdieu (u.a. 2001a, 9ff.) hat die Missverständnisse solcher Interpretation ausführlich analysiert. Hier sei auch auf das Gespräch zwischen Bourdieu und Honneth (in: Bourdieu 1992b, 15-49) verwiesen, das ein außergewöhnliches Dokument grundlegender Verständnisbarrieren zwischen Sozialphilosophie und Soziologie bildet.

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Kampfes um widerstreitende Prinzipien (vgl. ebd., 322), sind auch die Verwendungsweisen ökonomischer, kultureller und politischer Produktionsmittel Gegenstand von Kämpfen. Die Rede von Kämpfen und verschiebbaren Kräfteverhältnissen ist keine bloße Beschwörungsformel, die unvermittelt neben einem fatalistischen Funktionalismus zirkulärer Reproduktion stünde. Bourdieus Analysen zeigen, dass feldspezifischen Produkte (Kulturgüter, Wissen, politische Assoziationsformen etc.) auf die Kapitalformen und -funktionen, die sie in einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang gewinnen, nicht reduzierbar sind und stets Potenziale „subversiver Entwendung“ (Bourdieu 2001c, 134) implizieren. Zugleich impliziert die ihrerseits umkämpfte Autonomie der Felder Tendenzen, die den mit der Logik des Kapitalverhältnisses verbundenen Tendenzen entgegenwirken.

3.4.4 Funktionale Autonomie und die Dynamik sozialer Kämpfe: Marx und Bourdieu zwischen Utopie und Soziologie historischer Möglichkeitsräume „[W]enn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“ KARL MARX (MEW 42, 93; Hervh. T.H.) „Es ist an der Zeit, die Alternative zwischen Utopismus und Soziologismus hinter sich zu lassen und soziologisch begründete Utopien zu präsentieren.“ PIERRE BOURDIEU (2010b, 332)

Die Analyse der objektiven Funktionen, welche die Felder für die Reproduktion und Legitimation der Klassenverhältnisse erfüllen, impliziert keine Reduktion auf diese äußeren Funktionen, wenn diese von den inneren Funktionen der Felder konsequent unterschieden werden. Dem Vorwurf eines „maliziösen Funktionalismus“ (Reckwitz 2003a, 60), in dem das Zusammenwirken ausdifferenzierter Felder nur der endlosen Reproduktion der immer gleichen Klassenverhältnisse dient, liegt ein Missverständnis zugrunde, das dem vergleichbar ist, dem Marx’ Analysen unterworfen waren, wo sie als Kritik an ‚der Technik‘, ‚der Arbeitsteilung‘, ‚der Rationalisierung‘ verstanden wurden: Eine Kritik, die auf bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse gerichtet war, in denen an sich neutrale, verschiedenen Verwendungen zugängliche technische und organisatorische Mittel der Produktion in historisch bestimmter Form fungieren, wird als Anklage der Mittel oder der Sachen selbst rezipiert. Demgegenüber implizieren – wie Vester (vgl. 2002, 96ff.) hervorhob – Bourdieus Analysen der feldspezifischen Produktionsweisen, der Konflikte um diese Produktionsweisen und der Klassenverhältnisse eine Dimension, die Marx’ Unterscheidung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entspricht. Beiden Analyseperspektiven zufolge sind die Produktivkräfte, d.h. die technischen, kulturellen und sozialen Potenzen gesellschaftlicher Produktion (Wissenschaft, Organisation, Bildung etc.), in ihrer Genese in den

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gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt, bilden aber in ihrer anderen Verwendungsweisen offen stehenden Potenzialität zugleich die Voraussetzung aller sinnvollen Kritik der bestehenden Verhältnisse. Bourdieu setzte (ohne dies stets explizit zu machen) eine entsprechende Differenzierung voraus, wenn er etwa die historischen Bedingungen der Vernunftproduktion (die keineswegs selbst ‚vernünftig‘ seien) von den „materiellen und intellektuellen Instrumenten“ der Produktion dessen, „was wir Vernunft nennen“ (Bourdieu 2001a, 535; vgl. 2001c, 118-164), unterschied. Trotz ihres „zynischen Realismus“ (Bourdieu 2001c, 163) zielten seine Analysen stets darauf, die Potenziale herauszuarbeiten, welche etwa die Mittel ästhetischer oder wissenschaftlicher Praxis, die in besonderen Produktionsuniversen mit je eigenen Zwängen und Machteffekten entwickelt werden, auch als Medien der Kritik und der symbolischen Revolution aufweisen. Daher wendete er sich auch gegen den reduzierten „Slogan ‚power/Knowledge‘ [...], auf den das Werk Foucaults allzuoft verkürzt wird“, um jede wissenschaftliche Vernunft als „Durchsetzung von Interessen“ zu desavouieren (ebd., 139 [Hervh. i.O.]). Wie bei Foucault sind Wissensformen nicht auf die Machtverhältnisse, denen sie entspringen, reduzierbar. Sie ermöglichen auch den subversiven Gebrauch des Wissens, indem sie das Denken in disziplinierte Bahnen zwingen und so zur Akkumulation eines Wissen beitragen, das reflexiv auf die Analyse der Bedingung dieses Wissens gewendet werden kann, auch um sich von diesen Bedingen zu befreien (vgl. ebd., 138-156). Liest man Bourdieus Analysen (gemäß Vesters ausbaufähigem Vorschlag) auf der Folie der Unterscheidung von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, ergeben sich solche Kritik- und Veränderungspotenziale in zwei grundlegenden Dimensionen. Einerseits liegen sie in der gesellschaftlichen Verbreitung der Kompetenzen und Mittel der Kritik im Zuge des allgemein steigenden Bildungsniveaus. Andererseits sind sie in den konfliktiven Verhältnissen der Felder gesellschaftlicher Produktion angelegt, deren relative Autonomie nie selbstverständlich und ihrerseits umkämpft ist (vgl. Bourdieu 2004a, 409ff. & 474f.). Letzteres erlaubt es einen meist übersehenen Aspekt der kritisch-funktionalen Analysen bei Marx weiterzuführen: Marx sah in der kapitalistischen Gesellschaft „wie sie ist“ nicht nur „die materiellen Produktionsbedingungen“, also die technischen Mittel einer anderen Ökonomie, sondern auch die „ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt“ angelegt (MEW 42, 93; Hervh. T.H.). Die den marktförmigen Distributionsverhältnissen inhärente weltgesellschaftliche Organisation von Produktion und Konsum könnte prinzipiell alle Völker instand setzen, sich von den regionalen Ungleichheiten ihrer Naturressourcen und ihrer Geschichte zu emanzipieren (vgl. MEW 3, 34ff.), statt diese Differenzen im profitorientierten ‚Freihandel‘ auszubeuten. Zugleich bilden die in den relativ autonomen Sphären von Recht und Politik entwickelten bürgerlichen Verkehrsformen Momente jenes bewussten, reflexiven, partizipativen und egalitären Verkehrs heran, von denen Marx hoffte, dass sie die frei vergesellschafteten Individuen einer postkapitalistischen Gesellschaft befähigen würden, auch ihren ökonomischen Austausch unter ihre gemeinsame Kontrolle zu bringen, statt sich von den aus dem Aufeinanderprallen ihrer Privatinteressen resultierenden Funktionsgesetzten blind beherrschen zu lassen. Marx’ Kritik des politischen Staates der bürgerlichen Gesellschaft richtete sich gegen die Effekte der Vereinseitigung des kollektiv-politischen Lebens im Gegensatz zum ökonomischen Pri-

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vatinteresse und gegen die – unter kapitalistischen Bedingungen funktionsnotwendige (vgl. MEW 3, 33f.) – Monopolisierung der politischen Macht in einer verselbständigten „Regierungsmaschine“, die einen „von der Gesellschaft besonderten […] Organismus bildet“ (MEW 19, 29; vgl. MEW 17, 591ff.), nicht aber gegen die dabei entwickelten demokratischen Verkehrsformen und auch nicht prinzipiell gegen die arbeitsteilige Besonderung des Politischen, solange sich die Partizipation der Individuen an ihrer „Selbstregierung“ (MEW 17, 339) nicht an der ‚Verknöcherung‘ objektiv ungleicher Möglichkeiten entscheidet, die aus dem Verwachsen der Arbeitsteilung mit ungleichen sozialen Stellungen resultiert. Ebenso richtete sich die Kritik am „engen bürgerlichen Rechtshorizont“ (MEW 19, 21) zwar gegen „bornierte“ Gleichheitspostulate, die der unaufhebbaren Ungleichheit der Individuen die Anerkennung verweigern und gerade dadurch zur klassenmäßigen Fixierung individueller Unterschiede beitragen (vgl. ebd., 20ff.), nicht aber gegen die das Ständerecht sprengenden Prinzipien gleichberechtigter gesellschaftlicher Partizipation und rechtlicher Gleichbehandlung und nicht gegen die rechtsstaatlichen Verfahrenstechniken reflexiver Selbstbindung, die den Möglichkeitsraum politischer Entscheidungen gegen die Kontingenz und Willkür individueller und parteiischer Partikularinteressen beschränken. Beides galt Marx als Medium proletarischer Interessenvertretung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und als ein notwendiges (aber nicht hinreichendes) Moment künftiger Gemeinwesen.92 Marx’ reflexive Auseinandersetzungen mit den Programmen sozialistischer Bewegungen zeigen, dass er zwar alle (später den Staatsozialismus sowjetischen Typs prägenden) Tendenzen, die bürgerliche „Staatsmaschinerie“ zu übernehmen, scharf kritisierte (vgl. MEW 17, 592ff., 336ff. & 607f.), dass er aber viele Aspekte bürgerlicher Verkehrsverhältnisse als Ausgangspunkte einer freien Vergesellschaftung sah, die „aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen“ (MEW 19, 21) hervorgehen könnte. Statt mit dem bürgerlichen Staat Tabula Rasa zu machen, wäre „diese herkömmliche Arbeitsmaschinerie umzuwandeln“, um sie „als ein Werkzeug der Klassenherrschaft zu zerstören“ (MEW 17, 591 [Hervh. T.H.]), aber jene Momente, die „berechtigte Funktionen zu erfüllen“ haben (ebd., 597), jenseits ihrer Unterdrückungsfunktion, weiter zu entwickeln – etwa durch Stärkung plebiszitärer und föderalistischer Momente gegenüber den repräsentativen und zentralistischen Momenten bürgerlicher Politik oder durch eine entsprechende Flexibilisierung und Dynamisierung des politischen Lebens.93 An diesen – zwischen utopischer Projektion und wissenschaftlicher Analyse von Potenzialen und Möglichkeitsräumen pendelnden – Aspekt von Marx’ Theorie knüpfte Bourdieu (vgl. 2010b) explizit mit der Forderung nach „soziologisch begründete[n] Utopien“ an, die die „Selbstzensur“ und „regelrechte Selbstverstümmelung“ der Disziplin überwinden, in die ein positivistisch verkürztes Verständnis des Utopieverbots führe (ebd., 332f.). Dabei erlaubt es das Feldkonzept, innerhalb der bestehenden Verhältnisse auch darüber hinausweisende Potenzialitäten zu identifizieren und gesellschaftliche Gruppen und Kräfte zu benennen, die potenziell auf eine

92 Vgl. Basso 1975; Böhm 1998; Abendroth 1967; vgl. zur Bedeutung verfassungsrechtlicher und rechtsstaatlicher Denkprinzipien bei Marx (gegen Lenins radikaler Forderung einer an kein Gesetz gebundenen Diktatur): Bader 2009, 101ff. & 120f. 93 Vgl. v.a. MEW 17, 338ff., 543ff. & 595ff.; zusammenfassend: Bader 2009, v.a. 65-114.

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Transformation des gesellschaftlichen Zusammenhangs hinwirken könnten. Grundlegend implizieren die inneren Funktionen der Felder in dem Maße, in dem sie sich in relativer Autonomie entfalten können, Freiheitsgrade und emanzipatorische Kapazitäten gegenüber dem Gesamtzusammenhang der kapitalistischen Klassengesellschaft, zu dessen Reproduktion sie in ihren äußeren Funktionen beitragen. Obwohl der Grad der Autonomie der Felder die grundlegenden Charakteristika der für die kapitalistische Produktionsweise erforderten Klassenverhältnisse nicht verändert, ermöglicht und erfordert die graduelle Autonomie von Politik, Bildung, Wissenschaft, Kunst und Religion doch auch die Entfaltung von Tendenzen, die den dominanten Tendenzen der ökonomischen Logik der Kapitalverwertung innerhalb der bestehenden Gesellschaftsformation entgegenwirken. Konkret hängt die Entwicklung solcher Potenziale einerseits von der allgemeinen Verteilung der Verfügungschancen über die feldspezifischen Produkte und Produktionsmittel – etwa über die Formen politischer Urteilskraft und über bildungsvermittelte Sprach- und Reflexionspotenziale – im sozialen Raum der Klassenverhältnisse ab. Andererseits und zugleich entscheiden sich diese Potenziale an der Frage, in welchem Maße die ausdifferenzierten Felder ihre relative Autonomie behaupten können, was letztlich auf die Frage hinausläuft, inwiefern es etwa den Kulturproduzenten gelingt, eine gegenüber ökonomischen Verwertungsbedürfnissen unabhängige „Verfügungsgewalt […] über ihre Produktions- und Distributionsmittel“ zu verteidigen (Bourdieu 2001a, 530 [Hervh. i.O.]). In der ersten Hinsicht erwartete Bourdieu (vgl. 1999, 210-276; 2001c, 301ff.; 1997, 162ff.) von der Bildungsexpansion nicht nur eine Entwertung des kulturellen Kapitals der Bildungstitel und eine Umstellung der Reproduktionsstrategien, sondern auch eine allgemeine Steigerung der Kritik- und Protestpotenziale. Endeten die Studien zur bildungsvermittelten Klassenreproduktion in den 1960er Jahren noch mit der Folgerung, das Bildungssystem überzeuge „die Unterprivilegierten um so leichter davon, daß ihr soziales Schicksal und ihr Bildungsschicksal auf ihrem Mangel an Fähigkeiten oder Verdienst beruhen, als absolute Besitzlosigkeit im Bereich der Bildung das Bewusstsein der Besitzlosigkeit ausschließt“ (Bourdieu/Passeron 1971, 228), verändert die Bildungsexpansion diese Voraussetzungen gravierend. Gerade die ökonomisch funktionalen Effekte der Bildungsexpansion in der Entwertung qualifizierter Arbeitskraft führen dazu, dass bei den in ihren Erwartungen geprellten Bildungsaufsteigern ein keineswegs selbstverschuldetes soziales Schicksal mit erhöhten Kapazitäten der Bewusstwerdung der Ursachen dieses Schicksals zusammentrifft. Bei aller Kritik an Schumpeters (vgl. 1949) kausalmechanischer Vorstellung eines automatischen Zusammenhangs der Überproduktion von Bildungstiteln mit revolutionären Dispositionen bei den Intellektuellen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, 198f.) sah Bourdieu im ‚Gebrauchswert‘ der Bildung als Medium von Reflexion und Kritik ein Potenzial, das auch gegen die Verhältnisse und Formen der Verwertung von Bildung gerichtet werden kann: „Der mit der Komplizierung der Legitimationskreisläufe und […] dem Eingreifen so komplexer und versteckt wirksamer Mechanismen wie denen des Bildungswesens einhergehende Zuwachs an symbolischer Effizienz erhöht [...] die Möglichkeiten subversiver Entwendung des mit der Zugehörigkeit zu diesem oder jenem der aus dem Differenzierungsprozeß hervorgegangenen Felder verbundenen spezifischen Kapitals“ (Bourdieu 2001c, 134; vgl. 2010b, 331; 1999, 241ff., 275f.).

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Zwar blieben solche Effekte in den 1980er Jahren – die durch die Distanz junger gebildeter Arbeitnehmer zu den etablierten gewerkschaftlichen Interessenvertretungen (vgl. Beaud/Pialoux, 2004, 229-330) und eine „Entwaffnung der Kritik“ (Boltanski/Chiapello 2003, 211-376) geprägt waren – weitgehend aus; die Proteste der französischen „génération précaire“ in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends folgen allerdings durchaus dieser Logik.94 Über solche Einzelfallfragen hinaus ist es wichtig, dass, wie Vester (2002) betonte, Bourdieus Klassentheorie (in Differenz zu anderen Modellen) „Potentiale sozialer Emanzipation“, die quer zur vertikal-hierarchischen Gliederung durch alle ‚Schichten‘ verlaufen, begrifflich fassen kann. Während rein vertikale Klassen- oder Schichtungsmodelle den beherrschten Klassen die materiellen und intellektuellen Voraussetzungen einer über bloße Empörung hinausgehenden Emanzipation absprechen und so – von den von Marx kritisierten Frühsozialisten über Lenin bis hin zu Teilen der 1968er-Bewegung – von einem „jakobinischen Politikmodell“ (ebd., 96 [Hervh. i.O]) der Führung der Massen durch eine intellektuelle Elite ausgingen, wird eine echte „Perspektive der Emanzipation, des Mündigwerdens […] denkbar, wenn die historische Dynamik der Produktivkräfte auf einer eigenen horizontalen Achse angesiedelt und damit von der vertikalen Achse der Machtunterschiede kategorial unterschieden wird“. Klassischen Theorien der Arbeitsteilung (bei Smith, Marx und Durkheim) zufolge wird entsprechend „der ‚horizontale‘ Prozess der Arbeitsteilung, durch den Arbeitskönnen und Technologie immer vielfältiger und spezialisierter werden, […] auf allen vertikalen Stufen der Gesellschaft hervorgebracht“ und impliziert „von sich aus überhaupt keine Teilung der Gesellschaft in obere und untere, sichere und unsichere soziale Lagen“ (ebd., 96f. [Hervh. i.O]), sondern nur eine allgemein wachsende Produktivität und allgemein steigende Kompetenzen. Damit können auch die emanzipatorischen Potenziale gegenüber den bestehenden Ausbeutungs- und Dominanzverhältnissen auf allen Ebenen der hierarchischen Gliederung der Gesellschaft entlang der horizontalen Verteilung von Kompetenzen wachsen, was in Bourdieus Modell des sozialen Raums auf der Ebene der Kapitalstruktur erfassbar ist. Dass die klassenspezifische Verteilung der Politik- und Gesellungsstile primär von Faktoren der Kapitalstruktur (und nicht von der vertikal-hierarchischen Dimension des Kapitalvolumens) bestimmt ist, hat Vester (vgl. 2002, 90-118; Vester et al. 2001, 427-541) an der Verteilung gesellschaftspolitischer Lager in Deutschland gezeigt. Außer im radikaldemokratisch-liberalen Lager (das als einziges allein auf der ‚herrschenden‘ Ebene der vertikalen Gliederung angesiedelt ist) zeigt sich dabei in allen gesellschaftspolitischen Lagern eine zunehmende Krise der politischen Repräsentation und eine Spannung zur realpolitischen Entwicklung im Bereich der Sozial-, Sicherheits- und Bildungspolitik mit je nach sozialstruktureller Verortung variierenden ‚Lösungsorientierungen‘. Zwar machen der erreichte Stand institutioneller Aushandlungssysteme und die noch immer hohen Sicherheits- und Sozialstandards ent-

94 In den Begrifflichkeiten dieser Bewegungen war auch ein Theorie-Effekt mancher Analysen Bourdieus und Castels erkennbar, auf die die vorgebildeten Wortführer explizit oder implizit zurückgriffen. Vgl. zu vergleichbaren Tendenzen in Deutschland auch: Busch/Jeskow 2008, 2f. Ob die Wirkungen solcher Proteste über gesetzliche Minimalstandards der Regelung von Status und Entlohnung der Praktikumsverhältnisse hinausreichen oder in anderen Ländern Nachahmung finden, ist eine andere Frage.

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wickelter Industrienationen große soziale Bewegungen (wie sie im 19. Jahrhundert auftraten) unwahrscheinlich, zentral ist aber, dass entsprechende Potenziale und Konfliktdynamiken mit Bourdieus Klassenmodell erfassbar sind.95 Die hier auf der sozialstrukturellen Differenzierungsebene der Klassenverhältnisse identifizierbaren Veränderungs- und Konfliktdynamiken können in der funktionalen Dimension der Ausdifferenzierung der Felder in mehrfacher Hinsicht ein Korrelat finden. Zunächst sind feldspezifische Produktionsprozesse, Produktionsbeziehungen und Produkte stets durch eine „Doppelte Wahrheit“ (Bourdieu 2001c, 242-264) gekennzeichnet. Ihrer oben herausgearbeiteten objektiven Wahrheit als Momente der Reproduktion eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem sie direkte oder indirekte Ausbeutungs- und Herrschaftsfunktionen erfüllen, steht der Eigensinn ihrer inneren Logiken gegenüber, der auch die Grundlage jener ‚subjektiven Wahrheit‘ ist, die die im Feld involvierten Akteure motiviert. Ebenso wie der Tausch auch im ökonomischen Feld an Momente jener sozialen und symbolischen Logik von Anerkennungs- und Verpflichtungsbeziehungen gebunden bleibt, in die er im archaischen Gabentausch gänzlich eingebetet war,96 verliert die Arbeit, trotz ihrer „objektiven Wahrheit […] als Ausbeutung“, nicht ihre „subjektive Wahrheit“ (ebd., 259) als dialektischer Prozess der Selbstentäußerung und Selbstgewinnung, der Selbstverwirklichung und Identitätsbildung in tätiger Auseinandersetzung mit der Welt. Die darauf beruhende „affektive Besetzung“ der Arbeit (ebd.) ist zwar zur Steigerung der Fremdausbeutung instrumentalisierbar (vgl. ebd., 261ff.; s.o. IV.7f.), setzt aber gerade dafür eine reale Entfaltung subjektiver Produktivkräfte voraus, die nicht durch die Logik der Ausbeutung erzeugt wird. Impliziert damit schon das ökonomische Feld Momente, die in der Logik der Kapitalverwertung nicht aufgehen, enthalten und entfalten auch andere feldspezifische Produktionsprozesse und -beziehungen stets Dimensionen individueller und gesellschaftlicher Praxis, deren Potenzialitäten über ihre Genese und ihre objektiven Funktionen in je gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen hinausweisen: Dass asymmetrisch verteilte Verfügungsmöglichkeiten auch den „‚reinsten‘ Produkte[n] – ‚reine Kunst‘, ‚reine Wissenschaft‘ – [...] ganz und gar ‚unreine‘ gesellschaftliche Funktionen“ als Medien „sozialer Distinktion und Diskriminierung“ verleihen oder, „subtiler“, ihre auf die „reinen Formen strikt beschränkten Freiheiten“ eine „Funktion der Verleugnung der sozialen Welt“ mit ihren Zwängen impliziert (Bourdieu 2001a, 95 Vester (2002) konstatiert einen seit den 1990er Jahren bei ca. 60% der Bevölkerung verfestigten hohen „Pegel der Unzufriedenheit“ (ebd., 117; vgl. ebd., 111-118). Die von ihm verzeichnete ‚Krise der politischen Repräsentation‘ ist im erheblichen Stimmenverlust der ‚Volksparteien‘ bei den Wahlen 2005 und 2009 deutlich zutage getreten. 96 Dies gilt nicht nur für exzeptionelle Akte der Wohltätigkeit, die die archaische Logik des symbolischen Kapitals zum Aufbau von Legitimität und Glaubwürdigkeit nutzen (vgl. Bourdieu 2001c, 257ff.), sondern auch für alle mit Marken-Präferenz verbundenen sozialen Konnotationen. Bourdieu arbeitete solche Momente am Eigenheimmarkt heraus, etwa anhand der Rolle sozialer und räumlicher Bindung für die Verstetigung von Familienbeziehungen auf Seiten der Konsumenten (Bourdieu et al. 1998, 26ff.) und der (diese Dispositionen nutzenden) Formen der „symbolischen Verklärung“ (ebd., 49) in Werbe- und Verkaufsstrategien (vgl. ebd., 47-62). Im gelingenden Verkaufsgespräch euphemisieren die persönlichen Fragen, mit denen faktisch vor allem die Kreditwürdigkeit des Käufers geprüft wird, zugleich das ökonomische Kalkül durch den Aufbau einer scheinbar persönlichen Ebene (vgl. ebd., 84-129).

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395), schließt die Realität der hier historisch gewachsenen Freiheitsgrade nicht aus. Der permanente Zwang zur Revolution der ästhetischen Formen, der im Kunstfeld aus der Negation und Verkehrung jeder einfachen ökonomischen Marktlogik zugunsten einer autonomen Produktion resultiert (vgl. ebd., 134ff. & 345ff.), ermöglicht (neben Distinktionsfunktionen) stets auch eine „Revolution des Blicks“ (ebd., 181) und konstituiert damit neue Formen der Wahrnehmung und Repräsentation von Realität. Diese „Macht […], eine systematische und kritische Vorstellung von der sozialen Welt zu produzieren“, eröffnet („vor allem in Krisenzeiten“) auch Möglichkeiten zur Mobilisierung sozialer Kräfte, die „zum Umsturz der im Feld der Macht bestehenden Ordnung beizutragen“ vermögen (ebd., 399f.).97 Ebenso haben sich im wissenschaftlichen Produktionsfeld in einem (ebenso kontingenten wie kumulativen) historischen Prozess besondere „gesellschaftlich etablierte und garantierte Kommunikationsformen ausgebildet“, die sich (wie die „Regeln des methodischen Dialogs und der allgemeinen Kritik“) trotz aller Verquickung mit anderen Interessen und Funktionen jedem Versuch der Durchsetzung einer Wahrheitsbehauptung „faktisch aufzwingen“ (Bourdieu 2001c, 139 [Hervh. i.O.]; vgl. ebd., 135-164). Auf der Basis einer hinreichenden Autonomie des Feldes ermöglicht dies Formen einer methodisch reflektierten Auseinandersetzung, die unabhängig von der ‚Vernünftigkeit‘ der historischen Genese des Feldes oder der Motive der involvierten Akteure „durch Widerlegung, Korrekturen, Zusätze“ die Produktion der „Vernunft weiterbringt“ (ebd., 143). Diese Möglichkeit gründet jedoch nicht in „transhistorischen Universalien der Kommunikation, von denen Apel oder Habermas sprechen“ (ebd., 139), sondern beruht auf historisch spezifischen Produktionsbedingungen, die nur in dem Maße garantiert sind „in dem das Feld autonom genug […] ist, um die Einführung nicht spezifischer, namentlich politischer und ökonomischer Waffen in die internen Auseinandersetzungen auszuschließen“ (ebd., 142). Unabhängig von Bourdieus problematischer Annahme, „eine realistische Beschreibung des Feldes der Wissenschaft“ könne auch eine „vernünftiger Utopie dessen“ begründen, „was ein demokratischer Vernunft entsprechendes Feld der Politik sein könnte“ (ebd., 162),98 ermöglichen diese, in ihrer Verbreitung und Wirksamkeit nicht auf das wissenschaftliche Feld begrenzten ‚Verkehrsformen‘ und Dispositionen auch eine kritische Hinterfragung und Kontrolle politischer und ökonomischer Ent-

97 Die Homologien der Stellungen und Interessen der Kulturproduzenten (als ‚beherrschte Fraktion der herrschenden Klasse‘) zur Position der beherrschten Klassen können jene prädestinieren, ihre Fähigkeiten „in den Dienst“ des „Aufruhrs der Volksmassen zu stellen“ (Bourdieu 2001a, 400). Dies impliziert die Gefahr eines Leninismus, also des Anspruchs der Führung der Massen durch eine erleuchtete Avantgarde, die Bourdieu in seinem eigenen intellektuellen Engagement stets mit reflektierte (vgl. Bourdieu 2010b, 329335). 98 Trotz einiger Analogien zwischen den Idealen wissenschaftlicher und demokratischer Vernunft (kritische Reflexivität, Autonomie gegen äußere Mächte, Zurückstellung privater Interessen etc.) ergeben sich schon aus dem verschiedenen Verhältnis zur Zeit (Entscheidungsnotwendigkeiten vs. Dauerreflexivität) unaufhebbare Differenzen zwischen Wissenschaft und Politik. Davon unbenommen bleibt der Hinweis, dass eine wirklich demokratische und egalitäre Politik eine Verallgemeinerung der ‚Produktionsmittel des Universellen‘ voraussetzen würde. „Bürgerrechte bleiben rein formale, solange die Bürger keinen Zugriff auf die Mittel einer autonomen Produktion von Meinungen haben“ (Bourdieu 2010b, 273).

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scheidungen und Prozesslogiken, insbesondere jener, die mit dem „epistemokratischen“ Anspruch wissenschaftlicher Begründetheit und Alternativlosigkeit auftreten (vgl. Bourdieu 2010b, 330ff.). Zugleich impliziert die Ausdifferenzierung des politischen Feldes und der modernen Form des Staates – bei aller kritischen Schärfe, mit der Bourdieu dessen demokratische Legitimitäts- und Egalitätsillusionen hinterfragte (s.o. 3.4.3) – die Ausbildung realer Potenzen der Formulierung und Durchsetzung allgemeiner kollektiver Interessen gegen Partikularinteressen (auch der strukturell Herrschenden). Zwar ist gerade die „mit dem Aufkommen des Staates verbundene Vereinheitlichung und relative Verallgemeinerung der […] universellen Ressourcen“ – Gewaltmonopol, legislative Gewalt zur Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen – „von ihrer Monopolisierung durch wenige nicht zu trennen“, zugleich aber impliziert diese neuzeitliche Entwicklung (im Unterschied zu den feudalen Herrschaftsformen) zahlreiche Zwänge einer „(zumindest scheinbaren) Gefügigkeit“ der Inhaber von Herrschaftspositionen gegenüber den „Regeln der Unterwerfung unter das allgemeine Interesse“ (Bourdieu 2001c, 160). Jenseits des sehr geringen Einflusses der Mehrheit auf konkrete politische Entscheidungen, den die repräsentativdemokratische Form der Wahl zwischen austauschbaren Parteien bietet,99 impliziert das Zusammenspiel der komplementären Ausdifferenzierung der Politik, des Rechts, einer relativ autonomen medialen Öffentlichkeit und einer bürokratischen Verwaltung zahlreiche Kontroll- und Sanktionsmomente, die die Formulierung und Durchsetzung politischer Entscheidungen tendenziell in Richtung verallgemeinerungsfähiger Interessen drängen und dazu zwingen, Bestrebungen und Partikularinteressen verschiedener Gruppen zu integrieren und zu vermitteln.100 Die Zwänge zur Zurückstellung, Sublimierung und Vermittlung partikularer Interessen zeigen sich noch in der Logik des Skandals, die jede sichtbare Vorteilsnahme oder Voreingenommenheit riskant macht (vgl. auch Bourdieu 2001c, 157-164; 2010b, 98f.). Den Staat, der im Zuge der oben (IV) skizzierten historischen Entwicklungen eine „der wichtigsten […] organisatorischen ‚Produktivkräfte‘ eben der kapitalistischen Ökonomie geworden“ ist (Offe 1972, 173), kennzeichnet damit „eine tiefe Ambivalenz“, die er in Bourdieus Sicht freilich mit allen historischen „Errungenschaften“ teilt, die aus der „relativ autonomen Geschichte der […] Felder“ entsprungen sind: Der Staat „kann als ein relativ autonomes Relais ökonomischer und politischer Mächte verstanden werden, das sich um universelle Interessen kaum schert“, er bildet aber zugleich stets auch eine Instanz, die „von den Spuren früherer Kämpfe geprägt ist, deren Errungenschaften sie aufbewahrt“, um auf dieser Grundlage (Sozi-

99 Periodische Wahlen nötigen dazu, eine Unzahl heterogener, einander oft ausschließender Ziele, Absichtsbekundungen und Versprechen in einem singulären Akt anzunehmen. Da „Wahlen in einer einzigen synkretischen Frage Dinge zur Entscheidung stellen, die man vernünftigerweise nur in zweihundert Fragen erfassen könnte“ (Bourdieu 2010b, 254), beschränken sie reelle Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten in jeder Einzelfrage auf ein Minimum. Zudem entscheidet sich der politische Einfluss einer Partei nicht an der Eindeutigkeit ihrer Positionen, sondern an der Mobilisierung einer möglichst großen, also heterogenen Wählerschaft, was jede Partei zu Unschärfen zwingt, um ein möglichst breites Klientel zu gewinnen (vgl. ebd., 69ff.). Insofern ist das Wahlsystem primär ein „Instrument zur Verwischung von Konflikten“ (ebd., 254). 100 Vgl. zur historischen Ausbildung der Dispositionen zum ‚Dienst am Allgemeinen‘ bei den Staatsbeamten: Bourdieu 2004a, 463ff.

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alversicherungen, Arbeitsrecht, Verbraucherschutz etc.) in aktuellen Kämpfen eine „Schiedsrichterrolle auszuüben“, die „den Interessen der Beherrschten“ zumindest „weniger abträglich“ ist als die als „Freiheit und Liberalismus gerühmte […] tyrannische Ausübung ökonomischer Mächte“ (Bourdieu 2001c, 164). Jenseits aller utopischen Potenzialitäten impliziert die faktische Ausdifferenzierung relativ autonomer Felder bereits vielfältige Momente der Brechung und Kontrolle von unmittelbar ökonomischen Tendenzen. Da kapitalistische Gesellschaften (schon um die aus der Wirtschaftsform resultierenden selbstnegatorischen Tendenzen zu kompensieren) notwendig auf die Ausdifferenzierung von gegenüber der Ökonomie relativ autonomen Feldern angewiesen sind, stellt sich ihr Zusammenhang erst im unkoordinierten Zusammenspiel verschiedener Funktionslogiken her, die oft in einander entgegengesetzte Richtungen wirken. Gesellschaftliche Reproduktionsprozesse gewinnen damit einen ungleich komplexeren Charakter als in ständisch differenzierten Gesellschaften. Zugleich impliziert die organische Solidarität (i.S. von Durkheim 1988), die zwischen den in ihrer Unterschiedenheit voneinander abhängigen Feldern im Zuge ihrer Ausdifferenzierung entsteht, eine immer komplexere „Gewaltenteilung“. Dies gibt – „zumindest potentiell“ – auch vermehrten „Machtund Autoritätskonflikten Raum“, wie sie schon in der ersten Ausdifferenzierung des Rechts gegenüber der politischen Herrschaft angelegt waren: Jeder „Fortschritt in der Differenzierung der Macht“ wirkt als ein „Schutzriegel“ gegen jede einseitige Machtkonzentration und als „Schutz gegen Tyrannei, verstanden als das Eindringen der mit einem der Felder verbundenen Macht in die Funktionsweise eines anderen Feldes“ (Bourdieu 2001c, 130f.; vgl. 2004a, 321ff. & 471ff.). Solange etwa eine relative Autonomie der Wissenschaft gegeben ist, kann ihre „symbolische Macht“ nie auf politische und ökonomische Macht reduziert werden. Allzu große und offensichtliche Willfährigkeit gegenüber ökonomischen und politischen Imperativen wird feldintern mit dem Verlust wissenschaftlicher Reputation sanktioniert (vgl. Bourdieu 1998c) und kann auch außerhalb des Feldes eben jene Glaubwürdigkeit beschädigen, die gerade der wissenschaftlichen Legitimation ökonomischer Interessen und politischer Entscheidungen vorausgesetzt ist. Ebenso hat eine Politik, die sich zu offenkundig in den Dienst spezifischer Interessengruppen stellt, früher oder später mit Legitimitätsproblemen zu rechnen (vgl. Bourdieu 2010b). Zwar verbindet die „Inhaber dominierender Positionen in den unterschiedlichen Feldern“ eine auf „der Homologie ihrer Positionen beruhende objektive Solidarität“, sie sind aber zugleich „innerhalb des Felds der Macht durch Konkurrenz und Konflikt“ dissoziiert (Bourdieu 2001c, 131), da in Fragen der Wertigkeit verschiedener Kapitalformen und des Grades der Autonomie oder Abhängigkeit der Felder objektive Gegensätze bestehen. Die permanenten Spannungs- und Konfliktverhältnisse zwischen den Fraktionen der strukturell Herrschenden schlagen sich nicht nur in den im engeren Sinne politischen Kämpfen um „die Macht über den Staat“ nieder, sondern auch in den fortwährenden „untergründigen Kämpfen“, die sich „in Form der scheinbaren Anarchie der Reproduktionsstrategien und der kollektiven Auseinandersetzungen zwischen Verbänden, Interessengruppen und Parteien abspielen“ (Bourdieu 2004a, 475). Solche Kämpfe, die etwa um die Formen (öffentlicher oder privater) Bildungsinstitutionen, die legitimen Formen von Arbeitskämpfen, die Finanzierung und Entscheidungsautonomie öffentlicher Einrichtungen, die Auslegung der kulturel-

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len Wertordnung etc. geführt werden, folgen keiner mechanischen Logik des Klassenkampfes in einem antagonistischen Zweifrontenschema. Vielmehr sind die Positionierungen und die variablen Formen der Assoziation und Dissoziation stets auch von den Positionen zu und in den verschiedenen Feldern abhängig, was zahlreiche Möglichkeiten temporärer oder längerfristiger Interessenkonvergenzen zwischen Fraktionen der strukturell herrschenden und Fraktionen der strukturell beherrschten Klassen ermöglicht und erfordert. Wie schon Gramscis Hegemonieanalysen zeigten, waren viele „der als exemplarische Höhepunkte des ‚Klassenkampfes‘ geltenden geschichtlichen Konfrontationen“ zwar letztlich nur „Ausdehnungen von Kämpfen zwischen den im Machtfeld Herrschenden“ auf der Grundlage von „Bündnissen mit den Beherrschten“; indem die Logik solcher Bündnisse aber auf einer „symbolischen Universalisierung partikularer Interessen“ aufbaute – und sei es nur zu „mobilisatorischen Zwecken“ – mussten sie auch die „zumindest formale Anerkennung der Interessen der Beherrschten tatsächlich voranbringen“ (Bourdieu 2001c, 131). Das formal gleiche Recht, das prinzipiell gleiche Wahlrecht, der vom ökonomischen Besitz unabhängige Zugang zur öffentlichen Bildung, die Sozialversicherungssysteme oder auch symbolische Revolutionen, die zur Anerkennung von Minderheiten beitrugen, können zu einem guten Teil als Ergebnisse solcher Kämpfe interpretiert werden (vgl. ebd., 118-164). Insofern konnten die zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse im Feld der Macht ausgetragenen Kämpfe, unabhängig von ihren Motiven und Triebfedern, zum „Fortschritt des Allgemeinen“ beitragen (Bourdieu 2004a, 475), indem sie Verfügung und Zugang zu gesellschaftlichen Gütern (Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit etc.) der rein ökonomischen Zweckbestimmung entzogen und sie der Allgemeinheit (unabhängig von den bestehenden privatökonomischen Besitzverhältnissen) zugänglich machten. Bourdieu (u.a. 2004c) ging davon aus, dass die politischen und ökonomischen Verschiebungen seit den 1980er Jahren die historischen Errungenschaften dieses Zusammenspiels feldspezifischer Autonomiebestrebungen und sozialer Kämpfe ebenso gefährden, wie sie neue Möglichkeitsräume für Kämpfe um alternierende Ausgestaltungen des gesellschaftlichen Zusammenhangs eröffnen. Zwar führen die neoliberalen Transformationen nicht zur Aufhebung des Prinzips funktionaler Differenzierung, aber doch zu einem graduellen Autonomieverlust der Felder kultureller Produktion und der Politik gegenüber dem ökonomischen Feld. Das heißt innerhalb der Felder, dass der heteronome Pol, der über die direkte oder indirekte Einwirkung des ökonomischen Kapitals in allen Feldern verankert ist, gegenüber dem durch die Eigenlogik feldspezifischer (kultureller, wissenschaftlicher oder politischer) Kapitalformen bestimmten autonomen Pol an Dominanz gewinnt, womit Freiheitsgrade und Autonomiespielräume in der „Verfügungsgewalt“ über die feldspezifischen „Produktionsund Konsekrationsmittel“ (Bourdieu 2001a, 534) geschwächt werden. Dies impliziert zwar keine einseitige „Ökonomisierung des Sozialen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling [Hg.] 2000) und auch keine „gesellschaftliche Entdifferenzierung“ (Richter 2009; Volkmann/Schimank 2006, 232f.), sehr wohl aber eine Verschiebung gesellschaftlicher Kräftebalancen, in der die Stärkung des heteronomen Pols innerhalb der Felder und gesellschaftliche „Intrusionsdynamiken“ (vgl. Bourdieu 1996, 112ff.; 2004c), in denen ökonomische Imperative ungebrochener in andere Felder eindringen, eine graduelle Entautonomisierung bewirken (vgl. Bourdieu 2004a, 409ff.). Im Wissen-

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schaftsfeld meint dies etwa die zunehmende Abhängigkeit von ‚Drittmitteln‘, eine wachsende Dominanz der Verwaltung und eine Verschiebung der Machtbalancen zwischen den Inhabern ‚reinen wissenschaftlichen Kapitals‘ und den Inhabern jenes ‚institutionalisierten wissenschaftlichen Kapitals‘, das durch politische Strategien innerhalb des Feldes oder Kontakte zum ökonomischen oder politischen Feld akkumuliert wird (vgl. Bourdieu 1998c, 15-61). Im politischen Feld meint dies eine Stärkung der „rechten Hand des Staates“ (Bourdieu 2004c, 23ff.), also des Pols einer ökonomischen Logiken folgenden Fraktion, die sich quer durch alle Parteien oder in ökonomischen Lobbies und Agenturen der ‚Politikberatung‘ findet. Gesamtgesellschaftlich bedeutet dies, dass „historische Errungenschaften“, die als Ergebnis „früherer Kämpfe“ in den Strukturprinzipien und Institutionen relativ autonomer Felder „Spuren“ hinterlassen haben (Bourdieu 2001c, 164) – sozialstaatliche Teilhaberechte, Arbeitnehmerrechte, die Möglichkeit einer relativ autonomen Wissenschaft –, in Frage gestellt oder vormals öffentliche Güter privatisiert werden (vgl. Bourdieu 1997, 153ff.; 2004c). Der graduelle Verlust der relativen Autonomie feldspezifischer Produktionsverhältnisse und Organisationsformen führt auch zu einer Gefährdung ihrer Funktionen als Gegenkraft und Korrektiv zu den der kapitalistischen Ökonomie inhärenten Destruktivkräften, die wieder vermehrt freigesetzt werden. In dieser Konstellation, in der sich die Gefährdung der feldspezifischen Autonomie und der damit verbundenen Privilegien der kulturellen Fraktionen der herrschenden Klasse mit einer „an die Grenzen eines Kapitalismus ohne Grenzen“ (Bourdieu 1997, 157) erinnernden Verschärfung sozialer und ökologischer Problemlagen verbindet, steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit gegenläufiger sozialer Bewegungen. Dabei besteht zwischen der Verteidigung der feldspezifischen Autonomie einerseits und den sozialen Situationen und Interessen strukturell dominierter Gruppen andererseits zwar keine Identität der Situationen und Interessen, sehr wohl finden sich hier aber zahlreiche objektive Homologien, was die Wahrscheinlichkeit von Allianzen, Solidarisierungen und Koalitionen zwischen Teilen der Kulturproduzenten und Fraktionen der beherrschten Klassen in der Organisation kollektiver Gegenbewegungen erhöhen kann.101 Bourdieus (ihn im Wissenschaftsfeld eher in Misskredit bringendes) Engagement als Intellektueller in den 1990er Jahren war in dieser Einschätzung begründet. Entgegen der Kritik, er habe weder sein Verständnis einer kapitalistischen Gesellschaft geklärt (vgl. Volkmann/Schimank 2006, 222ff.), noch das Verhältnis von kapitalistischer Ökonomie und Politik (vgl. Mackert 2006), womit seine Stellungnahmen über die „[r]ückblickende Verklärung einer verlorenen Welt“ von „wohlfahrtsstaatlich organisierten Wohlstandsinseln“ nicht hinauskämen (ebd., 203), hatten die streitbaren Positionierungen seines „Gegenfeuers“ zur „neoliberalen Transformation“ (Bourdieu 2004c) Hintergründe in einer langfristigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Formen des Kapitalismus und mit den Variationen der

101 Homologien meinen keine Identität der Interessen von Intellektuellen und Beherrschten. Bourdieus intellektuelles Engagement steht werkgeschichtlich in engem Zusammenhang mit der Analyse der Sozialfigur des Intellektuellen, der seine soziale Position und seine Interessen auf ‚die Unterdrückten‘ projiziert, die er zu vertreten beansprucht, um doch jene Formen der Enteignung der Beherrschten zu reproduzieren, die jedem Akt der Stellvertretung immanent sind (vgl. Bourdieu 2001a, 333ff. & 523ff.; 1997, 102-129; 2010, 23-97).

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Modi kapitalistischer Vergesellschaftung. Statt eine vergangene Konfiguration kapitalistischer Vergesellschaftung retrospektiv zu verklären, betonte Bourdieu selbst dabei wiederholt die paradoxe Situation, in der er sich als Intellektueller veranlasst sah, institutionelle Arrangements und Kräfteverhältnisse zu verteidigen, die er jahrzehntelang kritisiert hatte und weiter für kritikwürdig hielt (vgl. ebd., 157). Noch die zeitdiagnostischen Interventionen der 1990er Jahre boten – obwohl sie hinter das Niveau der wissenschaftlichen Analysen zurückfallen (was in der Logik der Textsorte liegt) – weit differenziertere Argumente als die Thesen einer allgemeinen „Entstaatlichung“ (Mackert 2006, 205ff.) oder als die ‚Verschwörungstheorie‘ (vgl. Lange 2002, 463f.), auf welche sie oft reduziert wurden. Unterstellt wurde hier etwa, Bourdieu habe den „Staat als hilfloses Opfer der Globalisierung begriffen. Der Dynamik der Marktkräfte ist er hilflos ausgeliefert, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.“ (Mackert 2006, 216) Abgesehen von der Frage, warum sich Bourdieu dann überhaupt politisch engagierte, kritisierte er eben diesen „Mythos der Globalisierung“ (Bourdieu 2004c, 50-63) und zeigte, dass es sich hier um einen Begriff handelt, dessen Funktion es ist, die politische Durchsetzung einer bestimmten Form der Regulierung zu legitimieren. Ohne alle Konsequenzen in Bourdieus Stellungnahmen zum ‚Neoliberalismus‘ teilen zu müssen, wären sie einer wissenschaftlichen Kritik zu unterziehen, die diesen Namen verdient, statt sie auf Absurditäten zu reduzieren. Jenseits ökonomistischer Verkürzungen, die die wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Transformationen als naturgesetzlichen Prozess oder als Produkt einer (Fremd-)Steuerung durch neoliberale Ideologen darstellten, ging es auch in diesen späten Analysen und Interventionen um komplexe Verschiebungen von Kräfteverhältnissen und Machtbalancen innerhalb einzelner Felder sowie im Verhältnis verschiedener Felder zueinander. Da „eine politische Ordnung“ stets „nur mittels der aktiven oder passiven Komplizenschaft der im eigentlichen Sinne politischen Mächte errichtet werden“ kann (Bourdieu 2004c, 112 [Hervh. i.O.]), darf auch im Hinblick auf die jüngsten Transformationen kapitalistischer Vergesellschaftung die relative Autonomie des politischen Feldes nicht ignoriert werden. Politik als bloßes „Epiphänomen ökonomischer und sozialer Kräfte“ zu behandeln hieße, die genuin „politische Regierungsmacht zu vergessen, die auch wenn sie noch so abhängig ist von den ökonomischen und sozialen Kräften, doch einen realen Einfluss auf diese Kräfte“ ausübt, „indem sie auf die Instrumente der Verwaltung von Sachen und Personen einwirkt.“ (Bourdieu 2010b, 60f.) Bei Bourdieus intellektuellem Engagement handelte es sich daher um Interventionen im Kontext historischer Verschiebungen der konkreten Konfiguration kapitalistischer Vergesellschaftung, die als solche in ihrem Ausgang durch politische und kulturelle Gegenkräfte aktiv beeinflussbar sind. Insofern können auch die späten Zeitdiagnosen und das kritische Engagement Bourdieus nicht von seinen wissenschaftlichen Arbeiten getrennt werden. Einerseits beruhen die Einschätzungen der in den 1990er Jahren kumulierenden Veränderungsdynamiken auf langjährigen Analysen (vgl. Bourdieu et. al. 1981a; Bourdieu 2004a). Andererseits verdeutlichen sie nochmals, dass es dort weder um eine statische Reproduktionstheorie noch um ein deterministisches Konzept selbstläufiger Prozesslogiken ging. Ähnlich wie bei Marx soll die Objektivierung von Strukturmustern und funktionellen Zusammenhängen Logi-

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ken und Tendenzen identifizieren, die in einem System objektiver Beziehungen angelegt sind, über deren konkrete Wirkungen aber erst eine konkrete Praxis entscheidet, die das vorausgesetzte Relationensystem reproduziert und verändert. In einer Theorieanlage, die (ohne radikale Verschiebungen auszuschließen) dynamische Reproduktionsprozesse analysieren soll, bilden Kontinuität und Wandel, Reproduktion und Transformation, sachliche Funktionslogiken und soziale Kämpfe dabei keine Gegensatzpaare. Sie werden vielmehr als Momente einer in ihrem Ausgang offenen historischen Praxis gefasst, die im Hinblick auf die notwendige Kontinuität des Wandels der Kräfteverhältnisse und Reproduktionsmodi innerhalb des Kontinuums einer kapitalistischen Gesellschaftsformation in ihren konkreten Erscheinungsformen zu analysieren ist.

4 Kontinuität im Wandel. Die kapitalistische Klassengesellschaft nach Marx und Bourdieu

„Man muß von dem akademischen Gegensatz zwischen Beharrung und Veränderung Abschied nehmen um zu begreifen, daß Reproduktion der Klassenstruktur nicht heißen muß: Verewigung der jeweils empirisch beobachtbaren sozialen Klassen als konkrete, durch die Gesamtheit ihrer substantiellen Eigenschaften definierten Gruppen. Bei der Sozialstruktur geht es darum, wie die […] Kapitalarten zwischen […] Klassen verteilt sind, die sich in vielen Merkmalen [...] ändern können, ohne daß das etwas an ihrer herrschenden oder beherrschten Position […] ändert. Deshalb kann die Reproduktion der Sozialstruktur durchaus die Form der Strukturverlagerung annehmen“. PIERRE BOURDIEU et al. (1981a, 71) „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen früheren aus. Alle eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ KARL MARX/ FRIEDRICH ENGELS (MEW 4, 466)

Es gehört zu den Kuriositäten der Marx- und Bourdieu-Rezeption, dass diese auf relationalen und dynamischen Analysekategorien aufgebauten Theorien, deren bevorzugte Gegenstände dynamische Prozesse, Krisen und Umwälzungen der gesellschaftlichen Verhältnisse waren, oft als statisch und deterministisch kritisiert wurden.1 Dieses Missverständnis mag aus der Unvereinbarkeit marxscher und bourdieuscher Theoriedispositionen mit zentralen Linien des soziologischen Denkens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts resultieren. Die dort beliebten griffigen Zeitdiagnosen der Konsum-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft oder der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile waren einer Logik des radikal Neuen verpflichtet, in der Beobachtungen sozialstruktureller und kultureller Veränderungen zu Thesen

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Vgl. zum Standardeinwand, Marx habe die Produktionsverhältnisse als statisch aufgefasst: u.a. Dahrendorf 1999, 63f.; vgl. zu ähnlichen Haupteinwänden gegen Bourdieu: Reckwitz 2003a; Miller 1989; Hradil 1989.

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eines grundlegenden Wandels gesellschaftlicher Formationsprinzipien zugespitzt wurden. In den als „postindustriell“ (Bell 1973) und „postkapitalistisch“ (Drucker 1993) charakterisierten Bindestrich-Gesellschaften sollten die Struktur- und Funktionsprinzipien der industriekapitalistischen Gesellschaft, insbesondere in der von Marx analysierten Form, keine Gültigkeit mehr haben. Dies galt stets auch für die Problemstellungen und Analysekategorien der Klassentheorie, die durch eine „postmoderne Sozialstruktur“ (Hradil 1990) historisch überholt seien. So dienten Theorien der kapitalistischen Klassengesellschaft der soziologischen Zeitdiagnostik nur noch als effektreiche Kontrastfolien, um variable Epochenbruchsthesen zu illustrieren. Wo die funktionale Differenzierung sozialstrukturelle Differenzierungsprinzipien nicht schon am Beginn der Moderne abgelöst haben sollten (vgl. Luhmann 1985), sollten spätestens in der „Wissens-“ (vgl. Stehr 2001, 29f.; 1994, 190-202), „Erlebnis-“ (Schulze 1993), „Risiko-“ und „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 1986 & 2007) die Klassenverhältnisse ebenso suspendiert sein wie in der Mediengesellschaft von McLuhan (vgl. 1994, 69f.) bis Baudrillard (vgl. 1978, 83f.). In Differenz zu solchen klaren Diskontinuitätsdiagnosen erschien die Kontinuität prinzipieller Strukturmuster und Funktionsprinzipien, aus denen die dynamischen Reproduktionstheorien von Marx oder Bourdieu dieselben historischen Veränderungen in einem gesellschaftlichen Bedingungszusammenhang zu erklären suchten, als ‚statisch‘ oder ‚konservativ‘. Solche Animositäten verstärkten sich nur, wenn Bourdieu im Gegenzug populäre ‚Postkapitalismusdiagnosen‘ als perspektivische Täuschungen analysierte, die aus der Position der Deutungseliten innerhalb der Klassenverhältnisse resultieren.2 Es wäre jedoch unfruchtbar, gegen Thesen der Auflösung der Klassenstruktur nur die Persistenz zentraler Strukturmerkmale und Problemkonstellationen kapitalistischer Vergesellschaftung zu betonen, die auch von „der ‚allmählichen Verfertigung‘ des Verschwindens der Klassen bei der Datenproduktion“ (Rehberg 2007, 31) nie ganz verdeckt wurden.3 Solange die in soziologischen Zeitdiagnosen sensibel erfasste

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So spitzt Bourdieu (vgl. 2001c, 18-63) die Analyse einer wichtigen Produktionsstätte der „[s]cholastischen Vernunft“, der kalifornischen Universität Santa Cruz, in der Frage zu: „Wie soll man in einem solchen sozialen und kommunikativen Paradies, aus dem jede Spur von Arbeit und Ausbeutung getilgt wurde, nicht der Überzeugung erliegen, daß der Kapitalismus sich in eine ‚Flut von Signifikanten ohne Signifikate‘ aufgelöst hat[?]“ (Ebd., 55f.) Die Statistik zum Produktionsmittelbesitz war von jeher mangelhaft. Die sprunghafte Zunahme der „Direktinvestitionen im Ausland durch Fusionen und globale Oligopole“ wurde ab 1993 „invisibilisiert“, indem das „Zentrum zur Erforschung transnationaler Gesellschaften der Vereinten Nationen“ (UNCTNC) auf Antrag der USA aufgelöst wurde (Rehberg 2007, 31f.; vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 24f.). Die Vermögensforschung blendet (wegen geringer Fallzahlen) die über dem „10. Decil“ liegenden Akteure aus und bevorzugt mittlere Lagen (Hauser/Stein 2001, 17 & 39). Studien zur klassenspezifischen Verteilung von Bildung beklagten eine verschlechterte Datenbasis, da wichtige Indikatoren nicht mehr erfasst wurden (vgl. Köhler 1992, 22; Wenning 1999, 201f.; Heim 2007, 135ff.). Gleichwohl belegten verfügbare Daten eine Persistenz von Strukturmustern und zeigten, dass „eine soziologische Analyse des makrosozialen Kraftfeldes, das die Aufrechterhaltung von struktureller Ungleichheit und Unterdrückung in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften gewährleistet, keineswegs ohne Rückgriff auf das Konzept des abstrakten Klassenverhältnisses von Kapital und Arbeit gelingen“ kann (Kreckel 1990, 51; vgl. 2004, 165ff.). Autoren der ‚Neuen sozialen Ungleichheitsforschung‘ führten sich selbst ad absurdum, wo sie dies als irrelevant abtaten, da ja „nur der sachliche Aspekt der […] Klassenstrukturen stabil

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Veränderung soziokultureller Phänomene und die Persistenz struktureller und funktioneller Logiken zwecks wechselseitiger Widerlegung gegeneinander ausgespielt werden, verharren die Opponenten in einem Verhältnis epistemologischer Komplizenschaft (i.S. Bourdieus), also in einem sich selbst reproduzierenden und fruchtbare Analysen blockierenden Scheinwiderspruch: Die „postindustriellen Visionen“ konnten sich nur im Kontrast gegen die „düstere neomarxistische Mythologie homogenisierender wirtschaftlicher – und kultureller – Klassenunterdrückung profilieren“, zu der sie „gleichsam eine Gegenmythologie“ entwarfen. Indem aber diese Thesen der „Nach-Klassengesellschaft“ den „orthodoxen Marxismus“ voraussetzten, „um ihre Zukunftsbilder besser leuchten zu lassen“, konnten sie nicht umhin, auch die „Mythen des orthodoxen Szenarios als Negativbild in die Gegenwart“ zu transportieren (Vester et. al. 2001, 131f.). Das erleichterte zugleich den Kontrahenten die Replik, die sich mit dem Nachweis der größeren Komplexität klassenanalytischer Perspektiven und der Persistenz der Klassenstruktur begnügen konnte.4 Gegenüber solchen Entgegensetzungen des Wandels sozialer Phänomene und der Persistenz funktioneller und struktureller Logiken besteht die wirklich sozio-logische Option darin, den sozialen Wandel und die Logiken der Reproduktion gesellschaftlicher Relationen im wechselseitigen Zusammenhang zu erklären. Dies leistet der Ansatz der dynamischen Reproduktionstheorien von Marx und Bourdieu, die Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Funktionslogiken und den Verschiebungen sozialstruktureller Differenzierungsprinzipien analysieren, ohne konkrete soziokulturelle Ausformungen der Klassenverhältnisse aus einer invarianten Logik zu deduzieren. In beiden Fällen meinen „Klassenverhältnisse“ keine mit sich selbst identisch bleibenden statischen Sozialmilieus, sondern „ein dynamisches Kraftfeld“ funktioneller und sozialer Relationen, die in variierender Form „immer neu reproduziert“ werden (Henning 2007, 100). In einer Gesellschaftsformation, die „sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ (MEW 4, 466) zwingt, bedeutet „Reproduktion“ stets „zugleich notwendig Neuproduktion und Destruktion der alten Form“ (MEW 42, 401 [Hervh. i.O.]). Daher implizieren die Konstanten in den sich wandelnden Klassenverhältnissen „nicht die Ewigkeit der selben Strukturen, sondern Homologien in den Situationskonfigurationen und ihren Wandlungsprozessen“ (Castel 2008, 23). So ist die aktuelle Staatsschuldenkrisen nicht identisch mit der Staatschuldenkrise der II. französischen Republik zwischen 1848 und 1850, jedoch führen homologe Situationskonfigurationen auch zu ähnlichen Konfliktkonstel-

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geblieben“ sei, „die „Personen, die sich in den Klassen befinden“, aber „zum erheblichen Teil gewechselt“ hätten (Hradil 1989, 134). Widerlegungen von Klassentheorien (vgl. Schelsky 1965; Beck 1983; Hradil 1987, 59ff.; Luhmann 1985) folgten oft demselben Prinzip, dem das Feuilleton verpflichtet war, wenn etwa 1959 zur Uraufführung der Heiligen Johanna der Schlachthöfe die „Inaktualität“ des Stücks moniert wurde: „[I]n den zerlumpten, verhungerten, fanatischen Proletariergestalten [...] von 1931 wird kein Mensch einen amerikanischen Industriearbeiter von Heute, mit Chromauto [...], Radio und Television wiedererkennen.“ (Siegfried Melchinger, zit. in: Blubacher 1999, 97) Die Verkürzung ‚der Klassentheorie‘ auf die einfache Formel ‚Klassenstruktur = Arbeit vs. Kapital = Elend = Revolution‘ ermöglichte den Umkehrschluss ‚nicht Revolution = nicht Elend = nicht Arbeit vs. Kapital = keine Klassenstruktur‘. Solche simplen Thesen ließen sich dann etwa bei Koch (1994) wieder problemlos theoretisch und empirisch falsifizieren.

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lationen und Handlungszwängen, die es durchaus erlauben, aus Marx’ Analysen eines historischen Falls (vgl. MEW 8, 115-207; MEW 7, 11-102) aktuelle Schlüsse zu ziehen (s.u. 4.3f.). Gleichwohl sind die historisch und situativ spezifischen Ausformungen der Klassenverhältnisse mehr als farbenfrohe ‚Überbaureflexe‘, die die Funktionslogik der ‚Basis‘ unberührt ließen. Die in vielen Zeitdiagnosen erfassten soziokulturellen Wandlungen sind in der dynamischen Konfiguration struktureller Widersprüche der Gesellschaftsformation bedingt, bilden aber zugleich das Bedingungsgeflecht, in dem sich entscheidet, in welcher (historisch offenen) Form Strukturantagonismen prozessiert werden und welche neuen Problemkonstellationen daraus folgen. Die Potenziale eines Modells der dynamischen Reproduktion kapitalistischer Klassenverhältnisse für die Analyse der modernen Gesellschaft erweisen sich damit erst, wenn die Bedingungen und Effekte der in prominenten soziologischen Zeitdiagnosen erfassten Transformationen auf seiner Grundlage erschließbar sind. Es geht also darum, die Wechselwirkungen zu verstehen, in denen „auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Klassengesellschaft, wo Bewahrung nur um den Preis des Wandels möglich ist“, sich der „Wandel zwecks Bewahrung“ der Klassenverhältnisse in den „permanenten Aktionen und Reaktionen“ verschiedener Gruppen ereignet, jedoch in einem Kräftefeld, „das selbst noch die Kämpfe um seine Veränderung determiniert“ (Bourdieu 1999, 261 [Hervh. i.O.]). Die diese Arbeit abschließende Skizze historischer Wandlungsdynamiken nimmt dazu wichtige, mit dem Anspruch einer Widerlegung der Klassentheorie verbundene Zeitdiagnosen als Leitlinie. Unter Rückgriff auf Ergebnisse der im Anschluss an Foucault herausgearbeiteten Analyse der historischen Veränderungen der Formen der Subjektivität, des Konsums, der Regierungstechniken, der sozialen Sicherheit etc. (s.o. IV) sollen dabei zunächst einige der Transformationen, die in den Diagnosen der Konsum-, Dienstleistungs-, Wissensgesellschaft etc. erfasst wurden, im Kontext funktionell begründeter Rekonfigurationen der Klassenverhältnisse verortet werden (4.1), um anschließend damit zusammenhängende soziokulturelle Transformationen in Lebensstilmustern und Milieukontexten zu skizzieren (4.2). Beide Aspekte werden sodann im Hinblick auf aktuelle Konstellationen diskutiert, die einige Autoren von einer ‚Rückkehr der Klassengesellschaft‘ sprechen ließen (4.3). Abschließend werden Fragen nach der Rolle der Kritik, sowie nach Möglichkeitsräumen und potenziellen Trägergruppen einer Veränderung der Konfigurationen kapitalistischer Vergesellschaftung in den aktuellen Krisenkonstellationen aufgeworfen (4.4).

4.1 F UNKTIONALE R EKONFIGURATIONEN DER K LASSENVERHÄLTNISSE Im vorangegangenen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die Umstellung der Gesellschaft auf ein Primat funktionaler Differenzierungsprinzipien, also die Ausdifferenzierung von nach sachlichen Bezugsproblemen und internen Funktionslogiken unterschiedenen relativ autonomen Feldern, stratifikatorische Differenzierungsprinzipien nicht aufhebt, sondern lediglich eine Formveränderung ihrer Reproduktion und Legitimation impliziert. Klassentheorien wurden als Ansätze profiliert, die die Um-

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stellung der sozialen Stratifikation auf sachlich-funktionale Reproduktionsmodi begrifflich fassten, um charakteristische Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften zu erklären. Daran knüpft sich nun die Frage, ob auch jene Veränderungen einzelner phänotypischer Merkmale moderner Vergesellschaftung, die in anderen Gesellschaftsdiagnosen als Beleg für eine Überwindung der kapitalistischen Klassenverhältnisse galten, aus genuin kapitalistischen Funktionslogiken und Entwicklungsdynamiken adäquat erschließbar sind. Eine zentrale Deutung der modernen Gesellschaft, die eine Überwindung überkommener kapitalistischer Klassenverhältnisse belegen sollte, war die Diagnose der ‚Konsumgesellschaft‘, von deren integrativen Effekten etwa Schelskys (vgl. 1965) Nivellierungsthese ebenso wie marxistische Negativ-Visionen eines homogenisierenden Konsumismus (vgl. Marcuse 1967; Gorz 1965) eine Auflösung ökonomischer oder zumindest soziokultureller und politischer Klassendifferenzen erwarteten. Abgesehen davon, dass reale Veränderungen der Konsum- und Gesellungsstile die erwartete konsumistische Nivellierung nie bestätigten, konnte der Massenkonsum nur als den Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse und klassentheoretischer Analysen sprengendes Phänomen gelten, wo er als ein der Produktionsweise äußerlicher und in Klassentheorien unberücksichtigter Faktor gedeutet wurde (vgl. u.a. Luhmann 1988b, 164ff.). Demgegenüber wurde der Massenkonsum in dieser Arbeit als notwendiges (und für Marx zentrales) Moment einer auf Massenproduktion angewiesenen Produktionsweise behandelt. Die ‚Konsumgesellschaft‘ setzt eine spezifische Form der Produktion und einen vorangegangenen Akkumulationsprozess voraus, in dem die Anwendung von Lohnarbeitskraft in ihrem besonderen Verhältnis zum sie verwertenden Kapital erst jenen Stand der Arbeitsproduktivität ermöglichte, der zur Grundlage der Massenproduktion wurde. Das fordistisch-keynesianische Akkumulationsmodell, in dem die Ausdehnung der Konsumstandards wesentliche Funktionen für die Adaption der Lohnarbeitskräfte an veränderte Produktionserfordernisse gewann (s.o. IV.6), entstand zudem erst in Reaktion auf Unterkonsumtionskrisen, die aus einer klassenspezifischen Verteilungslogik resultierten (s.o. III.2). Dabei zielte die Rückkopplung von Produktion und Konsum explizit nie auf die Aufhebung, sondern auf die Optimierung der kapitalistischen Klassenverhältnisse durch einen Unternehmertypus, der „zu begreifen vermag, was für eine Klasse Arbeiter er braucht“ (Ford 1926, 196). Die funktionslogische Erklärung des Massenkonsums aus dem Kapitalverhältnis negiert keineswegs die Steigerung des Lebensstandards und der subjektiven Freiheitsgrade der Lebensführung oder den Abbau hierarchischer Unterordnungs- und Hörigkeitsverhältnisse, die mit der Subjektivierung und Integration durch Konsum gegenüber der im 19. Jahrhundert dominierenden disziplinarischen Subjektivierung verbunden waren (vgl. Schrage 2009, 103-132). Jedoch bemerkte bereits Marx zu jenen Modi des Kapitalismus, in denen die Arbeiter „den Kreis ihrer Genüsse erweitern, ihren Konsumtionsfond […] besser ausstatten und kleine Reservefonds von Geld bilden“ (MEW 23, 646), dass die Erhöhung subjektiver Freiheitsgrade mit der Steigerung der objektiven Abhängigkeitsbeziehungen einhergehen kann: „So wenig […] bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium das Abhängigkeitsverhältnis und die Exploitation des Sklaven aufheben, so wenig die des Lohnarbeiters. Steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals besagt in

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der Tat nur, daß der Umfang und die Wucht der goldnen Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst bereits geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben.“ (Ebd.)

Das Peculium war (nebenbei bemerkt) ein Vermögen, das Sklaven zu Gewerbszwecken frei verwenden durften, wenn der Herr einen Teil des Gewinns erhielt, sozusagen das antike Funktionsäquivalent des Arbeitskraftunternehmers. Vor diesem Hintergrund widerlegen wachsende Varianzspielräume der von vielen Faktoren beeinflussten Lebensstile oder die Pluralisierung der „Konsum-“ und „Erlebnismilieus“ (vgl. Hradil 1987; Schulze 1993) nicht den Fortbestand der Klassenverhältnisse. Es wäre vielmehr zu fragen, wie Veränderungen der Lebensstile und Milieus mit veränderten Reproduktionslogiken zusammenhängen (s.u. 4.2). Noch die Differenz der zwei Hauptthesen einer Aufhebung der Klassen im Konsum ist dabei aus Wandlungen der Produktionsweise erklärbar: Thesen eines die Differenzen einebnenden homogenisierenden Konsums entsprachen der standardisierten, unflexiblen Produktionstechnologie und den staatlichen Teilhabegarantien im fordistischkeynesianischen Akkumulationsmodus – die Riesmans (vgl. 1973, 17-50) Konzept des „Standardpakets“ präziser fasste als Schelskys dem entlehnte Nivellierungsthese.5 Demgegenüber entsprachen spätere Diagnosen einer Auflösung der Klassen durch Pluralisierung und Individualisierung der Lebensstile (vgl. Beck 1986; Hradil 1987; Schulz 1993) einer durch mikroelektronische Basisinnovationen ermöglichten flexibilisierten Massenproduktion, die mit differenzierteren Warenmargen auf fordistischer Grundlage unerfüllbare Individualitätsbedürfnisse bediente und anreizte. Gegen (keineswegs nur orthodox marxistische) technizistische und ökonomistische Reduktionen wurde in dieser Arbeit allerdings gezeigt, dass Veränderungen der Produktionsmethoden untrennbar mit Verschiebungen der Modi der Arbeitsorganisation, der Bedürfnisstrukturen und der Regierungstechniken zusammenhängen. So ergab sich die Ausformung der modernen Konsumgesellschaft nicht automatisch aus in der Logik der Produktionsweise angelegten Tendenzen. Sie beruhte auf spezifischen, gesellschaftlich umkämpften Regulationsformen und Klassenkompromissen, die viele Gesellschaftsdiagnosen ihrerseits als Indikator einer Überwindung der Klassenverhältnisse interpretierten. Für die Blütezeit der fordistisch-keynesianischen Modelle verwiesen Begriffe wie Arbeitnehmer- und Lohnarbeitsgesellschaft6 auf gestiegene gesellschaftliche Teilhabechancen und den erhöhten Status der Lohnarbeit. Neben höheren Konsumstandards galten die rechtlich-sozialen Absicherungen, die dieses Sozialmodell an den Lohnarbeitsstatus knüpfte, und die Institutionalisierung der Konfliktpotenziale von Kapital und Arbeit in staatlichen Regulations- und korporatistischen Aushandlungsarrangements als Beleg einer Überwindung der Klassenspannungen.7 Demgegenüber gehört es zu den wesentlichen Kennzeichen einer Insti-

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Das „Standardpaket“ bewirkt als gesamtgesellschaftlich verbreitetes Warensortiment keine Nivellierung. „Variationen“, „Verfeinerungen“ und Umfang des Konsums kennzeichnen den Konsumenten als „Träger eines bestimmten Lebensstils“, der durch „Teilklasse, ethnische Gruppe und Beruf bestimmt ist“ (Riesman 1973, 19 [Hervh. i.O.]). Den Begriff „Arbeitnehmergesellschaft“ prägte nach dem SPD-Wahlsieg von 1972 Willy Brandt (vgl. Brandt 1974, 312f.). In der Betonung erhöhter Teilhabechancen, auch an Bildung und politischer Mitbestimmung (vgl. Vester et al. 2001, 68ff.), ist er dem Begriff der „Lohnarbeitsgesellschaft“ (vgl. Castel 2008, 283-335) vergleichbar. Vgl. u.a. die entsprechenden Argumente bei: Geiger 1949; Schelsky 1965; Beck 1986.

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tutionalisierung, dass sie vorhandene Gegensätze in die Form einer „stabilisierten Spannung“ (Gehlen 2004, 88ff.; vgl. Rehberg 1990) bringt, was per Definition keine Auflösung, sondern vielmehr eine besondere Form des Managements und damit der prozessualen Reproduktion latenter Gegensätze und Konfliktdynamiken impliziert. Verbesserungen der Teilhabechancen und der Verhandlungsposition in tariflichen Interessenkonflikten führten dabei zu keiner einseitigen Verschiebung der Dominanzverhältnisse zugunsten der Lohnabhängigen. Entgegen stereotyper ‚Wohlfahrtsstaatskritiken‘ fungierte der keynesianische Staat nicht nur als die Arbeitnehmer beschenkender, „spendierfreudiger […] Profiteur“, sondern als „politischer Konstrukteur“ (Lessenich 2009, 154) des Nachkriegsbooms, von dem auch die Kapitalseite profitierte. Erst der staatlich moderierte Deal von „Leistung gegen Teilhabe“ (Vester et al. 2001, 72ff.) oder (unfreundlicher formuliert) von „Sicherheit […] gegen Abhängigkeit und Unterordnung“ (Mahnkopf/Altvater 2004, 71) ermöglichte durch erhöhte Arbeitsproduktivität und die Eröffnung neuer Absatzmärkte (etwa im medizinischen Sektor) einen langfristigen Akkumulationsschub (s.o. IV.6). Zudem war die Verhandlungsposition der Lohnabhängigen in der korporatistischen „Triade ‚Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Staat‘“ (Bourdieu 2010b, 318) an die Begrenzung der als legitim geltenden Mittel und Zwecke ihrer Interessenvertretung auf tariflich auszuhandelnde „Zugeständnisse beim Lohn“ (ebd., 320) gebunden, was dazu beitrug, „Verhältnisse zu schaffen, in denen bestimmte Dinge gar nicht erst diskutiert oder gefordert werden“, da sie als „undenkbar“ gelten (ebd., 321 [Hervh. i.O.]). Insofern in asymmetrischen Verhältnissen „jede Anerkennung […] der Illegitimität bestimmter Mittel oder Ziele die Beherrschten schwächt“ (ebd., 320) und die Aushandlungsarrangements zudem „demobilisierende Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodelle“ begünstigten, welche „die Gegner im Arbeitskampf als ‚Sozialpartner‘“ euphemisierten (ebd., 326), trug die „Verarbeiterung“ (ebd., 320) in der Arbeitnehmergesellschaft im selben Maße zur Konservierung elementarer Ausbeutungs- und Dominanzverhältnisse zwischen Lohnarbeit und Kapital bei, wie sie deren politische und soziokulturelle Erscheinungsformen veränderte. Im Zusammenspiel mit der von Bourdieu herausgearbeiteten Logik der Delegation, in der die Stellvertretung die unmittelbare Solidarität und die Selbstorganisationskapazitäten der Vertretenen unterminiert (vgl. ebd., 38ff., 271ff. & 329ff.),8 begünstigte damit gerade die temporäre Stärkung der gewerkschaftlichen Interessenvertretungsapparate langfristig die in aktuellen Konfliktkonstellationen oft verzeichnete Schwächung der Arbeitnehmerseite (vgl. Castel 2011, 294ff.; Crouch 2011; s.u. 4.3). Während abstrakte Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenstruktur so relativ stabil blieben, waren ihre konkreten Ausprägungen und Binnendifferenzierungen tiefen Transformationen unterworfen, die zu Diagnosen der zunehmenden Pluralisierung und Dynamisierung der Sozialstruktur führten. Ursächlich dafür waren der Wandel der Beschäftigungsverteilung zwischen primärem, sekundärem und tertiärem Sektor sowie die allgemein zunehmende Bedeutung von Wissenschaft und Bildung, die sozialstrukturelle Differenzen und individuelle Positionierungschancen verstärkt

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Das entspricht dem bei Beck (1986, 131ff.) formulierten Paradox, dass gerade die Institutionalisierung politischer und gewerkschaftlicher Interessenvertretung zur Dekomposition des sozialen Klassenzusammenhalts beitrug.

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von formalen Qualifikationskriterien und kulturellen Faktoren abhängig machten. Bereits als die Zahl der Angestelltenberufe sich in der Weimarer Republik verfünffachte (vgl. Landauer 1990, 227ff.; Marschak/Lederer 1926), bot dies 1932 Geigers Studie zur ‚sozialen Schichtung des deutschen Volkes‘ einen zentralen Bezugspunkt, um den Begriff der Klasse zum „Sonderfall“ (Geiger 1967, 5) einer historischen Ausprägung der Sozialstruktur zu erklären, woran seine Klassengesellschaft im Schmelztiegel (Geiger 1949) ebenso wie Schelsky (1965, 339ff.) anknüpften. Überholt war damit aber allenfalls ein binäres Schema von Industrieproletariat und Kapitalisten, auf das (wie zumindest Geiger wusste) der marxsche Ansatz nicht reduzierbar war.9 Noch vor Geiger erklärte 1929 Krackauer die Expansion der Angestelltenberufe (in Kontinuität zu Marx) aus „Strukturwandlungen der Wirtschaft“, die durch neue „Organisationsformen“ der Massenproduktion und das „Anschwellen des Verteilungsapparats“ neue „Unteroffiziere[] des Kapitals“ und mehr ‚Zirkulationsagenten‘ erfordere (Krackauer 1981, 12f.). Marx selbst hatte diese Expansion in den 1860er Jahren als zentrale Entwicklungstendenz herausgearbeitet, die aus zunehmender betrieblicher Rationalisierung und wachsenden Anforderungen im Distributionssektor folgt, der den Kreislauf von Produktion und Konsum über expandierende Märkte in immer zahlreicheren Zwischengliedern vermitteln muss. Allerdings seien die Angestellten als dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt Arbeitszeit und damit Wert zusetzende Lohnabhängige dem Grundverhältnis von Kapital und Lohnarbeit und den entsprechenden Gesetzen der Wert(ab)schöpfung subsumiert (vgl. MEW 24, 131-153; MEW 26.1, 387f.). In der Weimarer Republik entsprach dem statusmäßigen Aufstieg ins Angestelltendasein oft keine ökonomische Besserstellung, zumal buchhalterische und kaufmännische Berufe durch Verallgemeinerung der erforderten Fähigkeiten und technische Vereinfachungen entwertet wurden. Trotz kultureller Differenzen und Distinktionsbemühungen gegenüber dem Industrieproletariat waren die Angestellten ähnlichen ökonomischen Tendenzen unterworfen.10 Dies gilt auch für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandierenden Dienstleistungsberufe, deren Anteil an der kapitalistischen Lohnarbeit mit wachsender Arbeitsproduktivität steigt, ohne deren Ausbeutungscharakter zu verändern. Diagnosen der ‚postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft‘ (vgl. Häußermann/Siebel

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Geiger zielte nicht auf eine Totalwiderlegung von Marx: „Marx war weder blind noch töricht. Er […] sah […] die Pluralität der Schichtungen“, die aus „der Mannigfaltigkeit der Produktionsverhältnisse“ folge, „die obendrein mit dem Übergang des Wirtschaftslebens zu höheren Organisationsformen wächst“ (Geiger 1949, 44ff.). 10 Die Rechentechnik (Powers- und Hollerithmaschinen) machte Tätigkeiten, die einst hohe mathematische Qualifikationen erfordert hatten, auf einfache Angestellte übertragbar (vgl. Krackauer 1981, 26ff.). Ihr Lohn entsprach in den 1920er Jahren etwa dem Lohn gelernter Arbeiter. Mit erhöhten Chancen zum „Aufstieg in die Angestelltenschaft […] verlor dieser Wechsel den Charakter des Aufstiegs“ (Speier 1977, 45; vgl. Landau 1990, 227ff. & 243ff.). Signifikant waren jedoch Unterschiede der Lebensführung: „Mehr ‚scheinen‘ wollen als tatsächlich ‚sein‘ war ein ungeschriebener Verhaltenskodex“ (Landau 1990, 228). „Auf […] die Kopfarbeit und einige andere belanglose Merkmale […] gründen […] große Teile der Bevölkerung ihre bürgerliche Existenz, die gar nicht mehr bürgerlich ist […] Sie möchten Unterschiede bewahren, deren Anerkennung ihre Situation verdunkelt.“ (Krackauer 1981, 78f.) Auch bei im Vergleich zu Facharbeitern niedrigeren Einkünften war der Budgetanteil für Kultur, Kleidung und Kosmetik höher, wofür bei den Nahrungsausgaben gespart wurde (vgl. ebd., 24f., 90ff.; Landau 1990, 158-260).

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1995) gingen von bei Marx (vgl. u.a. MEW 23, 469) verzeichneten Entwicklungstrends aus (vgl. Bell 1975, 68ff.), waren jedoch fragwürdig, wo sie Effekte von Standortverlagerungen und des Anstiegs produktionsbezogener Dienstleistungen (vgl. ebd., 135ff.) als Beleg des prinzipiellen Bedeutungsverlustes der Industrieproduktion deuteten.11 Auch Erwartungen einer Aufhebung kapitalistischer Klassenverhältnisse (vgl. ebd., 219-242 & 299-361) erfüllten sich nicht. Die „Nachfahren der alten Arbeiterklasse“ blieben „auch als Dienstleistende […] Teil der Arbeitnehmermilieus“ (Vester et al. 2001, 77 [Hervh. i.O.]). Die Milieuverteilung hängt nicht davon ab, ob Individuen „Dienstleistende oder Arbeiter sind“, sondern von der „Art ihres Bildungskapitals“ (ebd., 510).12 Gegen eine „deutsche Ideologie der Dienstleistungsgesellschaft“ (Geißler 1996, 225ff.), die Dienstleistung per se als gegenüber der Industriearbeit höherwertige Tätigkeit ansah, setzten sich im „Trend zum Dienstleistungsproletariat“ (Groh-Samberg 2005) zudem auch Traditionen unterprivilegierter Arbeitermilieus fort.13 Auf das Sozialraummodell Bourdieus (s.o. 2.3) bezogen betrafen die Verschiebungen der Klassenstruktur also weniger die vertikale Dimension des Kapitalvolumens und primär die horizontale Dimension der Kapitalstruktur, wobei das kulturelle Kapital der Bildungstitel in allen Klassen für die Vererbung sozialstruktureller Positionierungschancen an Bedeutung gewann (vgl. Bourdieu 1999, 210-276). Diese (auch für Deutschland gut belegten)14 Transformationen folgten zwei von Marx herausgearbeiteten Haupttendenzen kapitalistischer Entwicklung: Die zunehmende Trennung von Kapitalfunktion und Kapitalbesitz (vgl. MEW 25, 400ff.) führt innerhalb der ‚herrschenden Klasse‘ zum Anstieg des quantitativen Anteils und des gesellschaftlichen Einflusses der „Lohnbourgeoisie“, also jener Exekutivagenten von Kapitalfunktionen, die in Management, Direktion, Aufsichts- und Verwaltungsräten eine vom formellen Eigentum unabhängige Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel erlangen und durch „Wandel der zur Appropriierung der Kapitalprofite eingesetzten Instrumente“ (Bourdieu et al. 1981a, 38) wachsende Teile des gesellschaftlichen Mehrwerts in Form von Gehältern und Boni aneignen (vgl. ebd., 23-88; Boltanski 1990). Zugleich führt die fortschreitende Verwissenschaftlichung der Produktion und der ihr vorausgesetzten Distributionsfunktionen zu allgemein steigenden Qualifikationsanforderungen (vgl. MEW 25, 311ff.), die sich in den ‚neuen Berufen‘ der Informations- und Humantechnologien (vgl. Vester et al. 2001, 422ff.) ebenso Bahn brechen, wie in traditionellen Berufsfeldern. Beiden Tendenzen liegen Innovations-

11 Zwar beschäftigte der tertiäre Sektor 1950 nur 33%, 2003 bereits 66,4% der Arbeitnehmer. Die Verlagerung ging jedoch v.a. vom primären Sektor aus (1950 noch 22%, 2003 nur noch 2,5%). Zwar schrumpfte auch der sekundäre Sektor (von 49,4% 1970 auf 31,1% 2003), die zum großen Teil auf Produktionsverlagerung und Outsourcing zurückgehende Deindustrialisierung hatte aber regionalen und keinen globalen Charakter (vgl. Statistisches Bundesamt 2004, 102ff. & 340ff.). Die ‚Tertiarisierung‘ erfolgte eher „neben dem Industriesektor und nicht gegen ihn“ (Vester et al. 2001, 76). 12 Dienstleistungsberufe finden sich daher quer durch alle Milieus neben durch ähnliches Bildungskapital und ähnliche Traditionen gekennzeichneten Industrieberufen (vgl. Vester et al. 2001, 511-522). 13 Vgl. hierzu auch Klawitter/Sauga/Tietz 2007; Bourdieu 2004c, 170; Pelizzari 2004. 14 Vgl. Statistisches Bundesamt 2004, 489-502; Baumert/Cortina/Leschinsky 2003; Vester et al. 2001, 390-426.

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zwänge zugrunde, die schon daraus folgen, dass eine Produktionsweise, für die „der Weltmarkt selbst die Basis“ (MEW 25, 345) ist, eine globale Konkurrenz um wissenschaftlich-technische Produktionsfaktoren impliziert, während die weltweite Distribution ständig zwingt, die „Zusammendrängung von Zeit und Raum durch Kommunikations- und Transportmittel“ (MEW 16, 127) zu forcieren.15 Es liegt nahe, eine solche Gesellschaft, in der das Wissens- und „Informationskapital zu einer der entscheidensten Produktivkräfte“ wird (Bourdieu 2004c, 48), als Wissens- oder Informationsgesellschaft zu charakterisieren.16 Obwohl diese Diagnosen – wie Luhmann (vgl. 1998, 1088ff.) monierte – selbst meist „rein ökonomisch […] begründet“ waren (ebd., 1090), beanspruchten sie eine Widerlegung des marxschen ‚Materialismus‘, da in der Wissensgesellschaft nicht mehr ‚materielle‘, sondern „kognitive Faktoren, Kreativität, Wissen und Information […] den Großteil des Wohlstands“ erzeugen (Stehr 1994, 35; vgl. 2001, 29f.). Damit, so die Erwartung, „verschwinden auch die Bedingungen, die bisher als Anker sozialer Stratifikation galten“ (Stehr 1994, 177). Durch Auflösung der „Abhängigkeit“ der Individuen von „der singulären Unselbstständigkeit aufgrund der von ihnen ausgeübten ökonomischen Funktion“ (ebd., 187f.) mache der jedem offen stehende Zugriff auf Wissen die Einzelnen zu autonomen Subjekten ihres sozialen Schicksals: „Das Verhältnis von materiellen und kognitiven Faktoren sozialer Ungleichheit kehrt sich somit um. Wissen steuert und reguliert die materiellen Komponenten“ (ebd., 194f.), weshalb die „Arbeitswerttheorie“ einer „Wissenswerttheorie“ weichen müsse (ebd., 350). Diese Vision beruhte freilich nur auf der simplifizierenden Annahme, dass die Gesellschaft „bisher in erster Linie von […] Arbeit und Eigentum (Kapital) geprägt“ gewesen sei, die nun durch „eine neue Eigenschaft, das Wissen“, als „Strukturierungsmechanismus“ abgelöst würden (ebd., 29f.). Arbeit, Eigentum und Wissen galten hier als monistische Erklärungsprinzipen für klar abgrenzbare Gesellschaftsformen.17 Demgegenüber fasste Marx Wissen als ein Moment jeder Arbeit, das unter kapitalistischen Bedingungen zum zentralen Kriterium für Qualität und Wert der Ware Arbeitskraft und als Produktivkraft ein energisches Moment der Steigerung des relativen Mehrwerts wird, was eine Erklärung der wachsenden Rolle des Wissens in kapitalistischen Gesellschaften erlaubt (s.o. III.1.4). Er kritisierte jedoch den in der Soziologie der Wissensgesellschaft reanimierten Traum, dass wissenschaftlich-technische Produktivkräfte automatisch kapitalistische Ungleichheitsmuster und Konfliktdynamiken auflösen würden.18 Die Vision einer Wissensgesellschaft, in der jeder „vom passiven Akteur zum aktiven Mitgestalter“ (Stehr 1994, 200) werde, kleidete eine alte, im 18.

15 Da das „Produkt nur massenhaft verwertet werden kann auf fernen Märkten“ und Kommunikation und Transport „selbst Sphären der Verwertung, der vom Kapital betriebnen Arbeit abgeben […,] ist die Produktion wohlfeiler Transport- und Kommunikationsmittel Bedingung für die auf das Kapital gegründete Produktion“ (MEW 42, 431f.). 16 Vgl. Bell 1975; Weingart 1976; Stehr 1994; Castells 2001; Steinbicker 2001. 17 „Anfangs war die bürgerliche Gesellschaft eine Eigentumsgesellschaft. Später wurde sie dann zu einer Arbeitsgesellschaft, die gegenwärtig von der Wissensgesellschaft abgelöst wird.“ (Stehr 1994, 31; vgl. ebd., 295f.) 18 „Alle Fortschritte der Zivilisation […], alle Vermehrung der gesellschaftlichen Produktivkräfte […] – wie sie resultieren von Wissenschaft, […] verbesserten Kommunikationsmitteln, Schaffen des Weltmarkts, Maschinerie etc.[,] bereichern […] das Kapital; vergrößern also nur die […] objektive Macht über die Arbeit.“ (MEW 42, 229 [Hervh. i.O.])

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Jahrhundert von Saint Simon vertretene und in den sozialtechnischen Ingenieursvisionen des 20. Jahrhunderts (Fourastié 1954; Drucker 1969; 1993) adaptierte Utopie der Überwindung der Klassendifferenzen durch Wissenschaft und Technik in ein neues, dem selbstunternehmerischen Zeitgeist angepasstes Gewand, verfehlte aber reale Dynamiken kapitalistischer Wissensgesellschaften. Fraglos betrifft der Bedeutungszuwachs von Wissen und Information als nationalökonomische Standortfaktoren in der globalen Konkurrenz nicht nur einen abgrenzbaren Sektor der Wissensökonomie, sondern alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (vgl. Stehr 1994, 302-313). Indem sich die beruflichen Anforderungen wie das Bildungsniveau aller Bevölkerungsgruppen erhöhen, hängen auch individueller Erfolg und sozialer Status zunehmend von Bildungsfaktoren ab. Statt die Klassenverhältnisse aufzuheben ist dies aber nur eine deutlichere Manifestation von Haupttendenzen der kapitalistischen Produktionsweise. Entgegen der Erwartung einer meritokratischen Verlagerung der Dominanzverhältnisse, in der die auf Kapitalbesitz begründete Einflussmacht durch eine unabhängige ‚Autorität des Wissens‘ abgelöst wird (vgl. Bell 1975, 257ff.), zeigt die Begrenzung der Einflussmöglichkeiten wissenschaftlich gebildeter Führungskräfte durch Interessen und Vorgaben der Shareholder und Vorstände, dass das Wissen auch hier ‚dem Kapital‘ subsumiert bleibt (vgl. Baetghe/Denkinger/Katridze 1995). Auch führte der Bildungsanstieg in den OECD-Ländern zu keinem vergleichbaren Anstieg des Lohnniveaus und zu keiner generellen Aufhebung der klassenspezifischen Verteilung der Bildung. Die Entwicklungen entsprechen eher Bourdieus Analysen, denen zufolge die sozialstrukturellen Relationen und Dominanzverhältnisse mit einem erhöhten Anteil kulturellen Kapitals in allen Klassen auf ‚erweiterter Stufenleiter‘ reproduziert werden.19 Nach Bourdieu gewinnt für die intergenerationelle Reproduktion der Positionierungschancen im Macht-Feld der „Reproduktionsmodus mit schulischer Komponente“ (Bourdieu 2004a, 345ff.) an Bedeutung. Was in Thesen der Wissensgesellschaft als Verschiebung von „einem Herrschaftsmodus, der auf dem Eigentum und den owners beruht, zu einem […], der auf der ‚Kompetenz‘ und den managers basiert“ (ebd., 363 [Hervh. i.O.]), galt, begünstigt faktisch vor allem den Wechsel von Kindern aus Familien mit hohem Bildungs- und Beziehungskapital ins Management eng mit dem Staat verflochtener Banken und Unternehmen, suspendiert aber den Modus der direkten Vererbung ökonomischer Verfügungsmacht ebenso wenig, wie es die relativ geschlossene Reproduktion der herrschenden Klasse aufhebt, in der die Verfügungsmacht über ökonomisches und kulturelles Kapital konzentriert bleibt.20 Der

19 Allerdings zeigt der OECD-Vergleich, dass gezielte Bildungspolitik (v.a. in skandinavischen Ländern) die von Bourdieu betonte intergenerationelle Vererbung der Klassenlage deutlich abschwächen kann (vgl. u.a. OECD 2001), was jedoch „nur“ die sozialen Mobilitätsraten erhöht, ohne die Klassenstruktur aufzuheben. 20 Bourdieu (2004a, 317-412) zeigt, dass Spitzenpositionen in Banken und „halbstaatlichen oder von Staatsverträgen abhängigen Unternehmen“ „seltner aus der Unternehmerschaft und […] häufiger aus Familien von hohen Staatsfunktionären und Freiberuflern“ besetzt werden (ebd., 363ff.). Der direkt ökonomische und der bildungsvermittelte Reproduktionsmodus bilden jedoch keine Gegensätze und keine historisch distinkten Formen. Sie koexistieren (mit verschiedener Gewichtung in den Teilfeldern und unterschiedlicher Nutzung durch verschiedene Klassenfraktionen) als zwei „Pole eines Kontinuums“ (ebd., 363). Entgegen „meritokratischer Legenden“ bleiben Arbeiter- und Angestelltenkinder unter den

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These, die Dominanzverhältnisse innerhalb der herrschenden Klasse würden vom ökonomischen zum kulturellen Pol einer neuen „class of ‚brain workers‘“ (Ladd 1970, 262; vgl. Benveniste 1972) verschoben, steht zudem „entgegen, daß die Inhaber von ökonomischem Kapital (als der dominierenden Kapitalform) die Inhaber von kulturellem Kapital in eine Konkurrenzsituation bringen können“, was „umso leichter“ ist, da diese nach ihrer schulischen Ausleseprägung „ohnehin zum Konkurrenzverhalten neigen“ (Bourdieu 1992a, 60). Was selbst die Qualifikationsspitze trifft, gilt erst recht in anderen Bereichen der Bildungshierarchie, in der die flexibilisierten lebenslangen Lernbiographien weniger von intrinsischem Selbststeigerungsgeist als von externen Zwängen angetrieben sind. Sozialstrukturell heißt dies, „daß sich das Feld der sozialen Klassen vermittels einer Verlagerung der Struktur des in den Klassen und Klassenfraktionen vorhandenen Bildungs-Kapitals reproduziert“. Die Erhöhung „des akkumulierten Bildungskapitals“ aller Klassen bewirkt keine grundlegende Veränderung der Klassenverhältnisse, da in diesem „Reproduktionsmodus [...] jede Klasse sich in ihren ordinalen Eigenschaften einzig dadurch erhalten“ und die „Sozialordnung […] nur so aufrecht erhalten werden“ kann, dass sich jede Klasse „in ihren substantiellen Eigenschaften ändert“, indem sie ihr „Bildungskapital erhöht“ (Bourdieu et al. 1981a, 70f. [Hervh. i.O.]). Im Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit bewirkt die Logik der Arbeitsmarktkonkurrenz und die Dynamik der wissensökonomischen Verallgemeinerung von Qualifikationen, dass die Arbeitskräfte sich veränderten Qualifikationserfordernissen anpassen müssen, ohne dass dies zur Vermeidung sozio-ökonomischer Deklassierung hinreichend wäre. Diese – bei Beck (vgl. 1985; 1986, 138f.) als überraschendes Paradox gewertete – Logik der Bildungsinflation, die „prekarisierte Habitusformen“ bei heutigen Wissensarbeitern zur „Kehrseite der ‚Wissensgesellschaft‘“ (Bittlingmayer 2002, 240ff.; vgl. Brede 2004; Resch 2005) macht, stehen in einer bis in die Anfänge des Kapitalismus reichenden und lange vor Marx bekannten Entwicklungsreihe: „Die weite Verbreitung der Ausbildung unter den Arbeitern unseres Landes vermindert täglich den Wert der Arbeit und der Geschicklichkeit fast aller Meister […] durch Vermehrung der Zahl derjenigen Personen, welche ihre speziellen Kenntnisse besitzen“ (Hodgskin [1825], Auszug in: Vester 1970a, Bd. I, 79-87, hier: 86).

Aus der Einbettung des Wissens in gesellschaftlich-ökonomische Zusammenhänge ist die stetige Wiederholung dieser Grundtendenz erklärbar. Wie schon bei Marx impliziert diese Logik bei Bourdieu aber keinen Strukturdeterminismus. Es handelt sich um Tendenzen innerhalb eines Kräfteverhältnisses, die sich nur ungehindert durchsetzen, wo ihnen keine kollektive Aktion entgegengesetzt wird, also nur, solange „die Angehörigen der beherrschten Klassen verstreut, als einzelne in die Konkur-

Unternehmern die absolute und nur bei „zweitrangigen Unternehmen“ (ebd., 367) zu findende Ausnahme (unter 3%). Die höhere Mobilität im Management bleibt primär eine transversale Mobilität, in der Kinder der Kultureliten sich zum ökonomischen Pol der herrschenden Klasse bewegen. Obwohl in der BRD staatliche oder private Elite-Universitäten keine mit Frankreich oder den USA vergleichbare Rolle als institutionalisierte Vermittler der geschlossenen Reproduktion der herrschenden Klasse spielen, sind die Schließungstendenzen ähnlich stark ausgeprägt (vgl. Hartmann 2002).

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renz eintreten, das heißt lediglich in statistischer Ordnung agieren und reagieren“, also in jener Form, welche „ihnen die herrschende Klasse aufgezwungen hat“ (Bourdieu et al. 1981a, 71; vgl. 1999, 255-276). Allerdings wird der Möglichkeitsraum kollektiver Aktionen seinerseits von den gegebenen Produktions- und Kräfteverhältnissen und den konkreten Akkumulations- und Regierungsmodi bestimmt. Hier stellt sich die Frage, wie die auf der funktionsanalytischen Ebene der Klassenkonzepte herausgearbeitete wachsende Differenzierung der funktionell bestimmten Positionen in allen Feldern gesellschaftlicher Produktion in soziokulturellen Veränderungen der Lebensstile manifest werden (4.2) und wie sich aktuelle Konfigurationen der Klassenverhältnisse (4.3) auf die Möglichkeiten ihrer theoretischen Kritik und praktischen Veränderung (4.4) auswirken.

4.2 T RANSVERSALE M OBILITÄT M ODERNISIERUNGEN

UND SOZIOKULTURELLE

„In den Reaktionen vergleichbarer Beschäftigungsgruppen mit ähnlichen Erfahrungen erkennen wir zwar eine Logik, aber ein Gesetz können wir nicht aufstellen. Klassenbewusstsein entsteht zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten auf dieselbe Weise, allerdings niemals auf genau dieselbe Weise.“ EDWARD PALMER THOMPSON (1987, 8 [Hervh. i.O.])

Da Klassen keine statisch-homogenen Großgruppen sind und der mit dem Begriff gefasste Zusammenhang der funktionsanalytisch-sozialstrukturellen Dimension mit der soziokulturellen Dimension der Lebensstile und der politischen Dimension der Konflikte und Organisationsformen kein mechanisch-deterministischer ist, sondern einen dynamischen Komplex von Wechselwirkungen bezeichnet (s.o. 2), war die realtypologische Entgegensetzung der ‚alten‘ ökonomisch bestimmten und sozial homogenen Klassen und der sie in der BRD vermeintlich ablösenden ‚neuen‘ pluralen und frei gewählten Milieus (vgl. Hradil 1987; Schulz 1993) schon in der Grundanlage verfehlt. Sinnvoller und auch der soziologischen Tradition des Milieubegriffs seit Durkheim angemessener ist es, Sozialmilieus nicht als Gegenentwurf, sondern als Korrelat des Klassenbegriffs zu begreifen.21 Als Gesamtzusammenhang des durch die Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und in den sozialen Hierarchien definierten Bedingungsrahmens mit weiteren soziokulturellen Einflüssen (Region, Tradition etc.) und den daraus erwachsenden besonderen moralischen und kulturellen Orientierungen ist ein Milieu durch die Wechselwirkungen zahlreicher gesellschaftlicher Faktoren in einer besonderen All-

21 Durkheims Milieubegriff sollte schließlich gerade Kausalitäten zwischen den gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen von Arbeitsteilung, Herrschaft, Solidarität, Wertorientierung etc. erfassen. Ohne ihn würde „die Soziologie in die Unmöglichkeit versetzt, irgendwelche Kausalbeziehungen festzustellen“ (Durkheim 1976, 198). Demgegenüber droht die verkürzte Verwendung des Milieubegriffs in den 1980er Jahren, alle Kausalzusammenhänge abzublenden.

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tagspraxis definiert. Diese Tradition des Milieubegriffs ist von lebensweltlichen, eine historisch-dynamische Lebenswirklichkeit bezeichnenden Klassenbegriffen bei Williams, Hall und Thompson kaum verschieden und erlaubt es, Milieus als „Alltagsebene der Klassenpraxis“ (Vester et al. 2001, 167ff.) in den Blick zu nehmen. Anstelle der substanzontologischen Fragen, ob eine Gesellschaft entweder durch die Existenz von Klassen oder durch die Existenz von Milieus geprägt ist, geht es dann um die analytische Frage, wie die historisch veränderten Ausformungen von Milieus (respektive der soziokulturellen Klassenpraxis) mit den oben diskutierten Veränderungsdynamiken in der funktionellen Dimension der Reproduktion der Klassenbeziehungen zusammenhängen.22 Ein in der ‚Neuen sozialen Ungleichheitsforschung‘ oft betonter Faktor der Veränderungen der Sozialmilieus war die durch Tertiarisierung, Bildungsexpansion und Verwissenschaftlichung der Arbeitswelt erhöhte soziale Mobilität. Solchen Diagnosen widersprach Bourdieus Modell der dynamischen Reproduktion der Klassenstruktur (entgegen verbreiteter Missverständnisse) keineswegs. Wesentliche analytische Differenzen ergaben sich jedoch daraus, dass Bourdieu zwei verschiedene Formen sozialer Mobilität kategorial unterschied, die andere soziologische Diagnosen oft vermischten. Wird ein höheres Bildungsniveau direkt als Indikator sozialen Aufstiegs interpretiert, ergibt sich ein scheinbar eindeutiges Bild breiter Aufstiegsmobilität.23 Demgegenüber indizieren dieselben Daten ambivalente und widersprüchliche Tendenzen, wenn man mit Bourdieu (vgl. 1999, 220ff.) die durch Veränderung des Kapitalvolumens angezeigte vertikale Auf- oder Abstiegsmobilität von Formen transversaler Mobilität unterscheidet, die aus horizontalen Verlagerungen der Kapitalstruktur resultieren. Vertikale Mobilität meint dabei den Anstieg des Kapitalvolumens, der sich meist innerhalb desselben Feldes durch Erweiterung derselben Kapitalsorte vollzieht (z.B. wenn Kinder von Gymnasiallehrern Hochschullehrer oder Kuratoren werden). Transversale Mobilität liegt hingegen vor, wen sich die Laufbahn auf der horizontalen Ebene bewegt, z.B. wo eine den Eltern vergleichbare sozioprofessionelle Position nur durch eine Erhöhung des Bildungsniveaus gehalten werden kann oder wenn eine angestrebte höhere Position bereits entwertet ist, wenn sie erreicht wird. Legt man diese Unterscheidung zugrunde, erweisen sich die Effekte der Bildungsexpansion überwiegend als Formen transversaler Mobilität infolge der Zunahme des kulturellen Kapitals in allen Klassen. Einzelne Kumulationen vertikaler Mobilität schließt das nicht aus. So wurde die seit den 1970er Jahren rasch expandierende Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft für neue Felder der Informationsund Humantechnologie, für Sozial-, Pflege- und Bildungsberufe durch einen doppelten Rekrutierungsmodus gedeckt, bei dem transversale und vertikale Laufbahnfor22 Exemplarisch teilt etwa Thompsons (1987) Definition von Klasse als „aktiver Prozeß, Resultat menschlichen Handelns und historischer Bedingungen“ (ebd., 7) mit dem Milieubegriff die Betonung der Komplexität und Offenheit der Vermittlungen zwischen Produktionsweise, Kultur, Bewusstsein und Moral in historisch gelebten Erfahrungen. Dies lässt sich gegen die Kurzschlüsse nomothetischer Klassenkonzepte richten (vgl. Thompson 1980a, v.a. 177-258), ohne damit analytische Frage nach dem konkreten Zusammenhang dieser Dimensionen zu suspendieren. 23 Vgl. zu solchen Interpretationen u.a. Hradil 1987; Beck 1986, 127ff. Die abweichende Deutung derselben Daten führt dann zum Vorwurf, Bourdieu übergehe die erhöhte soziale Mobilität (vgl. u.a. Hradil 1989).

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men gleich bedeutsam waren (vgl. ebd., 561-570), während für die ‚Verlierer‘ derselben Entwicklungsdynamik (v.a. traditionelle Berufe in Handwerk und Kleinhandel) die vertikale Abstiegsmobilität zum ‚Klassenschicksal‘ wurde (vgl. ebd., 541549). Solche in Deutschland ähnlich gelagerten (vgl. Vester et al. 2001, 407-426) Kumulationen sozialer Mobilität begleiten seit dem 18. Jahrhundert jede Transformation der Berufsfelder (vgl. MEW 25, 311ff.) und rechtfertigen keine radikalen Thesen einer Auflösung der Klassenstruktur. Solche Thesen sind aber auch gar nicht nötig, um die von Beck (1986) oder Hradil (1987 & 1990) mit den Begriffen der Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung präzise erfassten Haupttendenzen der fraglichen sozialstrukturellen Transformationen und ihre soziokulturellen Effekte zu berücksichtigen. Obwohl der „Kapitalismus ohne Klassen“ (Beck 1986, 134) nie Realität war, setzte die beschleunigte Innovationsdynamik der wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte in einer global vernetzten Ökonomie die Produktionsverhältnisse und die Subjekte unter Anpassungsdruck. Die gesteigerten Zwänge und Möglichkeiten zu geographischer und bildungsmäßiger Mobilität oder die durch bessere Verhütungstechniken und veränderte geschlechtliche Arbeitsteilung ermöglichte Entbindung der Sexualität von biologischen und sozialen Reproduktionsfunktionen (vgl. u.a. Kohlmorgen 2006) bewirkten in allen Klassenlagen eine Freisetzung aus überkommen Familien- und Milieuzusammenhängen. Die damit verbundenen Enttraditionalisierungs- und Individualisierungsschübe (vgl. Beck 1986, 122-130) waren unabhängig vom vertikalen oder transversalen Charakter der Sozialmobilität und begünstigten im Zusammenspiel mit steigenden Freiheitsgraden der konsumtiven Befriedigung individueller Expressions- und Authentizitätsbedürfnisse (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 476ff.) jene Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Lebensstilmuster und Milieus, die Hradil (vgl. 1987; 1990 & 1992) zu Recht als Hauptkennzeichen der Modernisierung der Sozialstruktur ansah. Die sozialstrukturelle Reproduktion impliziert durch die gesteigerte transversale Mobilität „nur eine sehr geringe ‚Berufsheridität‘“ (Bourdieu 1999, 219), was den Abstand, der die Generation der ‚Bildungsaufsteiger‘ von den Herkunftsmilieus trennte, erhöhte, auch wo Differenzen in Einkommen und Kapitalvolumen gering ausfielen. Zudem kann gerade die objektive Abwertung der Bildungsprädikate und Berufe, die eine angestrebte ‚vertikale Laufbahn‘ zur horizontalen macht (vgl. ebd., 222-237), zu einem „Hysteresis-Effekt des Habitus“ führen, der auf einen „veränderten Stand des Titelmarktes noch […] Bewertungskategorien appliziert, die einem früheren Stand der objektiven Chancen“ entsprachen (ebd., 238). Die kulturelle Abgrenzung zum Herkunftsmilieu wird hier – wie bereits bei den Angestellten der 1920er Jahre (vgl. Krackauer 1981, 78f.; Landau 1990, 227ff., 243ff.) – umso stärker ausgeprägt, je geringer der ökonomische Aufstieg ausfällt. Die Effekte dieser Entwicklung in einem „Generationenkonflikt“, in dem die Abweichung von den Mentalitäten der Herkunftsmilieus sich zur globalen Verweigerung gegen überkommene Orientierungen und Wertmuster zuspitzt, die sich in sozialen Bewegungen jenseits traditioneller Klassendifferenzen Bahn bricht (vgl. Bourdieu 1999, 241-276), galten bei Hradil und Beck als weiterer Beleg für eine Auflösung der Klassendifferenzen. Als radikaler Bruch erschienen diese Phänomene aber erneut nur im Kontrast zu vereinfachten Bildern der ‚alten Arbeiterklasse‘ als homogener und dumpfer kollektivistischer Masse. So band etwa Beck (vgl. 1986, 131ff.)

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den Klassenbegriff eng an eine ‚Verelendungstheorie‘, der zufolge die „sozial und politisch handelnden ‚Klassen‘“ nur dort aufträten, wo Menschen „unter dem Druck der Not“ in „Elendsvierteln […] zu Großgruppen […] zusammengeschmolzen“ würden (ebd., 131). Bei Marx hätte solchen Stereotypen wohl allenfalls das ‚Lumpenproletariat‘ entsprochen, dem er die Kapazitäten zu aktiver Klassen-Organisation gerade absprach (vgl. MEW 4, 472). Insgesamt folgten solche Vorstellungen von Klassenbildung eher tradierten intellektuellen Vorurteilen (vgl. Bourdieu 2010b, 44f. & 113ff.) als der historischen Realität. Demgegenüber zeigen klassische Analysen und Theoreme (ob bei Marx, Durkheim oder Simmel), dass Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung von jeher die Dynamik kapitalistischer Klassengesellschaften bestimmten.24 In einer Analyseperspektive, die die Wechselwirkung zwischen der dynamischen Reproduktion der Klassenverhältnisse und den dynamischen Formen ihres symbolischen Ausdrucks berücksichtigt, zeigen die sozialstrukturellen Differenzierungen und soziokulturellen Praxen der ‚alten Klassen‘ komplexere und ambivalentere Figurationen, während scheinbar ‚neue‘ Ungleichheitsformen lange Entwicklungspfade kapitalistischer Vergesellschaftung fortsetzen.25 Wichtiger als der bloße Nachweis der fortbestehenden Klassenbedingtheit der Lebensstile ist an jüngeren, an Bourdieu orientierten Untersuchungen (vgl. v.a. Vester et al. 2001), dass sie für jüngste Lebensstil- und Milieudifferenzierungen zeigen, dass sie in Kontinuität solcher Entwicklungspfade „nicht vollständig neue Mentalitäten, sondern vor allem neue Differenzierungen der großen Traditionslinien“ (ebd., 428) hervorbrachten. Gegen vulgärmaterialistische Stereotype der Arbeiterklasse, wie sie im oben angeführten Zitat von Ulrich Beck (vgl. 1986, 131) reproduziert werden, hatte bereits Marx die vielfältigen funktionell bedingten Binnendifferenzierungen der durch Lohnarbeit gekennzeichneten Klassen betont (s.o. 3.3). Für die Konstitution einer sozial und politisch agierenden Klasse gab dabei in der als Träger der Arbeiterbewegung fungierenden Traditionslinie der Facharbeiter weniger die materielle Not den Ausschlag, sondern die Entwertung ihrer Fertigkeiten, der Verlust des „beruflichen Status“, der „Unabhängigkeit“ und die Zerstörung politischer und sozialer Partizipations- und Bindungsformen, kurz: die Krise der „Lebensweisen“ und der „Lebensqualität“ insgesamt (Thompson 1987, 475ff.), der im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten die Suche nach neuen Formen der Selbstbestimmung, Bindung und Partizipation entgegengestellt wurde (vgl. ebd., 19-28 & 807938). Kennzeichen dieser Traditionslinie war so von Anfang an die Orientierung an der spannungsreichen Wertverbindung von „Autonomie, Mutualismus und Arbeitsethos“ (Vester et al. 2001, 512), die von der Herkunft aus den freien Volksklassen der selbständigen, gleichwohl genossenschaftlich eingebetteten Handwerker und frei-

24 Das Paradebeispiel „neuer Ungleichheit“, die Lebensstildifferenzierung (vgl. Hradil 1987, 51-55; Stehr 1994, 197f.), hatte z.B. Simmel (1989a, 591-716) schon 1900 (auf analytisch höherem Niveau) aus dem „Flüssigwerden der Klassenschranken“ (ebd., 640) erklärt, was dort aber keine Auflösung der Klassenstruktur meinte. 25 Bourdieu unterstellt ja wie schon Marx keinen homogenen Klassenhabitus (so Hradil 1989, 125f.), sondern zeigt gerade die vielfältigen und dynamischen Varianten z.B. der kleinbürgerlichen Mittelklassen (vgl. Bourdieu 1999, 500-584).

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en Bauern geprägt blieb.26 Dem steht die ebenso alte Traditionslinie eines ständischkleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus gegenüber, dessen restriktive, pflichtorientierte Moral und hierarchische Orientierung an Berufe in relativ sicheren, aber subalternen Positionen in festen Hierarchien angepasst ist. Schließlich geht eine „Traditionslinie der Unterprivilegierten“ (ebd., 522ff.) auf vorindustrielle unterständische Milieus zurück, die in kapitalistischen Gesellschaften ihre Funktion in den Fraktionen der marxschen ‚Reservearmee‘ fanden. Kennzeichnend sind hier auf „geringe Qualifikation und die prekäre soziale Lage abgestimmt[e]“ Lebensführungsmuster (ebd., 523), eine Distanz zu Bildung und politischer Partizipation bei gleichzeitiger augenblicks- und erlebniszentrierter Orientierung an der Konsum-Teilhabe.27 Mit je verschiedener Gewichtung und Auslegung der Grundorientierungen finden diese Traditionslinien in jüngeren Binnendifferenzierungen der Arbeitnehmermilieus ihren Niederschlag. Zugleich wird aus den Wechselwirkungen soziokultureller Traditionen mit den Entwicklungstendenzen kapitalistischer Vergesellschaftung der soziokulturelle Wandel besser verständlich als in Strukturbruchthesen, die den „alten Mythos der eindimensionalen Kollektivität“ nur gegen den „neue[n] Mythos der eindimensionalen Individualisierung“ vertauschen (ebd., 513). Die konkrete Konfiguration der Grundorientierungen an individueller Autonomie, genossenschaftlicher Hilfeleistung und fachlich kompetenter Arbeit in der facharbeiterlichen Traditionslinie hängt von der konkreten Lage des Lohnproletariats ab. Angesichts der massenhaften Deklassierung, der Entwertung handwerklicher Fähigkeiten, des Autonomieverlusts und kollektiver Notlagen war in der ersten Phase der ‚industriellen Revolution‘ das solidarische Moment dominant, ohne Autonomiebestrebungen und Arbeitsethos zu verdrängen, die in der Arbeiterbewegung stets eine Basis der Solidarität bildeten (vgl. Thompson 1987; Vester 1970b). Spuren dieser Tradition zeigt heute noch das schrumpfende und überalterte traditionelle Arbeitnehmermilieu (ca. 5%), in dem Bescheidenheitsethik und Arbeitsmoral mit einem auf überschaubare Kreise (Familie, Kollegen) bezogenen Gemeinschaftsethos verbunden sind, das über individuelle Aufstiegsorientierungen gestellt wird (Vester et al. 2001, 513f.). Als seit Ende des 19. Jahrhunderts der Anteil qualifizierter Arbeit langfristig wieder stieg und moderne gesellschaftliche Absicherungs- und Aushandlungsmechanismen entstanden (s.o. IV.5ff.), konnte das Arbeits- und Bildungsethos an Gewicht gewinnen, ohne Mutualismus und Unabhängigkeitsbestrebungen zu suspendieren, die etwa in selbstorganisierten proletarischen Bildungsvereinen untrennbar mit dem Arbeitsethos amalgamiert waren. In der fordistisch-keynesianischen Regulationsform ließen verbesserte Konsummöglichkeiten, institutionalisierte Interessenvertretungen und erhöhte Bildungschancen die unmittelbare Solidarität zurücktreten. Zugleich erlaubten dieselben Faktoren, dass die Bestrebungen nach individueller Selbstbestimmung an Dominanz gewinnen konnten. Ein breites leistungsorientiertes Arbeitnehmermilieu (v.a. qualifizierte Facharbeiter, Ingenieure und Angestellte), das sich aus Gewinnern des keynesianischen Arrangements und der Bildungsexpansion speist, verbindet in

26 Diese in Marx’ (v.a. MEW 23, 741-791) Darstellung der Herkunft der Lohnproletariats unterbelichteten genealogischen Linien sind v.a. bei Thompson (vgl. v.a. 1987, 111-199 & 255-292) differenziert herausgearbeitet. 27 Vgl. beispielhaft für das 19. Jahrhundert: Thompson 1987, 343ff.

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dieser Tradition Autonomie-, Arbeits- und Bildungsorientierungen zu einer meritokratischen Aufstiegsorientierung (vgl. ebd., 514ff.), die allerdings im Zuge der neoliberalen Transformationen durch „Zweifel an der Leistungsgerechtigkeit“ (Vester 2006, 274ff.) gebrochen wird. In der Verbindung von Autonomie- und Leistungsorientierung ist eine ‚Individualisierung‘ erkennbar, die in anderer Form auch die auf derselben ökonomischen Basis ermöglichten konsumistischen und hedonistischen Orientierungen vieler neuer Milieus prägt. Entgegen reiner Individualisierungsthesen verschwinden aber solidarische Orientierungen nicht. Sie bleiben als Moment alltäglicher Nahpraxis und in den normativen Gesinnungen aller Arbeitnehmermilieus nachweisbar, könnten also unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen auch wieder auf der Ebene politischer Organisation valent werden (vgl. Vester et al. 2001, 427-522). Bezeichnenderweise führen gerade jene ‚neuen Milieus‘, die am ehesten dem Bild einer enttraditionalisierten „Erlebnisgesellschaft“ (Schulz 1993) entsprechen, auch Traditionspfade der ‚alten‘ Klassensolidarität weiter. So finden im ‚neuen‘ hedonistischen Milieu, das mit der durch höhere Qualifikation und irreguläre Beschäftigungsformen verlängerten Jugendphase wächst, die ‚alten‘ Grundwerte der Arbeitnehmergesellschaft, die um die Prinzipien von Solidarität und Leistungsgerechtigkeit zentriert sind, eine Zustimmung von über 80%. Das ist insofern verständlich, als diese Gruppen oft „nicht die Mittel [haben], die Ansprüche auf ein gutes Leben, Luxus und Komfort ohne starke Abstriche zu verwirklichen.“ (Vester et al. 2001, 522) Aber auch im zeitgleich entstandenen und materiell deutlich besser gestellten modernen Arbeitnehmermilieu, das mit den neuen qualifizierten Berufen rasch wächst,28 zeigt die Synthese von Leistungsorientierung und Konsumhedonismus mit der Aufgeschlossenheit für unkonventionelle Lebensformen individualistisch-erlebnisorientierte Tendenzen, die ihrerseits ältere proletarische Traditionen, etwa des kosmopolitischen Milieus des wandernden Handwerks, fortführen. Zugleich verbindet sich gerade hier eine Fortführung solidarischer Werte mit „fachkompetenter Kritik an sozialer Ungleichheit“ (Vester et al. 2001, 517) und überdurchschnittlicher Teilnahme an politischer Bildung, die aber in Distanz zu etablierten Gewerkschaften und Parteien eher in selbstorganisierte Basisarbeit mündet (vgl. ebd., 351ff.; Vester 2006, 275f.). Sind facharbeiterliche Orientierungen mit den Anforderungen kapitalistischer Modernisierung oft kompatibel, bleibt das Verhältnis der ständisch-kleinbürgerlichen Traditionslinie zu diesen Entwicklungen durch die bereits von Marx konstatierte Verbindung konservativ-hierarchischer bis autoritärer Orientierungen an statushöheren Gruppen29 mit kollektiven Abstiegsrisiken und entsprechenden Ängsten geprägt. Für das sich aus traditionellen Handwerks- und Dienstleistungsberufen sowie kleinen Angestellten und Beamten speisende kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu wird das „solide, aber begrenzt[e] und wenig modern[e]“ Bildungskapital (Vester et al. 2001,

28 Das rasche Wachstum von 7% (Vester et al. 2001, 516ff.) auf 11% (Vester 2006, 276ff.) erklärt sich aus der besonderen Kompatibilität dieser Habitusformen mit den Hauptlinien der jüngsten Umwälzungen der Arbeitswelt. 29 Hierin liegt eine Differenz zum im Sozialraum benachbarten traditionellen Arbeitnehmermilieu, das statushöheren Gruppen mit Distanz und Misstrauen begegnet (vgl. Vester et al. 2001, 518f. & 513f.). Demgegenüber bleibt der „Kleinbürger ein Proletarier, der sich klein macht, um Bürger zu werden“ (Bourdieu 1999, 530).

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519; vgl. Bourdieu 1999, 503-531) in einem forcierten Bildungswettbewerb zum Handicap. Zugleich kollidiert die statt auf Selbstverwirklichung auf Pflichterfüllung, Statussicherheit und Einordnung gerichtete restriktive Arbeitsmoral mit neoliberalen Selbstführungsimperativen. Der enge gesellschaftliche Interessenhorizont und das passive Verhältnis zur Politik verhindern die selbständige Statusbehauptung und Interessenvertretung gegen daraus resultierende Abstiegsdrohungen. Angesichts dieser Inkompatibilität mit den politisch-ökonomischen Formwandlungen wundert es nicht, dass dieses Milieu rasch schrumpft (vgl. Vester et al. 2001, 520f.). Gegen die oft wiederholte irrtümliche Erwartung des jungen Marx (vgl. MEW 4, 469) wird das Kleinbürgertum aber von der kapitalistischen Entwicklungsdynamik nicht zerrieben. Zwar macht ihr unselbständiger Habitus kleinbürgerliche Arbeitnehmer heute wie zu Marx’ Zeiten „nicht gerade zu den begehrtesten Arbeitskräften dynamischer Branchen“ (Vester et al. 2001, 520). Da aber in Verwaltung, Handwerk und kaufmännischen Sektoren ein Bedarf an solide Fachkenntnisse, aber wenig Autonomie und Kreativität erfordernden, ausführenden Tätigkeiten fortbesteht, verschwinden entsprechende Habitusformen nicht einfach. Sie verlagern sich jedoch tendenziell in ein modernes kleinbürgerliches Milieu (vgl. ebd., 520f.), das in vielen Aspekten dem „exekutiven Kleinbürgertum“ bei Bourdieu (vgl. 1999, 549ff.) entspricht. Obwohl diese Gruppen ihren „kleinbürgerlichen Lebensrahmen durch Elemente der individuellen Selbstverwirklichung […] und des Hedonismus kontrolliert modernisiert“ (Vester 2006, 274) haben, tradieren sie autoritäre Orientierungen und Ressentiments gegen Randgruppen, die in Krisensituationen auch zu rechtspopulistischen Ausschlägen führen können (vgl. ebd.). Nicht nur für die im Fokus der ‚Neuen sozialen Ungleichheitsforschung‘ stehenden Milieus in mittleren sozialen Lagen, sondern auch für die Ausformungen der an den Extrempolen des Kapitalvolumens verorteten hegemonialen und unterprivilegierten Milieus lassen sich kontinuierliche Entwicklungspfade verzeichnen, die trotz der statistischen Realität einer breiten ‚Mittelschicht‘ auch in der ‚klassenlosen‘ Nachkriegs-BRD nie unterbrochen waren, was aber noch wenig über die konkreten historischen Ausformungen entsprechender Klassenmilieus sagt. Die Traditionslinie der Unterprivilegierten erhielt durch das integrative Modell der ‚Arbeitnehmergesellschaft‘ nach 1945 eine neue soziokulturelle Ausformung. Niedrig qualifizierte, aber Einkommens- und Statussicherheit garantierende Erwerbspositionen in Industrie und öffentlichem Dienst – die im fordistisch-keynesianischen Akkumulationsmodus in historisch neuer Weise anerkannt waren (s.o. IV.6) – garantierten diesen Gruppen erstmals Minimalstandards gesellschaftlicher Teilhabe. Dies begünstigte „Strategien der Anlehnung“, die in der Orientierung an Lebenstandard, Wertorientierungen und Mentalitäten statushöherer Gruppen integrierende, stabilisierende und disziplinierende Effekte hatten (vgl. Vester et al. 2001, 523ff., 68ff.). Das brachte aber gerade keine vom Sozialstaat gezüchtete „Kultur der Abhängigkeit“ (Bude 2008, 16) hervor, wie noch die Reaktionen auf die Destabilisierung der Lebensverhältnisse im postfordistisch-neoliberalen Akkumulationsmodell zeigen. Diese bestehen nicht in der diesen Gruppen oft unterstellten sozialparasitären ‚Exklusionskultur‘ (vgl. ebd.), sondern in Bewältigungsstrategien, der „flexiblen Gelegenheitsorientierung“ (Vester 2006, 271), die Traditionen der Tagelöhner reaktivie-

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ren und erst bei häufigem Scheitern bei einigen Betroffenen „in Abwärtsspiralen der Resignation und Anomie“ (Vester et al. 2001, 94) enden.30 Die am anderen vertikalen Ende des Sozialraums positionierten hegemonialen Milieus umfassen (wie die herrschende Klasse bei Bourdieu) nicht nur die „Entscheidungsspitzen“ hochkonzentrierter Kapitalverfügungsmacht (die „winzig und teilweise unsichtbar bleiben“), sondern die den Herrschaftszusammenhang tragenden breiten Milieus, „die ihrem Habitus nach beanspruchen, wirtschaftlich, sozial, kulturell oder politisch tonangebend zu sein“ (ebd., 504f.). Trotz aller Transformationen der Sozialmodelle und temporäreren Öffnungen des Sozialraums behauptet sich hier eine relativ geschlossene Reproduktion durch ökonomische und soziale Vererbung. Lediglich die neue Fraktion des gehobenen Dienstleistungsmilieus rekrutiert sich zu signifikanten Teilen aus ‚Aufsteigern‘. Die Binnendifferenzierung der hegemonialen Milieus und die Frontlinien der Herrschaftskonkurrenz (vgl. ebd., 504-509; Vester 2006, 278ff.) folgen weiter der von Bourdieu herausgearbeiteten Ausrichtung nach dem ökonomischen und dem kulturellen Pol der Kapitalstruktur. Innerhalb dieser Kontinuitäten schlagen sich aber deutlich die Wandlungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung nieder. So wurden in der sozialräumlich rechts oben verorteten Traditionslinie der ökonomischen Besitz und Macht konzentrierenden Milieus ältere obrigkeitsstaatliche Eliten und das autoritäre Unternehmertum durch stärker technokratische Führungsstile und Orientierungen verdrängt. War dabei nach 1945 zunächst eine Verbindung patriarchal-hierarchischer Traditionen sozialer Verantwortung mit korporativen und integrativen Herrschaftstechniken dominant, werden deren Prinzipen seit den 1990er Jahren durch eine ‚neoliberale‘ Manager-Generation infrage gestellt, der die „Arrangements mit den Gewerkschaften und älteren Elitefraktionen […] als Ballast“ gelten. Ihr „teilweise parvenühafter ‚Rambo-Stil‘“ hatte wichtige Funktionen, „um unpopuläre Konflikte, Prekarisierungen, Entlassungen“ durchzusetzen (Vester 2006, 279). Lebensstil und Weltanschauung dieses Milieus ähneln der französischen „neuen Bourgeoisie“ (vgl. Bourdieu 1999, 462-496). Bei dieser Elite war seit den 1970er Jahren die „Abschwächung aller äußeren Merkmale sozialer Distanz“ in einem „‚entkrampften‘, ‚lockeren‘ Lebensstil“ (der gegen die asketische Innerlichkeit älterer Eliten hedonistisch-expressiv auftritt) weniger einer kulturellen Transformation geschuldet als der „Anpassung an den neuen Modus der Profitaneignung“ (ebd., 489f.). In ihrer scheinbar freieren Kultur „manifestiert sich ganz unmittelbar die Struktur des Kapitals, von dem ihre Macht und ihre Lebensumstände abhängen“ (ebd., 494). Der hohe Anteil eines international konvertiblen Bildungskapitals und die gehaltsförmige Profitaneignung bedingt hier die Entkopplung von kulturell gefärbten lokalen und nationalen Bindungen, auf die die klassischen ökonomischen Besitzklassen noch ange-

30 Anstelle des Missbrauchs sozialer Netze als „Hängematte“ überwiegen Strategien, um im „Hamsterrad“ des „Niedriglohnsektors“ bei oft „extremer zeitlicher und körperlicher Belastung“ zu verbleiben und der Stigmatisierung zu entgehen (Vester et al. 2001, 93f.). Im traditionslosen Arbeitnehmermilieu entspricht nur die Fraktion der „Resignierten“ partiell dem Bild des sich in Perspektivlosigkeit fügenden „underdog“. „Von einer unvermeidlichen Tendenz zur Anomie kann also auch in diesen Milieus keine Rede sein.“ (Ebd., 525) Vgl. dazu v.a. auch die Befunde bei: Dörre et al. 2008; Holst/Nachtwey/Dörre 2009; Dörre/Holst/Thieme 2008.

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wiesen waren. Dieser Veränderungen wurden meist eher kulturalistisch gedeutet und werden selbst bei Vester als bloßer „Generationenwechsel“ interpretiert (vgl. Vester et al. 2001, 506). Demgegenüber betont Bourdieu die ökonomisch-strukturellen Ursachen in einer veränderten Akkumulationslogik: „Diese Führungskräfte […] sind nicht ortsgebunden wie die lokalen Kleinunternehmer, deren Gewicht […] von einem Universum realer Interaktionen […] völlig abhängt. […] [Sie] verdanken […] einen Großteil ihrer Privilegien […] ihren internationalen Hochschuldiplomen. Sie sind daher überzeugt davon, eben diesen Diplomen und ihrer technischen und ‚menschlichen‘ Kompetenz (‚Eigeninitiative‘, ‚Einsatzbereitschaft‘ usw.) ausschließlich ihre Position zu verdanken. […] [D]urchdrungen von der […] auf Businesschools erworbenen ökonomisch-politischen Bildung und ihrer modernistischen Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft […] lassen sie den Champagner der Unternehmer von echt französischem Schrot und Korn (und deren Auffassung von Frankreich und der Welt […]) ebenso stehen wie den ‚Schöngeist‘ […] und greifen zum Whisky der Manager und zu ökonomischen Informationen, an denen man auf englisch Geschmack gewinnt. Sie sind die Negation und die Zukunft der alten Unternehmergarde, deren Erben sie oft sind.“ (Bourdieu 1999, 494f.)

Dass diese Fraktionen der herrschenden Klasse „innovieren, um wirksamer zu konservieren“ (ebd., 495), zeigt sich im Versuch, die Nachkommen vor der wachsenden Bildungskonkurrenz durch eine quasi-ständische, selektive und eliteorientierte Bildungspolitik zu schützen, der sie allerdings eine modernisierte „neoliberale Begründung“ (Vester 2006, 279) geben. In Differenz und Distanz zu dieser Fraktion halten die zum linken Pol des kulturellen Kapitals ausgerichteten liberal-intellektuellen Milieus am Prinzip der Chancengleichheit fest, das einen Aufstieg durch Bildung ermöglichen soll. In der primär in Wissenschaft, Medien und Verlagswesen tätigen progressiven Bildungselite entspricht das einer Modernisierung des alten Glaubens an die ideelle Aufklärungsmission des Bildungsbürgertums (dem diese Gruppen oft entstammen) und verbindet sich mit der Pflege einer ausgeprägt distinktiven kulturellen Selbstdarstellung. In der auf der vertikalen Achse des Kapitalvolumens etwas niedriger angesiedelten modernen Dienstleistungselite stehen dahinter hingegen oft eigene Aufstiegserfahrungen und eine nicht verleugnete Bindung an Herkunftsmilieus in der qualifizierten Facharbeiterschaft und Fachintelligenz, die auch die Distanz zum distinktiv-elitären Auftreten der progressiven Bildungselite erklärt. Die über 80% betragende Zustimmungsrate zum Modell der Arbeitnehmergesellschaft in beiden Teilmilieus konnte gegen die neoliberalen Transformationen aber kaum in politische Erhaltungs- oder Erneuerungsstrategien umgesetzt werden (vgl. ebd.; Vester et al. 2001, 506ff.). Letzteres ist auch ein Indiz für den tendenziellen Autonomie- und Machtverlust des kulturellen Pols der herrschenden Klasse, den Bourdieu (vgl. 1999, 495ff.) früh mit der höheren Beimischung kulturellen Kapitals bei Vertretern der ökonomisch herrschenden Fraktion in Verbindung brachte. Für die stärkere Durchmischung bzw. Vereinheitlichung ökonomischer und kultureller Hegemonie spricht neben der Synthese, die am rechten, ökonomischen Pol das ‚New Management‘ verkörpert, eine komplementäre Tendenz am durch den Überhang kulturellen Kapitals definierten Pol: Hatten sich die am linken Rand des Sozialraums lokalisierten kulturellen Avantgardemilieus lange durch einen das Ökonomische negierenden reinen Ästhetizismus

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definiert (vgl. Bourdieu 2001a) und sich nach 1968 primär in „idealistischen Lebensund Politikentwürfen“ artikuliert (Vester 2006, 280), wird diese Position inzwischen durch ein „Postmodernes Milieu“ besetzt, in dem sich ein durch ästhetische Avantgardeavancen charakterisierter Lebensstil eng mit ökonomischen ‚Start Ups‘ im Sektor neuer Medientechnologien und symbolischer Dienstleistungen verbindet. Obwohl die Laufbahnen meist experimentellen Jugendexkursionen gleichen, die rasch in die Herkunftsmilieus zurückführen und viele „Blütenträume“ in „der Krise der ‚New Economoy‘ auch wieder welk geworden sind“ (ebd.; vgl. Vester et al. 2001, 509f.), unterstützen einzelne Erfolgsgeschichten und die Aussicht, kreative Überschüsse ökonomisch nutzbar zu machen, das Bild der gelungenen Ehe von kultureller und ökonomischer Avantgarde, die die weltfremde reine Intellektuellenkultur überflüssig zu machen scheint, was zum weiteren Einflussverlust und zur Delegitimation der reinen Kulturproduzenten beiträgt. Bourdieu konstatierte diesbezüglich bereits in den 1970er Jahren, dass der traditionelle Gegensatz „der ‚uneigennützigen Bildung‘ des Intellektuellen und der ‚Unbildung‘ des in […] praktischen Interessen befangenen ‚Bourgeois‘“ durch den neuen Gegensatz der „wirklichkeitsfremden […] Intellektuellenbildung und der […] polytechnischen Bildung der ‚modernen Führungskräfte‘“ ersetzt werde. Der „Anschein“, dass Intellektuelle noch über die legitime Kultur bestimmen würden, sei vielleicht nur mehr „der Trägheit der kulturellen Produktionsund Verbreitungsinstitutionen […] und der Hysterese bestimmter Habitusgestalten zuzuschreiben“ (Bourdieu 1999, 496). Wichtig an solchen Befunden zur „longue durée der Klassenkulturen“ (ebd., 204ff.) ist weniger, dass sie überzogene Thesen einer „Loslösung[] der Lebensweisen von äußeren Lagen überhaupt[!]“ (Hradil 1987, 172) entkräften, sondern vielmehr, dass sie Binnendifferenzierungen und historische Transformationen der Sozialmilieus aus dem Zusammenspiel funktioneller Entwicklungsdynamiken und soziokultureller Klassentraditionen besser erklärbar machen. Dabei findet sich auch für Bourdieus Verortung des Großteils der sozialen Mobilität auf der horizontalen Achse des Sozialraums eine Entsprechung in den soziokulturellen Veränderungen zwischen den Generationen: Die Persistenzen betreffen „eher die vertikalen Mentalitätsunterschiede“ (Geschmack, Distinktionsverhalten, Einschätzung sozialer Ungleichheit), während die „Veränderungen eher die horizontalen Mentalitätsunterschiede betreffen“ (Vester et al. 2001, 324), etwa die mit der Bildung steigenden Autonomieansprüche in Arbeit, Konsum und Freizeit (vgl. ebd., 317-327). Zugleich hilft die Objektivierung differenzierter kultureller Klassentraditionen einen Kurzschluss zu revidieren, den viele Neomarxismen mit den ‚neuen Ungleichheitsforschern‘ teilten: Unterstellte die marxistische Orthodoxie meist die Existenz einer homogenen Arbeiterklasse, von der „nahezu mathematisch definiert“ werden könne, welches „Klassenbewusstsein […] ‚sie‘ haben müsste (aber selten hat), wenn ‚sie‘ sich ihrer eigenen Lage und wirklichen Interessen hinreichend bewußt wäre“ (Thompson 1987, 8), verkehrte sich diese Projektion ins Gegenteil, als ‚das Proletariat‘ die Rolle des revolutionären Kollektiv- und Welterlösungssubjekts nicht ausfüllte. Die Konsequenz war die „einfache Negation“ (ebd.) der einstigen Projektion, indem nun die Existenz ‚der Arbeiterklasse‘ in toto bestritten wurde oder das Proletariat nur mehr als ad libitum konditionierbares, integratives Moment eines Systemzusammen-

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hangs galt.31 Dabei hatte die objektivistische Wendung, zu der der „lange Abschied von der Arbeiterbewegung“ (Hirsch/Roth 1986, 170ff.; Gorz 1980) viele Neomarxismen führte, empirisch plausible Gründe32 und konnte die analytische Erklärungskraft von Marx’ funktionellem Klassenmodell, in dem sich die hinter dem Rücken der Klasseagenten wirkenden Tendenzen ‚rein‘ (d.h. ohne bewußte Aktionen) entfalten, nur steigern. Jedoch war der mit – vom „gewöhnlichen Klassenrassismus“ (Bourdieu 2010b, 278; vgl. 1999) kaum unterschiedenen – Ressentiments gegen ‚die Prolls‘ gepaarte Fatalismus solcher Positionen33 nur eine Umkehr einstiger Idealisierungen: Wo ‚die Arbeiterklasse‘ nicht als geeinter ‚Kollektivheros‘ das ‚allgemeine Menschheitsinteresse‘ verwirklichte, kam sie nur mehr als durch Konsum korrumpierte, dekadente Masse in Betracht. Gegen solche spiegelbildlichen Stereotype erinnern die differenzierten Entwicklungspfade der Klassenmilieus daran, dass Klassen an keinem Punkt der Geschichte homogene Kollektive sind, die mit eindeutigen Interessen entweder revolutionär oder systemstabilisierend agieren. Als vielfältig binnendifferenzierbare Gruppen sind sie durch komplexe Affinitäten der Stellung in den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Lebenslagen und -erfahrungen, der Traditionen und Dispositionen gekennzeichnet. Da klassenspezifische Dispositionen und Wertorientierungen dabei heterogen und ambivalent sind, sind über politische Präferenzen, Organisationsformen, Aktionen, Konflikte und Koalitionen stets nur probabilistische Aussagen möglich. Die Form, in der sich die soziokulturelle Prägung eines Klassenmilieus in konkreten situativen Konstellationen und in Abhängigkeit von individuellen und kollektiven Laufbahnen und Erwartungen in einer aktiven oder passiven Politisierung niederschlägt, weist eine spezifische Logik und Regelhaftigkeit auf, folgt aber keinem eindeutigen Gesetz (vgl. Thompson 1987, 8ff.). Daher lässt sich auch die Frage nach Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten neuer sozialer Bewegungen und Kämpfe nicht durch eindeutige Zurechnungen auf invariante Großgruppen klären, sondern nur indem konkret bestimmt wird, welche Probleme und Krisendynamiken in aktuellen Konstellationen kapitalistischer Vergesellschaftung erkennbar sind.

31 Vgl. tendenziell Horkheimer/Adorno 1988, 128-176; Gorz 1965; 1980; Marcuse 1967. 32 Die orthodoxe Setzung einer der in der kapitalistischen Systemlogik fungierenden Klassen als automatisches Subjekt revolutionärer Umwälzung war ja spätestens durch die integrativen Konsum- und Teilhabechancen im fordistisch-keynesianischen Akkumulationsmodell ad absurdum geführt (s.o. IV.6f.). 33 Überaus offen ist das Ressentiment etwa bei Kittsteiner (2008), der davon ausgeht, die Proletarier (hier „phänomenologisch neutral als Prolls“ bezeichnet) hätten „mit dem Kapital gemeinsam gesiegt. […] Das Kapital herrscht ökonomisch; das vormalige Proletariat herrscht kulturell.“ (Ebd., 162) Vgl. zur ‚Proll-Kultur‘ ausführlich: ebd., 162-183.

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4.3 R ÜCKKEHR ODER N EUFIGURATION DER K LASSEN ? AKTUELLE D IAGNOSEN UND K ONSTELLATIONEN Da soziologische Erwartungen der Auflösung von Klassendifferenzen sich nicht erfüllten, wurde die „Rückkehr der Klassengesellschaft“ (Brock 1994, 43ff.) schon diagnostiziert als ihre Totenmessen noch nicht ausgesungen waren. Zugleich wichen Verheißungen der wissensgesellschaftlichen „Selbsttransformation der Ökonomie“, die ihren „gesellschaftlichen Einfluss […] insgesamt“ verringere (Stehr 1994, 293), den allgemeinen Wehklagen über eine „Re-Ökonomisierung“ (Hradil 2001, 280) der Ungleichheit. Über Verweise auf die vielerorts bemerkte soziale Spaltung34 hinaus gelangte die Soziologie in der Wiederaneignung geeigneter Begriffe aber bestenfalls zur paradoxen Diagnose eines „Klassenverhältnis[ses] ohne Klassen“ (Kreckel 2004, 141ff.), da das abstrakte Kräfteverhältnis zwischen Arbeitskraft und Kapital (mit klarem Dominanzgewinn der Kapitalseite) wieder prägender werde, zurechenbare Kollektive aber kaum auszumachen seien. Zutreffend war daran nur, dass der „internationale Charakters des kapitalistischen Regimes“ (MEW 23, 790) die Zurechnung immer komplexerer gesellschaftliche Zusammenhänge auf konkrete Personen und Interessen erschwert. In den Transaktionen verschiedener gegeneinander verselbständigter Kapitalfunktionen scheint jedes unmittelbare Ausbeutungs- und Dominanzverhältnis zwischen den Personen in den sachlichen Formen, die diese Verhältnisse vermitteln, ausgelöscht. Die langen Ketten finanzieller Transaktionen, die New Yorker Derivatenhändler, europäische Pensionsfondsinhaber, amerikanische Immobilienkreditnehmer und asiatische Textilarbeiterinnen verbinden, verschleiern das objektive Ausbeutungs- und Dominanzverhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital (das bereits im Tausch der Ware Arbeitskraft durch die freie und einvernehmliche Form des Vertrags verborgen ist) durch unzählige weitere Vermittlungsschritte, die erfordert sind, bevor der abgeschöpfte Mehrwert in Gewinnbilanzen auf anderen Erdteilen erscheint. Zugleich sind klare Zuordnungen von Kapital und Lohnarbeit unmöglich, da europäische Arbeiter als Pensionsfondsinhaber Anteil und Interesse am aus asiatischen Textilarbeiterinnen gesaugten Mehrwert oder an den Tilgungszahlungen von Immobilienkreditnehmern haben, also auch auf der Kapitalseite agieren, während Fond-Manager Arbeitslohn für eine Teilfunktion im Zirkulationsprozess beziehen, wobei Arbeitsäquivalent und Mehrwertaneignung untrennbar verschmelzen. Allerdings ist die Verwandlung der „Geldersparnisse […] aller Klassen“ in „zinstragendes Kapital“ (MEW 25, 416) und der Kapitalfunktionen in Lohnarbeit der „Dirigenten (manager)“ (ebd., 400) ebenso seit den Anfängen der kapitalistischen Klassenverhältnisse bekannt wie entsprechend ambivalente Interessenlagen der Funktionsagenten. Beschrieben hat die vermeintlich ‚neuen‘ Phänomene, die heute laut Stehr (vgl. 1994, 381f.) oder Luhmann (1988b) jedes Klassenverhältnis sprengen sollen, bereits Hodgskin (1825), der konstatierte, dass die „Meister“ für ihre Koordinationsfunktionen „um soviel zu hoch bezahlt“ werden „als

34 Selbst Joseph Ackermann äußerte sich besorgt, „dass wir in vielen Ländern soziale Spaltungen bekommen“, weshalb es umso wichtiger sei klarzumachen, dass wir „alle in einem Boot“ sitzen (in: Bild v. 6.4.2009).

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die gewöhnliche Handarbeit“ zu niedrig. Ihr Lohn sei „mit dem Profit des Kapitalisten verschmolzen“. Entsprechend ambivalent seien ihre Interessen: „Meister sind offenbar ebenso Arbeiter wie ihre Tagelöhner. In dieser Rolle (character) ist ihr Interesse genau das gleiche wie das ihrer Leute. Aber sie sind auch […] Agenten von Kapitalisten, und in dieser Hinsicht ist ihr Interesse dem ihrer Arbeiter entschieden entgegengesetzt.“ (Hodgskin [1825], Auszug in: Vester 1970a, Bd. I, 79-87, hier: 84f.)

Da zudem die wachsende Komplexität des Akkumulationsprozesses die funktionelle wie die sozialstrukturelle Differenzierung steigert und zugleich innerhalb der Systemlogik die Interessen vieler Volksklassen (als Sparer und Kleinanleger) an die Interessen des Finanzkapitals bindet (vgl. u.a. MEW 7, 77f.; MEW 8, 182f.), wäre es absurd zu erwarten, die Akteure würden sich entlang eines abstrakten analytischen Basis-Antagonismus organisieren, der in ihren Wahrnehmungskategorien und alltäglichen Wirtschaftspraktiken keinen eindeutigen Ausdruck hat. Für Marx bildeten die Teilfunktionen des Akkumulationsprozesses aus diesem Grund zugleich aufeinander aufbauende Stufen eines Mystifikationsprozesses, der den gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Produkt des aggregierten Handelns der Individuen sind, immer mehr den fetischisierten Charakter undurchschauter und unabänderlicher Naturprozesse verleiht (vgl. MEW 25, 835ff.). Diese Mystifikation der ursächlichen Zusammenhänge gesellschaftlicher Prozesse in den Wahrnehmungen der beteiligten Agenten wiederholt und steigert sich in anderen relativ autonomen gesellschaftlichen Funktions- und Kräftefeldern, die ihre je eigenen Fetischismen aufweisen (vgl. Bourdieu 2010b, 25ff.; s.o. 3). Die historischen Verschiebungen der Regierungs- und Subjektivierungsmodi in veränderten Konfigurationen kapitalistischer Vergesellschaftung sind zusätzlich geeignet, die hintergründig wirksamen Klassenverhältnisse der Wahrnehmbarkeit zu entziehen (s.o. IV). Die Klassenanalysen von Marx und Bourdieu beanspruchten, die den Akteuren verborgenen Ausbeutungs- und Dominanzverhältnisse und die Mechanismen ihrer Reproduktion und Legitimation begrifflich und empirisch fassbar zu machen, um diese Fetischismen zu durchbrechen. Demgegenüber weckten jüngste Debatten um die ‚Rückkehr‘ der Klassengesellschaft selbst den Eindruck eines gesteigerten Fetischismus. Hier konnte es scheinen, als habe die Soziologie ihre Funktion tatsächlich in der besonderen „Naturalisierungsfähigkeit“ gefunden, mit der sie sozialen Phänomenen den Charakter „naturhafter Kohärenz und Unmittelbarkeit“ verleiht (Boltanski/Chiapello 2003, 202). Während ‚die Öffnung der sozialen Schere‘, ‚die Erosion der Mittelschicht‘, die wachsende Abhängigkeit der Politik von ökonomischen ‚Sachzwängen‘ etc. deskriptiv ausführlich dokumentiert wurden, schien der wissenschaftliche Anspruch der Disziplin, ‚Soziales aus Sozialem zu erklären‘ (vgl. Durkheim 1976, 176-204), vergessen. Stattdessen diente das hypostasierende Schlagwort „Globalisierung“ als „catchall-phrase“ (Heeg, 2004), die Fragen nach gesellschaftlichen Zusammenhängen eher suspendierte als beantwortete.35 Hatte „der Fahrstuhl-Effekt“ den westlichen Indust-

35 „Die Globalisierung strukturiert unsere Lebensweisen in einem außerordentlichen Umfang neu. […] Auch hinter [der] Ausdehnung der Demokratie steckt die Globalisierung. Gleichzeitig macht sie jedoch auch die Grenzen […] der parlamentarischen Demokratie“ sichtbar (Giddens 2001, 14f.). Während das grammatische Subjekt ‚Globalisierung‘ die Verände-

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rienationen einst ein „kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, […] Massenkonsum“ (Beck 1986, 122 [Hervh. i.O.]) beschert und die Sozialstruktur vermeintlich ins „Jenseits von Klasse und Schicht“ (ebd., 121ff.) katapultiert, führte „die Globalisierung“ nun scheinbar ebenso unvermeidbar abwärts in die „Gesellschaft des Weniger“ (Beck 2005), wobei selbst Beck sich hätte fragen können, ob angesichts gleichzeitig expandierender Gewinnchancen in der ‚neuen weltpolitischen Ökonomie‘ (vgl. Beck 2002) statt einer globalen Degression nicht eher eine andere Verteilung des Mehrprodukts vorlag. Statt solche Fragen zu stellen, genügten gerade in neuen Publikationen zur sozialen Ungleichheit entsprechende Schlagworte als Erklärungssubstitut: „Die Globalisierung bringt insgesamt eine ‚Gesellschaft des Weniger‘ (Ulrich Beck) hervor, die eine Spaltung der eingelebten Sozialstruktur mit sich bringt“ (Bude/Willisch 2006, 10). Pendelausschläge in das der Naturalisierung komplementäre Extrem moralisierender Personalisierung, die gesellschaftliche Entwicklungen einzelnen Akteuren anlastete (vgl. u.a. Beck 2008 & 2010), waren das Korrelat dieser offenkundigen Erklärungsdefizite. Die Soziologie droht in solchen Debatten in eine Pendelbewegung „zwischen zwei logisch inkompatiblen Aktionstheorien“ zu geraten: Einerseits scheint sie in der Personalisierung der Verantwortung „einem finalistischen Dezisionismus“ verpflichtet, demzufolge „der Agent ein in vollständiger Sachkenntnis handelndes, rein rationales Bewusstsein“ sein soll; andererseits folgen die Metaphern der Naturalisierung „einem Physikalismus, der den Agenten zur mechanischen, von der Kraft der Ursachen […] bewegten, trägheitslosen Partikel macht“ (Bourdieu 1998a, 199). Der Vorteil relationaler Konzepte ist es demgegenüber, gesellschaftliche Entwicklungen auf ein in gegebenen Produktionsverhältnissen und Kräftefeldern bedingtes, gleichwohl Freiheitsgrade implizierendes strategisches Agieren von Individuen und Klassen zurückzuführen, um konkrete historische Veränderungen aus dem Zusammenspiel langfristiger Tendenzen und kontingenter Strategien zu erklären (statt bei jeder Veränderung eine ‚neue‘ Gesellschaftsform auszurufen). So ist die Logik globalisierter Finanzmärkte, die dank des Fortschritts der Kommunikationsmittel via Mausklick ganze Volkswirtschaften ruinieren können (vgl. Altvater 2005), und deren strukturelle Dominanz gegenüber der Politik weder naturgegeben noch vom guten oder bösen Willen Einzelner abhängig. Zwar machen die Tendenzen zu wachsender Kapitalkonzentration und Kapitalmobilität die verselbständigte Eigendynamik der Finanzmärkte zum Funktionserfordernis des Akkumulationsprozesses (s.o. III.2), und die Funktionsagenten dieser Prozesslogik bewegen sich als „personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital“ (MEW 23, 168) mit einem auf ihre Position im ökonomischen Feld abgestimmten Habitus (Bourdieu 1998a, 195ff.) in den (einer moralisierenden Kritik unzugänglichen) Bahnen dieser Logik.36 Jedoch entscheiden sich Formen und Ausmaß, in denen sich die

rungen der Familie, des Sozialstaats, der Politik etc. ‚erklärt‘, scheint es überflüssig zu klären, was hinter dem so bezeichneten Prozess steht. „Die weltweite Verbreitung des Begriffs ist selbst ein Beleg für die Entwicklung, die er bezeichnet. Jeder Wirtschafts-Guru führt ihn im Mund. Keine politische Rede kommt ohne ihn aus.“ (Ebd., 18) Das genügt als Begründung, um auch die Soziologie in diesen Chor einstimmen zu lassen. 36 „Josef Ackermann oder Klaus Zwickel sind aus dem allgemeinen Wertgesetz nicht zu deduzieren. Sie kommen empirisch hinzu […,] bewegen sich dann aber mit bestechender Präzision in den ihnen vorgezeichneten Bahnen, gleichsam als ob sie deduzierbar wären.“

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in einer gesellschaftlichen Prozesslogik angelegten Tendenzen durchsetzen, erst in konkreten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und in den je variablen Formen der politischen und institutionellen Regulation des Kapitalverhältnisses. Die aktuelle Konfiguration der Produktions- und Klassenverhältnisse ebenso wie ihre Krisensymptome sind dabei Produkt der ‚neoliberalen‘ Politik seit den 1970er Jahren. Eine Reaktion auf die Akkumulationskrise der 1970er Jahre (s.o. IV.6.4) bestand in der massiven Verlagerung von Kapital vom Produktions- in den Spekulationssektor, dessen bis dahin enge Grenzen durch eine auf Linderung der wirtschaftlichen Stagnation zielenden Politik gelockert wurden. Die 1973 vollzogene Aufkündigung der globalen Monetär-Ordnung von Bretton Woods, die seit 1944 die internationalen Wechselkurse rigide an die Leit-, Reserve- und Interventionswährung des US-Dollar gebunden und so die Möglichkeiten staatlicher Fiskalpolitik ebenso wie die globaler Finanzspekulationen beschränkt hatte, versprach den Staaten größere Spielräume in der Währungs- und Haushaltspolitik und erhöhte zugleich die Volatilität der Kursbewegungen und Zinssätze. Dies eröffnete ganz neue Spekulationsfelder, wovon v.a. hochspekulative Investmentfirmen profitierten, die unter dem irreführenden Namen „Hedge-Fonds“37 mit Summen, die das Einlagekapital bis zum hundertfachen übersteigen, auf makroökonomische Schwankungen (z.B. Wechselkurse) wetten und sie durch Auslösung von Währungskrisen beeinflussen (vgl. Krugmann 2009, 145-156). Gegen verkürzte Kritiken verursachen die Fonds die Krisen damit nicht, sie beeinträchtigen aber durch ihre Beschleunigung die Zeitfenster und Spielräume einer kompensatorischen Wirtschaftspolitik. Befördert wurde dies durch einer Liberalisierung des Finanzsektors, die primär auf der Nicht-Regulierung neuer Formen des Investmentbankings beruhte. Neben den nationalen Depositenbanken wuchs so ein gesetzlichen Regelungen und der Bankenaufsicht entzogenes „Schattenbanksystem“ (ebd., 185ff.).38 Die Konsequenz war nicht nur die (wenig überraschende) Weltfinanzkrise ab 2008,39 sondern vor allem eine sich pfadabhängig verstärkende Verlage-

(Kittsteiner 2008, 225) Um ihre systemische Funktion zu erfüllen, müssen Finanzagenten von realwirtschaftlichen und sozialen Rücksichten frei agieren. Ihr Verhalten ist dabei nicht unmoralisch, sondern konstitutiv amoralisch (vgl. Boltanski/Chiapello 2003, 58f.). 37 Hedgings sind Kurssicherungsgeschäfte, d.h. die Risikoabdeckung durch kompensatorische Gegeninvestitionen; Hedge-Fonds treiben „das genaue Gegenteil“ (Krugmann 2009, 143; vgl. ebd., 142-161, 188f., 206f.). 38 In modernisierter Form restituierte das den Zustand, der vor den auf die Krisen von 1907 und 1930 reagierenden Regulationen bestand. Das Federal Reserve Systems (1913) und der Glass-Steagell Act (1933) unterwarfen in den USA die nationalen Depositbanken strengen Auflagen (hohes Einlagekapital, hohe liquide Reserven, Einlagesicherungsfonds, Verbot von Hochrisikogeschäften, Kontrolle durch nationale Aufsichtsbehörden) und sicherte sie im Gegenzug staatlich ab. Von beidem ausgenommen blieben die Investmentbanken. Neue Finanzmodelle, wie das 1984 modellhafte, heute berüchtigte Auction-Rate Security System von Lehman Brothers, unterliefen diese Unterscheidung und übernahmen außerhalb jeder Regulierung einst für Einlagebanken reservierte Funktionen. (Vgl. Krugmann 2009, 180189) Diese Politik der „Vernachlässigung“ (ebd., 190ff.) verringerte auch den Einfluss des von der Zentralbank regulierten Leitzinses auf den Realzins und blockierte so einen klassischen Regulationsmechanismus, den selbst vehemente Neoliberale nie aufheben wollten (vgl. ebd., 201-205). 39 Die Krise hatten Neomarxisten (Altvater 2005) wie reflektierte Liberale (Thurow 1996) früh prognostiziert. Krugmann (2009) zeigt, wie alle Symptomatiken in zahllosen kleineren Zwischenfällen seit 1990 klar zutage lagen.

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rung globaler Kräfteverhältnisse zugunsten des Finanzkapitals: Die erhöhte „Volatilität der Kapitalbewegung“ versetzte die Finanzakteure in die Lage, unter Drohung „finanzieller Restriktionen“ ihrerseits weitere „Anpassungsleistungen der realen Ökonomie, der sozialen Produktionsbedingungen und der politischen Entscheidungen“ zu verlangen, die nur durch Einschnitte in den Bereichen von „sozioökonomischer Sicherheit, sozialer Gerechtigkeit und politischer Demokratie“ möglich waren (Mahnkopf/Altvater 2004, 78). Da diese wachsende „finanzielle Repression“ des Finanzsektors auf „den realen Produktionsprozess, auf Arbeitsmärkte und Politik“ (ebd., 79) jedoch keinem Naturgesetz der ‚Globalisierung‘ entsprang, sondern Produkt politischer Entscheidungen (und Nicht-Entscheidungen) seit den 1970er Jahren war, sprach Bourdieu – gegen verbreitete Ökonomisierungsphrasen – von einer Übertragung von Macht an die Ökonomie durch eine „Politik der Entpolitisierung“ (Bourdieu 2004c, 176ff.) und von einer „Abdankung des Staates“ (Bourdieu et al. 1997, 207-215). Erst diese Politik der De-Regulierung führte auch zur sukzessiven Beschränkung politischer Gestaltungsspielräume. Für Bourdieu folgt aus dieser politisch gestalteten Verlagerung globaler Dominanzverhältnisse, dass die „Industrieunternehmen […] ihre finanzielle Autonomie […] gegenüber den großen Bankengruppen verlieren, denen es dank der Einführung neuer Formen der Kapitalkonzentration und -akkumulation gelungen ist, ganze Industriezweige zu kontrollieren, ohne deren Eigentümer zu sein.“ (Bourdieu 2004a, 397) Insofern es den Finanzfunktionären gelingt, ihre „Sichtweisen und Erwartungen durchzusetzen“ (ebd.), steigert sich auch die Fetischisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs der Produktion: Waren in direkt auf den Produktionssektor bezogenen tayloristischen und fordistischen Akkumulationskalkülen Fragen der Arbeitsorganisation und des ‚Betriebsfriedens‘ zentral, werden nun „innerhalb des Feldes der Unternehmen die Finanzabteilungen gegenüber den technischen Abteilungen gestärkt“, womit die Entscheidung vom rein „finanziellen und rechnerischen Standpunkt“ (ebd., 398) bestimmender wird. Soziale Zusammenhänge verschwinden hier hinter den Zahlen kurzfristiger Börsennotierungen, Renditeerwartungen und hinter den Erwartungs-Erwartungen hinsichtlich der Erwartungen anderer Finanzagenten. Vom Standpunkt des zinstragenden ‚fiktiven Kapitals‘, in dem „das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“ (MEW 25, 404) als rein mathematisches Verhältnis zu sich selbst gewinnt, sind alle gesellschaftlichen Voraussetzungen und Effekte dieser ‚Selbstverwertung‘, auch die im Produktionssektor noch sichtbare Beziehung des unmittelbar fungierenden Kapitals zur Arbeitskraft, hinter den Bewegungen des Geldkapitals dem Blick entrückt (vgl. ebd., 404-428 & 481-535). Während fungierende Kapitalisten und Führungskräfte im unmittelbaren Produktionsprozess sich noch darauf „verstehen müssen[,] die Arbeitskraft zu konsumieren“ (ebd., 398), um „die Arbeit des Exploitierens“ (ebd., 396) mit möglichst geringen Reibungsverlusten, möglichst großer Kontinuität und möglichst optimaler Nutzung der Qualität der Arbeitskraft zu erfüllen – was Grundlage aller früheren ‚Klassenkompromisse‘ war (s.o. IV.5f.) –, stellt sich dem auf Börsennotierung, Kreditfähigkeit und Rendite fokussierten Tunnelblick der Finanzabteilungen die Kapitalverwertung „ohne Verhältnis zur Arbeit und als bloßes Verhältnis eines Kapitalisten zum anderen [dar]. Also als eine dem Verhältnis des Kapitals zur Arbeit selbst äußerliche und gleichgültige Bestimmung“ (MEW 25, 395f.). Faktoren der Lebens- und Arbeitssitu-

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ation, die im technischen Management lokaler Produktionsstandorte mit Blick auf Werkbindung, Produktivitätsanreizung und Betriebsklima relevante Regelgrößen der Akkumulation waren, sind für das im globalen Wettbewerb agierende Finanzmanagement reine Kostenfaktoren auf der Negativseite der Unternehmensbilanz, deren Reduktion zumindest kurzfristig die Börsennotierung und Kreditwürdigkeit verbessern. Die objektive Dominanzwirkung dieser auch den Management-Diskurs zunehmend bestimmenden Perspektive auf realwirtschaftliche Entscheidungen beschleunigt den Abbau von Sozialstandards, Sicherheitsgarantien und von überkommenen korporatistischen Aushandlungsarrangements.40 Gewinnt im ökonomischen Feld insgesamt das „finanzielle Kapital“ die strukturelle Dominanz, da der Kredit „die Hauptbedingung für die Akkumulation“ im produktiven und kommerziellen Sektor wird (Bourdieu 1998a, 174f.), weist das Subfeld der Produktionsunternehmen eine homologe Verschiebung der Dominanzverhältnisse auf. Hinter dem Anschein einer Differenzierung und Pluralisierung der Märkte im ‚neoliberalen‘ Kapitalismus, in dem statistisch „die Handvoll übermächtiger Konzerne […] in einem Meer von Zwergen“ verschwindet (Boltanski/Chiapello 2003, 24), verbirgt sich eine Dominanz der Großkonzerne, die durch Holdingkonstruktionen und ‚Outsourcing‘ enge Dependenzbeziehungen zu einer Vielzahl nur formal unabhängiger Subunternehmen unterhalten (vgl. ebd., 264ff.). Da die an den „Schnittstellen dieser Beziehungsgeflechte“ (Bourdieu 2004a, 398; vgl. ebd., 398ff.) konzentrierte Entscheidungsmacht wächst, werden die Zwänge zur Umstrukturierung der Arbeitswelt durch alle Verästelungen dieser Netzwerke weitergeleitet, um zugleich die Kernstrukturen und -belegschaften der Großunternehmen von gravierenden Effekten der Prekarisierung zu entlasten.41 Für diese Dominanzwirkung ist entscheidend, dass hinter dem Pauschalbegriff ‚Globalisierung‘ in verschiedenen Funktionssphären realitär heterogene Prozesse mit unterschiedlichen Laufgeschwindigkeiten und Entwicklungsstufen stehen. Wird der „Substanzbegriff Globalisierung in Relationsbegriffe“ aufgelöst, sind „nur die Finanz- und Devisenströme“ wirklich „globalisiert“ (Negt 2004, 21), während bereits die Mobilität realwirtschaftlicher Produktionseinheiten durch kostenträchtige materielle, soziale und politische Realitäten beschränkt ist, die aus Perspektive des Finanzkapitals nur als Stör- und Trägheitsfaktoren aufscheinen (vgl. Bourdieu 2004a, 398ff.). Wie Boltanski und Chiapello (vgl. 2003, 397-412) zeigen, implizieren diese Mobilitätsdifferenzen als Drohpotenzial gegenüber den stärker lokal gebundenen Agenten ein Dominanzgefälle ganz eigener Art, welches auch das Verhältnis des global agierenden Kapitals zur weiter territorial an Nationalstaaten gebundenen Politik bestimmt.

40 Galten im traditionellen Management seit Taylor und Fayol „die Kontrollmechanismen hauptsächlich den Mitarbeitern“, richten sie sich nun stärker auf „Markt und Konkurrenz“ (Marketing, Public-Relations). Die Produktionskontrolle reduziert sich auf die Forderung, dass „Mitarbeiter sich selbst kontrollieren“. Im „Übergang von der Kontrolle zur Selbstkontrolle und in der Veräußerlichung der ehemals von der Organisation getragenen Kontrollkosten auf die Mitarbeiter und Kunden“ liegen „die charakteristischen Züge der Managemententwicklung der letzten dreißig Jahre“ (Boltanski/Chiapello 2003, 120ff.; vgl. ebd., 91-146). Vgl. zu den Wirkungen: ebd., 261-376; am Beispiel einer Langzeitstudie zu den Peugeot-Werken in Sochaux-Montbéliard: Beaud/Pialoux 2004. 41 Vgl. dazu u.a. Boltanski/Chiapello 2003, 270-308; Dettmer et al. 2010; Dörre/Kraemer/ Speidel 2004 & Dörre/Holst/Thieme 2008.

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Bourdieu erklärte die entsprechende Reduktion politischer Handlungsspielräume gegenüber dem Einfluss des Finanzkapitals weder deterministisch noch ‚verschwörungstheoretisch‘ (so Lange 2002, 463f.), sondern aus einer sich innerhalb der Logik des eingeschlagenen Entwicklungspfades pfadabhängig verstärkenden strukturellen Dominanz, die jenseits von auf einzelne Agenten zurückführbaren Intentionen die Möglichkeitsräume des ökonomischen und politischen Handelns verändert: „Ein typisches Beispiel für diese Struktureffekte, die nicht auf absichtliche Interventionen einzelner Agenten […] rückführbar sind, ist das internationale Feld des Finanzkapitals. Es verdankt seinen schicksalhaften Anschein (zumindest in gewissen journalistischen Sichtweisen auf die ‚Finanzmärkte‘) zweifellos der Tatsache, daß es nicht direkt bei nationalen Regierungen zu intervenieren braucht, um ihnen eine Politik aufzuzwingen oder weniger noch, um ihnen eine zu verbieten. Seine strukturale Machtausübung erfolgt vermittels der nicht unbedingt gewollten Effekte, die eine Modifikation der Risikoprämien auf nationale Zinssätze oder Wechselkurse für die Kosten der Politik dieser Regierung haben kann; Kosten die je nach Position der Länder in der Struktur der Kapitalverteilung und in der Machthierarchie variieren.“ (Bourdieu 1998a, 177 [Hervh. T.H.])

Die gegenwärtige Staatschulden- und Währungskrise des Euro-Raums, in der die auf eine „marktkonforme Demokratie“42 eingeschworenen Regierungen primär auf antizipierte Reaktionen ‚der Märkte‘ und Ratingagenturen hin agieren, ist ein Beispiel dieses von Bourdieu skizzierten Struktureffekts. Den Grundmechanismus der Staatsverschuldung hat allerdings bereits Marx analysiert: Historisch war der Aufstieg des Finanzkapitals eng mit dem Anstieg der Staatsschuld verwoben. Indem Staaten zur Finanzierung von durch den Haushalt nicht gedeckten Projekten (die ihrerseits oft die Genese des Industrie- und Handelskapitals förderten) den Privatfinanziers ein risikoarmes Anlagefeld eröffneten, förderten sie die Entstehung des modernen Börsen- und Kreditwesens,43 von dem sie in eine sich rekursiv verstärkende Abhängigkeit gerieten: Da die Staatschuld (neben begrenzten Möglichkeiten des Ausverkaufs von Staatsbesitz) nur vom „modernen Steuersystem“ – als „notwendige Ergänzung des Systems der Nationalanleihen“ – gedeckt wird, erzwingt jede Anleihe „erhöhte Steuern“. Umgekehrt zwingt „die durch Anhäufung nacheinander kontrahierter Schulden verursachte Steuererhöhung die Regierung, bei neuen […] Ausgaben stets neue Anleihen aufzunehmen.“ Unabhängig vom fiskalischen (Un-)Geschick der Nationen trägt also die „moderne Fiskalität […] in sich selbst den Keim automatischer Pro-

42 Am 1.9.2011 hatte Angela Merkel in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem portugiesischen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho u.a. erklärt: „Wir leben ja in einer Demokratie und sind auch froh darüber. […] Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist“ (Bundesregierung 2011; vgl. zur Debatte um den Begriff u.a.: Gutschker 2011). 43 Marx sah in der modernen Staatsschuld einen „der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital“, ohne es „der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühwaltung […] auszusetzen.“ Abgesehen vom „improvisierten Reichtum der zwischen Regierung und Nation die Mittler spielenden Finanziers“ befördert sie „die Aktiengesellschaften, den Handel mit negoziablen Effekten aller Art […], in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie“ (MEW 23, 782f.; vgl. Braudel 1986, Bd. II, 569-614).

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gression.“ Überschuldung und Überbesteuerung sind im kapitalistischen Staat kein „Zwischenfall, sondern vielmehr Prinzip“ (MEW 23, 784). Staatsschulden dienen dabei zur Deckung von Ausgaben für Bildung, Infrastruktur, Sicherheit etc., die – wie schon Adam Smith (vgl. 1978, 580-693) wusste – der Kapitalverwertung vorausgesetzt sind, ohne selbst privatwirtschaftlich rentabel zu sein. Da Staatschulden also gerade nicht als Kapital fungieren,44 sind die Zinsen nur aus weiteren Steuern, Privatisierungen und Anleihen zu tilgen, womit das Übergewicht der Ausgaben über die Einnahmen „zugleich die Ursache und die Wirkung des Systems der Staatsanleihen“ ist (MEW 7, 78; vgl. MEW 25, 482ff.). Indem das von den Financiers angeeignete ‚Kapital‘ nur der Positivausdruck der Negativbilanz der „Akkumulation der Staatsschuld“ (MEW 23, 783) ist, handelt es sich um keine reale Akkumulation, sondern letztlich um eine Umverteilung zugunsten des Kapitals. Die „Veräußerung des Staats“ wird ein Kennzeichen der „kapitalistischen Ära“, und der „einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld“ (ebd., 782). Auf Grundlage dieser Umverteilung garantiert die Staatschuld auch die strukturelle Dominanz des Kapitals gegenüber der relativen Autonomie des Staates, dank derer sich auch in demokratischen Staaten Kapitalinteressen – in Form von Sachzwängen – gegen Mehrheitsinteressen durchsetzen. In der gegenwärtigen Staatsschuldenkrise, in der eine Forcierung des Um- und Rückbaus keynesianischer Absicherungssysteme und Arbeitnehmerrechte (v.a. in Südeuropa) nur um den Preis weiterer Schritte zur marktkonformen Postdemokratie möglich scheint, wiederholen sich dabei Grundmuster jener „Farce“ (MEW 8, 115), die Marx an der Geschichte der II. französischen Republik beobachtete: Da die Revolution von 1848 auf der Koalition von Fraktionen des Bürgertums mit dem Proletariat beruhte, hatte die II. Republik (als „Konzession“ an proletarische Forderungen) die Form einer „Republik, umgeben von sozialen Institutionen“ (MEW 7, 19 [Hervh. i.O.]). Da jedoch die Schulden des vorangegangenen Staatwesens ebenso wie das fiskalische Modell der Staatsverschuldung übernommen wurden, blieb die Republik vom Finanzkapital abhängig. So wurde jede Verbesserung der Lebensbedingung und jede „Emanzipation der Arbeiter“ zur „Gefahr“ für das Staatswesen, da sie als „Protestation gegen die Herstellung des Kredits, der auf der ungestörten […] Anerkennung der bestehenden ökonomischen Klassenverhältnisse beruhte“, wirkte. Damit wurden für den Staat alle „Konzessionen an das Proletariat […] zu ebenso vielen Fesseln, die gesprengt werden mußten.“ (Ebd., 25 [Hervh. i.O.]) Der Rückbau der sozialen Konzessionen war jedoch nur in Verbindung mit einer Rücknahme demokratischer und plebiszitärer politischer Partizipationsformen zugunsten einer offeneren „Diktatur der Bourgeoisie“ (ebd., 40f.) möglich. Die sukzessive Stärkung der Regierungsgewalt gegenüber dem Parlament

44 „Der Staat hat […] Zins für das geborgte Kapital zu zahlen. […] Das Kapital selbst ist […] verausgabt vom Staat. Es existiert nicht mehr.“ So oft die Schuldscheine weiter gehandelt oder Grundlage kunstfertiger Derivate werden, „bleibt das Kapital, als dessen Abkömmling (Zins) die Staatszahlung“ gilt, „fiktives Kapital. Nicht nur, daß die Summe, die dem Staat geliehen wurde, überhaupt nicht mehr existiert. Sie war überhaupt nie bestimmt, als Kapital […] angelegt zu werden“. Das macht für die Händler von Staatspapieren meist keinen Unterschied, aber „wo die Schuldscheine unverkaufbar würden, fiele der Schein dieses Kapitals weg.“ (MEW 25, 482f.)

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fand ihren Schlussakt schließlich im Staatsreich von Napoleon III. im November 1850 (vgl. MEW 8, 194ff.). Unabhängig davon, wie weit entsprechende Vergleichsperspektiven im Hinblick auf konkrete Verlaufsformen tragen,45 setzt in beiden Fällen dieselbe elementare Funktionslogik der Staatsschuld politische Akteure unter Zugzwang, soziale Institutionen, rechtlichen Garantien und politischen Teilhaberechte auch gegen Präferenzen der Bevölkerungsmehrheit abzubauen, was im Zweifelsfall nur durch eine Schwächung des Parlaments gegenüber der Exekutivgewalt möglich ist. Ein Äquivalent des Schlussakts, den die Farce der II. Republik im Staatstreich Louis Napoleons fand (also die Aufhebung demokratischer Formen zugunsten einer offen diktatorischen Politik), ist gegenwärtig zwar unwahrscheinlich, jedoch scheint innerhalb des Spannungsfelds, in dem die „kapitalistische Gesellschaft“ immer aufs neue „vor der Alternative [steht], entweder sich zu einer sozialen Demokratie, die demokratische Willensbildungselemente […] in die Wirtschaftsgesellschaft überträgt, zu erweitern, oder zugunsten der Wirtschaftsleiter und ihrer politischen Verbündeten aufzuhören, Demokratie zu sein“ (Abendroth 1967, 47), eine tendenzielle Verschiebung zum „postdemokratischen Pol“ (Crouch 2008, 11) offenkundig. Dabei wirkt etwa die ökonomischen Zweckkalkülen folgende Integration des EU-Wirtschaftsraums – den Bourdieu zugespitzt als „Europa der Bankiers“ (Bourdieu 2004c, 80) bezeichnete – als wichtiger Transmissionsriemen, indem Vorgaben und Richtlinien der europäischen Kommission oder der Zentralbank, denen „ohne jede demokratische Kontrolle die Macht zugestanden wird, sozialpolitischen Maßnahen einen Riegel vorzuschieben“ (ebd., 139), den Möglichkeitsraum demokratisch legitimierter nationalstaatlicher Politik bestimmen. Der einseitige Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion beschneidet die Handlungsautonomie der Mitgliedsstaaten im Grenzfall soweit, dass diesen nur Privatisierung, „Sozialdumping, Lohnabbau und die ‚Flexibilisierung‘ des Arbeitsmarktes als alleinige Instrumente“ (ebd., 81 [Hervh. i.O.]) verbleiben, um „im Namen von Geldwertstabilität und Haushaltskonsolidierung am Ausverkauf der […] sozialen Errungenschaften […] mitzuwirken“ (ebd., 138). Die den EU-Staaten seit 2010 im Zuge der Staatsschuldenkrise aufgezwungene Politik bildet lediglich eine neue Verstärkung solcher Tendenzen, die auf dem eingeschlagenen Entwicklungspfad den „Aufbau Europas“ zum „Sozialabbau“ (ebd. [Hervh. i.O.]) machen. Obgleich die Tendenz zur Staatsverschuldung unter kapitalistischen Bedingungen unaufhebbar ist, bleibt es (wie bei jeder Tendenz) eine sich in je aktuellen Kräfteverhältnissen entscheidende Frage von Politik und Gesetzgebung (etwa im Steuer-, Erbund Arbeitsrecht), in welcher Form sie blockiert, verlangsamt, kompensiert oder befördert wird (vgl. u.a. MEW 7, 41f.). Der seit den 1970er Jahren eingeschlagene Entwicklungspfad sollte eine Kapitalverwertungskrise überwinden helfen (s.o. IV.7) und zugleich die Haushalte konsolidieren. Tatsächlich wirkte die Staatsverschuldung – die allen neoliberalen Verheißungen zum Trotz gegenüber der keynesianischen Ära in den USA wie in Europa stieg – jedoch als Moment eines Komplexes politischer Weichenstellungen, in dem die sich in einem Dominoeffekt unter Zugzwang setzen-

45 Auf Ausführungen – etwa hinsichtlich der „mittelmäßigen und grotesken Personage“ (MEW 16, 359) – sei hier verzichtet, manche Passagen (vgl. MEW 8, 115-207) evozieren aber erheiternde bis erschreckende Analogien.

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den Staaten ökonomische Transformationen forcierten, in denen sie selbst schließlich durch eine Reihe von „sich selbst verbauende[n] Handlungsoptionen“ von der „treibenden Kraft […] zu einem getriebenen Verhältnis“ wurden (Röttger 2004, 169). Die Staaten, die die ‚Entfesselung‘ der Finanzmärkte forciert und eine „globale Klasse von Geldvermögensbesitzern“ erst befähigt hatten, von allen Bindungen des industriekapitalistischen Unternehmertypus befreit, in globalem Maßstab „auf rent seeking“, d.h. auf die „Suche nach rentabelsten Anlagemöglichkeiten für liquides Geldvermögen“ zu gehen (Mahnkopf/Altvater 2004, 77ff. [Hervh. i.O.]), fanden sich in einen globalen Wettbewerb um günstige Kapitalanlagebedingungen versetzt, der sie zu steuerlichen Entlastungen von Kapitalerträgen und zur Verbesserung der lokalen Verwertungsbedingungen, v.a. durch Flexibilisierung und Informalisierung der Arbeitsmärkte, zwang. Beides begünstigte die Kapitalverwertung ebenso wie es die Einnahmesituation des Fiskus verschlechterte und die Ausgabenlast (etwa für Subventionen und die Kompensation sozialer Folgekosten) steigerte. So erfordert die Zunahme von Anomie, Devianz und Bürgerprotesten die kostenintensive Flankierung des „Europas der Banken“ durch den Ausbau eines „Europas der Polizei und Strafverfolgung“ (Bourdieu 2004c, 140; vgl. Wacquant 1997). Das wieder befördert die Staatsverschuldung, verstärkt die strukturelle Abhängigkeit vom Finanzkapital und zwingt zur weiteren Anpassung der Politik an dessen Vorgaben. Statt eines mysteriösen Prozesses ‚der Globalisierung‘ war diese politisch gestaltete – obgleich in ihren Effekten von den Handlungsagenten nicht immer intendierte – Verschiebung von Kräfteverhältnissen und Möglichkeitsräumen auch die Ursache der ‚Erosion der Mittelschicht‘ (vgl. Göbel/Gornig/Häußermann 2010) und der Prekarisierung der Erwerbsarbeit. Da „ein deregulierter Finanzmarkt […] einen deregulierten Arbeitsmarkt und damit prekäre Arbeitsverhältnisse“ erforderte (Bourdieu 2004c, 168f.), sind jüngere sozialstrukturelle Verschiebungen oft das Resultat finanzpolitischer Weichenstellungen der 1970er Jahre. Die relative Verschlechterung der Lage vieler Lohnabhängiger gegenüber früheren Akkumulationsmodi, die selbst liberale Ökonomen eingestehen ließ, dass die breite lohnabhängige Mittelschicht ein Produkt staatlicher Regulierung und „nicht des Marktes“ (Thurow 1996, 362) war, bedeuten aber keinen neuen Epochenbruch, wie ihn die Schlagzeilen von der „Rückkehr der Klassengesellschaft“ (Brock 1994; Groh-Samberg 2005; Herrmann 2008) suggerierten. Die Differenzen von Kapital und Lohnarbeit wie die Trennlinie zwischen den Extremen von Reichtum und Armut waren schließlich nie aus der Realität, sondern nur aus dem Fokus einer Ungleichheitsforschung verschwunden, die für ihre „Korrektur der soziologischen Brille“ (Hradil 1992, 20) Modelle mit starken Unschärfen an den Randbereichen zugunsten der scharfen Fokussierung mittlerer Lagen bevorzugte. Jüngere ebenso einseitige Reaktivierungen einer polarisierenden Terminologie werden den aktuellen sozialstrukturellen Verschiebungen jedoch ihrerseits nur bedingt gerecht. Obgleich milieuspezifische Kumulationen von Devianz und Anomie und die komplementäre Erfolgsgeschichte der Globalisierungs- und Flexibilisierungsgewinner besondere mediale und soziologische Aufmerksamkeit auf sich ziehen, verfehlen Leitmetaphern wie die der ‚Öffnung der sozialen Schere‘ oder polarisierende Gegenüberstellungen entsprechender Gruppen viele Spezifika aktueller sozialstruktureller und soziokultureller Konstellationen. Trotz der relativ eindeutigen ‚Erosion der Mit-

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telschicht‘46 sind die Verschiebungen der Lebenslagen und Lebensstile nicht einseitig auf quantitative Veränderungen der Einkommens- und Konsumsituation zurückführbar. Schließlich sind die Lebenssituation und die empfundene „soziale Gerechtigkeit keine Frage absoluter Rechengrößen, wie etwa bei der Futterversorgung von Milchvieh“ (Vester et al. 2001, 82). Als historische und relationale Größen hängen sie vom durchschnittlichen Lebensstandard ebenso ab, wie von normativen Orientierungsmaßstäben und von Fragen der Zukunftssicherheit. Als verschiedene Klassenlagen übergreifendes Spezifikum der postfordistisch-neoliberalen Formation wirkt hier vor allem die ‚Entsicherung‘ der Lebenslagen und Biographieverläufe (s.o. IV.7f.) und eine neue Qualität der Verzeitlichung sozialer Ungleichheit. War die fordistische ‚Normalbiographie‘ bereits seit den 1980er Jahren vermehrt durch Arbeitslosigkeit, Umschulung, Weiterbildung gebrochen,47 hat sich inzwischen eher ein neuer diskontinuierlicher ‚Normalverlauf‘ eingepegelt, bei dem zwischen Ausbildung und ‚regulärer‘ Erwerbsarbeit längere Phasen irregulärer Erwerbsformen (Befristungen, Teilzeit, Praktika, Projektstellen etc.) und Umorientierungen treten. Diese durch Prekarität und Überausbeutung gekennzeichneten Phasen können mit jugendkulturellen Lebensstilmustern und einer verlängerten Adoleszenz kompatibel sein und – anders als noch im Fall der strukturellen Erwartungsenttäuschung der „geprellten Generation“ der 1970er Jahre (vgl. Bourdieu 1999, 241ff.) – als Passage- und Bewährungsphase, die irgendwann nach dem 30. Lebensjahr in sicherere Verhältnisse führen könnte, in die Lebensplanung integriert werden.48 Allerdings kommt es seit den 1990er Jahren bei über 25% der Bevölkerung zur Verfestigung eines den gesamten Lebensverlauf übergreifenden „prekären Wohlstands“ (Hübinger 1996; vgl. Vogel 2006), also eines „Wohlstands auf Widerruf“ (Vester et al. 2001, 86ff.), in durch hohe Instabilität gekennzeichneten mittleren sozialen Lagen, in denen ökonomische Verwerfungen oder persönliche Veränderungen und Schicksalsschläge (Unfall, Krankheit, Kinder) jederzeit unter die Armutsgrenze führen können. Nach dem 50. Lebensjahr steigt dann das Risiko einer ‚Abwärtskarriere‘, in der Weiterbeschäftigung und Statuserhalt durch geringeres Einkommen und erhöhte Flexibilität erkauft werden. Gegenüber den in jüngeren Debatten betonten neuen Extremausprägungen von Exklusion und Reichtum betrifft diese Prekarisierung – ob als akute Realität oder als permanente Bedrohung – gerade die ‚breite Mitte‘ der Lohnabhängigen (vgl. Bourdieu 2004c, 107ff.; Castel 2008, 336-400).

46 Laut dem III. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung war die Mittelschicht zwischen 2000 und 2006 bereits um ca. 5 Millionen Menschen geschrumpft. Das bedeutet einen Rückgang des Bevölkerungsanteils von 62% auf 54%. Vgl. auch Friedrichs/Müller/ Baumhold 2010, 33f. 47 Vgl. u.a. Beck 1986; Berger/Hradil 1990. Allerdings war der mit dem Terminus ‚Normalbiographie‘ suggerierte Biographieverlauf für keine Kohorte Realität. Die „kurze Periode relativer Sicherheit“ (Mahnkopf/Altvater 2004, 70ff.) zwischen Entstehung und Auflösung der ‚Normalbiographie‘ währte nur ca. 30 Jahre, umfasste also gerade einmal 2/3 eines durchschnittlichen Erwerbslebens. Dass die Temporalisierung der Ungleichheit nicht ‚neu‘ ist, zeigen etwa die lebensverlaufsspezifischen Aspekte in Marx’ Analyse der ‚industriellen Reservearmee‘ (s.o. V.3.3). 48 So ist der „Hedonismus mit prekären Mitteln“ (Vester et al. 2001, 98f. & 521f.) in einigen Jugendmilieus diesen Arbeits- und Lebensbedingungen zumindest übergangsweise relativ gut angepasst.

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Trotz der durch die wachsende „Angst vor dem Absturz“ (Ehrenreich 1992) genährten politischen Unzufriedenheit, die zur „Krise der politischen Repräsentation“ (Vester et al. 2001, 116ff.; vgl. ebd., 427-502) beitrug, blieben kollektive Gegenbewegungen bislang eher aus, nicht zuletzt, weil die Entwicklungstrends gerade nicht zu einer flächendeckenden Deklassierung, sondern eher zur weiteren Binnendifferenzierung der Klassenlagen beitragen. Zu den traditionellen, von Marx benannten Dissoziationstendenzen, die mit den klassischen Lohnhierarchien einhergingen, welche primär an den Qualifikations- und Reproduktionskosten der Arbeitskraft orientiert waren,49 treten neue lebenslaufspezifische Ungleichheitsmuster und neue Differenzierungslinien zwischen an verschiedene Kapitalverwertungsbedürfnisse angepasste Arbeitskraft- und Vertragstypen. Der „Arbeitnehmertypus“ mit unbefristetem Tarifvertrag besteht (bei quantitativer Schrumpfung und Beschneidung einstiger Privilegien) fort, da er langfristig orientierten Verwertungsbedürfnissen funktionale Vorteile (Planungssicherheit, Reduktion von Konfliktkosten etc.) bietet, wird aber durch neue Typen des „Arbeitskrafttagelöhners“ (Werkverträge, Leih- und Zeitarbeit etc.) und „Arbeitskraftunternehmers“ ergänzt, die der steigenden Fluktuation kurz- und mittelfristiger Verwertungsbedürfnisse entspricht (vgl. Voß/Pongratz 2003; s.o. IV.7f.). Bourdieu betonte, dass die Fragmentierung auf der Grundlage „einer neuen Art von Arbeitsverträgen“, die „immer partikularer werden“, zunehmend „zu einer Entgesellschaftung der Lohnarbeit und einer methodischen Atomisierung der Arbeiter“ (Bourdieu 2004c, 151) führt. Auch wo Unternehmen diese Fragmentierung nicht zusätzlich fördern – etwa indem sie verschiedene Arbeitskrafttypen zeitversetzt anwenden oder Leiharbeitskräften den Zugang zu den Gemeinschaftsräumen der Normalbeschäftigten verbieten50 – bewirkt die Differenzierung in reguläre Arbeitnehmer, Arbeitskraftunternehmer und verschiedene Formen von Arbeitskrafttagelöhnern auch bei ähnlichen Qualifikations- und Tätigkeitsprofilen eine Dissoziation in Fragen von Lohn, Status und Zukunftsperspektiven, die die Konkurrenz und die Entsolidarisierung zwischen den sich zunehmend als wechselseitige Bedrohung erlebenden Arbeitskrafttypen steigert.51 Diese Atomisierung begünstigt eine weitere Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals und ermöglicht neue Modi der „Herrschaft durch Prekarität“ (ebd., 168), in denen die „Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit […] die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung“ zwingt (ebd., 111) – sei es da irreguläre Beschäftigungsformen viele klassische Formen organisierter Gegenwehr von vornherein ausschließen, sei es weil der Status der gewerkschaftlich vertretenen ‚regulär Beschäftigten‘ nur noch durch Kompromisse erhalten wird, die die Lohn-, Urlaubs-, Arbeitszeit- und Leistungsstan-

49 Die „höhere, teils wissenschaftlich gebildete, teils handwerksmäßige Arbeiterklasse“, die als „Ingenieure, Mechaniker“ (MEW 23, 443) im Produktionsprozess und als „kommerzielle Arbeiter“ im Distributionssektor zur „besser bezahlten Klasse von Lohnarbeitern“ gehört (MEW 25, 311), teilt wenig mit anderen Lohnabhängigen. Sie steht „außerhalb des Kreises der Fabrikarbeiter und [ist] ihnen nur aggregiert“ (MEW 23, 443). 50 Bevorzugt werden irregulär Beschäftigte ohnehin nachts verwertet, wo sie z.B. für das Einräumen der Supermärkte statt tariflicher 11,70 Euro plus Nachtzuschlag 6,50 Euro je Stunde erhalten. Vgl. dazu u.a.: Bognanni/Pennekamp 2011. 51 Vgl. dazu u.a. auch: Hoffmann 2004, v.a. 38-49; Zeuner 2004, 318-352.

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dards ihrerseits unterhöhlen. Zusätzlich befördert wird dies durch die fortschreitende Destruktion gewerkschaftlicher Interessenvertretung, der die Gewerkschaften (trotz reflexiven Problembewusstseins) in der strategischen Praxis wenig entgegensetzten, was ihre Verhandlungsposition weiter schwächt (vgl. ebd., 182f.).52 Die kohortenspezifische Ungleichverteilung der Vertragstypen, die sichere ‚Normalarbeitsverhältnisse‘ zum Privileg älterer Arbeitnehmer macht, führt zudem zu einem intergenerationellen „Riß […] durch die einzelnen Gewerkschaften hindurch“ (Bourdieu 1997, 167), die über eine zum Rückzugsgefecht geratende Verteidigung der Interessen ihres überalternden Stammklientels die Suche nach neuen Solidaritäts- und Integrationsformen vernachlässigen, die den anders gelagerten Risiken, Problemen und Interessen jüngerer Arbeitnehmer entsprechen könnten (vgl. Rehder 2003; Beaud/Pialoux 1999). Zu dieser Schwächung auf nationaler Ebene tritt die „Diskrepanz zwischen dem nationalen Charakter der Gewerkschaftsorganisation und dem internationalen Charakter der […] Wirtschaft“, die Bourdieu bereits 1980 als „eines der Hauptprobleme der Zukunft“ (Bourdieu 2010b, 316) bezeichnete und der er im Engagement für eine Vernetzung europäischer Gewerkschaften entgegenzuwirken suchte. Trotz symbolischer Ansätze konnten internationale gewerkschaftliche Strukturen bislang nicht ausgebildet werden.53 Stattdessen reagieren Gewerkschaften (trotz verbaler Solidaritätsadressen) auf die globale Konkurrenz weiterhin mit Tendenzen ‚sozialer Schließung‘ im nationalstaatlichen Rahmen. Das Zusammenspiel von Klientelpolitik und „nationalistischen Partikularismen […,] von denen sich die Gewerkschaften […] die Sicherung ihres Fortbestands erhoffen“ (Bourdieu 2004c, 142), trägt faktisch zur Unterminierung ihrer Position in einer machtpolitischen Downsizing-Spirale bei (vgl. Urban 2010, 443-450). Die Verschiebung struktureller Dominanzverhältnisse zugunsten des globalen Finanzkapitals wirkte nach der Finanzkrise ab 2008 weitgehend ungebrochen fort. Während es den nationalen „Gewerkschaften […] nicht gelang, aus der offenkundigen Blamage neoliberaler und marktgläubiger Theorien einen strategischen Vorteil zu ziehen“, der über partikulare „Defensiverfolge“ hinausgegangen wäre (Urban 2012, 173), scheint eine ‚global gouvernance‘ zur internationalen Regulation der Finanzmärkte oder gar zur Festlegung internationaler Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards über Lippenbekenntnisse und Realsatiren (wie die jährlichen ‚Weltklimakonferenzen‘) nicht hinauszukommen. Damit bleiben auch nationalstaatliche Regulationsmöglichkeiten begrenzt, da jede nationale Beschränkung der Freiheit des Kapitals in einer „Politik der Standortkonkurrenz“ (Hoffmann 2004, 41) als potenzieller

52 Problembewusstsein zeigen Publikationsorgane wie die WSI-Mitteilungen (vgl. u.a. die Beiträge von Baethge 2000; Döhl/Kratzer/Sauer 2000; Urban 2010) und erst recht gewerkschaftlich finanzierte wissenschaftliche Publikation (vgl. u.a. Pongratz/Voß 2003; Beerhost/Demiroviþ/Guggenmos 2004), die jedoch auch immer neu dasselbe Nicht-Verhalten der Gewerkschaften konstatieren. Das blinde Vertrauen von Gewerkschaftsfunktionären in den ‚Sozialpartner Arbeitgeber‘ fördert diese Handlungsträgheit und hat oft drollige Züge – etwa wenn der Münchner Chef der IG-Metall ebenso überrascht wie enttäuscht konstatiert: „Ich hätte nie gedacht, das BMW das Grundgehalt [für Leiharbeitnehmer] mit Werkverträgen unterläuft.“ (Zit. in: Bognanni/Pennekamp 2011) 53 Vgl. zu zögerlichen Ansätzen, hemmenden Faktoren und bisherigen Grenzen einer ‚Internationalisierung‘ der Gewerkschaften detailliert: Hoffmann 2004, v.a. 49-61; vgl. grundlegend auch schon: Altvater/Mahnkopf 1993.

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Nachteil wirkt. Dies führt zusammen mit dem Staatsschuldenmechanismus zur weiteren Reduktion der Spielräume demokratischer Politik gegenüber dem Diktat der ‚Marktkonformität‘, womit der eingeschlagene Pfad der Globalisierung statt zur von Giddens (vgl. 2001, 87-103) herbeiphantasierten globalen „Demokratisierung der Demokratie“ (ebd., 95ff.) eher zur weiteren Postdemokratisierung beiträgt. Wenn so in den Nationalstaaten und erst recht in den transnationalen Institutionen ein neoliberales Politik-Modell fortgeführt wird (vgl. Crouch 2011), während zugleich ein ‚Kollektivsubjekt‘ gesellschaftlichen Wandels kaum auszumachen ist, dann stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, welche Möglichkeitsräume alternierender Entwicklungen gegenwärtig überhaupt als Resonanzraum sozialwissenschaftlicher Kritik fungieren könnten.

4.4 M ÖGLICHKEITSRÄUME : W ISSENSCHAFTLICHE K RITIK UND SOZIALE K RÄFTEVERHÄLTNISSE „Die Definition des legitimen Reproduktionsmodus ist […] Gegenstand von Auseinandersetzungen, und man sollte sich hüten, etwas als Ende der Geschichte zu beschreiben, was lediglich ein wieder umkehrbares bestehendes Kräfteverhältnis ist.“ PIERRE BOURDIEU (2004a, 363) „In den regulierenden Institutionen sind die sozialen Strebungen und Erfahrungen fast aller Milieus einer Gesellschaft ‚akkumuliert‘. Werden sie leichtfertig außer Kraft gesetzt, so können auch die darin gebundenen Energien wieder frei werden.“ MICHAEL VESTER (2002, 118)

Werden gegenwärtige Formationsprinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung als Produkt politischer Regulationen begriffen, die auf der Grundlage einer spezifischen Koalition der „Interessen von Kapital und Staat, die Arbeitskosten und die Mitwirkungsrechte der Menschen abzubauen“ (Vester et al. 2001, 85), auf ökonomische Tendenzen in einer keineswegs alternativlosen Form reagierten, bewirkt das eine soziologische ‚Entfatalisierung‘ (vgl. Bourdieu 2004c, 87), die gegen jeden „fatalistischen Diskurs, der […] wirtschaftliche Tendenzen in Schicksal zu verwandeln“ sucht (ebd., 74), die politische Konsequenz der Veränderbarkeit dieser Verhältnisse impliziert. Debatten um die Formen sozialwissenschaftlicher Kritik sind in diesem Kontext nicht nur akademisches Überbaugeplänkel, sondern Teil einer Ortsbestimmung der Wissenschaft in aktuellen gesellschaftlichen Krisenkonstellationen. Im hier vorgeschlagenen, an Marx, Foucault und Bourdieu anknüpfenden Verständnis einer kritisch-funktionalen Analyse (s.o. II.4) liegt die Grundlage und Aufgabe einer solchen Kritik nicht in der Formulierung normativer Bewertungsmaßstäbe oder Zielvorgaben, sondern im Aufzeigen der Genese und der aktuellen Konfigurationen sozialer Zusammenhänge, die als gesellschaftliche Produktions-, Kräfte- und Machtverhältnisse einen veränderbaren Möglichkeitsraum bilden, in dem die Chancen künftiger Entwicklungen präfiguriert sind, ohne dass konkrete Entwicklungen durch dem sozialen

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Handeln entzogene Prozesslogiken kausal determiniert wären. Wissenschaftliche Kritik kann durch Aufklärung objektiver gesellschaftlicher Bedingungsgeflechte ein aktives Verhältnis zu den daraus resultierenden Logiken befördern. Sie erhöht so den „Freiheitsspielraum“ einer Praxis, in der die „Autonomie der Kämpfe“, die den objektiv wahrscheinlichen Tendenzen soziale Kräfte entgegenstellen, jenseits der „reinen Wahrscheinlichkeitslogik“ mit darüber bestimmt, welche der potenziellen Zukünfte sich in welchem Maße durchsetzen (vgl. Bourdieu 2001c, 301ff.). Als reflexives Moment einer gesellschaftlichen Praxis, in der erst soziale Konflikte über die Ausformung der gesellschaftlichen Verhältnisse entscheiden, kann wissenschaftliche Kritik auch ganz reale Funktionen in „der außerakademischen, medialen und alltagspraktischen Welt“ haben, in der „entschieden [wird,] ob Soziologie und Kapitalismuskritik wieder zueinanderfinden – und ob ‚die Gesellschaft‘ es merkt“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 17). Einen Beitrag zur Erfindung neuer „Formen politischer Arbeit“, die (jenseits der falschen Opposition von ökonomistischem Determinismus und politizistischem Voluntarismus) „Zwänge, vornehmlich wirtschaftliche, zu berücksichtigen verstehen […], um sie gegebenenfalls zu neutralisieren, zu bekämpfen“ (Bourdieu 1997, 169), kann Soziologie aber nur leisten, wenn innerhalb der gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Dominanzverhältnisse auch praktische Spielräume und potenzielle soziale Kräfte ihrer Veränderung bestimmbar sind. Grundlegend für eine solche Bestimmung von Möglichkeitsräumen ist es, die aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte resultierenden Potenziale von jenen Zwängen zu unterscheiden, die aus den Ausbeutungsdynamiken ihrer kapitalistischen Anwendung folgen. Die gesellschaftliche Nutzung der in Innovationen der Produktions-, Distributions- und Kommunikationstechnik angelegten Produktivkräfte erfordert eine Umwälzung überkommener Formen der Arbeitsteilung und eine Flexibilisierung der Lebensverhältnisse und Bildungsbiographien. Die neoliberale Gouvernementalität knüpft an solche (mit den Bedürfnissen junger Arbeitskräfte oft kompatiblen) Erfordernisse an (s.o. IV.7f.), tut dies aber in der Form einer Flexibilität an gesteigerte Exploitation koppelnden „Flexploitation“ (Bourdieu 2004c, 111 [Hervh. i.O.]), die sich in einem widersprüchlichen Spannungsverhältnis zu den Produktivitätserfordernissen bewegt, da eine Politik, die im Interesse kurzfristiger Profitmaximierung grenzenlose Flexibilität durch Prekarität erzwingen will und „aus sozialer Unsicherheit ein positives Prinzip kollektiver Organisation“ zu machen sucht (ebd., 151 [Hervh. i.O.]), die ökonomischen und sozialen Grundlagen der von ihr exploitierten Flexibilität und Kreativität zu zerstören droht. Innerhalb des so definierten Spannungsfeldes sind die Formen der Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse Gegenstand politischer Gestaltung. Dass damit „Prekarität gar nicht das Produkt einer […] ökonomischen Fatalität ist, sondern […] Produkt eines politischen Willens“ (ebd., 110 [Hervh. i.O.]), zeigt sich darin, dass es in andere nationale Traditionen eingelassene kapitalistische Ökonomien gibt, die wie z.B. „in Dänemark […] stark flexibilisiert sind und zugleich weitreichende soziale Garantien bieten“ (ebd., 151, Fn. 4). Es ist daher möglich, Flexploitation ursächlich auf kapitalistische Ausbeutungsdynamiken zurückzuführen und zugleich nach alternierenden Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Kontinuums kapitalistischer Vergesellschaftung zu fragen, die höhere Flexibilität gewährleisten, destruktive Exploitationsdynamiken aber eindämmen. Von marxistischer Seite ist solchen Perspektiven – ob ihres bloßen ‚Re-

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formismus‘ – der radikale ‚kapitalismuskritische Gehalt‘ meist abgesprochen worden.54 Allerdings kann für den Sachgehalt einer kritischen Analyse der Marker ‚revolutionär‘ oder ‚reformistisch‘ nicht ausschlaggebend sein und ‚radikal‘ ist jede Kritik, die ein Problem an den Wurzeln erfasst, auch wenn sie diese Wurzeln nicht auszureißen vermag. Um die realistischen Perspektiven ‚revolutionärer‘ Kritik scheint es derzeit in jedem Fall weit schlechter bestellt55 als um die Möglichkeit alternierender Akkumulationsmodelle, die die sozialen und ökologischen Destruktionsdynamiken der Wirtschaftsform nicht kurieren, sie aber in sozial und ökologisch (v)erträglicherer Form prozessieren. Obwohl der hier vorgelegte Ansatz zur Erneuerung der Kapitalismuskritik mit dem Versuch von Boltanski und Chiapello (vgl. 2003) die Einschätzung teilt, dass realistische Perspektiven der Kritik vorläufig statt im radikalen Fluchtpunkt postkapitalistischer Visionen innerhalb des Kontinuums kapitalistischer Vergesellschaftung zu suchen sind, scheint der dort gewählte Ansatzpunkt der Kritik problematisch. Der Anspruch, an Gerechtigkeitsnormen der gegenwärtigen Kapitalismusformation zu appellieren, um die Verankerung rechtlicher Garantien zu fordern (vgl. ebd., 413447), zeigt einen (überraschend naiven) Glauben an die verbindliche Handlungsrelevanz von Normen. Dies verkennt, dass Normen zwar legitimatorische und motivationale Funktionen haben, kapitalistische Gesellschaften (gerade in ihren politischen Funktionsdimensionen) aber durch die Trennung der „Funktionen der Legitimitätsbeschaffung von der Festlegung inhaltlicher Handlungsprämissen“ (Offe 1972, 93) und durch „systematische Nicht-Kongruenz zwischen den Motiven, die zum Zweck der Konsensbildung politisch mobilisiert werden, und den Funktionen […,] deren Erfüllung die solchermaßen abgesicherte Politik dient“ (ebd., 97), charakterisiert sind. Insofern die mit allgemeinem Geltungsanspruch formulierten Normen klassengebundene Funktionen haben und objektiv einem Partikularinteresse zuarbeiten (vgl. ebd., v.a. 78-105; MEW 2, 85f.) und die bürgerliche Gesellschaft mit entsprechenden Diskrepanzen gut leben kann, haben bloße Appelle an Gerechtigkeitsnormen kaum relevante Wirkungen. Das konnexionistische Update der alten Formel vom ‚Gerechten Lohn für ein gerechtes Tagwerk‘56 steht zudem vor dem Problem aller Gerechtigkeitsappelle: Da moralische und juristische Begriffe als bloße Formen inhaltsleer sind (vgl. MEW 25, 352f.), kann die Bestimmung dessen, was jeweils als ‚gerecht‘ gilt, nur ein Ausfall von Funktionserfordernissen und Konfliktreibungen sein, die sich innerhalb des durch den Stand der Produktivkräfte bestimmten und durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse begrenzten Möglichkeitsraumes in Kräfteverhältnissen verschiedener Klassenfraktionen ergeben. Wissenschaftliche Kritik sollte daher, statt von Gerech54 Vgl. jüngst u.a. die Kritik von Herkommer (2004) an Bourdieu und von Reitter (2009) an Boltanski und Chiapello. 55 Nicht nur fehlt ein ‚revolutionäres Subjekt‘, auch um eine „glaubwürdige Alternative“ (Braudel 1986, Bd. III, 702) postkapitalistischer Vergesellschaftung scheint es seit der nachhaltigen Diskreditierung alternativer Vergesellschaftungsmodelle durch den Staatssozialismus schlecht bestellt. 56 Ausbeutung meint dann nur noch, dass eine „Leistung für den Wertschöpfungsprozess nicht hinreichend entlohnt [wird], um von einer gerechten Verteilung zu sprechen.“ (Boltanski/Chiapello 2003, 401) Die Kritik reduziert sich somit rasch auf Forderungen nach „gerechteren Gehaltsregeln“ (ebd., 427-436).

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tigkeit zu reden, besser gleich nach den funktionellen Widersprüchen, Möglichkeitsräumen, Funktionserfordernissen, Konfliktreibungen und Kräfteverhältnissen fragen. Auch dafür allerdings bietet die Darstellung der konkreten Modi der „Ausbeutung in einer vernetzten Welt“ bei Boltanski und Chiapello (vgl. 2003, 397-413) Anknüpfungspunkte. Indem sie in anderen Beobachtungen und Kritiken oft isolierte und einseitig auf Individuen zugerechnete Phänomene57 in einen konkreten Ausbeutungszusammenhang rückt, an dem auch einige funktionslogische Widersprüche kenntlich werden, geht diese Schilderung in ihrer Plastizität über die Perspektiven von Marx und Bourdieu hinaus und kann sie sinnvoll ergänzen.58 Während für soziale Positionierungs- und Profitaneignungschancen im neoliberalen Kapitalismus Mobilität und Flexibilität maßgebliche Faktoren bilden und die Rechtfertigung der Verteilung des Werts wesentlich darauf beruht, die mangelnde Flexibilität der Ausgebeuteten mit Geringschätzung zu belegen, um Lohnkürzungen und Prekarisierung zu legitimieren (vgl. ebd., 413), zeigt die Analyse, dass die Modi der Profitaneignung die Ausbeutung der Immobilität und Unflexibilität einer Mehrzahl von Individuen voraussetzen und als ihre Funktionsbedingung reproduzieren müssen. In einem auf dem Mobilitätsdifferential begründeten Dominanz- und Aneignungsverhältnis, an dessen Spitze die Finanzmärkte als „die mobilsten Ausbeuter in einer langen Kette sukzessiver Ausbeutungen“ (ebd., 404) stehen, ermöglicht Mobilität – durch reale Verschiebung von Kapital an günstigere Verwertungsstandorte oder als Drohpotenzial gegen ‚immobilere‘ Glieder (wie Territorialstaaten, Subunternehmer oder Beschäftigte) – die Umverteilung von Profit nach oben und die sukzessive Abwälzung von Kosten und Risiken nach unten. Die „letzten Glieder in der Kette“, die gezwungen sind, für „Marktschwankungen gerade zu stehen“ (ebd., 410), sind standortgebundene Arbeitnehmer mit spezifisch begrenzten Kompetenzen, die durch die Zwänge dieses Ausbeutungsarrangements in einer „Lebenslage gefangen“ bleiben, die es ihnen „unmöglich macht, [ihr] Mobilitätsvermögen zu stärken, wenn sie es nicht nachgerade zerstört“ (ebd., 408f.). Obwohl Mobilität die zentrale Durchsetzungsgrundlage ist, um „den Großteil des in der gesamten Wertschöpfungskette erwirtschafteten Gewinns“ anzueignen (ebd., 411), könnten gerade die mobilsten Akteure „ohne die Basis einer örtlich verankerten Wirtschaftstätigkeit nicht überleben. Das von ihnen betriebene Netzwerk kann weder auf eine territoriale Verwurzelung,

57 Viele Kritiken des Neoliberalismus betonen lediglich, dass nicht alle Subjekte den Flexibilitäts-, Mobilitäts- und Kreativitätsforderungen des „unternehmerischen Selbst“ genügen können (vgl. Bröckling 2002; 2007), oder sie suggerieren, dass die ‚Exkludierten‘ „nicht einmal mehr eine Reservearmee“ bilden und „nicht einmal mehr ausgebeutet“ würden (Wehrheim 2008, 36). In beiden Fällen werden die gesellschaftlichen Bedingungen und Funktionen dieser vermeintlich individuellen Betroffenheiten nicht adäquat analysiert. 58 Entgegen marxistischer Kritiken (vgl. u.a. Reitter 2009) blendet das Konzept die Ausbeutungsverhältnisse in der produktiven Wert(ab)schöpfung nicht aus. Stattdessen wird ein „Ausbeutungskonzept“ vorgeschlagen, das „neben[!] der Industrie und der Marktsphäre und ihren klassischen Ausbeutungsvarianten die konnexionistische Sphäre“, also die über Produktion und Distribution hinausgehenden Relationen, berücksichtigt und das „Ausgrenzungskonzept“ einbezieht (Boltanski/Chiapello 2003, 397). Dabei soll innerhalb dieser Relationen ein „nicht allein strukturell“ begründeter, sondern „substanzieller Zusammenhang“ der Wert(ab)schöpfung aufgezeigt werden. Der Ansatz ist explizit am Muster marxscher Analysen orientiert (vgl. ebd., 398), setzt aber auf derselben semantischen Ebene an wie ‚neoliberale‘ Rechtfertigungsnarrative und erreicht so ein höheres Maß an Konkretion.

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noch auf die Leistung von Mensch und Maschine […] verzichten“ (ebd.). Immobilitätsfaktoren, die als „Ortsgebundenheit, Firmentreue und Verlässlichkeit Prekaritätsfaktoren“ (ebd., 402) bilden, sind daher nicht nur für das soziale Gefüge der Gesellschaft (Reproduktion, Solidarität etc.) unerlässlich – was sie auf ein für die Kapitalverwertung gleichgültiges Problem der Individuen reduzieren würde (vgl. ebd., 399f.) –, vielmehr sind sie eine Basis der Wertschöpfung.59 Ausgehend von dieser Analyse lässt sich (statt Gerechtigkeitsforderungen zu erheben) auch fragen, welche alternierenden Gestaltungsmöglichkeiten es gäbe und welche Funktionserfordernisse und sozialen Kräfte in Richtung einer Transformation wirken könnten. Hinsichtlich des durch den Stand der Produktivkräfte bestimmten prinzipiellen Möglichkeitsraums der Ausgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt das erreichte Niveau exponentieller Verschwendung in einer ‚Wegwerfgesellschaft‘, in der ein Großteil der Lebensmittel für den Müll produziert wird und selbst einst langlebige Gebrauchsgüter immer rascher durch Neuprodukte substituiert werden, hinreichend, dass relative und absolute Armutserscheinungen auch im globalen Maßstab kein Produktivitäts-, sondern ein Verteilungsproblem sind. Die sinkende Durchschnittsarbeitszeit und die international hohe Arbeitslosigkeit sind weitere Indikatoren für den hohen Stand der Arbeitsproduktivität, der sich unter kapitalistischen Bedingungen – in denen „Reichtum Armut schafft“ (Zinn 1998) – gerade in den Formen von Stagnation und Akkumulationskrisen äußert (vgl. ebd., 55f. & 75f.). Komplexer scheint die Frage nach den Grenzen, die der Ausformung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die für diese Paradoxien ursächliche kapitalistische Produktionsweise gesetzt sind. Die seit der Erschütterung des keynesianischen Glaubens an eine nahezu unbegrenzte politische Gestaltbarkeit dominierenden neoliberalen Positionen teilen diesbezüglich mit vielen Neomarxismen eine Perspektive, die den Möglichkeitsraum politischer Gestaltung durch vermeintlich eherne Gesetze ‚des Marktes‘ oder ‚der Wirtschaftsform‘ eng begrenzt sieht. Politische und soziologische Rhetoriken der Naturgesetzlichkeit, die den Rückbau sozialer und rechtlicher Absicherungsmechanismen im Zuge der ‚Globalisierung‘ als unvermeidbares Schicksal präsentieren, werden jedoch bereits durch den innereuropäischen Vergleich und die international vielfältigen „Spielarten des Neoliberalismus“ (vgl. Schmidt 2008) widerlegt. Die (trotz geteilter Grundtendenzen) heterogenen Ausprägungen, in denen globale Transformationstendenzen national durchgesetzt wurden, zeigen den fortgesetzten Einfluss und Gestaltungsspielraum des politisch-legislativen Umgangs mit ökonomischen Krisen und Forderungen. Auch auf Unternehmensseite gibt es keine einheitliche Globalisierungsstrategie, die höhere Arbeitsrechts- und Sozialstandards automatisch mit Kapitalflucht beantwortet. Lohnkosten sind durch die enorm gewachsene organische Zusammensetzung des Kapitals gerade bei Großkonzernen nur ein Faktor innerhalb komplexer Bargaining-Strategien. So sind nur 10% der deutschen Auslandsdirektinvestitionen lohnkosteninduziert (vgl. Hoffmann 2004, 39f.). In den heterogenen, sich

59 Die Abwälzung der „Immobilitätskosten“ hat daher auch notwendig Grenzen: „Irgendwo muß es schließlich einen Ort geben mit einem Mindestmaß an Stabilität, um dort eine Produktionsstätte zu errichten“ oder ein Einkaufszentrum, das „der Kunde nicht jeden Tag aufs neue suchen muss“ (Boltanski/Chiapello 2003, 407f.). Hier werden ortsansässige Arbeitskräfte ebenso benötigt wie spezifische und unflexible Kompetenzen weiter eine unbedingte Grundlage der Produktion bilden (vgl. ebd., 410f.).

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rekursiv verstärkenden Pfaden internationaler Restrukturierung (von reinen Exportstrategien bis zum Global Sourcing) behalten politische und gewerkschaftliche Akteure daher hohe (oft ungenutzte) Einflusspotenziale.60 Trotz des durch die Beschleunigung der Finanzkapitalbewegungen erweckten Anscheins unbegrenzter globaler Kapital-Mobilität bleibt die realwirtschaftliche Basis der Akkumulation zudem auf lokale Standorte und die Einbindung in regionale Netzwerke (Zulieferer, Dienstleister, materielle und kommunikative Infrastrukturen) angewiesen, die im ökonomischen Interesse an Risikominimierung und Planungssicherheit relative Stabilität erfordern, was Standortverlagerungen (v.a. im für Europa typischen Hochqualifikationssektor) mit hohen ‚Opportunitätskosten‘ verbindet. Die Betonung globaler Exit-Optionen in Tarif-, Steuer- oder Subventionsaushandlungen reduziert sich daher oft auf ein Drohszenario und Legitimationskonstrukt.61 Da sich zudem ca. 70% des europäischen Warenverkehrs im europäischen Binnenmarkt abspielen und „80 Prozent der statistischen Veränderungen im Handel, die […] als Beleg für eine Globalisierung gewertet werden“, der „Europäisierung der nationalen europäischen Ökonomien“ (ebd., 39 [Hervh. i.O.]) geschuldet sind, hätte eine europäische Wirtschaftsund Sozialpolitik erhebliche Freiheitsgrade (vgl. Bourdieu 2004c, 50-63 & 176ff.). So sehr Veränderungen der Akkumulations- und Regulationsmodi mit sich rekursiv verstärkenden Zwängen zur Umformung der Modi der Arbeitsorganisation, der Selbstführung, der Bildung und der Biographiemodelle einhergehen (s.o. IV.7f.), so wenig sind sie automatisch auf Abwärtsspiralen festgelegt, die in eine „Gesellschaft des Weniger“ (Beck 2005) führen. Die Betonung solcher Möglichkeitsräume muss nicht mit regressiven Orientierungen an der fordistischen „Normalarbeitspolitik“ (Döhl et al. 2000) einhergehen. Deren standardisiertes Lebenslauf- und Familienmodell entspricht den veränderten ökonomischen Anforderungen ebenso wenig wie den veränderten Lebensstilen und Orientierungsmustern jüngerer Lohnabhängiger. Flexibilisierung oder die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit stellen, wie oben (IV.8) gezeigt, an sich auch nicht das Hauptproblem der gegenwärtigen Konstellationen dar und können – wo sie kein reiner Euphemismus für Überausbeutung bis zum Ruin physischer und psychischer Reproduktionskapazitäten in der ‚Generation Burn-Out‘ sind – in veränderten Habitusformen als Befreiung von tradierten biographischen Einbahnstraßen angenommen werden. Hier wäre zu fragen, wie die neuen Formen der Projektarbeit, des arbeitskraftunternehmerischen Selbstmanagements oder der in Verruf geratenen Leih- und Zeitarbeit in einer den Lebensverhältnissen und Bedürfnissen der Individuen wie ihrer langfristigen Verwertbarkeit durch das Kapital gemäßeren Form gestaltet werden können, die die sozioökonomischen Bedingungen einer Steigerung und Flexibilisie-

60 Vgl. zu entsprechenden Einflussmöglichkeiten: Bourdieu 1998a, 171, 189f.; Ruikrok/van Tulder 1995; van Tulder 1999. 61 Gegen das etwa auch bei Altvater (2002) gezeichnete „Zerrbild“, dass „das Kapital […] sämtliche Fesseln abgestreift“ habe, können „selbst die transnationalen Giganten […] auf der Suche nach den niedrigsten Steuern und den schlechtesten Arbeitsbedingungen nicht permanent in der ganzen Welt herumhüpfen, weil sie durch die Struktur ihrer bestehenden Investitionen sowie die Fachkenntnisse und Netzwerke, auf die sie angewiesen sind, daran gehindert werden.“ (Crouch 2008, 48) Vgl. auch Hoffmann 2004, 41ff.; Dörre/ElkAnders/Speidel 1997; Hübner 1998.

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rung der ‚subjektiven Produktivkräfte‘ garantiert, statt sie zu zerstören. Das Haupthindernis dafür ist bislang, dass außer für eine schmale Elite von ‚Arbeitskraftunternehmern‘, die durch Qualifikation, biographische Zufälle und soziale Netzwerke begünstigt sind, neue Arbeitskraftformen einer multiplen Entwertung gegenüber den ‚Normalarbeitsverhältnissen‘ ausgesetzt sind. Diese betrifft weit über die niedrigere Entlohnung hinaus die Lebenssicherheit, den sozial- und arbeitsrechtlichen Status, die Möglichkeiten individueller und kollektiver Interessenvertretung sowie die soziale Stellung und Anerkennung innerhalb des Betriebs wie der Gesellschaft. Diese Entwertungen, die zur Ausbildung eines von Qualifikation und Leistung unabhängigen ‚Zwei-‘ oder ‚Dreiklassenarbeitsmarktes‘ führen, sind jedoch kein notwendiger Effekt der veränderten Modi der Arbeitsorganisation, sondern das Resultat davon relativ unabhängiger Interessen – an der Lohnkostensenkung auf Seiten des Kapitals und am Schönen der Arbeitslosenstatistiken und der scheinbaren Senkung der Sozialkosten auf Seiten die Politik.62 Statt der bisherigen Politik einer Abwälzung struktureller Paradoxien und Antagonismen auf die zu aktivierenden Subjekte (vgl. Lessenich 2009, v.a. 167-173) sind hier veränderte Regulationsmodi für veränderte Arbeitsformen erfordert. Oft wäre bereits die Übertragung der sozial- und arbeitsrechtlichen Standards der klassischen Normalarbeit auf neue Arbeitsformen oder die Anpassung bestehender Gesetze (etwa im Bereich des Familien- und Schwangerenschutzes) an neue Formen von Befristung und Projektarbeit und ein veränderter (für die Betroffenen weniger entwürdigender) Umgang mit temporärer Arbeitslosigkeit weiterführend. Auch im Sektor der Leih- und Zeitarbeit sind veränderte Organisationsmodi möglich. Die Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne ist hier eine notwendige aber keineswegs hinreichende Grundlage, da sie von Unternehmen rasch mit vielfältigen neuen Formen der Überausbeutung umgangen wird.63 Allerdings zahlen Unternehmen für die größere Flexibilität in der Verfügung über Arbeitskraft für rasch schwankende Verwertungsbedürfnisse ohnehin für Leiharbeit Preise, die im Verhältnis von Lohnkosten je Zeiteinheit 150-200% über den Normaltarifen liegen. Dass Leiharbeitskräfte meist untertariflich entlohnt werden, liegt an der privatwirtschaftlichen Organisation der zwischen Unternehmensnachfrage und Arbeitskraftangebot tretenden Leiharbeitsfirmen, die ihre Vermittlungsfunktion zur Grundlage erheblicher privater Gewinnabschöpfungen machen. Hier könnten alternative Organisationsformen auf genossenschaftlicher oder kommunaler Basis bislang als Gewinn vereinnahmte Anteile den Arbeitskräften als Lohn zukommen lassen, während zugleich die Verhandlungsmacht der Arbeitskraftanbieter im Verhältnis zur Unternehmensnachfrage im Interesse der Arbeitskräfte selbst genutzt werden könnte.

62 Die Senkung der Sozialkosten ist nur scheinbar, da ‚Minijobs‘ und Aufstockungsmodelle zwar die Arbeitslosenstatistik, nicht aber den Haushalt entlasten, der für Teile der Lohnkosten wie für soziale Folgekosten einsteht. 63 Eine vom Münchner „Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht“ (ZAAR) ausgerichtete Tagung unter dem Titel „Freie Industriedienstleistung als Alternative zur regulierten Zeitarbeit“ klärte Unternehmen im Dezember 2011 auf, wie sie „Leiharbeiter durch noch billigere Beschäftigte ersetzen können“. Das Zukunftsmodell sind Werkverträge für Einzeldienste, die von allen bestehenden und vorgesehenen Regulierungen für Leiharbeit ausgeschlossen bleiben und eine nach unten offene Unterlaufung aller Lohn- und Rechtsstandards erlauben. Das Bundesarbeitsministerium sieht hier selbstverständlich „keinen Handlungsbedarf“ (Bognanni/Pennekamp 2011, 27).

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Solche Optionen im Sinne eines ‚optimalen Plans‘ auszubuchstabieren, kann nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis kritischer Wissenschaft nicht Aufgabe dieser Arbeit sein. Ihre Andeutung sollte nur gegenwärtige Möglichkeitsräume jenseits der binären Opposition eines politizistischen Glaubens an die grenzenlose Steuerbarkeit der kapitalistischen Ökonomie und des fatalistischen Ökonomismus einer durch ökonomische Zwänge kausal determinierten Politik konkretisieren. Hier liegt allerdings die Frage nahe, ob die aktuelle Staatsschuldenkrise diesen Möglichkeitsraum nicht tatsächlich radikal reduziert. Schließlich ist die aktuelle politische Rhetorik – in der die vertraute liberale Geißelung des ineffizienten Staates und der Anspruchsinflation der Bürger die nach der Finanzkrise aufgekommenen Debatten um die Neuregelung des globalen Finanzwesens wieder zunehmend verdrängt – von der Überzeugung getragen, dass die Überschuldung kreditabhängiger Staatshaushalte eine Fiskalpolitik der Konsolidierung durch Ausgabenkürzung erzwingt, die den eingeschlagenen Entwicklungspfad des Rückbaus von Sozialstandards, der Privatisierung öffentlicher Güter und der Aushöhlung der Klassenkompromisse weiter forciert.64 Der oben (V.4.3) mit Marx herausgearbeitete Staatsschuldenmechanismus scheint verbreitete Ängste einer einseitigen Verschiebung der Dominanzverhältnisse zugunsten des Finanzkapitals (vgl. selbst Luhmann 1988b, 322) auf den ersten Blick zu bestätigen. Genauer betrachtet stellt sich das Verhältnis der Finanz- und der Staatsschuldenkrise, die nur zwei miteinander zusammenhängende Seiten einer tief greifenden Krise des gegenwärtigen Akkumulationsmodus bilden, aber komplexer und ambivalenter dar. Auch jenseits der exorbitanten Staatsausgaben und Neuverschuldungen zur Bewältigung der Finanzkrise seit 2008 stehen Politik und Finanzsektor in einem so engen Verhältnis struktureller Co-Abhängigkeit, dass eine einseitige Determination und Entautonomisierung für beide Seiten destruktiv wäre. Staatsanleihen sind einerseits ein zu wichtiger Faktor des globalen Spekulationswesens, als dass die Kreditgeber Staatsbankrotte leichtfertig riskieren könnten.65 Andererseits ist die Staatsschuld nur eine (noch relativ risikoarme) Form ungedeckter Schuldscheine auf die Zukunft der Produktion, die als ‚fiktives Kapital‘ die nominelle Wertgrundlage der immer höherstufigen Finanzderivationen in einem immer riskanteren Finanzsektor bilden, der gerade aufgrund seiner von der Realwirtschaft unabhängigen Eigendynamik und der daraus resultierenden Instabilität langfristig stets auf externe Stabilisierungsmechanismen angewiesen war. Die historische Erfahrung zeigt, dass große 64 Marx monierte an der liberalen Kritik, dass sie Probleme oberflächlich korrekt identifiziere, aber ausblende, wie „diese Staatseinflüsse, public debt, taxes etc. selbst aus den bürgerlichen Verhältnissen hervorwachsen und daher […] keineswegs als Resultate des Feudalismus, sondern vielmehr seiner Auflösung […] erscheinen“ (MEW 42, 5). 65 Die „Finanzaristokratie“ sind „nicht nur die großen Anleihunternehmer und Spekulanten in Staatspapieren […], von denen es sich sofort begreift, daß ihr Interesse mit dem Interesse der Staatsgewalt zusammenfällt. Das ganze moderne Geldgeschäft, die ganze Bankwirtschaft ist auf das innigste mit dem öffentlichen Kredit verwebt. Ein Teil ihres Geschäftskapitals wird notwendig in schnell konvertiblen Staatspapieren angelegt und verzinst. Ihre Depositen, das unter ihnen zur Verfügung gestellte und von ihnen unter Kaufleute und Industrielle verteilte Kapital strömt teilweise aus den Dividenden der Staatsrentner her. Der ganze Geldmarkt und die Priester dieses Geldmarkts, wenn zu jeder Epoche die Stabilität der Staatsgewalt Moses und die Propheten für sie bedeutet hat, wie nicht erst heute, wo jede Sündflut mit den alten Staaten die alten Staatsschulden wegzuschwemmen droht?“ (MEW 8, 182f.)

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Finanzcrashs stets zu politischen Regulationsarrangements führten (vgl. Krugmann 2009), in denen eine relativ autonome Politik erfordert war, um Funktionen der kollektiven „Ordnungsmacht“ einer „herrschenden Klasse“ zu übernehmen, die sich sonst „um kurzfristiger Interessen willen selbst das Wasser abgräbt“ (Bourdieu 2010b, 319). Trotz verbreiteter Hoffnungen scheinen neo-keynesianische Regulationen in der aktuellen Krisenkonstellation allerdings kurzfristig unwahrscheinlich.66 Vieles spricht für die Einschätzung Heinrichs (vgl. 2008a, 58f.), dass eine Verschiebung der Regulationsmodi erst nach der nächsten Krise zu erwarten ist. Ausgehend von Funktionserfordernissen der Kapitalverwertung lässt sich aber illustrieren, warum gerade die Fortsetzung des seit den 1970er Jahren eingeschlagenen Entwicklungspfades mittelfristig nicht nur neue Regulationen des Finanzsektors, sondern einen insgesamt veränderten Akkumulationsmodus und entsprechend veränderte Formen kapitalistischer Vergesellschaftung wahrscheinlich macht, die auch auf neue Lohn- und Sozialstandards und neue Klassenkompromisse angewiesen sein werden. Bereits die Vorbeben zur aktuellen Krisenkonstellation zeigten, dass die bis heute praktizierte Politik die Problemlagen, auf die sie reagiert, verstärkt. Auf die „spekulative Bedrohung“ (Krugmann 2009, 131ff.) durch eine Finanzökonomie, die latente volkswirtschaftliche Krisentendenzen durch Abzug von Kapital, sinkende Kreditwürdigkeit, steigende Zinsen für Kapitalanleihen oder gezielte Spekulation gegen Währungen rasch zu akuten Krisen zuspitzen kann (vgl. Bourdieu 1998a, 177; 2004c), reagieren die Staaten mit Maßnahmen, die ‚die Märkte beruhigen‘ bzw. ‚das Vertrauen der Märkte gewinnen‘ sollen. Das neoliberale Grundrezept dieses „Vertrauensspiels“ (Krugmann 2009,133ff.), das der IWF seit den 1990er Jahren angeschlagenen Volkswirtschaften verordnete und das gegenwärtig die EU ihren Mitgliedern verschreibt, besteht in einer restriktiven Fiskalpolitik der Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenkürzung und der Herstellung attraktiver Kapitalanlagebedingungen durch niedrige Lohnstandards und Steuerlasten. Beides wirkte in der Lateinamerikakrise und der Asienkrise der 1990er Jahre (wie einst in der großen Depression) krisenverschärfend (vgl. ebd., 122-141). Eine nur an den „Vorurteilen und Launen des Marktes“ orientierte Politik, die langfristige Regulation durch „psychologisches Dilettieren“ (ebd., 136) und Strategien „symbolischer Selbstkasteiung“67 (ebd., 139) ersetzt, hat kurzfristig nur geringe Erfolgsaussichten und führt mittelfristig zur weiteren Destabilisierung der globalen Finanzmärkte und zur Verschärfung der den 66 Vgl. zu neo-keynesianischen Hoffnungen: Krugmann 2009; Vester 2006, 292f.; Bourdieu 2004c. Trotz einiger Lippenbekenntnissen zur Regulation des Finanzsektors, trotz quasikeynesianischen Konjunkturbelebungen und ungeachtet von Überlegungen zu Finanztransaktionssteuern im Promillebereich bleibt die Real-Politik neoliberal (vgl. Crouch 2011). Dass die Staaten seit 2008 Funktionen als öffentliche Ersatzkasse des Finanzkapitals übernahmen, setzte nur die Politik der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Kosten fort. Bereits die Gegenfinanzierung der Bankenrettung setzte auf restriktive Sparpolitik im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich, die im Zuge der Staatsschuldenkrise weiter forciert wird, während Belastungen der Kapitalseite (‚Reichensteuer‘, Kapitalertrags- und Finanztransaktionssteuer) umstritten sind. 67 Grundformel solcher Selbstkasteiung ist das Eingeständnis, dass ‚wir über unsere Verhältnisse gelebt‘ hätten und ‚den Gürtel enger schnallen müssen‘. Übergangen wird, dass die Krise nicht aus einem Mangel resultiert, sondern aus Überproduktion und Unterkonsumtion durch disproportionale Verteilung. Die Rhetorik folgt dem Prinzip: „Tu dir weh – ob dies mit den Ursachen der Krise nun etwas zu tun hat oder nicht“ (Krugmann 2009, 139).

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aktuellen Krisenkonstellationen zugrunde liegenden Überakkumulations- und Unterkonsumtionskrise, die nur ein veränderter Akkumulations- und Regulationsmodus überwinden könnte. Die Unruhe der Finanzmärkte, auf die die Politik mit ‚Marktberuhigungsversuchen‘ reagiert, ist selbst ein Produkt der Politik der De-Regulierung, die zur Anreizung der Ökonomie durch kurzfristige Spekulationsgewinne stabilisierende Kontrollmechanismen abbaute (s.o. 4.3). Solange die Bedingungen der Finanzkrisen (hochspekulative Derivatengeschäfte, Scheinverkäufe, Hedge-Fonds, Blasenbildungen, Verflechtung von Ratingagenturen und aktiven Finanzakteuren) nicht durch legislative Regulation und Stärkung der Aufsichtsbehörden kontrolliert werden, geben staatliche Rettungsaktionen nur Zusatzanreize für Hochrisikospekulationen. Schließlich ist es individuell nur rational, die „Regeln solider Kreditgeschäfte“ zu brechen, wenn das „Spiel auf dem Rücken der Steuerzahler statt[findet]“ (Krugmann 2009, 79). Solange die Möglichkeiten von Währungsspekulationen und die Kreditabhängigkeit der Haushalte nicht aktiv eingeschränkt werden,68 verstärkt ein reaktives Verhalten auf je aktuelle Marktunruhen die Ursachenkonstellationen. Die seit dem Finanzcrash 2008 gestiegene Grundunruhe der Märkte erinnert daran, dass (wie auch Vertreter des Neo-Liberalismus wussten; s.o. IV.7) gerade Geld und Kredit als zentrale Medien einer marktkapitalistischen Ökonomie einer institutionalisierten Regulation bedürfen, die selber nicht marktförmig ist. Während die Wirtschaftspolitik derzeit eher auf die nächste Spekulationsblase für einen kurzfristigen Scheinaufschwung zu hoffen scheint, wird mittelfristig eine neue Regulation unvermeidbar sein.69 So offenkundig ein Regulationsbedarf des Finanzsektors ist und so sehr aktuelle Debatten auf diesen Aspekt der Krisenkonstellation konzentriert sind, ist die für die Finanzkrise ursächliche Krise des Akkumulationsmodells durch derartige Regulationen allein nicht überwindbar. Auch neoklassische Ökonomen bemerkten bereits vor der Finanzkrise eine globale Rezession, die durch Entwicklungen im Finanzsektor verschärft wurde, deren Ursachen aber in der einseitig angebotsorientierten neoliberalen Wirtschaftspolitik lagen, die bei steter Erweiterung der Produktionskapazitäten gerade in entwickelten Industrieländern (v.a. den USA) zu stagnierender oder rückläufiger Konsumtionskraft der Lohnabhängigen führte (vgl. Thurow 1996; Krugmann 2009). Die hohe Investitionsgüternachfrage durch sich ablösende Spekulationsblasen, die Exportmöglichkeiten dank steigender Konsumnachfrage in den Schwellenländern und der kreditbasierte Privatkonsum konnten das temporär kompensieren, verschärften aber das Grundproblem. Die zunehmende soziale Spaltung wirkte so nicht nur sozialpolitisch, sondern auch ökonomisch kriseninduzierend: Auf Seiten der Einkommensstärkeren erhöht sie das über den Konsum hinausgehende, nach Verwertung 68 Hier wären Besteuerungsmodelle, die Kapitaltransaktionen und -erträge stärker betreffen, sinnvoll. Darüber hinaus ist eine temporäre oder partielle Verstaatlichung nicht nur der Risiken und Kosten, sondern auch potenzieller Gewinne nicht automatisch mit „Staatssozialismus“ verbunden. Neo-Keynesianer wie Krugmann sehen eine „befristete Verstaatlichung eines beträchtlichen Teils des Finanzsystems“ als unumgänglich (Krugmann 2009, 217). 69 Krugmann (vgl. 2009, 165-179) zeigt, dass die Krise nur deshalb erst 2008 eintrat, weil sich beim Platzen der Dotcom- und Aktienblase die Immobilienblase weit genug aufgebaut hatte, um die Spekulationsökonomie am Laufen zu halten. Die Satirezeitschrift The Onion titelte nach der Finanzkrise: „Rezessionsgeplagtes Land fordert neue Blase zum Investieren“ (zit. in: ebd., 218).

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suchende virtuelle Geldkapital, auf der größeren Seite der Einkommensschwachen senkt sie die effektive Nachfrage, die jede realwirtschaftliche Akkumulation langfristig erfordert. Die daraus resultierenden Verwertungskrisen drängen dann wiederum große Teile des virtuellen Geldkapitals auf die Bahn der Spekulation. Kurzfristige Konjunkturpakete für einzelne Sektoren (wie die ‚Abwrackprämie‘) schaffen nur kurzfristig Abhilfe. Gerade die Wirtschaftssektoren und Leittechnologien, die als potenzielle Grundlage eines neuen Kondratieffzyklus fungieren könnten (Gesundheit, Wellness, Freizeit, nachhaltige Energie), setzen einen langfristigen und breit streuenden Anstieg der Reallöhne und Transfereinkommen voraus, um einen neuen realen Akkumulationsschub (und nicht nur neue Spekulationsblasen) zu garantieren.70 Anders als Neo-Keynesianer wie Krugmann (vgl. 2009, 211-219) glauben, reichen Rückgriffe auf eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik aber nicht aus, um die Krisenkonstellation zu überwinden. Wie oben theoretisch (III.2.2) und historischsoziologisch (IV.6f.) gezeigt, waren alle grundlegenden Krisen eines Akkumulationsmodells Synthesen aus Unterkonsumtions- und Überakkumulationskrisen, betrafen also (mit je unterschiedlicher Gewichtung) sowohl die Produktionsseite realwirtschaftlicher Wert(ab)schöpfung als auch die effektive Nachfrage. Die neokeynesianische Erhöhung von Löhnen und Staatsquote greift daher ebenso zu kurz wie ihre neoliberale Senkung.71 Bei stationärem Zustand der gesellschaftlichen Produktivkräfte und der Produktion des relativen Mehrwerts drücken übermäßige Lohnerhöhungen die Profitrate und blockieren, trotz erhöhter Konsumtionskraft, den Akkumulationsmotor, der vice versa bei Lohnsenkung von der Nachfrageseite abgewürgt wird. Wie in allen bisherigen Transformationen der Akkumulationsmodi wäre zur Überwindung der Krise, in einem neuen Kondratieffzyklus, eine Erhöhung der relativen Mehrwertrate durch Innovationen auf der Ebene der Produktivkräfte erfordert, um temporär den parallelen Anstieg von Profitrate und Lohnhöhe zu ermöglichen. Die Ausbildung neuer Regulations- und Akkumulationsmodi ist, wie oben (IV) gezeigt, eine historisch langwierige Angelegenheit. Sie hängt von der Koinzidenz zahlloser Bedingungen und ambivalenter Bestrebungen ab und kann durch politische Entscheidungen (die nur ein Einflussfaktor sind) nicht einfach ‚hergestellt‘ werden. Aus demselben Grund lässt sich die konkrete Gestalt künftiger Konstellationen kapitalistischer Vergesellschaft auch nicht theoretisch deduzieren. Allerdings spricht einiges dafür, dass in der aktuellen Konstellation neo-keynesianische Positionen mittelfristig größere Wirksamkeit entfalten könnten. Insofern der gegenwärtige Akkumulationsmodus (wo er nicht nur auf der bloßen Umverteilung des gesellschaftlichen Gesamtprodukts zugunsten des Kapitals beruht) auf der Erhöhung des relativen Mehrwerts durch Steigerung subjektiver Produktivkräfte (Flexibilisierung, lebenslanges

70 Die Spekulation auf pharmazeutische Innovationen wird durch Absatzmärkte begrenzt, die von öffentlichen Versicherungssystemen abhängen. Global bleibt etwa die HIV-Forschung hinter den Möglichkeiten zurück, da primär betroffene afrikanische Populationen keinen relevanten Markt darstellen. Ähnlich erfordern die Kosten ‚grüner Energie‘ einen ‚grünen New Deal‘ zur entsprechenden Erhöhung der Konsumtionskraft. 71 Hier haben Neoliberale und Neo-Keynesianer als epistemologische Komplizen in einem Verhältnis von Einseitigkeit auf Gegenseitigkeit gleich (un-)recht. Vgl. den schönen Dialog bei Mandel 1987, 244f.

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Lernen, Selbstmanagement etc.) basiert (s.o. IV.7f.), drängt der oft aufgezeigte Widerspruch dieses Akkumulationsmodus – die Steigerung der subjektiven Produktivkräfte zu fordern und sie gleichzeitig durch Prekarisierung der Lebenslagen und Entwertung der Arbeitskraft zu behindern – zur Aufhebung. Die mittelfristige Erhöhung der Reallöhne ebenso wie neue Formen der Absicherung und Umverteilung und neue Modi gesellschaftlicher Partizipation in neuen Klassenkompromissen und Aushandlungsarrangements wären so gerade für den längerfristigen Anstieg der Profitrate erfordert, da erst die Steigerung der subjektiven Produktivkräfte bei einer Mehrzahl verwertbarer Arbeitskräfte die Verwertungsbedingungen des Gesamtkapitals verbessern würde. Bourdieus (2004c) Forderungskatalog einer nachhaltigen europäischen Sozialpolitik – einschließlich der Regelung des den „nationalen Gegebenheiten angepassten Mindestlohns, der Arbeitszeit oder der beruflichen Integration junger Menschen“ (ebd., 139; vgl. ebd., 86f.) und einer „Umverteilung der Arbeit (z.B. über eine massive Verkürzung der Arbeitszeit auf europäischer Ebene)“, die „untrennbar mit einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen der Zeit der Produktion und der Zeit der Reproduktion verknüpft wäre“ (ebd., 112f.)72 – liegt hier langfristig auch im objektiven Interesse des ‚ideellen Gesamtkapitals‘. So wahrscheinlich mittelfristige Veränderungen des Akkumulationsmodells in diese Richtung sind – nicht aus sozialen Erwägungen, sondern aus funktionellen Erfordernissen des Akkumulationsprozesses –, werden sie sich nicht automatisch und auch nicht durch die von Keynes (vgl. 1936) oder Krugmann (vgl. 2009, 222) beschworene ‚Kraft der Ideen‘ durchsetzen. Jede historische Veränderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik war auf soziale Bewegungen zu ihrer Durchsetzung angewiesen (vgl. Bourdieu 2004c, 140), und das Beharrungsvermögen des neoliberalen Politikmodells in der derzeitigen Krisenkonstellation (vgl. Crouch 2011) lässt erwarten, dass solche Transformationen nicht ohne eine gesteigerte Krisenhaftigkeit und nicht ohne soziale Kämpfe möglich sind, durch die „der ganz untheoretische Druck von unten“ (Vester 2006, 292) wächst. Erst in solchen Konflikten entscheidet sich, in welchen politischen Handlungskorridoren gegebene Möglichkeitsräume genutzt und gestaltet – oder verspielt werden. Die Sphäre politischer Praxis und des Staates sind dabei weder Instanzen, die über die Ausgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse frei disponieren, noch sind sie bloße Reflexe ökonomischer Zwänge oder bloße Instrumente der ‚herrschenden Klassen‘. Staatliche Politik ist ein Ausdruck von unter gegebenen Bedingungen bestehenden Kräfteverhältnissen und fungiert daher nur im Ergebnis der Kämpfe, Koalitionen, Aushandlungsarrangements und Kompromisse verschiedener ökonomischer, politischer und sozialer Strömungen als strukturbildendes Medium der Reproduktion und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung. Das stellt vor die Frage, welche Strömungen auf Transformationen in Richtung der hier skizzierten Grundtendenzen hinwirken könnten. Obwohl die Wahrscheinlichkeit akuter ökonomischer und politischer Krisensymptome gegenwärtig hoch bleibt, also eine klassische Bedingung der Formierung sozi-

72 Möglich wäre dies, da sich (wie schon Marx beobachtete) „Arbeitszeitverkürzung“ durch „Steigerung der Produktivität teilweise selbst finanziert“, während sie für den Fiskus die „Freistellung enormer Summen mit sich bringt, die sonst zum Auffangen der Arbeitslosigkeit verwendet werden müßten“ (Bourdieu 2004c, 82).

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aler Bewegungen gegeben ist, hat die Geschichte oft gezeigt, dass die vulgärmarxistische Gleichung Krise = Organisation der Gegenkräfte zur gesellschaftlichen Umwälzung nicht aufgeht. In der hier vertretenen Perspektive kann angesichts der vielfältigen herausgearbeiteten Fragmentierungen von einem homogenen Kollektivsubjekt sozialen Wandels ebenso wenig ausgegangen werden, wie koordinierte soziale Gegenbewegungen von Seiten der durch die jüngsten Entwicklungen am stärksten betroffenen Gruppen zu erwarten sind. Bourdieus (vgl. 2000a, 87-102) Untersuchungen zum algerischen Subproletariat wie spätere Diagnosen zum „Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) zeigen, dass „realistischere revolutionäre Tendenzen […] gerade nicht in absoluter Ungewissheit und Unstabilität der Lebenslagen auftreten“, sondern nur bei jenen Gruppen, die „über jenes Maß an ökonomischer und sozialer Sicherheit verfügen, das für eine geordnete Vorstellung der Zukunft erforderlich ist“ (Bourdieu 1992b, 25f.). Gewalttätige Unruhen, wie sie regelmäßig in französischen Banlieus aufflackern und 2011 in der Londoner City eskalierten, sind gerade ein Ausdruck der Unfähigkeit zur Formulierung und Vertretung eigener Interessen (vgl. auch Castel 2008, 384f.; Bourdieu 2001c, 298ff.). Gerade die fortschreitende Prekarisierung und der Verlust der Zukunftssicherheit machen eine Bewegung der Abgehängten – die über verstärktes individuelles Devianzverhalten oder kollektive Revolten hinausginge – daher unwahrscheinlich (was jedoch nie unmöglich heißt).73 Die sich in der Krise der politischen Repräsentation äußernde Ablehnung, die das parteiübergreifend forcierte neoliberale Politikmodell bei einer verschiedene Varianten solidarischer Sozialmodelle in der Tradition der ‚Arbeitnehmergesellschaft‘ präferierenden Mehrheit findet,74 aber auch die mit wachsendem Bildungskapital steigenden Reflexionskapazitäten und Partizipationsansprüche bei gleichzeitig wachsender Fragwürdigkeit des derzeitigen Politikmodells lassen jedoch erwarten, dass sich der in den letzten Jahren zeigende Trend zur weltweiten Zunahme sozialer und politischer Protestbewegungen auf lokaler und globaler Ebene fortsetzen wird, nicht zuletzt, da für eine Generation, die höher als je zuvor qualifiziert und zugleich am stärksten mit Prekarität und Perspektivlosigkeit konfrontiert ist, die Paradoxien kapitalistischer Vergesellschaftung auch wieder lebensweltlich evident werden (wenn auch in Spanien, Italien und Griechenland vorläufig noch deutlicher als etwa in der

73 In der BRD konzentrieren sich solche Gruppen im durch geringes Bildungskapital charakterisierten (sozialräumlich am rechten Rand lokalisierten), ca. 27% der Bevölkerung umfassenden Lager der „Enttäuscht-Autoritären“, die sich politisch eher passiv verhalten, in ihrer Enttäuschung von der etablierten Politik, die sich mit Ressentiments gegen Modernisierung, Randgruppen und Ausländer verbindet, aber auch als Protestwähler rechtspopulistischer Strömungen aktivierbar sind (vgl. Vester 2006, 285f.; Vester et al. 2001, 464-472). 74 Die Krise der politischen Repräsentation im „Auseinanderdriften“ der politischen Elite und jener „60% der Bevölkerung, die über die Krise des bisherigen Sozialmodells ‚verdrossen‘“ sind (Vester et al. 2001, 428), verweist nicht auf eine relevante und homogene ‚Gegenmacht‘. Die Gründe der Unzufriedenheit sind ebenso heterogen wie die Vorstellung eines solidarischen Sozialmodells – das etwa im Lager der „Sozialintegrativen“ auf Solidarität auf Augenhöhe (vgl. ebd., 446ff.), bei den „Traditionell-Konservativen“ auf hierarchische und paternalistische Modelle hinausläuft (vgl. ebd., 460ff.). Ebenso ist Unzufriedenheit nicht mit aktiver Politisierung gleichzusetzen. Sie kann vielmehr in den großen Lagern der „Skeptisch-Distanzierten“ (vgl. ebd., 454ff.), der „Gemäßigt-Konservativen“ (vgl. ebd., 457ff.) und der „Enttäuscht-Apathischen“ (vgl. ebd., 464ff.) mit vielfältigen Formen einer De-Politisierung einhergehen.

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BRD). Aus denselben Ursachenkonstellationen dürften die fortschreitende Entautonomisierung der Felder kultureller Produktion und entsprechende Kapazitäten intellektuellen Engagements und ihrer Koalition mit sozialen Bewegungen im Sinne Bourdieus zunehmen (s.o. 3.3.4). Das Ausmaß, in dem Fragen der konkreten Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung wieder in öffentliche Debatten oder auch in soziologische Tagungen und Publikationen zurückgekehrt sind, zeigt die Zunahme reflexiver Potenziale, die ihrerseits auf eine Umgestaltung der Akkumulations- und Regulationsmodi drängen. Allerdings ist ein ‚revolutionärer‘ oder ‚reformatorischer Optimismus‘, der sich von Marx bis Bourdieu stets auf Tendenzen einer Verallgemeinerung der Reflexionspotenziale bei zugleich wachsender kollektiver Perspektivlosigkeit innerhalb des gegebenen Akkumulationsmodus75 und die Allianz von kritischen Intellektuellen und Massenbewegungen stützte, eher mit Vorsicht zu behandeln. Aktuelle Protestbewegungen (etwa die bereits wieder versandete Occupy-Bewegung) wie neue Versuche parteipolitischer Organisation (etwa die Piratenpartei) zeigen auch, dass die ‚Krise der Repräsentation‘ nicht nur die etablierten Parteien, sondern generell die traditionellen Modelle der hierarchischen Organisation, Delegation und Stellvertretung von Interessen betrifft. Das Fehlen klarer und verbindlicher Programmatiken und der offene, diffuse Charakter der politischen Profile und Ziele zeigen ein verbreitetes Misstrauen gegen tradierte intellektuelle Stellvertretungs- und Führungsansprüche oder hierarchische Modelle der Parteiorganisation. Angesichts der verhängnisvollen Geschichte jakobinischer und leninistischer Politikmodelle oder der von Bourdieu und Foucault kritisch reflektierten Problematik klassischer intellektueller Stellvertretung (s.o. II.4) ist diese Suche nach neuen emanzipatorischen, partizipativen, reflexiven und dynamischen Modi politischer Selbstorganisation unabdingbar (vgl. Bourdieu 2004c, 178ff.). Gegenüber solchen langwierigen Suchbewegungen kann die eingespielte repräsentativdemokratische Maschinerie aber auch langfristig Möglichkeiten des postdemokratischen ‚Durchregierens‘ durch austauschbare Parteien eröffnen, die sich von wachsender ‚Politikverdrossenheit‘ und regelmäßig aufflackernden Protesten nicht irritieren lassen müssen.76 Die Zukunft scheint damit für heterogenste Entwicklungspfade offen und mit konkreten Prognosen, wo sie nicht die langfristig wirkenden Entwicklungstendenzen, sondern die konkreten Ausgestaltungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsformation

75 Bourdieu erwartete etwa von der „geprellten Generation“ der Bildungsaufsteiger, dass die „Abkopplung der objektiven Chancenlage von den […] subjektiven Erwartungen das Verhaftetsein der beherrschten Klassen […] an den bislang stillschweigend akzeptierten Zielsetzungen der Herrschenden tiefgreifend unterminiert und […] eine wirkliche ‚Umwertung der Werte‘ ermöglicht.“ (Bourdieu 1999, 276) 76 Vester (vgl. 2006) betont, dass eine „konservative Abmilderung krasser sozialer Polarisierung […] nicht ausreichen“ wird, da die modernen Milieus anderes fordern „als eine Rückkehr in die sichere, aber bevormundende Hierarchie der 1950er Jahre“ (ebd., 293). Er verweist aber zugleich (durchaus in Spannung zum von ihm meist gepflegten moderaten Optimismus hinsichtlich der Durchsetzung emanzipatorischer und progressiver Potenziale) auf die Möglichkeit, dass in der BRD „ein Machtkartell der beiden Volksparteien mit seiner überwältigenden Mehrheit es sich durchaus leisten kann, nach rechts und links immer wieder Stimmen zu verlieren“, und doch dank der permanenten Option der „großen Koalition über viele Wahlperioden weiterzuregieren“ (ebd., 292) in der Lage wäre.

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oder die unmittelbare Richtung kommender sozialer Bewegungen betreffen, war Soziologie noch nie besonders erfolgreich, so dass sie an dieser Stelle unterbleiben sollten. Unabhängig von der Wahrscheinlichkeit tieferer Verschiebungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung in absehbaren Zeithorizonten wäre es für die Soziologie, wenn sie sich in entsprechende Debatten mit soziologischen, d.h. von anderen Positionen unterscheidbaren, Argumenten einmischen will, sinnvoll, sich auf begriffliche Instrumente zu besinnen, die es ermöglichen, Zusammenhänge und Bedingungsverhältnisse zu fassen, die Phänomene ursächlich erklärbar machen und damit auch Ansatzpunkte des Eingreifens aufzeigen. Die Klassenkonzepte von Marx und Bourdieu bieten dafür nach wie vor erhebliche Potenziale.

VI Fazit und Ausblick

„Ich glaube, dass man die Bescheidenheit haben muss, sich zu sagen, dass einerseits der Moment, in dem man lebt, nicht dieser einmalige, grundlegende oder hereinbrechende Moment der Geschichte ist, von dem aus alles sich vollendet und alles neu beginnt; man muss die Bescheidenheit haben sich zugleich zu sagen, dass – selbst ohne diese Feierlichkeit – der Moment, in dem man lebt, sehr interessant ist und verlangt, analysiert zu werden […,] und dass wir uns in der Tat die Frage zu stellen haben: Was ist heute?“ MICHEL FOUCAULT (2005, 543)

Am Ende des vorliegenden Bandes, der durch seinen Umfang und den verästelten Gang der Argumentation dem Leser mitunter einiges abverlangt haben mag, scheint die Frage angebracht, was über alle Einzelanalysen hinaus den greifbaren Ertrag der vorangegangenen 600 Seiten ausmacht. Dieser Ertrag kann im hier vertretenen Verständnis von kritischer Wissenschaft nicht in klaren Handlungsanweisungen, politischen Forderungen oder strategischen Schlussfolgerungen bestehen. Ebenso wenig sinnvoll ist es, abschließend in jenen prophetischen Gestus zu verfallen, der den analytischen Gehalt gerade der marxschen Schriften so oft überlagerte und in den bis heute viele Arbeiten zum Kapitalismus münden, ganz gleich ob sie gegen alle bisherigen Erfahrungen einmal mehr sein unausweichlich (und möglichst bald) bevorstehendes Ende verkünden (vgl. u.a. Mandel 1987a; Altvater 2005) oder ihn umgekehrt – trotz aller latenten oder akuten Krisentendenzen und Destruktionsdynamiken – zur letzten alternativlosen Vergesellschaftungsform und zum ‚Ende der Geschichte‘ erklären (vgl. u.a. Münch 2009). Da die Zielstellungen dieser Arbeit primär wissenschaftlichen Charakter hatten und auch der kritische Gehalt der Sozialwissenschaft im hier entwickelten Verständnis nur epistemologisch, also durch den aufklärungsorientierten Zuwachs an Wissen, begründbar ist, soll sich auch das Fazit auf die Zusammenfassung einiger zentraler theoriesystematischer und gegenstandsbezogener Ergebnisse konzentrieren und an einem weiteren möglichen Anwendungsfeld einige Potenziale der hier entwickelten Perspektive für vertiefende Detailanalysen konturieren. Abschließend bleibt dann noch die Frage zu klären, welchen Beitrag eine kritisch-funktionale Analyse im hier entwickelten Sinne für eine praxisbezogene Gesellschaftskritik und für die Weiterentwicklung einer kritischen Sozialwissenschaft zu leisten vermag.

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Das die vielfältigen Einzelfragestellungen und Analysen integrierende Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, in einer zugleich theoriesystematischen und anwendungsorientierten Auseinandersetzung mit den Erkenntnisperspektiven von Marx, Foucault und Bourdieu eine mögliche Antwort auf die Frage „Was ist heute?“ (Foucault 2005, 543) zu entwickeln – die ja nach Foucault (vgl. 1992) auch eine zentrale Frage der Aufklärung war. Dazu wurden wesentliche Funktions- und Strukturprinzipien moderner (kapitalistischer) Formen der Vergesellschaftung im Kontext ihrer historischen Genese und ihrer Wandlungsprozesse rekonstruiert. Allein das Aufdecken, Erklären und Ausräumen einer Reihe von Einseitigkeiten und Verkürzungen, die in der bisherigen Rezeption der Ansätze von Marx, Foucault und Bourdieu sinnvolle Anknüpfungen und Analysemöglichkeiten oft blockierten, ist dabei schon ein wichtiges Ergebnis. Dafür war es entscheidend herauszuarbeiten, dass die heterogenen Studien und Analysen dieser Autoren in unterschiedlichen Perspektiven das zentrale Problemfeld der historischen Genese und der Metamorphosen des Kapitalverhältnisses sowie der entsprechenden Wandlungen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung miteinander teilen. Auf dieser Grundlage konnten wechselseitige Affinitäten und Ergänzungspotenziale dieser einander oft entgegengesetzten Ansätze auf der Ebene der Begriffe, Analyseraster und Theoriedispositionen freigelegt und in ihrer Anwendbarkeit diskutiert werden. Dies bot eine theoriesystematische Grundlage, um gegenstandsbezogen aufzuzeigen, dass entsprechende Analyseraster es erlauben, Defizite zu korrigieren, die in vielen Zeitdiagnosen des 20. Jahrhunderts bis in die jüngsten Kapitalismusdebatten daraus resultierten, dass Soziologie sich hier auf Gegenwartsdeskriptionen auf der Grundlage der Überpointierung einzelner Phänomene beschränkte, ohne hinreichend nach den gesellschaftlichen Bedingungszusammenhängen und ihren historischen Genealogien zu fragen. Dabei wurde deutlicht, dass angesichts der Persistenz der kapitalistischen Gesellschaftsformation und des ungebrochen Einflusses ihrer ökonomischen Entwicklungs-, Wachstums und Krisendynamiken auf andere Dimensionen der gesellschaftlichen Verhältnisse – ob in Konsum, Wissensproduktion oder Politik – die funktionellen Interdependenzbeziehungen mit der Wirtschaftsform einen Schlüssel für das analytische Verständnis weiterer Zusammenhänge und Erscheinungen der Gegenwartsgesellschaft bilden. Die Verschaltung der Theorien und Konzepte von Marx, Foucault und Bourdieu vermag einen produktiven Beitrag zu leisten, um solche Analysen jenseits ökonomistischer Reduktionen und jenseits simpler Kausalmechaniken anzugehen. Im zweiten Teil dieser Arbeit wurden zu diesem Zweck grundlegende Überschneidungen und Verknüpfungsmöglichkeiten der drei Bezugsperspektiven hinsichtlich der Gegenstandsbereiche (II.1), der zu ihrer Untersuchung in Anschlag gebrachten Forschungsprogramme (II.2) sowie der Theoriedispositionen (II.3) und Kritikverständnisse (II.4) herausgearbeitet. Dabei konnte zunächst auf einer theoriesystematischen Ebene gezeigt werden, dass Marx’ Forschungsprogramm des historischen Materialismus nicht auf den ihm oft vorgeworfenen Determinismus und Ökonomismus hinausläuft, sondern stattdessen ein entwicklungsoffenes Programm zur Analyse komplexer Interdependenzen und wechselseitiger Bedingungsrelationen zwischen heterogenen Aspekten der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Ebenso stellen Foucaults Machtanalytik oder seine Analysen der modernen Regierungsformen weder eine allgemeine Theorie der Macht, noch eine nur auf die innere Logik

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der Machtmechanismen und Regierungsformen bezogene Analyseform dar. Vielmehr ist die Untersuchung von Machttechniken, Dispositiven und Regierungsformen stets verschränkt mit der Analyse der historischen Genese des Kapitalismus und der Untersuchung der Formwandlungen, welche die kapitalistische Wirtschaftsform seit dem 18. Jahrhundert durchlaufen hat. Erst in diesem Zusammenhang – der Metamorphosen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse – lassen sich auch die entsprechenden Veränderungen der Machtdispositive, der Modi der Vergesellschaftung und der Subjektivierungsformen adäquat erschließen. Jenseits einseitiger Kausalitätsannahmen stehen dabei die komplexen Wechselwirkungen und Interdependenzverkettungen im Zentrum, in denen bestimmte Formen der Macht und der Subjektivierung und bestimmte Ausformungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise einander wechselseitig bedingten. Nur eine Perspektive, die diesen gesellschaftsanalytischen Zusammenhang in Rechnung stellt, kann den Verkürzungen entgehen, zu denen man gelangt, wenn Foucaults Machtanalytik so gelesen wird, als ginge es darin um eine einseitige Erklärung der untersuchten gesellschaftlichen Zusammenhänge aus ‚der Macht‘, ‚der Disziplin‘ oder ‚den Gouvernementalitätsformen‘. Ähnlich konnte für Bourdieu herausgearbeitet werden, dass bereits sein Kapitalbegriff nur dann adäquat verständlich und verwendbar wird, wenn man ihn als Verallgemeinerung des marxschen Kapitalbegriffs versteht, d.h. nicht als Ressource, sondern als sachliche Form eines historisch besonderen Verhältnisses zwischen verschiedenen Klassen von Individuen. In diesem Kontext konnte auch für Bourdieus Reproduktionstheorie gezeigt werden, dass es sich hierbei um eine Theorie der gesellschaftlichen Reproduktion von Klassenverhältnissen handelt, die nicht einseitig auf die Strategien von Individuen oder Gruppen zurückführbar sind. Auch sind Bourdieus Analysen nicht allein auf der symbolischen Ebene der Repräsentation von Klassenbeziehungen in distinktiven Lebensstilen angesiedelt. Vielmehr verbindet seine zahllosen Einzeluntersuchungen die Analyse einer über sachlich-funktionale Mechanismen vermittelten dynamischen Reproduktion von Klassenverhältnissen, die einer bestimmten, auf dem Kapitalverhältnis beruhenden historischen Gesellschaftsformation funktional vorausgesetzt sind. Wenn es hier gelungen ist, die Ansätze von Marx, aber auch die nominell in der gegenwärtigen Soziologie weit bekannteren und verbreiteteren Ansätze von Foucault und Bourdieu aus den Engführungen gängiger Interpretationsraster und Verwendungsweisen (auch und gerade in den positiven Anschlüssen) zu lösen, um sie einem produktiveren Gebrauch verfügbar zu machen, bildet dies ein weiterführendes Ergebnis der Arbeit, das auch unabhängig von den hier entfalteten Detailanalysen für die weitere Anwendungen entsprechender Analyseraster nutzbar gemacht werden kann und soll. Ein über diese wissenschaftshistorischen und theoriesystematischen Ambitionen hinausgehendes Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, anhand konkreter Problemstellungen und Forschungsfragen exemplarisch herauszuarbeiten, wie eine Verschaltung der drei Analyseperspektiven für das Problemfeld der Genese und Transformation kapitalistischer Vergesellschaftung fruchtbar zu machen ist. Dazu wurde zunächst (III) in systematischer Auseinandersetzung mit Marx’ Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie gezeigt, dass das dort entwickelten ideelle Modell der kapitalistischen Wirtschaftsform keine ökonomistische Theorie der Gesellschaft darstellt. Vielmehr zielte Marx umgekehrt auf eine sozialtheoretische Analyse konkreter

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Funktions- und Strukturprinzipien der Produktions- und Austauschverhältnisse zwischen verschiedenen Klassen von Individuen, die erst im Gesamtkontext einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation verständlich werden (III.1). Dabei wurde deutlich, dass Marx’ theoretisches Modell keine Theorie des notwendigen Zusammenbruchs des Kapitalismus impliziert, sondern vielmehr nach wie vor tragfähige Erklärungsansätze für grundlegende Strukturmerkmale und Erscheinungen moderner Gesellschaften bietet – ob dies nun die Sozialstruktur und ihre Formwandlungen, die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsdynamiken (III.1.4), die exponentiellen Wachstumszwänge oder die vielfältigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisendynamiken (III.2) betrifft. Auch folgen aus den von Marx formulierten Tendenzgesetzen oft zutreffende Prognosen über weitere kapitalistische Entwicklungen, die spätere Veränderungen der Modi der Distribution und des Konsums ebenso betreffen, wie Veränderungen der Formen der Arbeitsorganisation und der Subjektformierung. Obwohl sich aber realhistorische Transformationen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bis in die Gegenwart mit Marx’ Theorie oft erstaunlich präzise erfassen und erklären lassen, bietet diese doch ‚nur‘ ein abstraktes Modell des Kapitalismus, aus dem reale gesellschaftliche Transformationsprozesse und konkrete Formen kapitalistischer Vergesellschaftung nicht deduziert werden können. Zudem sind zahlreiche Problemstellungen der historischen Genese und des Wandels der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Kapitalismus bei Marx zwar skizziert, aber kaum hinreichend ausgeführt. Seine gesellschaftstheoretischen Analysen der Zusammenhänge einer ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie bieten keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie, die es erlauben würde, die Wechselwirkungen zwischen dieser Ökonomie und den ihr entsprechenden, aber relativ autonomen gesellschaftlichen Formen von Politik, Kultur, Religion etc. adäquat zu erfassen. Gegen die gerade in Krisenzeiten populären Beschwörungen einer Rückkehr zu den Wurzeln der marxschen Kapitalismustheorie wurde daher betont, dass diese zwar geeignet ist, basale Funktionszusammenhänge einer kapitalistischen Ökonomie zu erfassen und sie zugleich als Ausdruck gesellschaftlicher Klassen-Verhältnisse kenntlich zu machen, dass sie aber kaum hinreichend erklären kann, wie eine Wirtschafts- und Vergesellschaftungsform, die derart auf ihre nackten Funktionslogiken reduziert in vielen Aspekten absurd erscheinen muss, in historisch konkreten Formen des gesellschaftlichen Lebens reproduziert, variiert und stabilisiert wird, was immer auch die Frage nach den jeweiligen Attraktivitäts- oder zumindest Akzeptabilitätsbedingungen impliziert. Vor diesem Problemhintergrund wurde auf die Analyseperspektiven von Bourdieu und Foucault zurückgegriffen, die zwar in expliziter Distanz zum Marxismus, aber in ebenso expliziter Kontinuität zu den von Marx aufgeworfenen Problemen stehen. Die folgenden sozialhistorisch-genealogischen Analysen knüpften an Foucaults Untersuchungen der Transformationen der Machtdispositive, der Formen der Subjektivierung und der Regierung an um zu prüfen, welchen Beitrag diese Perspektive zum Verständnis der historischen Konstitution und der Transformationen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung zu leisten vermag (IV). Dabei wurde zunächst der von Foucault hervorgehobene genetisch-systematische Zusammenhang der Genealogie des Disziplinardispositivs mit der Genese des Kapitalismus anhand konkreter, historisch kontingenter Wechselwirkungen rekonstruiert, um anschließend die zahlreichen

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wechselseitigen Entsprechungsverhältnisse und Funktionalitätsbeziehungen zwischen der Disziplin und der kapitalistischen Produktionsweise aufzuweisen, die sich in der ersten Phase des Hochkapitalismus am Beginn des 19. Jahrhunderts herauskristallisierten (IV.2). Der wesentliche, über Foucault hinausgehende Beitrag dieses Teils der Studie lag jedoch darin, zentrale Thesen Foucaults auch auf von ihm nicht systematisch analysierte Formationen kapitalistischer Vergesellschaftung und ihre besonderen Modi der Subjektivierung und Regierung zu beziehen. Dies half auch, die historischen Formwandlungen kapitalistischer Vergesellschaftung aufzuklären, dank derer Entwicklungstendenzen der Arbeitsorganisation, der Bildung, des Konsums und der Subjektivität, die Marx in der kapitalistischen Produktionsweise zugleich angelegt und behindert sah, innerhalb des Kontinuum kapitalistischer Produktionsverhältnisse entfaltet und nutzbar gemacht werden konnten. Ausgehend von Foucaults These einer relativen Eigenlogik und Eigendynamik der liberalen Gouvernementalität und der Krisen des Liberalismus konnte gezeigt werden, wie die krisenhaften Formwandlungen der Regierungspraktiken in konkreten ökonomischen, biopolitischen und sozialen Krisen des Kapitalismus dazu beitrugen, auf veränderte Erfordernisse der Kapitalakkumulation durch Veränderungen der gesellschaftlichen Modi der Akkumulation zu reagieren. Die Einrichtung moderner Formen der Bio- und Sozialpolitik (etwa in den Sozialversicherungen) und veränderte Modi des Konsums, der Subjektivierung und der Menschenführung halfen, in Wechselwirkung mit wissenschaftlichtechnischen Innovationsdynamiken, die Krisen des Kapitalismus zu überwinden, indem sie Faktoren zu mobilisieren vermochten, mit denen in je besonderer Form „der tendenzielle Fall der Profitrate […] korrigiert werden“ konnte (Foucault 2004b, 321). In der Abfolge der rekonstruierten historischen Modi kapitalistischer Vergesellschaftung konnte gezeigt werden, wie einige der nach Marx in der Logik der Kapitalverwertung angelegten Tendenzen in historisch besonderen Formen entfaltet wurden. Dabei führte das kontingente Zusammenwirken zahlreicher Faktoren jeweils zu Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf dem Bedingungsrahmen vorangegangener Modi kapitalistischer Vergesellschaftung aufbauten, um ihn in einer keineswegs notwendigen Form so umzugestalten, dass zuvor blockierte Entwicklungspotenziale freigesetzt und nutzbar gemacht wurden. Hier eröffneten Foucaults Analyseraster eine Möglichkeit, die Umwälzungen und Transformationen der gesellschaftlichen Verhältnisse – jenseits kurzschlüssiger geschichtsdeterministischer ‚Entwicklungsgesetze‘ – historisch-soziologisch zu entschlüsseln. In einer groben und schlaglichtartigen Zusammenfassung lässt sich dabei folgender Verlauf konstatieren: Historisch ermöglichte die Genese der Disziplin eine verbesserte Organisation der Arbeitsprozesse und die Formung von Arbeitskräften, die in ihren Dispositionen und Fähigkeiten den Erfordernissen des kapitalistischen Produktionsprozesses entsprachen (IV.2). Die liberalen Techniken der Regierung schufen den politischen Rahmen, in dem sich die Ausbeutung dieser Arbeitskraft und die Konkurrenz und Akkumulation der Einzelkapitale freier entfalten konnte, setzten damit aber, gerade durch die Erhöhung der Produktivkräfte, Destruktivkräfte frei, die auf die biologische und soziale Reproduktion der Voraussetzungen der Kapitalakkumulation (und des Gesamtgefüges der bürgerlichen Gesellschaft) gefährdend zurückwirkten (IV.4). Mit der Genese von Versicherungstechniken und sozialen Absicherungssystemen wurden diese Krisenerscheinungen und Gefährdungen gemildert

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und kompensiert, was zugleich die Bedingungen für neue Formen der Bildung und Integration verwertbarer Arbeitskraft schuf (IV.5). Diese im Kontext veränderter Anforderungen an die Subjekt-Qualitäten der Arbeitskräfte funktionale Entwicklung wurde mit dem fordistisch-keynesianischen Modell auf eine neue Stufe gehoben. Die Einrichtung von über die Regelgrößen von Lohn- und Sozialstandards steuerbaren Rückkopplungsschleifen zwischen Massenproduktion und Massenkonsum förderte nicht nur die Kontinuität des Akkumulationsprozesses, sie ermöglichte auch neue Modi der Subjektivierung, die weniger auf direkter Disziplinierung und eher auf der freien Entfaltung nutzbarer produktiver Kräfte durch Partizipation am Konsum und durch individuelle Erwerbskalküle basierten (IV.6). Die in der Krise dieses Akkumulations- und Vergesellschaftungsmodells sich durchsetzenden neoliberalen Regulations- und Regierungstechniken setzten einerseits die gesteigerte Qualität und Motivation der Arbeitskräfte voraus, die durch die entwickelten Formen der Sicherheitstechniken und dank der erhöhten Konsumbeteiligung ermöglicht wurden, sie zielten aber andererseits darauf, diese subjektiven Produktivkräfte durch partielle ‚Entsicherung‘ und Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse für veränderte Verwertungserfordernisse nutzbar zu machen, die etwa aus der Flexibilisierung von Produktion und Distribution im Zuge mikroelektronischer Basisinnovationen resultierten. Dabei konnten auch gesellschaftliche Autonomie- und Emanzipationsinteressen aufgenommen werden, die zumindest für einen Teil der Arbeitskräfte diese veränderten Modi einer Steigerung und Nutzbarmachung der subjektiven Produktivkräfte attraktiv und anschlussfähig machten (IV.7). Indem in diesen Analysen die von Foucault stets betonten wechselseitigen Bedingungsverhältnisse zwischen dem Wandel der ökonomischen Formen und dem Wandel der Machttechniken und Regierungsformen schärfer konturiert wurden, konnte zugleich exemplarisch gezeigt werden, wie den Verkürzungen zu entgehen ist, die in weiten Teilen der an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsstudien aus der einseitigen Fokussierung auf Diskurse und Programme resultieren. Gegenüber solchen Ansätzen zeigen die hier entwickelten Analysen, dass Veränderungen der Machtdispositive oder der Diskurse und Praktiken des Regierens nie aus sich selbst zu verstehen sind, erst recht nicht aus einer ebenso unbestimmten wie vermeintlich allgewaltigen ‚Macht‘, sondern nur aus dem komplexen gesellschaftlichen Bedingungsrahmen, in dem ökonomische, politische und soziokulturelle Funktionslogiken und Krisentendenzen ebenso berücksichtigt werden müssen, wie der gesellschaftliche Resonanzraum der Artikulation von politischen und sozialen Bedürfnissen, Forderungen und Kritiken, in dem sich erst entscheidet, ob und in welcher Form eine bestimmte gouvernementale Rationalität sich als anschlussfähig und plausibel erweist. Im abschließenden Unterkapitel (IV.8) wurden wichtige Ergebnisse und Konsequenzen dieser Rekonstruktion historischer Transformationen der Modi kapitalistischer Vergesellschaftung im Hinblick auf Foucaults These diskutiert, der zufolge die Genealogie der Machtdispositive und Regierungsformen durch eine Verschiebung gekennzeichnet ist, in der die normierenden Techniken der Disziplin gegenüber den eher normalistischen – d.h. auf dem Management der Rahmenbedingungen statistischer Normalverteilungen beruhenden – Sicherheitsdispositiven an Gewicht verlieren. Dabei konnte herausgearbeitet werden, dass und warum die neuen Modi der neoliberalen ‚Regierung der Freiheit‘ auch wieder in höherem Maße eine ‚Regierung der

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Ungleichheit‘ und eine Optimierung der Systeme von ökonomisch verwertbaren Unterschieden zwischen verschiedenen (Klassen von) Individuen darstellen. ‚Postdisziplin‘ (im Sinne Foucaults) oder ein ‚flexibler Normalismus‘ (im Sinne von Link) bedeuten damit auch, dass den sich ‚naturwüchsig‘ herstellenden statistischen Verteilungen sozialstruktureller Ungleichheit ein freierer Lauf jenseits korrigierender und normierender Eingriffe gelassen wird. Gegen eine sich auch in der Soziologie wieder verbreitende Semantik, die solche sozialstrukturellen Unterschiede naturalisiert, individualisiert oder auf kulturelle und charakterliche Merkmale der betroffenen sozialen (Problem-)Gruppen zurückführt, wurde in diesem Kontext die Frage aufgeworfen, welche gesellschaftsstrukturellen Ursachen dazu führen, dass kapitalistische Gesellschaften notwendig charakteristische Ausprägungen sozialstruktureller Ungleichheitsrelationen hervorbringen, die bei allen vielfältigen Veränderungen des Phänotyps sozialer und kultureller Einzelmerkmale und Merkmalskomplexe doch eine weitgehende Stabilität grundlegender Strukturmuster erkennen lassen. Denn obwohl einzelne Merkmale (Quantität des Einkommens, Bildungsgrad, Formen politischer und kultureller Partizipation, Konsumpräferenzen etc.) erhebliche historische Varianzen aufweisen und durch je konkrete Akkumulationsmodi und Gouvernementalitätsformen beeinflusst sind, zeigen die statistischen Relationen in den grundlegenden Verteilungen von Kapitalverfügung, gesellschaftlichen Teilhabechancen und Einflussmacht eine erklärungsbedürftige Konstanz. Diese Problemstellung führte im fünften Teil der Arbeit auf den Klassenbegriff zurück, der in der klassischen politischen Ökonomie und in Marx’ Kritik dieser Ökonomie zur Analyse basaler ökonomischer und gesellschaftlicher Reproduktionsprozesse verwendet wurde, aber zugleich auch die aus den grundlegenden Verteilungsprinzipien entspringenden Machtverhältnisse und Konfliktdynamiken begrifflich zu fassen erlaubte. Dabei galt die Reproduktion der Produktionsverhältnisse als untrennbar verbunden mit der Reproduktion sozialer Ungleichheitsrelationen, die der Wirtschaftsweise funktionell und strukturell vorausgesetzt sind. Gegen die Beschränkung des Wortes ‚Klasse‘ auf eine deskriptive Kategorie zur Bestimmung organisierter und in bewussten Konflikten aufeinander bezogener Kollektivverbände wurde die Stärke des bei Marx und später bei Bourdieu verwendeten Klassenbegriffs darin gesehen, dass es sich zugleich um einen ökonomischen und soziologischen Funktionsbegriff und um einen Begriff zur Analyse von sozialen Ungleichheiten, Bewegungen und Konfliktdynamiken handelt. Der besondere theoretische und analytische Gehalt der Klassensemantik liegt somit darin, dass sie signifikante gesellschaftliche Ungleichverteilungen oder die Formierung sozialer Gruppierungen nicht nur bezeichnen soll, sondern sie aus funktionellen Zusammenhängen der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesse zu erklären hilft. Soziale Bewegungen und Konflikte werden dabei entlang geteilter funktioneller Positionen in strukturell widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen wahrscheinlicher, hängen aber von weiteren sozialen Zusatzfaktoren ab und sind dem wissenschaftlichen Gebrauch des Klassenbegriffs nicht vorausgesetzt. Gegen die in den soziologischen Debatten des 20. Jahrhunderts offenkundige ‚Verwirrung‘ um den Klassenbegriff wurden zunächst die Konstruktionsprinzipien von Klassentheorien und die konstitutive Verknüpfung von Klassen- und Kapitalbegriff herausgearbeitet, um im Anschluss die über die rein ökonomisch-funktionelle

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Bestimmung der Klassenlagen hinausgehende Bedeutung der symbolischen Dimension der Klassenverhältnisse und ihren Charakter als (strukturelle) Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu klären (V.2). Handelte es sich dabei auch primär um eine (allerdings notwendige) Rekonstruktionsarbeit, konnte hier immerhin gezeigt werden, dass die marxsche Klassenanalytik – die oft auf ein Zweiklassenschema oder auf mechanische Konflikt- und Revolutionsmodelle verkürzt wurde – in den zeithistorischen Analysen, den theoretischen Modellen und den zentralen Prognosen eher der zunehmenden Binnendifferenzierung der Klassenstruktur entwickelter kapitalistischer Gesellschaften Rechnung trägt, die der wachsenden arbeitsteiligen und funktionalen Differenzierung der Gesellschaft entspricht. Zugleich konnte für Bourdieu das verbreitete (vor allem auf die Feinen Unterschiede bezogene) Vorurteil korrigiert werden, es handele sich primär um eine eher ständisch konnotierte Verteilungstheorie der Konsumgewohnheiten und Lebensstile. Obwohl die symbolische Dimension der Reproduktion und Repräsentation der Klassenstruktur bei Bourdieu eine weit größere Rolle spielt als bei Marx, fügt sich dies doch in den Kontext einer funktionell grundierten Klassentheorie, die die Reproduktion und Transformation von genuin kapitalistischen (d.h. von anderen, vorkapitalistischen Formen unterschiedenen) Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen analysiert. Zugleich konnte gezeigt werden, dass fast alles, was in der jüngeren Soziologie ‚empirisch‘ gegen die Verwendbarkeit klassentheoretischer Ansätze vorgebracht wurde, bereits zu den wesentlichen Definitionsmerkmalen gehörte, mit denen Marx kapitalistische Klassengesellschaften von ständisch stratifizierten Gesellschaften abgrenzte: Kapitalistische Klassenverhältnisse sind per Definition gekennzeichnet durch den sachlichen Charakter der in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bestimmten Stellung der Klassen; durch soziale Auf- und Abstiegsmobilität zwischen den nach Sachfunktionen definierten Positionen; durch die mit der kapitalistischen Entwicklungsdynamik verbundene Auflösung traditionaler Bindungsformen und eine fortschreitende Individualisierung; schließlich durch eine Versachlichung und Rationalisierung gesellschaftlicher Organisationsformen. Die Entstehung moderner Klassenverhältnisse erwies sich so als eng mit der Umstellung von unmittelbar sozialen auf funktionale Differenzierungsprinzipien verbunden, wobei die Ausdifferenzierung der ökonomischen Funktionen aus den sozialen Austausch-, Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen von komplementären Ausdifferenzierungen politischer, rechtlicher und kultureller Formen und Funktionen begleitet war. Entgegen dem in der jüngeren Soziologie aufgebauten Scheinwiderspruch zwischen Theorien funktionaler Differenzierung und Theorien sozialer Differenzierung wurde daher ausführlich herausgearbeitet, dass die Klassentheorien von Marx und Bourdieu gerade durch eine systematische Verschränkung der Theorie und Analyse funktionaler und sozialer Differenzierung gekennzeichnet sind, da die Reproduktion sozialstruktureller Ungleichheits- Ausbeutungs- und Dominanzbeziehungen hier über sachlich-funktionale Mechanismen vermittelt wird und soziale Ungleichheitsbeziehungen zugleich ein funktional vorausgesetztes Moment der sachlichen Prozesslogiken sind (V.3). In der Verhältnisbestimmung der Differenzierungstheorien von Marx und Bourdieu zur Systemtheorie Luhmanns konnte dabei zunächst verdeutlicht werden, dass die Differenzen zu dieser hierzulande wohl bekanntesten Theorie funktionaler Differenzierung nicht in lehrbuchhaften Gegensätzen liegen, denen zufolge für Luhmann funktionale Differenzierung primär sei, während bei

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Marx und Bourdieu Gesellschaft durch eine stratifikatorische Differenzierung dominiert bleibe. Marx wie Bourdieu behandeln funktionale Ausdifferenzierung als Voraussetzung (nicht nur als sekundären Effekt) einer genuin modernen, von ständischer Stratifikation unterschiedenen Klassenstruktur und teilen in der Bestimmung der historischen Genese der Ausdifferenzierung relativ autonomer Funktionslogiken mehr mit Luhmanns Äquivalenzfunktionalismus als eine oberflächliche Betrachtung vermuten lässt (V. 3.1). Die Unterschiede ergeben sich erst in der Bestimmung der Relationen verschiedener ausdifferenzierter Sphären innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs und in der Frage, wie die funktionale Differenzierung in der ‚Sachdimension‘ und die sozialstrukturelle Differenzierung in Klassen miteinander vermittelt sind. Während für Luhmanns Theorie gezeigt wurde, dass sie zu den damit verbundenen Problemfeldern angesichts ihrer theoretischen Prämissen wenig zu sagen hat bzw. sich bei dem Versuch, entsprechende Phänomene zu analysieren, in Paradoxien verstrickt oder auf empirisch nicht gedeckte Behauptungen ausweichen muss (V.3.2), bot der Rückgriff auf grundlegende Funktions- und Strukturzusammenhänge in Marx’ idealtypischem Modell einer ausdifferenzierten kapitalistischen Ökonomie eine Reihe präziser Analysen und Erklärungen, die noch jüngste Binnendifferenzierungen sozialstruktureller Ungleichheitsverhältnisse betrafen. Neben den Effekten der schon von Marx analysierten Logiken von Bildungsexpansion und Bildungsinflation auf alle lohnabhängigen Klassen, konnte hier für akute Formen der Ungleichheit, die jüngere Begriffe der Exklusion oder Prekarität eher skandalisieren als erklären, gezeigt werden, dass die Produktion einer für die durchschnittlichen Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überflüssigen Population innerhalb der kapitalistischen Funktionslogik nicht nur eine notwendige Folge der steigenden Arbeitsproduktivität ist, sondern dass die verschiedenen Fraktionen der so gebildeten ‚Reservearmee‘ wesentliche ökonomische und politische Funktionen innerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs erfüllen (V.3.3). Über die ökonomischen Zusammenhänge der dynamischen Reproduktion der Klassenstrukturen hinaus konnten anschließend mit Bourdieu auch die funktionellen Beiträge anderer kultureller, sozialer und politischer Felder für die dynamische Reproduktion der Klassenverhältnisse herausgearbeitet werden. Ausgehend von Bourdieus Analyse der funktionalen Interdependenzen zwischen Ökonomie und Bildungssystem konnte dabei etwa gegen die utopischen Erwartungen einer Überwindung der traditionellen Ungleichheitsrelationen in der ‚Wissensgesellschaft‘ gezeigt werden, dass die Bildungsexpansionen unter kapitalistischen Bedingungen tendenziell nichts anderes sein können als eine Anpassung der Klassenstruktur an veränderte Produktionserfordernisse, bei der zwar der Bildungsgrad (und damit die Qualität der Arbeitskräfte) in allen gesellschaftlichen Klassen steigt, ohne dass dies aber automatisch eine grundsätzliche Veränderung der soziökonomischen Klassenverhältnisse bewirkt. Allerdings lassen sich in den mit dem Bildungsgrad steigenden reflexiven und emanzipatorischen Kapazitäten auch Entwicklungstendenzen ausmachen, die Potenziale für die Formierung sozialer Kräfte und Bewegungen implizieren, die sich gegen die Reproduktionstendenzen richten können. Auch die Unterscheidung innerer und äußerer Funktionen der Felder und deren mit den inneren Funktionen verbundene relative Autonomie impliziert Brechungstendenzen und Freiheitsgrade: Da die inneren Funktionen wissenschaftlicher oder künstlerischer Produktion ebenso wie die Logiken von Bildung und Politik in

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den objektiven äußeren Funktionen, die sie für die Reproduktion der kapitalistischen Klassenverhältnisse haben, nie aufgehen und mit diesen oft genug in Konflikt geraten, kann auch die Verteidigung der kulturellen, politischen und sozialen Feldautonomie gegen ökonomische Verwertungsimperative Effekte haben, die der reinen Reproduktion der Klassenverhältnisse entgegen wirken (V.3.4). Entgegen dem Bourdieu oft vorgeworfenen Determinismus und der Suggestion, es handele sich um ein Modell der endlosen statischen Reproduktion der immer gleichen Verhältnisse mit wechselndem Personal, konnte vor diesem Hintergrund im abschließenden – wichtige Ergebnisse des historisch genealogischen IV. Teils wieder aufgreifenden – Kapitel (V.4) auch herausgearbeitet werden, dass der in einer dynamischen kapitalistischen Gesellschaft unabdingbare permanente historische Wandel der Klassenverhältnisse stets Freiheitsgrade der Veränderung und Variation impliziert. Nur schließen radikaler Wandel und langfristige Kontinuität der Klassenstruktur sich nicht aus, sondern bedingen einander: Auf der Ebene der sozialen Beziehungen und politischen Kämpfe können kapitalistische Klassenverhältnisse aufgrund ihrer aus den unhintergehbaren Basisantagonismen kapitalistischer Vergesellschaftung resultierenden latenten Konfliktträchtigkeit nur durch dynamische Arrangements des institutionalisierten Konfliktmanagements reproduziert und stabilisiert werden. Auf der Ebene der funktionellen Reproduktionsmodi erzwingen kapitalistische Gesellschaften eine dynamische Reproduktion auf ständig erweiterter Stufenleiter, in der auch die Klassenverhältnisse und ihre Binnendifferenzierungen immer wieder umgewälzt werden müssen – und sei es nur, um den Anforderungen an die physischen, kognitiven und sozialen Qualitäten der Ware Lohnarbeit gerecht zu werden, die sich mit der Verwissenschaftlichung der Produktion, der Verwandlung von Kapitalfunktionen in Lohnarbeit oder der Expansion der Berufe im Zirkulations- und Kommunikationssektor veränderten. Da die konkrete Ausgestaltung der Klassenverhältnisse keinem automatischen Entwicklungsgesetz untersteht, sondern sich jeweils erst im kontingenten Zusammenwirken sozialer und politischer Kämpfe mit funktionellen Wachstums- und Krisendynamiken ergibt, impliziert die Reproduktion der Klassenverhältnisse eine unabsehbare Bandbreite potenzieller Variationen innerhalb des durch die Klassentheorien von Marx und Bourdieu bestimmbaren Möglichkeitsraums. Das gilt ebenso für das Verhältnis verschiedener funktional differenzierter Felder zueinander, das sich in den graduellen Abstufungen der relativen Autonomie und Heteronomie gegenüber der kapitalistischen Ökonomie graduell wandeln kann, ohne dass dies gleich als Entdifferenzierung oder Ökonomisierung aufgefasst werden müsste. Auch wenn bei all dem die mit Marx und Bourdieu herausgearbeiteten grundlegenden Logiken dazu führen, dass kapitalistische Gesellschaften immer wieder mit denselben Strukturparadoxien konfrontiert sind, ergeben sich in der Frage wie die entsprechenden Basisantagonismen und Paradoxien politisch und sozial jeweils ausagiert werden zahllose Varianzen und Freiheitsspielräume und das heißt immer auch: politische Gestaltungsmöglichkeiten. So erfüllt der von Marx analysierte Staatsschuldmechanismus in jüngerer Zeit sehr zuverlässig seine auch von Bourdieu verzeichneten Grundfunktionen zur Regulation sozialer und politischer Prozessdynamiken und zur Begrenzung politischer Gestaltungsspielräume und die darauf beruhenden Prozessverläufe des periodischen Aus- und Rückbaus der sozialen Teilhaberechte und der politischen Partizipationsmöglichkeiten sowie die periodischen Verschie-

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bungen der Kräfteverhältnisse zwischen Ökonomie und Politik lassen jene Grundmuster erkennen, die von Marx schon an der zweiten französischen Republik beobachtet wurden (s.o. V.4.3). Damit wie mit den regelmäßigen Zyklen der Bildungsexpansion und Inflation sind aber nur typische Verlaufsmuster und grundlegende Grenzbestimmungen des innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft politisch und sozial (Un-)Möglichen verbunden. In Differenz zur jüngeren politischen und soziologischen Sachzwangrhetorik, in der eine konkrete Politik als vermeintlich alternativlose Reaktion auf vermeintlich invariante und dem politischen Handeln entzogene Marktzwänge präsentiert wird, entscheidet sich in dieser Perspektive immer erst in den politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen und Kämpfen, wie das politische, ökonomische und soziale Leben innerhalb des durch die Gesellschaftsformation bestimmten Möglichkeitsraums ausgeformt wird, wie gesellschaftlich mit den Funktionslogiken, Strukturparadoxien und Destruktionsdynamiken der Wirtschaftsform umgegangen wird, oder ob neue Möglichkeitsräume jenseits der bestehenden Produktionsverhältnisse eröffnet, respektive: erobert werden. Das V. Kapitel konnte insgesamt zeigen, dass ein funktionell grundierter Klassenbegriff nach wie vor eine analytische Schlüsselkategorie darstellt, wo Soziologie soziale Differenzen und Konfliktdynamiken nicht nur verzeichnen, beschreiben oder beklagen soll, sondern ihre Ursachen und Wirkungen wie auch die Möglichkeiten ihrer Veränderung aus systematischen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erklären beansprucht. Der Klassenbegriff ermöglicht es, soziale Ungleichheitsverhältnisse mit den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen im weitesten Sinne – also einschließlich der Verhältnisse der ‚Produktion der Produzenten‘ im Bildungssystem oder der verschiedenen Modi kultureller und politischer Produktion – wieder in einen wechselseitigen Erklärungszusammenhang zu bringen. Die Analyse der strukturellen Klassenverhältnisse, ihrer Reproduktionsmechanismen und ihrer Wandlungen leistet dadurch einen wichtigen Beitrag, um die Spaltung von ausschließlich oder zumindest primär auf die Sachdimension gesellschaftlicher Differenzierung bezogenen Theorieansätzen und einer weiterreichenden gesellschaftstheoretischen Erklärungsambitionen entsagenden Sozialstrukturanalyse zu überwinden. Diese Form der Analyse, die funktionale Reproduktionsprozesse untrennbar mit der Reproduktion sozialer Ungleichheiten verschränkt sieht – und zwar in einer Form, in der sozialstrukturelle Differenzen nicht als ‚funktionsloser Nebeneffekt‘ (Luhmann), sondern als funktionelle Voraussetzung der (kapitalistischen) Ökonomie und als funktionelle Leistung anderer gesellschaftlicher Funktionsbereiche (Bildung, Kunst, Politik etc.) gilt –, widerspricht zwar den ‚Selbstbeschreibungen der Funktionssysteme‘ im Sinne Luhmanns (vgl. 1998), aber es gibt keinen plausiblen Grund, warum sich Soziologie a priori auf die Semantiken, die sie in ihrem Gegenstandsbereich vorfindet, festlegen sollte. Das gilt vor allem dann, wenn etwa die Semantik der Gleichheit, die im Sinne der formalen Gleichbehandlung der Individuen fraglos auch einer Realität der funktionalen Differenzierung entspricht, seit den Anfängen der modernen Gesellschaft von einer prinzipiell von keiner Soziologie ernsthaft bestrittenen Persistenz charakteristischer sozialstruktureller Ungleichheitsrelationen begleitet ist. Dies zwingt dazu, die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen solcher Phänomene wieder in den Kontext der Soziologie einzuholen, um den heute verbreiteten bloßen Zuschreibungen – auf individuelle Verantwortung, auf subjektive Status- und Hierarchiebedürfnisse oder auf

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reine Fragen der ‚Mentalität‘ und ‚Kultur‘ – eine fundierte Erklärung entgegen stellen zu können. Generell leisten in diesem Kontext die Formen, in denen sozialwissenschaftliche Fragen bei Marx, Bourdieu und Foucault formuliert werden, ganz unabhängig davon, ob man die einzelnen Analyseraster und Theorieansätze übernehmen möchte, einen Beitrag zur Verteidigung der Soziologie als eigenständiger, von politischen Positionierungen und von anderen Analysemustern – etwa der neoklassischen Ökonomie – unterscheidbarer Wissenschaftsdisziplin. Denn letztlich kann sich Soziologie – wie schon die Gründer der Disziplin wie Durkheim (vgl. 1976) und Simmel (vgl. 1992, v.a. 13-41) wussten – nicht durch ihren Gegenstand definieren, den sie mit zahllosen anderen Disziplinen teilt und zu dem jedes vergesellschaftete Individuum als ‚Spontansoziologe‘ etwas zu sagen weiß, sondern nur durch die besondere Form, in der sie ihren Gegenstandsbereich analysiert. Die Form soziologischer Fragestellungen, wie sie in dieser Arbeit an zentralen Theoriedispositionen von Marx, Foucault und Bourdieu freigelegt wurde (II.3), erinnert über alle im einzelnen streitbaren Inhalte hinweg an die besondere Qualität soziologischer Fragen und Erklärungsansätze. Diese besteht darin, soziale Phänomene nicht auf die Sachgesetze hypostasierter Prozesslogiken (‚Systemevolution‘, ‚Globalisierung‘ etc.) oder auf individuelle Attribute und Entscheidungen zuzurechen, sondern ihre Konstitution in relationalen Zusammenhänge zu objektivieren – in Kräfteverhältnissen und Wechselwirkungen zwischen (Klassen von) Individuen und zwischen den Produkten ihres Handelns, die eine Eigendynamik und Eigenmacht gewinnen, die nicht direkt auf Individuen zurückführbar ist, die aber ebenso wenig dem selbsttätigen Wirken von Naturprozessen oder Quasisubjekten (‚den Systemen‘, ‚der Gesellschaft‘ oder ‚dem Kapital‘) zugeschrieben werden kann. Angesichts der Persistenz solcher abwechselnden Zurechnungen gesellschaftlicher Phänomene auf individuelle Attribute oder aber auf hypostasierte Sachlogiken, die gerade noch jüngste soziologische Kapitalismusdebatten prägte, wäre schon allein die stärkere Beachtung der hier konturierten Form einer soziologischen Erklärung ein Beitrag zur wissenschaftlichen Aufklärung, die damit beginnt, die individualistischen wie die objektivistischen Mystifikationen aufzulösen. Dabei ist die Anwendbarkeit der in dieser Studie in Auseinandersetzung mit Marx, Foucault und Bourdieu entwickelten Analyseraster selbstverständlich nicht auf die hier vertiefend behandelten Phänomenkomplexe festgelegt. Vielmehr kann der systematisch umrissene und explorativ getestete Ansatz und das ihm zugrunde liegende theoretische und analytische Instrumentarium nur im weiteren Gebrauch, in der einzig wissenschaftlichen Vorgehensweise von trial and error, weiter präzisiert und wo nötig korrigiert werden. Dazu steht der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse – in der qua Definition alles mit allem in Wechselwirkung verbunden ist – ein endloses Feld für Detailanalysen offen. In diesem Kontext wäre etwa das komplexe Problemfeld der Geschlechterkonstruktion und der Geschlechterverhältnisse, der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der biologischen und sozialen Reproduktion ein vordringliches, in der hier vorliegenden Untersuchung gleichwohl nur am Rande berührtes Untersuchungsgebiet einer

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kritisch funktionalen Analyse.1 Obwohl Marx und Engels früh die historische Variabilität der Geschlechterformen und -verhältnisse und die Haupttendenzen ihrer durch die kapitalistische Produktionsweise geforderten und beförderten Umwälzung betonten (vgl. MEW 3, 29ff.; MEW 23, 416-425; F.E. MEW 2, 366-388), während Bourdieus (vgl. v.a. 2005) und Foucaults (vgl. 1983) Untersuchungen gerade im Bereich der historischen und soziologischen Analyse der Geschlechterkonstruktion eine kaum überschaubare Vielzahl von Anschlüssen motivierten,2 scheint der enge Zusammenhang zwischen den ökonomischen und politischen Formwandlungen kapitalistischer Vergesellschaftung und den Modi der Vergeschlechtlichung noch wenig erschlossen. Gerade die an Foucault anknüpfende dekonstruktivistische, poststrukturalistische und postfeministische Geschlechtertheorie löste die Analyse der diskursiven und performativen Konstruktion der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit seit dem 19. Jahrhundert aus dem (bei Foucault zentralen) Kontext der politisch-ökonomischen Funktionserfordernisse und Krisentendenzen. In der Folge galten hier die Geschlechterverhältnisse im Grenzfall nur mehr als beliebige Produkte der Einschreibung einer kaum spezifizierten ‚Macht‘ in den Körper, wodurch sie durch bloße Akte ‚performativer Subversion‘ ebenso ad libitum umformbar schienen (vgl. Butler 1991, v.a. 190218). Gegenüber dieser Ausblendung der gesellschaftlichen Kontexte, Ursachen und Bedingungen der Geschlechterkonstruktion verlieh die neomarxistische Wertabspaltungskritik (Scholz 1992 & 2000; Kurz 1992) der (im Marxismus zuvor eher als ‚Nebenwiderspruch‘ bagatellisierten) Geschlechterdichotomie zwar den Status eines noch vor aller Mehrwertabschöpfung für die Wertform selbst konstitutiven Basisantagonismus, der dafür aber auch als eine innerhalb des Kontinuums der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zwar anzuprangernde aber letztlich doch unverrückbare Grundlage der Gesellschaftsformation galt. Gegenüber solchen wechselseitigen Vereinseitigungen wäre im Rahmen einer kritisch funktionalen Analyse an Ute Gerhards wichtige Beobachtung anzuknüpfen, dass „Frauen unter kapitalistischen Bedingungen immer nur soviel Gleichberechtigung errungen [haben], wie ökonomisch notwendig oder nicht mehr vermeidbar war“ (Gerhard 1978, 10). Hier wären die jeweiligen Auswirkungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation und der konkreten Modi kapitalistischer Vergesellschaftung auf die Geschlechterverhältnisse zu bestimmen. Diese Auswirkungen sind selbst widersprüchlich und paradox, was ihre konkrete Ausgestaltung im Rahmen eines zu bestimmenden Möglichkeitsraums auch für Kritik und Einflussnahme sozialer Bewegungen öffnet: Prinzipiell tendieren kapitalistische Gesellschaften einerseits dazu, Frauen als freie und gleiche Arbeitskraft in den Akkumulationsprozess einzubeziehen, wo sie durch Ausdehnung des Pools verwertbarer Arbeitskraft und durch Steigerung von Lohndruck und Konkurrenz die Verwertungsbedingungen verbessern. Dies löst traditionelle geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungs- und Bindungsformen auf

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Vgl. zu einem entsprechenden Versuch der Verknüpfung von Geschlechtersoziologie, Kapitalismusanalyse und Klassentheorie und einem entsprechenden Literaturüberblick: Heim/Bußmann 2007, 179-220. Foucault inspirierte neben Globaltheorien (vgl. Butler 1991; 1997) auch zahlreiche Detailforschungen. Vgl. etwa zur modernen Geschlechterkonstruktion in historischer Perspektive: Bublitz 2000. Interessante Applikationen von Bourdieus Feld-, Klassen- und Habitustheorie auf geschlechtersoziologische Problemstellungen bietet: Frerichs 1997.

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und zeitigt so auch autonomisierende Wirkungen, die zur Grundlage emanzipatorischer Bewegungen werden (vgl. MEW 23, 514; Simmel 1992, 499f.). Zur Bewältigung der mit diesen Verschiebungen und emanzipatorischen Ansprüchen verbundenen sozialen und biopolitischen Reproduktionsprobleme und zur Entlastung der unmittelbaren Wertabschöpfung von den ‚toten Kosten‘ der auf weibliche Gratisarbeit auslagerbaren Reproduktionsarbeit werden aber zugleich Tendenzen befördert, traditionelle Geschlechterverhältnisse und die für sie charakteristischen Dominanz- und Ausbeutungsbeziehungen zu konservieren.3 Inwiefern sich innerhalb des so definierten Spannungsfeldes dann emanzipatorische oder konservative Tendenzen und Bestrebungen durchsetzen, entscheidet sich an Ausmaß, Organisationsgrad und Stärke der sozialen Bewegungen und Koalitionen ebenso wie an der Frage, in welchem Maße nicht vollständig ökonomisierbare Reproduktionsfunktionen (z.B. für Erziehung, Kranken- und Altenpflege, Hausarbeit, Erhaltung sozialer Bindung etc.) in anderer Form, jenseits der heteronormativen geschlechtlichen Arbeitsteilung, vergesellschaftet sind, also etwa staatlich gewährleistet werden. Umgekehrt entscheidet die Form, in der die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Sexualität, die Reproduktionsaufgaben und die weit darüber hinausreichenden Sozialbeziehungen konfiguriert sind, erst über den konkreten Charakter der Akkumulationsverhältnisse. Solche Problemstellungen sind kein bloßes Exerzierfeld einer invarianten Theorie, sie verschieben und erweitern vielmehr, indem sie in den Kontext der Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung eingeholt werden, zugleich das Verständnis der historisch-soziologischen Ausformungen dieses Kontextes und zwingen zu einer stetigen Kontrolle und Verbesserung der zu seiner Analyse verwendeten Instrumente. Die Geschlechterverhältnisse sind dabei nur ein Beispiel für weitere, über die vorliegende Untersuchung hinausreichende Problemfelder, zu denen etwa auch die genaue Konfiguration der ökonomischen und politischen mit den künstlerischen Produktionsverhältnissen und die dem gemäßen gesellschaftlichen Formen und Funktionen der Ästhetik (vgl. Heim 2013) zu rechnen wären. Statt aber solche potenziellen Analysefelder weiter aufzuzählen, soll die vorliegende Studie mit einigen bilanzierenden Bemerkungen abgeschlossen werden, die das Verhältnis einer solchen sozialwissenschaftlichen Analyse und ihrer kritischen Funktionen zu sozialen Bewegungen und Kämpfen betreffen. Die vorliegende Perspektive setzt sich, so sehr sie auch den Anspruch einer kritischen Sozialwissenschaft betonen mag, indem sie primär an jene Theorieansätze, Erklärungen und Analysen im Werk der drei zentralen Bezugsautoren anknüpft, die den Charakter einer funktionalen Analyse haben, eben jenen Funktionalismus- und Determinismus-Vorwürfen aus, die gegen entsprechende Aspekte in den Werken von 3

Die häufig betonte Doppelbelastung von Frauen in Produktions- und Reproduktionssektor ist letztlich eine Form, die aus diesen widersprüchlichen Anforderungen resultierenden Paradoxien auf eine Seite der Geschlechterunterscheidung abzuwälzen. Der Wertabspaltungstheorie ist darin zuzustimmen, dass die Persistenz der Geschlechterdifferenzen damit zusammenhängt, dass sie sich für die Auslagerung großer Teile der jeder Wert(ab)schöpfung vorausgesetzten Reproduktionsarbeit als funktional erwiesen haben. Es ist jedoch ein Kategorienfehler, die der Wertform vorausgesetzte Differenz von Produktions- und Reproduktionsarbeit mit der Geschlechterdifferenz synonym zu setzten. Es handelt sich lediglich um eine historisch kontingente und funktionale Kopplung, die, soweit entsprechende Funktionen äquivalent erfüllt werden, auch im Kapitalismus keineswegs notwendig ist.

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Marx, Foucault und Bourdieu oft gerichtet wurden. Ausführlich sind entsprechende Missverständnisse oben (II.4) diskutiert worden. Hier ist bilanzierend anzumerken, dass idealisierende Modelle der (dynamischen) Reproduktion, wie sie Marx für die unmittelbar ökonomischen Produktionsverhältnisse (III) und Bourdieu für die Reproduktion der Klassenstruktur im Zusammenspiel verschiedener Felder entwarfen (V.3.4), selbstverständlich gesellschaftliche Determinanten zu bestimmen suchen, um empirisch signifikante Tendenzen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs zu erklären. Deterministisch würde die Erklärung aber erst, wo aus den innerhalb eines Systems von Beziehungen objektivierten logischen Kausalrelationen auf unwandelbare mechanische Automatismen geschlossen wird, wo also theoretische Konstruktionen, die helfen, ein empirisches Material zu ordnen, zu systematisieren und zu erklären, zu selbsttätigen Realitäten hypostasiert werden. Da demgegenüber in praxistheoretischer Perspektive die Systeme relationaler Beziehungen keine Quasisubjekte sind, sondern relationale (und damit verschiebbare) Kräfteverhältnisse zwischen Individuen, Gruppen, Organisationen, Bewegungen etc. meinen (II.3), gelten alle theoretisch konstruierten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten stets nur der Tendenz nach, und gerade die Aufklärung der aus einem gesellschaftlichen Zusammenhang folgenden Tendenzen kann – statt in Determinismus und Fatalismus zu münden – ein aktives Verhalten ermöglichen, dass sich gegen diese Tendenzen richtet (II.4). Insofern ist gerade das Aufzeigen objektiver und funktionaler Mechanismen ein sinnvoller Beitrag der Soziologie, um Veränderungsdynamiken anzureizen, indem Determinanten bestimmt und damit Angriffs-, und Eingriffspunkte aufgezeigt werden, an denen mögliche Gegenwirkungen und Gegenkräfte ansetzen können. Darüber hinaus erlaubt erst die Bestimmung möglichst vieler Determinanten auch eine realistische Bestimmung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, um auf der so gewonnenen Grundlage die Möglichkeitsräume alternierender Modi der Vergesellschaftung auszuloten oder um kritisch auf die Potenziale und Grenzen sozialer Bewegungen und auf die Realitätsadäquanz und die Probleme und Paradoxien ihrer Ideale, Ziele, Forderungen und Organisationsformen zu reflektieren. Die hier entwickelte Bestimmung des Verhältnisses von wissenschaftlicher Kritik und sozialen Bewegungen grenzt sich dabei dezidiert von den politisch verhängnisvollen und wissenschaftlich unfruchtbaren Auswirkungen eines jakobinischen oder leninistischen Modells ab, welches eine als Führungselite auftretende intellektuelle Avantgarde den sozialen und politischen Massenbewegungen gegenüber stellte (II.4; V.3.4.4). Gegen dieses Verständnis – wie überhaupt gegen die universalistischen Geltungsansprüche des klassischen modernen Typus des Intellektuellen – können die hier vertretenen Formen einer kritisch-funktionalen Analyse und die entsprechende Sozialfigur des spezifischen Intellektuellen bestenfalls als ein kritisch-reflexives Ferment innerhalb der sozialen und politischen Praxis wirken. Die der Suche nach alternierenden Modi der Vergesellschaftung vorausgesetzten emanzipatorischen Potenziale kollektiver Mündigkeit lassen sich kaum durch präskriptive Führungsansprüche einer intellektuellen Elite herstellen und universelle Geltungsgründe kann Wissenschaft, die erst mit dem Zweifel und der Relativierung moralischer und epistemologischer Gewissheiten beginnt, ohnehin weder bieten noch beanspruchen. Dafür, dass die Potenziale einer sozialstrukturell zunehmend verbreiteten mündigen und reflexiven Subjektivität, die dem hier entwickelten Verständnis der Rolle wissenschaftlicher

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Kritik in einer partizipativen, egalitären und emanzipatorischen Praxis vorausgesetzt wären, mit der von der kapitalistischen Entwicklungsdynamik selbst geforderten Steigerung der subjektiven Produktivkräfte – etwa der Bildung und der Selbstführungskompetenzen – wachsen (s.o. IV.6ff.), wurden oben (v.a. V.3.4.4 & V.4.4) theoretische und empirische Anhaltspunkte aufgezeigt. Hier könnten sich langfristig Möglichkeiten ergeben, den schon von Marx verzeichneten fatalen Zirkel zu durchbrechen, in dem „das Proletariat“ (wie viele andere emanzipatorische Bewegungen) immer wieder durch die Schwäche der Selbstorganisationskapazitäten und die Niederlagen in sozialen und politischen Kämpfen „gezwungen“ war, „sich den Doktrinären seiner Emanzipation, den sozialistischen Sektenstiftern in die Arme [zu] werfen“ (MEW 7, 62), was dann im von Bourdieu (2010b; s.o. V.3.4 & V.4.1) herausgearbeiteten Teufelskreis der politischen und intellektuellen Interessendelegation zur weiteren Schwächung der Selbstorganisations- und Selbstführungskapazitäten beitrug. Freilich wurde ebenso betont, dass neue Modi der Selbstorganisation jenseits traditioneller politischer Delegations-, Repräsentations- und Organisationsformen in gegenwärtigen sozialen Bewegungen allenfalls in Ansätzen erkennbar sind und dass entsprechende Suchbewegungen, da sie mit etablierten Formen der Politik weitgehend inkompatibel sind, mittelfristig den realpolitischen Einfluss solcher Bewegung (unabhängig von ihrer quantitativen Stärke) schwächen können (s.o. V.4.4). Auch hier gibt es also keinen Anlass für revolutionäre Gewissheiten, sondern nur wissenschaftliche Anhaltspunkte für Veränderungen des in gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen angelegten Möglichkeitsraums alternierender Formen der Vergesellschaftung, die politisch bestenfalls Anlässe zu sehr langfristigen Hoffnungen bieten. Wenngleich aber in der Bilanz der vorliegenden Analyse auch in den gegenwärtigen Konstellationen „nicht dieser einmalige, grundlegende oder hereinbrechende Moment der Geschichte“ liegen dürfte, „von dem aus […] alles neu beginnt“ (Foucault 2005, 543), und obwohl die Aufgabe wissenschaftlicher Kritik nicht darin liegen kann, die Ziele und Formen einer möglichen Zukunft zu explizieren oder der Praxis Abkürzungen dorthin zu weisen, bedeutet das nicht, die Relevanz wissenschaftlicher Analysen und Kritikformen kleinzureden. Um festzustellen, dass die mit der kapitalistischen Produktionsweise verbundenen Ausbeutungs- und Wachstumsdynamiken auf ihre sozialen und ökologischen Bedingungen zunehmend destruktive Konsequenzen zeitigen, die sich auch außerhalb von Krisenzeiten und gerade im ‚gesunden‘ Gang einer prosperierenden Akkumulation verstärken, bedarf es weder der Soziologie noch der marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Hier genügt die tägliche Zeitungslektüre mit den je aktuellen Berichten über die Arbeits- und Lebensbedingungen im Trikont und den Schwellenländern, zunehmend aber auch wieder in der ‚Ersten Welt‘, über das jeweils aktuelle ökologische Desaster, über den je aktuellen Lebensmittelskandal, über den je aktuellen Rückbau von Rechts-, Gesundheits-, und Sozialstandards, über das aktuelle Wachstum der Erwerbslosigkeit in Europa oder über den aktuellen Stand der exponentiellen Verschwendung von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern neben den materiellen Notlagen in den diesen Überfluss für die Mülltonnen der ersten Welt produzierenden Länder. Die (für die Bildung einer kritischen Öffentlichkeit konstitutive) Aufgabe, über solche und andere Erscheinungen der bestehenden Gesellschaftsformation im Detail zu berichten oder der Versuch, entsprechende Informationen zu skandalisieren – obwohl sie mit allen normati-

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ven Idealen der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich vereinbar sind4 – stehen den Massenmedien und den Journalisten (schon im Hinblick auf die spezifischen Sprachkompetenzen) besser an als irgendeiner Fachwissenschaft. Für die Soziologie stellt sich jedoch die Frage, wie sie sich zu solchen Problemen verhält, ob sie sie ignorieren, affirmieren, naturalisieren oder kritisieren will. Der kritischen Option kann es dabei nicht darum gehen, die bloßen Auswirkungen der entfesselten Destruktivkräfte einer kapitalistischen Ökonomie zu beschreiben oder zu beklagen. Vielmehr müssen die dahinter stehenden Mechanismen, Relationen und Funktionsgesetze herausgearbeitet werden, um Ursachen und Wirkungsbeziehungen offen zu legen und damit auch Ansatzpunkte und Möglichkeitsräume der Eingriffe durch eine ganz und gar nicht-wissenschaftliche, strategische Praxis aufzuklären und zu erweitern. Auch wenn eine Überwindung des Kapitalismus – sei es im klassischen Denken des 19. Jahrhunderts in einer Fortschrittsperspektive, sei es, wie Benjamin schon in den 1920er Jahren forderte, im Ziehen der „Notbremse“5 – derzeit keine sonderlich wahrscheinliche Option ist, kann schon ein historischer und soziologischer Blick auf die Variabilität kapitalistischer Vergesellschaftung (s.o. IV) darüber aufklären, dass eine spezifische Ausformung gesellschaftlicher Verhältnisse auch innerhalb des Kontinuums kapitalistischer Produktionsverhältnisse nie alternativlos und nie endgültig ist. Dabei sollte die Praxisrelevanz kritischer Wissenschaft weder über- noch unterschätzt werden: Bourdieu, der sich gegen jene Soziologien und Philosophien wandte, die die „gesellschaftlichen Artefakte“ wie Geschlecht, Nation, Ethnie etc., wo sie sie in einer „rein performativen Feier des ‚Widerstands‘ zu ‚dekonstruieren‘“ beginnen, schon realitär „zu destruieren“ glauben (Bourdieu 2001c, 138 [Hervh. i.O.), sah gleichwohl die sozialwissenschaftliche Reflexion und Analyse in besonderem Maße geeignet, die sozialen Asymmetrien, die Ausbeutungs-, Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse, die oft in der Gestalt ‚sachlicher Zwänge‘ oder quasinaturgesetzlicher Prozesslogiken erscheinen, auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge zurückzuführen, auf die objektiven Dominanzverhältnisse und die aktiven Herrschaftsstrategien, in denen diese Verhältnisse konstituiert werden. Insofern die Sozialwissenschaften damit zumindest den Anschein der Unabänderlichkeit und Notwendigkeit des Bestehenden „zu durchkreuzen“ vermögen, sind sie gegenwärtig „klarer denn je mit einer Entscheidung konfrontiert: Entweder stellen sie ihre rationalen Erkenntnisinstrumente in den Dienst einer immer rationalisierteren Herrschaft,

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Um das zu sehen, genügt es zu registrieren, dass bei jedem neuen Geschäftsabkommen mit China oder Russland zwar der ebenso obligate wie bedeutungslose Verweis auf ‚die Menschenrechte‘ nicht fehlen darf, dass aber dabei nur selten eine Problematisierung der Arbeitsbedingungen in der chinesischen Industrie einbezogen ist. „Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Benjamin 1974, 1232) Iring Fetscher (vgl. 1980) meinte, Marx würde heute ebenfalls die Notbremse wählen. Das ist eine mögliche und plausible Interpretation (s.o. III.2.4), und auch der Verfasser dieser Arbeit würde als in verschiedenen Formen mit der ‚Öko-Szene‘ verbunden diese Option unter Umständen plausibel finden. Zu aktuellen Suchen nach der Notbremse (vgl. u.a. Rosa 2005, v.a. 460-490; 2009a) sei aber bemerkt, dass es in den gegenwärtigen Hochgeschwindigkeitszügen keine Notbremse mehr gibt.

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oder sie analysieren rational die Herrschaft“ (ebd., 107). Dabei geht es nicht um die Formulierung und universelle Begründung von normativen Urteilen und Bewertungsmaßstäben, sondern um die Offenlegung gesellschaftlicher Zusammenhänge, sei es im Hinblick auf ihre historische Genese, sei es im Hinblick auf ihre inneren Funktionsbeziehungen. Insofern eine so verstandene kritisch-funktionale Analyse auch dazu beiträgt, ihre Gegenstände besser zu erfassen und zu erklären als dies eine bloße Beschreibung oder normative Beurteilung des je empirisch Gegebenen vermag, leistet sie damit zugleich einen Beitrag zum Erkenntnisfortschritt in den Sozialwissenschaften.

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Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Juli 2013, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid Handlungstheorie Eine Einführung August 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

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Sozialtheorie Daniel Innerarity Demokratie des Wissens Plädoyer für eine lernfähige Gesellschaft (übersetzt aus dem Spanischen von Volker Rühle) August 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2291-1

Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I Oktober 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Juli 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

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Sozialtheorie Gerald Beck Sichtbare Soziologie Visualisierung und soziologische Wissenschaftskommunikation in der zweiten Moderne

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft

September 2013, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2507-3

Januar 2013, 466 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Jörg R. Bergmann, Ulrich Dausendschön-Gay, Frank Oberzaucher (Hg.) »Der Fall« Zur epistemischen Praxis professionellen Handelns

Martin Petzke Weltbekehrungen Zur Konstruktion globaler Religion im pfingstlichevangelikalen Christentum

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Lutz Eichler System und Selbst Arbeit und Subjektivität im Zeitalter ihrer strategischen Anerkennung Juni 2013, 524 Seiten, kart., 39,90 €, ISBN 978-3-8376-2213-3

Ronald Hartz, Matthias Rätzer (Hg.) Organisationsforschung nach Foucault Macht – Diskurs – Widerstand Oktober 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2171-6

Leon Hempel, Marie Bartels, Thomas Markwart (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart

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Kathrin Popp Das Bild zum Sprechen bringen Eine Soziologie des Audioguides in Kunstausstellungen Juni 2013, 208 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2185-3

Sophia Prinz Die Praxis des Sehens Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung September 2013, ca. 420 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2326-0

Michael Schönhuth, Markus Gamper, Michael Kronenwett, Martin Stark (Hg.) Visuelle Netzwerkforschung Qualitative, quantitative und partizipative Zugänge April 2013, 362 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2257-7

Mai 2013, 454 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

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