Die Modernität der Gemeinschaft: Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 [1. Aufl.] 9783839408865

Gemeinschaft gilt seit Tönnies' Gegenüberstellung mit dem Gesellschaftsbegriff als Prinzip der Vormoderne und weckt

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German Pages 308 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Die Möglichkeit der Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft
Aktualität der Gemeinschaft
Fragen zur Gemeinschaft
Beobachtung der Gemeinschaft
Gemeinschaft der Individuen in Gesellschaft
Spannungsverhältnis oder Vermittlungsproblem?
Identität durch Differenz
Identität des Individuums
Individuum in Gemeinschaft
Gemeinschaftliche Grenzen
Raum der Gemeinschaft
Elemente der Gemeinschaft – Anlässe zur Beobachtung
Flüchtiges Beobachten – Gemeinschaft als empirischer Gegenstand
Funktionale Analyse als Methodologie
Identität – Narration – Gemeinschaft
Gemeinschaftsbezug narrativer Identität
Realität der Narration
Kontingenz der Narration
Analyse der Narration
Individuelle Erzählungen im Diskurs der Gemeinschaft
Gemeinschaft – Oder – Flut
Das Oderhochwasser 1997 als Anlass für Gemeinschaft
Oderflut – Medienflut
Erwartungen und Maßnahmen
Überflutung und Evakuierung
Helfer, Soldaten und Gemeinschaft
Aufräumen
Die Fabel der medialen Fluterzählungen
Gemeinsame Angst, gemeinsame Stärke: Geschichten aus dem Oderbruch
Bedrohliche Nachrichten vom Fluss
Evakuieren oder Ausharren
Einsatz und Gewinn
Hilfe der Anderen
Die bedrohte Gemeinschaft
Die alltägliche Gemeinschaft
Gemeinschaft und Individuum im Oderbruch
Die Gemeinschaft der Oderbrüchler
Der Oderbrüchler in Gemeinschaft
Fluten und Risse: Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung
Wissen vom Fluss
Greifbare Gefahr
Odersee
Aufräumen als Neuanfang
Vergangenheit und Zukunft in der Niederung
Gemeinschaft und Individuum in der Ziltendorfer Niederung
Gemeinschaft in der Ziltendorfer Niederung
In der Ziltendorfer Niederung in Gemeinschaft
Gemeinschaften an der Oder – drei Analysen im Vergleich
Ein Ereignis – viele Geschichten
Viele Geschichten um ein Problem
Die Gemeinschaft des Individuums
Literatur
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Die Modernität der Gemeinschaft: Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 [1. Aufl.]
 9783839408865

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René John Die Modernität der Gemeinschaft

2008-02-22 10-15-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630795116|(S.

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René John (Dr. rer. soc.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet »Land- und Agrarsoziologie mit Genderforschung« der Universität Hohenheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind Identität in der Moderne, Raumsoziologie und sozialer Wandel.

2008-02-22 10-15-23 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630795116|(S.

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René John

Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997

2008-02-22 10-15-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630795116|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: René John Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-886-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-02-22 10-15-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630795116|(S.

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Inhalt

Die Möglichkeit der Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft Aktualität der Gemeinschaft Fragen zur Gemeinschaft Beobachtung der Gemeinschaft Gemeinschaft der Individuen in Gesellschaft Spannungsverhältnis oder Vermittlungsproblem? Identität durch Differenz Identität des Individuums Individuum in Gemeinschaft Gemeinschaftliche Grenzen Raum der Gemeinschaft Elemente der Gemeinschaft – Anlässe zur Beobachtung Flüchtiges Beobachten – Gemeinschaft als empirischer Gegenstand Funktionale Analyse als Methodologie Identität – Narration – Gemeinschaft Gemeinschaftsbezug narrativer Identität Realität der Narration Kontingenz der Narration Analyse der Narration Individuelle Erzählungen im Diskurs der Gemeinschaft Gemeinschaft – Oder – Flut Das Oderhochwasser 1997 als Anlass für Gemeinschaft Oderflut – Medienflut Erwartungen und Maßnahmen Überflutung und Evakuierung Helfer, Soldaten und Gemeinschaft Aufräumen Die Fabel der medialen Fluterzählungen

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Gemeinsame Angst, gemeinsame Stärke: Geschichten aus dem Oderbruch Bedrohliche Nachrichten vom Fluss Evakuieren oder Ausharren Einsatz und Gewinn Hilfe der Anderen Die bedrohte Gemeinschaft Die alltägliche Gemeinschaft Gemeinschaft und Individuum im Oderbruch Die Gemeinschaft der Oderbrüchler Der Oderbrüchler in Gemeinschaft Fluten und Risse: Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung Wissen vom Fluss Greifbare Gefahr Odersee Aufräumen als Neuanfang Vergangenheit und Zukunft in der Niederung Gemeinschaft und Individuum in der Ziltendorfer Niederung Gemeinschaft in der Ziltendorfer Niederung In der Ziltendorfer Niederung in Gemeinschaft Gemeinschaften an der Oder – drei Analysen im Vergleich Ein Ereignis – viele Geschichten Viele Geschichten um ein Problem Die Gemeinschaft des Individuums Literatur

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Die Möglichkeit der Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft Aktualität der Gemeinschaft Der Bezug auf Gemeinschaften ist so alltäglich, dass in den allermeisten Fällen darum kein Aufhebens gemacht zu werden braucht. Anzeiger für Aussagen über Gemeinschaften ist der Gebrauch von pluralen Personalpronomen, wobei es einen bedeutenden Unterschied macht, ob man „Wir“ oder „Ihr“ und „Sie“ sagt. „Wir“ schließt einen selbst mit ein, „Ihr“ und „Sie“ jedoch nicht, sondern meint andere und nicht das Eigene. Sind alle Aussagen, auch jene, die nur singuläre Personalpronomen in Anschlag bringen, zunächst Behauptungen, die sich erst noch in weiterer Kommunikation beweisen müssen, so werden diese beim Bezug auf Pluralität in ihrem hypothetischen Gehalt gesteigert. Denn der Bezug auf Gemeinschaft beruft sich immer auf eine Vielzahl anderer, von denen der Sprecher in Gänze unmöglich wissen kann; er nimmt sie für sich bloß in Anspruch. Der Bezug auf Gemeinschaft erfolgt darüber hinaus notwendigerweise als Bezeichnung einer Seite bei Ausschluss der Anderen. Dem „Wir“ steht dann allgemein alles andere und konkret „Ihr“ und „Sie“ gegenüber; „unsere“ Dinge gehören nicht den anderen, deren Dinge konkret als „eure“ oder „ihre“ zu bezeichnen sind. Die Vermehrung des Singulären schafft in paradoxer Weise keine plurale Ganzheit, sondern als Gemeinschaft unweigerlich Partikularität: plurale Teile, die kein Ganzes sein wollen und auch gar kein Ganzes sein können. Es scheint so, dass der Bezug auf Gemeinschaft zur einen Seite hin eine Verdichtung des Singulären bis zu dessen Auflösung vollzieht und auf der anderen Seite eine um so deutlichere Separierung. Diese aus dem Gebrauch pluraler Personalpronomen folgende konträre Strukturierung aufgrund hypothetischer Inanspruchnahme lassen den Bezug auf Gemeinschaft im Grunde unglaubwürdig und darum als ein höchst prekäres Motiv in der Kommunikation erscheinen. Deren Fortsetzung sollte an diesem Punkt unwahrscheinlich werden. Und trotzdem wird

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der Bezug auf Gemeinschaft so alltäglich vollzogen, dass kaum Aufhebens darum gemacht wird. Das kurzfristige Aufflackern von „Wir“- und „Ihr“-Behauptungen in der alltäglichen Kommunikation wird kaum über den Interaktionszusammenhang hinaus wahrgenommen. Bezüge auf Gemeinschaften müssen schon besondere Namen haben und weitreichende gesellschaftliche Folgen zeitigen, damit sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dann fokussieren sich die modernen Beobachtungsinstanzen der Gesellschaft, die Massenmedien und die Soziologie auf die festgestellte Gemeinschaft als Thema. Gemeinschaft war seit Anbeginn der Soziologie eines ihrer Themen. Dabei wurde die Gemeinschaft zur Chiffre des Antimodernen, zum Symbol einer besseren Vergangenheit, die das Zusammenleben als problemloses Miteinander verklärte, weil jeder seinen ihm gerechten Platz einnahm. Aber weil die Instanz dieser Gerechtigkeit durch die Aufklärung und erst recht durch den technisch-wissenschaftlich angefeuerten Wandel ihre Verbindlichkeit verlor, wurden Menschen als Individuen aus ihren angewiesenen Positionen in die unsichere Selbstverantwortung entlassen. Die deutsche Heimatbewegung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert liefert dafür eindrückliche Beispiele (Klueting 1991). Oftmals wurde seitdem von Seiten gesellschaftlicher Beobachtung den Gemeinschaftsbezügen die Sehnsucht nach Ordnung im Sinne einer Repression der Freiheit als Motiv untergeschoben oder andersherum der Bezug auf Gemeinschaft als Humanisierung unverbundener Individuen dargestellt. Für die jeweilige Nuancierung mag auch der Gebrauch von Kollektiv als Synonym für Gemeinschaft stehen. Gemeinschaft aber blieb immer ein aktuelles Thema, dessen Gestalt anhand von gesellschaftlichen Debatten aktualisiert wurde. Die letzte Renaissance der Gemeinschaft als Thema der Soziologie begann Ende der 1980er Jahre und hatte schon einige Vorläufer, unter anderem in der Sozialgeographie. Gemeinschaft wurde seitdem verstärkt territorial beobachtet. Die Titel der Gemeinschaft lauteten hier Region oder auch Heimat. Großräumige Katastrophen, wie das zur Jahrhundertflut stilisierte Oderhochwasser im Sommer 1997, riefen Gemeinschaft als Heimatverbund auf.1 Politische Auseinandersetzungen beriefen sich genau auf diese regionalen und heimatlichen Fixierungen, an die dann recht problemlos ethnische, nationale und kulturelle Attribuierungen anschlossen. Die Debatten und Reflexionen anlässlich der angestrebten und später gescheiterten Länderfusi-

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Wie begrenzt massenmediale Superlative sind, zeigte sich schon fünf Jahre später mit der Elbeflut im Sommer 2002, die prompt zur Jahrtausendflut ausgerufen werden musste, dem dann bald die Prognose eines Jahrhunderts der Fluten folgte (MOZ 2007: 22). Das Gedächtnis der Gesellschaft vergisst die Nachrichten von gestern doch nicht so schnell, wie die Massenmedien glauben möchten.

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on von Berlin und Brandenburg 1995 waren dafür beredtes Beispiel.2 Die wiederentdeckte Gemeinschaft war aber schon nicht mehr länger nur als Planungseinheit interessant, sondern rückte als Aufgabe des Nationbuildings, wie zum Beispiel seit 1990 im Prozess der deutschen Einheit, ins Zentrum der Beobachtung. Überhaupt rief der Zerfallsprozess des so genannten Ostblocks die Gemeinschaft als Ethnie wieder ins Zentrum öffentlicher Debatten, nicht zuletzt durch den verheerenden Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien. Inzwischen sind neue und weiter gespannte Konflikte entbrannt, die aber alle auch mit dem Problem der Gemeinschaft zu tun haben, nämlich der Bestimmung des „Wir“ gegen „Ihr“ und „Sie“. Die politische Färbung der Gemeinschaftsbezüge, das vielfache Leid im Namen solcher auch religiös verbrämten Behauptungen lässt den Begriff und das Phänomen im Arsenal der Antimoderne suchen. Aber das sind Reflexe, die nicht angemessen auf das Gemeinschaftsphänomen reagieren können. Die Gemeinschaft ist nichts aus der Tiefe der Vergangenheit in die Moderne Überkommenes. Die Gemeinschaft, so die Ausgangsthese dieser Arbeit, ist ein modernes Phänomen. Denn es gibt kein vormodernes Leben in der modernen Weltgesellschaft. Vielmehr gibt es sich vormoderner Formen bedienendes Leben, aber das findet immer nur in der Moderne statt.

Fragen zur Gemeinschaft Um das Phänomen der Gemeinschaft als eines der Moderne verstehen zu können, ist es wenig hilfreich, sich an den globalen Konfliktlinien zu orientieren, wie sie die Massenmedien tagtäglich aufzeigen. Das Phänomen müsste erst von den politischen, religiösen, ethnischen und anderen Attributen befreit werden. Mehr, weil grundsätzlichere Aussage zum Phänomen, lässt sich am weniger aufgeladenen Bezug auf Gemeinschaften gewinnen, was anschließend auf jene Gemeinschaftsbehauptungen übertragbar und diskutierbar ist. Der unspektakuläre Bezug auf Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft erfolgt ja trotz der scheinbaren Unwahrscheinlichkeit kommunikativer Anschlüsse. Die Gemeinschaft ist also möglich und scheint auch nötig zu sein. Daraus ergeben sich zwei Fragen mit Leit-

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Konkurrierende Wir-Behauptungen fanden sich allenthalben; als Grund zur Zustimmung aber hatten diese nicht genügt (John 1998). Als Erklärung für die Ablehnung der Fusion vor allem durch die Brandenburger Bürger wurde die Propaganda der Fusionsgegner aufgeführt, für wirkungsvoller aber die Ressentiments der ehemaligen DDR-Bürger gegenüber ihrer ehemaligen DDR-Hauptstadt gehalten (Reimer/Duck 2001). Bei aller Rekonstruktion der wirkmächtigen Differenzen wurde allerdings die andere Seite der Differenz übersehen, nämlich die mit politisch nicht kalkulierbarem Eigensinn plötzlich auftretende Gemeinschaft, die gleich darauf schon nicht mehr zu finden war.

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funktion für die Analyse: Zum einen geht es darum zu klären, wie die Bezüge auf Gemeinschaften, die ja grundsätzlich immer nur von einer Person gegenüber anderen Personen behauptet werden können, durch Anschlüsse an Folgekommunikation bezüglich Gemeinschaft zu sichern sind. Es geht also um die Frage: Wie funktioniert der Bezug auf Gemeinschaft? Die Behauptung der Gemeinschaft kann insofern nur eine wirkliche sein, als sie sich nicht an der Realität der Behauptungen anderer aufreibt. Diese Wirklichkeit muss für alle, die sich auf die partikulare Gemeinschaft beziehen, verbindlich sein. Das unterscheidet die „Wir“-Gemeinschaft von der „Ihr“und „Sie“-Zuschreibung, welche im Grunde immer ein Prozess der Stigmatisierung ist. Zum anderen geht es darum, das eigentliche Problem ausfindig zu machen, das zu den Gemeinschaftsbehauptungen führt. Wenn Gemeinschaften grundsätzlich immer nur von Individuen benannt werden, dann stellt sich die Frage, wie ein Ich-bewusster Sprecher dazu kommt, sein erlebtes Ich zugunsten eines kommunikativ prekären Wir zurückzustellen. Aus dieser Problemzuspitzung ist zu fragen: Welche Funktion hat der Bezug auf Gemeinschaft? Der Bezug auf Gemeinschaft im Sinne einer Funktion zielt nicht auf die Erforschung der Motive des Gemeinschaftsbezuges, diese sollten ja gerade aus dem Fokus der Frage herausgerückt werden. Dafür sollten die attributiven Färbungen des Gemeinschaftsbezuges nicht schon zu stark sein und der Bezug eher unspektakulär wirken. Worum es bei der zweiten Leitfrage geht, ist, das allgemeine Problem des Gemeinschaftsbezuges hinter den konkreten Motiven der Individuen zu entdecken (Merton 1995: 59 ff.). Im Bezug auf Gemeinschaft steckt die Frage der Identifikation der Gemeinschaft wie auch mit der Gemeinschaft. Die Funktion des Bezugs auf Gemeinschaft meint die Funktion der Gemeinschaft selbst. Das Funktionieren zielt auf den Erhalt der Identität der Gemeinschaft, wie sie von anderem unterschieden und wiedererkannt wird. Die Funktion der Gemeinschaft zielt auf das Problem, welches gelöst wird, wenn das Individuum sich qua Bezug auf Gemeinschaft mit der dabei abgezogenen gemeinschaftlichen Identität selbst beschreibt.

Beobachtung der Gemeinschaft Die Gemeinschaftsbehauptungen sind in der Kommunikation von großer Flüchtigkeit gekennzeichnet. Nur in Ausnahmefällen sind Gemeinschaften derartig fixiert, dass Orte aufgesucht werden können, an denen man Gemeinschaft treffen kann. Meistens trifft man Personen, die sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu erkennen geben. Dann werden auch die Orte und erst recht die Regionen fragwürdig und verschwimmen bei der Beobachtung. Trifft man zudem dieselben Personen in anderen Zusammenhängen, treten womöglich ganz andere Gemeinschaftsbezüge im WirGebrauch hervor. Was ist derweil aus den anderen Gemeinschaften ge-

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worden? Ein Kennzeichen der Gemeinschaft ist die Flüchtigkeit der Bezüge auf sie. Das macht es so schwer, diese Bezüge empirisch zu beobachten, um die Fragen nach dem Funktionieren und der Funktion der Gemeinschaft zu klären. Darum muss zunächst ein geeignetes Instrumentarium bereitgestellt werden, das ihre Beobachtung möglich macht. Damit stellt sich die Frage, was überhaupt beobachtet werden kann, was die Anhaltspunkte der Empirie sein können. Hierbei wird schon deutlich, dass die Beobachtung sich ihren Gegenstand konstruiert. Umso mehr müssen Kriterien gefunden werden, die die beobachtungsleitenden Fragen an realistische Befunde binden können und die Idiosynkrasien des Beobachters kontrollierbar halten. Die Literatur über Gemeinschaft berührt viele sozialwissenschaftliche Bereiche von der Anthropologie und Ethnographie über die Geographie und Soziologie bis hin zur Sozialphilosophie. Anhand eines Durchgangs durch die Literatur sollen im ersten Schritt Hinweise auf Antworten der Leitfragen sowie Kategorien zur Beobachtung gewonnenen werden. Antwortmöglichkeiten und Beobachtungskategorien lassen die Fragestellung hinreichend operationalisieren, haben also beobachtungsleitende Funktion, indem sie Hinweise auf Gesichtspunkte wie auch auf die Beobachtungsinstrumente geben, also auf das Was und das Wie der Empirie. Die Methoden der empirischen Beobachtung aber haben selbst theoretische Implikationen, die gegenüber den theoretischen Gesichtspunkten kontrolliert werden müssen. Insofern handelt es sich beim Verhältnis von Theorie und Methoden immer um einen Balanceakt, der entlang der Methodologie im zweiten Schritt entschieden werden muss. Die offenen Flanken auf der einen oder anderen Seite können dann für Kritik und Selbstkritik Anlass sein (Stichweh 1996). Auf dieser Grundlage werden im dritten Schritt Interviews hinsichtlich des präsentierten Gemeinschaftsbezuges analysiert. Für jeden Gemeinschaftsbezug muss es jedoch einen Anlass geben. Solch ein Anlass war das Hochwasser der Oder im Sommer 1997, das neben weiten Teilen Polens und Tschechiens auch die Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) überflutete und das nördlich gelegene Oderbruch drei Wochen lang in Aufregung versetzte. Bei dieser Gelegenheit wurde der Gemeinschaftsbezug in den Massenmedien mittels des Wir-Gebrauchs der vom Hochwasser Betroffenen häufig ausgestellt und war auch Anlass, die Untersuchung zur Gemeinschaft auf diesen empirischen Gegenstand zu gründen. Die Interviews mit den von der Flut Betroffenen wurden zwischen Januar und August 1998 im Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung durchgeführt. Die Geschichten entlang der erinnerten Hochwasserereignisse aus persönlicher Perspektive entgehen dem Essentialismus durch die Vielfalt der Darstellungen. Das Fixieren des flüchtigen „Wir" kann sich darum nicht auf dessen irgendwie objektiven Inhalt richten, sondern muss den gemeinsamen Rahmen, die Grenzen des Kollektives, in den Blick nehmen.

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Die Analyse der Interviews verspricht, das Phänomen der Gemeinschaft in seiner Funktion zu verstehen, um es nicht durch wesenhafte Erklärungen zu denunzieren. Anhand der Gemeinschaftsbezüge in den biographisch angelegten Erzählungen über die Geschehnisse während und nach dem Oderhochwasser sollen Antworten auf die Fragen nach der Möglichkeit der Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft gefunden werden, und zwar hinsichtlich der selbsterhaltenden Operationen, dem Funktionieren und dem Sinn des individuellen Bezuges auf die Gemeinschaft, das heißt, des Problems, das durch den Gemeinschaftsbezug des Individuums gelöst wird.

Gemeinschaft der Individuen in Gesellschaft S p a n n u n g s ve r h ä l t n i s o d e r V e r m i t t l u n g s p r o b l e m ? In den aktuellen gesellschaftswissenschaftlichen Debatten, die Gemeinschaften problematisieren, ist leicht die Sorge um die Einheit der Gesellschaft auszumachen. Der Zustand dieser Einheit wurde im US-amerikanischen Kontext prominent in der Kommunitarismusdebatte problematisiert, die vom Widerspruch individueller Wertorientierungen in partikularen Gemeinschaften und der allgemeinen Verbindlichkeit gesellschaftlicher Normen getrieben wurde (Forst 1993). Die Debatte um das soziale Kapital (Putnam 2001a), die auch im europäischen Kontext starken Anklang fand (Putnam 2001b), entfaltet sich entlang der Besorgnis über die Auswirkungen der Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen für die Verbindlichkeit politischer Formen.3 Ein weiterer Diskussionsstrang zur Gemeinschaft wurde von den teils heftigen Debatten in der Sozialgeographie seit Anfang der 1980er Jahre gebildet. Diese sind für die Soziologie in zweierlei Hinsicht interessant, jedoch nur wenig rezipiert: So wurden hier verschiedene theoretische Zurichtungen von Gemeinschaft zwischen raum-ontisch verankerter Kultur und kommunikativer Konstruktion sowie der empirische Zugriff darauf exemplarisch diskutiert und schließlich auch das Problem eines angemessenen Raumbegriffs berührt.4 Ausgehend von der zunehmenden regionalen Formierung politischen Protests wurde eine regionalis1

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Auf Deutschland bezogen zeigt Jungbauer-Gans (2002), dass die Quantität bloßer Mitgliedschaften noch keine Aussagen über das gesellschaftliche Integrationsmaß zulassen, sondern sich eher als Indiz sozialer Chancenungleichheit lesen lässt. Die auch von ihr bemühte Form sozialen Kapitals als Vermögen findet sich prominent bei Offe (1999, 2001, 2002: 280 f.) und Offe/Fuchs (2001). Daraus ließe sich viel lernen, aber wie es scheint, befassten sich bisher nur die an der jüngsten Diskussion um Raum beteiligten soziologischen Autoren intensiver mit der Sozialgeographie, wobei aber ein Bias zugunsten der ontischen oder halbkonstruktivistischen Konzepte festzustellen ist (zum Beispiel Löw 2001).

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tische Neuausrichtung der Geographie vorgeschlagen (Blotevogel/Heiritz/ Popp 1986, 1987), die Anlass für eine Fülle empirischer Studien und heftiger Kontroversen bot. Einerseits war die sozialgeographische Debatte geprägt von einer Suche nach Gemeinschaften und deren räumlich verankerten, kollektiven Identitäten (zum Beispiel Weichhart 1990; Pohl 1993). Diesem primordialen Essentialismus wurde andererseits unter Hinweis auf Kategoriefehler, nämlich der Verwechslung sozial konstruierter Phänomene mit deren Konstrukteuren, heftig widersprochen und festgestellt, Regionen und regionale Kollektive seien kommunikative Konstrukte (Bahrenberg 1987; Hard 1987, 1996). Nicht zuletzt ist das europäische Einigungsprojekt eine andauernde Projektionsfläche für Spekulationen um eine europaweite Gemeinschaft, mit der sich die nationalstaatlichen Partikularismen überwinden lassen sollen (zum Beispiel Viehoff/Segers 1999).5 Mit der deutschen Einheit brachte die Problematisierung der Stellung von Gemeinschaft zur Gesellschaft in Deutschland einen spezifischen Debattenstrang hervor, in dem das Verhältnis der Ostdeutschen zur gesamtdeutschen Nation thematisiert wurde.6 Die Art der verhandelten Differenzen in den angedeuteten Debatten um das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft lassen sich nach zwei Polen hin ordnen. Wird in der Kommunitarismusdebatte ein unterschiedlich ausbuchstabiertes, aber letztlich unlösbares Spannungsverhältnis – als ein Pol – zwischen gemeinschaftlichen Partikularismus und gesellschaftlichen Universalismus thematisiert, vermittelt die Debatte um das soziale Kapital eher zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft – als anderer Pol. Gemeinschaft erscheint hier als notwendiger Baustein einer allgemein verbindlichen Gesellschaft, die letztlich auch die Freiheit der Partikularismen garantiert. Auch die europaweite Bürgergemeinschaft wird wie eine noch ausstehende, aber notwendige Fundierung des als fremd empfundenen, aber wirkmächtigen EU-Apparats verhandelt.7 Die Debatten über Re3

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Die zunehmende Thematisierung von Gemeinschafts- oder Kollektivbezügen, von partikularen Gemeinschaften seit Ende der 1970er Jahre (Assmann 1999: 130, Fußnote 1) und der erneute Schub mit dem Zusammenbruch des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre wurde unter anderem als „Wiederkehr des Regionalen“ (Lindner 1994) oder als „Kollektive Identität in Krisen“ (Hettlage/Deger/Wagner 1997) beschrieben. So wurden die unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen zwischen Ostund Westdeutschen als Ursache für das gegenseitige Missverstehen diskutiert, und sogar, ob die Ostdeutschen als ethnische Gruppe zu verstehen sind (Howard 1995). Über die diskursive Konstruktion der Ostdeutschen als die andere Seite des aus westdeutscher Sicht Normaldeutschen siehe Ahbe (2004). Für einen weiteren Überblick unter der Perspektive regionaler Identitätsentwicklung in Ostdeutschland siehe John (2007). Die Debatte zur europäischen Identität wird dabei von vielen Seiten befeuert. So waren das Ende des Ost-West-Konfliktes und der folgende Bürgerkrieg auf dem Balkan Kommunikationspromotoren, die von der Erweiterung der Union, insbesondere um die Türkei, abgelöst wurden, die Gefahr eines innereuropäischen Islamismus oder die Migration vor allem aus Afrika.

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gionalgemeinschaften in der Sozialgeographie und die deutsche Ost-WestDifferenz hingegen positionieren sich wie die Kommunitarismusdebatte eher um den Pol des Spannungsverhältnisses. Das Nachdenken über das Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft – als Spannungs- oder Vermittlungsverhältnis – steht schon am Anfang soziologischer Theorietradition. So waren die Sozialwissenschaften mit der Frage beschäftigt, wie aus für sich lebenden Menschen ein stabiles soziales Ordnungsgefüge entsteht und welcher Art diese Ordnung ist. Tönnies (1991) fand für dieses Problem des menschlichen Miteinanders die heute noch beachtete Antwort: Gemeinschaft oder Gesellschaft. Als ursprünglichen Zusammenhang der Individuen stellt Tönnies das organische Gebilde Gemeinschaft vor, dessen Zusammenhalt auf den allen gemeinsamen und unreflektiert-naturhaften Wesenswillen beruht. Demgegenüber funktioniert Gesellschaft einer sozialen Mechanik gleich, die vom vernünftig-rationalen Kürwillen der Individuen bestimmt ist. Die Form des sozialen Zusammenhangs hing für Tönnies entscheidend mit den konkreten Lebensweisen zusammen, die im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung einander ablösen und sich von konkreter Erlebbarkeit zu allgemeineren Zusammenhängen verändern. Die Tönnies’sche Dichotomie hat dann seit der zweiten Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ im Jahr 1912 vor allem die deutschen Debatten angeregt, in denen oft übersehen wurde, dass dieser Gegensatz bei ihrem Autor weniger empirisch als analytisch gemeint war (Breuer 2001; Hondrich 2002). Aber schon mit Webers Variation (1985) der Dichotomie Tönnies’ wird der ergänzende Charakter dieser Unterscheidung klar.6 Ausgehend vom für Weber zentralen Begriff des sozialen Handelns stellt er die Tönnies’sche Unterscheidung performativ um: Nicht Gemeinschaft – sondern Vergemeinschaftung, nicht Gesellschaft – sondern Vergesellschaftung lauten die Begriffe nun. Vergemeinschaftung ist eine soziale Beziehung, die in ihrem Handlungsvollzug „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“; Vergesellschaftung hingegen auf „rational (wert- und zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“ (Weber 1985: 21). Weber betont gegenüber der Gemeinschaft den vertraglichen Aspekt der gesellschaftlichen Beziehung. Die Gemeinschaft ist darum wie bei Tönnies der Gesellschaft vorgelagert – nicht nur historisch, sondern auch im Sozialisationsprozess. Weber bestimmt damit weniger das Wesen der jeweiligen Form als ihre prozesshafte Realisierung, die von den Bezugskontexten abhängt.7 Darum weist Weber im Anschluss an seine dynamisierte Unterscheidung auch darauf hin, 6 7

Wobei Opielka (2004) darin eine Kritik Webers an Tönnies’ Unterscheidung sieht. Siehe dazu auch Bemerkungen Tenbruck betreffend von Lichtblau (2000: 242).

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dass beide Beziehungsformen zueinander hinführen können, sei es, dass ursächlich gefühlte Beziehungen rationale Begründungen erhalten können, sei es, dass diese mit Gemeinsamkeitsgefühlen aufgeladen werden. Gerade in der deutschen Soziologietradition aber hat der Gemeinschaftsbegriff eine Karriere hinter sich, der nicht nur diesen Begriff selbst diskreditierte, sondern beinahe jede Art von Kollektivität in einem suspekten Licht erscheinen lässt. Die sozialwissenschaftlichen Debatten um die Gemeinschaft haben in den letzten zehn Jahren nicht nur deren Aktualität betont, sondern auch Bedenken diesem Begriff gegenüber erneuert, was nicht zuletzt durch die gleichzeitig zunehmenden ethnisch und religiös etikettierten Konflikte verstärkt wird. Ist Gemeinschaft deshalb nur noch als eine soziale Regression zu verstehen, die sich selbst essentialistisch begründend den Anderen notwendigerweise negiert und derart Ursache für die Zerstörung der Gesellschaft ist? Weil das hier bezweifelt wird, muss eine Antwort auf die anschließende Frage gefunden werden, von welchem Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Kommunarität und Kollektivität bei der Beobachtung von Kollektivphänomenen auszugehen ist. Die Geschichte der Rezeption der Tönnies’schen Unterscheidung in Deutschland gibt über die Entstehung des scheinbar unabdingbaren Spannungsverhältnisses im anti-modernistischen Milieu Auskunft. Die Berufung auf Gemeinschaft in der „deutschen Soziologie“ hat, wie Breuer (2001) zeigte, etwas von Tönnies’ Begriff Grundverschiedenes gemeint. Trotz aller essentialistischen Bezüge handelt es sich bei der Gemeinschaft der „deutschen Soziologie“ weniger um das als natürlich geltende, wesenswillentliche Phänomen als um eine emotional aufgeladene, erwählte Gemeinschaft, um einen Bund. Der Bund, der wegen seiner emotionalen Begründung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft stehen sollte, bildet nur ein Zwischenstadium eines letztlich tragischen Projekts: Die ursprüngliche, durch Modernisierung verlorene Gemeinschaft wird (spätestens) in der nationalsozialistischen Revolution, deren Aufgabe unter anderem die Herstellung des Bundes sein sollte, erneuert.8 Aber auch die Kritik des Gemeinschaftsbegriffs verwirft diesen nicht rundheraus, sondern differenziert die Gemeinschaft von ihrer ideologischen Radikalisierung. So ist auch Plessners Grenzschrift (1924) nicht als Ablehnung der Gemeinschaft zu verstehen, wenn er gegen den sozialen Radikalismus der damaligen Jugendbewegung schreibt. Plessner unterscheidet drei Sphären des Sozialen, die Lebensgemeinschaft, die Gesellschaft und die Sachgemeinschaft, die 8

Die deutsche Nachkriegssoziologie scheint aus heutiger Sicht mit der Ablehnung der Gemeinschaftskategorie und deren Derivate, wie zum Beispiel Heimat, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu haben. Denn die Reden von Gemeinschaft zielten auf den Bund. Breuer (1995) hat zur literarisch aufbereiteten Bund-Ideologie im und um den George-Kreis eine lesenswerte Studie verfasst, die aber auch die Anschlussgrenzen der bündischen Idee zur nationalsozialistischen deutlich werden lässt (233 ff.).

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er als aufeinander aufbauend vorstellt, wenngleich sie nicht durch Brücken miteinander verbunden sind (106), sondern diese in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen. Die Lebensgemeinschaft ähnelt am stärksten dem Gemeinschaftsbegriff Tönnies’. Hier sind Blutsbeziehungen der Grund einer persönlich gemeinten Liebe. Aus dieser primären Sphäre muss der Mensch zur Gesellschaft übergehen. Gesellschaftliches Zeremoniell und Pathos ermöglichen ihm, seine Würde aufrechtzuerhalten. Denn die von ihm dabei abverlangten Rollen sind auch Masken, mit denen sich der Menschen vor den Zumutungen der anderen auch schützen kann. Damit überwindet er aber die quantitative Grenze dieses primären Gemeinschaftstyps, die durch die nur unmittelbare, konkrete Gegebenheit der geliebten anderen gekennzeichnet ist. Der Tönnies’sche Wesenswille könnte sich nur hier entfalten, nicht aber in der abstrakteren Gesellschaft des Rollenspiels. Plessner unterscheidet darüber hinaus noch die Sachgemeinschaft, die der Lebens- oder Blutsgemeinschaft entgegengesetzt ist. Die Sachgemeinschaft ist durch die Orientierung auf eine gemeinsame Sache, Glauben oder Lebensart gekennzeichnet. Diese dritte Sphäre erscheint als Sphäre abstrakter Werte, in der der Mensch „die definitive Ruhe seines Selbstbehauptungsdrangs“ (84) finden kann und die ihm so die Handhabe für die Vermittlung zwischen den Sphären bereitstellt. Die vom sozialen Radikalismus gemeinte Wertegemeinschaft findet in der Sachgemeinschaft ihre qualitative Grenze: der öffentliche Sachdiskurs entzieht sich der Lebenswirklichkeit und ist für sich nur eine abstrakte, leblose Hülle. Der soziale Radikalismus, gegen den Plessner argumentiert, ignoriert diese Grenzen der Gemeinschaft, verabsolutiert eine Sphäre gegenüber den anderen und kann dem Menschen nicht gerecht werden. Denn dieser ist für Plessner in allen drei Sphären eingebettet, zunächst als Körper, dann als Seele und schließlich als Geist. Ob der Mensch einfach aufsteigt oder lediglich zwischen den Sphären oszilliert, letztlich ist er auf alle Sozialsphären angewiesen, „um sich zu vollenden und mit eigenen Mitteln aus der Verzweiflung seiner Innerlichkeit zu erlösen“ (84). Die Plessner’sche Argumentation gegen den sozialen Radikalismus spricht für die Analyse Breuers (2001). Vom Sozialradikalismus wurde gar nicht die Gemeinschaft Tönnies’, sondern ein Bündnis anvisiert, das jedoch seinen willkürlichen Charakter mit primordialer Wesens-Rhethorik zu verschleiern suchte.9

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Darauf allein hat sich auch Niedhammer (2000) in seiner historischen Analyse der Beschwörung kollektiver Identität kapriziert, ohne die begrenzte Reichweite seiner Analyse zu sehen. Darum kann auch die obligatorische Stoppargumentation mit dem schon beinahe ängstlichen Verweis auf die „unheimliche“ Geschichte beiseite gelegt werden. Was natürlich nicht schon Sorglosigkeit bedeutet, sondern im Gegenteil bedeutet es, das gesellschaftliche Phänomen, die Gemeinschaft, ernst zu nehmen. Kein Zweifel, dass es da ist. Aber wie kommt es in die Gesellschaft und bleibt so hartnäckig dort?

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Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft stellt sich nun nicht mehr als ein antagonistisches Spannungsverhältnis dar, das unaufhaltsam auf die gegenseitige Zerstörung zusteuert. Nicht die Gemeinschaft ist eine Gefahr für die Gesellschaft, sondern die Radikalisierung der Gemeinschaft. Ebenso führt die Gesellschaft nicht notwendigerweise zur Zersetzung von Gemeinschaft. Gemeinschaft und Gesellschaft haben kein antagonistisches Verhältnis zueinander, sondern ein komplementäres. Aber allein schon unter den Prämissen der Weltgesellschaft (Stichweh 2001, 2004a) ist davon auszugehen, dass Gemeinschaften jeder Art nicht von außen gegenüber der Gesellschaft agieren. Wie alle sozialen Phänomene sind auch Gemeinschaften nur in der Gesellschaft vorstellbar. Insofern handelt es sich beim Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft nicht um ein zerstörerisches Spannungsverhältnis, sondern um ein Vermittlungsproblem, das zu beobachten ist. Welche Gestalt dieses Vermittlungsproblem in den wissenschaftlichen Beschreibungen auch annimmt, es ist doch hinreichend klar geworden, dass Gemeinschaft auch jenseits alltäglicher Beobachtungen eine gesellschaftliche Relevanz zuzusprechen ist. Der historische Überblick kann nun an dieser Stelle beendet werden, um zwei jüngere deutsche Beiträge zur Stellung der Gemeinschaft in der Gesellschaft – einen hoffnungsvollen und einen eher skeptischen – kursorisch vorzustellen, weil so Problemsichten zu bestimmen sind, die im weiteren Verlauf einzunehmen oder zu meiden sind. Der Einbettung von Gemeinschaft in Gesellschaft nimmt sich Opielka (2004) mit Emphase an. In Nachfolge der Parsons’schen Strukturtheorie der Gesellschaft entwirft er eine sogenannte „Viergliederung“, deren Bestandteil neben Wirtschaft, Politik und Legitimation die Gemeinschaft als (in seiner Zählung) dritter „subsystemischer Integrationslevel“ ist. Das spricht für ihre nachdrückliche Neuthematisierung durch den Kommunitarismus und gegen die radikale Individualisierungsthese, die behauptet, dass Gemeinschaftsbezüge tendenziell irrelevant würden. Jedoch scheint Opielka der Gemeinschaftsbegriff als Sozialkategorie nicht hinreichend bestimmt, so dass die Gefahr besteht, dass daran anschließende sozialpolitische Implikationen nur ungenügend ausfallen. Gemeinschaft als Resultat von kommunikativem, als dialogisch und affektuell verstandenem Handeln soll mehr als bloße Unmittelbarkeit auf der Mikroebene, mehr als gefühlte Zugehörigkeit sein. Indem Opielka Parsons’ Komplex gesellschaftlicher Gemeinschaft, die Relation Normativität und Kollektivität (zum Beispiel Parsons 1988: 34 ff.) in ein explizit gemeinschaftliches und ein legitimatorisches Subsystem auflöst, räumt er Gemeinschaft eine zentrale Stellung im Gesellschaftssystem als Subsystem ein.10 Opielka (2004) versteht diese 10 Seine Funktionszuweisung begründet Opielka (2004) mit der an Hegel orientierten Handlungstheorie Johann Heinrichs, den er aber bei verschiedenen Gelegenheiten zunehmend obskuriert (siehe nur die Fußnoten 58 sowie 59

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theoriestrategische Aufwertung als Normalisierung, als Gleichstellung der Gemeinschaft gegenüber dem wirtschaftlichen und politischen Subsystem. Sie erscheint Opielka als der soziale Rahmen für emotionale wie expressive Entäußerungen, die wesentlich für Selbstausdruck und Selbstentfaltung des modernen Menschen seien. Die Gemeinschaft konstituiert jeweils eigene Kultur, Normen und schließlich Moral, deren Bindekraft als gemeinsamer Sinn-Bezug aber durch das legitimatorische Subsystem abgesichert werden muss. Dabei wird dies insbesondere durch Zivil- und HochReligion mit ihrem Ausweis des Absoluten und Göttlichen realisiert. Insofern erscheint die Gemeinschaft mit der auf Letztwerte zielenden Legitimationssphäre eigentümlich verzahnt. Gemeinschaft erscheint bei Opielka wie ein notwendiges Integrations-Korrektiv zu Wirtschaft und Politik, das zu „,höheren‘ Vergesellschaftungsformen als Tausch und Konflikt, [… nämlich zu]: Kooperation und Solidarität, Anerkennung und Liebe, Identität und Schönheit“ (Opielka 2004: 415) führt. Daraus leitet er schließlich den Aufruf an die Soziologie ab, als Anwalt der Gemeinschaft zu agieren. Wenn Gemeinschaft aber integrativer Bestandteil der Gesellschaft ist, kann die Anwaltsfunktion nur darin bestehen, ihr dort mehr Präsens zu verschaffen, die Gesellschaft lebenswerter zu gestalten. Angesichts umsichgreifender national, ethnisch oder religiös begründeter Partikularansprüche kann man allerdings auch den Eindruck gewinnen, es gibt schon zu viel Gemeinschaft. Müssen die Sozialwissenschaften nicht doch eher vor zu viel Gemeinschaft warnen und die Gesellschaft liberalistisch verteidigen? Aber vielleicht suggeriert auch nur die Theoriestruktur Opielkas im Konzert seiner darin nicht reflektierten normativen Annahmen, insbesondere die (wenn auch kritische) Sympathie für den Kommunitarismus, eine Unterrepräsentanz von Gemeinschaft. Die eigentümliche Mehrfachverschachtelung der Systemreferenzen mitsamt der Werteverweise, was so schon bei Parsons angelegt war, macht dieses Modell unübersichtlich und entwickelt letztlich nicht genügend Überzeugungskraft, als dass es für das vorliegende empirische Vorhaben weiter verfolgt werden soll. Festzuhalten ist, dass Gemeinschaft auf Werteerzeugung und -geltung verweist, was als eine Grundlage sozialer Stabilität und Ordnung gelten kann. Die weit verbreitete sozialwissenschaftliche Skepsis gegenüber der Gemeinschaft teilt hingegen auch Peter Fuchs (1992). Gemeinschaft erscheint ihm als eine Möglichkeit, sich der gesellschaftlichen Einheit entgegen der alltäglichen Erfahrung funktionaler Differenzierung und damit einhergehender Wertepluralität zu versichern, die auch das postmoderne Lebensgefühl der Fragmentierung begründet. Unter diesen Umständen kann keine absolute Position der Gesellschaftsbeobachtung behauptet werauf Seite 77 und folgend), so dass sich die Frage aufdrängt, wozu die persönlich gefärbten Informationen dienen, wenn sie doch gar nichts zur theoretischen Aussage beitragen.

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den. Beobachtungen können dann von anderen Positionen wiederum und immer wieder beobachtet und auf ihren jeweiligen Kontext verwiesen und in ihrer Geltung eingeschränkt werden. Klar ist darum, dass die Beobachtung eines Phänomens immer je nach Kontext anders ausfallen kann. Was bindet dann die Gesellschaft als Einheit, wenn die Verständigung über die Beobachtungen immer nur oszillierende Komplexität, nämlich Differenzminimierung zum Preis von Differenzerweiterung sein kann? Die Einheit will sich so nicht einstellen. Mit Einheitssemantiken wie Gemeinschaft, die als Normalitätserwartungen funktionieren, bemerkt Fuchs, kann diese heteronome Komplexität der Gesellschaft nur verdeckt werden. Dabei erfüllt sich nicht gleich ein psychisches Bedürfnis nach Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Für Fuchs (1992: 96) kommt diese Antwort zu schnell. Vielmehr müssen die Bedürfnisauslöser für die Einheitssemantiken benannt werden. Als diese erkennt Fuchs den primären Strukturmodus moderner Gesellschaften, die funktionale Differenzierung. Erst mit dem damit einhergehenden, modernen Verlust gesellschaftlicher Einheit wird diese zum Problem und Gemeinschaft zu einem Bedürfnis. Die nicht mehr vereinbare, funktional immer anders zu beobachtende Welt wird erst wieder in Einheitssemantiken einer Technik der Vermittlung zugeführt. Diese kann nur zeitweilig funktionieren, da die Vermittlung allein unter Ausschluss des Nichtvermittelbaren vonstatten gehen kann, das sich aber über kurz oder lang doch Geltung verschafft.11 Einheitssemantiken rufen Fuchs zufolge „Communio-Konzepte“ auf, die auf vorgeblich Vertrautes rekurrieren. Wenngleich das Vertraute immer durch das Unerwartete im funktional differenzierten, komplexen Gesellschaftsvollzug bedroht ist, binden Communio-Konzepte Individuen mit ihren Beiträgen zumindest temporal kompatibel ein. Aufgrund ihres Vermögens, soziale Einheit zu suggerieren, wirken sie als „Motivverstärker“ (Fuchs 1992: 132). Und mit einem Seitenblick auf soziale Bewegungen ist zu sagen, dass sie eben gesellschaftliche Kontingenz ausblenden, Reflexionsmöglichkeiten unterbinden, dass heißt Selektionen mit Exklusionsfolgen betreiben.12 CommunioKonzepte können erst auf diese Weise ihre eigene Begrenztheit verdecken, indem sie versuchen, sich nicht auf spezifische Kontexte zurückführen zu lassen. Mittels dieser auf Dauer unglaubwürdigen Einheitssemantik werden hingegen die jeweils eigenen Beobachtungsperspektiven absolut ge-

11 Neben den Beispielen, die Fuchs (1992: 98, Fußnote 21) nennt, kann man darüber hinaus jede soziale Bewegung heranziehen, die universale Vertretungsansprüche benennt, dabei aber immer nur partielle Interessen vertreten kann, wie sich unter anderem am gegenseitigen Missverstehen der westdeutschen Frauen(-bewegung) und vieler Frauen der ehemaligen DDR und den so aufscheinenden Verstehens- und Anspruchsgrenzen bemerkbar machte (siehe zum Selbstverständnis ostdeutscher Frauen im Kontext der deutschen Transformation Kröplin/Schneckling (1998) oder Zoll (1999). 12 Siehe dazu zum Beispiel Japp (1993), Eder (2000) oder Attac betreffend John/Knothe (2007).

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setzt und, wie Fuchs meint, eine gemeinschaftliche Nestwärme „intrauteriner Geborgenheit“ (217) und „schöne Gefühle“ (227) geboten.13 Communio-Konzepte wie Gemeinschaften erschienen in dieser Beschreibung als prekär. Wieso erlangen sie trotzdem solche Wirkung und relative Stabilität? Zwar erklärt Fuchs die Entstehungsbedingungen von Gemeinschaften unter der Perspektive der Gesellschaft, verkürzt aber die sie betreibenden und von ihr betriebenen Menschen zu reflexartig Gemeinschaftsbedürftigen. Würde der Mensch als Person nur genug Zeit haben, so scheint es, dann könnte er sich mit der komplexen Realität seines Alltags irgendwann abfinden, auf zu starke, das heißt temporal längerfristige Ontologisierungen und Eindeutigkeiten verzichten und lernen, sich immer punktuell an den jeweiligen Funktionsleistungen entlang zu orientieren: Gemeinschaft dürfte zunehmend obsolet werden. Jedoch zeigt sich im Gegenteil eine Bedeutungszunahme. Hat das mit der sich erst jetzt wirklich durchsetzenden funktionalen Differenzierung zu tun, deren kommunikative Irritationsfolgen noch mehr in Einheitssemantiken abgefedert werden müssen, die wiederum durch weitere Differenzierung aufgelöst werden? Hier deutet sich ein sich selbst verstärkender Zirkel an, der aber gerade seine Bedingungen, Menschen nämlich, außen vor lässt. Das ist im systemtheoretischen Paradigma erst einmal folgerichtig, aber wenn der Mensch als gesellschaftliches Medium im Vollzug der Gesellschaft Form annimmt, dann kommt er als Individuum und als Person in den Blick, was zur Frage führt: Was treibt die individualisierten Individuen, sich ihrer IchIndividualität im Gemeinschafts-Wir zu entkleiden? Aber ist das überhaupt die richtige Frage? Entgegen der bisherigen Thematisierung der Gemeinschaft aus der Perspektive der Gesellschaft muss das Individuum stärker als bisher in den Blick genommen werden, von wo aus die Frage nach dem Funktionieren von Gemeinschaft und vielleicht allgemeiner von Communio-Konzepten in Einheitssemantiken erneut aufgeklärt werden kann.

Identität durch Differenz Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft erinnert nicht von ungefähr an Durkheims Unterscheidung mechanischer und organischer Solidarität (Durkheim 1988), wobei aber die mitlaufenden historischen Vorzeichen gegenüber Tönnies vertauscht sind (so auch Bickel

13 In gewisser Weise kommt hier auch die Nicht-Beobachtbarkeit der eigenen Beobachtungsposition, der blinde Fleck der Beobachtung, zur Geltung: Der eigene Standpunkt kann nicht gleich mitreflektiert werden und wird so unter der Hand in seiner Geltung absolut. Auch darin sind die alltäglichen Ontologisierungen begründet.

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2000).14 Wichtiger als diese Unterscheidung war für Durkheim die aus der differenzierenden Modernisierung der Gesellschaft folgende Problematik des Zusammenhalts der weder stratifikationsmechanisch noch konfessionell gebundenen Individuen. Damit gewinnt die Frage nach der Bindung der Individuen in der Gesellschaft eine andere Kontur. Es geht nicht mehr um die Form dieser Bindung, es geht um die sozialisierende Kraft, um das Wesen dieser Bindungen, die sowohl für die Gesellschaft als auch für die Gemeinschaft zutreffen. Die Aufklärung über die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft war konstitutiv für die Soziologie (Luhmann 1993a: 149 ff.), die sich seit ihrer Gründung mit viel Mühe der Gesellschaft als aus Individuen zusammengesetzt gedachte Einheit widmet. Für Durkheim (1986) konnte die Bindung in der ausdifferenzierten, durch organische Solidarität funktionierenden modernen Gesellschaft nur in einer neuen Art Religion gründen, die jedes Individuum als Individuum in sich selbst trägt. Die Selbstwertschätzung ist dann die Bedingung der Anerkennung anderer Individuen und der daraus folgenden gegenseitigen Bindung, letztlich des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dabei wird die individuelle Unverwechselbarkeit im Individualismus als „Religion der Menschheit“ (59) aufgehoben.15 Durkheim sieht darin eine individualistische Moral zur Wirkung kommen, die auf durch differenzierungsbedingt zunehmende Komplexität der Gesellschaft sich ergebenden höheren Freiheitsgrade antwortet. Denn wegen der Arbeitsteilung ist „jeder Kopf auf andere Punkte des Horizonts gerichtet“ (63). Bei etwaigen Auseinandersetzungen kommt nicht nur die vernünftige gegenseitige Anerkennung spezifischer Kompetenzen zu Geltung. Diese setzt immer ein Mindestmaß geteilter Sachkompetenz voraus, was gerade durch die zunehmende gesellschaftliche Differenzierung unwahrscheinlicher wird. Was als Grundlage von Einheit der Gesellschaft bleibt, ist die Eigenschaft als Mensch, die Idee der menschlichen Person als universale Mindestanforderung, was für Durkheim den Kern des Individualismus als religiös begründete Moral ausmacht. Durkheim rekurriert hier zwar auf zwei Einheitsbegriffe, nämlich Subjekt und einheitliche Gesellschaft, begründet diese aber mit einer Werteorientierung und nicht mit einer Wesenheit, die primordial vorgegeben wäre. Allerdings stellt Durkheim sich die moralische Bindung der Individuen in der Gesellschaft als kausale Folge der gesellschaftlichen Notwendigkeit 14 Die Unterscheidung mechanischer und organischer Solidarität meint bei Durkheim keine antagonistische Gegenüberstellung, sondern entgegengesetzte, sich gegenseitig limitierende Positionen auf einem Kontinuum gesellschaftlicher Formen (Durkheim 1988: 181 f.). 15 Religion stellt Durkheim (1986: 62) dabei kurz als „die Gesamtheit von Glaubenshaltungen und kollektiven Praktiken von besonderer Autorität“ vor. Sie beinhaltet sowohl das Heilige als auch eine Vorstellung des Göttlichen: Beides ist der individuelle Mensch, als der jeder sich erlebt und Grund ist, an das Individuelle jedes anderen Menschen zu glauben.

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für solche Bindung vor. Dabei wird jedes Individuum verantwortlich, diese Bindung zu realisieren, was jedoch wiederum ein gehöriges Maß vernünftiger Einsicht voraussetzt, darauf weist Müller (1986) hin.16 An den Überlegungen Durkheims aber ist die Werteorientierung, die am Individuum anknüpft und dieses konditioniert und entsprechend bindungsfähig macht, festzuhalten. Deshalb muss jedoch nicht schon ein religiöser Individualismus als das Zusammenhang garantierende Band in der Gesellschaft angenommen werden. Zwei Arten des werteerzeugenden und reproduzierenden Selbstbezuges werden hier miteinander verknüpft. Zum einen handelt es sich um den gesellschaftlich orientierten Selbstbezug, der Gesellschaft begründet, zum anderen um den individuell orientierten Selbstbezug, der das Individuum erst möglich macht. Beide Selbstbezüge sind bei Durkheim schon eng aufeinander verwiesen. Der sozialwissenschaftliche Diskurs hat spätestens infolge Meads und mit den Arbeiten Eriksons diese Selbstbeschreibungen als Identität bezeichnet, die auf Individuen, aber auch auf Gemeinschaft oder Kollektive zugerechnet oder von diesen angefertigt werden.

Identität des Individuums Den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Individuum hat Mead (1973) folgenreich beschrieben. Meads Problem war nicht die Gesellschaft, die er einfach voraussetzte, sondern die gesellschaftliche Konstitution der Identität als Selbsterfahrung. Die Selbsterfahrung nimmt Mead als einen Prozess an, der – nicht unähnlich späteren Vorstellungen von Biographie – Lebenserfahrungen zeitlich organisiert. Für diese Reflexionsleistung ist das Individuum auf die Gesellschaft angewiesen, die bei Mead die Form von relevanten Gemeinschaften annimmt. Der Bezug erfolgt durch Kommunikation, die auf gemeinsame Symbole mittels sinnvoller Rollenübernahme rekurriert. Auf diese Weise kann das Individuum von konkreten Personen abstrahieren und sich auf Gemeinschaft als generalisierten Anderen beziehen. Identität wird dann als Zusammenspiel kontextspezifischer Zumutungen oder Erwartungshaltungen anderer und deren Reflexion hinsichtlich eigener Erwartungen erfahren. Erst die Vermittlung dieser beiden Aspekte, durch die „Hereinnahme“ (230 ff.) gesellschaftlicher Normen und Erwartungen, lässt eine aspektreiche und einheitliche Identi16 Im Übrigen ist hier einer der Vorteile zu erkennen, dass Luhmann den Menschen bewusst nicht zum Nabel der Gesellschaft macht. Mit dem Herausstellen der Menschen aus der Gesellschaft in die Umwelt erledigt sich auch deren vernunftbedingte Verantwortung für diese: Gesellschaft hängt nicht von der konformen Teilnahme eines Jeden ab, sondern einfach, ob Kommunikation – auch entgegen aller Erwartung – abläuft. Da das als Mensch erkennbare, körperlich situierte Bewusstsein vor allem vermittels des Sprachapparates Sinn in Kommunikation überführen kann, ist der Mensch aber eine notwendige Bedingung der Gesellschaft.

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tät entstehen.17 Psychische Erkrankungen, wie Schizophrenie, sind dann Resultat nichtgelungener Vermittlung. Mead (216 ff.) betont den normativen Zuschnitt von Identität, wenn er ausführt, dass Organisationen oder Gemeinschaften als generalisierte Andere identitäre Individuen erwarten.18 Dabei sind beide Seiten, Gemeinschaft wie Individuum, füreinander nicht durchschaubar und können Überraschungen bereithalten. Diese Überraschungen kann das Individuum, sich auf die eingenommenen Wertvorstellungen kaprizierend, konventionell bewältigen oder aber kreativ bearbeiten, macht es seine eigenen Vorstellung zum Maßstab von Kommunikation und Handeln. Welche Seite situativ auch betont wird, das Individuum wechselt zwischen dem Gemeinschafts- und dem Selbstbezug bei der Realisierung seiner Identität hin und her, was Mead auch als zwei Phasen des Identitätsprozesses kennzeichnet. Weil Identität temporär dem Geschehen als bewusste Reflexion von Selbstansprüchen und Fremderwartungen nachgestellt ist, kann sich das Individuum aber auch seiner Selbst nicht sicher sein, wenn Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt individuelle Reaktionen erfordern.19 Der sich in der Überraschung öffnende Widerspruch zwischen den Phasen der Identität muss im reflexiven Anschluss zu einer neuen Einheit überbrückt werden. Der Identitätsprozess ist also in Meads Augen nie wirklich abgeschlossen. Aber in einer weiteren Hinsicht ist Identität nur im Bezug auf Gesellschaft herzustellen: Sie muss von den anderen anerkannt werden, dass heißt den Erwartungen der anderen hinreichend entsprechen, ohne dass dadurch aber die individuelle Eigenheit negiert wird. Mead sieht nur im vom reflexiven Gemeinschaftsbezug gedämpften Überlegenheitsgefühl gegenüber den anderen die notwendige Bedingung für die Beständigkeit dieser Eigenheit. Auf Grundlage von Meads Vorstellung einer aspektreichen, aktiv vermittelnden Identität lässt sich dann auch die modernistische Ablehnung postmoderner Skepsis an Identitätsvorstellungen verstehen.20 Aber für die Skepsis muss es Gründe geben, die zum einen in Eriksons Rezeption und Weiterentwicklung der Identitätsvorstellungen zu vermuten sind. Zum anderen müssen sich aber auch Gründe bei Mead selbst finden lassen. So hat die normative Vorstellung einer durch Identität hergestellten individuellen Einheit bei Mead etwas Unausweichliches. Die Annahme oder Ablehnung dieser These scheint bis heute Grund der Debatte für und wider Identität zu sein und schließt unmittelbar an den Streit um den Realitätsgehalt der

17 Schon bei Mead geht es also nicht um eine gesellschaftliche Determination des Individuums, sondern um die aktive Aneignung von Umwelt, was nur über Sinnanschlüsse zu bewerkstelligen ist. 18 Was Link (1999) als Programm des Normalismus diskutiert. 19 „Man hat das ,Ich‘ nie völlig im Griff“, bemerkt Mead (247 f.). 20 So bei Joas (1999: 238 ff.).

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Rede vom handlungsmächtigen Subjekt an. Im Zusammenhang steht damit aber auch das Konzept des generalisierten Anderen. Zwar nimmt Mead ganz alltagspraktisch unterschiedlichste soziale Situationen mit unterschiedlichen Anforderungen an, es steht aber immer nur eine Normierung durch einen generalisierten Anderen zur Verfügung. Das spricht nicht gegen den Weitblick der Konzeption Meads, aber zeigt doch seine (unvermeidliche) Zeitgebundenheit, die man zumindest kritisch befragen muss. Meads Arbeiten waren und sind immer noch der Ausgang der Identitätsforschung, die in Erikson ihren wohl ersten klassischen Vertreter gefunden hatte. Identität diskutiert Erikson (1973) als psychosozialen und psychoanalytischen Begriff, wobei er ihr eine klare Funktion zuweist: Die sich in der Adoleszenz konstituierende Ich-Identität ist Bedingung für die Bewältigung der Anforderungen des Erwachsenendaseins. Denn, so schließt Erikson im Anschluss an eine Betrachtung G. B. Shaws Lebensweges, „[u]m seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, muß der Mensch zu einer konfliktfreien, gewohnheitsmäßigen Beherrschung seiner vornehmlichen Begabung kommen, die er zu seinem Beruf macht“ (135). Dazu muss Identität sich im Spannungsverhältnis zwischen SelbstKontinuierung und Gruppenzugehörigkeit bewähren. Erikson hält klar am interaktionistischen Modell für die gegenseitige Sinnzuschreibung zwischen Individuum und relevanten Anderen fest. Mittels dreier „Ansätze“ diskutiert Erikson für die Psychologie relevante Aspekte von Identität. Der „genetische“ hebt den Zusammenhang von Identitätsentwicklung und Lebensgeschichte hervor.21 Dieser kann anhand von Prozessstadien der Abgrenzung, Rollenübernahme und Selbstprojektion, die durch gegenseitige Anerkennung und Ablösungen gesteuert sind, beobachtet werden. Insbesondere der Adoleszenz misst er große Bedeutung bei, denn hier bilde sich der „endgültige Rahmen“ als Voraussetzung der Identitätsbildung aus. Der weitere Verlauf des Übergangs ins Erwachsenenalter mit den neuen Anforderungen an Selbständigkeit und Eigenverantwortung manifestiert sich als Krise der Identität, deren experimentelle Bewältigung erst die relativ abgeschlossene Erwachsenenidentität erzeugt. Diese erkennt auch Erikson als immer nur vorläufig. Bei Veränderungen handelt es sich aber zumeist nur noch um Modifikationen, die sich an Lebensplänen und Rollen orientieren. Den gesellschaftlichen Rahmen der Identitätsentwicklung nimmt Erikson mit dem „sozialpsychologi21 Identität muss darum schon aus historischen Gründen als ein Krisenbegriff verstanden werden, betont Straub (1998), anders würde sie sich nicht voll erschließen. Dagegen lässt sich einwenden, dass die Krise selbst nur vor dem Hintergrund von Normalerwartungen verstanden werden kann, also den normativen Vorstellungen gelingender Identität. Diese sind Voraussetzungen der Erikson’schen Konzeption und von daher zu kritisieren, wie Straub (76, Fußnote 8) aber ebenfalls zeigt. So besagt dieser Bezug vielleicht nicht mehr, als dass der ursprünglich therapeutische Ansatz zur Identität gut gemeint war.

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schen“ Ansatz im expliziten Anschluss vor allem an Mead und Sullivan in den Blick. Die soziale Umwelt repräsentiert sich dem Individuum durch das Ideal-Ich, welches dem sozialen ICH Meads entspricht. Die Selbstvorstellungen müssen mit dem Ideal-Ich und so mit der sozialen Realität abgeglichen werden. Nur so konstituiert sich Ich-Identität ständig realitätssensibel. Gerät die Ich-Identität ins Schwanken, kann aber das Ideal-Ich sein Gewicht gegenüber den Selbstvorstellungen erhöhen. Erikson sieht darin die Ideologien zur Wirkung kommen, denen er gerade in dieser Situation eine stabilisierende Wirkung für die Ich-Identität zuschreibt. Mit dem „genetischen“ Ansatz ist der Normalverlauf der Identitätsentwicklung zu beschreiben, mit dem „sozialpsychologischen“ die soziale Rahmung hervorzuheben. Die damit benannten individuellen Bedingungen und deren sozial bedingte Entfaltung sind die Komplexe, die als Ursachenherde für die mit dem „pathographischen“ Ansatz zu beobachtenden identitätsbedingten Krankheitsbilder gelten. Als solche bezeichnet Erikson die Zersetzung der Identitätsvorstellungen oder durch Missachtung erzeugte negative Identität, was später bei Goffman (1975) als Stigmatisierung beschrieben wird. Indem Erikson die diagnostisch-beschreibende Perspektive auf die Bedingungen der Identitätsbildung mit der analytisch-therapeutischen kombiniert, verstärkt er nochmals die schon bei Mead angelegte Normativität der Identitätskonstitution für den Lebensverlauf. Einerseits erlangen dadurch individuelles Vermögen, aber vor allem die Anerkennungsproblematik Aufmerksamkeit. Andererseits erscheint Identität doch als ein relativ abschließbares Projekt, das bei aller prinzipiellen Offenheit in der postadoleszenten Lebensphase nur noch Modifikation, aber keine Veränderung erfährt. Mit Identität stellt sich das Individuum als sich selbst bejahende Einheit her. Alles, was sich zu weit von diesem Ideal entfernt, muss in den Augen des Therapeuten als pathologisch eingeschätzt werden.22 Seit der Rezeption Meads, den Arbeiten Eriksons und Goffmans Studien gilt unbestritten, dass Individuen sich immer nur im interaktionistischen Bezug auf andere selbst bestimmen können. Identität scheint nun prinzipiell als Ideal der Eindeutigkeit und Widerspruchslosigkeit gekennzeichnet. Erst auf dieser Einheit garantierenden Grundlage soll ein Subjekt handlungsmächtig agieren können, weil es sich selbst gegenüber den anderen erkennen kann und so Motivationen und Handlungsorientierungen als eigene Antriebe sowie innere wie äußere Widerstände erkennbar werden.23

22 Goffmans Studien, vor allem zur Stigmatisierung (Goffman 1975) haben daran nur soviel geändert, als er zeigen konnte, welche Auswirkungen Ablehnungserfahrungen haben und auf welche Art Individuen lernen, mit ihrer durch die Stigma-Übernahme angenommene negative Identität umzugehen. 23 In diesem Sinne bringen Döbert, Habermas und Nunner-Winkler (1980) die Ende der 1970er Jahre schon vielfältig differenzierte Identitätsforschung auf den Punkt.

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Das sich an der Identitätssäule aufrichtende handlungsmächtige Subjekt als abschließbares Projekt wurde aber von verschiedenen Seiten kritisiert. Diese Kritik speiste sich aus der immer zwingender werdenden Reflexion von Unübersichtlichkeiten im Zuge der als Globalisierung diskutierten gesellschaftlichen Veränderungen. Exemplarisch für die Postmoderne bestritt Baudrillard (1990) die Möglichkeit des einheitlichen Subjekts. Das Individuum zerspringt dem Autor zufolge unter den Anforderungen der modernen Gesellschaft in Fragmente gleichbedeutender Egos. Die Differenz zwischen Alter und Ego und die daraus folgenden Probleme von Fremdbestimmung und Entfremdung haben dann keinen Sinn mehr. Allein die eigenen Ego-Fragmente können noch in Bezug gebracht werden, aber nur noch vermittels einer Reflexion durch programmierte, nichtkontingente Maschinen. Das Verlangen nach Selbstgewissheit ist dann in medial vermittelten Selbstgesprächen, durch die Maschine als perfekten Spiegel, zu befriedigen. Das heißt bei Baudrillard: „Das Ganze des menschlichen Wesens […] ist in die mechanischen Prothesen übergegangen“ (253). Da aber der Mensch die Maschinen programmiert, bieten auch diese keine Garantie für das tatsächliche Zu-Sich-Kommen des Menschen als Solitär. Der Mensch scheint als Wesenseinheit verloren. Vom modernen Subjekt bleiben vielfache, nebeneinander gültige holistische Bilder übrig, die einander nicht mehr zu vermitteln sind. Den Horizont, an dem Alter als ganzer Mensch auftauchen könnte, um diese Teile zusammenzufügen, gibt es nicht mehr. Er ist schon von egomanischer Spiegeltechnik verstellt. Die diagnostizierte Unausweichlichkeit der Vervielfältigung des Selbstverständnisses muss die seit Erikson popularisierte Idee der einheitsgarantierenden Identität diskreditieren.24 Auch, wird konstatiert, fehlten den Menschen einfach die Ressourcen, gegen die Flut medial vermittelter Selbstbilder anzukommen (Gergen 1991). Diese hoch getriebenen gesellschaftlichen Anforderungen erzeugen nach Giddens (1991) eine neue reflexive Individualidentität. Selbst- oder im Traditionsanschluss IchIdentität ergibt sich für ihn zunächst aus dem Bewusstsein über das individuelle Selbst. Dieses Bewusstsein wird durch die auf gemeinsamen Wertevorstellungen beruhende Gruppenidentität gebrochen, die im gesellschaftlichen Anerkennungsprozess als soziale Identität erfahren wird.25 Die moderne Gesellschaft ist für Giddens von einer pluralen Regionalisierung der Lebensaktivitäten gekennzeichnet, was Wahlmöglichkeiten er24 Inzwischen ist die Pluralität individueller Identitäten ein unhintergehbarer Topos (siehe nur die Beiträge in Straub/Renn 2002), von dem aus dann allerdings erneut die Auseinandersetzung um notwendige Einheitskonstruktion oder kontingenter Selbstbehauptung geführt wird. 25 Damit modifiziert Giddens die Dichotomie zwischen personaler und sozialer Identität unter Berücksichtigung der Mikro-Meso-Makro-Differenzierung von Gesellschaftsstruktur, was aber in seiner weiteren Diskussion keine Rolle mehr spielt.

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zeugt, die aber eigentlich Notwendigkeiten der Wahl sind. Reflexivmoderne Individuen richten sich entsprechend mit der Ausprägung von Lebensstilen im Sinne gewählter Lebensgestaltung ein, die dann soziale Stratifikation ausbilden. Die Pluralisierung der gesellschaftlichen Sphären und die damit oktroyierten Wahlmöglichkeiten lassen die Individuen aber in Dilemmata bei der Verfertigung von Selbstbildern geraten. Diese Dilemmata sind die zwischen Einheit und Fragmentierung, Machtlosigkeit und Aneignung, Authentizität und Unsicherheit sowie personalisierter und ökonomisch verwerteter Erfahrungen. Die individuellen Antworten darauf erscheinen Giddens essentiell für die Ausprägung moderner Selbst-Identitäten. Im Umgang mit den Dilemmata muss die Herstellung von Identität aktiv von einem Lebensplan angeleitet werden. Der Plan, gefördert und gestützt durch staatliche Institutionen, kann ein Gleichgewicht der extremen Ausprägungen von Selbsterfahrung gewährleisten, um die Gefahr personaler Sinnlosigkeit zu bannen.26 Jedoch muss der dadurch erreichte Gewinn an Sicherheit und Vertrauen für die Lebensplanung mit einer weiter zunehmenden Selbstdisziplinierung bezahlt werden. Die durch sozialstaatliche Institutionen angestoßene individuelle Emanzipation stößt an Grenzen. Die in der Lebensplanung eingelassene Wahl von Lebensstilen steuert aber auf ein weiteres, gesellschaftlich relevantes Problem zu, auf die Pluralisierung von Werteorientierungen. Die Gesellschaft erscheint nunmehr als „technically competent but morally arid social environment“ (201), in der es keine verbindlichen Werte mehr gibt. Aufgeworfen wird die Frage nach Moral für Giddens durch eine sich aus der Lebensstil-Wahl ergebenden Politik, der „life-politics“. Dabei geht es nicht mehr nur um die individuelle Wahlfreiheit, sondern um Strategien der Selbstbeherrschung und des Selbstmanagements. Diese haben nicht nur individuelle Bedeutung, sondern wirken sich nach Giddens ebenso auf globale gesellschaftliche Zusammenhänge aus.27 Verbindliche Moral ist allerdings nicht in Sicht, lediglich der angemeldete Bedarf danach, der durch die Aktivitäten sozialer Bewegungen zwar ein Echo, aber – so ist hinzuzufügen – ein ebenfalls plurales findet.28 Der Bedarf an Moral ist bei weitem nicht gedeckt, wie Giddens der Postmoderne entgegenhält, aber eine Antwort, auf die von Boudrillard ausgemachten Fragmentierung des Subjekts bleibt er schuldig.

26 In gewisser Weise bewegt sich das Individuum hier zwischen Omnipotenz und Impotenz, die jeweils Erfahrungen von Grenzenlosigkeit sind. Mindestens auf Interaktionsebene ist das gelingende Leben nach Benjamin (1990) eine Art spannungshaltendes Pas de deux zwischen diesen Polen. 27 Für eine Übersicht siehe Giddens (1991: 227). 28 Ob soziale Bewegungen überhaupt in der Lage sind, Antworten auf die gesellschaftlichen Probleme zu geben, bezweifeln auch langjährige Beobachter und schlagen alternative Strategien vor (Eder 2000). Allerdings kann man auch einwenden, die an die sozialen Bewegungen herangetragenen Hoffnungen seien überzogen (John/ Knothe 2007).

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Der Aufruf an Moral ist nicht nur Folge eines Orientierungsbedarfes täglicher Lebensstrategien, sondern erscheint nun auch als die bei Giddens fehlende Grundlage, aufgrund der überhaupt erst Lebensentwürfe und -strategien, die „politics of life“, entwickelt werden können; ein Forschungsproblem, das sich der Autor für weitere Arbeiten aufgibt. So bleibt am Ende festzustellen, dass die Menschen auf die „Unübersichtlichkeit“ der Gesellschaft mit ihrer eigenen Unübersichtlichkeit reagieren, ohne dass aber klar würde, welche Verbindlichkeit die Selbstprojekte entfalten können, wenn sie sich doch nur auf unverbindliche Grundlagen beziehen können. Die Vorstellung, dass Identität auf die ontologische Einheit des Subjekts verweist, ist spätestens seit der postmodernen Kritik zweifelhaft. Die Auflösung eindeutiger Bezüge in der Gesellschaft scheint das Subjekt in eine ambivalente Vielfalt zu fragmentieren, die nicht mehr problemlos als Einheit zu beobachten ist. Aber dann kann das Subjekt nicht mehr als einzigartige Quelle und Ziel handlungsmächtiger Selbstbestimmtheit gelten. Die zersetzende Pluralisierung des Subjekts wirft die Frage auf, auf wen eigentlich Motive und Folgen von Handlungen zuzurechnen sind, wie Verantwortliche noch identifiziert werden können und sich als solche selbst identifizieren und was den Menschen in die Lage versetzt, bestimmen zu können, wer er ist. Eine Antwort auf das Problem, aus der Vielfalt an Identitätsentwürfen im pluralistischen Kontext der modernen Gesellschaft doch eine Einheit des Subjekts zu gewinnen, findet sich im Konzept alltäglicher Identitätsarbeit. Aus subjektorientierter, sozial-psychologischer Sicht wird damit ein Identitätsmodell beschrieben, das anstelle der Schizophrenie als zukünftige Normalität auf Integration vieler Identitätsaspekte zu einer vielfältigen „Patchworkidentität“ setzt. Das Konzept alltäglicher Identitätsarbeit (Keupp/Höfer 1997; Keupp u.a. 1999) bricht nicht mit Eriksons Entwicklungspsychologie, sondern entwickelt diese weiter, indem Identität zum lebenslangen multiplen Selbst-Projekt erklärt wird. Die divergenten Selbst-Erfahrungen, die die moderne Gesellschaft nur noch zulässt, fügen sich zu spezifischen Teilidentitäten. Das Individuum verfügt damit über eine Vielzahl an Selbst-Bildern. Die Teilidentitäten werden aber in biographischen Narrationen miteinander verknüpft und widersprechende Aspekte unter Gesichtspunkten der individuellen Ressourcenallokation miteinander ausgehandelt. Identitätsarbeit ist darum als eine Koordination, ein Management von Teilidentitäten, zu verstehen. Weil mit der Vermittlungsleistung alltäglicher Identitätsarbeit die Einheit des Subjektes gesichert werden soll, ist sie auch eine Antwort auf die Fragmentierungsthese über die Auflösung des Subjekts. Die Vermittlung der Teilidentitäten orientiert sich dabei am Erfolg, das heißt an der Anschlussfähigkeit von Selbst-Narrationen, die immer mehr kanonische Elemente wie Kernnarrationen und Leitsätze ansammeln und zur Selbst-Ideologie gerinnen,

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die nun keine Erikson’sche Not mehr ist, sondern eine Tugend. Auf dieser Grundlage wird ein Identitätsgefühl im Sinne einer Selbstvertrautheit hervorgebracht. Die Identitätsbildung im Modell alltäglicher Identitätsarbeit scheint ein zunehmend selbstreferenzieller Prozess zu sein. Allerdings ist im Identitätsgefühl auch Selbstwertschätzung eingelassen, die aber nur auf Grundlage der Anerkennung durch andere zu realisieren ist (Honneth 1994) und insofern die Selbstreferenzialität bricht, ohne dass hier klar wird, auf welche Art das geschieht. Damit bleibt unklar, inwiefern anschlussfähiger Erfolg an andere soziale Situationen, die potenziell öffnende mit der schließenden Steigerung von Identität, nämlich der Konfirmierung zur Kernidentität in der Identitätsarbeit, zu vereinbaren ist. Drei Probleme sind im Rahmen alltäglicher Identitätsarbeit zu lösen: die Herstellung von Kohärenz, der Ausgleich zwischen Autonomie und Anerkennung und die Herstellung von Authentizität im Passungsverhältnis von Subjekt, Prozess und Konstruktionen der Identitätsarbeit. Jedoch muss man an dieser Stelle fragen, ob hier die Einheit der Gesellschaft für die Einheit des Subjektes aufgegeben wird, wenn es heißt, dass sich jeder derart als „handlungsfähiges Subjekt in seiner jeweiligen sozialen Welt“ (Keupp u.a. 1999: 243) erfährt. Oder wird hier darauf hingewiesen, dass das Subjekt doch wieder nur sehr spezifisch im jeweiligen Kontext zur Geltung kommt? Aber dann kann das Konzept alltäglicher Identitätsarbeit nicht als Antwort auf die Fragmentierungsthese gelten. Denn die Einheit gilt nur noch für sich, auf das Individuum, nicht mehr an sich, auf die Allgemeinheit, die Gesellschaft bezogen. Diese Konstellation hat nun allerdings auch Folgen für die Aufrechterhaltung der These über die Einheit des Subjekts. Wenn Identitätsprozesse auf ein Passungsverhältnis zulaufen, bestimmt sich das nur aus dem Individuum in selbstreferenzieller Weise.29 Für die Selbsterfahrung und die sie bedingende Wertschätzung des Selbst muss aber – wie bereits bemerkt – auf Anerkennungsverhältnisse Bezug genommen werden; das Subjekt braucht also auch eine fremdreferenzielle Orientierung am Anderen. Hier treten sowohl das Problem Meads, die Orientierung am generalisierten Anderen, als auch das Boudrillards, nämlich der Verlust des generalisierten Anderen, wieder in aller Schärfe auf. Deutlich wird, dass nicht die kohärente Einheit des Subjekts durch die geradezu wie Autopoiesis anmutende Selbstreferenz zu behaupten ist, und gleichzeitig die auf die Pluralität der Gesellschaft verwiesen werden kann. In der weiteren Rezep-

29 So zum Beispiel, wenn die Kohärenzherstellung allein für das Subjekt noch Authentizität beinhalten muss. Beweist sich aber diese nicht erst im Bezug auf andere, der Anerkennung des Selbstentwurfes als Ergebnisse eigenwilliger Akte? Aber dann haftet der Subjekt-Fiktion, der Illusion des Selbst, wieder eine dauerhafte Prekarität, eine Vorläufigkeit an, die sich in ihrem Verweis auf andere Möglichkeiten als normal herausstellen müsste.

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tion des Konzepts alltäglicher Identitätsarbeit machen sich entsprechend Zweifel bemerkbar. Das Subjekt mit seiner Kohärenz, Autonomie, Anerkennung und seinem individuellen Passungsverhältnis erscheint höchst temporalisiert, vorläufig und eben kontingent. Damit löst sich aber jede Vorstellung von der Einheit auf, was schließlich nicht folgenlos für den Subjektbegriff bleiben kann. Wird in der Sozialpsychologie auf ein multiples Subjekt verwiesen, mögen für das kontra-intuitive Beharren auf ein Einheitssubjekt noch Gründe im Kohärenzimperativ liegen. Wieso aber Soziologen darauf bestehen sollen, bleibt unklar, erst recht, wenn im Kontext des Beck’schen Theorieprojekts reflexiver Modernisierung auf ein Quasi-Subjekt verwiesen wird, das eher wie Verlegenheit statt überzeugende Begriffsbestimmung anmutet (Beck/Bonß/Lau 2001: 44 ff.). Aber ist das nötig? Es stellt sich weiter die Frage, was mit dem Begriff des Subjekts an Beobachtungsmöglichkeit gewonnen oder vergeben wird. Wenn Teilidentitäten im jeweiligen sozialen Kontext angemessen funktionieren, geben diese keine Notwendigkeit für die Konstruktion einer Gesamtidentität vor. Diese muss irgendwo außerhalb dieser Kontexte liegen. Aber welche Sphäre in der Gesellschaft kommt dafür in Frage, oder muss der Grund gar außerhalb der Gesellschaft angenommen werden? Das wäre dann für die Soziologie, wie sie hier verstanden wird, nämlich als gesellschaftliche Selbstreflexion, uninteressant. Soll der theoretischen Tradition aber nicht der Rücken gekehrt werden, dann muss Identität weiterhin als ein Selbstentwurf gelten, der nur im Rahmen der Gesellschaft zu erstellen ist. Darum muss gefragt werden, unter welchen Umständen Identität aufgerufen wird, wann biographische Narrationen eigentlich abgefragt werden und wie die Gesamtidentität sich als generell richtig und zukunftsorientiert erweisen kann und muss. Zweifeln kann man daran, ob dieser Prozess auf eine Kohärenzvorstellung hinauslaufen muss, die als die stabilisierende Säule der Identitätskonstruktion funktioniert. Denn auch bei aller Flexibilisierung des Kohärenzanspruchs ist die darin eingelassene Normativität zur (wenigsten) eigensinnigen Einheitsvorstellung nicht von der Hand zu weisen. Aber die Flexibilisierung und Individualisierung des Anspruchs auf Kohärenz der Identitätskonstruktion lässt diese selbst als kontingent erscheinen wie den gesellschaftlichen Kontext. Darum bietet die alltägliche Identitätsarbeit gerade keine Antwort auf die so genannte Inkohärenz der Gesellschaft, wie Höfer und Straus (1997) sich das Problem vorlegen. Denn unklar bleibt, wo sich die Sicherheiten für die IchAussagen der Selbstbilder finden, wenn keine gesellschaftlichen Sondersphären benannt werden können und außerhalb dieser individuelle Identität irrelevant ist. Was heute individuell bedeutend ist, kann es auch morgen noch sein. Das heißt eben, dass sich Gesellschaft und Individuum kontingent und nicht als notwendig erleben. Und trotzdem findet Gesellschaft

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statt, können Individuen als Handelnde wahrgenommen, Verantwortung übernommen und zugewiesen sowie Selbstentwürfe formuliert werden. Aber muss man an der Idee des Subjektes überhaupt festhalten, wenn dessen Einheitskonstitution so fragwürdig ist? Wie kann die Adressabilität, die sich ja tatsächlich meistens problemlos in der Gesellschaft herstellt, unter Verzicht auf diese nur schwer aufrecht zu erhaltenden Einheitsbehauptung erklärt werden? Das sich einheitlich identifizierende Subjekt erscheint mit Foucault (1976, 1977) als diskursive Norm, die den Individuen aufgibt, sich eindeutig darzustellen. Darum ist die Erwartung eines Subjektes nicht eine psychische und unabdingbare Bedingung des Sozialen, sondern in seinem Verständnis ein Effekt von Diskursen, letztlich eben von Kommunikation.30 Dabei verlangen die alltäglichen Praxen heute nur noch ausnahmsweise nach einer totalen Einheitsdarstellung. Lediglich Spezialdiskurse, wie zum Beispiel die christliche Religion, die philosophische Ethik31 oder auch viele sozialwissenschaftliche Strömungen projizieren die Norm des Subjekts in unterschiedlichen Formen als am Guten gemessenes Gewissen oder handlungsmächtige Selbstgewissheit. Und so kann das Subjekt auch als sozialwissenschaftliche Fiktion begriffen werden. Der Rekurs darauf hat aber einen nostalgischen Effekt, der die Sicht auf die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung mit einem Herbstschleier überzieht. So muss die Analyse immer wieder auf die eine oder andere Art Bedauern über die Vergangenheit einer ehemals besseren Zeit artikulieren.32 In einem Überblick stellt Wagner (1998) drei wesentliche Ziele des in den Sozialwissenschaften diskutierten Identitätsbegriffes vor. An seinen Feststellungen lässt sich ablesen, wie Vorstellungen von Identität und Subjekt aufeinander verweisen, wenn Identität als Grundlage des Handelns autonomer Menschen als Differenzierungs- und Distanzierungsmöglichkeit und schließlich als individueller Kontinuitätsmarker und Stabilitätsanzeiger der Welt thematisiert wird. Immer geht es um den mehr oder minder starken Nachweis von Einheit, die freilich auch nicht ohne Differenz auskommt. Wagner zeigt an allen drei Zielsetzungen die Grenzen dieser Annahmen und deren Folgen. Der modernisierungstheoretischen Figur der identitätsbedingten Autonomie von Individuen, die notwendig auf das Problem der Sicherung von Kontinuität und Kohärenz zurückfällt, gerät tendenziell der soziale Kontext aus dem Blick, wenn die individuelle Autonomie im Sinne des Individualisierungsparadigmas betont wird. Beim Beharren auf Autonomie aber drängt letztlich Differenz ins Bild, mit der nur anzuzeigen ist, welchem Gegenüber das Problem der Autonomie überhaupt evident wird. Im differenzierenden Bezug auf anderes und andere aber sieht Wagner die Autonomievorstellung an ihre Grenze kommen. Au30 In diesem Sinne verweist auch Ricken (2002) auf Foucault. 31 Vehement dazu Gerhardt (1999). 32 Als ein noch leises, aber um so erfolgreicheres Beispiel siehe Sennett (1998).

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tonomie kann nur gegenüber einer objektiv realen Identität behauptet werden, die sich allen gleich als Schicksal des Menschen präsentiert. Diese Vorstellung weist Wagner allerdings als „antiquiert“ (62) zurück, denn aufgrund einer gemeinsamen Problemlage kann noch lange keine Gemeinsamkeit betont werden. Gleichwohl ist Identität als eine für alle gleiche, diskursiv angeleitete Wahlnotwendigkeit zu verstehen. Der in der Wahl realisierte Identitätsgewinn ist dann jedoch ein ständiges Projekt individuellen Orientierungsgewinns, das heißt eine immer währende Arbeit an der Kohärenz und Kontinuität, was hier stark an die Vorstellungen zur „alltäglichen Identitätsarbeit“ im Umfeld Keupps (Keupp u.a. 1999) erinnert. Schließlich dient Identität darum nicht der Beobachtung tatsächlicher Einheit, sondern der Interpretation als Dauerhaftigkeit und Beständigkeit. Identität ist dann ein Zeichen für die Stabilität der Welt. Mit Wagner (1998) kann man schließen, dass die Welt in ihrer konstruierten Erfahrbarkeit immer im Fluss ist. Mit Hilfe der einklammernden Identität wird der Fokus auf das Einheitliche, Stabile gerichtet und so erkannt, welcher Sinnzusammenhang zeitlich fortdauert. Unter diesem Fokus wird dann Geschichte interpretierend neu erfunden. Autonomie kann dann nur noch gegenüber den eigenen Erfindungen als Distanzgewinn zu sich selbst und der Gesellschaft gewonnen werden. Die von Wagner aufgezeigten Widersprüche in der Debatte zur Identität laufen auf die Gegensätze von Schicksal oder Wahl, objektive oder konstruierte Wirklichkeit sowie Autonomie gegen andere oder Herrschaft über sich hinaus. Damit gerät der Identitätsbegriff in Gefahr, in den Fachdebatten zerrieben zu werden, würde er nicht beobachtbare Phänomene auf personaler und kollektiver Ebene ins Licht rücken. Die Beharrlichkeit des Identitätsbegriffs resultiert für Wagner aus der Möglichkeit, dem Problem der Zeitlichkeit hinsichtlich Kontinuität und Kohärenz Ausdruck zu verleihen, nämlich als biographisiertes Selbstverständnis und historisierte Kollektivzugehörigkeit zwischen Beständigkeit und Veränderung. Dabei können diese zeitlichen Aspekte der Kollektivgeschichte und Biografie empirisch nur als gegenwärtige Bedürfnisse analysiert werden. Damit wird jede Beschreibung von Identität aber zu einer „Fest-Schreibung“ (72). Für die hier beabsichtigte Analyse von Kollektiverzählungen lässt sich dann folgern, dass das Erzählte kontingent ist, dass es sich nur um die jeweils gegenwärtige Form des Kollektivs handelt und dass von solchen Erzählungen auf keine Wesenheit des jeweiligen Kollektives zu schließen ist. Die hier behandelte Frage nach der Funktion des Kollektivs lässt sich so an Wagner anschließen. Hier wie dort geht es schließlich um die sich selbst begründende (Re-)Produktion von Gemeinschaften und deren Leistung und nicht um deren essentialistische Fest-Stellung. Aber geht es unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt noch um die Herstellung von Kohärenz? Dieses Identitätsproblem gehört für Reckwitz (2001) einer vergangenen Epoche an. Heute besteht

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das Problem der Identität vielmehr in der Vermittlung ambivalenter Bezüge.33 Dabei kommt es nicht darauf an, sich immer wieder als widerspruchslose Einheit zu konstituieren, sondern in hinreichender Weise den institutionellen Erwartungen entsprechend ansprechbar zu sein. Dass heißt vor allem, nicht in jedem Augenblick sämtliche Facetten des eigenen Selbstverständnisses darzustellen. Das würde schon Interaktionen trotz ihrer thematisch großen Offenheit schlicht überfordern. Organisationen hingegen müssten den Kontakt abbrechen. Ein an Kommunikation nicht als spezifische Person, sondern als Mensch in toto Teilnehmender wäre sozial nicht erträglich. Das situationsspezifische Vergessen individueller Eigenheiten gehört somit zur Grundlage realisierbarer Sozialität. Die Erfindung des Selbst bleibt dann unabgeschlossen, ist aber in den meisten Fällen gar nicht mehr notwendig, um handlungsfähig, das heißt erwartungsadäquat zu sein. Die Identitätsaspekte müssen dafür nicht vermittelt, sondern nur realitätskonform aufgerufen werden. „Ich“ ist dann immer ein Anderer, aber eben keine universell gültige Einheit dieser Differenz.34 Das Problem der Identität bewegt sich nun zwischen den Polen des souveränen Umgangs mit der differenzierten Vielheit an personalen Identitätsaspekten und der Lösung des Zeitproblems individueller Existenz. Der adäquate Einsatz der relevanten Aspekte in den jeweiligen gesellschaftlichen Sondersphären reicht aus, um als eine die Erwartungen weitestgehend erfüllende Person wiedererkannt zu werden und kommunikativen Anschluss zu finden. Aber das Problem des Selbstverständnisses, vor dessen Hintergrund erst der souveräne Einsatz von personalen Aspekten möglich wird, die dauernde Differenzierung relevanter Aspekte, ist damit nur an die Fiktion des Menschen verwiesen. Dabei wird deutlich, dass der Souveränität im Identitätsspiel – wie schon der Autonomie bei Wagner (1998) – ihr Gegenstück fehlt, wenn die Probleme Kohärenz und Kontinuität nur ad acta gelegt, aber nicht weiterführend bearbeitet werden. Im Grunde ist das Problem des Wiedererkennens trotz Veränderung oder eben die Spannung zwischen individueller Redundanz und Varietät noch offen.35 Mit Luhmann (1993a) erschießt sich die alltägliche, problemlose Vielfalt von Identität aus dem Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur

33 Aus dezidiert postmoderner Sicht betont auch Gergen (1991) die Bedeutung der Vermittlung unterschiedlichster Identitätserwartungen statt einer monolithischen Erzählung. 34 Und genau diese Differenz zu sich selbst im zum Beispiel biographisch motivierten Erinnern ermöglicht erst den selbstreferentiellen Dialog zur IchBestimmung, indem sich das Ich als Anderer erleben kann (Ricoeur 1996). 35 An Meuter (2002: 208) anschließend kann man hier behaupten, dass es um die Möglichkeit des Selbstvertretungsanspruchs von Individuen geht. Identität ist dann noch mehr als nur relevanzkonforme Differenz.

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und semantischer Veränderung des Begriffs des Individuums.36 In einem historischen Abriss legt Luhmann dar, wie sich Individualität von einem Inklusionsbegriff zu einem auf Exklusion zielenden wandelte. Mit Erfindung der Landwirtschaft galt es, die individuellen Extravaganzen hinsichtlich einer durch Verwandtschafts- und Besitzverhältnisse komplexer gewordenen gesellschaftlichen Umwelt einzuschränken. Diese Einschränkung erfolgte durch eine inkludierende Individualisierung, die jeden zu einer zurechenbaren Person innerhalb seines Wohn- und Sippenkreises oder Gens machte und ihn so in Differenz zum exkludierten Fremden setzte. Die jeweils individuelle Zurichtung in gleichartigen Segmenten wird nach weiterer Komplexitätssteigerung der gesellschaftlichen Verhältnisse von einer individuellen Zugehörigkeit zu sozialen Schichten überformt. Konkrete Besitz- und Verwandtschaftsbeziehungen treten hinter der abstrakteren und universaleren, aber auch exklusiven Schichtzugehörigkeit zurück. Zwar werden die örtlichen Zugehörigkeiten weitergeführt, aber Individualisierung zielt nun primär auf die schichtspezifische Inklusion, die sich an allgemeinen Vorbildern orientiert. Mit dem Übergang zur funktionalen Differenzierung geraten diese eindeutigen Bezüge in den Hintergrund. Stattdessen sind Menschen auf eine Vielzahl von Funktionsbezügen angewiesen. Nicht mehr exklusive Zugehörigkeit bestimmt die Individualität, sondern die Art der vielfältigen Zugehörigkeiten. Damit verändern sich die Realisierungsmöglichkeiten von Individualität, wie Luhmann (1993a: 159 f.) festhält: Diese gelingt im Gegensatz zur vorherigen traditionsorientierten orts- und schichtbezogenen Gleichheit nur noch in der einzigartigen Kombination funktionaler Bezüge. Bei Luhmann heißt es, dass soziale Individualität nicht mehr durch umfassende Inklusion in ein exklusives Teilsystem, wie Schicht, gegeben ist. Das Individuum ist hingegen auf spezifische Art in alle Teilbereiche, wie Recht, Wirtschaft, Politik und anderen inkludiert, die aber jeweils für sich die Individualität nicht verbürgen können. Die Individualität des Individuums ist nicht mehr in einem gesellschaftlichen Teilsystem exklusiv darstellbar, sondern formiert sich außerhalb dieses Systems: Es kommt zur Exklusion des ganzen, alle Aspekte umfassenden Individuums Mensch. Oder wie Fuchs (1992) schreibt, sind nicht alle individuellen Aspekte im Funktionsbezug von gleicher Relevanz. Individualität wird damit unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung nicht obsolet, sondern diese ändert sich in ihrer Form, sie wird zur Exklusionsindividualität.37 36 Damit wird aber nicht einfach eine Gemeinsamkeit behauptet, die in Konvergenz der Begriffe mündet, wie Straub (1998) bei vielen Beiträgen zu diesem hier behandelten Themenkreis befürchtet, sondern betont im Gegenteil, wie der eine Begriff mit dem anderen zusammenhängt. 37 Straub (1998) meint in seiner Unterscheidung von Identität als konformes Element und Individualität als das überraschende Moment des Menschen zwar etwas anderes als Luhmann, aber er zielt eben auch auf das funktional Nichtinkludierbare des Individuums.

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Das hat Folgen für alle Imaginationen grundlegender Einheit, die seit dem Übergang zur Moderne zwischen Subjekt und Menschheit artikulierbar, das heißt als Themen in der Kommunikation aufgerufen werden. Dem autopioetischen Differenzierungsparadigma folgend zeigt Luhmann (1993a), welcher Art die Herausforderungen und Lösungen für das Selbstbegreifen in einer sozial uneinheitlichen Welt sind, indem er die Form Person einführt. Person gilt als kontingenzeinschränkende Adresse für Kommunikation, an der sich soziale Systeme auszurichten vermögen (Luhmann 1991). Die Allgemeinheit des Personenbegriffs lässt sich nun mit Individualität weiter als Besonderes, als Spezifik und Einmaligkeit des Menschen bestimmen. Diese Absonderung wird nicht nur erfahren, sondern in Selbstbeobachtung hergestellt. Wenn das psychische System in der körpervermittelten Beobachtung von Eigenzuständen und der Umwelt auf die polykontextuelle Gesellschaft mit ihren jeweils spezifischen funktionalen Leistungen Bezug nimmt, kann sich das Individuum als Besonderes profilieren. Allerdings gelingt dies nur noch in Form divergenter Selbsterfahrungen, was Anlass für die postmoderne Diagnose der Normalität unvermittelter identitärer Selbstvorstellungen ist (Gergen 1991). In der Absicht, die Einheit des Subjekts zu verteidigen, werden Argumentationen zur aktiven Vermittlung (Keupp u. a. 1999) oder zur Normalität schon immer bestehender Vielfältigkeit des Subjektes (Joas 1999: 238 ff.) ins Feld geführt. Die weltbezogene Selbsterfahrung wurde in einer längeren Theorietradition als Identität bezeichnet. Dabei war immer interessant, wie Identität sozial hergestellt werden kann. Die Beständigkeit des Selbst- und Fremderlebens als ein und derselbe erscheint ja vor dem Hintergrund mannigfaltiger und divergenter Anforderungen im Alltag eher unwahrscheinlich, wenn man auf multiple Weise als immer spezifische Personen je nach aktuellen Anforderungen adressiert wird. In jedem Fall kann es sich bei Identität nur um eine vereinfachende Reflexion der Individualität handeln, um „kontingente Selbstsimplifikation“ (Luhmann 1993a: 227). Die mannigfaltige Individualität erlebt sich selbst als punktuelle Einheit, von der aus die jeweils eigene Welt realisiert und für andere zugänglich gemacht wird. So tritt das Individuum in ein zirkuläres Verhältnis mit der Welt. Bei der Selbstbeobachtung und -beschreibung sind Position, Zugehörigkeit und Inklusion nur noch entäußerte Anker, denn das Individuum muss dabei auf seine eigene Individualität rekurrieren. Die Identität mit sich selbst kann im Sinne von Fremdreferenz nur noch gegenüber einer so nur selbst realisierten Welt festgestellt werden, woran dann die Selbstreferenz anknüpfen kann. Dabei ist aber klar, dass die Welt der reflexiven Selbstkonstruktion nicht einfach verfügbar ist. Die Gefahr eines Solipsismus wird mit dieser Sicht nicht schon heraufbeschworen, weil hier eine konstruktivistische Erkenntnistheorie zugrunde gelegt wird. Beobachtung ist nämlich nicht einfach voluntaristisch, sondern immer schon konditioniert durch die vorgefundenen, dem Ich Widerstand leistenden Weltzustände (Luhmann

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1990: 29). Im Widerstand gegenüber der nicht-konventionellen, kontingenten Welt lässt sich auch die Funktion von Identität erkennen, nämlich die Möglichkeit, trotzdem als Person wiedererkannt zu werden. Damit thematisiert Luhmann, neben der Vielheit auch den zweiten Aspekt der Identitätsproblematik, die Kontinuität. Vor dem Hintergrund einer Vielheit von Bezügen, die durch die funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr einheitlich präsentiert werden, kann es keine eindeutigen Identitätsvorgaben mehr geben. Die Beobachtung der Gesellschaft und des Selbst ist darum immer individuell verschiedenartig. Genau dieses Problem, dass dabei jeder in eine andere Richtung blickt, begründete ja schon Durkheims Sorge um die Einheit der Gesellschaft. Das wirft die Frage auf, wie sinnhafte Identitäten überhaupt noch hergestellt werden können, die ein wiederholtes Erkennen, ein Wiedererkennen und so Kontinuität gewährleisten. Identisch bedeutet nicht einfach, Seiendes stimme mit sich selbst überein, sondern resultiert aus der „Synthese von Eindrücken externer Herkunft“ (Luhmann 1990: 21). Identifikation wird erst bei der Wiederholung nötig, also im Vollzug von Kommunikation, bei der soziale Systeme emergieren. Für Luhmann treten dabei zwei Möglichkeiten der Synthese zusammen: Sind die Ereignisse hinreichend ähnlich, kondensieren diese zu einer Grundoperation. Treten die gleichen Ereignisse in verschiedenen Situationen auf, lassen sich diese konfirmieren. Zielt die Kondensierung auf die Relevanz vergangener Erfahrungen unter gegenwärtigen Umständen, so zielt die Konfirmierung auf die Möglichkeit, diese Erfahrung unter weiteren Umständen zu bestätigen. Identität, so kann man dann schließen, ermöglicht also die oszillierende Beobachtung des Verschiedenen als Gleiches unter verschiedenen Umständen und damit Sinnbestimmung. Identifizieren ist darum Unterscheidung des Identischen vom Nichtidentischen, von aktuellem Sinn und Nicht-Sinn. Erst aufgrund dieser sinnidentifizierenden Unterscheidung ist die sinnvolle Fortführung kontextspezifischer Kommunikation unter den Bedingungen der multiplexen differenzierten Gesellschaft möglich. Genetische, auf Kontinuität zielende Identität hat darum für Nassehi (2002: 228) nichts mit der Beharrlichkeit der Substanz zu tun, sondern gründet auf die Beharrlichkeit der Beobachtung in der Zeit. Die durch die funktionale Differenzierung erzeugte gesellschaftliche Multiplität kann nun auch als Grund für das Auseinandertreten von Identität und Individualität verstanden werden: Identität stellt sich aufgrund der multiplen gesellschaftlichen Kontextualität situativ adäquat her, Individualität aber exklusiv außerhalb der Funktionssysteme. In der durch funktionale Differenzierung provozierte multiple Verortung erfährt sich das Individuum in gleichzeitiger und wiederholter Prüfung als unabgeschlossen. Seine Identität erscheint dann als Alternative zum aktuellen Selbst. Es ist lebenslang unfertig und muss ohne totale Selbstsicht auskommen, was die

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Gefahr absichtlicher Selbstverkürzung jedoch nicht gänzlich bannt, wie Luhmann (1993a) bemerkt. Wie kann das Individuum aber mit den Reflexionslasten umgehen, sich trotz Fragmentierungserfahrungen und Uneinheitlichkeit selbst finden und in seiner Individualität bestimmen? In der Gesellschaft sind dafür seit der Umstellung auf funktionale Differenzierung keine Lösungen mehr zu finden.38 Jedoch ist der Umgang mit den multiplen, sich dem Einheitlichen verweigernden Selbstsichten im Alltag meistens problemlos. Identität als vereinfachende Reflexion der Individualität, die sich nur auf eine Welt beziehen kann, die in ihrer Form erst durch jenes Individuum entsteht, ist eine Tautologie. Das moderne Individuum hat Möglichkeiten gefunden, mit der nur noch tautologischen Selbstbeschreibung umzugehen. Luhmann führt dazu zwei Beispiele an, die Karriere und Anspruchshaltungen. Beide Formen verweisen auf individuell Unkontrollierbares: Karriere setzt das Individuum aufgrund der Irreversibilität der Zeit mit sich selbst ins Verhältnis und kann so eigene Veränderungen bemerkbar machen. Anspruchshaltungen erwarten die Anerkennung von Bedürfnissen in der überkomplexen gesellschaftlichen Umwelt. Auch damit ist ein abgesichertes Selbstverhältnis zu erreichen, indem zwischen dem aktuellen, dem möglichen und dem gewünschten individuellen Zustand unterschieden werden kann. Die zukünftige Anerkennung von allen möglichen Ansprüchen ist auf Gesellschaft angewiesen. Die Ansprüche müssen dabei aber auf bestimmte Funktionsbereiche hin ausgerichtet werden. Insofern sind sie sozial universell, können aber nur differenziert zur Geltung gebracht werden. Die vielfältige Bezüge reflektierende Identität des Individuums kann nur noch ungebunden erscheinen, denn dem Individuum tritt wiederum keine gesellschaftliche Einheit gegenüber. Und so können auch kollektive Identitäten – trotz aller primordialen und sonstigen Verkürzung – kein allgemeiner und somit ausschließlicher Maßstab für individuelle Identitätsbildung sein. Luhmann folgert, dass das Individuum seine Individualisierung darum nicht mit Identität beginnen kann, sondern mit Differenz, dem Unterscheiden, das Identifikation ermöglicht.39 Das Individuum setzt sich mittels Anspruchshaltungen und Karriere von sich aus ins Verhältnis mit der Welt, wobei es zu Kumulationen von

38 Luhmann (1993a: 224) bemerkt, dass die Literatur zahlreiche Identitätsmodelle bereitstellt, die zwar nachzuahmen sind, was aber zu Problemen der beinahe beliebigen Vervielfältigung und dann auch der Authentizität führt. Ulrich, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, ist vor diesem Hintergrund als ein literarischer Gegenentwurf zu erkennen. Als immer wieder aufbrechende, unabgeschlossene Form (Wagner 1994) ermöglicht er zunächst keine Identifikation. Insofern Ulrich aber ein kühles, ironisches Verhältnis zur Gesellschaft hat und in der Distanz sich selbst gewinnt, kann er schließlich doch als ein Vorbild dienen. 39 Siehe dazu auch Luhmann (1990: 14 ff.).

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Karriere und Anspruchshaltungen kommt. Im Anschluss daran ist zu fragen, ob nicht auch Kollektivbezüge asymmetrische Selbstbeschreibungen ermöglichen. Denn schließlich bestreiten weder Luhmann noch Fuchs die Möglichkeit sinnvoller Kollektivbezüge, sondern lediglich deren Ausschließlichkeit als Möglichkeit von Individualisierung durch gemeinschaftliche Totalinklusion. Die gegenüber allen gesellschaftlichen Teilbereichen exkludierte Individualität macht sich im kommunikativen Geschehen als Zumutung individueller Besonderheiten bemerkbar. Diese können durch nichts anderes als das Individuum zur Deckung gebracht werden: „Nur das Individuum selbst kann in seiner Einmaligkeit Konsistenz und Erwartungssicherheit für andere garantieren“, darum „muss [es] auch Person sein“ (Luhmann 1993a: 251), die über sich Auskunft geben kann. Das heißt, dass das Individuum geradezu darauf verpflichtet ist, seine Besonderheit kontextgerecht darstellen zu können.40 Dazu braucht es Biographie, das erfundene Leben entlang von Lebensgeschichte und Lebenslauf, das an eigene und fremde Erwartungen immer wieder neu anknüpft. Hier fließen Karriere und Anspruchshaltungen zusammen. Womöglich finden sich hier auch Bezüge zum Kollektiv, vor dessen Hintergrund man Karriere macht und an das man Ansprüche hat. Mit Luhmann scheint diese Idee zunächst nicht weiterführend, wenn er seine Überlegungen zur evolutionären Reihe Individuum, Individualität, Individualismus anhand seiner Extremthese über den institutionalisierten Individualismus bündelt. Diese besagt, dass sich jeder nur noch mit den eigenen Ansprüchen den anderen Individuen zumuten kann, die diese Ansprüche aber auch nur an ihren eigenen messen können. Dazu führt Luhmann aus, dass Ansprüche darum zunehmend an Organisationen und weniger an Individuen gerichtet werden, was zum einen die Gefahr organisationaler Überforderung und zum anderen die der Einschränkung von Individualität birgt. Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit muss gefragt werden, inwiefern hier von Organisation soweit abstrahiert werden kann, dass auch Kollektive oder Gemeinschaften als Anspruchsadressen in Frage kommen können. Dass die Gemeinschaft Individualität zu untergraben vermag, wurde von verschiedenen Autoren betont (Niethammer 2000; Canetti 1992).41 Allerdings konnte schon festgestellt werden, dass hier nicht so 40 Und hier wird dann der Unterschied zu Straub (1998) deutlich, der Individualität als unreflektierbare Wesenssäule des Menschen versteht und das Konzept damit essentialistisch zu überspannen droht. 41 König (1992) sieht aus Sicht der Zivilisationstheorie in der Manifestation von „Masse“ das Aufbrechen einer zivilisationsgesellschaftlich gezähmten Triebstruktur des Menschen. Inwiefern solche Triebstruktur tatsächlich angenommen wird, markiert wohl einen Scheidepunkt für oder gegen Zivilisationstheorie. Sie soll hier nicht weiter verfolgt werden, wohl aber das Thema der Gemeinschaft und Kollektivphänomene, ohne deren gesellschaftliches

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sehr Gemeinschaften, sondern bündische Formen zu benennen wären (Breuer 2001). Aber welche Organisationsmerkmale außer (nichtformalisierter) Mitgliedschaft können auch bei Kollektiven aufgefunden werden? Luhmann (1993a) bemerkt weiter, dass die individuellen Erwartungen mit unpersönlichen Erwartungen wie Rollen und Werteeinstellungen auf einer „Mehrheit von Ebenen der Identifikation und Sicherung von Erwartungen“ (254) abgefedert und vermittelt werden. Um die Anwendung der Überlegungen Luhmanns auf die hier behandelte Problematik zu prüfen, müssen Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Wertefundierung und den daran anknüpfenden Aushandlungen von Erwartungen und deren Erfüllung untersucht werden. Daraus folgt, dass die gesellschaftlichen Bindungen der Individuen lockerer werden, dafür aber die Relevanz der Funktionssysteme für das alltägliche Leben zunimmt. Individuen sind auf die Funktionssysteme zur Differenzierung von persönlichen und allgemeinen Erwartungen angewiesen, indem sie an die Funktionssysteme ihre Ansprüche und Erwartungen adressieren und sich dabei nach den allgemeinen Erwartungen der Funktionssysteme verhalten. Es stellt sich die Frage, ob parallel dazu auch die Bedeutung gemeinschaftlicher und kollektiver Verweise zunimmt, wenn bestimmte Ansprüche und Erwartungen eben auch nicht durch die Funktionssysteme erfüllt werden. Die geringe Bindung zwischen den Individuen, die hohe Abhängigkeit von gesellschaftlichen Leistungen und deren funktionalen Spezifikationen führen zu Effekten, wie Mode und andere kollektive Phänomene, die von geringer Dauer, aber großer Wirkmächtigkeit sind. Hierzu bemerkt Luhmann (1993a: 255): „Die Lockerung und Deregulierung sozialer Bindungen führt zu mehr oder weniger zufälligen Prozessen der Häufung und Zersetzung von Engagement.“ Wenn die Individuen an ihrer sozialen Positionierung beteiligt sind, so sind sie auch zur De-Assoziation, zum Rückzug in der Lage, mit der Folge, dass sich rasch starke, aber ebenso schnell auflösbare Bindungsformen herausbilden. Das wird für Luhmann vor allem bei der Fluktuation von Kollektivbindungen, die Engagementfähigkeit abschöpfen, sichtbar. Das habe zwar Wirkungen auf die Strukturen und die Evolution der Gesellschaft, aber ohne dass dadurch komplexe Informationsverarbeitung möglich werden würde. Auf das Problem von Kollektiven gewendet ist zu vermuten, dass bei vorhandenen Gelegenheiten die Solidarität des Kollektivs als Resonanzboden für Ansprüche und Engagement als Verhalten nach der Kollektivnorm

Bedrohungspotenzial zu unterschätzen, aber auch ohne auf Bilder chaotischer oder fluthafter Massen zu rekurrieren (dazu Theweleit 1977). Gemeinschaft und Kollektive sind gesellschaftliche Phänomene, die wie jedes andere durch ihre eigene Ordnung die Ordnung der Gesellschaft stützen, aber eben auch irritieren und so eine Gefahr sein können. Um die Ordnung der Gemeinschaft geht es hier.

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höchst sinnfällig wird.42 Das Ereignis, wie zum Beispiel die Oder-Flut, ist selbst zufällig, nicht aber der Rekurs auf das Kollektiv, der sich unter Umständen stärker ausnimmt als der auf Organisationen. Zu vermuten ist, dass letzterer aber längerfristiger anhält und so auch keine Reflexion über die Dynamik der Kollektivbindungen, sondern in den Bildern der Vergangenheit nur eine Suche nach deren Kontinuität stattfindet. Zusammenfassend kann für die weitere Untersuchung festgehalten werden, dass die Anspruchsverschiebung hin zu Organisationen, welche von einer Differenzierung der Erwartungsidentifikationen begleitet wird, temporäre Kollektivbindungen mit sich bringt. Luhmann (1993a) fragt sich anschließend, ob diese Effekte hochgradiger Individualisierung vielleicht nur überschätzt werden und sie eines Ausgleichs mittels einer allgemeinen Gesellschaftstheorie bedürfen. Dazu ist zu ergänzen, dass dieser Ausgleich aber erst möglich wird, wenn die Funktion wie das Funktionieren von Kollektiv- oder Gemeinschaftsbindungen geklärt ist. In seiner Würdigung an den hier vorgestellten Überlegungen Luhmanns zu Individiuum, Individualität und Individualismus spricht sich Fischer-Rosenthal (2000) gegen die Möglichkeit reflektierender Identität aus. Die Karriere, bei Luhmann als Technik der Enttautologisierung eingeführt, erscheint ihm als ein überdehntes Konzept zur Beschreibung des Lebenslaufes. Stattdessen betont er die Bedeutung von Biographie für die Herstellung von Individualität. Denn biographische Erzählungen betonen den Lebensprozess anstelle einer statischen Identität, die nur als Ersatz eines durch Modernisierung verloren gegangenen Einheitssubjekts dient.43 Identitäre Selbstbeschreibungen können nicht für sich allein stehen, sondern bedürfen immer der Erläuterung durch Biographie. Diese entfaltet erst das Identitätsetikett in einem Ordnungszusammenhang von sozialstrukturell eingefassten und körperlich möglichen Lebensphasen, die selbsterlebt reflektiert und einer Zeitstruktur zugeordnet werden.44 Dabei bewegt sich Fischer-Rosenthal jedoch nur scheinbar im Widerspruch, kann doch Biographie weniger als alleinige, sondern als eine weitere, wenn auch eher unwahrscheinliche Möglichkeit der Selbstreflexion angesehen werden. Der Behauptung, dass Biographie therapeutischer Nutzen innewohnt, wird damit nicht widersprochen, aber wohl der Behauptung ihrer solitären Bedeutung für das Individuum und dessen Beobachtung. Aber auch Fischer-Rosenthals Vorstellung einer fixen Identität kann nicht in ihrer Radikalität gelten. Statt Biographie und Identität gegenein42 Und sei es im Sinne von Netzwerken, die Funktionsleistungen parasitär abschöpfen (Luhmann 1994: 30 ff.). 43 Weswegen Fischer-Rosenthal (2000) an diesem Aspekt das Leiden des modernen Individuums ausmacht: Der Verlust der Möglichkeit subjektiver Einheit erzeugt Melancholie. 44 Dazu passt auch die Feststellung Meuters (2002: 195), dass die Biographien, „indem sie die je eigene Individualität betonen“, als Repräsentationen und Absicherung personaler Identität dienen.

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ander auszuspielen, kommt es darauf an, sie ins Verhältnis zu setzen, was Fischer-Rosenthal schließlich auch tut, wenn die Biographie die Identität erläutert.45 Biographie und Identität, so muss man gerade auch im Hinblick auf Luhmann folgern sind unterschiedliche Kategorien: Identität verdeckt von der Innenseite der Form Person die Unterscheidung, die der Selbstbeschreibung vorausgeht; Enttautologisierungstechniken wie Biographien hingegen verweisen auf die andere Seite der Person, die Gesellschaft. Die multiple Kontextualität der Gesellschaft aber führt dazu, dass sowohl Identität als auch die erläuternde Biographie sich immer auf spezifische Kontexte beziehen müssen und somit immer nur personenspezifische, in Rollenerwartungen gebündelte Ausschnitte der Individualität präsentieren. Die so präsentierte Identität muss sich als kommunikative Form bewähren, indem sie Anschluss findet, eben Grundlage der Fortsetzung sinnhafter Kommunikation ist. Identitäten sind darum mit Nassehi (2002: 231) aber eben auch als „Effekte von sozialen Kontexturen, die sie selbst mit erzeugen“ zu begreifen. Identitäre Lernprozesse, Autonomie, Selbstvertrautheit und anderes sind dann Effekte sozialer Ordnung. Sie sind „kommunikative, also empirische Formierungen“ (ebd.) und nicht deren Voraussetzung. Kontingenz ist dann ein Problem der spezifischen und ordnungsadäquaten Rollenerwartungen und darum also kontextspezifisch. Das heißt dann auch, dass sich Individualität mittels simplifizierender Identität als temporär aktuelle Selbstreflexion, der Beobachtung der Selbstbeobachtung (Luhmann 1990: 22), nur gegenüber jeweils spezifischen Kontexten manifestieren und enttautologisieren kann. Karriere, Ansprüche und Biographie und andere Möglichkeiten zur externen Begründung der Selbstbeobachtung bündeln unter ihrer Perspektive immer sachlich, sozial und temporär selektiv die Aspekte des menschlichen Lebens in der Gesellschaft. Als Narration bietet Biographie aber weitere Möglichkeiten zur empirischen Beobachtung der Konstitution von Individualität, weil im sinndarstellenden Fluss der Erzählung andere Externalisierungen, das heißt Enttautologisierungstechniken als Begründung herangezogen werden müssen und daran deren spezifische Relevanz zu ermessen ist. An biographischen Erzählungen, folgt daraus, ließen sich dann auch enttautologisierende Gemeinschaftsverweise in ihrer Form und Bedeutung erfahren. Hier deutet sich nun ein empirischer Weg zur Beobachtung von Gemeinschaft an, der weiter zu verfolgen ist. Die anschließenden Überlegungen zielen auf Fragen nach dem, was beobachtet werden muss, wie Gemeinschaftlichkeit individuell zum Ausdruck kommt.

45 Die narrative Konstruktion von Identität wird von einer Reihe von Autoren unterschiedlicher Provenienz betont (Meuter 1995; Kraus 1996) und wird weiter unten eingehender in methodologischer Absicht behandelt.

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Individuum in Gemeinschaft Die exklusive Individualität des modernen Menschen lässt die Behauptung eines einzigen und vor allem unverwechselbaren Ichs problematisch erscheinen. Denn immer könnte Alter fragen, welches Ich Ego gerade ins Spiel bringt. Und kennen sich die Interaktionsteilnehmer nicht, ist das eine naheliegende Frage. Der Andere ist undurchschaubar. Um so erstaunlicher ist der Rekurs beider auf ein Wir, wenn diese Zugehörigkeit doch nur immer von jedem für sich behauptet werden kann. Oder trifft das Gegenteil zu, kann mit der egoistischen Inanspruchnahme des Anderen im Wir das Ich-Problem umspielt werden? Der Wir-Gebrauch schließt offenbar eine Mehrzahl von Individuen ein.46 Diese schlichte Feststellung knüpft wieder an die schon gestellte Frage an, ob das Individuum hier seine Individualität vergisst, wenn es zugunsten einer Gemeinsamkeit seine (wie auch immer fiktionale) Besonderheit wenigstens temporär aufgibt. Inzwischen kann der Bezug auf eine Gemeinschaft als eine neben Biographie, Karriere und Ansprüchen mögliche Enttautologisierung der Selbstbeschreibung vermutet werden. Insofern führt die Frage in die Irre, wenn das Ich dem Wir als Gegensatz gegenübergestellt wird. Vielmehr spricht für die These, dass die Ich-Behauptung erst durch einen Wir-Rekurs möglich ist. Das Ich wurde zur Behauptung, seit Individualität nicht mehr anhand von Differenzierungsmerkmalen zu fassen ist. Umso mehr bedarf die Kommunikation der zugespitzten simplifizierenden Beschreibung durch Identität, wobei andere Enttautologisierungsformen wie Biographie, Karriere oder Gemeinschaft in Anspruch genommen und dabei selbst mit Struktur versorgt werden. Identität bezieht sich nämlich als Beschreibung sowohl auf personale als auch auf kollektive Aspekte, wie Bohn und Hahn (1999) ausführen. Zum einen wird entlang der Selbstreferenz mit der Betonung des Besonderen die individuelle Exklusivität des Ichs betont. Zum anderen schließt die Beschreibung mittels Fremdreferenz über Rollenerwartungen an andere an, wodurch die Zugehörigkeit zu diesen zum Beispiel als sozialer Status zur Geltung kommt. Dabei bleibt aber noch unklar, wie sich selbst- und fremdreferenzielle Beschreibung gegenseitig vermitteln.

46 Bedenkt man die durch die verschiedenen Kontexte der Gesellschaft provozierte Pluralität personaler Repräsentanzen, könnten biographische Erzählungen durchaus vom Wir berichten. Aber das soll unter der Maßgabe von Kohärenz gerade vermieden werden. So zeigt sich wiederum, dass auch die Biographie nur ein spezifischer Ausschnitt ist, eine Simplifikation, die immerhin die simplifizierte Identität erläutert – jedoch nicht mehr. Im Übrigen spielt hier der Gebrauch von Wir als Pluralis Modestiae oder Majestatis keine Rolle, wobei zumindest letzteres von der Mehrzahl der Körper des Königs her verstanden und als Indiz für die funktionale Differenzierung gelesen werden kann (siehe dazu Kantorowicz 1997).

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Ähnlich beschrieb schon Elias (1988: 91 ff.) das Individuum als eine Dualität, wenn er zwischen Ich- und Wir-Identität unterscheidet. Auf das Besondere, das Individuum, zeigt das Ich, dessen existenzielle Voraussetzung die gesellschaftliche Ordnung ist. Mittels Wir setzt sich der individuelle Mensch mit dem Allgemeinen ins Verhältnis, das sein Grund und Zweck ist, denn Individuen leben in Gemeinschaften. Anhand eines historischen Exkurses behauptet Elias eine Verlagerung des maßgeblichen Bezuges bei der Selbstbestimmung vom Wir zum Ich.47 Diese Entwicklung ist die Voraussetzung für die Möglichkeit eines Kollektivbegriffs. Der im Ich zum Ausdruck kommende Selbstbezug ist nur durch expliziten Bezug auf konkrete andere möglich. Erst mit der Bezugsmöglichkeit auf individuelle und einzigartige Menschen kommt der Begriff des Kollektivs auf, weil vorher die individuelle Person ohne Kollektivbezug nicht anders denn als Exkludierter denkbar war. Daran anschließend ist zu folgern, dass Rekurse auf Kollektiv und Gemeinschaft nicht nur als Ausdruck regressiver Erfahrungen des Bedeutungsverlusts zu verstehen sind, wenngleich die Gemeinschaft von dieser Erfahrung der Subalternität bevorzugt in Anspruch genommen wird. Aber nicht die Angst vor dem Aufruf der Gemeinschaft, sondern die Frage nach dessen Grund muss daraus folgen. Elias (1988) interpretiert in seinem historischen Abriss die Herausbildung des modernen Individuums als Differenzierung des Sippenverbandes zu Einzelpersonen. Sich ihrer selbst bewusst, schließen sie sich als Kollektive zusammen, ohne darin völlig aufzugehen. Das Individuum wurde aus der nahräumlichen Individualisierungsperspektive der Familie oder Sippe im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung als Einzelner herausgelöst, wobei der Nationalstaat hier als entscheidender Katalysator verstanden wird, der eine „Massenindividualisierung“ (242) vorantrieb. Der kollektive Zusammenschluss umfasste im Lauf der gesellschaftlichen Evolution immer größere, von Elias so genannte „soziale Überlebenseinheiten“ (245), die sich gegen den Widerstand der in sie aufgehenden kleineren durchsetzten. Und so sieht auch Elias zum Zeitpunkt der Niederschrift, Ende der 1980er Jahre, das Aufziehen der Weltgesellschaft wegen der umfassender werdenden (kommunikativen) Erreichbarkeit aller.48 Spätestens mit dem 47 Luhmanns Überlegungen zum Individuum (1993a) ähneln vor allem bei den historischen Ausführungen denen Elias’, jedoch bei einem deutlich verschiedenen Gesellschaftsbegriff, dessen Letztelement bei Luhmann bekanntlich Kommunikation ist. Bei Elias (1988) bilden die Individuen die Gesellschaft im Zusammenleben der Einzelnen, und so kann er behaupten: „Die menschliche Gesellschaft, die Menschheit, ist ganz gewiß nichts anderes als die Gesamtheit dieser Individuen“ (220). 48 Daraus leitet Elias die Forderung nach dem notwendigen Abschied der Sozialwissenschaften vom überkommenen staatsverfassten Gesellschaftsbegriff her. Die Hartnäckigkeit der soziologischen Fixierung auf den Nationalstaat erklärt er sich aus der zivilgesellschaftlichen Tradition des Bürgertums (Elias 1988: 274, Fußnote 12).

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aufkommenden Bewusstsein einer Menschheit treten drei wesentliche Bezugsebenen hervor, die sich gegenseitig begründen: die Ich-Identität, die sich an der Wir-Identität orientiert und von weiteren Wir-Identitäten abgrenzt.49 Die Verschiebung des Selbstbezuges vom Wir zum Ich erscheint bei Elias als paradoxe gesellschaftliche Entwicklung. Die Freisetzung der Menschen als Individuen hat deren Zusammenfassung unter immer umfassenderen Einheiten zur Bedingung. Und so überformt die Gesellschaft den eben noch freigesetzten individuellen Willen zu einem von keinem Individuum gewollten, zu einem gesellschaftlichen. Hier scheint nun wieder die spannungsvolle und unlösbare Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft auf – der traditionelle Motor soziologischer Theorieproduktion schlechthin. Elias (1988) traktiert diese Dualität aber nicht, sondern kommt auf die Vermittlung von Wir- und Ich-Bezug im Habitus zu sprechen. Gruppenmerkmale sind im Habitus individualisiert, wobei aufgrund der verschiedenen Bezüge des modernen Menschen mit einer Vielzahl davon zu rechnen ist. Der habitualisierte Wir-Bezug richtet sich situativ auf jeweils andere Einheiten, die Wir-Bindungen sind darum eher „impermanent“ (272). Diskrepanzen zwischen Ich-Bestimmung und emotionalem Wir werden so durch „Einkapselung“ (279) des Erlebten hinsichtlich bestimmter WirErfahrungen lösbar, denn nie ist das ganze Individuum betroffen. Das verweist auf das divergente Bewusstsein moderner Menschen, die zu unterscheiden vermögen und ihre emotionale Bindungen entsprechend flexibel halten50. Allerdings, meint Elias, setzen sich prominente und dann habitusprägende Wir-Bezüge durch, die nicht mehr ohne weiteres abgestellt werden können. Habitus ist bei Elias der kollektive Rahmen individueller Möglichkeiten an Handlung und Sinnstiftung, in dem sich der Bezug auf die Gemeinschaft konfirmiert. Als solcher ist er auch die Quelle des Widerstandes gegen assimilierende Vereinnahmung. Denn damit gerät das konfirmierende Bezugsgeflecht von Ich-Wir-Ihr aus den Fugen. Die eigene Geschichte erscheint dann anders. Mit der Assimilation wird darum der darauf beruhende Habitus obsolet und es kommt zur „Sinnentleerung“ (296) der habitua-

49 Dann kann sich auch keine Partikularität mehr ohne Not als „Menschen“ bezeichnen, sondern nur noch ihre Besonderheit gegenüber anderen Menschen nachweisen. Die positive Beantwortung der Frage, ob die Wilden der neuen Welt Menschen seien und zum Beispiel Anteil am Seelenheil hätten, war insofern ein weiteres Korrektiv des eurozentrischen Weltbildes (Schönfeld 2004: 19 ff.). 50 Oder wie Luhmann (1993a: 255) feststellte, entstehen die Bindungen schnell und lösen sich leicht. Aber Gemeinschaftsbezüge sind nicht nur Kontexte der Selbstbezogenheit, sondern ermöglichen „Selbstdistanzierung“ (Elias 1988: 262), ein Motiv, das von Rorty (1989) später als Grundlage von Solidarität diskutiert wurde.

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lisierten Erfahrungen, wenn die soziale Grundlage, die ursprüngliche Gemeinschaft, ihre Funktion als primäre Bezugseinheit verliert. Ohne weiteres ist anderer Sinn nicht zu gewinnen und entsprechend gestaltet sich der Übergang von einem prominenten Wir-Bezug zu einem anderen problematisch. Am Beispiel der nordamerikanischen Indianer und der afrikanischen Bürgerkriege verweist Elias auf diesen „Nachhinkeffekt der Kommunikation“ (281). Daran anschließend bestimmt er drei Bewältigungsstrategien für den auf die Wir-Identitäten niederer Integrationsebenen lastenden Assimilationsdruck. Neben der eigentlichen Assimilation durch Aufgehen in die umfassendere Gemeinschaftsebene bleibt das tradierende Beharren auf Eigenes, was zur Musealisierung, zum Beispiel als Touristenattraktion, führt. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Abkapselung oder Isolierung, wie es vor allem bei religiösen Sekten zu beobachten sei. Auch Organisationen wie die Mafia rechnet Elias dieser Strategie zu, weil diese die Form vormoderner Familienverbände in der Moderne fortführt.51 Mit Elias ist zu schließen, dass sich Gemeinschaften auch im Falle des Widerstandes gegen die assimilierende Weltgesellschaft auf ihre gesellschaftliche Umwelt beziehen müssen. Bestehen sie in der einen oder anderen Form fort, zeigt sich, dass sie sich bewähren und doch in der Weltgesellschaft ankommen. Elias weist in seinen Überlegungen nachdrücklich darauf hin, dass Ichund Wir-Identität moderner Individuen eng aufeinander verweisen: „Es gibt keine Ich-Identität ohne Wir-Identität. Nur die Gewichte der Ich-WirBalance […] sind wandelbar“ (247). Erst die Verlagerung dieser Balance zum Ich lässt das Wir überhaupt zum Thema werden. Selbstauskünfte erfolgen immer hinsichtlich des individuellen und des sozialen Wesens und betonen die Einzigartigkeit im Hinblick auf die Gruppenzugehörigkeit. Der Bezug auf die Gemeinschaft geht dabei jedoch immer vom Individuum aus. Die Gemeinschaft kann sich bei Elias nicht selbst als Gemeinschaft kommunizieren. Hier taucht die Frage auf, ob das an die verbreitete sozialwissenschaftliche Skepsis gegenüber Gemeinschaftskategorien anschließt. Gemeinschaft erschiene dann schlicht unmöglich und Gesellschaft tatsächlich nicht mehr zu sein als numerische Vielheit von Individuen. Doch bleibt der Wir-Bezug im individuellen Habitus als Manifestation des Sozialen im Selbst. Inwiefern ist der Habitus als empirische Kategorie zur Beobachtung der Funktion der Gemeinschaft zu begreifen? Mehr als bei Elias wurde der Habitus-Begriff von Bourdieu (1974, 1976) diskutiert und zur Grundlage empirischer Untersuchungen, womit er ihn in den Sozialwissenschaften letztlich populär machte (insbesondere

51 Sicherlich sind hier weitere Anmerkungen nötig, die aber nicht mehr zur Argumentation beitragen. So kann man beispielsweise fragen, ob die Mafia sich nicht nur der Familienmetapher bedient und Familie eher im Sinne des älteren Konzeptes des Oikos begreift und letztlich als Netzwerk funktioniert (dazu Luhmann 1994: 31 ff.).

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Bourdieu 1988). Habitus bezeichnet auch bei Bourdieu das Kollektive im Individuellen. Die Vereignung des Habitus erscheint Bourdieu abhängig von typischen, vor allem materiellen Strukturbedingungen. Individuelle Ausprägung erfährt der Habitus durch die jeweils individuelle Sozialisationsgeschichte. Jedoch weist der Habitus als modus operandi individuellen Projekten unbemerkt die Richtung und das Ziel, so dass sich im Werk, dem opus operandum, kollektive Regelmäßigkeiten nachweisen lassen. Diese Regelmäßigkeiten sind Ausdruck eines klassenmäßig homogenisierenden Habitus, der mit Bezug auf Chomskys generative Grammatik bei Bourdieu ein „System verinnerlichter Muster“ (Bourdieu 1974: 143) ist oder die „Systeme dauerhafter Dispositionen“ (Bourdieu 1976: 164) sind. Die Dispositionen bilden sich in codierten Schemata ab, die den Möglichkeitsbereich für alle typischen Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen einer, in ihrer Kultur zum Ausdruck kommenden Klasse bestimmen. Klassen sind nach Bourdieu zunächst nur als Realisierung des Habitus zu verstehen (187). Träger des Habitus sind jedoch Individuen im Sinne physischer Personen, die Mitglieder von Klassen sind. So bilden dann zählbare Individuen eine letztlich homogene Gruppe. Der Habitus als einigendes Band verbindet die Mitglieder einer Klasse gegenüber anderen. Möglichkeiten außerhalb der eigenen Habitusgeltung lösen entsprechend Irritation und Ablehnung aus; sie sind für Bourdieu nicht vermittelbar. Habitus funktioniert als eine Art Superstruktur, wenn dadurch alle möglichen Erwartungen innerhalb einer Klasse organisiert werden. Die Verwirklichung der Erwartungen – der habitualisierte Vollzug von Praxis – reproduziert den Habitus. Das Individuum als Bedingung des ihm sozialisierten und von ihm einverleibten Habitus, der in sich alle Möglichkeiten der Weltaneignung birgt, nimmt bei Bourdieu Bezug auf eine stratifizierte Gesellschaft: Der Mensch ist allein Individuum, weil er in homogenen Klassen kollektiviert wurde. Derart zugespitzt, stehen die Überlegungen Bourdieus im krassen Widerspruch zu den modernen Debatten um das Individuum unter den Bedingungen einer funktional differenzierten Gesellschaft. Habitus ist ein Schema, das den Möglichkeitsrahmen für die Teilnahme an Gesellschaft begrenzt. Nur mittels dieses Schemas kommt der Mensch als Individuum in Gesellschaft, weil er eben so Mitglied einer Schicht oder Klasse ist. Bourdieu priorisiert damit ganz klar die stratifikatorische Differenz der Gesellschaft, durch die die funktionalen Bezüge geregelt werden. Ein Individuum ist bei Bourdieu durch einen Habitus charakterisiert, der sich darum auf den Körper beziehen kann und damit die Einheit und leibliche Identität des Individuums garantiert. Im Grunde gibt es also gar kein Identitätsproblem moderner Individuen. Selbst- und Kollektivbezüge, also Ich- und Wir-Identität, sind auf subtile, aber eindeutige Weise geklärt. Die soziale Frage kann sich dann auf das Problem der Gerechtigkeit ungleicher Ressourcen oder Kapital-Verteilung konzentrieren.52 Obzwar Bourdieu 52 Die Zuspitzung der Bemühungen um die Erfassung der Stratifikation birgt

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differenzierte Kapitalverteilung im sozialen Raum annimmt, läuft die Sozialstruktur auf die Monokontextualität der (dann letztlich doch ökonomisch begründeten) Schichtzugehörigkeit von Individuen hinaus, weil er diese eben als körperliche Ganzheiten, als Entitäten vorstellt. Insofern verfährt Bourdieu mit dem Habituskonzept konsequenter als Elias, der trotz seiner menschzentrierten Vorstellung von Gesellschaft durchaus eine Mehrzahl von Habitus annimmt. Die Einführung einer dominierenden habitualisierten Klammer aller anderen individuellen Facetten erscheint geradezu als Ausweg, um trotz der Vielheit persönlicher Aspekte die Vorstellung einer aus menschlichen Entitäten bestehenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten. So wie Bourdieu den klassenmäßig reproduzierten Habitus vorstellt, erscheint dieses Konzept statisch. Gesellschaftliche Dynamik muss damit notgedrungen ausgeblendet werden.53 Das divergente Erleben funktional differenzierter Bezüge ist so nicht vorzustellen, weil es seinen realistischen Grund nicht in ihnen findet, sondern in den jeweiligen Klassen, der die Individuen habitualisiert angehören. Das im Habituskonzept homolog wirgeprägte Ich kann sich nur als Schicksalerfüllung begreifen. Von der Statusgruppe kann das Individuum sich im Grunde nicht distanzieren, ohne im Marx’schen Sinne einem falschen Bewusstsein anheim zu fallen. In dieser Konsequenz erscheint das Individuum wieder als stratifikatorisches Inklusionssubjekt, das den alten, modernen Individualisierungsmovens aufruft. Aber das sich von seinen Ursprungskontexten emanzipierende, autonome, authentische und darum handlungsmächtige Individuum bleibt eine Utopie, die Wagner (1998) ja schon für antiquiert erklärte. Aber ist dieser Individualismus so schon für obsolet erklärt, muss das Habituskonzept darum ebenfalls verworfen werden? Habitus zeigt bei Elias die Möglichkeit an, verschiedene Wir-Bezüge im Ich verankert zu denken. Daran schließt jedoch die Frage an, unter welchen Umständen einer gemeinschaftlichen oder kollektiven Bezugseinheit ein Primat im individuellen Habitushaushalt zukommt. Für Bourdieu hat jedes Individuum nur einen Habitus, der als sozialisatorisch vermitteltes Erwartungsschema auf ein Stratifikationskollektiv fokussiert. In der Realisierung dieses Erwartungsschemas rekonstruiert sich die Gemeinschaft, die darum nicht als primordiales Wesen angenommen, sondern als eine soziale Konstruktion vorgestellt werden muss. Die sich in Bourdieus Absichjedoch auch keine Erklärung für ihr Zustandekommen. Stattdessen leitet sie leicht in eine moralische Debatte über, die sich auf das paradoxe Problem der Vermittlung von Gleichheit und Gerechtigkeit kapriziert. 53 Mennell (1996: 6 ff.) wirft im Zusammenhang der Erklärung des historischen Wandels des Geschmacks dem Strukturalismus, dem er auch Bourdieu trotz dessen eigener Distanzierung zuordnet, mangelnde Erklärungskraft vor. So könne mit den Konzepten nicht mehr erklärt werden als ohnehin offensichtlich ist, nämlich, dass Menschen im Grunde das bevorzugen, was sie gewohnt sind.

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ten zur Stratifikationsbeobachtung fixierende Singularisierung des Habitus findet Anschluss an die Vorstellung individueller Multiplität, wenn man mit Elias von einer Mehrzahl an Habitus ausgeht. Jedoch ist man damit über einige Umwege wieder bei der Patchwork-Identität und den damit verbundenen Konsistenz- und Kohärenzproblemen angekommen. Mit Bourdieu lässt sich aber darüber hinausgehen, weil der erfolgreiche Vollzug des Habitus ja die Deckungsgleichheit und damit die Identität des Selbst-Wollens und Fremd-Sollens erst schafft und darum nicht voraussetzt – Habitus also Identität perpetuiert. Im Habitus als sozialisiertes Erwartungsbündel vollzieht sich durch dessen Realisierung, das heißt Erwartungsbestätigung, die relevante Gemeinschaft. Habitus bedarf keiner primären Ontologie der Gemeinschaft, sondern schafft die Gemeinschaft im eigenen Vollzug. Als ein solchermaßen zugespitztes Konzept wird die tautologische Zirkularität des Habitus deutlich. Aber gerade darin ist im Anschluss an Luhmann (1993a) die Voraussetzung dafür zu erkennen, dass sich auch Habitus zur Verdeckung der grundlegenderen Tautologie des Individuums eignet. Eine Tautologie wird durch eine andere ersetzt, der Fokus verschiebt sich auf etwas mit höherem ontischen Status, nämlich Gemeinschaft. Habitus ist als auch körperlich markiertes Erwartungsbündel eine Form der Enttautologisierung des Individuums, die sich auf sozialisierte Normal-Erwartungen in Gemeinschaften richtet. In seine Diskussion der narrativen Identität berührt Meuter (1995) das Problem des homogenisierenden Habitus von der Perspektive des Individuums her. Identität als Simplifizierung ist auch Kondensierung differenter Erfahrungen und reaktiver Verhaltensweisen, was sich im Lebensverlauf zu Merkmalen fixiert, die sich zu dominierenden, „schematische[n] Charakterzüge[n]“ (260) verfestigen können. In diesem Sinne sorgt Identität für die Möglichkeit von Identifikation, das heißt adäquater Unterscheidung. Diese Kondensierung erinnert nicht von ungefähr an das Konzept des Habitus. Dieses ist angesprochen, wenn Meuter (261) unter Bezug auf Amilie Rorty weiter ausführt, dass solche Charaktere für die narrative Ausführung der eigenen Identität als sozial standardisierte und homologisierte Identitätsangebote zur Verfügung stehen. Diese schematischen Habitus können für die Selbstbeschreibung des Individuums nicht ausreichen. Zur Kondensierungsleistung durch den Charakter oder Habitus muss noch die individuelle Konfirmierung des Kondensierten treten. Die Balance zwischen Redundanz und Varietät bezeichnet Meuter als Stil, durch den Habitus aktualisiert werden können. Die Individualität des Stils macht für Meuter die Identität aus, denn darin werden „typische Charakterzüge zwar integriert […], aber auch immer wieder überschritten“ (262). Weinbach (2004a) beschreibt in ihrer systemtheoretischen Lesart des Bourdieu’schen Habitusbegriffs eine weitere Funktion des Habitus, wenn sie auf dessen Ähnlichkeit mit dem Begriff der Person bei Luhmann hinweist. Wie die Form Person das psychische und soziale System mit deren

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jeweiligen Idiosynkrasien in der Kommunikation koppelt, so bezeichnet auch der Habitus eine Vermittlung individueller und allgemein sozialer Erwartungen. Aus Sicht der Kommunikation, das heißt des sozialen Systems, erscheint die Person unter der Prämisse funktionaler Differenzierung immer nur als spezifische Mitteilungsadresse. Die damit funktional limitierten gegenseitigen Erwartungen fokussieren in jeweilige Rollen auf eine Seite der Person. Mit dem Begriff des Habitus lässt sich Weinbach zufolge die andere Seite der Person, auf die das Bewusstsein – das psychische System – rekurriert, genauer bezeichnen. Habitus richtet sich als Erwartungsbündel nicht auf funktional bestimmte Aspekte, sondern vielmehr auf die Vermittlung allgemein gesellschaftlicher und individueller Erwartungen. Darüber hinaus ist die kommunikative Seite der Person als Rollenerwartung körperlos, wie Weinbach bemerkt. Mindestens aber in Interaktionen nimmt Wahrnehmung auf den eigenen und andere Körper oder körperliche Hinweise Bezug, wie sie typisch im Habituskonzept beschrieben werden. Die Form Person erscheint wie eine Kippfigur, die vom psychischen wie vom sozialen System mit jeweils spezifischen Anschlüssen konstruiert wird. Funktionsspezifische Rolle und individualisierter Habitus sind als Erwartungsbündel Attributionen, die die soziale Situation auf jeweils eigene Weise limitieren und damit ermöglichen. Indem bei der Kommunikation auch nicht funktionsspezifische Faktoren zur Geltung kommen, Rollen mittels des Habitus individualisiert werden, wirken diese als Irritation der funktionalen Primärdifferenz durch die stratifizierende Sekundärdifferenz.54 Der operative Vollzug des Habitus als individuelle Erfüllung von Rollenschematas erfolgt darum nicht monokausal und statisch, sondern als kontextspezifisch geregelter Aufruf bestimmter Rollen- und Verhaltensschemas. Nimmt man Habitus auf diese Weise für die Beschreibung von Kommunikation in Anspruch, lässt sich ein facettenreicheres Bild entwerfen. Denn anhand der sich im Habitus ausdrückende Sozialisationserfahrung kann neben der primären funktionalen Differenzierung auch die sekundäre der Stratifikation beachtet werden. Als eine Beobachtungskategorie taugen personalisierte Rollenschemas dann, wenn die darin jeweils enthaltenen symbolischen Codierungen zum empirischen Gegenstand gemacht werden können. Weinbach führt dies anhand der Geschlechterdifferenzierung vor. Ebenso sollten sich hier Möglichkeiten für die Beobachtung von Gemeinschaftsbezügen an Personen als kommunikative (und so auch empirische) Beobachtungskonstrukte knüpfen und sich im Vollzug des Gemeinschaftshabitus die symbolischen

54 Für Weinbach (2004a: 81) stellt die Anreicherung des Personenkonzeptes durch Habitus ein Luhmann-Bordieu’sches Wunschkind dar, wiewohl das von der Bourdieu’schen Theorietradition auch als Usurpation gewertet werden kann. Jedoch liegt der Vorteil aus systemtheoretischer Sicht auf der Hand: Nun ist eine Möglichkeit gegeben, die irritierende Verschränkung verschiedener Differenzierungsformen zu beschreiben.

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Markierungen der Gemeinschaft in Erfahrung bringen lassen. Habitus sind dann als sozialisierte Schemata der Selbstdarstellung zu beschreiben, die mittels kultureller Muster (zum Beispiel Heterosexualität oder andere Partikularwerte) reproduziert werden.55 In dieser Hinsicht sind dann auch Emotionen als Aspekte des Habitus zu diskutieren. Emotionen werden in den Diskussionen zur Gemeinschaft oft als Kennzeichen ihrer überschwänglichen bis gefährlichen Irrationalität genannt. Gemeinschaften bringen Emotionen zum Wallen – bis zu deren unkontrollierbarem Ausbruch. Ohne Zweifel sind Gemeinschaftsbezüge affektiv aufgeladen. Dieses Kennzeichen haben sie jedoch nicht exklusiv; alle sozialen Beziehungen sind durch Emotionen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, geprägt. Daher ist zu vermuten, dass auch Emotionen eine kommunikative Supportfunktion zukommt, die entweder auf den Habitus Bezug nimmt oder mindestens ein Aspekt des Habitus ist. Was hat es aber mit den Emotionen auf sich, dass durch sie die Gemeinschaft erst zum Schnellkochtopf der Gefühle wird? Dabei werden Emotionen, mehr noch als Habitus, dem Körper zugeschlagen. So betonen sie das Individuelle gegenüber der Gemeinschaft, aber nicht ohne gleichzeitig das Individuelle im gemeinschaftlichen Überschwang vergessen zu machen.56 Bei aller Körperbezogenheit sind Emotionen dann eben „keine Privatveranstaltung“, wie Vester (1991: 47) feststellt. Sind Emotionen also das habitualisierte Bindemittel der Gemeinschaft, möglicherweise sogar der Gesellschaft? Der Stellenwert von Emotionen wird wahrscheinlich auch in Zukunft nicht unumstritten sein. Der Grund dafür ist wohl, dass Emotionen wegen ihrer Körperbezogenheit als ein soziologisch randständiges Phänomen erscheinen und das trotz der jüngsten Wende in den Sozialwissenschaften hin zum Körper (Schroer 2005) auch bleiben. Das zeigt sich zum Beispiel an den immer wieder neuen Anläufen, Emotionen zu bestimmen, als handelte es sich dabei um eine immer währende terra incognita. Um diese weißen oder blinden Flecke57 einzufärben, werden schon länger Anstrengungen unternommen.58 Neben zahlreichen sozialpsychologischen und behavioristischen Analysen waren Emotionen auch schon unter sozialphilosophischer Perspektive von zentraler Bedeutung. Scheler (2000) galten sie

55 Dabei könnten kollektive Grenzen der Geltung solcher Muster sichtbar werden. Muslimen gilt hijab, die Verhüllung der Frau, als Vorschrift für jede Frau, die aber nicht überall erwartet wird, sondern zunächst nur in den eigenen Grenzen der Zugehörigkeit. Zur Koran-Vorschrift und deren allgemeine Ausweitung siehe Aslan (2006: 63 ff.). 56 Die Selbstvergessenheit haben sowohl Durkheim (1994) als auch Canetti (1992) herausgearbeitet. 57 Siehe dazu die Systemtheorie Luhmann’scher Provenienz betreffenden Beiträge in: Soziale Systeme 10 (2004), Heft 1. 58 Schon allein die historische Weitläufigkeit der neueren Emotionsforschung dargestellt zu haben, ist ein großes Verdienst Vesters (1991).

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als der Rückhalt ethischer Gesellschaftsbegründung. Bei aller Scheler’schen Zuspitzung von Werten als a-historische Entitäten bleibt doch das Motiv der Wertebezogenheit von Emotionen aktuell. Damit rücken Emotionen aber in die Nähe des Habituskonzeptes. Für Crossly (2001) sind Emotionen Interpretationen der Zustände des eigenen Körpers. Emotionen sind darum, wie auch schon Scheler (2000: 33 ff.) ausführte, vom Fühlen zu unterscheiden. Vielmehr werden Gefühle durch Emotionen in Abhängigkeit von Erfahrungen, der aktuellen Situation und Dispositionen ausgedrückt (Crossly 2001: 42 f.). Mit Dispositionen bezeichnet Crossly qua Sozialisation inkorporierte Erwartungsschemata und bringt damit auf adäquate Weise den Begriff in die Argumentation, mit dem Bourdieu (1976) schon Habitus erklärte. Für Crossly ermöglicht der solchermaßen bestimmte Habitus, wahrgenommene Körperzustände als Informationen „praktisch“, das heißt ohne expliziten Kognitionsprozess, zu selegieren, der Sinnproduktion zuzuleiten und den Körper entsprechend den Umweltbedingungen zu positionieren. Der Körper funktioniert wie ein Seismograph des sich selbst als Agens Wahrnehmenden. Der dispositionale Habitus determiniert dabei spezifisch das in der Agenda, der selbstbestimmten Handlungsmächtigkeit, ausgedrückte Weltverhältnis anhand entsprechender emotionaler Äußerungen. Emotionen erscheinen bei Crossly so als körperbezogener Wahrnehmungs- und Repräsentationsaspekt des Habitus. So erscheinen Emotionen neben kognitiver Reflexion als eine weitere, körperbezogene Welterfahrungsmöglichkeit. Noch deutlicher wird das bei Vester (1991). In Übereinstimmung mit der Konzeption von Habitus kann Emotion nach Vester schon im deskriptiven Zugang als Kopplung von physischen, psychischen und sozialem System interpretiert werden. Denn die kulturell zwar divergenten Emotionsbegriffe beziehen sich als Wissensrepräsentation doch alle explizit auf Körper, und zwar immer in Abhängigkeit von gemeinschaftlich geteilten Regeln und Werten. Gerade deshalb lassen sich aber Emotionen nicht anhand von Taxonomien beschreiben. Vielmehr müssen Emotionen als Problemlösungen verstanden werden. In dieser Hinsicht lassen sich neben anderen Ordnungen Primäremotionen bestimmen, die schon bei Tieren vorkommen können und insofern keine oder nur geringe reflexive Überformungen erfahren. Diese präkulturellen Primäremotionen, nämlich Angst, Wut, Trauer und Freude, zeichnen sich durch einen hohen Grad an Universalität aus. Sie sind im Gegensatz zu nachgeordneten, komplexeren Emotionen „persistente, problemlose, ökonomische Informationsverarbeitungsmuster“ (34). Als solche sind sie von System-Umwelt-Beziehungen stimuliert, ohne jedoch einfache Reaktionen zu sein. Vielmehr entstehen Emotionen als Effekte von auf Schemata rekurrierende Gedächtnisleistungen bei Interaktionen. Insbesondere in ambivalenten, als Stress erlebten Situationen werden Emotionen als schematische Körperreaktionen erzeugt. In diesen kommunikationsblockierenden Situationen sorgen Emotionen für er-

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höhte Informationsverarbeitungskapazitäten, die auf Entscheidungen hin zum Abbruch oder zur Fortsetzung der Kommunikation drängen. Solche Situationen unterliegen selbst immer einer kulturellen Bewertung. Sie lassen sich als Inkongruenz von Umweltherausforderungen und eigenen Bearbeitungsressourcen, zum Beispiel durch mangelndes Feedback oder Stressorenkumulation, erklären. Die Funktion von Emotionen wird in diesem Zusammenhang oft als Überlebensstrategie vorgestellt, die situationsadäquate Ressourcenaktivierung ermöglicht. Allzu leicht wird aber die mögliche Dysfunktionalität von Emotionen vergessen, wie Verster (46) anmerkt. In Emotionen drücken sich also Bewertungen des SystemUmwelt-Verhältnisses mittels sozialisierter Schemata aus. Dadurch werden – bevorzugt bei Negativemotionen – Copingstrategien in Gang gesetzt. Diese wirken auf die Veränderung des System-Umwelt-Verhältnisses durch psychisch-kognitive Prozesse, wie Umdefinition, sowie physische Prozesse, wie Flucht oder Aktivierung. Die Resultate der Copingstrategien werden wiederum durch Emotionen gewertet, so dass Vester davon spricht, dass Coping Emotionen transformiert (53). So wie Emotionen als Schemata Gedächtnisleistung in Anspruch nehmen, wirken sie auch am Aufbau des Gedächtnisses mit. Denn indem Emotionen als Repräsentanten von Schemata erlebbar werden, repräsentieren sie auch die Selbstvorstellungen im sozialen Kontext. Die hiermit transportierten Erwartungserwartungen an die Erfüllung sozialer Standards, wie sie das Selbstwertgefühl auszeichnen, sind gleichsam Realitätstests des Selbst an der Umwelt. Emotionen aber wirken auch dann noch als Sicherungsnetz, sollte dieser Test enttäuschend ausfallen. Die anschließend ablaufenden Kaskaden von Coping, Um- und Neuwertungstrategien können dann auf Schemataänderungen hinwirken. Die Integration in Gemeinschaft wirkt gerade bei dieser Krisenbewältigung als eine wichtige Ressource, wie verschiedene Untersuchungen zeigten (55 f.). Die mit Emotionen prozessierte Selbsterfahrung (so auch Lupton 1998) macht das Nichtkommunizierbare des Selbstbezugs kommunikativ zugänglich, wodurch diese körperbezogenen Selbstaspekte sozial behandelbar werden. Emotionen dienen so der Selbstvergewisserung im sozialen Umfeld. Crossly (2001) schildert dies anhand der Mead’schen Unterscheidung von „I“, als inkommensurables Selbst und der mittels Emotionsschemata evozierten Selbstrepräsentation des „Me“. Wenn Habitus als körperbezogene Repräsentanz des Individuums fungiert, so kann Emotion als die habituelle Repräsentanz des Selbst, als habitueller Selbstaspekt verstanden werden. In diesem Zusammenhang weisen Emotionen als körperbezogene schematische Reaktionsmuster aber auch darauf hin, dass Habitus als Schemasyndrom aufzufassen ist und so die Gedächtnisfunktion des

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Vergessens (Esposito 2002) unterstützt, indem hier die nicht (mehr) reflexiv verfügbaren Techniken des Umweltzugriffs gespeichert werden.59 Das sich so erst einstellende unproblematische Selbstverständnis ist immer nur vereinfacht als Identität darstellbar. Der dabei erfolgende Rekurs auf Ich- und Wir-Aspekte thematisiert die Differenz zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, die erst durch Individualisierung auseinandertreten konnten. Die Vermittlung dieser Selbstaspekte findet im Habitus seinen Ausdruck. Individuen aber verfügen über eine Vielzahl von Habitus, die funktionale Kontextanforderungen auf individuelle Art und Weise bewältigen helfen. Und so werden die Habitus eines Individuums durch Identitätsbeschreibungen wie der Zugehörigkeit zu Klasse, Schicht oder auch Partikulargemeinschaften nie aufgelöst. Mit dem Habituskonzept ist nun ein Hinweis auf die in Gesellschaft erfolgende individuelle Konstruiertheit von Gemeinschaft gewonnen, weil erst im erfolgreichen Vollzug des Habitus sich Gemeinschaft realisiert. Durch den im Habitus gleichermaßen enthaltenden Verweis auf Gemeinschaft wie auf Körper kann die Enttautologisierung des Individuums daran anschließen. Anhand der Emotionen als habitualisierter Wahrnehmungsaspekt wird deutlich, dass es beim Vollzug von Habitus überhaupt um die Realisierung von Erwartungserwartungen, also um die Prozessierung selbstverständlicher Wertgeltungen geht, wie sie die Selbstwerterfahrung (Lupton 1998) prägen und dann mit Scheler (2000) als ethische Grundierung der Gesellschaft gewertet werden können. Im Anschluss daran ist zu fragen, ob Werte nicht doch in metaphysischer Manier als transzendent Absolutes verstanden werden müssen? Mit Blick auf Gemeinschaften lässt sich das verneinen, ohne ihnen aber Wertgrundierung absprechen zu müssen oder überhaupt zu können.

Gemeinschaftliche Grenzen Werte waren seit jeher eine maßgebliche Kategorie für das menschliche Zusammenleben. Die normierenden Regelungen der Gemeinschaft wurden schon in der Antike als Politik und Recht diskutiert und auf göttliche Fügungen zurückgeführt. Die darin angelegte ethische Begründung der Gemeinschaft wurde durch diese transzendentale Latenz der Kritik alltäglicher Praxis entzogen. Selbst die europäische Aufklärung verhinderte noch die theoretische Reflexion dringlicher werdender Kontingenzerfahrungen mit transzendentalen Begründungen, wie dem kategorischen Imperativ bei Kant. Die Romantik, auf die sich Luhmann oft bezog, spiegelte jedoch Zweifel, die nicht mehr zum Schweigen zu bringen waren. Ihnen verlieh Nietzsche vor allem mit seinem Zarathustra lautstark Ausdruck. Aber 59 Was Luhmann lakonisch als Praxis bezeichnet, nämlich zum Beispiel Autofahren oder Rauchen.

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ebenso vehement fielen seitdem die Rehabilitationsversuche aus, Werte als unumstößliche Tatsache darzustellen. Wie sonst sollte die sittliche Verfasstheit der Gesellschaft begründet werden? Auch hier hilft eine Umstellung der Frage weiter. Es kann zumindest aus soziologischer Sicht nicht darum gehen, was Werte sind oder welche die richtigen Werte sind, die ein gutes Leben ermöglichen. Es gibt Gesellschaft und offensichtlich gibt es Werte, an denen, zum Beispiel in der institutionalisierten Form als Recht, sich das Zusammenleben orientiert. Darum muss es also nicht gehen, sondern wie Werte als Tatsachen wirken (dazu Luhmann 1993b). Die gesellschaftliche Bindung durch Wertorientierung war ein starker Motor für die Arbeiten der frühen soziologischen Autoren. Die Veränderung ethischer Bindungen durch die Fliehkräfte sozialer Differenzierung war – darauf wurde oben schon verwiesen – ein großes Thema Durkheims. Die christliche Religion hatte in seinen Augen die Kraft zur Bindung der Gesellschaft verloren, wie sich auch im Angesicht der Dreyfus-Affäre zeigte. Das Allgemeine im Besonderen, das Menschliche jeden Individuums, konnte für Durkheim eine bindende Verpflichtung sein. Diese Bindung war aber nicht darauf zu gründen, dass das Individuum sich der Allgemeinheit gegenüber in Hinsicht eigenen Nutzens moralisch verhalten müsse, sondern dass die Gesellschaft es in Ermangelung anderer nichtdiskreditierbarer Bezüge mit eben jener quasi-heiligen Bedeutung ausstattet (Durkheim 1986: 70, Anmerkung 4). Dieser – man könnte sagen: pragmatische – Humanismus Durkheims, als den er den Individualismus im Sinne einer Moral der differenzierten Gesellschaft entwarf, setzt auf die sich selbst begründende Geltung von Werten.60 Freilich entwirft Durkheim hier einen Universalismus, der sich gerade vor seiner späteren tragischen Erfahrung während des Ersten Weltkrieges als Utopie ausnimmt (Lukes 1975). Moralisch vernünftige Einsicht in die Menschlichkeit des anderen ist nicht hinreichend aus alltäglichen Erfahrungen zu gewinnen. Wertsetzungen, die moralische Bindung orientieren, bedürfen außergewöhnlicher Ereignisse. Das lässt sich aus den Studien Durkheims (1994) zum religiösen Leben ableiten. Die sich im Bezug zum Kollektiv manifestierende Solidarität gegenüber dem anderen, die sich als gemeinschaftliche Moral auszeichnet, erwächst einerseits aus Gewohnheit. Aber erst außergewöhnliche Ereignisse machen diese Kollektivgefühle andererseits explizit. Gefahren und Tod stellen als Repräsentanten der Außenseite des Kollektivs dieses auf die Probe, bieten aber selbst wenig Anlass zur Reflexion. Diese muss anders erreicht werden, nämlich durch Symbole, Versammlungen und insbesondere Rituale. Symbole, wie das von Durkheim angeführte Totem, geben den existenziellen Kollektivbedrohungen Formen, 60 Als Werte erscheinen die Dinge, auf die sich das Kollektiv positiv bezieht und darum für gut erachtet. Deren Verletzung ist dann ein Verbrechen (Durkheim 1988: 131 ff.).

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anhand derer gemeinschaftsbezogene Erfahrungen aktualisiert werden können, was zumeist in Ritualen, aber auch durch Erzählungen und andere Traditionalisierungsformen geschieht. Versammlungen und Ritualen aber kommt die besondere Bedeutung für das Gemeinschaftsleben zu. Denn hier werden Grenzüberschreitungen vollzogen, die auf diese Weise als Bestätigung der durch Symbole manifestierten, begrenzenden und bindenden Regeln wirken. So erfährt die Moral des Kollektivs immer wieder Bestätigung und Verstärkung. Indem sich kollektive Rituale auf Symbole beziehen, kann die Bindung des Kollektives zum kommunikativen Thema werden. Die relevanten Symbole erhalten aus ihrem Bezug zum Totem ihre besondere, ihre heilige Bedeutung. Daher werden auch die diesbezüglichen Rituale zu heiligen, nicht-profanen, dem Alltag enthobenen Handlungen. Das Heilige als Über-Steigerung der Wirklichkeit wird in den kollektiven Riten und Zusammenkünften erzeugt und möglicherweise bis zur Ekstase, das heißt als Differenzaufhebung erlebt, wie Durkheim im Bezug auf die australischen Ureinwohner zeigte.61 Die kollektive Bindung der Gemeinschaft findet in den Symbolen Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht zwingend, aber wohl am wirksamsten in Ritualen zur Reproduktion dieser Bindungen beitragen. Durch heilige Handlungen lässt sich die Heiligkeit der grundlegenden Werte der Gemeinschaft, das heißt das moralische Band solidarischer Kollektivgefühle, erneuern. Aber ganz klar wird hier auch, dass das Heilige sich immer nur gegen das Profane, die Gemeinschaft gegenüber allem anderen behauptet. Insofern kann Durkheims universaler Individualismus zwar Hoffnung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt spenden, vor dem Hintergrund religiöser Performanz aber rückt deren Erfüllung als ein Weltfest der Menschlichkeit ins Utopische. Nicht was Werte sind, sondern wie diese entstehen, interessiert auch Joas (1999) in seiner Untersuchung. Ausgehend von Nietzsches Wertzweifel stellt er Durkheim in eine Reihe mit Autoren, die Werte als Grundlegung gesellschaftlichen Zusammenlebens thematisieren. Durkheim nimmt dabei für Joas eine Position ein, die bei der Wertentstehung zu sehr das kollektive Moment gegenüber dem Individuellen betont. Vor dem Hintergrund des amerikanischen Pragmatismus bezieht Joas sich auf weitere Autoren, um die Entstehung von Werten aufzuklären, die das gesellschaftliche Zusammenleben ethisch fundieren und Anlass für individuelle Orientierung geben. Mit der vermittelnden Unterscheidung des Guten als philosophischen Platzhalter der Werte vom Rechten, den Normen gegenseitigen Umgangs und dem Hinweis des dialogischen oder diskursiven Charakters des Sozialen gewinnt er am Ende seines analytischen Durchgangs die 61 Die Aktualität solcher überschreitenden Rituale wird nachdrücklich zum Beispiel von Cannetti (1992) oder Theweleit (1978) für die nationalsozialistischen Inszenierungen beschrieben, was aber nicht schon Anlass für die Verdammung von Gemeinschaft sein kann.

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Möglichkeit zur Behauptung einer universalen Ethik trotz immer nur partikular entstehender Werte. Zunächst stellt er fest, dass Werte in den Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz entstehen, dem identitätsbildenden Ich-Bezug und dem selbstvergessenen Kollektivbezug. Der Kontingenz alltäglicher Erfahrungen kann dabei nur mit selbstbewusster Konsistenz geantwortet werden. Denn nur das eigene Beharren auf das Gute gegenüber der sozialen Umwelt lässt Harm von dieser Seite, wenn auch nicht verhindern, so doch unwahrscheinlicher werden.62 Die Werte erlangen ihre Geltung also aus einem Selbst-Interesse am Guten heraus. Joas will aber nicht das immer begrenzt Gute, die Werte, gegenüber den universalen Rechten, den Normen, hervorgehoben wissen, sondern sieht die Werte im sozialen Geschehen immer auch der normativen Bewertung ausgesetzt. Diese Bewertung erfolgt in den unvermeidbaren Diskursen im Bezug zum allgemein Rechten. Damit erscheint es Joas möglich, dass die immer individuell oder auch kollektiv begrenzten Werte ihre Limitierung der Geltung verlieren. Darin begründet sich dann für ihn die Notwenigkeit der Annahme einer universalen Ethik als Ermöglichung von Gesellschaft, was bei Joas die Form einer doppelten Integration von Individuen annimmt – der kulturellen in der sozialen. Die partikulare Geltung der Werte kann damit nicht aufgehoben werden, aber sie muss vor den universalen Normen sozialen Zusammenlebens ihre Universalisierbarkeit beweisen. Joas behauptet also keine Universalität von Werten, diese bleiben in ihrer Partikularität kontingent, sondern von Prinzipien der gegenseitigen WertPrüfung und Schätzung im Vollzug von Gesellschaft.63 Damit ist er aber nicht soweit vom „extremen“ Funktionalisten Luhmann, wie Joas (1999: 17 f.) ihn nennt, entfernt. Der Ironiker Luhmann nimmt die Wertfrage durchaus ernst, stellt sich aber – und das ähnlich wie Joas (274) – gegen die in seinen Augen überspannten Erwartungen an eine Moral der Gesellschaft. Wenn Luhmann (1993b: 17 ff.) behauptet, es gäbe 62 Joas (1999: 234 ff.) begreift dieses Beharren als Auftrag zur Verteidigung der kohärenten Subjektivität und Identität von Individuen gegen vorgeblich postmoderne Anwürfe, die sich wiederum gegen vermeidlich rigide Identitätsvorstellungen infolge von Erikson in Stellung gebracht wurden. Aber so wie diese postmoderne Kritik die starren Ich-Gehäuse – womöglich – erst entwerfen musste, um sie lauthals zu zerstören, spitzt auch Joas deren Beiträge zu sehr um des Argumentes Willen zu. Ohne allzu leicht karamellisierte Konsens-Sauce über alle Gegensätze zu schütten, geht es letztlich hier wie dort um die Möglichkeit von Gesellschaft unter den Bedingungen der Konsistenzerfahrung. Andere, oben schon dargelegte Argumente gegen ein universalverantwortliches Subjekt kommen hier gar nicht in den Blick. Subjektive Kohärenz ist nicht notwendig zur Bewältigung der divergenten gesellschaftlichen Anforderungen, es reicht schon eine kontextuelle Angemessenheit. Das stellt allerdings hohe Anforderungen an das jeweils eigene Reflexions- und Reaktionsvermögen. 63 Die Auseinandersetzungen sieht Joas im ethischen Diskurs gegeben. Man könnte aber auch diese Sonderarena verlassen und von Kommunikation reden, wenn Werte als Erwartungshorizonte konzipiert würden.

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keine Notwendigkeit gesellschaftlicher Werte, so besagt das nicht mehr, als dass man heute nicht mehr nach Werten an sich Ausschau halten kann. Werte werden immer spezifisch zur Situation eingesetzt, sie werden als Entscheidungsgrundlage kontingent. Darum muss man die Geltung von Werten für sich in der Gesellschaft beobachten. Auch universale Menschenrechte sind im Grunde Partikularwerte, deren Partikularität politisch überwunden werden soll und sei es durch die Pflicht zum Recht. Aber das ist eine Agenda zur Ausweitung ihrer Geltung, weil diese eben partikular ist. An anderer Stelle misst Luhmann Werten nicht anders als jeder humanistischer Ethiker Werten das Vermögen sozialer Bindung bei, wenn er diese als Simplifikationen der Reflexivität der Sozialdimension der Kommunikation erklärt. Erst Werte machten nämlich bewußtseins- und kommunikationsfähig, „was von anderen als Beitrag zum Prozessieren von Sinn zu erwarten wäre“ (Luhmann 2007: 253). In seiner Argumentation erklärt Tietz (2002) die Partikularität von Gemeinschaften, die im Wir ihren Ausdruck finden, vor dem Hintergrund universalistischer Geltungsbegründung von Werten. Die Unterstellung eines Vermögens zur vernünftigen Verständigung schafft schon die universale und unbegrenzte Menschengemeinschaft, die jedoch nur als ethischer Orientierungshorizont erlebbar ist. Die partikulare Gemeinschaft unterscheidet sich davon durch die Besonderung ihrer Mitglieder gegenüber allen anderen vernunftbegabten Menschen. Partikulargemeinschaften bilden füreinander Umwelten, die sich an der Wir-Ihr-Differenz scheiden. Wie für Joas (1999) ist auch für Tietz (2002) gesellschaftliches Leben auf gemeinschaftliche Werte gegründet, wenn die Identifikation der Gemeinschaftsmitglieder von allen anderen auf „wertrationale Integration“ beruht. Dies ist im gemeinsamen Bezug auf bestimmte Werte gegeben, die das bezeichnen, was aus Sicht der Mitglieder gut oder besser für die Gemeinschaft ist. Mit dem Hinweis, dass Werte Pseudogegenstände sind, also selbst nicht Gegenstände bezeichnen, sondern vielmehr Gegenstände mit Attributen versorgen, werden Werte deontologisiert. Werte bieten dann nur in Abhängigkeit von einer vorhergehenden Bewertung Orientierung, deren Wahrheit sich aber immer gegen den Realitätswiderstand erweisen muss. Gemeinschaftsrelevante Werte sind nur durch eine auf Einverständnis zielende Kommunikation über die Gültigkeit der Werte möglich.64 Darum kann für Tietz solch ein Einverständnis der Gemeinschaft auch nicht von außen induziert werden. Denn Identitätsbezug und Wertungen bilden auf 64 Damit wird klar, dass der so genannte Priesterbetrug, wenn ein elitärer Willen einer bestimmten Masse oktroyiert wird, hier schon Gemeinschaft herstellt. Es stellt sich die Frage, ob der Priesterbetrug überhaupt möglich ist. Von einem wie auch immer begrenzten gemeinschaftlichen Einverständnis ist nämlich auszugehen. Das macht Gemeinschaften nicht gefährlicher als andere soziale Phänomene, es sei denn, man verschließt zuvor die Augen mit selbstgestellten Verboten und ist später unangenehm überrascht.

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„nicht-kontingente Weise“ (Tietz 2002: 75) einen Zusammenhang, in dem klar ist, wem was wann als gut oder besser gilt. So sind die Werte als Bewertung und Eigenschaften von Gegenständen oder Zielen in sozialer und zeitlicher Hinsicht gebunden; sie gelten einer bestimmten Teilmenge von Individuen zu einer bestimmten Zeit. Anlass für die Wertekommunikation ist der Bruch des immer nur vorläufigen Konsenses, der bei hinreichendem Interesse auf die Herstellung eines neuen drängt. Dieser Konsens geht durch seine praktischen Aspekte für die Handlungen der Mitglieder über die bloße gemeinsame Verfolgung von Zwecken hinaus, denn er ist „die diskursiv erzielte Einheit jener Orientierungen, die eine gemeinsame Praxis tragen“ (81).65 Gemeinsame Praxis bedeutet für Tietz dabei nicht notwendigerweise gleichförmiges Handeln, sondern Handeln von Mitgliedern, das auf den als gültig anerkannten Werten der Gemeinschaft beruht. Praxis ist hierbei die Erfüllung von solchen Erwartungen, die als konstitutiv für die Gemeinschaft gelten. Die Gemeinschaft hat – ausgehend von der Geschichte und Gegenwart in der Zukunft – unterschiedliche Möglichkeiten, die wiederum Grundlage für die Geschichtserzählung und so für die Gemeinschaftsidentität sind. Praktisch wird das Wissen um die Zukunft der Gemeinschaft immer dann, wenn die der gemeinschaftlichen Orientierung zugrunde liegenden Werte verbindlich für das eigene Handeln gelten, wenn aus dem gemeinschaftlichen Sollen ein Wollen für die Gemeinschaft geworden ist. Dann ist die Partikulargemeinschaft die Quelle des normativen Selbstverständnisses, das sich die Mitglieder jeweils selbst aufbauen, um sich dann damit zu identifizieren (210). Wertrationale Integration wird in den kommunikativen Rechtfertigungspraxen realisiert, wie Tietz anhand möglicher Einwende unterstreicht: Gefühle allein reichen für Gemeinschaftsbildung nicht hin, weil diese nicht zu rechtfertigen sind. Im Anschluss an Vester (1991) kann noch hinzugefügt werden, dass Gefühle ja auch weniger die Grundlage von als vielmehr Reaktionen auf Übereinkünfte sind. Auch entspricht die Gemeinschaft nicht einem anthropologischen Bedürfnis oder kann auf andere primordiale Gründe zurückgeführt werden. Nur die Möglichkeit kommunikativer Vermittlung gemeinsamer Werteorientierungen kann die-

65 Zwei Varianten der Gemeinschaft unterscheidet Tietz: commercium einerseits und communio andererseits, wobei nur letztere als wertrational integrierte Partikulargemeinschaft zu verstehen ist. Gemeinschaftsorientierung folgt also nicht utilitaristischen Zwecksetzungen und ist so auch nicht an Kostenvermeidung zu messen, wenngleich auch das als Problem konzipiert und empirisch aufgezeigt werden kann (siehe dazu zum Beispiel die Diskussion von Eder/Schmidtke (1998) und Esser (1999)). Eine weitere Frage wäre, inwiefern das, wie alles andere auch, sich als Konstruktion über die Welt von der Welt unterscheidet und wie das festzustellen ist. Eine Frage, mit deren Beantwortung auch Fuchs’ (1992) Skepsis gegenüber der communio zu begegnen wäre.

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se begründen. Darum ist räumliche Nähe auch nicht ausschlaggebend für Gemeinschaften. Wie ein Echo klingt die falsche Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft in der Vorstellung von den konkreten Nachbarschaften und der fernen abstrakten Stadt, Region, dem Staat oder der Welt wider, wobei die Bezugsgrößen auch die Seiten wechseln können und als Unterscheidungen dann beliebig sind.66 Auch in einer ursprünglichen Intention von Sprache ist keine Begründung für Gemeinschaft zu erkennen. Gäbe es eine solche Intention, könnte letztlich auf Vermittlung verzichtet werden, denn im Grunde wäre alles schon vermittelt. Kommt Intention aber zuerst in Sprache zum Ausdruck, muss sie Kommunikation in Anspruch nehmen, hängt sie vom unerreichbaren Verstehen des Anderen unter den Bedingungen doppelter Kontingenz ab. Intention ist dann nicht mehr als unterstellte Absicht, die der Andere nur annähernd verstehen kann. Gemeinschaft ist dann eine unwahrscheinliche Form gemeinsamer Sinnstiftung. Dass sie trotzdem zustande kommt, bleibt auf Grundlage von Gefühl und Absicht ein Rätsel. Gefühle, Nähe und Absichten sind bloß Reaktionen auf Gemeinschaft, die für die Begründung von Gemeinschaft nicht hinreichen und darum von Tietz (2002) nur als mögliche Einwände gegen die kommunikative Konstruktion von Gemeinschaft aufgeführt und anschließend entkräftet werden. Damit hat aber Tietz weit mehr getan als nur Einwände zu erwidern. Er hat nämlich sowohl den Ängsten vor der Gemeinschaft wie auch der Suche nach dem wesenhaften oder gar anthropologisch begründbaren Charakter von Gemeinschaft ihre (ir)rationalen Gründe genommen. Ist dieses Dickicht beseitig, kann der Weg zur Analyse des Gemeinschaftlichen weiter beschritten werden. Die kollektive Identität als Referenz des Selbstverständnisses funktioniert nur so lange, wie sie den Realitätsbezug nicht verliert, also durch das Zulassen von Alternativen kritikfähig und veränderbar bleibt. Die Gemeinschaft ist dann die permanente Erfindung derer, die sich als ihre Mitglieder begreifen. Für Tietz werden deshalb die Grenzen der Gemeinschaft auch immer von innen gezogen (232). Nur so können sich Gemeinschaften überhaupt bilden.67 Tietz’ Überlegungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die kollektive Identität nicht als Äquivalent personaler Identität aufgefasst 66 Zur Problematik der Unterscheidung von Sozialeinheiten mittels räumlicher Bezüge und der Konsequenzen regionalistisch orientierter Sozialwissenschaften hat Kuhm (2000) aufschlussreich argumentiert. 67 Exkludierende oder inkludierende Zuweisungen bleiben für die so Beschriebenen so lange bloße Zumutungen wie sie nicht Basis deren normativ motivierter Gemeinschaftsdiskurse sind. Und so lässt sich erkennen, dass es sich bei Zuweisungen um Enttautologisierungsstrategien kollektiver, genauer auf das Kollektiv bezogener Selbstbeschreibung handelt. Das folgt der Vorstellung systemischer Autopoiesis, wobei die Begegnung von Gemeinschaften zu einer aneinander orientierten Rekonstruktion der eigenen Grenze führt: die eigene Besonderheit wird erst immer am Anderen deutlich (dazu Barth 1998 und Cohen 1984).

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werden kann, also nicht ein Selbstbegreifen der Gemeinschaft meint.68 Kollektive Identität ist als Referenz auf Gemeinschaft vielmehr ein Aspekt personaler Identität, was mit den Schlussfolgerungen aus der Diskussion personaler Identität übereinstimmt. Dabei ist der Gegenstand des personalen Gemeinschaftsbezuges kontingent, aber nicht mehr der Bezug selbst. Dessen normativer Gehalt ist kommunikativ als Konsens ausgehandelt und so mit Geltungsansprüchen versorgt. Der Gemeinschaftsbezug bietet darum normative Orientierungen für die eigensinnigen Entscheidungen über das zukünftige Handeln der Mitglieder. Damit ist der praktische, auf Handlung zielende Charakter des partikularen Wir-Bezuges bei Tietz markiert. Tietz setzt beim Zustandekommen des kommunikativen Einverständnisses über die Normengeltung auf Habermas’ Diskursbegriff, der auf die Herstellung eines expliziten Konsenses aus ist. Aber dieser Konsens erscheint wenig alltagstauglich, wenn dem Handeln immer erst noch die Rechtfertigung über die Absichten zur Regelbefolgung vorgelagert ist, wie Tietz fordert (177). Eher ist anzunehmen, dass der Konsens von jedem sich als Mitglied begreifenden Individuum selbstverständlich in der jeweils eigenen Interpretation zur Geltung kommt. Der von Tietz dafür eingeführte Begriff der auf kontextuellen Normen beruhenden Gepflogenheiten bekommt dann eine größere Bedeutung. In der Perspektive von Sozialisation werden erzieherische Vorschriften und vereinbarte Regeln entweder in schematisierten Gepflogenheiten aufgehoben oder überhaupt verworfen. Die Gepflogenheiten begrenzen die Möglichkeiten eigener Wahl. Deren kreative Interpretation ist immer mehr oder weniger eigensinnig gegenüber anderen Mitgliedern und bietet je nach gemeinschaftlichem Toleranzniveau Anlass für Wertdebatten. Insofern kann hier der Habitus als individualisierte Mitgliedsrolle herangezogen werden. Die Gemeinschaftsnormen erscheinen dann als schematisierte Erwartungshaltungen im Habitus, die erst dann kommuniziert werden, wenn sie sich nicht erfüllen. Durch die habitualisierte Bindung an die Gemeinschaft erhält das Individuum die Sicherheit, selbstbestimmte Entscheidungen zu fällen. In der Reflexion werden dann die Adäquanz des Handelns gegenüber der Gemeinschaft aber auch die Praktikabilität der Gemeinschaftsnormen gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt zu Rechtfertigungsthemen. Erst dann kann sich das Individuum expressiv für oder gegen die Geltung der Werte entscheiden. Die Möglichkeit zur Kommunikation über ihren Wertekanon ist die Grundlage für die Realitätsnähe und darum Wahrheitsfähigkeit von Gemeinschaften. Indem die Wertsetzungen von Gemeinschaften in dieser Weise flexibel gehalten werden, erfüllen sie nach Tietz (199) ein rationaluniversalistisches oder partikular-allgemeines Ethos. 68 Autoren, die dies unterstellen, individualisieren vielmehr soziale Phänomene und müssten den Fehler erst einmal bei sich selbst suchen (dazu Tietz 2002: 207 ff.).

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Aber wie ist bei diesem Maß an Variabilität noch genügend Redundanz zu sichern, damit die Gemeinschaft sich selbst durch ihre Mitglieder identifizieren kann? Die begrenzende Wertgeltung weist auf die diskrete Kultur von Gemeinschaft. Dabei kann die eigene Kultur, wie ja überhaupt die Gemeinschaft, nur durch Bezug auf andere behauptet werden. Kultur kommt nie allein in den Blick, sondern impliziert schon immer den Vergleich und so andere Möglichkeiten. Kultur zeigt darum gegenüber dem positiven Wertbezug und dessen Negation immer auch auf dritte Werte (Baecker 2001). Diese alternativen Möglichkeitsverweise müssen allerdings als permanente Bedrohung der Wertintegration von Kollektiven erscheinen. Das ruft Luhmanns Skepsis gegenüber der Bindekraft von Kollektiven in Erinnerung und unterstreicht die Identitätsfrage nochmals. Inwiefern sind Werte tatsächlich die Grundlage der Identifikation und Kontinuität von Gemeinschaften?69 Gemeinschaftlich geltende Werte orientieren Entscheidungen nur, soweit diese sinnfällig in der konkreten Situation erscheinen. Selbst bei einer expliziten Zustimmung im Ritual kann nicht derselbe Sinn für die Kollektivmitglieder unterstellt werden. Vielmehr werden die Wertgeltungen individuell mit Sinn aufgeladen. In moralischer Kommunikation sind diese Interpretationen als Motive zu thematisieren, jedoch nie die tatsächlich verfolgten Zwecke zu erreichen. So ist dann die Einheitsstiftung des Gemeinsinns nur in seiner rahmenden Orientierung aufzufassen, nicht aber als für alle Individuen einheitliche Sinndeutung. Die Werte stellen die gültige Orientierung für eigensinnige Interpretationen dar. Die Gültigkeit der Werte, nicht deren Erfüllung, markiert die Grenze zwischen der Gemeinschaft und allem anderen. Die Debatten der Gemeinschaft können nie eindeutig und letztgültig klären, was mit den als gut und besser gewerteten Gegenständen wirklich gemeint ist. Insofern sind die verbindlichen Werte Grenzmarkierungen mit Symbolcharakter. Und weil sie eben nicht mehr sind, also nicht selbst als Essenz der Gemeinschaft auftreten können, haben Gemeinschaften trotz ihrer Variabilität Bestand. Es geht für die Gemeinschaft um die Grenze, nicht so sehr um die darin eingeschlossene Kultur. Mit dieser Feststellung läutete im berühmten 1968 erschienen Tagungsband der Kreis um Barth (1998) eine neue Ära der Ethnographie ein. In seiner Einleitung umriss Barth das gesamte Programm dieser differenztheoretischen Anthropologie der Ethnie. Schon Weber (1985: 235 ff.) erklärte Ethnien als auf Glauben an den Unterschied allein gegründet. Wenn die Unterscheidungsmerkmale aber als Gemeinschaftsbegründung hinreichen, ist auch die Ethnie eine Form partikularer Wir-Gemeinschaft.

69 Dies wird hier verstanden als „diskontinuierlich konkreter Gegenstand“, der nicht vollständig durch die Mitglieder definiert ist (Tietz 2002: 220 ff., insb. 221, Fußnote 35).

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Für Barth (1998) gilt es, die essentialistische Sicht auf Ethnien zu überwinden.70 Durch die dabei behauptete Einheit zwischen Rasse, Kultur, Sprache und Gesellschaft verspielt diese Sichtweise die Möglichkeit, Ethnien als soziale Phänomene zu verstehen. Denn obzwar die Annahme einer biologisch weitgehend homogen, sprachförmig organisierten Wertevermittlung zum Zweck ethnischer Selbstidentifikation Gemeinschaften empirisch beschreibbar macht, handelt es sich doch um eine isolierende Sicht, die für das analytische Verständnis von Ethnien nutzlos ist. Auch heute gehen essentialistische Beschreibungen von Gemeinschaften einen Weg, der oft genug nur einer end- und freudlosen Suche nach dem Kern der wahren Ethnie folgt.71 Ethnien existieren aber nicht in asozialen Sphären, sondern sind nur gegenüber anderen Gruppen und vor allem in der Interaktion mit diesen als kategoriale Bestimmungen der Selbst- und Fremdbeschreibung zu beobachten. Das ermöglicht die Selbstorganisation von gemeinschaftlichen Interaktionen: Aufgrund gemeinschaftlicher Unterscheidung stellt sich die Ordnung in solchen Interaktionen her, welche jene Differenz erst fordern und dann auch ermöglichen. An welchen Gegenständen sich die Selbstzuschreibung sowie zurechnung orientieren und sich schließlich Differenz ausbildet, hängt allein von der jeweiligen Gemeinschaft ab, wobei Territorialbezüge eine Rolle spielen können, aber nicht müssen. Allgemein bestimmt auch Barth (1998) diese Gegenstände als expressive Zeichen, wie Symbole, Kleidungs-, Bau- und andere Stile sowie auch Wertorientierungen, die sich in Moralvorstellungen und dem Anspruch auf Bewertung niederschlagen. Der Wertebezug erscheint Barth allerdings weitgehend flexibel in seiner praktischen Bedeutung. Zwar werden damit gemeinsame Kriterien der Wertung und Beurteilung bereitgestellt, diese schlagen sich aber nur begrenzt als gemeinsames Einverständnis über zukünftiges Handeln nieder. So sind nicht alle Bereiche des alltäglichen Lebens von der gemeinschaftlichen Identifikation, wie ethnischer Zugehörigkeit, geprägt. Für Barth ergibt sich daraus die Möglichkeit zur Binnendifferenzierung der Gemeinschaft. So ähnelt Barths Verständnis von Ethnien mehr der von Tietz (2002) unterschiedenen commercium als der von ihm als eigentliche Gemeinschaft identifizierte communio. Das ist insofern unproblematisch als Barth (1998) aus dem Umstand exkludierender Selbstbeschreibung schließt, dass der Bestand der Gemeinschaft allein von der Unterhaltung ihrer Grenze abhängt, nicht von den be70 Obwohl schon mehr als dreißig Jahre seit dem Erscheinen dieses maßgeblichen Essaybandes vergangen sind, tun sich vor allem links gerierende Kritiker schwer mit dem Phänomen partikularer Gemeinschaft: Ohne es zu merken, tradieren sie die essentialistische Sicht in ihren Kritiken und – schlimmer noch – politisch gemeinten Warnungen. 71 So erscheinen noch die spätere sozialgeographische Suche nach der regionalen Identität (Pohl 1993) und auch die Rede von der Regionalkultur diesen Behältervorstellungen verhaftet.

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schriebenen Gegenständen. Grenzen sorgen als Identitätssignale für den Differenzerhalt beim Kontakt mit anderen und helfen so, Interaktionen zu strukturieren. Weil deren Gestalt den jeweils spezifisch bestimmten Relevanzen der jeweiligen Gemeinschaft folgt, sollte sich die Empirie von der Frage leiten lassen, welche die Gründe für die Differenzen sind, welche internen Erfordernisse hinter den Statuskategorien sowie den daran orientierten Unterscheidungen stecken. Entlang der Gemeinschaftsgrenzen werden die Beziehungen in der Gesellschaft kanalisiert und standardisiert, indem gegenseitige Erwartungen in den Interaktionen durch ihre Erfüllung effektiv stabilisiert werden. So sind die Kategorien der Selbst- und Fremdbeschreibung „for action, affected by interaction rather then contemplation“ (29). Daran bilden sich erwartungsleitende kulturelle Charakteristiken, eben Stereotype aus, die die Grenzen und so die Beziehungen stabilisieren. Gemeinschaftlich motivierte Interaktionen sind ein Aufruf der Selbst- und Fremdzuschreibung zum Realitätstest, bei dem sie bestätigt werden müssen, um stabil zu bleiben, sonst kommt es zum Wandel oder zum Verlust dieser Beschreibungsmöglichkeiten, das heißt zur Veränderung der Grenze und so der Gemeinschaft in der Gesellschaft. Drei basale Strategien für den Umgang mit dem Wandel bestimmt Barth.72 Der bloße Erhalt der Gemeinschaft durch die Integration in den weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang als eine bestimmte Kulturgruppe führt zu ihrer Entdifferenzierung und Konservierung auf niedrigem sozialem Status. Mittels der Emphatisierung eines Minoritätsstatus werden die Differenzen auf nicht-artikulierte Bereiche verlagert, wodurch die Bedeutung des Status selbst minorisiert, jedoch Assimilation wahrscheinlicher wird. Schließlich kann es durch die Ethnisierung als Betonung der ethnischen Zugehörigkeit zur Entwicklung neuer Muster der Organisation gemeinschaftlicher Aktivitäten zur neuen Positionsbeschreibung kommen. Diese dritte Möglichkeit ist wohl diejenige, die sich medial am erfolgreichsten als ethnische oder andere gemeinschaftliche Bewegungen als Widerstand formieren (Castells 1997) oder auch ethnisch sowie religiös motivierte Staatenbildung anstreben (Gellner 1995). Aber werden politische Differenzen im Bezug auf Ethnie formuliert, zielt das auf den Wandel, nicht auf den Erhalt dieser Gemeinschaft: Diese muss sich den politischen Strukturerfordernissen angleichen, damit sie auf dieser Grundlage mit anderen Einheiten vergleichbar wird.73 Im Prozess der Politisierung von Ethnien und anderen Gemeinschaften werden sich diese strukturell ähnlich bis auf wenige diakritische Zeichen oder die ausgestellte Bevorzugung bestimmter und Verleugnung anderer Werte (Barth 1998:

72 Bei aller Differenz klingt Elias Darlegungen ganz ähnlich (1988: 285 ff.). 73 Allgemein gilt zum Beispiel der islamische Fundamentalismus auch nicht bloß als rigider Konservatismus, sondern als eine Möglichkeit islamischer Zukunft, um die gerade so heftig gestritten wird (Aslan 2006), dass die Welt dabei auseinanderzubrechen droht.

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35). Die vor allem daran ansetzende, ethnisch formulierte Stratifikation ist nur noch Mittel für die Begründung ungleichen Zugriffs auf Ressourcen, die von allen gleich als wertvoll erachtet werden. Wiederum ist in dieser letzten von Barth beschriebenen Strategie der Anlass für die Skepsis gegenüber Gemeinschaften gegeben. Erinnert man sich jedoch an dieser Stelle nochmals Joas’ (1999) und Tietz’ (2002) Überlegungen zur Wertbegründung von Gemeinschaften, ist zu fragen, ob Barths Vorstellungen mit Tietz’ pragmatischem Gemeinschaftsbegriff vereinbar sind. Die Bedeutung von Grenzen, wie Barth (1998) sie herausstellt, besteht ja gerade darin, dass diese keine bloße isolierende Abwehr sind. Indem sie die Beziehungen zur gesellschaftlichen Umwelt strukturieren, sorgen sie für ihre Rekonstruktion und so auch für den Bestand der Gemeinschaft. Aber mindestens ebenso wichtig erscheint im Anschluss an Joas und Tietz die Struktur der Gemeinschaft, der an gemeinsam geltenden Werten gebildeten Orientierung individuellen Handelns. So überzeugend die Betonung der Grenze der Gemeinschaft ist, in ihrer Ausschließlichkeit scheint sie doch ein Fehlschluss zu sein. So suggeriert Barth für Jenkins (1996) eine zu große individuelle Wahlfreiheit gemeinschaftlicher Zugehörigkeit und beachtet nicht, dass Kulturbezug und Grenzkonstruktion sich gegenseitig bedingen. Andererseits legt der im konsensualen Diskurs etablierte praktische Wertebezug, wie ihn Tietz (2002) beschreibt, die Annahme einer gemeinschaftlichen Homogenität nahe. Zwar wird die Wahlfreiheit des Individuums von ihm unterstrichen, aber die Möglichkeit von Binnendifferenzierungen von Gemeinschaften scheint mit dem emphatischen Begriff der communio auszuscheiden. Gibt es einen Weg auf dieser Grundlage zu einem doppelt differenzierungsfähigen Gemeinschaftsbegriff zu kommen, mit dem Mitglieder von Gemeinschaften als Individuen erkennbar sind oder besser, sich Personen mittels Gemeinschaft als Individuen konstituieren? Dafür sind der Charakter von Grenzen und der von ihnen umschlossenen Form weiter zu diskutieren. Weiterhin ist diesbezüglich der Status, von Tietz als wertrationale Integration bezeichnet, zu prüfen. Die Idee, Gemeinschaften nicht nach ihrem kulturellen Gehalt, sondern nach ihrer Begrenzung zu untersuchen, führte Cohen (1984) entscheidende Schritte weiter, indem er deren symbolischen Charakter hervorhob.74 Im Anschluss an Barth bezeichnen Gemeinschaften auch für Cohen vor allem den Unterschied zu anderen, indem sie diese mittels ihrer Grenze performativ markieren. Der darin begrenzte Inhalt, die Gemeinschaftskultur, variiert als Konglomerat symbolischer Vorstellungen, deren jeweiliger Erfolg allein

74 Dass sich Identifikationen und Gemeinschaften symbolisch begründen, hat auch Assmann (1999: 130 ff.) herausgearbeitet, ohne aber solche sozialen Entitäten wie Ethnie als Formen zu verstehen, deren Unterscheidung nicht so sehr Kultur, sondern Grenzen realisieren. Kultur ist dann der wiedereingeführte, durch die Grenzen markierte Unterschied.

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vom kommunikativen Anschluss in der Gemeinschaft abhängt. Insbesondere ambivalente Konzepte werden mittels Symbolen dargestellt. Dabei wird ein weiter Bereich auch widersprüchlicher Möglichkeiten mittels einer klaren Form dargestellt, ohne jedoch auf einen Sinn zu fokussieren. Dadurch gewinnt die Gemeinschaft Orientierung, denn die Mitglieder „share the symbol, but do not necessarily share its meanings“ (15). Anstatt sich auf einen Sinn zu einigen, werden die gemeinschaftlichen Symbole in der Mitgliederkommunikation sinnhaft entfaltet. Einerseits wird durch den Symbolbezug die Grenze der Gemeinschaft reproduziert. Indem die sinnhafte Symbolentfaltung aber nur unter Maßgabe individueller Bezüge stattfindet, ist andererseits die Zukunftsoffenheit der Gemeinschaft gewährleistet. Kultur determiniert dann nicht den Sinn, Kultur konstituiert ihn. Die Sinnbestimmung innerhalb dieses durch Symbole lose markierten Gemeinschaftsrahmens erfolgt individuell. Der symbolische Bezug definiert die Mitgliederrolle, die nur eigensinnig erfüllt werden kann und damit immer ein individuelles Verhältnis zur Gemeinschaft begründet. Die Gemeinschaft wiederum bestimmt ihr Verhältnis zur Umwelt allein über ihre symbolisch markierte Grenze. Für das Individuum in seiner Mitgliedsrolle ist die Gemeinschaft die maßgebliche Referenz der Ähnlichkeit mit anderen Mitgliedern. In diesem Sinne, kann Cohen dann behaupten, besorgt die Gemeinschaft nicht Integration, sondern Aggregation (20). Gemeinschaften bezeichnen also die Teilnahmemöglichkeiten an spezifischer Kommunikation. Diese muss für die Umwelt nicht verständlich sein, wie Cohen (91 ff.) an Beispielen des symbolischen Gebrauchs der Lüge zeigt, bei dem für Außenstehende die Kommunikation unverständlich wird, die Mitglieder aber ihre Gemeinschaftsbeziehungen gegen andere maskieren und stärken können. Gemeinschaften sind für den Selbstbezug auf andere Gemeinschaften angewiesen. Denn anhand des Bezuges zu anderen wird die Geltung der eigenen, in den Symbolen manifestierten Wertsetzungen thematisierbar und der aktualisierenden Revision zugänglich. Das gleiche geschieht aber auch in den traditionellen Ritualen der Feste und Gebräuche75: hier als außergewöhnliche Exponierung, dort als alltäglicher Verweis auf andere Möglichkeiten. Solche gleichermaßen sinngenerierenden Überschreitungen der Grenze ermöglichen im Lichte des Unterschiedes die Reflexion eigener Wertsetzungen und regen so Kommunikation über die Geltung der konstitutiven Bezugsgrößen der Gemeinschaft an.76 Die für Symbole typische lose Kopplung zwischen Bedeutungsform und Bedeutungsinhalten ist nicht nur Voraussetzung für die Differenzie-

75 Die breitere Wiederentdeckung des sorbischen Brauchtums als Ausdruck ethnischer Regionalisierung und Selbstentdeckung gegenüber den Deutschen findet über das Aufgreifen überlieferter Traditionen, aber auch Politisierung im Zusammenhang mit der Tagebauerschließung in der Lausitz statt. Für einen Überblick über aktuelle Studien siehe John (2007). 76 Das entspricht der Figur des re-entry bei Spencer Brown (1997).

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rung gegenüber der Umwelt und im gemeinschaftlichen Binnenraum, sondern auch für Bewältigung sozialen Wandels. Symbole sind immer auch Manifestationen geschichtlicher Erfahrungen. Als solche verweisen sie auf vergangene Ereignisse, die mit gegenwärtigen verglichen werden können. Als Symbole in Form des Mythos oder der Metageschichte sind die Ereignisse zum einen ihrer Komplexität entkleidet, zum anderen sind Mythen als a-historische Erzählungen einer Neudeutung entzogen. Aber nur so können sie als Rahmen für die Deutung der und Modelle für die Gegenwart bereitstehen und in Erinnerung gerufen werden. Solche Erinnerungen sichern im Wandel die kollektiv kommunizierte Selbstvergewisserung und gegenseitige Versicherung gegenüber dem unsicheren Fluss der Ereignisse. Wandel forcierende Gegenwartserfahrungen drängen auf die Thematisierung der in den Vergangenheitserinnerungen symbolisierten Werte. Damit steht dann die Grundlage der eigenen Legitimität in Frage. Und so rufen diese Gemeinschaftsdebatten Emotionen hervor, mit denen dann auch die Veränderung schematisierter Praxen wahrscheinlich wird. Aber nicht die Bedeutung der Werte garantiert für Cohen (114) die Bindung an die Gemeinschaft, sondern ihr gemeinsames Vokabular der Werte, eben die sie manifestierenden Symbole. Damit wird dann der Unterschied zu anderen behauptet, nicht weil dieser tatsächlich besteht, sondern weil der Bezug auf eine bestimmte Partikulargemeinschaft sinnvoll war und ist und auch zukünftig so erscheint. Im kommunikativen Gebrauch des Wir ist die Gemeinschaft begründet. Nur durch den Bezug darauf wird Gemeinschaft real. Aber dieser Bezug ist nicht beliebig möglich. Das zeigt sich schon im Habitus als Vermittlung nichtfunktionaler gesellschaftlicher und auch partikularer mit individuellen Erwartungen. Der Habitus manifestiert individuell die Sedimente bestimmter Gemeinschaftskonstruktionen. In schematisierter Weise sind hier Erwartungen und Erwartungserwartungen gebündelt, die als Selbstverständlichkeiten nur unter besonderen Umständen der rationalen Reflexion zugänglich sind. Die Wahrnehmung über die Angemessenheit von Schemata erfolgt mittels anderer, auf den Körper rekurrierender Schemata: den Emotionen. Diese ermöglichen einerseits kurze Reaktionszeiten, andererseits blockieren sie die bewusste Wahrnehmung und Reflexion von praktisch relevanten Wissensbeständen. Im Unterschied zu Tietz (2002) ist dann aber der Praxisbegriff nicht an zweckhafte Absichten geknüpft, sondern erscheint als unreflektiertes Handeln. Darum können zunächst auch nur Emotionen als Wahrnehmungsmechanismen auftreten. Der praktische Erfolg schlägt sich womöglich kurzfristig in bestätigender Freude des Gelingens nieder, Misserfolg ebenso kurzfristig in Frustration oder Gefahrenreaktionen. Erst wenn der negative Response dauerhaft ist und sich die Praxen in diesen Situationen als dysfunktional erweisen, kann es zu einer Entschematisierung durch Erinnern des durch Einübung Vergessenen (Esposito 2002: 32 ff.) kommen; die Regeln sind dann nicht

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mehr sicher. Jetzt erst ist die rationale Bearbeitung durch Thematisierung dieses auch als tacit knowledge diskutierten Wissens77 möglich. Insofern kann man annehmen, dass der Bezug auf Partikulargemeinschaften meistens selbstverständlich und unproblematisch ist und dem Wesenswillen Tönnies’ (1991) recht ähnlich erscheint. Dieser Bezug ist im Habitus abgesichert, der sich in der kontextspezifischen Sozialisation ausbildet. Immer richtet sich die Sozialisation des Individuums als dauerhafte Konfiguration zwischen Bewusstsein, Kommunikation und Gesellschaft an den in spezifischen Kontexten geltenden Werten aus. Werte sind aber nicht selbst Gegenstände, wie Tietz (2002) bemerkt, sondern versorgen diese mit Bedeutung. Die so herausgestellten, auf Werte verweisenden Gegenstände markieren als Symbole die Grenzen der Gemeinschaft. Und so sind die symbolischen Grenzmarkierungen der jeweils relevanten Partikulargemeinschaft ein spezifisches habitualisiertes Erwartungssyndrom. Mit Bezug auf die Gemeinschaft kommt diesen Symbolen limitierende Funktion bei der Orientierung kommunikativer Beiträge und Handlungsbeobachtungen zu. Gegenseitig wird ein Wissen um die Bedeutung der Gegenstände erwartet, die die konstitutiven Werte symbolisieren. Und ebenso wird eine gegenseitige Aufmerksamkeit hinsichtlich der individuellen Positionierung gegenüber diesen Gemeinschaftsmarkierungen erwartet. Dabei geht es nicht um die gleichförmige Bewertung dieser Markierungen, sondern um das Wissen über die Bedeutung der symbolischen Begrenzungen. Zur Konstitution der Gemeinschaft reicht die gemeinschaftliche Debatte darum aus, weil sie so Inklusion und Exklusion regelt. Es braucht darum nicht die Herstellung gemeinsamer Horizonte der Handlungskoordination; die Gemeinschaft konstituiert sich nicht um den einsichtigen Konsens herum. Solche konsensualen Bestimmungen kommen in konkreten Situationen wahrscheinlich immer wieder kurzfristig vor, sind aber wohl als Merkmale prekärer Binnendifferenzierung zu verstehen, die gleichgerichtetes Interesse immer nur unterstellen können und darum verstärkt auf Vertrauen rekurrieren müssen. Außergewöhnliche Ereignisse machen diese Art aktualisierender Verständigung als diskursives Bekenntnis vorgeblich gemeinschaftlicher Interessen als Zukunftsorientierung nötig. Wollte man hier nochmals mit Tönnies (1991) anschließen, erscheint die den Diskurs antreibende Absicht zur Herstellung gleicher Orientierungen wie der Kürwillen. Zwar sind die außergewöhnlichen Ereignisse von großer Bedeutung für die Lebendigkeit der Symbole, weil sich dabei das gemeinschaftliche Gedächtnis reproduziert und so Erhalt und Umbauten

77 In der deutschen Diskussion wurde diese Art Wissen mit der Übersetzung Polanyis (1985) als „implizites Wissen“ eingeführt. Inzwischen wird aber eher Polanyis eigener Begriff verwandt. Interessant ist hier, wie Polanyi dieses Wissen als zweiseitiges Schema beschreibt, bei dem die Eigenleistung sensorischer Wahrnehmung durch die ontologisierende Zurechnung auf eine durch Sozialisation als gegeben akzeptierte Umwelt verdeckt wird.

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an den symbolischen Grenzmarkierungen möglich werden. Aber nur diese sichern den Bestand der Gemeinschaft langfristig ab. Diskursive Bekenntnisse zu einer gemeinsamen Zukunft erscheinen schon im Hinblick auf Entscheidungsparadoxien problematisch, verunsichern sie doch notwendigerweise die Gegenwart. Jedoch haben explizite Gemeinschaftsaufrufe gerade darin ihren Grund. Die Emphase des individuell als gut oder besser für die Gemeinschaft Anerkannten, auf das Tietz (2002) nachdrücklich hinweist, ist ohne Zweifel von enormer Wichtigkeit. Aber – so will es im Anschluss an Barth (1998) und Cohen (1984) scheinen – dient sie doch allein der Wiederherstellung von Grenzen, über die sich Inklusion und Exklusion regelt. Auf diese Weise nur ist die Stabilität von Gemeinschaften unabhängig von den jeweils zufälligen individuellen Beiträgen zu erklären. Die Kenntnis der Bedeutsamkeit der jeweiligen Grenzmarkierungen ist allen Mitgliedern zu unterstellen: der Bedeutungsgehalt. Der Sinn dieser Markierungen ist aber immer nur individuell in den jeweiligen sozialen Kontexten zu bestimmen. Die symbolischen Grenzen als Element des Habitus limitieren dabei die Möglichkeiten als Mitglied in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht. Zeitlich spielt die Organisation von Geschichtserfindung aufgrund gegenwärtiger Zukunftsrevisionen eine Rolle. Anhand der Kommunikation über die Bedeutung der konstitutiven Symbole ist die Identifikation personaler Zugehörigkeit möglich. Insbesondere die sachliche Begrenzung verweist auf historische oder natürliche Artefakte, von denen sich die Gemeinschaft den Schein der Primoridalität borgen kann, womit sich der selbstkonstruktive Charakter der Beobachtung entzieht. Vor allem der Raumbezug hat seit den 1980er Jahren wieder Beachtung in den sozialwissenschaftlichen Debatten gefunden. Aber ist Gemeinschaft ein räumliches Phänomen? Das kann man verneinen, wenn man davon ausgeht, dass der unablässige Strom kommunikativer Ereignisse die Gesellschaft konstituiert. Das geschieht zwar häufig unter Inanspruchnahme räumlicher Ausdehnungen, aber diese sind nicht notwendig für ihr Zustandekommen. Wie kann unter diesen Umständen die soziale Relevanz des Raumes erklärt werden, die sich in den räumlichen Bezugnahmen bei der Selbst- und Fremdbeschreibung gerade von Gemeinschaften zeigen?

Raum der Gemeinschaft Auch der Raum ist ein älteres Thema der Sozialwissenschaften, das die Soziologie erst kürzlich wiederentdeckte, nachdem sich vor allem in der Sozialgeographie dazu Debatten entwickelt haben. In seiner frühen Diskussion betonte Simmel (1958: 460 ff.), dass, obzwar räumliche Gegebenheiten Auswirkungen auf die Form des gesellschaftlichen Lebens haben, die Gesellschaft den Raum mit Bedeutung versorgt und nicht umgekehrt

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der Raum die Gesellschaft mit Sinnhaftigkeiten umstellt. Simmel stellt dabei auf die Wechselwirkungen von Raum und Gesellschaft ab. Zuerst geht es ihm um den Raum als eine Bedingung des Sozialen, woran er mit der sozialen Prägung des Raumes anschließt. Beide Perspektiven sind eher als Ausgangspunkte der Phänomenbeschreibung zu verstehen und beharren nicht auf strikte Trennung. Obwohl soziale Einheiten nicht wie physische Körper räumliche Exklusivität reklamieren können, produzieren sie Grenzen im Raum, durch die sie sich „symbolisieren“: „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“ (467). Über Grenzen wird der Austausch der sozialen Einheiten organisiert. Der Bezug auf den Raum half in frühen Gesellschaften, die zeitlich flüchtigen, sozialen Tätigkeiten örtlich zu fixieren, um sich späterhin immer mehr vom Raum zu lösen. So sind diese Tätigkeiten zunächst an unmittelbare Anwesenheit und an distinkte Orte gebunden. Mobilität, Organisationen und Kommunikationstechniken überführen diese Bindungen immer mehr ins Abstrakte. Damit veränderte sich unter anderem auch die Bedeutung der unterschiedlichen Siedlungsorte, was im Differenzierungsparadigma als Übergang von der segmentären zur Zentrum-Peripherie-Differenzierung zu beschreiben ist. Mit der Bedeutung des Ortes ist Herrschaft unmittelbar verbunden. Aber, so stellt Simmel fest, sind nicht so sehr der Besitz an Grund und Boden Grundlage für Herrschaft, vielmehr geht es um die von der Herrschaft erreichten Menschen (516 ff.). Herrschaft ist also vom Prinzip des Örtlichen gelöst. Gleichzeitig gestaltet die Form der Herrschaft aber räumliche Beziehungen hinsichtlich der Differenzierungsformen, je nach dem, ob Herrschaft mobil oder aber an einem Ort zu finden ist und damit zum Impuls für die Herausbildung eines örtlichen Zentrums wird, welches das gesellschaftliche Geschehen anzieht. Schließlich thematisiert Simmel den neutralen Grenzraum als leeren Raum, wobei dieser Raum von ihm im Grunde nur als nicht exklusiv erreichbar für eine Herrschaft beschrieben wird. In diesem Sinne aber gibt es aus Sicht der Gesellschaft gar keinen leeren Raum. Die dargestellte Wechselwirkung von Raum und Gesellschaft hinsichtlich der Limitierungsformen, der sich räumlich ausdrückenden Differenzierung oder der Mobilität haben für Simmel allesamt Bedeutung für die Vergesellschaftung, was man an dieser Stelle auch als Teilnahmechancen an Gesellschaft verstehen kann. Festzuhalten ist, dass die räumlichen Gegebenheiten zwar die Möglichkeiten sozialer Verkehrsformen begrenzen, aber nur Gesellschaft gegenüber dem Raum Sinn bestimmt. Der Raum selbst wird bei Simmel als Behälterraum vorgestellt, wenngleich dann auch Distanzräume eine Rolle spielen. Raum als physisches Phänomen erscheint hier der Gesellschaft vorgelagert, was ohne weiteres als deren Außenwelt anzuerkennen ist. Wie gewinnt Raum aber Bedeutung, wie wird

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dieser von der Außenwelt zur Umwelt der Gesellschaft, zur Referenz sozialen Geschehens? Erst durch den Umstand gesellschaftlicher Aneignung erhält der physische Raum soziale Relevanz, darauf wies zum Beispiel Bourdieu (1991) nachdrücklich hin, wenngleich beim ihm der sozial angeeignete Raum lediglich der Stratifikation folgt. Darum muss weiter gefragt werden, wie diese Aneignung vorzustellen ist. Diese Frage berührt unmittelbar das Verhältnis von Gesellschaft zu ihren Bedingungen.78 Die Wiederentdeckung des Raumes hatte nicht zuletzt ihre Ursache in der in den 1980er Jahren einsetzenden Bestimmungskrise der sich über den Raumbezug definierenden sozialwissenschaftlichen Teil-Disziplinen, wie der Sozialgeographie79 oder der Stadtsoziologie. Die Bestimmung räumlicher Einheiten gelang nicht mehr selbstverständlich: Räumlich tradierte Einheiten waren nicht mit den gewohnten administrativen Mitteln zu fassen, die Grenzen der Stadt wurden durch Suburbanisierung unsichtbar, die städtische Lebensweise zur allgemeinen. So drängte sich die Bestimmung des Raumes als Kategorie sozialwissenschaftlicher Beobachtung auf.80 Das Modell des Matrixraums von Läpple (1992) war dabei ein komplexer, aber kaum rezipierter Vorschlag, in dem die ineinander verschränkte Wirkung von vier Komponenten zum Tragen kam. Der Raum mit seiner bestimmten physischen Beschaffenheit wird einer gesellschaftlichen Praxis entlang bestimmter Regulationssysteme unterworfen, womit bestimmte Repräsentationssysteme emergieren. Durch das Zusammenwirken unterschiedlich weitreichender Funktionslogiken differenziert der Raum zu unterschiedlichen sich überlagernden Einheiten und wird so zu einer „gesellschaftlichen Dimension“ (197). Als solche ist der Raum ein Strukturmoment gesellschaftlicher Praxis, mit der er sich reproduziert. Da aber verschiedene Praxen unterschiedliche Raumeinheiten hervorbringen, kommt es unvermeidlich zu Konflikten, die es – ausgehend von konkreten Interaktionen hin zur Gesellschaft auf der Mikro-, Meso- und Makroebene – zu untersuchen gilt und in deren Mittelpunkt immer betroffene Menschen stehen. Ähnlich ist auch Löws (2001) Raumkonzept angelegt. Der Nukleus des Raumes ist der Mensch mit seiner konstruktiven Wahrnehmung. Räume sind durch Relationen von materiellen Gütern und Menschen bestimmt. Diese Ordnungen

78 Wie dringend dieses Fragestellung ist, zeigt nicht zuletzt die Häufung solcher Themen und Wissenschaftstendenzen, wie Ökologie und Umwelt, Körper und Gehirn und gerade deren Okkupation durch die bildgebenden Verfahren der Neurophysiologie oder der Soziobiologie. Das stellt die Sozialwissenschaften erneut vor Herausforderungen, Gesellschaft vor der Scheinherrschaft ontischer Determinismen zu bewahren. 79 Durch Pohls Hinweis wird deutlich, worum es bei der Auseinandersetzung in der Sozialgeographie geht, nämlich „um mehr als um theoretische und methodische Fragen. Es geht um die Identität der Geographie“ (1993: 16). 80 Oft verfuhr die Sozialgeographie anders, nämlich indem eine Raumdetermination der Gesellschaft unterstellt wurde.

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sind durch institutionell gesicherte und zeitlich und örtlich unabhängige Regeln vorgegeben. Durch die Synthese von Gütern und Menschen werden weitere Räume durch das Wiedererkennen, Verknüpfen und Erspüren bestimmter „(An-)Ordnungen“ konstituiert. Die Konstitution des Raumes ist Ergebnis zweier lediglich analytisch zu trennender, von Regeln geleiteter Prozesse, nämlich der Synthese als Wahrnehmung von Menschen und Dingen sowie dem Spacing als Aushandlungsprozesse der Mensch-Ding-Relationen. Synthese und Spacing realisieren sich in der Platzierung. Die Konstruktionsregeln sind strukturell in Institutionen abgesichert und bilden gleichsam die Grundlage räumlicher Struktur, wodurch sich Raum in Anlehnung an den strukturationstheoretischen Überlegungen Giddens im strukturdeterminierten Handeln reproduziert. In diesem strukturdeterminierten Konstruktionsprozess ist aber auch Wandel zu beobachten, wenn sich bei der Synthese aufgrund des Erfahrungskontexts und dem Spacing im Hinblick auf Handlungsrelevanz Diskrepanzen bemerkbar machen. Dann kann es zum Beispiel aufgrund von Kommunikationstechnologien zu neuem Wissen über die neuartige relationale Lage gegenüber anderen Räumen kommen und unter dem Titel „Globalisierung“ zu einem neuen Raumverständnis und anderen Raumkonstruktionen führen. Das Zentrum des Raumes aber bleibt der in gesellschaftliche Rahmenbedingungen verstrickte menschliche-individuelle Konstrukteur. Das wird an Löws (2005) Ausführungen zur Geschlechtsperspektive als räumlicher Problemfall deutlich. Strukturdeterministisch fängt sich der Mensch als Konstrukteur in seinen eigenen Netzen, wodurch allerdings die unauflösliche Differenz von Gesellschaft und Individuum hervortritt. Löw findet einen Ausweg aus diesem Zirkel, indem sie auf den kapitalistischen modus operandi verweist. In seiner ihm hier zugewiesenen externen Stellung ist dieser aber nur noch zu kritisieren, nicht jedoch mit soziologischen Mitteln zu erfassen; der Raum in seinen konkreten Formen und Wirkungen ist dann nur noch als Schicksal zu begreifen und die Konstruktion als dessen Funktion. Das hat anscheinend Auswirkungen auf die Raumkonzeption selbst, wenn Löw gemeinsam mit Gabriele Sturm verschiedene Raumvorstellungen für verschiedene Analyseinteressen empfiehlt (Löw/Sturm 2005). Löws Raumkonzeption ist von einer Körper-Zentriertheit geprägt, hinter der das handlungsmächtige Subjekt hervortritt, das sich aber letztlich als ohnmächtig gegenüber der Sozialstruktur erweist. Insofern sitzt diese Raumkonzeption der ontologischen Selbsttäuschung der Beobachtung auf. Nur darum gilt der Mensch als letzte Instanz des Raumes. Dass er dabei an den gesellschaftlichen Umständen verzweifeln und sich selbst verlieren kann, muss eben an diese verwiesen werden. Im Anschluss an die Luhmann’sche Systemtheorie erarbeitete Kuhm (2000, 2003a) einen radikalen, aber – vielleicht gerade deswegen – wenig

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beachteten Raumbegriff. Hier wird Raum als ein gesellschaftliches Medium begriffen, das im Sinne eines Möglichkeitsspektrums lose gekoppelter Elemente erst in jeweiligen kommunikativen Bestimmungen seine je spezifische und beobachterabhängige Form annimmt. Kuhm schlägt vor, die Differenz der verschiedenen Raumkonstruktionen sollte Gegenstand weiterer wissenschaftlicher Beobachtungen sein. Solche Raumkonstruktionen dienen der sozialen Komplexitätsreduktion. Ihr kontingenter, wenngleich realitätsorientierter Konstruktionscharakter muss darum aber verdeckt werden, was meistens durch dessen Zurechnung auf Territorium als sozial externe Gegebenheit gelingt. Als ontologisierte Einheit, als Form des Mediums Raum, tritt für Kuhm die Region hervor. Anhand dieser spezifischen Konstruktion lassen sich verschiedene Leistungsdifferenzen und -bezüge territorial längerfristig markieren (Kuhm 2003b). Indem Regionen auf Territorien externalisiert werden, wirken sie sozial stabilisierend. Mittels Regionen werden die gekoppelten unterschiedlichen Funktionsleistungen dann räumlich markiert. So erlangt die Gesellschaft ein weiteres Strukturprinzip, an dem sich Ordnungsfunktionen realisieren, die bestimmten, vor allem organisationalen Beobachterinteressen folgen. Die Raumform Region bündelt also immer spezifische Leistungen, die als Chancen für Kommunikation oder – mit Simmel (1958) – für Vergesellschaftung wirken. Region wird durch diesen Zugriff entsprechend reproduziert. In analytischer Hinsicht ist Region dabei nicht mehr als ein Überbegriff, der weiter bestimmt werden muss und seine Maßstabs-Referenzen bei den Systemtypen Interaktion, Organisation und Gesellschaft findet. An den vorgestellten Raumkonzeptionen wird deutlich, dass Gesellschaft den Raum determiniert, Raum seine soziale Relevanz allein als soziales Konstrukt erhält. Aber sind die Individuen zunächst einem fremden, weil abstrakten Ordnungsprinzip ausgeliefert, so ist es mit der Kuhm’schen Konzeption möglich, dieses Prinzip auf konkrete soziale Ebenen, wie zum Beispiel Organisationen, zuzurechnen und damit empirisch zugänglich zu machen. Für die empirische Untersuchung von Gemeinschaften ist dieses Raumverständnis insofern wichtig, als damit Gemeinschaft in die Gesellschaft über den Wertebezug empirisch eingebettet werden kann. In den regional markierten Leistungsbezügen bündeln sich nämlich spezifische Werte im Sinne von Erwartungen. Solche differenzierend wirkenden Wertestrukturen eröffnen kulturelle und evolutionäre Perspektiven, an denen sich Gemeinschaften orientieren und schließlich auch als territorial begrenzt symbolisieren. Darauf spielt auch ein Teil des sozialgeographischen Diskurses auf der Suche nach regionalem Bewusstsein, räumlicher Identität oder landschaftlichen Wir-Gefühlen an. Dass es sich hier um eine Umkehrung des sinngenerierenden Determinationsverhältnisses von Gesellschaft und Raum handelt, bei dem die diskursive Konstruktion der Raumeinheiten außer Acht gelassen wird, wurde hinlänglich erklärt (siehe nur Hard 1996). Ipsen

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(1997: 110 ff.) führt dazu aus, dass sich Individuen mit regionalisierter Identität eine historische Dimension verleihen. In zeitlicher und sachlicher Hinsicht werden die dauernd prekären Identitätskonstruktionen in einem Netz weit darüber hinausweisender Bezüge eingespannt und abgesichert. Der Bezug auf Raum in seiner Form als Region führt auch zu einer sachlichen und temporalen Ontologisierung der Gemeinschaft, die an das kultivierte Territorium gebunden erscheint. Von dessen relativer Ewigkeit schließt die Gemeinschaft auf ihre Ewigkeit, wodurch sich das individuelle Mitglied schließlich des Zweifels an seiner Bedeutung entledigen kann. So wird die regionale Kultur als Differenz gegenüber anderen von der performativen Notwendigkeit andauernder Grenzaktualisierung enthoben und kann sich als schematisierbare Selbstversicherung stabilisierend auf Gemeinschaft und über diese Referenz schließlich auf das Individuum auswirken. Auf diese Weise lässt sich ein Konzeptionsproblem beheben, das sich durch den offenbarten Konstruktionscharakter der Gemeinschaft ergibt: Sollte der Gemeinschaftsbezug dem Individuum bei der externen Begründung seiner Selbstbeschreibung hilfreich sein, darf es nicht selbst als von ihm geschaffen erscheinen. Diese Referenz könnte kein Anker für die individuelle Selbstbeschreibung sein. Der Moment der Autokreation der Gemeinschaft durch ihre Mitglieder muss verdeckt werden. Mittels des Regionalbezuges lässt sich das Problem der paradoxen Selbstreferenz invisibilisieren, weil die tautologische Selbstbeschreibung ein weiteres Mal auf eine andere Ebene abgewiesen werden kann. Die Referenz auf den Raum aber hat eine ungleich höhere Assoziationskraft, die sich durch historisierenden Bezug ihrer ewigen, letztlich a-historischen Qualität versichert, die vom Wandel und Kontingenz scheinbar nicht erreicht wird. Für die Empirie der Gemeinschaft ist dieser Umstand insofern von Nutzen, als sich Gemeinschaft tatsächlich regional begrenzen lässt, freilich, ohne territoriale Grenzen verbindlich fixieren zu können. Aber im Gebrauch der Behauptung regionaler Zugehörigkeit wird die Regionalgemeinschaft eben jeweils individuell begründet.

Elemente der Gemeinschaft – Anlässe zur Beobachtung Zur Beobachtung der Funktionsweise von Gemeinschaften sind aus dem argumentativen Durchgang Kriterien für die Empirie zu bestimmen. Damit soll die Frage geklärt werden, wie es der Gemeinschaft möglich ist, trotz funktionaler Differenzierung und weltgesellschaftlich ausgeweiteter Kommunikation ihre Persistenz als soziales Phänomen zu erhalten. Die Kriterien sollen folgende Untersuchung hinsichtlich Auswahl, Erhebung und Auswertung anleiten.

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Die Diskussion verschiedener Überlegungen zum Status und Verhältnis von Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft kann dahingehend zusammengefasst werden, dass es sich bei der hier interessierenden Gemeinschaft um ein soziales Konstrukt handelt. Indem sich Individuen als Gemeinschaftsmitglieder bestimmen, entwerfen sie auch die Gemeinschaft. Diese muss im Kontext der Gesellschaft immer als eine Partikularität aufgefasst werden, weil sich ihr nie alle möglichen, sondern immer nur bestimmte Individuen zurechnen. Der Bezug auf die Gemeinschaft erfolgt nämlich durch einen individualisierten und den Referenzen entsprechend spezifizierten Habitus, der als sozialisiertes Erwartungsschema des Individuums nur hier zutrifft. Als Schema ist der Habitus der bewussten Reflexion entzogen. Allein über Emotionen als wiederum schematisierte Reaktions- und Reflexionsmuster ist eine Rückkopplung zu den habitualisierten Erwartungsschemata gewährleistet. Erwartungserfüllung und -enttäuschung finden ihre Entsprechungen auf der Skala der Emotionstypen, wobei negative Gefühle auf Veränderung hinwirken. Derart problematisiert, werden die habitualisierten Erwartungen zum Thema kollektiver Selbstverständigung. In der außergewöhnlichen Situation des Oderhochwassers im Sommer 1997, wie sie zum Anlass folgender empirischer Untersuchung genommen wird, war das Selbstverständnis durch dieses Ereignis tatsächlich zum Problem geworden: alltägliche Selbstverständlichkeiten liefen ins Leere, Sicherheit wich diffuser Angst. Das öffnet den Zugriff auf den Inhalt kollektiven Selbstverständnisses der Gemeinschaft, die Gegenstände gemeinschaftlicher Erwartungen, die Wertorientierung und deren Geltung. Werte verleihen in ihrer Geltung in reziproker Weise Sinn, nämlich den Gegenständen und den diese Gegenstände Bewertenden. Dieser Sinn muss sich trotz seiner partikularen Gründung als hinreichend universal in sozialer, sachlicher und zeitlicher Hinsicht gegenüber der immer komplexeren Umwelt erweisen. Wird die Geltung problematisch, erfordert das eine Verständigung über die fraglichen Werte. Aber nicht abstrakte Wertgeltung wird unmittelbar zum Thema gemeinschaftlicher Kommunikation. Diese orientiert sich vielmehr an den Gegenständen, an externen Referenzen, denen die Werte spezifischen Sinn verleihen. Die Gegenstände markieren symbolisch die Grenze der Gemeinschaft. Nur die Grenze zeichnet die Gemeinschaft aus, kein wie auch immer dargestellter Inhalt. Das heißt, dass nicht nach einer spezifischen Kultur zu suchen ist, sondern nach der Aufrechterhaltung des Unterschiedes einer Gemeinschaft gegenüber anderen. Als grenzmarkierende Gegenstände bieten sich vor allem bei immobilen und nicht-virtuellen Gemeinschaften territoriale aus dem als Region bestimmten Raum an. Der räumliche Bezug hilft der Gemeinschaft, sich mit primordialen Attributen auszustatten und ihren eigenkonstruktiven Charakter zu invisibilisieren. Das Ereignis „Oderflut 1997“ hatte eine ganze Reihe solcher Um- und Neubestimmungen zur Folge, die von der territorialen Aufteilung zum Beispiel in

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Evakuierungsgebiete bis zur Neudeutung der kollektiven Geschichte als Tradition reichte. Dabei geht es um die Bestimmung der Gemeinschaftsgrenzen, wie In- und Exklusion über diese Grenzen hinweg organisiert werden: Wer sind die anderen, was zeichnet die Grenze selbst räumlich und zeitlich aus? Im Selbstbezug kommt es zu einer Problematisierung und Um-Tradierung von Rollenschemata. Die Empirie muss sich auf diese Aspekte der erneuerten symbolischen Begrenzung der Gemeinschaft und die Beobachtung der daraus folgenden habitualisierten Rollenschemas konzentrieren. Gerade letztere werden in der Selbstrepräsentation biographischer Identitätserläuterungen dargestellt, wobei ein Bezug auf den relevanten Kontext unumgänglich ist. Welchen Sinn der Gemeinschaftsbezug an sich in der modernen Gesellschaft hat, bleibt noch offen, wenngleich im Anschluss an Luhmann die These von der Enttautologisierung der Selbstbeschreibung zu vermuten ist. Das könnte ein Element der Funktionsbeschreibung der Gemeinschaft sein, ähnlich wie die Kommunikation über Wertsymbole als Element der Beschreibung ihres Funktionierens gilt. Die selbsterhaltende Operation und die problemfokussierte Leistung der Gemeinschaft müssen sich aber erst noch empirisch erweisen.

Flüchtiges Beobachten – Gemeinschaft als empirischer Gegenstand Gemeinschaften gibt es in großer Vielzahl und Vielfalt. Sie zu beobachten sollte nicht schwer fallen, denn schon mindestens jeder Gebrauch des deiktischen Ausdrucks „Wir“ weist auf diese. Forscht man aber nach, was gemeint ist, dann sind sie verschwunden. Die Gemeinschaft ist wie die Gesellschaft nicht direkt zu erreichen (Fuchs 1992). Die im „Wir“ auftauchende Gemeinschaft bleibt immer der Horizont individueller Orientierung, selbst wenn man gemeinsam und zugleich in Interaktionen „Wir“ sagt. Zwar ist das Individuum nicht allein, findet es sich doch in Gesellschaft; aber es ist nie inmitten der Gemeinschaft, sondern an deren Peripherie (Cohen 2000: 164 ff.). Die Gemeinschaft sind andere, vage als zugehörig attribuierte Leute. Nur diese Zuschreibung lässt sie von jenen unterscheiden, die nicht dazugehören. Obwohl die Gemeinschaft dann als ein luftiges Gebilde erscheinen mag, existiert sie doch fort, selbst bei eigener Abwesenheit. Denn man kann dorthin zurückkehren und fühlt sich aufgehoben. Die Freude der eigenen Leute beim Wiedersehen weist über bloße Imagination oder Autosuggestion hinaus. Dann spielt es nur mehr eine marginale Rolle, wer man außerhalb der Gemeinschaft noch ist. Worauf die emotionale Bindung beruht und was die Gemeinschaft stabilisiert, wurde im vorausgehenden Kapitel diskutiert. Es ist kein ursprüngliches Wesen, kein irgendwie materialisiertes Band, keine wie auch immer verfasste Verwandtschaft, die die Gemeinschaft zusammenhält. Die Gemeinschaft zeichnet sich durch ihre mit Werten symbolisierte Grenze aus. Darauf richtet sich der Blick bei der Bestimmung von Zugehörigkeit. Diese Feststellung und die Ausführungen dazu bilden die Grundlage für die distanzierte Annäherung an das Phänomen der Gemeinschaft. Der gewonnene Begriffsapparat stellt die Möglichkeiten einer Operationalisierung der empirischen Fragestellung vor. Damit sollte deutlich werden, wonach gefragt werden kann. Die Annäherung ist damit durch die Brennweite

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des Objektivs begrenzt.1 Diese Begrenzung lässt das Instrumentarium als geeignet erscheinen, vermag es doch, den Gegenstand zu fokussieren und verliert diesen nicht an Details wie etwa territoriale Zuschnitte oder authentisches Kulturgut und letztlich austauschbare Artefakte. Freilich gibt jedes Instrument das Ergebnis in bestimmter, wenn auch nicht in deterministischer Weise vor. Es bestimmt jedoch die Leerstellen, in die zwar viele Lösungen, aber nicht mehr jede passt. Der methodische Zirkel tritt damit deutlich als Problem der Analyse hervor und muss durch eine geeignete Methodologie hinreichend geöffnet werden.

Funktionale Analyse als Methodologie Die Methodologie kann unmittelbar an die anfangs aufgestellte Frage nach dem Sinn der Gemeinschaft anschließen. Die empirische Untersuchung bemüht sich nicht um die Bestimmung, was Gemeinschaft ist. Das war nur insofern von Belang, als es überhaupt gilt, gegenstandsadäquate Fragen zu formulieren, mit denen das Phänomen zu fassen ist und nicht wie Proteus entwischt. Ziel ist es, die Funktion von Gemeinschaften, ihren Sinn und ihren Erhalt aufzuklären. Die Analyse der Funktion aber hat gewichtige theoretische Einwände hinnehmen müssen. Darum ist nicht ohne weiteres klar, inwiefern sich überhaupt die Frage nach der Funktion dazu eignet, etwas Sinnvolles über Gemeinschaften herauszufinden. Schon früh in seinem wissenschaftlichen Schaffen widmete sich Luhmann (2005) diesem Problem. In zwei Aufsätzen von 1962 und 1964 setzte er sich explizit mit der funktionalen Analyse und deren Brauchbarkeit für die Soziologie auseinander. Funktionalismus und funktionaler Methode wurden immer wieder determinierende Absichten bei der Beschreibung und Beobachtung vorgeworfen, die sich auf Wirkungen und Zwecke oder auf Ursachen kaprizierten. Damit haben die Kritiker auch nicht unrecht, gibt es doch genügend Hinweise für diesen funktionalen Determinismus, der nach den Zwecken als Lösungen für Probleme fragt. Aber schon die nichtintendierten Zwecke, die so genannten Nebenfolgen des Handelns, zeigen, dass Zwecke und Wirkungen nicht geradlinig aufeinander zu beziehen sind. Ursachen können gleichzeitig verschiedene Wirkungen haben. Aber bestimmte Wirkungen treten wiederum in einem komplexen Geflecht von Ursachen ein, was – wie im Fall der Evolution – nur noch als Zufall 1

Damit soll nicht schon die Feldforschung, wie sie etwa Girtler (2001) mit seinem expliziten „going native“ betreibt, kritisiert werden. Jedoch liegt die Stärke dieser Art Forschung, die dem Paradigma der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) verpflichtet ist, vor allem im Bereich deskriptiver Ethnographie. Für die hier maßgebliche Frage nach dem Sinn und Erhalt der Gemeinschaft setzt die Analyse jenseits der ontologischen Feststellungen an, sie richtet sich auf die Funktion und das Funktionieren, auf die Möglichkeit ihrer Existenz.

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beobachtet werden kann. Offensichtlich ist eine Folge nicht die Funktion einer Ursache. Eine Umstellung des Funktionsbegriffs macht Luhmann in der Biologie und der Parsons’schen Systemtheorie aus. Als funktional gilt dabei, was dem Erhalt des Systems dient. Damit ändert sich gleichzeitig der Blickwinkel. Es geht hier nicht um Entitäten, die Folgen haben, sondern um die Stabilität dieser Entitäten, die allgemein als System zu bezeichnen sind. Parsons zeigte mit seinem AGIL-Schema, wie die Systemstabilität von vielen immer weiter zu differenzierenden Funktionen abhängt. Damit führte er bereits die funktionale Differenzierung ein und öffnete den Blick für die fundamentalere Differenz zwischen System und Umwelt. Mit der Beschreibung der differenzierten Funktionen wurde die Analyse jener unkontrollierbaren Komplexität erst möglich, die bis dahin mit dem Ceterisparibus-Prinzip mehr oder weniger ausgeblendet wurde.2 Systeme separieren gegenüber der komplexen Umwelt immer spezifische Problemlagen. In der Umwelt finden sich dann weitere, für das System aber nicht mehr relevante Probleme. Für diese können sich im Verlauf sozio-kultureller Evolution wiederum andere Systeme ausbilden. Die Systeme sind einerseits generalisierte Lösungen für andererseits immer spezifischere Probleme. Die Differenzierungsformen, die Luhmann als segmentär, zentral-peripher, stratifikatorisch und funktional unterscheidet, sind Resultat des gesellschaftlichen Auflösevermögens der Umweltkomplexität zu in Systemen gefassten Problemlagen.3 Diese zunehmend spezifizierten und dadurch, für sich genommen, effizienteren Problemlösungen sind immer nur unter den Bedingungen anderer Problemlösungen möglich. Deren gegenseitige Abhängigkeit nimmt mit ihrer Spezifizierung zu und führt wiederum zur Steigerung gesellschaftlicher Komplexität. Eben darum sind sie immer gerade die beste Möglichkeit im Umgang mit der gesellschaftlichen Komplexität, die paradoxerweise von eben diesen Lösungen weiter gesteigert wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen monokausale Erklärungen in der Analyse der Gesellschaft nur noch unterkomplex. Die veränderliche Differenzierung von Problemlagen zeigt, dass deren Lösung auf unterschiedliche Weise möglich ist. Gerade historische Untersuchungen verdeutlichen, wie ähnliche Problemlagen durch verschiedene Zuschnitte andersartigen Lösungsmöglichkeiten zugeführt wurden und wiederum ganz andersartige Folgeprobleme mit sich führten, und wie dadurch die sozio-kulturelle Evolution in Gang gehalten wird. Die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten 2

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Kromka (1984: 133) spricht in solchen Fällen von einer „Immunisierung“ empirischer Modelle, wenngleich er hier von einer Position aus spricht, die dem kritischen Rationalismus verpflichtet ist. Das hat noch nichts mit der funktionalen Differenzierung im Luhmann’schen Epochen-Schema primärer Differenzierungsformen zu tun, aber auch Segmente und Strata haben sich entlang bestimmter Problemseparierungen ausgebildet und erhalten von daher ihre sozialen Funktionen.

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müssen nicht systemgenuin sein und nur dort vorkommen. Was hiermit für Luhmann hervortritt, ist das Phänomen funktionaler Äquivalenzen.4 Die Äquivalenzen sind immer unter theoretisch bestimmten und darum kontrollierbaren Gesichtspunkten miteinander vergleichbar. Diese Strategie deckt sich einerseits gut mit der herkömmlichen Operationalisierung von Fragestellungen. Anderseits zielt diese Art funktionaler Operationalisierung nicht auf die Gewinnung von Fragen und Indikatoren, deren Graduierung interessiert. Stattdessen geht es um die Gewinnung von invariaten Bezugspunkten eines multiperspektivischen Vergleichs, von dem aus auf die soziale Funktion des Phänomens geschlossen werden kann. Auf diese Weise, führt Luhmann (2005: 60) aus, sind wissenschaftlich bestimmte Notwendigkeiten mit denen alltäglicher Anforderungen kompatibel zu halten. Das ist insofern möglich, als die Probleme bei der alltäglichen Lebensbewältigung im Grunde von den Funktionsproblemen abgeleitet sind. Die funktional generalisierten Probleme werden insofern latent gehalten, als sie in ihrer konkreten Ausformung immer spezifische Lösungen finden. So kann das alltägliche Problem, nicht genügend Geld zur Verfügung zu haben, als eine Ableitung vom ökonomischen Funktionsproblem des Zahlens verstanden werden. Der Realitätsbezug der funktionalistischen Analyse kann gewährleistet werden, indem geprüft wird, welche alltägliche Relevanz die Gründe für die Wahl der funktionalen Bezugspunkte haben. Mit den Bezugspunkten aber bleibt die Forschung weitgehend unabhängig von den Wechselfällen gesellschaftlicher Phänomenvielfalt. Mit einsehbar spezifizierten Gesichtspunkten betreibt funktionale Analyse dann genuin den Vergleich von Möglichkeiten zur Problemlösung und den Bedingungen ihres Zustandekommens. Insofern wird nicht mehr danach gefragt, was das Wesen eines Systems ausmacht, sondern wie es sich als differenzierte Problembearbeitung bewährt und darum erhält. Mit dieser Lösung muss man nicht einverstanden sein, zumal Luhmann damit erklärtermaßen mehr versucht, als nur Überlegungen zu einer Methode darzustellen. Obwohl Joas (1992) zum Beispiel anerkennt, dass Luhmann die Kritik am funktionalistischen Kausalismus aufnahm, lehnt er doch dessen Lösung dafür ab. Die Verschränkung funktionaler Analyse mit Systemtheorie im gegenseitigen Begründungszusammenhang erscheint ihm nur als Rettungsversuch für den obsoleten Funktionalismus. Der von Joas entwickelte handlungstheoretische Kreativitätsansatz als alternative Gesellschaftstheorie überzeugt jedoch nicht als Alternative, weil Prämissen, wie das menschliche Einheitssubjekt, von jeglicher Befragung ausgenommen werden.5 Ein Vermächtnis der Luhmann’schen Theoriebemühun-

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Luhmann führt dafür gern Beispiele aus der Biologie an, wie zum Beispiel das Auge. Soziale Beispiele sind hingegen Sprache und Schrift in ihren vielfältigen Formen. Joas Erörterung läuft darum auf Verteidigung hinaus, deren Resultat voraussehbar ist. Jedoch nimmt die Rhetorik den Platz der Argumentation ein. So

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gen aber ist gerade, alle Prämissen und schließlich die Theorie selbst der Reflexion auszusetzen, ohne Furcht vor einer konsequent konstruktivistischen Epistemologie der De-Ontologisierung. Aus der Darstellung funktionaler Methodologie ist für den hier interessierenden Gegenstand der Gemeinschaft zu folgern, dass bei der empirischen Untersuchung nach deren Problemlösungspotenzial zu fragen ist. Die im theoretischen Durchgang im ersten Kapitel gefundenen möglichen Gründe für partikulare Gemeinschaftsbezüge bei gleichzeitigem individuellen Differenzerhalt sind die Vergleichsgesichtspunkte. Dabei ist die Frage zu beantworten, ob darin Anzeichen für die durch Gemeinschaften selegierten Probleme auszumachen sind. Dabei interessiert weiter, wie die Gemeinschaft ihre Differenz organisiert, um als sie selbst erkennbar zu bleiben, wo doch schon diejenigen, die sich auf sie beziehen, nicht ewig leben. Antworten lassen sich weder aus Beobachtungen der auf die Gemeinschaft bezogenen Interaktionen noch aus der thematisch daran orientierten Kommunikation ableiten. Sie sind zu vielfältig und zahlreich, zu komplex und zu schnelllebig, als dass mehr zu sehen wäre, wie durch bloß zufälliges Erleben möglich ist. Die Kommunikation der Gemeinschaft ist darum als solche nicht zu beobachten oder, wie eingangs festgestellt wurde, nicht zu erreichen. Darum muss man sich an die Anzeichen für die Gemeinschaft halten, durch die man wissen kann, dass es sie gibt. Es sind die wie auch immer dargestellten Wir-Behauptungen: Die Gemeinschaft ist der Fall. Mit dieser Feststellung sind die Fragen nach der Funktion und dem Funktionieren der Gemeinschaft allerdings noch nicht zu klären. Es kommt darauf an, dahinter zu kommen, wieso sich die Gemeinschaft in diesen sinnhaften Formen darstellt, die für sich individuell zu sein scheinen und inwiefern sie doch die Gemeinschaft als Ganzes zu bezeichnen wissen. Als wichtigste Quelle für die Funktionsanalyse eines solchen Falles können die individuellen Berichte zur Gemeinschaft gelten. Denn in diesen werden Beobachtungen zur Relation des Ichs zum Wir dargestellt. Diese knüpfen nicht unmittelbar an die Funktion der Gemeinschaft an, sondern thematisieren sie anhand eigener, eben abgeleiteter Probleme. Daverschiebe Luhmann nur die Probleme in den weiteren Horizont, um diese gleichsam aus den Blick der Kritiker zu räumen. Luhmann zaubere mit Sprache, vollziehe die grundsätzliche Kritik aber nicht. Aber der Vorwurf mangelnden Nichtvollzugs von Argumenten trifft Joas selbst. Denn in seiner Rekonstruktion übersetzt er voraussetzungsvolle Begriffe in eigene Termini, ohne sich die Konsequenzen, zum Beispiel der Verschiebung von Selbstreferenz zu Selbstreflexion, bewusst zu machen. Auch das Konzept der Differenzierung ist weitaus komplexer als der Rekurs auf Arbeitsteilung nahe legt. Epistemologie infolge der second order cybernetics ist dann auch keine relativierende Flucht nach vorn, sondern ein Versuch, die ontologischen Denkgewohnheiten und -grenzen nicht nur zu überwinden, sondern dafür Gründe angeben zu können. Angebliche Blindheit von Anhängern trifft so auf die Diskursverweigerung prinzipieller Ablehnung.

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durch ist es aber wahrscheinlich, dass sie an dieselben Gesichtspunkte wie die theoretische Analyse anzuschließen sind: die differenzierende Bestimmung des Selbst, der Gemeinschaft und der Differenz zwischen beiden als Einheit. Die Problemgesichtspunkte bilden so das Scharnier zwischen empirisch funktionaler Analyse und Alltagsbewältigung. Deutlich wird damit, dass durch die Figur der Ableitung alltäglicher Probleme von denen der Funktion der tautologische Zirkel von Theorie und Empirie weit genug zu öffnen ist, um durch unkontrollierbare Realitätsbezüge etwas Neues über die Welt erfahren zu können.

Identität – Narration – Gemeinschaft Die gemeinschaftliche Kommunikation ist als solche nicht direkt zu beobachten. Statt auf die Probleme der Gemeinschaft selbst muss sich die Empirie auf die individuellen Probleme mit und in der Gemeinschaft richten. Diese gemeinschaftsbezogenen individuellen Probleme können als abgeleitete Probleme der Gemeinschaft gelten, weil sie nur daher ihre Ursache haben können. Andernfalls wäre die Gemeinschaft schlicht der falsche Referenzrahmen. Jedoch ist von der Kompetenz der Probanden auszugehen, für ihre eigenen Probleme den angemessenen Lösungsbezug finden zu können. Wird dieser in zahlreicher Weise mit den unterschiedlichsten individuellen Gründen und Motiven gewählt, kann das kein Zufall sein. Es ist dann von einem sozialen Phänomen auszugehen, dessen Funktion eben im Problembezug zu erkennen ist, und das dadurch seine eigene identitäre Aktualität erhält, also selbst funktioniert. Im Vergleich dieser individuellen Bezüge ist zu erwarten, dass man der Funktion und dem Funktionieren der Gemeinschaft gewahr wird.

Gemeinschaftsbezug narrativer Identität Die individuellen Problembezüge drücken immer eine spezifische Relation des Ichs zum Wir aus, was im Grunde eine Bestimmung von Individualität im Hinblick auf die Gemeinschaft ist. Mit einer solchen Bestimmung werden Unterscheidungen benannt, die als Identitätsaussagen in Erscheinung treten und dabei der Erläuterung bedürfen, wie sie sich typischerweise in biographischen Erzählungen finden. Das heißt, dass Identität in Narrationen erzeugt und begründet wird (Kraus 1996, Lucius-Hoene/Deppermann 2002). Zum Beispiel hebt Meuter (1995) den Umstand hervor, dass die biographischen Erzählungen nicht nur die eigene Identität repräsentieren, sondern diese auch im Erzählen produzieren. Im Fall einer umfassenden Erläuterung des eigenen Ichs, die, wie oben geschildert, als Ausnahmesituation zu betrachten ist, erfolgt die Kondensierung der erinnerten Geschehnisse und eine Konfirmierung hinsichtlich der aktuellen Lebensum-

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stände und Zukunftsplanungen. Für diese Art Selbstorganisation des Individuums als Person werden im hohen Maß Gedächtnis- und Reflexionsleistungen in Anspruch genommen. Deren Erfolg, also die Annahme dieser Selbstdarstellung, ist nicht erzwingbar, sondern hängt von den Möglichkeiten zur Einschränkung der Kontingenz in der jeweiligen Interaktion ab. Jedoch steht die dargestellte Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz nicht nur gegenüber anderen zur Debatte. Die vorhandenen Identitätsentwürfe liegen beim Wiederaufruf, zum Beispiel bei einer biographischen Erzählung, auch dem Individuum zur Revision vor. Wie schon in der theoretischen Diskussion im ersten Kapitel festgestellt wurde, muss sich die Selbstrechtfertigung auf Werte berufen, und zwar auf jene, die die Gemeinschaft bezeichnen. Die Orientierung der biographischen Erzählung an den Werten der Gemeinschaft, die als „miniculture“ angesehen werden kann, heben Bruner und Fleisher Feldman (1996) besonders hervor. Sie nehmen diese Überlegung zum Ausgangspunkt für die Untersuchung der unterschiedlichen Konstitutionen ähnlicher Gruppen. Dabei können sie auf ein für die folgende Analyse bedeutendes Ergebnis verweisen. Sie zeigen, dass Gruppen und Personen sich hinsichtlich der Ausbildung ihrer Identität bedingen: „What is plain is that the accounts given by individuals constitute in some important sense the group’s identity. Yet at the same time a group’s identity also constitutes the identity of its members“ (294). Die Frage ist aber immer noch, wie das geschieht. Klar ist, dass individuelle gruppenthematisierende Narrationen den Weg zur Analyse der Funktion von Gemeinschaften bezeichnen; diese Narrationen markieren den Zugang zur Gemeinschaft.

Realität der Narration Die Narrationsanalyse hat in den Sozialwissenschaften bereits eine längere Tradition. Unterschiedliche Methoden, insbesondere die sozialwissenschaftliche Hermeneutik mit all ihren Varianten, wie die objektive oder strukturale Hermeneutik oder die Biographieforschung, greifen auf individuelle Geschichten als empirisches Material zurück. Diese im Feld qualitativer Sozialforschung aufgestellten Analysemethoden verstehen sich nicht nur als empirisches Werkzeug der Erklärung, sondern als theoriegenerierende Zugänge zur sozialen Welt.6 Dabei sind diese Methoden in einer Art explizit theoriegeleitet, wie sie die auf statistische Verfahren hinauslaufenden Analysen mit ihrer Berufung auf den kritischen Rationalismus schon lange nicht mehr nötig zu haben scheinen.7 Die theoriegeleitete Begrün6

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Zu einer umstritten, aber trotz allem nützlichen idealtypischen Gegenüberstellung im Schema qualitativer und quantitativer Dichotomie siehe Lamnek (1993: 93 ff.). Die überkommene ontologische Basis dieser Epistemologie wird dabei der Reflexion enthoben. Statt sich um Anschluss an Fragen der Wahrheitserzeugung zu bemühen, geht es darum, sich mittels raffinierter Technik an der

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dung der hermeneutischen Verfahren in den Sozialwissenschaften machen eine Diskussion zu den Widersprüchen in der Anlage der Theorie und den Ansprüchen der empirischen Fragestellungen möglich, aber auch notwendig. Bei weitem sind nicht alle Annahmen dieser Analyseverfahren mit dem hier vertretenen Anliegen der Methodologie funktionaler Analyse vermittelbar. Allein schon die weitverbreitete Subjektorientiertheit sozialwissenschaftlicher Hermeneutik ist ein solcher Widerspruch.8 Ein anderer scheint im Erkenntnisstreben zu stecken, durch die Texte oder Protokolle auf eine objektive Struktur der Gesellschaft durchzudringen.9 Der Anspruch, strukturelle Wahrheitsaussagen über die Gesellschaft treffen zu können, wird hier nicht vermieden, aber der Weg dahin als schwieriger vorgestellt. Das hat seine Ursache im oben dargestellten Konzept von Kommunikation, die sich nicht direkt, sondern nur anhand von Zurechnungen und Repräsentationen beobachten lässt. Zu den ohnehin präsentierten kommunikativen Selektionen kommen darum weitere Selektionen des Verstehens hinzu. So häuft die Interpretation des empirischen Materials, und hier vor allem gemeinschaftsbezogener Narrationen, weitere Selektionen an. Wie sollte man dabei auf eine Objektivität genannte, unzweifelbare Wahrheit der Realität stoßen? Bloße paraphrasierende Sequenzanalysen in der Gruppe und Fallkontrastierung scheinen dafür zu wenig zu sein. So kann man letztlich die im Erzählen ohnehin vollzogenen Selektionen bestenfalls nachvollziehen, das heißt den Fall erneut feststellen. Was ist damit gewonnen? Das Problem liegt wohl in der Auffassung des ontischen Status des empirischen Materials begründet. Den Repräsentationen wird entgegen der üblichen Subjektdeterminierung nämlich ein Wahrheitsgehalt unterstellt, der sich unabhängig vom Subjekt durchsetzt. Allerdings wird damit lediglich die zirkuläre Verweisung von Struktur und Subjekt fortgeführt. Aussagen werden dann durch die methodische Asymmetrierung hin zur

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Fiktion optimaler Wahrheitsabbildung abzuarbeiten. Wieso aber die Abbildung nie mit der Realität übereinstimmen wird, bleibt auf diese Weise ein ewiges Geheimnis; und die Jagd danach ist wohl das eigentliche Triebmoment dieses methoden-technischen Hamsterrades. Die subjektive Determiniertheit von Aussagen kann nicht unbedingt aus der Hermeneutik abgeleitet werden, im Gegenteil zeigt Grondin (1994: insb. 50 ff.) unter Bezug auf Gadamer, dass Subjektivität in Kommunikation erst beim Ereignen von Wahrheit durch hermeneutische Auslegung entsteht. Anders gesagt, wird durch verstehende Reinterpretation von Information die Mitteilung auf eine verursachende Adresse zurechenbar, das heißt Personen emergieren. Erstaunlicherweise erinnert dieser Punkt an die antihermeneutische Position der Foucault’schen Diskursanalyse, nämlich dass der Diskurs Subjekte hervorbringt und nicht umgekehrt. Inwiefern Hermeneutik als Methode der Textanalyse unter den Bedingungen funktionaler Analyse in Frage kommt, diskutiert Schneider (1992), auf den im Weiteren noch einzugehen ist. Vogd (2005: 23) nimmt diesen Befund als Ausgang für seine Diskussion der Verwendung der dokumentarischen Methode als rekonstruktive Sozialwissenschaft unter systemtheoretischer Prämisse.

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Struktur via subjektiver Repräsentation getroffen, ob das nun zum Beispiel objektive Strukturen oder die Parallelisierung von erlebten und erzählten Lebensgeschichten sind.10 Die hier beabsichtigte funktionale Analyse aber geht nicht davon aus, in jeder einzelnen Erzählung schon gesellschaftliche Prinzipien aufdecken zu können. Auskunft über die Funktion der Gemeinschaft kann stattdessen erst ein Vergleich des in den Geschichten dargestellten individuellen Sinns von Gemeinschaftsbezügen geben. Es geht dabei nicht um die Generierung von Mustern oder Typen, sondern um das Aufdecken der Probleme, für die das Phänomen eine mögliche Lösung darstellt. Das ist das Ziel der Frage nach der Funktion der Gemeinschaft.

Kontingenz der Narration Jedoch beinhalten die vom Interviewer provozierten Konfirmierungen kondensierter Überzeugungen in den Geschichten ein Problem, das bei der Analyse berücksichtig werden muss, nämlich die Kontingenz ihres Zustandekommens. Alle Bemühungen, mittels der herkömmlichen Analysetechniken Aussagen über soziale Phänomene zu treffen, richten sich laut Nassehi und Saake (2002a) auf die methodische Verhinderung von Kontingenz, die bei der Kommunikation und deren Beobachtung produziert werden. Der kommunikative Sinngebrauch beim Geschichtenerzählen weist immer auf aktuellen Sinn und negiert darum in ungesagter Weise andere Möglichkeiten, die weitestgehend unbekannt bleiben.11 Anders wäre Kommunikation auch gar nicht möglich. Die im Verlauf der Kommunikation immer wieder verdeckten anderen Möglichkeiten, die auch durch die Überführung in ein Protokoll weiter verschüttet werden, müssten jedoch den Autoren zufolge zum eigentlichen Forschungsobjekt gemacht werden.12 Einzig darin ist für sie ein empirischer Mehrwert zu erkennen. Im Unterschied zum bloßen Nachzeichnen der kommunikativen Kontingenzbewältigung ist erst mittels Beachtung der Kontingenz die interessantere Frage nach dem Grund und der Herstellungsweise der vorgefundenen Gegenstandsformen zu beantworten. Den Autoren ist hier insofern zuzustimmen, als genau darin ja der Sinn funktionaler Analyse liegt. Nassehi und Saake schlagen vor, dass die Kontingenzbearbeitung und -entfaltung

10 Siehe dazu nur Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997) oder Rosenthal/FischerRosenthal (2000). 11 Dass bei Nennung des Interviewerinteresses und der Thematik nicht mehr alles erwartet werden kann, ist ja nicht nur in der sonderbaren Situation eines narrativen Interviews ein Gemeinplatz. 12 Das Material der Narrationsanalyse sind in der Regel Kommunikationsprotokolle. Die Transformation von einem „heißen“ Medium, der Sprache, in ein „kühles“, dem Protokolltext, kann durchaus problematisch sein (McLuhan 1964). Aus diesem Grund erfolgt bei der Analyse der Narrationsprotokolle zu den Erlebnissen während der Oderflut 1997 immer auch ein Rückgriff auf die zugrundeliegenden Aufnahmen.

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als eigentliches Thema (qualitativer) Sozialforschung verstanden werden sollte. Beide Autoren lehnen dabei die Bevorzugung bestimmter Erzählformen im Interview ab13, und so gilt ihnen die Narration nur als eine Präsentationsform unter anderen. Die nahezu unterbrechungsfreien Narrationen in autobiographischen Interviews haben jedoch den Vorteil, erwartbare Negationsmöglichkeiten und Legitimationszwänge zu unterdrücken. Aus diesem Grund kommt es in biographischen Berichten zur Verstärkung von Abweichungsstrukturen. In der solchermaßen hergestellten zwangsfreien Situation der Muße lassen sich neue Elemente in bekannte Schemata einfügen und daraufhin überprüfen, eben Kondensiertes mittels neuer Elemente konfirmieren oder – in Anlehnung an Meuter (1995) – „Charaktere“ stilisieren. Die Kohärenz der Erzählung ist dann ein Effekt dieser kommunikativen Passung, die Identität generiert. Interessant erscheinen den beiden Autoren genau diese selbstreferenziellen Abweichungen, durch die individuelle Differenzschemata als eine Ordnung zwischen Selbst und Umwelt sichtbar werden. Die dabei zum Einsatz kommenden Erzählformen lassen zunächst auf kommunikative Kompetenz schließen, die auf die zufällige Situation reagiert. Eben dieser Zufall aber, meinen Nassehi und Saake (2002a: 75), fällt den ordnenden Interpretationsbestrebungen der herkömmlichen Verfahren anheim. Dabei geht es den Autoren aber nicht um die durch sinnbestimmende Selektion vollzogene Kontingenzvernichtung. Ohne diese wäre ja kein Verstehen möglich. Jedoch wenden sie sich gegen die Einschränkung durch das Interpretieren, weil das Dargestellte so nur noch auf die forschungsleitende Fragestellung fixiert ist. Um dem zu begegnen, muss auch das durch die Frage Ausgeschlossene in den analytischen Blick genommen werden. Erst von hier aus erschließt sich dann der individuelle Relevanzbereich: die konstitutiven Themen der Erzählung. Und diese sind bekanntermaßen beim Interview eben auch vom Interviewer abhängig. Nassehi und Saake bestreiten allerdings die Möglichkeit, die gegenseitige Positionierung in der Interviewsituation zu kontrollieren. Darum antworten sie positiv auf dieses Problem, indem sie vorschlagen, es für die Erhebung auszunutzen. Das Interview ist dann als eine „Simulation von Verstehen“ (77) anzusehen und kann auf die illusionäre Hoffnung einer gemeinsamen Perspektive verzichten. Nassehi und Saake lehnen also erstens die kontingenzverhindernde Determinierung der Interpretation durch eine fragefixierte, thematisch-sachliche Sinnordnung ab und empfehlen zweitens die bewusste Nutzung sozialer Sinnstimulation. Zum Dritten wenden sich die Autoren gegen die üblicherweise unterstellte zeitliche

13 Was möglicherweise auf die immer noch populären Ideen Schützes (1984) zielt. Zur Bewältigung des Materials durch solche nach Darstellungsformen ist diese Ordnung jedoch recht nützlich. Es kommt nur darauf an, von diesen Formen nicht auf den Authentizitäts- oder Wahrheitsgehalt zu schließen. Aber Beiträge, die sich weniger als Gegenbeiträge verstehen, weisen diese Wahrheitsvermutungen zurück (Lucius-Hoene/Deppermann 2002).

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Ordnung der Sinnerzeugung, wie sie namentlich in der Sequenzanalyse mitschwingt. Diese halten Nasshi und Saake für eine Folge der Annahme wirklicher und zeitlos steuernder Strukturen, was nur zu inadäquaten Kausalannahmen führt. Hingegen sei nicht der Zeitablauf des Interviews von Interesse, sondern die zeitabstrakte Nutzung individueller DifferenzSchemata bei der Erzeugung von Identität. Diese Differenzen sind von der zufälligen Interviewsituation provoziert, die Selektionen entlang der von der Fragestellung vorgegebenen Themen notwendig macht.14 Die selegierte Differenz hat darum in ihrer Form keine Notwendigkeit, sie ist kontingent. Sie begründet sich lediglich im Verweis auf die Fragestellung und das Thema im Interview sowie auf Erfahrungen in ähnlichen Situationen und allgemein auf Sozialisation. Vor diesem Hintergrund stellen Nassehi und Saake die Fragen in den Mittelpunkt, „wie sich Einzelbeobachtungen in den Horizont von Strukturen des Gesellschaftssystems stellen lassen, wie sie Folgen und Folgeprobleme gesellschaftlicher Kontexte sind“ (80). Die Forschungssituation animiert dazu, ein Selbstbild gegenüber einem gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund zu entwerfen. Darum bedeutet den Autoren methodische Kontrolle eben nicht Kontingenzbeherrschung, sondern Einsicht in die Verquickung von Forschung und Gegenstand. Es geht dann nicht mehr um eine tatsächliche Bedeutung von Aussagen, sondern um die Selbstkonstitution von Inhalt, Bedeutung, Sinn und Erwartungen sowie Darstellungsformen. Diese schließen aneinander an und verstärken sich im Verlauf des Interviews, weil diese besondere Kommunikation nicht ablehnungsfähig ist. Die Geschichte schränkt ihre Kontingenz durch Anschluss des nächsten Satzes selbst ein. Indem aber nicht die Einschränkung mitvollzogen, sondern die Kontingenz der Aussagen aufgezeigt wird, werden für Nassehi und Saake die Beschreibung von Problemen und deren Lösungskontexturen im Sinne funktionaler Analyse möglich. Um die Kontingenz der Narration für die Forschung fruchtbar zu machen, darf diese nicht als Problem verstanden werden, das es zu verhindern gilt. Erstens gibt zwar die Fragestellung auf sachlicher Ebene den thematischen Rahmen vor, aber die vom Interviewten eröffneten thematischen Eigenrelevanzen sind die eigentlich interessanten Aspekte der Narration. Auf sozialer Ebene kann es zweitens kein tatsächliches Verstehen zwischen beiden Kommunikationsteilnehmern im Sinne eines „going native“ geben, sondern nur die stimulierende Illusion eines weitgehenden Einverständnisses. Erst die ohnehin vorhandene Fremdheit zwischen Forscher und Informant sichert die Forscherdistanz, die den Eigensinn der Selbstdarstellung

14 Zufall ist dabei nicht als Negation, sondern als Einsicht in die Unbeobachtbarkeit und Unkontrollierbarkeit der Komplexität kausaler Zusammenhänge in der systemischen Umwelt zu verstehen (Luhmann 1998: 449). Deshalb kann Zufall aber auch nicht als bloßer Platzhalter des Nichtwissens fungieren.

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erfassen lässt. Im zeitlichen Verlauf der Narration entfaltet sich drittens kein schon irgendwie vorgegebener objektiver oder grundlegender Sinn. Sinn entwickelt sich immer nur aktuell in der jeweiligen Narration und kann darum auf keine Objektivität verweisen. Hingegen gilt es, die Entwicklung identitärer Versatzstücke anhand der thematischen Stimulation zu studieren. Die Interviewsituation, wie Nassehi und Saake (2002b) aus Anlass der Replik von Hirschauer und Bergmann (2002)15 weiter ausführten, muss als eine schon manipulierte verstanden werden. Bestimmte Ereignisse werden schon durch die Thematik für die Sinnproduktion selegiert. Darum ist die kontingenzeinschränkende Interpretation als strukturelles Problem zu verstehen und nicht als Korellationszusammenhang von Ereignissequenzen. Hingegen sollte die Analyse auf die Bedingungen der Kontingenzreduktion zielen, um unterschiedliche Kontexte und offene Verweise entlang verschiedener Referenzrahmen zu entdecken. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Informationen in Interaktionen gewonnen werden, die auf den Interviewer zugeschnitten sind und auf eingeübte Routinen beruhen, die Gedächtnis, Erfahrungen und Kultur in Anspruch nehmen. Die Akteure sind dann – wie oben schon festgestellt wurde – nicht als Voraussetzung, sondern als Resultat von Interaktion als „Anschlusszusammenhang kommunikativer Ereignisketten“ (Nassehi/Saake 2002b: 341) zu verstehen. Weil diese Anschlüsse immer nur aktuell im kommunikativen Vollzug realisiert und nicht eindeutig konditioniert werden, überraschen sich die Akteure oft selbst. Wie die immer wieder anfallende Kontingenz in der Kommunikation dauernd entsteht und abgearbeitet wird, lässt sich dann gerade an den anschließenden Versuchen zur Rechtfertigung der überraschenden Selbstformen studieren. Dadurch sichern die Interaktionsteilnehmer ihre Anschlussfähigkeit für weitere Kommunikation, indem sie sich als identifizierbare Zurechnungsadressen von Kommunikation positionieren. Ohne Negationsmöglichkeiten entfaltet sich eine unvorhersehbare Dynamik der Kommunikation. Indem die Interaktionsteilnehmer im Interview auf diese außergewöhnliche Kommunikation reagieren, statt diese zu steuern, wahren sie ihren Status als anschlussfähige Adresse. Darum generieren Interviews Geschichten, deren Analyse sie für das Studium sozialer Phänomene fruchtbar macht. Der in ihnen entwickelte Sinn ist die eigenwillig vollzogene Kontingenzeinschränkung im nächsten 15 Leider kaprizierten sich die beiden Kritiker dabei lediglich darauf, Nassehi und Saake ethnomethodologische Inkompetenz nachzuweisen. Die Chance zur Diskussion der Überlegungen zur Nutzung der Kontingenzen im Interview wurde vertan. Aber aus ethnomethodologischer oder auch allgemein qualitativ-methodischer Forschungssicht sind die Probleme mit der Kontingenz ja nicht so unbekannt, wie es Nassehi und Saake scheint. Insofern können sich die Kritiker hier missverstanden fühlen. Jedoch hinterließ die Lektüre dieser Replik von Hirschauer und Bergmann eher den Eindruck einer zwar wissenschaftsüblichen, aber nicht förderlichen Sicherung von Claims.

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kommunikativen Anschluss. Bettet man die sequenziellen Analysetechniken in den Vergleich ein, lassen sich diese Einschränkungen erfassen, ohne dass diese dabei einfach nur reproduziert werden. Eine Geschichte hat unbestreitbar Sinn. Dieser Sinn ist aber allein auf die jeweilige Geschichte und die darin produzierte Identität bezogen. Darum ist diese Identität für das Individuum kontingent. Aber diese Kontingenz ist ja erst die Voraussetzung zum funktionalen Vergleich, mittels dessen die latente Funktion, der Problembezug auf Gemeinschaft, erkannt werden kann. Denn auch die individuelle Konstitution des Kollektivs als Kontext personaler Identität ist ein kontingentes Geschehen. Nur wenn diese individuellen Kontingenzen sichtbar gemacht werden können, lässt sich ein Vergleich zum Zweck der Identifikation der Funktion überhaupt bewerkstelligen. Für die Analyse lässt sich dann erwarten, dass die narrativen Formen des Gemeinschaftsbezuges verschieden und kontingent sein werden, der funktionale Problembezug der Individuen auf Gemeinschaft aber nicht.

Analyse der Narration Die Analyse der Interviewtexte erzeugt ein Milieu kontingenter Bezüge auf eine bestimmte Gemeinschaft. Die daran anschließende, vergleichende Äquivalenzanalyse ist das Mittel, den Sinn und den Selbsterhalt und so die latente Funktion und das Funktionieren der Gemeinschaft herauszustellen. Die Mittel zur Analyse der Interviews finden sich im Werkzeugreservoir der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik. Als einer der ersten hat Schneider (1992) Möglichkeiten hermeneutischer Textinterpretation für die funktionale Analyse ausgelotet. Dabei knüpft er insbesondere an die Problemgesichtspunkte an, wie sie Luhmann (2005) als konstitutiv für die funktionale Analyse beschrieben hat. Ausgangspunkt ist dabei, dass der Anspruch auf Objektivität sich nicht auf eine ontische Tatsächlichkeit beziehen kann. Schneider interpretiert Objektivität als Differenz zwischen den verschiedenen Beobachtungspositionen erster und zweiter Ordnung. Aber ohnehin ist dieses Problem nur eines der mit Gadamer so genannten romantischen Hermeneutik, die tatsächlich nicht mit den oben diskutierten Prämissen funktionaler Analyse vereinbar ist. Das wesentliche Vermittlungsproblem zwischen Hermeneutik und funktionaler Analyse steckt für Schneider aber auch vielmehr in der unterschiedlichen Perspektive auf die Empirie. Nimmt die funktionale Analyse theoretisch bestimmte komplexitätsreduzierende Problemgesichtspunkte als Ausgang für den empirischen Äquivalenzvergleich, geht die sozialwissenschaftliche Hermeneutik vom Einzelfall als komplexe Problemlösung aus. Richtet sich die funktionale Analyse auf die Aufdeckung latenter Funktionen, kommt es der Hermeneutik auf die Rekonstruktion des Problemkontextes und die angemessene Lösung an, wie sie durch den Fall präsentiert wird. Diese divergenten Perspektiven sind für Schneider mittels Stufenordnung von Problemverweisen

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in einer Forschungsstrategie zu vereinen. Oben wurde das im Anschluss an Luhmann als Ableitung der alltäglichen manifesten von den latenten Problemen diskutiert. Über die an diesen Ableitungen orientierte Verweise können die konkret aufscheinenden Probleme auf abstraktere Analysebenen transformiert werden. Schneider zeigt das anhand eines Beispiels widersprüchlicher Erwartungen in der Auftragsforschung. Als Ergebnis dieser vor allem an der Oevermann’schen Hermeneutik orientierten Bemühungen kann Schneider (1992) den Konflikt mittels generalisierter Problemgesichtspunkte beschreiben, die im Rückbezug auf den Fall ihre Evidenz unter Beweis stellen. Die prinzipielle Mehrzahl an Beobachterpositionen in einer sozialen Situation nimmt auch Vogd (2005) zum Ausgang seiner Diskussion der Möglichkeit systemtheoretisch inspirierter Empirie. Die üblichen Methoden sieht er eingespannt zwischen den Polen der Subjektivität gemeinten Sinns und der Objektivität gesellschaftlicher Regeln. Beide methodischen Orientierungen kommen unter systemtheoretischen Prämissen für die Empirie nicht mehr in Frage, weil sie lediglich auf einen naiven Umgang mit den Problemen empirischer Forschung verweisen. So wird einerseits die Kontingenz des Sinns ignoriert und andererseits auf eine exklusive Beobachterposition des Forschers gesetzt, die er ja schlechterdings nicht behaupten kann. Vogd (2005) verwirft aus diesem Grund Schneiders Vorschlag einer Nutzung der Hermeneutik nach Vorbild Oevermanns. Statt dessen stellt er die dokumentarische Methode Bohnsacks als erste Wahl für eine systemtheoretisch angeleitete Empirie dar. Bei dieser Methode scheinen ihm die Problempunkte empirischer Beobachtung, die die Systemtheorie hinsichtlich gesellschaftlicher Komplexität und daraus folgender Kontingenz aufwirft, weitestgehend gelöst. So sei es hier möglich, anhand der beobachteten Phänomene unter Bezug auf gesellschaftliche Relevanzbereiche eine mehrdimensionale Typologie zu entwerfen, die gleichzeitig die Rechtfertigung des Forscherstandpunktes erlaubt. So würde es möglich, die von Nassehi und Saake (2002a) aufgeworfene Beteiligung des Forschers am Entstehen des empirischen Materials zu reflektieren. Im Anschluss an die dokumentarische Methode werden die beobachteten Phänomene als Prozesse der Sinnzuschreibung unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Relevanzbereiche interpretiert und mit anderen, aber hinreichend ähnlichen, dem gleichen Praxisfeld angehörenden Phänomenen verglichen. Hier scheint eine andere Lösung für das Problem der unterschiedlichen Forschungsstrategien auf, die Schneider (1992) anhand des Widerspruchs zwischen Hermeneutik und funktionaler Analyse diskutierte. Die Aufdeckung der latenten Funktionen kann nur über den Weg der Rekonstruktion der individuell unterschiedlichen Problemkontexte geschehen, zeigt auch Vogd (2005). Die unterschiedlichen Bestimmungen von Sinn hinsichtlich eines Bezugsproblems machen Kontingenz sichtbar. Neben den Unterschieden werden aber auch die Gemeinsamkeiten deutlich, die

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auf „funktionale Notwendigkeiten“ (25) hinweisen. Das konkrete empirische Vorgehen stellt Vogd in enger Anlehnung an Bohnsack16 dar. Zunächst wird das Material hinsichtlich Themen formulierend interpretiert. Anschließend werden in einer zweistufigen Reflexion die gegenseitigen Bezugnahmen von Themen und Sprechern analysiert und daraufhin die Orientierungsrahmen der Kommunikation rekonstruiert. Im abschließenden Vergleich werden die Verschränkungen der relevanten Orientierungsrahmen in den untersuchten Situationen als Typiken beschrieben, die sich nicht auf Personen, sondern auf die sozialen Systeme beziehen. Der Vergleich ermöglicht letztlich auch die Reflexion und Rechtfertigung des Forscherstandortes. Für Vogd kommt es bei der Empirie auf die Beobachtung von Systembildung an. Deshalb erscheint ihm die dyadische Kommunikation als die beste Erhebungsgelegenheit. Im Gegensatz dazu seien solche kommunikativen Prozesse der systemischen Re- und Produktion mittels Narration nicht wirklich zu beobachten.17 Obwohl Vogd in den meisten Punkten seiner begrüßenswerten „Versöhnung“ – wie es im Titel heißt – zuzustimmen ist, bleiben doch einige Punkte offen oder erscheinen als zu stark zugespitzt. Zunächst werden die theoretischen Voraussetzungen Bohnsacks mit Hinweisen auf Mannheim und Goffmann zwar benannt, aber deren Stellung zu Vogds theoretischen Prämissen nicht deutlich gemacht. Um allein die Eignung der dokumentarischen Methode unter systemtheoretischen Prämissen darzustellen, ist das vielleicht auch nicht unbedingt notwendig, zumal Bohnsack (2000) selbst Hinweise auf sein Verhältnis zu systemtheoretischen Annahmen gibt. Das ändert sich allerdings, wenn Vogd diese Methode als die schlichtweg bestgeeignete empfiehlt. Methoden und erst recht deren Beschreibungen sind selbst Theorien zur Erzeugung von Wahrheit, die wiederum theoretischen Reflexionen entspringen. Insofern bietet jede Theorie und jede Methode Anlässe für Anschlüsse an oder Abschlüsse gegen anderes. Dass es eine bestgeeignete Methode geben könnte, ist zu bezweifeln; jede Methode ist hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit zu prüfen. Darum ist nochmals auf Schneiders Bemühungen (1992) um die Hermeneutik zurückzukommen. Er analysierte soziale Phänomene, wie das Missverständnis in der Auftragsforschung, hinsichtlich verschiedener primärer Bezugsbereiche, nämlich der Politik beziehungsweise Verwaltung und Wissenschaft. Der Verdacht, unter Nutzung hermeneutischer Analysestrategien, dem Overmann’schen Suchimpuls nach Objektivität im empirischen Material aufzusitzen, lässt sich ausräumen: Indem die sachliche, soziale und zeitliche Kontingenz beim Zustandekommen des Analysematerials aufgedeckt und als Bedingung des Äquivalenzvergleichs genutzt wird, ist auch die eigene Forscherposition als relational zu reflektieren, soweit 16 Für einen kurzen Überblick siehe Bohnsack (1997: 191 ff.). 17 Wenngleich er ein empirisches Beispiel anführt, dass wohl auf Gesprächen als Analysematerial beruht (Vogd 2005: 199 ff.).

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das möglich ist.18 Aber auch die Oevermann’sche „Kunstlehre“ (Reichartz 1997, 2000) kann fruchtbringend im Umgang mit dem Material genutzt werden. Dass sich der Sinn einer Sequenz erst aus dem Anschluss folgender Sequenzen erschließt, wird auch von Oevermann (1993: 180 ff., 2002) immer wieder betont, nicht ohne dabei einen aus der objektiven Regelhaftigkeit des Sozialen abgeleiteten Gegensatz zu Habermas wie Luhmann zu markieren. Für die folgende Analyse ist jedoch das dort vorgeschlagene sequenzanalytische Vorgehen am Text wichtig. Betrachtet man diese und andere vorgeschlagene Vorgehensweisen im Umgang mit Texten in der sozialwissenschaftlichen Analyse, verstärkt sich doch der Eindruck der Konvergenz.19 Wie bei anderen Methoden werden auch bei Bohnsack die Schritte der Textinterpretation – freilich unter anderem Namen – hervorgehoben. Die dokumentarische Methode Bohnsacks hebt sich aber – wie gerade Vogd (2005) nachdrücklich zeigt – in ihrer reflektierten Strukturiertheit von anderen qualitativen Methoden ab, die in ausführlicher Weise auf die Rechtfertigung der gesellschaftsbezogenen Sinnbestimmung, der Kontingenzreduktion und der komparativen Typenbestimmung eingeht (Bohnsack 1997, 2000: 382 ff.). Jedoch muss die empirische Forschung den beobachteten Phänomenen Rechnung tragen. Narrationen können, trotz Vogds gegenteiliger Emphase, darum sehr wohl geeignet sein. Aus der wissenssoziologischen Diskursanalyse, wie sie beispielsweise Keller (1997, 2004) prägnant vorschlägt, lassen sich ebenfalls Hinweise für die Feststellung und Verknüpfung von Themen und deren gesellschaftliche Bezüge gewinnen, ohne dass man die gesellschaftstheoretischen Implikationen teilen muss. Der Diskurs stellt sich in seiner Ordnung, wie Foucault (1991) sie beschreibt, als beschränkte und beschränkende Kommunikation dar, ohne dass sich diese schon als System beschreiben ließe. Jedoch lassen sich hier wiederum Hinweise auf die Kommunikation von Gemeinschaft finden, die deren Beschränkungen als Zugehörigkeits- und Grenzmarkierung betonen. So weist Foucault darauf hin, dass nicht alle kommunikativen Beiträge von gleicher Bedeutung, Themen und ihrer Relevanz beschränkt und schließlich mögliche Sprecher limitiert sind. Der Diskurs selbst sei aber nicht kontrollierbar. Eine weitere Bedeutung der Bezüge auf die Gemeinschaft erschließt sich aus der Verwendung der narrativen Formen, wie man bei White

18 Aber erst die Nachbereitung der Interviews lässt diese Art Reflexion zu. Debriefing und Situationsprotokolle sind in der Sozialforschung übliche Mittel zu eben diesem Zweck. Eine Kontrolle des eigenen Einflusses auf das Material wird auch dadurch nicht möglich, aber wohl eine Einschätzung der Reichweite möglicher Aussagen der Analyse. Und mehr ist wohl mit keiner der üblichen oder vorgeschlagenen Methoden möglich, solange man sich nicht auf Labor-Experimente kaprizieren möchte. 19 Neben der Vielzahl quantitativ orientierter Methoden-Lehrbücher, ist das Angebot zu den qualitativen Methoden ebenfalls ausgeufert. Als Beleg für den Konvergenz-Eindruck sollen die bereits angeführten Bücher genügen.

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(1975, 1985) lernen kann. Dabei kommt es nicht auf die kommunikative Kompetenz des Erzählers an, sondern der Modus der Selbstthematisierung im Hinblick auf die Gemeinschaft interessiert. Die Gestalt der Erzählungen, die „Tropics of discours“ können romantische, tragische, komische oder satirische Formen annehmen, die mit bestimmten Erklärungsformen und ideologischen Implikationen zusammenhängen (White 1975: 70). Damit sind weitere Facetten der zu rekonstruierenden Gemeinschaftsbezüge, aber auch Hinweise auf die innere Differenzierung der Gemeinschaft zu bestimmen. Der stark limitierte Überblick über die methodentechnische Diskussion und deren methodologischen Anschlussprobleme macht zusammenfassend zunächst klar, dass es bei der Identifikation von methodischen Bewältigungsstrategien empirischer Realität nicht darauf ankommt, den Königsweg anhand einer etablierten Methode zu finden. Was zählt – und das lässt sich sowohl am Beispiel Schneiders (1992) als auch Vogds (2005) und anderer zeigen – ist die Reichweite der Schlüsse, die man aus der Analyse zieht. Die Beschreibungen der Methoden müssen gerade in ihren unterbreiteten Folgerungen mit bestimmten theoretischen Prämissen in Einklang gebracht werden, wie reflektiert diese auch immer sein mögen. Das heißt aber, dass man den theoretischen Implikationen gegenüber skeptisch bleiben muss und sich einer methodologischen Heuristik versichert, die eine Reflexion jener möglich macht. Die funktionale Analyse scheint dafür den Rahmen zu bieten. Dabei kommt es auf die Orientierung am Vergleich zum Sichtbarmachen von Kontingenz an, die in den um Konsistenz bemühten Interpretationen narrativer Einzelbeiträge schon weggearbeitet ist. Durch die Fragen als thematische Stimulans werden die Problembezüge in einen konkreten empirischen Kontext eingebettet, aber nicht abgeschottet. Dieses sprachliche Milieu ermöglicht die Gewinnung von thematischen und semantischen Abweichungen in der kontingenten Interviewkommunikation. Die am Einzelfall orientierte Datenanalyse der Narrationen zur Identität hebt die individuellen Kontingenzbewältigungen und Problembearbeitungen als Bestimmung des Sinns der Individualität hervor. Das ist die Basis des Vergleichs der Bedeutungssyndrome oder Semantiken. Ziel der empirischen Analyse sind die Folgerungen auf die latente Funktion und das Funktionieren der Gemeinschaftsbezüge sowie Ableitungen für den Sinn von Gemeinschaft überhaupt.

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Individuelle Erzählungen im Diskurs der Gemeinschaft Das Funktionieren und die Funktion der Gemeinschaft ist nur anhand ihrer Alltäglichkeit zu beobachten. Die allerdings stellt die Empirie vor einige Herausforderungen, die von der Erhebung des Materials, der Kontextualisierung über die Analyse bis hin zur Darstellung der Ergebnisse reichen. Schlechterdings sind Gemeinschaften nicht dingfest zu machen, denn Gemeinschaften sind nicht, sondern finden statt. Gemeinschaft braucht Anlässe, die Probleme aufwerfen, um zum Thema zu werden. Daran kann dann der forschende Impuls ansetzen und sich in den Interviewsituationen zum Serres’schen Parasiten (1987) dieser Alltagsprobleme machen. Dieser Anlass bot sich im Sommer 1997 mit dem Hochwasser der Oder an der Brandenburgischen Grenze nach Polen. Im Verlauf dieses Ereignisses waren hier zwei Regionen an der Oder voneinander zu unterscheiden: die Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) und das sich nördlich der Stadt bis hinauf an die Uckermark erstreckende Oderbruch. Beide Gebiete waren unterschiedlich vom Hochwasser betroffen. Innerhalb des Oderbruchs sind darüber hinaus drei Evakuierungsgebiete zu unterscheiden. Die landschaftliche und administrative Unterteilung war Grundlage für die Auswahl der Interviewpartner. Der unterschiedliche Verlauf des Oderhochwassers im Sommer 1997 in der Ziltendorfer Niederung und im Oderbruch diente als erste Vergleichsgrundlage der Interviews. Das Oderhochwasser wurde von einer umfangreichen Berichterstattung begleitet. Und wie man mit Luhmann (1996) weiß, kommt den Massenmedien eine bedeutende Rolle bei der Erzeugung von Realität zu. Dadurch rückte diese ostdeutsche Region an der Oder ins Zentrum der medial erzeugten Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erzeugte diese Berichterstattung aber auch eine so nicht gekannte Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Bei der Berichterstattung und deren anschließender Archivierung spielten vor allem die regionalen Medien eine große Rolle. Eine Analyse der Berichterstattung zum Oderhochwasser erscheint darum als erster Schritt notwendig. Hier ist die Kontextualisierung des Ereignisses zu suchen. Dafür kamen vor allem Beiträge der regionalen Zeitung „Märkische Oderzeitung“ (MOZ) und des ehemaligen regionalen Fernsehsenders „Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg“ (ORB) in Betracht. Die MOZ ist in der Oderregion Ostbrandenburgs die auflagenstärkste Zeitung und nimmt nahezu eine Monopolstellung ein.20 Der ORB richtete während des Oderhochwassers 1997 extra die Redaktion „Deichprotokolle“ ein. Beide Massenmedien hat20 Die MOZ ging nach dem 18. März 1990 aus der SED-Bezirkszeitung „Neuer Tag“ (für den ehemaligen Bezirk Frankfurt (Oder)) hervor und hat immer noch dasselbe Verbreitungsgebiet. Sie hatte nach eigenen Angaben von 1997 eine tägliche Auflage von circa 140 Tausend bei einem Erreichungsgrad von ca. 50 % aller Einwohner, das heißt etwa 350 Tausend Menschen lasen in diesem Zeitraum die MOZ täglich (MOZ 1998).

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ten ein spezifisches Interesse, über ein Ereignis innerhalb ihres Verbreitungsgebietes zu berichten und ihre dort ansässigen Klientel mit Nachrichten zu versorgen. Die täglichen Berichte über das bald als „Flut“ titulierte Hochwasser gaben Stichworte für die individuelle und gemeinsame Bewältigung dieses Ereignisses. Darüber hinaus aber ist davon auszugehen, dass gerade die Archivierung dieser Berichte durch Retrospektiven als Artikelsammlungen, Bücher und Broschüren die Erinnerung an das Ereignis fixierte. Dieser Umstand ist deshalb bedeutend, weil auch für die Betroffenen eine unmittelbare Beobachtung der Ereignisse schlicht nicht möglich war. Auch für diese reduzierte sich das Ereignis immer auf die eigenen unmittelbaren Zwänge; alles Weitere wurde aus den Medien erfahren. Diese Umstände ließen aber auch eine direkte Beobachtung der Konstitution der Gemeinschaft aus wissenschaftlichem Interesse nicht zu. Es wäre zu diesem Zeitpunkt auch völlig unklar gewesen, wodurch sich die Gemeinschaft überhaupt darstellt, ohne der eigenen forschungsinduzierten oder der medial inszenierten Gemeinschaftsfiktion aufzusitzen. Die Gemeinschaft, die in den Statements der in den massenmedialen Beiträgen zu Wort gekommenen Betroffenen immer wieder zum Thema wurde, wäre hier nicht zu greifen gewesen, aber war doch Anlass genug, das Forschungsinteresse zu wecken. Etwa ein halbes Jahr nach dem Oderhochwasser, ab Januar 1998, wurde mit der Durchführung der Interviews begonnen und diese bis Ende Juli fortgeführt. Die Sampleauswahl richtete sich nach den regionalen Zuschnitten und orientierte sich also an der Ziltendorfer Niederung und dem Oderbruch. Dort wurde noch nach den drei Evakuierungsgebieten unterschieden, die den Grad der Gefährdung der Einwohner markierten. Durch die Interviews konnte diese regionale Einteilung mit dem jeweiligen Selbstverständnis der Gefährdung und der regionalen Zurechnung abgeglichen werden. Mittels verschiedener Verfahren wurden Interviewpartner ermittelt. Interviewpartner wurden überwiegend über regionale Multiplikatoren und im Schneeballverfahren angesprochen. Außerdem wurde in den Regionalausgaben der „Märkischen Oderzeitung“ ein Aufruf geschaltet. Die meisten Interviewpartner wurden durch die Multiplikatoren beigebracht. Im Oderbruch war es einfacher als in der Ziltendorfer Niederung, Auskunftswillige zu gewinnen. Das war zu einem gewissen Teil zu erwarten, nachdem unter den Bewohnern der Ziltendorfer Niederung im Jahr 1998 ein Streit um die Verwendung und Vergabepraxis der Spendengelder ausbrach, der auch in den Medien wahrgenommen wurde. Insgesamt wurden 23 Interviews durchgeführt, von denen 20 zur intensiven Auswertung kamen. Fünf Interviews wurden davon in der Ziltendorfer Niederung, die anderen im Oderbruch realisiert. Hier interessierte vor allem die Evakuierungszone 1, wo zehn Interviews durchgeführt wurden. In den Evakuie-

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rungszonen 2 und 3 wurden fünf Personen befragt. 21 Für die Auswertung ergab sich aus der ungleichgewichtigen Verteilung an Interviews aus der Ziltendorfer Niederung und dem Oderbruch die Konsequenz, dass letztere Region im Zentrum der Analyse steht. Dem Material aus der Ziltendorfer Niederung aber kommt große Bedeutung als kontrastierende Analyse zu. Die Interviews verfolgten das Ziel, biographische Identitätserläuterungen in narrativen Selbstrepräsentationen zu sammeln. Diese sind die materiale Grundlage für die vergleichende Analyse der darin dargestellten habitualisierten Rollenschemas, um der Funktion von Gemeinschaftbezügen nachzuspüren. Darum wurden die Interviews als biographische Erzählungen gestaltet. Das Design der Leitfragen zielte auf das eigene Erleben des Oderhochwassers 1997. Die Thematisierung der Gemeinschaft wurde damit nicht zwangsläufig vorgegeben. Die Kontextualisierung der individuellen Geschichten mit dem Bezug auf die Gemeinschaft – welche Form diese dann auch immer annahm – sollte bis auf wenige reflektierende Nachfragen dem individuellen Relevanzrahmen überlassen bleiben. Die Leitfragen bildeten einen gleichartigen Rahmen für alle Interviewinteraktionen. Jedoch bestimmte der nicht voraussehbare und unkontrollierbare Verlauf des Interviews, welche Fragen – insbesondere in der Nachfragephase – zum Einsatz kamen, was dem beschriebenen Verfahren nahe kommt, das von Hopf (2000: 351) als mittlere Variante zwischen der fixen Fragebatterie und der völlig offenen Gesprächssituation beschrieben wird. Die Leitfragen wurden erzählgenerierend formuliert und zielten also auf narrative Interviews. Die Einstiegsfrage, die in allen Fällen in diesem Sinne erfolgreich war, lautete: „Erzählen Sie bitte, wie Sie von der drohenden Oderflut erfahren haben und welche Vorstellungen Sie hatten, was auf Sie zukommen wird.“ Diese Frage erwies sich bis auf einen Fall als geeigneter Einstieg in eine chronologische Erzählung der Fluterlebnisse. Weitere vorformulierte, aber immer im Abgleich mit der Haupterzählung bedarfsweise gestellte Fragen richteten sich auf die Evakuierung und Beteiligung bei der Orts- und Deichsicherung, das Erleben der medialen Aufmerksamkeit, den Bezug zur Region, die Reflexion der Hochwasserereignisse in Polen und Tschechien sowie die Organisation des Erinnerns. In der Phase der Nachfrage wurden wie üblich aus der Haupterzählung beim Interviewer entstandene Fragen erörtert. Als Abschluss des Interviews wurde auf ein prägnantes Resümee der Fluterlebnisse mit der Aufforderung insistiert: „Wenn Sie sich an die Oderflut erinnern, wie würden Sie diese Zeit kurz kennzeichnen?“ Auch diese Frage, die den Interviewpartnern ein hohes Abstraktionsvermögen und Sprachkompetenz abverlangte, wurde ohne Probleme beantwortet. Worauf es bei den Fragen ankam, war, das Erzählen in Gang zu setzen und den abweichungsverstärkten Idiosynk21 Zu den Evakuierungszonen sowie der geographischen Lage des Oderbruchs und der Ziltendorfer Niederung siehe die Abbildungen 1 und 2 auf den Seiten 102 und 103.

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rasien ihren Lauf zu lassen. Der Bezug auf Gemeinschaft kann darum nur individuelle Formen haben, die in der jeweiligen Erzählung unter dem Zwang zur Kohärenz weitestgehend notwendig erscheinen. Im Vergleich mit anderen Erzählungen aber offenbaren diese Bezüge ihre Kontingenz. Die Auswertung der Interviews erfolgte in zwei Stufen. Zunächst wurde jedes Interview mittels Sequenzanalyse auf zwei Ebenen interpretiert. So wurde einerseits der Sinngenerierung in der Narration mit Sequenzanalyse nachgespürt und andererseits die sachlichen, sozialen und zeitlichen Referenzen in Anlehnung an die ethnographische Semantik (Maeder/Brosziewski 1997) erfasst. Letztere Analysetechnik war auch Grundlage der Kontextbestimmung anhand der massenmedialen Berichterstattung. Bei der Analyse von Sequenzen werden diese zunächst paraphrasiert, was der formulierenden Interpretation Bohnsacks ähnelt. Allgemein lässt sich durch die Paraphrase der Interpretationshorizont erweitern. Auf diese Weise sind dann Sinnzusammenhänge als Möglichkeiten zu bestimmen, die anhand der folgenden Sequenzen auf ihre Anschlüsse hin geprüft, als Möglichkeiten fortgeführt oder als Fehldeutungen gestrichen werden. Die Themen der Erzählungen und deren Ausgestaltung waren konstitutiv für die zweite Stufe der Auswertung, den Vergleich. Größere thematische Abschnitte lassen sich mit Akteuren, Umständen und Ereignissen, wie sie in den Selbstbeschreibungen vorkommen, erkennen. Diese Themen ermöglichen, die verschiedenen identitären Selbsterläuterungen zu koppeln und hinsichtlich der Forschungsfrage vergleichend zu analysieren. Der Vergleich der individuellen Thematisierung der Gemeinschaft, deren thematische Einbettung und symbolische Kennzeichnung sowie deren Kontextualisierung durch die Tropen der Erzählung öffnen zunächst den Analysehorizont für die Kontingenz der Existenz der Gemeinschaft. Darin wird ihr Funktionieren offenbar. Aber der Vergleich ermöglicht auch, die alltägliche Zufälligkeit der Gemeinschaft auf ihre latente Funktion hin zu verdichten, auf den allgemeinen Sinn des Gemeinschaftsbezuges. Indem die Kontingenz als Bereich des Möglichen sichtbar gemacht wird, öffnet sich der Blick auf die Typik des Gemeinschaftsbezuges jenseits alltäglicher aber diesseits funktionaler Relevanz. Die Interpretation lässt sich immer davon leiten, dass das erzählte Erlebte nicht das Erlebte selbst ist, egal welche Form die Narration annimmt. Immer handelt es sich bei den Erzählungen um narrative Konstruktionen des Ich mit Bezug auf ein Wir, das den Belangen der Ich-Konstruktion folgt. Aus den Überlegungen zur Identität folgt hier, die Kontextgebundenheit des Erzählten zu beachten, und zwar als Referenz und als Entwurf, wie ja auch mit Bruner und Fleisher Feldman (1996) deutlich wird. Die Identität bezieht sich im narrativen Entstehen auf eine fiktive Referenz, die sie mit ihrer erfolgreichen Narration als gelungene Herstellung kohärenter Sinnselektion bestätigt. Die Biographie kann enttautologisiert werden, in-

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dem auf externe Eindrücke von Geschehnissen verwiesen wird. Dass diese nicht allein dem Willen der narrativen Gestalt der Selbsterläuterung folgen, ist leicht nachprüfbar. In der Regel wird das Bewusstsein darüber auch noch vom unbedarftesten Gesprächspartner erwartet, wenngleich die Selbstdarstellung immer auch der unmittelbaren Interviewsituation folgt, das heißt auch vom Interviewer abhängt, worauf Nassehi und Saake (2002a) nachdrücklich hinweisen. Über dem abschließenden Vergleich aber, meint Vogd (2005) mit Bezug auf Bohnsack, ließe sich diese durch den Forscher provozierte Selbstdarstellung reflektieren. Aber schließlich kommt es nicht auf den individuellen Fall an, sondern auf die sich in einer Vielzahl von Fällen offenbarende soziale Funktion des Phänomens.

Gemeinschaft – Oder – Flut Das Oderhochwasser 1997 als Anlass für Gemeinschaft Bis zum Hochwasser an der Oder im Sommer 1997 war der ostdeutsche Grenzraum nach Polen nur wenig bekannt. Das änderte sich, als das Oderbruch und die Ziltendorfer Niederung infolgedessen für etwa vier Wochen zum Gegenstand massenmedialen Interesses wurden. Das Oderbruch, östlich zwischen Berlin und Oder gelegen, dehnt sich von Bad Freienwalde im Nordwesten über etwa siebzig Kilometer nach Lebus im Süden aus und erstreckt sich von der Oder etwa 15 Kilometer in westlicher Richtung. Lange Zeit wurde diese Landschaft von regelmäßigen Überschwemmungen der Oder im Herbst und im Frühjahr heimgesucht, wovon der Name beredtes Zeugnis ablegt.1 Erst mit der Verlegung und Eindeichung des Flusslaufes der Oder zwischen 1747 und 1753 gelang die Trockenlegung des Oderbruchs. Am 2. Juli 1753 verkürzte sich mit der Flutung des als neue Oder bezeichneten Kanals der Flusslauf um 25 Kilometer. Wenngleich sich zunächst Widerstand der vor allem vom Fischfang lebenden Bevölkerung regte, wurde Friedrich II. mit verschiedenen Standbildern später dankbar als Initiator gedacht.2 Ehe die im Frieden eroberte Provinz, wie Friedrich II. sich 1763 erinnerte3, tatsächlich als fruchtbares Ackerland aufblühen konnte, mussten neue Siedlungen und Dörfer angelegt, mussten Menschen angesiedelt werden, die vor allem als protestantische Religionsflüchtlinge aus dem süddeutschen Raum kamen. Aber auch Hugenotten waren unter den Neusiedlern.

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Der Name Oderbruch bedeutet Oder-Sumpfland (vom mittelhochdeutschen bruoch: Sumpf- oder Moorland). Impressionen zur Geschichte des Oderbruchs vor und nach der Trockenlegung finden sich bei Fontane (1997: 22 ff.). Das führt Fontane (1997: 34) an und auch bei Materna und Ribbe (1995: 138) findet sich ein Eintrag.

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Die Geschichte des Oderbruchs traf mit der Gegenwart im Jahr 1997 unmittelbar zusammen: Das Jubiläum der Trockenlegung vor 250 Jahren4 sollte mit zahlreichen Veranstaltungen im Verlaufe des Jahres begangen werden. Jedoch ließ das Sommerhochwasser zum Höhepunkt der Feierlichkeiten nicht mehr an das Fest denken, es sei denn als ironische Referenz. Anfang Juli 1997 trafen aus Tschechien und Polen die ersten Meldungen ein, die von starken Regenfällen und nachfolgenden verheerenden Überflutungen mit Todesopfern am Oberlauf der Oder, Neiße und Bober berichteten. In Brandenburg wurden daraufhin die Landwirte aufgefordert, das Deichvorland an der Oder zu räumen. Wegen der Todesopfer und der Versorgungsengpässe vor allem in Polen riefen die Länderchefs von Berlin und Brandenburg, Diepgen und Stolpe, zu Spenden auf. Die Prognose zum Verlauf des Hochwassers in Ostbrandenburg gestaltete sich schwierig. Das Umweltamt verbreitete vorsichtige Zuversicht trotz des erwarteten Pegelstandes von sechs Metern bei einem normalen jahreszeitlichen Mittel von etwa zwei bis drei Metern. Die größte Stadt an der Oder in Polen, Breslau, wurde vom Hochwasser am 13. Juli erreicht. Anhaltender Regen weichte die Deiche auch entlang des Oberlaufes der Oder auf. Am 16. Juli wurde in Potsdam ein Krisenstab einberufen. Schutzmaßnahmen in den angrenzenden Landkreisen und Städten begannen. Einen Tag darauf erreichte der Pegel am Zusammenfluss von Neiße und Oder bei Ratzdorf 6,20 Meter. In den ersten Orten Brandenburgs trat die Oder über die Ufer. Bislang erschien das Oderhochwasser noch als ein polnisches und tschechisches Problem, doch nun erreichte es den deutschen Osten. Nördlich von Eisenhüttenstadt rutschte an einigen Stellen der Deich.5 Weiterer Regen und die Öffnung der Rückhaltebecken in Polen führten zu einer zweiten Hochwasserwelle, die Ratzdorf am 21. Juni mit einer neuen Höchstmarke von 6,76 Meter erreichte. Einen Tag später begann die Evakuierung der Ziltendorfer Niederung. Dort brach zum ersten Mal am 23. Juli der Deich bei Brieskow-Finkenheerd auf einer Länge von 115 Metern, zum zweiten Mal am 24. Juli bei Aurith, wie in der Abbildung 1 zu sehen. Die Ziltendorfer Niederung wurde überschwemmt, doch die Oder stieg noch weiter.

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Eigentlich wurde der Beginn der Trockenlegung gefeiert: Am 17. Juni 1747 stimmt Friedrich II. dem Vorschlag zur Begradigung der Oder zu (Materna/Ribbe 1995: 134). Dabei sickert durch den enormen Druck, der etwa 6 t/m² betrug, Wasser durch den Deichfuß, woraufhin der Deichkörper zu schwimmen beginnt und große Abschnitte ins Rutschen geraten.

GEMEINSCHAFT – ODER – FLUT Ň 0

Abb. 1: Die Ziltendorfer Niederung

Quelle: MOZ 1998 Im nördlichen Oderbruch geriet der Deich bei Hohenwutzen am 25. Juli auf einer Länge von 45 Metern ins rutschen, konnte aber mit Sandsäcken gehalten werden. Daraufhin wurde in diesem Abschnitt die Evakuierung von 6500 Menschen angeordnet. In der Ziltendorfer Niederung waren bis dahin schon 2800 Menschen evakuiert worden. Ab dem 27. Juli begann man im Oderbruch, den rückwärtigen Ruhedeich an der alten Oder zu reaktivieren und auszubauen. Auch die Bewohner des südlichen Oderbruchs mussten sich nun auf eine Evakuierung vorbereiten. Nachdem bei Hohenwutzen am 29. Juli noch ein Deichrutsch verhindert werden konnte, war der Deich am 30. Juli nicht mehr zu halten. In dieser kritischen Situation gelang es jedoch erneut, diese Stelle zu sichern. Auch bei Reitwein rutschte der Deich am 31. Juli, konnte aber ebenfalls gehalten werden.

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Abb. 2: Das Oderbruch

Quelle: MOZ 1998 Ab dem 1. August sank der Pegel der Oder langsam. Am 3. August wurden zum letzten Mal Deichschäden bei Hohenwutzen gemeldet. Im Süden der gefährdeten Region, bei Ratzdorf, wurde mit den Aufräumarbeiten begonnen. Die Evakuierung des nördlichen Oderbruchs wurde am 9. August aufgehoben. Seit dem 11. August trieb die Bundeswehr die Schließung der Deichbrüche in der Ziltendorfer Niederung voran und konnte diese sieben Tage später provisorisch schließen. Alle Grenzübergänge nach Polen waren spätestens seit dem 11. August wieder geöffnet. Das Hochwasser der Oder brachte viele Menschen als Helfer in den Osten Deutschlands. Hilfe bei der Oderflut kam vor allem von der Bundeswehr mit etwa 30.000 Soldaten. Außerdem waren 3.500 Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS), 6.560 Mitarbeiter des Technischen Hilfs-

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werkes (THW) und täglich 1.500 Polizisten im Einsatz. Die 700 Angehörigen der Feuerwehren aus den umliegenden Gemeinden wurden von weiteren 1.400 Feuerwehrleuten beim Kampf gegen das Hochwasser unterstützt. Andere Behörden und Organisationen stellten zusätzlich etwa 1.100 Einsatzkräfte. Schließlich wurden noch 500 Freiwillige gezählt. Der Schaden des Hochwassers und die Kosten für die Helfer wurde unmittelbar danach auf etwa eine Milliarde (MOZ 1997: 47), später auf 500 Millionen Mark geschätzt (MOZ 22./23.11.1997)6. Der Bund und das Land Brandenburg übernahmen den größten Teil dieser Kosten. Angeregt durch die massive Berichterstattung der Massenmedien, die es in diesem Ausmaß vorher noch nicht gegeben hatte, fühlten sich viele zu umfangreichen Spenden aufgerufen. Die Spendensumme belief sich auf 130 Millionen Mark7, wobei es außerdem auch zu unkonventionellen direkten Geldgeschenken kam. Während des Oderhochwassers wurden im Oderbruch – abhängig von der Höhenlage und dem daraus resultierenden Gefährdungsgrad – drei Evakuierungszonen, wie sie in Abbildung 2 zu erkennen sind, eingerichtet. Dabei war der nördliche Teil der am meisten gefährdete. Entsprechend dieser Einteilung wurden Interviewpartner aus allen drei Regionen gewonnen, wobei der Schwerpunkt, wie oben dargelegt, auf der nördlichen Region lag. Als Kontrast zu den Erzählungen der Bewohner des Oderbruchs wurden Interviews mit den von der Überflutung der Ziltendorfer Niederung Betroffenen durchgeführt. Doch bevor die Bewohner des Oderbruchs und der Ziltendorfer Niederung mit ihren Erlebnissen selbst zu Wort kommen, sollen einige relevante Massenmedien mit ihren Darstellungen analysiert werden.

Oderflut – Medienflut Die Massenmedien, allen voran das Fernsehen, waren seit den ersten kritischen Meldungen vom Hochwasser auf deutscher Seite, spätestens aber seit der Überflutung der Ziltendorfer Niederung ständig an den Brennpunkten der Oder und im betroffenen oder bedrohten Hinterland präsent. Der damalige Regionalsender Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB)8 richtete die Sonderredaktion „Deichprotokolle“ ein, alle größeren

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Derart zitierte Zeitungen beziehen sich auf die jeweilige Tagesausgabe. Davon erhielt das Land Brandenburg circa 50 Millionen Mark, der übrige Teil wurde nach Polen und Tschechien weitergeleitet (MOZ 9.3.1998). Seit Mai 2003 sind die ehemaligen ARD-Rundfunkanstalten „Sender Freies Berlin“ (SFB) und „Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg“ (ORB) zum „Rundfunk Berlin-Brandenburg“ (RBB) fusioniert.

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öffentlichen oder privaten Sender berichteten vor Ort und durchaus mit dramatischem Gestus.9 Die ständige und massive Berichterstattung in ihrer zeitlichen und sachlichen Unmittelbarkeit drängte sich den Betroffenen als eine bis dahin ungeahnte Reflexionsmöglichkeit auf. Die Betroffenen wurden dabei als personalisierte Referenz der Nachrichten präsentiert, wobei jenen klar war, dass die Massenmedien deutschland- und sogar weltweit über die Belange der Einwohner der Oderregion berichteten. Damit war die Person der Nachricht auch Repräsentant der Leute an der Oder. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die massenmedial hergestellte Reflexion Auswirkungen auf den Gemeinschaftsdiskurs hatte, diesen antrieb und erweiterte. Jedoch war dieser Umstand und der tatsächliche Einfluss auf die gemeinschaftliche Kommunikation nicht unmittelbar zu beobachten. Erst die Berichte der Betroffenen lassen Rückschlüsse auf die Wirkung der Medien zu. Als die Interviews mit den vom Hochwasser Betroffenen zwischen Januar und August 1998 durchgeführt wurden, ging es nicht um tatsächliche Erlebnisse, sondern um relevante Ereignisse, wie sie erinnert wurden.10 Für die individuelle Repräsentation der Ereignisse erscheinen jedoch die gleich nach dem Rückgang des Oderhochwassers einsetzenden medialen Rückblicke wichtiger. Mehr noch als die Berichte während des etwa vier Wochen dauernden Hochwassers auf der deutschen Seite der Oder haben die medialen Retrospektiven den Kontext bereitgestellt. Vor diesem mussten die jeweils individuellen Erlebnisse präsentiert werden, denn jeder konnte davon wissen, dieses Wissen voraussetzen und erwarten, danach gefragt zu werden. Hier wurde im Grunde die Kanonisierung der Ereignisse betrieben, auf die sich ein kollektives Gedächtnis als Grundlage weiterer Verständigung berufen konnte.11 Jeder Interessierte konnte nun schließlich von den in den Massenmedien dargestellten Ereignissen wissen. Diese massenmediale Aufbereitung fiel unmittelbar mit der Erhebung der Inter-

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Darüber haben sich nicht zuletzt Zeitungsjournalisten beschwert (MOZ 1997: 13, Sonntag Aktuell 4.11.2001). Über die Erfahrungen als Journalist gibt Grieger (2000) Auskunft. 10 Dass es bei den Narrationen, wie lange vor allem in der Biographieforschung erhofft, nicht um die Rekonstruktion der Diskrepanz zwischen erlebten und erinnerten Ereignissen geht, ist in der jüngeren Narrationsforschung anscheinend unumstritten (Lucius-Hoene/Deppermann 2002). 11 Den Kanon als kollektives Gedächtnis hat bekanntlich Assmann (1999) beschrieben, wobei hier wohl am ehesten die Form des bildlich-abstrakten Kanons passen dürfte (113), auf den die individuellen Erlebnisse bezogen werden konnten und mussten. Der Vorgang der Herstellung ist auch als Wissensproduktion im Sinne Willkes (2002: 14), nämlich als Praxis kommunikativer Konstruktion und Konfirmierung zu beschreiben, wenn unweigerlich spezifizierte Aspekte des Ereignisses, prominent durch Massenmedien ausgestellt, durch wiederholenden Bezug bestätigt werden.

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views zusammen und war darum der eigentliche Kontext der narrativen Selbstpräsentationen. Hier kamen dann auch Printmedien zum Zuge. So gab die Märkische Oderzeitung (MOZ) am 28. August 1997 (MOZ 1997), also nur zehn Tage nach dem provisorischen Schließen des Deichbruchs bei Aurith in der Ziltendorfer Niederung, eine Dokumentation heraus.12 Diese Dokumentation enthält eine Auswahl an Artikeln in leicht veränderter Form, die während der vorausgehenden sechs Wochen in den regulären MOZ-Ausgaben veröffentlicht wurden. Auch die ORB-Sonderredaktion „Deichprotokolle“ stellte schon am 16. August 1997 eine Rückschau unter dem Titel „Deichprotokolle. Die Oderflut – Protokoll einer Katastrophe“ zusammen. Weiterhin gab der Landkreis Märkisch-Oderland im November 1997 eine eher technisch gehaltene Broschüre mit vielen Bildern zur Deichsituation während des Hochwassers heraus (Künkel 1997). Um den Kontext der Erzählungen zum Oderhochwasser 1997 seinem Gehalt nach einzuschätzen, wurde vor allem auf die MOZ-Dokumentation und die ORB-Sendung (ORB 1997)13 zurückgegriffen. Außerdem wurden die regulären Beiträge in der MOZ mit Bezug auf das Oderhochwasser zwischen Oktober 1997 bis zum Bericht über das Gelöbnis der Bundeswehr in Wriezen, der „Oderbruchhauptstadt“, am 17. August 1998 einbezogen. Die Dokumentationen befassten sich mit den markanten Ereignissen des Hochwassers, gepaart mit persönlichen Portraits und einigen redaktionellen Kommentaren. Die nachfolgenden Beiträge in der MOZ berichteten zum Stand der Deichrekonstruktion, zu den Verbesserungen der Schutzmaßnahmen und den Problemen bei deren Finanzierung sowie dem Gedenken an die vergangene „Flut“. Die Beiträge der Dokumentationen sind bei den ORB-„Deichprotokollen“ strikt an einer Tages-Chronologie orientiert, die bei der MOZ-Dokumentation hin und wieder durch den Lokus der jeweiligen Ereignisse durchbrochen wird. Die inhaltsanalytische Diskussion orientiert sich jedoch im Sinne des Ursprunges der meisten Beiträge in der täglichen Berichterstattung an der Chronologie. Dadurch tritt die thematische Abfolge in beiden medialen Darstellungen als eine Entwicklung der Wahrnehmung des Ereignisses hervor. Die ersten Berichte zum Hochwasser in Südpolen, Tschechien und Ostösterreich waren schon verknüpft mit den Auswirkungen auf die deutsche Oderregion. Diese Berichte können zum Themenkreis „Erwartungen“ geordnet werden, zu dem auch die Ursachenklärung und daran anschließende Berichte zu den eingeleiteten Schutzmaßnahmen gehören. Die „Erwartungen“ wurden im weiteren Verlauf von den emotionalen Berichten über die „Überflutung“ und die „Evakuierungen“ abgelöst. Diese Themen wurden fortgeführt, als die Berichte über die 12 Später wurde diese als Multidmedia-CD-ROM (MOZ 1998) veröffentlicht. 13 Ausschnitte aus den Beiträgen der ORB-„Deichprotokolle“ fanden auch Eingang in die CD-ROM-Fassung der MOZ-Dokumentation (MOZ 1998).

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wichtigsten Helfer, die „Bundeswehr“, und den „Kampf“ an den Deichen der Oder die dominierenden Themen markierten. Zum Höhepunkt des „Kampfes“, den überaus kritischen Situationen an den Oderbruchdeichen zur Zeit der zweiten Hochwasserwelle Ende Juli, wurde die „Gemeinschaft“ zum Thema. Die Berichte zum Hochwasser klangen schließlich mit dem Thema „Aufräumen“ aus.

Erwartungen und Maßnahmen Die MOZ-Dokumentation zur Oderflut begann mit einem Beitrag, der auf den 9. Juni 1997 datiert war. Dabei handelte es sich um einen exemplarischen Artikel zu den Auswirkungen des Unwetters in Polen, Tschechien und Österreich.14 Die dortige Katastrophe sei aber nicht nur der Natur anzulasten, sondern allenthalben wird behördliches Versagen, Hilflosigkeit angemahnt. Trotz der enormen Schäden erwarteten die Brandenburger Behörden, dass das Oderhochwasser „glimpflich an Ostbrandenburg vorbeirauscht“, wenn es nicht länger als zwei Woche anhält. Im Vergleich mit Hochwassern der Vergangenheit würde dieses weniger stark ausfallen, jedoch seien die Informationen aus Polen zu ungenau für Prognosen; die behördliche Zusammenarbeit sei nicht optimal. Zuversichtlich gingen alle Protagonisten von der Stabilität der Deiche auf deutscher Seite und einer genügend langen Vorbereitungszeit aus. Außerdem seien die „Einwohner des Oderbruchs […] an Hochwasser gewöhnt“ (9.7.1997: MOZ 1997: 4)15. Als äußerste Möglichkeit wurde eine Überschwemmung für möglich gehalten, ähnlich der von 1947, bei der das ganze Oderbruch infolge eines Deichbruches bei Reitwein während des Winterhochwassers (zum letzten Mal) unter Wasser stand. Die ORB-„Deichprotokolle“ hoben ihre tageschronologischen Berichte mit der Gegenüberstellung der sommerlichen „Idylle“ in Deutschland und dem Dauerregen im Oder-Quellgebiet an. Die Behörden sahen demnach noch am 14. Juli keine Katastrophe auf sich zukommen, weil sie auf eine Entspannung durch Überflutungen südlich Breslaus hofften. Weitere Beiträge berichteten davon, dass sich die Einwohner des Oderlandes von der Hochwassergefahr nicht schrecken ließen. Zwar stiegen die Pegel, aber immer noch erschienen vergangene Hochwasser bedrohlicher. So nutzte der Wirt einer Kneipe die Gelegenheit, zum „Pegeltrinken“ ein14 Tatsächlich fanden sich weit mehr Beiträge in den tagesaktuellen Ausgaben der MOZ zur Situation im Quellgebiet von Oder und Neiße sowie zu den betroffenen Regionen, insbesondere Polens, wenn auch im Vergleich zu regional bezogenen in geringerer Anzahl. Der Tenor der Artikel stimmt jedoch weitestgehend mit dem hier vermittelten Eindruck von Desorganisation, Hilflosigkeit und behördlichem Versagen überein. 15 Diese Quellenangaben verweist auf die mit den angegebenen Daten markierten Beiträge in der Dokumentation der Märkischen Oderzeitung zur Oderflut (MOZ 1997).

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zuladen, hielt das ORB-“Deichprotokoll“ fest; der Preis des Bieres stieg dabei mit dem Pegel des Flusses. Vor allem die älteren Bewohner der flussnahen Orte blieben ruhig, während die behördlichen Schutzmaßnahmen im Stillen anliefen. Das kommende Hochwasser wirkte in den ersten Tagen als Gesprächsanlass zum Austausch über die HochwasserErlebnisse in der Vergangenheit, wobei die Überschwemmungen von 1930 und 1947 sowie die Hochwasser von 1977 und 1980 immer wieder benannt wurden. Es wird sogar berichtet, dass nördlich des Oderbruchs, in der Uckermark, auf die Überflutung der Polderflächen als touristische Attraktion gehofft wurde (13.7.1997: MOZ 1997: 5). Wirklich sorgten sich die Leute lediglich um ihre Äcker und Gärten, weil deren Ertrag bei steigender Bodenfeuchte abnehmen würde. Um so mehr der Oderpegel stieg und die Bedrohung anhielt, desto mehr mischten sich Sorgen und Ängste in die Beiträge über die OderlandBewohner. Gemeinsam mit den Helfern von THW und Feuerwehr begannen die Einwohner, die Deiche vor den „brodelnden Wassermassen“ (25.7.1997: MOZ 1997: 30) zu sichern. Auch wurde von Orten berichtet, die auf sich allein gestellt waren. Vorwürfe gegenüber den Behörden und Ämtern wurden laut, zu spät und nicht genügend Schutzmaßnahmen eingeleitet zu haben. Die ORB-„Deichprotokolle“ zeigten dazu aufgebrachte Frauen aus der Ziltendorfer Niederung, die mehr behördliche Hilfe und Unterstützung von „kräftige[n] junge[n] Männer[n]“ der Bundeswehr beim Sandsackschippen forderten, denn die Leute im Dorf seien „am Ende“. Die Gefühle der Bedrohung schienen darin zu kulminieren, vor einer an Polen erinnernden Situation zu stehen. Die Konfrontation des damaligen Ministerpräsidenten Brandenburgs, Stolpe, mit Frankfurter Einwohnern, die sich auf sich allein gestellt fühlten, oder ein weiteres Beispiel in den „Deichprotokollen“ aus dem überfluteten Fürstenberg, einem Stadtteil Eisenhüttenstadts, machen das deutlich. Die MOZ kommentierte dazu, dass jedoch nur wenige Tage zuvor auch keiner der Einwohner die drohende Gefahr ernst genommen hätte. Dagegen sind Berichte von Eigeninitiative und vom Willen der Einwohner zum gemeinsamen Anpacken gestellt, wobei immer wieder auch Personen und deren Geschick vorgestellt wurden (20.7.97: MOZ 1997: 22). Als die Situation in der Ziltendorfer Niederung ernster wurde, vermittelten die Einwohner im Oderbruch immer noch Zuversicht bis Sorglosigkeit, die der MOZ als zu große Gelassenheit erschien, wenn die Deichläufer bei ihren Rundgängen gleich noch auf Bleifang aus waren. Geschäftigkeit wurde nur von den anrückenden Helfern des THW verbreitet (25.7.1997: MOZ 1997: 30). Aber das, wird suggeriert, entspricht wohl dem Naturell der Oderbrüchler, wenn die MOZ die Geschichte erzählt von einem wie aus dem „Bilderbuch: groß, stämmig, Rauschebart, die Schiebermütze sitzt auf dem Hinterkopf“ (25.7.1997: MOZ 1997: 29), der sein Unternehmen in Ruhe sichert. Dass die Situation nun auch im Oderbruch ernster wurde, verdeutlichten später die Deichläu-

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fer, die jetzt wirklich im Einsatz, abgekämpft und übermüdet waren. Die Ehefrauen der Männer wurden hingegen als verzweifelt oder trotzig hoffend geschildert. Man befand sich nun im „Abwehrkampf“ (25.7.1997: MOZ 1997: 29). Die Erwartungen wurden meistens mit Hinweisen auf laufende Schutzmaßnahmen begleitet. Dabei wurde betont, dass Menschen und Material ausreichend und einsatzbereit zur Verfügung ständen; überhaupt wurde hier viel mehr die menschliche Anstrengung betont. Eine Geschichte über die Vorbereitung zur Evakuierung eines Kinderheims in der Ziltendorfer Niederung machte persönliche Anteilnahme möglich. Einigen Platz beim Bericht nahm die Aktivierung des Schlafdeiches im Oderbruch entlang der Alten Oder ein. Dagegen regte sich einiger Protest, so dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei einem Besuch vor Ort versichern musste, dass die „Deichlinie […] verteidigt“ (22.7.1997: MOZ 1997: 31) wird. Dabei sei der Schlafdeich die „zweite Verteidigungslinie“, erklärte die MOZ, bei deren Bruch es zum „Super-GAU“ käme (25.7.1997: MOZ 1997: 29). Im ORB-Protokoll stellt sich Kohls Besuch weniger als Reaktion denn Aktion dar, als er der Ratzdorfer Bürgermeisterin zuruft: „Ihr seid nicht allein“, und dem anwesenden BundeswehrOffizier direkte Anweisungen gibt, alles zum Schutz Nötige zu unternehmen. Mit den warnenden Worten des damaligen brandenburgischen Umweltminister Platzeck und des Innenministers Ziel vermittelten die „Deichprotokolle“ den Eindruck, dass die Verantwortlichen im Land auf der Höhe der Zeit waren. Der MOZ-Bericht über den Potsdamer Krisenstab stellt einen deutlichen Kontrast zu den behördlichen Verhältnissen anderswo (was hier vor allem Polen heißt) dar, wenn dieser als „klarer Kopf“ der „Hydra der Helfer“ beschrieben wird, der immerzu die „Flutfront“ oder die „Hochwasserfront“ im Blick behält. Dabei ist die Stimmung im Krisenstab „toll“, wenngleich dessen Mitglieder ebenfalls überarbeitet aussehen (29.7.1997: MOZ 1997: 34). Ein redaktioneller Geschichtsüberblick über vergangene Hochwasser und über die Ursache des Sommerhochwassers, angefangen beim Treibhauseffekt bis zu den kranken Wäldern im Quellgebiet der Oder, lieferten Vorlagen für Flut-Erwartungen. Die Berichte über die Erwartungen und Maßnahmen leiteten über zu den Berichten von Überflutung und Evakuierungen, wobei sich diese auch zunehmend mit dem Thema der Hilfe, des Kampfes und der Gemeinschaft mischten.

Überflutung und Evakuierung In der dritten Juliwoche stand zunächst eine tief gelegene, odernahe Straße in Frankfurt (Oder) unter Wasser. Die Einwohner ertrugen das mit Fassung. Dramatisch wurde die Situation einige Tage später in der Ziltendor-

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fer Niederung, als der Versuch, den Finkenheerder Deich zu reparieren, scheiterte und auf 115 Metern aufriss, was in den „Deichprotokollen“ mit Bildern der Bruchstelle veranschaulicht wurde. Die Einwohner, die sich nicht recht informiert fühlten, weigerten sich noch am Vorabend, der Evakuierungsanordnung nachzukommen. Nun wurde Zwangsevakuierung in dramatischen Szenen vollstreckt. Nur einige Feuerwehrleute blieben noch in Aurith am Deich. Aus Frankfurt (Oder) berichtete die MOZ vom stabilen Zustand der Kaimauer. Wasser drang lediglich aus Gullys heraus und flutete einige Keller, unter anderem den der MOZ-Redaktion. Als der Deich bei Aurith brach, kulminierte die Lage in der Ziltendorfer Niederung und die MOZ stellte mit begleitender Fotodoppelseite fest: „Die Natur hat gesiegt“. Ungeschützt legte sich das einströmende Oderwasser „wie ein braunes Leichentuch“ über die Niederung und verwandelte sie in einen „riesengroßen Binnensee“ (25.7.1997: MOZ 1997: 19). Die ehemaligen Bewohner seien bloß mit dem Nötigsten auf der Flucht oder wurden von ortsfremder Polizei zwangsevakuiert. Auf den schnell verordneten Rückzug der „Retter“ reagierten die Einwohner enttäuscht, jedoch sei die „Gesamtlage […] kriegsentscheidend“ (25.7.1997: MOZ 1997: 23), wurde ein Bundeswehr-Kommandeur zitiert. In den „Deichprotokollen“ hieß es dazu, die „Sandschlacht mit der Oder ist verloren“. Am 26. Juli zeigten die „Deichprotokolle“ den Umweltminister bei einer Pressekonferenz, wie er seinen Eindruck zu den Ereignissen mit den Worten einführte, „wir sind uns ja einig, dass wir hier viel mit militärischen Begriffen arbeiten“, um zu dem Schluss zu kommen, beim Deichbruch handele es sich um einen „Angriff der Natur“. Die enttäuschten Bewohner der Ziltendorfer Niederung machten sich derweil mit der Vermutung Luft, sie seien für die nördlich gelegene Stadt Frankfurt (Oder) geopfert worden. Nur einige Bewohner Wiesenaus am Rande der Niederung „trotzen noch der Staatsgewalt“, denn hier „will man weiter kämpfen. Allein gegen den Staat und die Flut“ (25.7.1997: MOZ 1997: 23). Gegen diesen eher ungeordneten Eindruck im „Tal der Tränen“ fand sich der Bericht über die Schutzaktion in einem Nachbarort „im Kriegszustand“. Sämtliche Einwohner, tausend Bundeswehrsoldaten und andere Helfer waren begeistert als „gewaltige Menschenkette“ am Sandsackplatz versammelt und sicherten ihren Ort an der „Deichfront“ als „letztes Bollwerk gegen die heranbrausende Flut“. Weiter im Norden bereiteten sich die Uckermärker, von denen einige noch kurz zuvor auf die Flut als Touristenattraktion hofften, mit ruhiger Zielstrebigkeit vor, ohne dass die Massenmedien davon groß Notiz genommen hätten. Und die MOZ erklärte mit Bezug auf einen Verantwortlichen diesen Umstand wieder mit einer ethnographischen Petitesse: die Leute seien hier eben „fleißig, arbeiten ruhig und reden nicht viel darüber“ (8.8.1997: MOZ 1997: 31).

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Mit der Überflutung stand das Thema Evakuierung eng im Zusammenhang. Hier dominierten Geschichten über die anfängliche Weigerung zur Evakuierung über die notdürftige Sicherung der Habe und dem hektischen und erzwungenen Aufbruch in der Ziltendorfer Niederung. Dort war dieser von Resignation und Enttäuschung über den „verlorenen Kampf“ begleitet, die sich mit Misstrauen gegenüber möglichen Plünderern mischte, wie die MOZ zitierte, die „bei jedem Wasser rüber gekommen“ (23.7.1997: MOZ 1997: 16) seien. Aber die Zeitung beließ es dabei und benannte nicht die hier parat liegenden antipolnischen Vorurteile. Im Gegensatz zu den Menschen aber versuchten sich die Tiere in Sicherheit zu bringen, wie die „Deichprotokolle“ am Beispiel eines über die überflutete Straße rudernden Maulwurfs zeigten. Die Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung fanden ihre Fortsetzung in der MOZ-Dokumentation über gelassenere Reaktionen im Oderbruch. Die „Deichprotokolle“ zeigten dagegen ein ambivalenteres Bild. Zwar streckte niemand die Waffen in Verzweiflung, aber die Beteuerung des Kampfeswillens und auch die Zuversicht aus vergangener Weltkriegserfahrung schienen davon nicht weit entfernt zu sein.16 Eine Episode der „Deichprotokolle“ zeigte am Beispiel der Evakuierung Altreetz’ auch hierbei erhebliches Spannungspotential, das selbst den damaligen Brandenburger Bauminister traf, als gegen Mitternacht Polizei versuchte, die Einwohner zur Evakuierung zu bewegen. Später meldeten die „Deichprotokolle“, wo einige Altreetzer unterkamen. Jedoch ging noch längst nicht alles reibungslos im Hochwassermanagement. Als der Deich bei Hohenwutzen beinahe brach, überschlugen sich widersprechende Informationen. Aufgebrachte Einwohner lieferten sich an den gesperrten Zufahrten ins Evakuierungsgebiet heftige Debatten mit der Polizei. Die MOZ-Dokumentation präsentierte außerdem Einzelschicksale und die Schwierigkeiten von Unternehmen durch die Evakuierung. Insbesondere Frauen wurden auch hier eher als passiv beschrieben, nämlich als evakuiert, besorgt und wartend (3.8.1997: MOZ 1997: 30).

Helfer, Soldaten und Gemeinschaft Als die Bundeswehr ins Geschehen eingriff, stellte die MOZ erst einmal deren spartanisch eingerichtete, aber gerade deshalb effiziente Führung vor. Den anderen Helfern sei sie technisch überlegen, und obwohl sie sich auf Neuland bewegte, hätte sie den „Praxistest“ ohne Pannen, wie sie bei den anderen vorkamen, bestanden. Für die Truppenführung „macht es kei-

16 Gerade für die Oderbrüchler waren die Interviews mit Einheimischen denkwürdig, wurden dabei doch nicht selten die kuriosesten Einwohner als Vertreter der Oderland-Leute präsentiert. Und so war es auch in den „Deichprotokollen“, wo einer älteren Interviewten nicht die Zuversicht, aber offenbar die Zähne fehlten.

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nen Unterschied, ob man gegen einen Feind oder gegen die Flut verteidigt“ (25.7.1997: MOZ 1997: 35). Schon zwei Tage später waren Hubschrauber beladen mit Sandsäcken: „das Symbol im Kampf gegen die Fluten“. Diese Maschinen wurden wie überdimensionale Insekten beschrieben, deren unbändige Kraft von den Soldaten perfekt beherrscht wird. Bei all dem aber zeigte sich die Armee fähig, mit zivilen Fachleuten zusammenzuarbeiten. Die eigenen Kräfte wurden dabei nicht geschont. Aber der Deich riss trotzdem. Jedoch gaben die Soldaten nicht auf. Unterstützt von Einheimischen, die eigentlich evakuiert sein sollten, arbeiten sie am Deich. Mancher der Einheimischen zeigte Bewunderung für diesen Einsatz der Soldaten (31.7.1997: MOZ 1997: 24-25). Aber auch andere Helfer, wie BGS, Feuerwehr und THW wurden von der MOZ, wenn auch kürzer, vorgestellt. Beim Einsatz kamen sich die westdeutschen Helfer und die ostdeutschen Einwohner schnell näher. Der Einsatz lohnte sich, denn die „Deichverteidiger gewinnen [den] Kampf gegen [die] Naturgewalten“. Die „Spitzenleistung“ der „beteiligten Kräfte“ wandte das Schicksal des Oderbruchs, das nur noch am „seidenen Faden“ hing, in einer „Materialschlacht gegen scheinbar allmächtige Naturgewalten“, denen mit „Rieseneinsatz und eiserner Disziplin getrotzt“ wurde (27.7.1997: MOZ 1997: 26). Die „Deichprotokolle“ fassten den Erfolg mit dem Hinweis zusammen, dass es vorher noch nie gelungen war, einen derartig labilen Deich zu retten. Gleichzeitig wurde weiter von der Reaktivierung des Schlafdeichs als „zweite Verteidigungslinie“ berichtet. Und auch die von zahlreichen Helfern aufgeschichteten „Verteidigungslinien“ wie in Frankfurt (Oder) und andernorts waren im „Hochwasserkampf“ erfolgreich, weiß die MOZ (27.7.1997: MOZ 1997: 27) zu berichten. Im Kampf scheinen die Betroffenen zusammenzuwachsen. Immer mehr hoben die Berichte die „Gemeinschaft“ der Oderlandbewohner und ihrer Helfer hervor, ob in den bedrohten Orten, auf dem Sandsackplatz oder am Deich. Wurde zuerst noch von Katastrophentouristen berichtet, die auch als Bedrohung der Gemeinschaft verstanden werden konnten, dominierte jetzt der Zusammenhalt. So erfuhren die Helfer die Unterstützung der Einwohner, wenn auch diese „bis zur Erschöpfung“ die „harte Knochenarbeit“ mitmachten. Die MOZ bemerkte dazu mit Bezug auf Erfahrungen in der jüngsten Vergangenheit, die Not „brachte die Einwohner einander noch näher. Solidarität und Hilfe für den anderen, wie man sie eigentlich immer kannte und die vielleicht in den letzten Jahren ein bißchen abhanden gekommen ist, bekommen wieder einen ganz konkreten Sinn“ (28.7.1997: MOZ 1997: 40). Wie eng das Verhältnis während dieser Tage wurde, zeigte die MOZ mit Berichten über Hochzeiten auswärtiger Helfer am Einsatzort und über entstandene Liebesbeziehungen am Deich als Kraftspender in „gefährlichen Zeiten“ (MOZ 1997: 18). Und die „Deichprotokolle“ berichteten von einem Kuchenfest, das die einheimi-

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schen Frauen den Soldaten bereiteten. Die Gemeinschaft bewies sich aber auch an der deutschen Spendenbereitschaft. Ausführlich gingen die „Deichprotokolle“ auf die Beschwörung der Gemeinschaft ein. Der ehemalige Bundeskanzler Kohl wurde während seines zweiten Besuchs gezeigt, als er Mut machen wollte bei der ersten „Heimsuchung“ der Deutschen nach der Herstellung der Einheit vor sieben Jahren, wobei alle Deutschen die Flut als gemeinsame Aufgabe begreifen müssten. Auch Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe wurde gezeigt, wie er mit fast denselben Worten für die schon geleistete Unterstützung dankte. Andere Politiker, die an der Oder erschienen, kamen – bis auf Oscar Lafontaine – nie ohne guten Grund. Letzterer bot lediglich eine SPD-Gesetzesinitiative und ansonsten vor allem Autogrammkarten „für die geleistete Arbeit“ feil. Die Leute auf dem Sandsackplatz vermuteten hinter den Prominentenbesuchen ohnehin „Wahlkampf“, wie die „Deichprotokolle“ festhielten. Die kurzen „Deichprotokoll“-Episoden zu den prominenten Politikern und Besuchern während der Flut fanden ihr Pendant in den Portraits der MOZ-Dokumentation. Hier wurden die Tatkraft, Einsatzbereitschaft und Tugenden von Platzeck (MOZ 1997: 36), Ziel (40) sowie dem Chef des Landesumweltamtes, Freude (34), oder auch des zuständigen BundeswehrKommandeurs Generalmajor von Kirchbach (37) betont und deren Vita präsentiert.

Aufräumen Nachdem die Pegel der Oder begannen zu sinken, konnten die Medien vom „Aufräumen“ berichten. Die Sandsackwälle wurden – soweit möglich – von den Helfern abgebaut, der Sand ausgeschüttet und die leeren Säcke sortiert. Mancherorts wurde überlegt, diese gleich als Baumaterial für die zu rekonstruierenden Deiche zu nutzen. Die Aufhebung der Evakuierung wurde als „Erlösung“ empfunden. Die Rettung des Deiches schätzten viele als „Wunder“ ein. Nachdem die „Katastrophe verhindert“ (9.8.1997: MOZ 1997: 42) wurde, wich die Anspannung und machte einer Dankbarkeit für die Helfer Platz. Das Leben kehrte zurück, die nächste Aufgabe nach dem Aufräumen war, die Dämme zu verstärken. In der Ziltendorfer Niederung ging es jedoch nicht so schnell voran. Hier waren die Aufräumarbeiten, die Beseitigung von Schlamm, Öl und Wasser nur mit einem „Großaufgebot von Helfern“ zu meistern. Gerade das Heizöl erschien als „tickende Zeitbombe“ (6.8.1997: MOZ 1997: 41). Die „Deichprotkolle“ berichteten jedoch von einem besseren Zustand des Wassers als vermutet. Trotzdem würde die Sanierung hohe Kosten verursachen. Mit Booten des THW besuchten die Einwohner ihre immer noch im Wasser stehenden Häuser. Es bot sich ihnen das „Chaos nach der Flut“. Sowohl die MOZ-Dokumentation als auch die „Deichprotokolle“ berichteten an konkreten Beispielen, wie das Wasser Besitz und Erinnerungen zer-

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störte. Die Versicherungsleistungen reichten oft nicht aus, um die Schäden zu reparieren. Gleichzeitig fühlten sich die Einwohner der Ziltendorfer Niederung schlecht über die Vergabe der Hilfsgelder informiert, nur die Mundpropaganda funktionierte (15.8.1997: MOZ 1997: 43). Einig war man sich darin, dass die ARD-Spenden-Gala im Fernsehen „toll“ war. Die jeweils letzten Flut-Berichte von der MOZ als auch vom ORB befassten sich mit der Errichtung des Notdeiches in der Ziltendorfer Niederung bei Aurith, die einerseits die gewaltige Technik der Bundeswehr herausstellte (ORB 1998), andererseits betonte, dass davon die Zukunft der Niederung abhinge. Dass es eine Zukunft geben wird, hatten der damalige Umweltminister Platzeck und der Ministerpräsident Stolpe schon klar gestellt: Renaturierung des Oderbruchs oder der Ziltendorfer Niederung, wie es manche Umweltverbände forderten, würde es nach all den Anstrengungen nicht geben. Jedoch müssten die Bedenken des Umweltamtes bei zukünftigen Baugenehmigungen stärker berücksichtigt werden. Vor allem um die Rekonstruktion und die Verstärkung des Oderdeiches ging es dann in den kommenden Monaten in der MOZ (7.10.97, 8.10.97, 21.11.97, 22./23.11.97, 24.11.97, 23.1.98, 30.1.98). Damit hingen auch immer wieder die Debatten um die Einschränkung der Nutzung des Deichvorlandes zusammen, wobei hier teilweise von heftigen Diskussionen berichtet wurde. Einigen Raum nahm die Berichterstattung zum Wettbewerb für ein Flut-Denkmal und die Juryentscheidung ein (MOZ 30.1.98). Außerdem wurde von Auszeichnungen für die „Helden der Stille“, den Deichläufern, berichtet (MOZ 26.1.98). Wieder breiteren Raum nahmen die Berichte zur offenen Finanzierung der Schutzmaßnahmen gegen das Hochwasser und der Beseitigung der Flutschäden sowie der Verwaltung der Spendengelder ein, wobei vor allem die Schuld von Land und Bund gegenüber dem Kreis Märkisch-Oderland mit seinen knappen Finanzmitteln betont wurde (8.7.97, 26.1.98, 9.3.98). Ein Jahr nach dem Oderhochwasser, im Juli 1998, erinnerte dann die MOZ an die „BeinaheKatastrophe“ im vorigen Jahr mit einem Familienportrait (18./19.7.98) und einer Faktensammlung, wobei auch von den Leistungseinbrüchen der damals evakuierten Rinder berichtet wurde (25./26.7.98). Der Feier anlässlich des in Wriezen stattfindenden Bundeswehrgelöbnisses (17.8.98) wurde auf der Titelseite und im Lokalteil Platz eingeräumt und dabei an die Leistung der Bundeswehrsoldaten während der Flut erinnert. In der unter anderem wegen der Bilder vom überfluteten Busparkplatz (MOZ 1997: 20) prominent gewordenen Thälmann-Siedlung in der Ziltendorfer Niederung wurde schließlich ein Jahr nach der Flut ein großes Fest gefeiert.

Die Fabel der medialen Fluterzählungen Deutlich treten die Unterschiede zwischen Printmedien und visuellen Funkmedien, dem Fernsehen, hervor. Die fixen Texte, die durch Fotos nur

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aufgelockert werden, können sich im Augenblick der Nachricht nicht gegenüber dem bewegten Bild behaupten. Geht es aber um das Archiv der Erinnerungen, können die Printmedien ihre Stärke ausspielen.17 Die Einwohner schafften sich für ihre Erinnerungen vor allem Broschüren, Dokumentationen und Bücher an, die schließlich auf ihre Nachfrage erst so zahlreich erschienen sind. Zudem haben sie ihre Erinnerungen mit eigenen Fotos aufbewahrt, weniger auf Videokassetten. So haben bewegte Bilder zwar eine überwältigende Unmittelbarkeit voraus, langfristig wirken aber eher noch die Printmedien. Insofern kann die MOZ-Dokumentation vorläufig als wirkmächtiger für die Präsentation der individuellen Flutgeschichten angenommen werden. Die Unterschiede in der Darstellung der Flutereignisse jenseits der grundlegend verschiedenen medialen Eigenschaften sind hinsichtlich der Themen und deren Aufbereitung weniger groß. Eine ganze Reihe von Stichworten finden sich in den Beiträgen der MOZ-Dokumentation wie auch bei den ORB-„Deichprotokollen“, so dass diese als Codes für die Inhaltsanalyse benutzt werden können. Bei den „Deichprotokollen“ sind aber auch die Bilder als solche Codes aufzufassen. Diese Codes lassen sich zu vier Begriffsfeldern verdichten, um ein Bild vom Verlauf und der Veränderung der Berichterstattung zu zeichnen. So lassen sich zum Beispiel Regen, Wasser und Hochwasser, der Fluss, Sonnenwetter, Tiere sowie Sintflut oder Chaos und deren Auswirkungen in Text und Bild dem Begriffsfeld „Natur“ zuordnen. Stichworte wie Staat, Amt, Organisation und Desorganisation, Ordnung, Protest, nationale oder Staatsbezeichnungen bilden das Begriffsfeld „Politik“. Ein weiteres Begriffsfeld scheint mit „Kampf“ am besten bezeichnet zu sein. Hier finden sich Stichworte wie Bundeswehr, Einsatz, Feind, Front, Kraft, Krieg, Verrat, Verteidigung, Verlust, Schutz oder Helfer und Retter. Das vierte Begriffsfeld fasst schließlich Stichworte wie Familie, die verschiedenen lokal bezeichneten Gemeinschaften in Dörfern und Städten oder der Region oder auch in Hinblick auf die Gemeinschaft beschriebene Emotionen unter dem Titel „Gemeinschaft“ zusammen. Dabei gibt es aber auch verschiedene Stichworte, die zwischen den Feldern Vermittlungen herstellen. So weist die Beschreibung von Emotionen oft auf Stichworte des Feldes „Natur“, aber auch auf Evakuierungsmaßnahmen oder Amtsentscheidungen. Verschiedene Ordnungsbegriffe des „Politik“-Feldes vermitteln zum Beispiel zum Feld des „Kampfes“. Das Stichwort „Deich“ verbindet neben anderen wiederum die Felder „Natur“ und „Kampf“.

17 Wenngleich sich das mit der fortschreitenden Digitalisierung der Bilder und deren damit einsetzende höhere Verfügbarkeit ändert, trifft das doch noch für die Ereignisse der Oderflut 1997 zu. Aber auch sonst werden langsame Printmedien wohl noch Zukunft haben. Jedenfalls könnte man darauf setzen, wenn man sich die gegenwärtige Realität der Idee vom papierlosen Büro ansieht.

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Stellt man diese Begriffsfelder den Themenkomplexen zur Seite, lässt sich eine Fabel der massenmedialen Geschichte von der Oderflut darstellen. Der anfangs dominierende Themenkomplex um die Erwartungen angesichts der Gefahr und den Maßnahmen wurde stark durch Bezüge auf politische Entscheidungsträger, Behörden und Verantwortliche bestimmt. Die Aufgabe für Gegenmaßnahmen oblag zunächst ihnen. Weiterhin wurde dieser Komplex aber auch durch die Auswirkungen der Hochwassergefahr auf die Gemeinschaft beschrieben, die hier als ein zunächst sorgloses und später betroffenes Kollektiv erschien. Dagegen wirkten die Katastrophentouristen wie Antipoden der Gemeinschaft. Zwar wurden nur wenige Bezüge auf die Natur genommen, aber gerade hier wurden diese doch stärker als in allen nachfolgenden Themenkomplexen betont. Im anschließenden Themenkomplex offenbarten sich die Naturgewalten meistens überraschend in ihrer Heftigkeit vor allem für die vorher doch recht sorglose Gemeinschaft. Die Überflutung der Ziltendorfer Niederung und die anschließende Evakuierung lenkten die Aufmerksamkeit weiter auf die Gemeinschaft in ihrem Ringen mit den nun als nachlässig gescholtenen Behörden einerseits und mit dem Hochwasser andererseits. Die Ohnmacht gegenüber diesen Umständen fand nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, dass das Hochwasser nicht mehr als solches bezeichnet wurde, sondern den irreführenden Namen „Flut“ und dann „Jahrhundertflut“ bekam, was eine Plötzlichkeit des Hochwassers suggerierte, die immer wieder Grund zum Zweifeln an der Ernsthaftigkeit der Berichte gab. Diese Verhältnisse gegenüber der Politik und der Natur können als Beschreibung von Schuldzuweisungen interpretiert werden. Die Berichte über Evakuierungen betonten hingegen viel mehr die Gemeinschaft. Gleichzeitig wurden hier aber schon verstärkt Begriffe des Kampfes bei den Berichten bemüht, sei es gegen die Politik, sei es gegen die Naturgewalten, aber immer im Einklang mit den Helfern oder der Gemeinschaft. Mit dem folgenden Themenkomplex um die Helfer, Soldaten und die Gemeinschaft hatte die mediale Aufmerksamkeit sich ins Oderbruch verschoben. Hier wurde nun über den aufopferungsvollen Kampf am Deich gegen das Hochwasser in Gemeinschaft mit den Anwohnern berichtet. Dahinter traten jedoch NaturBegriffe zurück; die Natur trat vor allem als Feind in Erscheinung. Ebenfalls bleibt die Politik in der MOZ-Dokumentation außen vor. Die Deichprotokolle halten dafür jeden Besuch prominenter Besucher fest, nicht ohne Distanzen gegenüber der Gemeinschaft zu markieren. Der abschließende Themenkomplex „Aufräumen“ berichtete dagegen wieder viel mehr im Feld der Politik, ging es doch um Fragen der Zukunftsgestaltung und um Finanzmittel zur Bewältigung der Flutfolgen. Ebenfalls wurde das Schließen der Deichbrüche in der Ziltendorfer Niederung ausführlicher mit Stichworten des Begriffsfeldes „Kampf“ geschildert. Schließlich kam die Sprache auch auf die Gemeinschaft, die ihre

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Dankbarkeit gegenüber den Helfern bezeugte und aber auch auf sich selbst stolz sein konnte, im Kampf bestanden zu haben. Gegenüber den Komplexen wurden immer wieder Individuen durch Portraits in der MOZ-Dokumentation oder mittels Nennung von Namen in den ORB-„Deichprotokollen“ präsentiert. Ihre Individualität wurde durch die besondere Positionierung gegenüber den Begriffsfeldern erreicht. So wurde die Individualität meistens gegenüber der Politik auf der einen, gegen die Natur auf der anderen Seiten behauptet. Das drückte sich zum Beispiel in Protesthaltungen aus oder in der Weigerung, der Flut nachzugeben, indem man die Evakuierung akzeptierte. Gerade am Themenkomplex Evakuierung und Überflutung traten diese Oppositionen des Individuums gegenüber der Natur und der Politik hervor. Anders stellte sich die Individualität im Zusammenhang in den Begriffsfeldern Kampf und Gemeinschaft dar. Zwar wurden auch hier einzelne Personen hervorgehoben, aber diese immer gleich wieder in ihrem Bezug eingebettet als Teil der Gemeinschaft im Kampf, im Leid oder der Freude. Als Muster der Geschichte ließ sich schließlich die Figur eines Katharsis-Erlebnises der Gemeinschaft herauskristallisieren. Ihre ins Chaos führende Überheblichkeit gegenüber der Natur überwand die Gemeinschaft gemeinsam mit ihren Helfern beim Kampf gegen die feindlichen Gewalten; sie läuterte sich. Inwiefern diese recht stark zugespitzte Fabel sich in den Erzählungen der Erlebnisse während des Hochwassers wiederfindet, muss sich erst herausstellen. Zu erwarten sind jedenfalls Variationen und Versatzstücke der medialen Konfirmierung der „Flut“-Ereignisse.

Gemeinsame Angst, gemeinsame Stärke: Geschichten aus dem Oderbruch Die Gemeinschaft existiert als Kommunikation. Das bedeutet, solange im Bezug auf ein spezifisches Wir im Sinne partikularer Gemeinschaften kommuniziert wird, sind diese real. Dabei ist es gleichgültig, ob die Kommunizierenden als Angehörige verschiedener oder derselben Gemeinschaft bezeichnet werden können. Die Kommunikation geht in jedem Fall gleichermaßen mit Selbst- und Fremdzuschreibung einher. Im Folgenden werden Erzählungen dargestellt, deren Autoren von der empirischen Anlage her als Mitglieder einer Gemeinschaft behandelt wurden, nämlich als Leute aus dem Oderbruch und als Leute aus der Ziltendorfer Niederung. Dieses Vorgehen folgt den in den untersuchten massenmedialen Beiträgen der MOZ und des ORB zur Oderflut 1997 erzeugten Einheitsformen. Für die empirische Analyse ist klar, dass diese vorausgesetzten Gemeinschaften in der Divergenz der individuellen Erzählungen tatsächlich nicht dieselben Einheiten sind. Aber diese Unterschiede der Gemeinschaftsbezüge eröffnen erst die Möglichkeit zur funktionalen Analyse. Im

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Vergleich der individuellen Geschichten erschließt sich, inwiefern es gerechtfertigt ist, die Erzähler als Mitglieder einer Gemeinschaft zu behandeln, der sie mit den Interviews zunächst zugerechnet wurden. Über diesen Vergleich lassen sich Aussagen über die Herstellung der Identität von Gemeinschaft treffen, wie sich aus verschiedenen Perspektiven etwas als gleich identifizieren und so eine gemeinsame Identität der Gemeinschaft konstruieren lässt. Denn wenn sich zwei aus ihrer individuellen, unteilbaren Perspektive auf ein jeweils unterstelltes Wir beziehen, erzeugen beide eine Identität, die aus ihrer jeweils eigenen Perspektive das Gleiche beschreibt. Gegenseitige Erläuterungen schließen sich daran soweit an, wie die Näherungen an das jeweils Gemeinte noch nicht hinreichend sind, um die situative Selbst- und Fremdbeschreibung in Übereinstimmung zu bringen.18 Mit dieser Beschreibung des gemeinschaftlichen Kommunikationsproblems lassen sich im Anschluss an Nassehi und Saake (2002a) auch die Interaktionsumstände fassen, in denen die Interviews zu den Erlebnissen während des Oderhochwassers im Sommer 1997 entstanden. Die im Folgenden ausschnittweise präsentierten Erzählungen sind als Beiträge zu einer immer schon laufenden Gemeinschaftskommunikation zu verstehen. Der Bezug auf die Gemeinschaft erfolgt alltäglich im Sinne eines Habitus und ist insofern unreflektiert, wie bei der Diskussion der Überlegungen Elias’ und Bourdieus deutlich wurde. Die Anlässe zu Erzählungen und deren Verlauf entlang bestimmter Themen sind jedoch auch Möglichkeiten zur Reflexion der gemeinschaftlichen Referenz, die dann auch empirisch beobachtet werden können. Der Anlass für die gemeinschaftlichen Geschichten war das Hochwasser der Oder im Sommer 1997, was allen Erzählern bei der Interviewanbahnung erläutert wurde. Mit der auf Chronologie zielenden Erzählaufforderung lag schon ein ebenso orientierter Themenablauf nahe, der in den meisten Fällen auch verfolgt wurde. Die Aufforderung „Erzählen Sie bitte, wie Sie von der drohenden Oderflut erfahren haben und welche Vorstellungen sie hatte, was auf Sie zukommen wird!“ führte immer zur Beschreibung von Bedrohungserfahrungen, die durch die ersten Nachrichten ausgelöst wurden und die Suche nach Reaktionsmöglichkeiten einleiteten. Diese wurden als Akzeptanz der Evakuierung, alternativ dazu als Ausharren am Ort der Gefahr oder als Kampf gegen die Flut thematisiert. In diesem Zusammenhang gerieten dann auch die Helfer in den Fokus der Erzählung. Die Erzählung kulminierte jedoch in der Beschreibung der Gemeinschaftserfahrungen während des Hochwassers im Vergleich zur Zeit davor und danach. Typischerweise fand die Erzählung ihren Abschluss in einem Ausblick auf die regionale Entwicklung. Dabei fokussiert die folgende Darstellung der Analyse auf vier Erzählungen aus dem Oderbruch, an die sich vier aus der Ziltendorfer 18 Von daher lässt sich schon ein erster Hinweis zum Zusammenhang von gemeinschaftlicher und individueller Identität (Brunner/Fleisher Feldman 1996) gewinnen.

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Niederung anschließen. Für die ausführliche Darstellung wurden jeweils Fälle herangezogen, die stark von der Hochwassergefahr betroffen waren, sich aber hinsichtlich einiger soziodemographischer Merkmale wie Geschlecht, Alter, Familiensituation und berufliche Tätigkeit unterschieden.

Bedrohliche Nachrichten vom Fluss Als im Juli 1997 die ersten Nachrichten vom drohenden Hochwasser am Flusslauf von Oder und Neiße in den deutschen Massenmedien erschienen, waren in Brandenburg Sommerferien. Auch Herr Baumert19 war im Urlaub – und zwar in Tschechien. Als dieser zu Ende ging, verfolgten er und seine Familie die ersten Berichte im Fernsehen über das drohende Hochwasser nahe ihres Heimatdorfes am nördlichen Rand der ersten Evakuierungszone des Oderbruchs. „Und da sind wir natürlich hergefahren mit dem Ungewissen, wat wat hier eben so los is“ (Baumert 13)20. Sein „Ungewissen“ lässt hier offen, ob damit die Unsicherheit des Betroffenen oder aber das schlechte Gewissen des Urlaubers gegenüber den Daheimgebliebenen gemeint war. Schon während des Urlaubs wurde von ihm ein Zusammenhang zwischen den Unwettern am Urlaubsort und der Heimat vermutet, was ihm aber kein ausreichender Grund war, sich Sorgen zu machen. Zunächst fiel es ihm schwer, sich an die konkreten Zeitumstände des Urlaubsendes und des Hochwasserverlaufs zu erinnern. Jedoch war die erste Hochwasserwelle zu dieser Zeit schon vorüber: die Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) stand unter Wasser. So wie die Situation am tschechischen Urlaubsort mit großer Distanz erlebt wurde, bezog Herr Baumert auch die Deichbrüche bei der Ziltendorfer Niederung nicht auf die Gefahren in seiner Heimatregion. Das Gefühl der Distanz konnte er nur schwer beschreiben, suchte er hier doch auch nach Rechtfertigung, was die Deutung des „Ungewissens“ als nachträglich schlechtes Gewissen nahe legt. Zudem erwartete er sich vom entfernten Deichbruch auch eine Entspannung der Situation am Heimatort. Als diese nicht eintraf, nahmen seine Befürchtungen zu. Die Informationen über den Flutverlauf, die nun auch das Heimatdorf betrafen, waren „spannend“. Sie hielten ihn in einer ambivalenten Stimmung. Die Hoffnung auf die Standfestigkeit der Dämme ließen ihn kühl und überlegt abwarten, wobei ihn die neuartige Popularität des eigenen Wohnortes auch begeisterte. Als die Familie dann nach Hause 19 Die Namen der Interviewpartner wurden verändert, die Wohnorte werden nicht genannt. Lediglich die Ortslage in der Ziltendorfer Niederung und im Oderbruch, hier insbesondere die Lage der Orte in den Evakuierungszonen, entsprechen den tatsächlichen Gegebenheiten. 20 Die Zitate werden im Folgenden mit den Zeilennummern der Transkription der anonymisierten Interviews markiert. Punkte in runden Klammern „(.)“ verweisen auf Pausen in Sekunden, eckige Klammern „[…]“ auf kurze Auslassungen, Platzhalter und nonverbale Äußerungen, Worte in VERSALIEN auf lautstarke Betonung.

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kam, war die Situation am Fluss zwar angespannt wie befürchtet, aber außerdem wurde Herr Baumert positiv überrascht von der tatsächlichen Präsenz der Medien. Das Rentnerehepaar Krähmer verfolgte im Juli 1997 die Nachrichten zu den Überschwemmungen und Deichbrüchen an der Oder von zu Hause aus in einem nur wenige Kilometer von der Oder entfernt gelegenen, für das Bruch typischen Strassendorf in der Evakuierungszone 1. Sie fühlten sich von diesen Berichten nicht beunruhigt. Schließlich hatten sie als alteingesessene Bewohner Erfahrungen mit verschiedenen – auch gefährlichen – Hochwassern, wie die Überflutung von 1947 oder das Winterhochwasser 1981. Der sich ständig verändernde Pegel des Flusses führte immer wieder auch Hochwasser, das gehört zu ihrem Leben dazu. „Mein Gott, das Hochwasser kommt und vergeht wieder, und, und wir es fast jedes Jahr oder alle paar Jahre auch mal extremer eben mitmachen“ (Krähmer 19–20). Als Alteingesessener, als Oderbrüchler betonte Herr Krämer gegenüber der medialen Aufgeregtheit, sich mit dem Lauf der Natur ihrer Region auszukennen. Jedenfalls erklärte er damit, warum sie sich keine Sorgen machten. Das war kein Leichtsinn, sondern Erfahrung, die er schon mit der Einleitung „Mein Gott“ als eine große Selbstverständlichkeit darstellt. Und damit deutete sich auch eine Distanz gegenüber anderen, die nicht von hier sind, an. Jedoch wurde dieser Kontrast gemildert, wenn er zugab, die Situation nicht richtig eingeschätzt zu haben. Das Sommerhochwasser 1997 hielt nämlich wesentlich länger an als alle anderen zuvor. Die gewählte Analogie zu früheren Zeiten war offensichtlich falsch. War anfangs ein abgeklärter Habitus im Situationsbericht zu bemerken, steigerte sich jetzt die Dramatik der Darstellung. Dass die Krähmers tatsächlich in Gefahr schwebten, wurde ihnen nun doch noch klar. Als das Fernsehen allabendlich vom Hochwasser berichtete und Nachbarn sie fragten, ob sie sich wegen des drohenden Hochwassers evakuieren lassen würden, kam ihr bis dahin beschauliches Rentnerdasein zu einem vorläufigen Ende. Eine Evakuierung aber lehnten sie kategorisch ab. Sollte das wiederum einer Fehleinschätzung der Situation geschuldet gewesen sein oder kommt hier eine Wertung der Evakuierung zum Tragen? Diese Frage wurde hier noch nicht beantwortet, sondern zunächst mit dem Hinweis aufgeschoben, dass ihr Wohnort nach den Erfahrungen von 1947 kaum vom Wasser betroffen wäre. Das hätte mit der Form des Oderbruchs zu tun, erklärte Herr Krähmer, das wie ein „Badebecken“ gestaltet sei, dessen Rand gegenüber einem breiten Tal erhöht ist. Sie hätten maximal mit mäßigem Hochwasser zu rechnen gehabt. Hier relativierte er seinen Irrtum bei der Einschätzung der Lage im Juli 1997. Mit seiner Erfahrung konnte man nicht damit rechnen, dass die Situation derart ernst werden würde. Aber selbst im Falle eines Hochwassers, wären sie nicht wirklich betroffen gewesen. Mit dieser Ausführung rehabilitierte er seinen Erfahrungsschatz, seine regionale

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Kompetenz durch eben diese: Er kannte sich aus und wusste trotz seines Irrtums besser Bescheid. Dieses Beharren auf regionale Kompetenz kann schon als Hinweis auf eine behauptete Zugehörigkeit zu einer regionalen Gemeinschaft angesehen werden, die dieses Wissen teilt. Damit wurde eine Grenze zwischen regionaler Kenntnis und Unkenntnis markiert. Auf nachbarschaftlichen Ratschlag hatten sie sich mit Wasser zum Waschen, Kochen und Trinken eingedeckt. Aber dabei beließen sie es. Angst hätten sie nicht gehabt, beteuerten sich beide gegenseitig. Schließlich stellte Herr Krähmer fest: „Die hatten überhaupt keene Angst so“ (45). Das Demonstrativpronomen „die“ weist hier offensichtlich auf andere, so dass diese Aussage womöglich gar nicht sie allein betraf, sondern allgemein die anfängliche Stimmung beschrieb. Der um diese Zeit einsetzende Dauerregen und die Gerüchte um die bevorstehende Reaktivierung des Schlafdeiches hinter dem Dorf leisteten dann aber doch einer Endzeitstimmung Vorschub. Die Leute im Oderbruch hatten nach Meinung Herrn Neubert zu spät von der tatsächlichen Hochwassergefahr erfahren. Denn das war „eigentlich schon lange unterwegs“ und „wirklich akut“, als klar wurde, dass sie „nicht ganz ohne Wasser bleiben könnten“ (Neubert 9–13). Auch Herr Neubert, der aufgrund seines Berufes eine eher exponierte Position in einem Ort der Evakuierungszone 1 und darüber hinaus innehatte, war von der Gefahr überrascht. Er musste nicht nach Gründen für diese Überraschung suchen, denn die Aufklärung über die Situation erfolgte erst zu einem Zeitpunkt, als diese schon „akut“ wie eine Krankheit ausgebrochen war. So scheint er den möglichen Schaden etwas fatalistisch akzeptiert zu haben. Gleichzeitig richtete sich sein Blick auf Orte, die weiter weg lagen. Schonung erhoffte auch er sich von der Ventilwirkung der Überflutung der Ziltendorfer Niederung und sogar noch durch den recht nahen Deichrutsch bei Hohenwutzen, denn dort war die Lage schlimmer als in seinem Wohnort, das war die „akuteste Sache“ (14). Jedoch machte der Deichrutsch auch allen klar, wie ernst die Lage war, was zu einer resignierten und angstvollen Stimmung führte. Ängstliches Warten auf die Sirenen, die die Fortsetzung der schon begonnenen Evakuierung ankündigen würden, bereiteten ihm schlaflose Nächte. Aber das bedeutete für ihn auch den Beginn eines möglichen regionalen Niedergangs, und ihm drängte sich im Interview der Vergleich zur überfluteten Ziltendorfer Niederung auf. Diese, so schien es ihm, würde den Schaden durch die schon in Aussicht gestellten Mittel ausgleichen können, aber für das ungleich größere Oderbruch wäre die Überschwemmung, wenn „20.000 Menschen davon befallen“ (28–29) wären, das Ende. Das Hochwasser erschien in der Erzählung Herrn Neuberts wie Fieberzeichen einer Krankheit. Die Ziltendorfer Niederung hatte die Chance zu genesen, weil genügend Mittel vorhanden waren. Aber für das Oderbruch, davon war er auch noch zum Zeitpunkt des Interviews überzeugt, hätte das nicht gereicht. Und so stellte sich in der

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Zeit der Angst die Überflutung der Ziltendorfer Niederung auch als Anlass zur Hoffnung dar. Die Ferien nutzte Frau Gerster zum Fernsehen, denn das Familienleben lief dann immer – auch im Juli 1997 – ruhiger ab, wenn ihre Kinder nicht zur Schule mussten. Dadurch erfuhr sie von den Überflutungen am Oberlauf der Oder. Von ihrem Heimatort in der ersten Evakuierungszone fuhr sie nun beinahe täglich mit dem Fahrrad an die Oder und erwartete den ansteigenden Pegel. Sie sprach mit ihren Nachbarn über die Hochwassergefahr. Ihre Sorge ließ sie sich auch nicht von ihrem Mann nehmen, der wie die Nachbarn die Gefahr nicht erkennen wollte. Ihre Anspannung spitzte sich derart zu, dass ihr bei einem ihrer Oderausflüge die Stimmung am Fluss auf die drohende Katastrophe hinzudeuten schien. Sie deutet dieses Erlebnis als den ersten ihrer „Anfälle“ (Gerster 12) ahnungsvoller Ergriffenheit, die wohl aus der Erfahrung der Hilflosigkeit gegenüber den Menschen wie dem anschwellenden Fluss resultierte. Die Erkenntnis der Gefahr führte in den Geschichten der Oderbrüchler auf ganz unterschiedlichen Wegen zum Aufrufen der Gemeinschaft. Diese konnte der heimatliche Schoß sein, den man zur Unzeit verlassen hatte. Die Gemeinschaft konnte aber auch schon eine Folie der Selbstbeschreibung sein, die man gegenüber widrigen Situationen anführte. Abstrakter ließ sich die Gemeinschaft auch als Region deuten, die vor dem Ruin zu stehen schien. Oder aber die Gemeinschaft war diejenige, die den Einzelnen zum Rufer in der Wüste werden ließ. Wenn sich die Protagonisten dieser Erzählungen hier deutlich als Individuen präsentierten, kam immer auch eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft zum Ausdruck, die jeden Einzelnen band. Die Gemeinschaft erschien als Bedingung eigener Existenz. Sonst gäbe es keinen Grund zum schlechten Gewissen, keine Notwendigkeit zur Verteidigung regionaler Kenntnis, keine Ursache für regionale Zukunftsangst und auch keinen Impuls, als Kassandra zu agieren.

Evakuieren oder Ausharren Die Katastrophe begann für jeden der Betroffenen individuell mit der Akzeptanz der Gefahr, die vom Hochwasser der Oder ausging. Die Möglichkeiten, darauf zu reagieren, hingen von verschiedenen Faktoren ab. Nicht nur die persönliche und psychische Verfassung bestimmten die Bewältigung dieser emotional angespannten Situation. War die Gemeinschaft zwar die erste Referenz, der sich die Protagonisten zuwandten, wurden die Bewältigungsschemata von anderen Umständen konterkariert. Die zuständigen Landes- und Kreisbehörden mussten hinsichtlich der Sicherheit der Bevölkerung und der Maßnahmen am Deich Entscheidungen treffen, die sich unmittelbar auf die Handlungen der betroffenen Bevölkerung auswirkten. So war die Evakuierung von Anfang an eine Option, die am 26.

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Juli in der ersten Evakuierungszone Realität wurde. Wenn auch die Evakuierungsanordnung den Betroffenen im Grunde keine Wahl ließ, wurde diese nicht ohne weiteres befolgt. Für die Betroffenen stellte sich die Anordnung vielmehr als eine Möglichkeit dar, der man mit der Alternative, zu Hause zu bleiben, begegnen konnte. Wie sich die Leute impulsiv gegen die Evakuierungsanordnung wehrten, machte Herr Baumert deutlich: „Aber die Leute haben och, muss ich ganz ehrlich sagen, die wollten det nich’ globen, wollten nich’. War’n zwar aufgeregt wie sonst was, aber ne, ich, ich verlass mein Haus nicht, haben die meisten gesagt. Die war’n da, wollten ihr’n, ihr Gut nicht verlassen“ (Baumert 114–117). Die Beinahe-Katastrophe eines großen Deichrutsches war Auslöser für die Evakuierungsanordnung vor Ort. Die Leute wollten jedoch Haus und Hof, ihren Besitz nicht verlassen. Wie sich herausstellte, betraf die Evakuierung nicht Herrn Baumert selbst. Er nahm aber, wie viele andere im Dorf, Verwandte aus den tiefer gelegenen Oderbruchdörfern bei sich auf. Viele der dort Lebenden mussten sich entscheiden und zögerten dabei ähnlich, wie Herr Baumert es beim ersten Schrecken in seinem Wohnort beobachtete. Was steckt dahinter, wenn die Leute darauf beharren, vor Ort zu bleiben? Wollten sie tatsächlich ihren Besitz vor dem Wasser durch bloße Anwesenheit schützen? Welche Bedeutung hatte schließlich die Evakuierung für die Betroffenen? Zwar hatten sich Krähmers nach ersten Rücksprachen mit ihren Nachbarn mit Trinkwasser eingedeckt, jedoch erschien diese Maßnahme eher halbherzig. Eine Woche nachdem sie die Hochwassergefahr wahrgenommen hatten, ereilte sie die Evakuierungsanordnung: „Und da haben wir alle fluchtartig das Feld verlassen“ (Krähmer 50). So plötzlich verließen sie aber doch nicht ihre Scholle, wie sie weiter berichteten. Sie waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht allein, denn sie trafen sich mit einem Teil ihrer großen Familie.21 Das Dorf erlebten sie aber schon so ruhig, als sei es ausgestorben. Die wenigen Bauern des Dorfes hatten ihre Tiere und Maschinen bereits in Sicherheit gebracht. Einige Nachbarn waren gegangen, wie man an den geschlossenen Fenstern sehen konnte. Insgesamt verlief die Evakuierung ruhig und gelassen, und nicht fluchtartig. Das Fehlen der dörflichen Geräuschkulisse allerdings war für Krähmers unheimlich und machte die Gefahr erlebbar. Vielleicht kam daher ein Fluchtimpuls? Das Gefühl der Bedrohung nahm mit dem begonnenen Ausbau des Schlafdeiches zu. Denn der Schlafdeich, obwohl der Herrn Krähmers Meinung nach kaum Schutz für das Hinterland bieten konnte, würde die zerstörerische Kraft des Hochwassers im Vorland, wo sich ihr Dorf befand, verstärken. Im Radio hieß es, alle hätten dieses Gebiet bereits geräumt. Nun erschien der Schlafdeich wie eine Grenze zur Sicherheit, durch die man gerade noch motorisiert hindurch kam. Zum Schließen der Deiche stand schon al21 Krähmers hatten sechs Kinder, von den zwei verheiratet im Oderbruch lebten, die anderen in Südwestdeutschland und in Berlin.

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les bereit. „Naja, und dann sind wir abgehauen“ (70). Aber auch jetzt ließen sie ihr Haus noch nicht im Stich, denn zunächst räumten sie mit Hilfe des Schwiegersohns die untere Etage aus und sicherten es mit einigen Sandsäcken. Während dieser Zeit wurde immer wieder von durchfahrenden Autos aus mit Lautsprechern zum Verlassen der Wohnhäuser und dem Befolgen der Evakuierungsanordnung aufgefordert. „Mit dem Megaphon haben sie gebrüllt“ (118–119), ärgerte sich Herr Krähmer noch während des Interviews. Aber das waren alles „Fehlmeldungen“ (74) der Polizei, dass eine Deichstelle beschädigt oder der Deich an einer kritischen Stelle zerstört sei. Die Meldungen waren nicht nur falsch, sondern verfehlt, denn ihnen fehlte der angemessene, sinnvolle Inhalt. Dieser megaphonverstärkte Unsinn machte die Krähmers selbst verrückt. Bevor sie jedoch zu ihren Kindern in Sicherheit fuhren, erzählte Frau Krähmer amüsiert, habe ihr Mann noch in aller Ruhe unter der Dusche Körperpflege betrieben, wie er es immer mache, wenn es brenzlig wird. Über drei Eskalationsstufen schickten sich die Krähmers an, der Evakuierungsaufforderung nachzukommen. Zunächst leerte sich das Dorf, dann trennte sie der Schlafdeich vom Hinterland ab und schließlich wurde der psychische Druck durch die Polizei erhöht. Das alles spielte sich während dreier Tage ab und könnte als unproblematisches Befolgen der Anordnung zur Evakuierung verstanden werden. Aber die Krähmers gaben dieser nicht einfach nach, sondern führten diese Stufen als Abfolge ihrer Entscheidungsfindung vor. Zunächst kam die dörfliche Gemeinschaft in der Stille abhanden, mittels der erneut herausgestellten regionalen Kompetenz wurde die künstliche Verstärkung der Gefahr konstatiert, und schließlich wollten sie sich vor einem um sich greifenden Irrsinn schützen. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als durch die verbliebenen Lücken des Schlafdeiches zu fliehen. Bei der Erzählung ihres Exodus waren beide Krähmers bemüht zu zeigen, wie sie sich gegen die Umstände behaupteten, indem sie gemeinsame Besonderheiten betonten. Als die Dorfgemeinschaft unheimlich verschwand, blieben sie im Kreis der Familie beim Grillen und gegenseitiger Hilfe. Sie erkannten mit ihrer regionalen Kompetenz die vergebliche Mühe der anonymen Macht, die den Schlafdeich errichtete. Und sie trotzten noch mit einer persönlichen Marotte der Not zur Eile. Als Selbstbehauptung waren auch die regelmäßigen Exkursionen Herrn Krähmers nach Hause von ihrem großstädtischen Notquartier bei der Familie einer weiteren Tochter zu verstehen. Von dort brachte er Informationen zur Lage am Oderdeich mit, die ihm ein Bekannter, der am Deich half, erzählte. Die alternativen Informationen hatte er eigentlich nicht nötig, denn er war mit den Berichten im Fernsehen ganz zufrieden: „Nachts um zwölfe hab ich die letzten Nachrichten geguckt und um sechs wieder die ersten. Da war hier auf diesem Informationssender hier im TV. Die haben immer, die haben wirklich komplett […] berichtet, das war, war ganz ordentlich. ,Ach, der Damm hat wieder gehalten‘. Aufgestanden, ge-

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frühstückt, abgehauen“ (145–150). Diese TV-Nachrichten funktionierten wie eine virtuelle Nabelschnur in die Heimat. Die Informationen, die er von seinen Exkursionen aus dem Oderbruch aber mitbrachte, hatten eine andere Qualität. Sie konnten seine Familienangehörigen wirklich beruhigen, denn sie zeigten, dass sie weiterhin dazugehörten. Eine Bekanntschaft reichte aus, um exklusiv und direkt vom Deichgeschehen zu erfahren. Gemeinschaftszugehörigkeit bedeutete Informationsvorsprung und Selbstversicherung. Die Beschreibung der Gemeinschaft fiel bei der Evakuierungserzählung der Krähmers ambivalent aus. Einerseits fungierte allein ihre weitverzweigte Familie als Unterstützungsnetzwerk, andererseits nahmen sie auf die regionale Gemeinschaft positiven Bezug, der sie sich bedarfsweise zurechneten und entzogen. Wenn sie die fixe Evakuierungsaktion der Bauern, die kühle Abgeklärtheit der Leute im Angesicht der Gefahr oder den regionalen Informationsfluss beschrieben, schwang ein Bejahen dieser Gemeinschaftszugehörigkeit mit, weil hier Souveränität gegenüber der Situation demonstriert wurde. Ihre große Familie mit sechs Kindern ging darin aber nicht auf, sondern bildete immer eine weitere und abgrenzbare Sphäre, die trotz ihrer territorialen Verzweigung viel dichter erschien. Der Unterschied zwischen Familie und weiterer Gemeinschaft trat deutlich bei der Schilderung eines Besuches von entfernten Verwandten in einem Notquartier hervor. Die Leute mussten dort wie „Vertriebene“ (595) auf engstem Raum leben. In dieser deprimierenden Stimmung, die durch vergitterte Fenster noch verstärkt wurde, blieben Streit und Sorgen nicht aus. Solches Elend war kaum auszuhalten. Darum wollten sie sich nicht beschweren, denn im Gegensatz dazu hatten sie es in ihrer Familie – die sie davor bewahrte – wunderbar. Das gemeinsame Leid im Notquartier konnte die Gemeinschaft nicht bewältigen. Im Gegenteil schaukelten sich in solchen desolaten Verhältnissen die Befürchtungen um das Heim auf und führten zu Streit. Dieses Elend machte den Krähmers ihre ganz andere, glückliche Situation in der Familie deutlich. Die Familie funktionierte hier, wie für viele in Ostdeutschland nach der Wende, als Refugium. Die weitere Gemeinschaft erschien dann lediglich als Rahmung des familiären Lebens. Die Zeit der Evakuierung erlebte Herr Neubert deutlich anders. Immer orientiert an den Wasserständen des Hochwasser von 1947 hielt er sein Geschäft zunächst noch offen. Als die Anspannung weiter zunahm, sicherte er Computer und Unterlagen und brachte diese nach Hause auf den Spitzboden – er hatte sowieso keine Kunden mehr. Es herrschte eine gedrückte Stimmung, die durch die Erinnerung der Älteren noch verstärkt wurde. Jedoch erschien ihm deren damalige Situation einfacher, weil sie kurz nach dem Krieg weit weniger besessen hatten. Als es aber dann zur Evakuierung kam, zeigte sich für ihn der Zusammenhalt in der Region. Denn auch diejenigen, die weiter höher gelegen in Sicherheit lebten, halfen den Bedrohten. Damit wandelte sich die Depression in Euphorie. Jedes

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Dorf hatte einen zuständigen Evakuierungsort, die Alten und Hilfebedürftigen kamen zuerst an die Reihe. „Das ist eigentlich alles hier komplikationslos abgelaufen und das war sehr positiv (.) dieser Zusammenhalt ja mit den Leuten, die hier in unmittelbarer Nachbarschaft aber doch in sicheren Höhen äh (.) sich der Leute angenommen haben, die hier ein bisschen in Schwierigkeiten waren […]. Aber eben diese, diese Aufbruchstimmung, diese Fluchtwelle ja, die da äh dann vonstatten ging, und dann mit der Evakuierung ja eigentlich ihren Höhepunkt hatte“ (Neubert 169–174). Die Evakuierung scheint für Herr Neubert kein Ende markiert zu haben, sondern wegen der gegenseitigen Solidarität einen Anfang. Die Fluchtwelle war kein Ausdruck von Panik, sondern von Begeisterung, die sich der damals in den Medien populären, schrecklichen Flutwelle entgegenbäumte. Das Motiv der zu sich gekommenen Solidargemeinschaft ähnelte hier schon der Heldengeschichte von den Oderlandbewohnern, wie sie in der MOZ und dem ORB produziert wurden. Der Mann und die Söhne Frau Gersters beschlossen nach der Dorfversammlung am Tag der Evakuierungsanordnung, dass sie zu Hause ausharren werden. Und so musste auch Frau Gerster bleiben. Der darauf folgende Tag verlief darum wie jeder Ferientag zuvor: Ihr Mann fuhr zur Arbeit, die Kinder blieben lange im Bett. Gegen Mittag kam jedoch Frau Gersters Mann überstürzt zurück, weil es wegen eines Deichrutsches hieß, „wir sollen uns alle aus dem Staube machen“ (Gerster 28). Jedoch hatten sie ja vorher schon die Entscheidung zum Bleiben getroffen, und so weckten sie die Kinder und sprachen mit ihnen über die Situation, um wieder ihrer täglichen Routine zu folgen. Später wurde es jedoch ernster, als die Polizei per Lautsprecherwagen Aufforderungen zur Evakuierung durchgab, die die meisten Frauen im Ort „in Panik“ (33) geraten ließen. Die offizielle Information verdeutlichte die Gefahr, die vom Hochwasser ausging, nachdrücklich. Weggehen und Evakuierung assoziierte Frau Gerster aber mit einem fluchtartigen Verlassen des Ortes. Sich „aus dem Staub machen“ deutet neben der Rettung von Leib und Leben auch auf Verantwortungslosigkeit gegen alle anderen Dinge. Wie sehr jeder auf sich gestellt war, führten die in Panik geratenen Frauen vor, als die Polizei den Druck zur Evakuierung erhöhte. Zur Panik führt eine Situation, die sich der Kontrolle entzieht, der man ausgeliefert ist. Frau Gerster selbst blieb jedoch ruhig, weil die Familie schon frühzeitig zu einer Entscheidung gekommen war. So konnten sich die Ereignisse für sie nicht überstürzen. Und selbst als Bekannte Frau Gersters Familie samt ihren Tieren Quartier anboten, hatten sie nie vor, das zu nutzen. Im Grunde verlief die Evakuierung auch in ihrem Heimatort planmäßig. Gerade die Älteren begrüßten das. Jedoch war als Notunterkunft ein ehemaliger Armeestandort auf der so genannten Höhe westlich vom Oderbruch vorgesehen. Das gefiel niemandem so recht und deshalb organisierten sich die meisten Bewohner ihre Notunterkünfte selbst. Dass niemand

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das angebotene Evakuierungsquartier annehmen mochte, ruft die Krähmer’sche Schilderung der Notunterkunft in Erinnerung. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass durch solche Einquartierungen, wie in jedem Lager, spürbar Individualität negiert wird. Die Fremdbestimmung durch das Hochwasser findet hier ihre Fortsetzung. Dagegen bedeutet Selbstsuchen, ähnlich dem Ausharren, selbstständig zu bleiben, sich der Situation nicht zu ergeben und sein Selbstwertgefühl zu behaupten. Der Entschluss, zu Hause zu bleiben, führte jedoch zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die sich in Augen Frau Gersters anmaßend verhielt, als sie ihr vorwarf, verantwortungslos gegenüber ihrem jugendlichen Kind zu handeln. Dieses polizeiliche Bedrängen kam ihr wie eine Entmündigung vor. Polizeiliche Pflicht und mütterliche Eigenverantwortung widersprachen sich hier. Mit gegenseitiger Vermeidung war dieses Problem jedoch zu umgehen. Man versteckte sich hinterm Gartenzaun und hinter geschlossenen Fenstern, was zur Folge hatte, dass die Polizei nicht mehr nachfragte. Diese Strategie praktizierten einige im Dorf. Die daraus erwachsene Gemeinsamkeit der Ausharrenden führte zu einem neuen Selbstverständnis: „Und wir waren fünfzehn Leute hier danach in diesem Ortsteil und waren eigentlich dann, naja, gute Gemeinschaft in der Zeit geworden“ (55–56). Die „gute Gemeinschaft“ deutet hier auf eine positive emotionale Bindung hin, die erstens auf Freiwilligkeit beruhte und zweitens Zeit zum Wachsen hatte. Die alltägliche Gemeinschaft, wie zum Beispiel der Einwohner eines Ortes, erschien dagegen weniger emotionsgeladen und eher als unabdingbares Schicksal. Die schlechte Gemeinschaft, wie die von Krähmers erlebten Evakuierten im Notquartier, aber ist ebenfalls eine Emotionen bindende Einheit, wenn auch in negativer Hinsicht. Alternativen würden hier sehr schnell zur Auflösung führen. Die „gute Gemeinschaft“ hatte drittens mit der Polizei ein zur Gemeinschaft zwingendes, ein verbindendes Gegenüber, wobei die gemeinschaftliche Grenze immer wieder dynamische Impulse durch jene erhielt, die irgendwann doch gingen. Durch das Fortgehen trat niemand aus der Gemeinschaft aus, solange es nachvollziehbare Gründe wie Alter oder die Sorge um die Kinder gab und jeder trotzdem seinen Teil für die Gemeinschaft einbrachte, nämlich an anderer Stelle half, was viertens auf die gegenseitige Werteverpflichtung hinweist. Für Frau Gerster gab es jenseits der Familie ganz klar eine Gemeinschaft, mit der sie sich uneingeschränkt positiv identifizieren konnte. In einem morgendlichen Gespräch mit einer besorgten Nachbarin äußerte sie aber auch, dass sie sich „ihren Männern“ (63) gegenüber verpflichtet fühlte, die so sehr mit dem Hof verwachsen seien. Weggehen käme für sie erst im Fall der völligen Aussichtslosigkeit in Frage. Außerdem standen sichere Fluchtwege noch offen. Bis auf zwei präparierte Fluchtautos und in Sicherheit gebrachte Unterlagen trafen sie darum keine Maßnahmen zum Schutz des Hauses, was sie nach dem Oderhochwasser sogar als pragmatische Vorausschau ihres Ehemannes zu schätzen

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wusste. Offenbar waren für Frau Gerster noch Alternativen zum Familienbeschluss vorstellbar, die sich jedoch durch nicht selbst gewählte Bleibegründe, nämlich die Familie auf dem Hof, und eine letzte Fluchtmöglichkeit, gleich wieder verwarf. Diese Alternativen zählten nicht, weil die Entscheidung zum Bleiben schon gefallen war. Auffällig ist an dieser Stelle, wie Frau Gerster ihre Umgebung im Blick behielt und sich noch um Nachbarn kümmerte. Nimmt man hier ihre Rolle als Mahnerin gleich zum Beginn des Oderhochwassers hinzu, erscheint sie als eine Gemeinschaftspromoterin. Täglich wurden beunruhigende Neuigkeiten zum Hochwasser verbreitet, die die ausharrenden Nachbarn – drei Frauen und zwölf Männer – allabendlich anhand alter Karten und Geschichten diskutierten. Als eine der Frauen eine Hilfsstelle an einem zentralen Versorgungspunkt am Oderdeich angeboten bekam, beschlossen die beiden anderen, mitzugehen, weil: „Wenn alle, dann alle“ (99-100). Machten die regelmäßigen Gemeinschaftstreffen der Ausharrenden die Nachrichten auch erträglicher, nahmen die Frauen doch gleich die erste Gelegenheit, aktiv zu werden, wahr. „Alle“ bezog sich hier auf ihre Gemeinschaft der Ausharrenden, aus der „dann“ aber auch eine Pflicht für jeden folgte. Die Aufgabe bei der sie helfen sollten, nämlich Essen zuzubereiten, war ganz klar eine für Frauen; nach Männern wurde gar nicht erst gefragt. Evakuierungen sind wohlmeinende Maßnahmen der Behörden zum Schutz von Menschenleben. Das wussten auch die davon Betroffenen im Oderbruch. Trotzdem wehrten sie sich dagegen. Wie sich zeigte, waren mit Evakuierungsmaßnahmen eine Reihe schwer zu verwindender Erfahrungen verknüpft. In der Regel wurde mit Evakuierung das Verlassen von Heim, Haus und Hof assoziiert. Diese Erfahrungen aber brachten einen Kontrollverlust über das Eigentum mit sich. Selbst wenn dieses Eigentum geschützt werden konnte, indem es an andere Orte verbracht wurde, ließ sich der Schmerz der Evakuierung kaum mildern. Denn wie es scheint, ging es im Grunde gar nicht ums Eigentum, sondern um den Verlust von Souveränität. Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung war durch die Naturkatastrophe als diffuse Gefahr schon eingeschränkt, der behördliche Zwang zum Verlassen des Heims erschien daraufhin wie eine amtliche Bestätigung dieser Einschränkung. Das Problem, vor das sich die zu Wort gekommenen Protagonisten gestellt sahen, war darum, wie man Souveränität bewahren oder wieder erlangen konnte. Wiederum gerät hier die Gemeinschaft ins Blickfeld. Aber welche Gemeinschaft? Zunächst äußerte sich der individuelle Protest gegen die Zumutung der Evakuierung gemeinschaftlich. Dabei nahm die Gemeinschaft andere, konkretere Formen an als bei ihrem ersten Aufruf infolge der Bedrohungserfahrung. Nicht mehr die zufällig anwesenden Miteinwohner waren gemeint, sondern die Gemeinschaften wurden jetzt deutlicher qualifiziert, die Grenzen klarer erkennbar. Diese Gemeinschaften

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konzentrierten sich auf einen bestimmten Kern, der aus der Familie bestehen konnte oder aber auch aus einem sich freiwillig einfindenden Kreis Gleichgesinnter, wie die Ausharrenden. Musste sich dieser Kreis noch verständigen, erübrigte sich das für die Familie meistens, die sich auf ihre Genealogie verlassen konnte. Die Kerngemeinschaften waren von gegenseitigen Verpflichtungen getragen, deren Erfüllung erwartet werden konnte. Regionales Wissen, darauf beruhendes Einschätzungsvermögen des eigenen Risikos, gegenseitige Verantwortlichkeit und Solidarität waren ihre Merkmale. Die Kerngemeinschaften agierten in dem Bewusstsein einer weiteren, wesentlich abstrakteren, aber immer auch noch ansprechbaren Gemeinschaft, von der man im Grunde genau diese Merkmale ebenfalls erwartete. Diese waren zwar so allgemein, dass sie auf jede, nicht nur territorial begrenzte Gemeinschaft zu passen scheinen. Aber darauf kam es gar nicht an, sondern nur auf das daran anschließende Grenzregime. Sehr deutlich traten nämlich die Grenzen zu den Anderen hervor, die im Fall der Evakuierung im Oderbruch die Behörden und deren polizeiliche Vertreter waren. Für sie trafen die Merkmale eben nicht zu. Und deshalb gerieten die Anderen schnell in den Verdacht, unvernünftig zu handeln. Die Zumutung des Souveränitätsverlustes wird offensichtlich durch die Gemeinschaftserfahrung kompensiert. Schon das gemeinsame Benennen des Unmutes, die gemeinsame Diskussion trauriger Nachrichten half über den persönlichen Schmerz hinweg, in dem Sinne, dass geteiltes Leid nur noch halbes Leid ist. Aber erst recht die Erfahrung uneingeschränkter tatkräftiger Solidarität wirkte euphorisierend. Die Erfahrung einer Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt und von deren Richtigkeit ihrer Werte man überzeugt ist, ermöglicht es offensichtlich, negative Emotionen durch offensive Schemata zu bewältigen. Die Fähigkeit der Gemeinschaft zur Initiative, zu Entscheidungen und zum Handeln sind Voraussetzung dafür. Eingesperrt in der sich fremden Elendsgemeinschaft des Notquartiers setzten sich kräfteraubende Abwehremotionen nur weiter fort bis zur Erschöpfung des Individuums. Aber auch die freiwillige, positiv identifizierte Gemeinschaft musste zur Tat kommen. Die gegenseitige Bestimmung in den gemeinschaftlichen Diskussionen liefert zwar Möglichkeiten zur Modifikation der Selbstbeschreibung im Angesicht einer das gewohnte Selbstbild in Frage stellenden Katastrophe, aber die mittels der Gemeinschaft kommunizierte Alternative muss erlebt werden. Für dieses Erleben fuhr man dann ins Sperrgebiet oder ging zum Kartoffelschälen an den brüchigen Oderdeich.

Einsatz und Gewinn Mit der Evakuierung war für einen großen Teil der Leute im Oderbruch das Hochwasser noch nicht vorbei. Nur die wenigsten zogen sich tatsächlich in Sicherheit zurück, um den weiteren Verlauf des Hochwassers ab-

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zuwarten. Vor allem von den Alten wurde zwar solch ein Rückzug erwartet, waren sie doch die ersten, die mit Unterstützung der Jüngeren evakuiert wurden. Die anderen drängte es aber zur Tat. Die Sandsackplätze waren die ersten Orte, an denen einheimische Arbeitskräfte gefragt waren, aber auch Fahrer von Kleintransportern, Deichläufer und Leute, die Verpflegung für die vielen auswärtigen Helfer bereitstellten, wurden gebraucht. Als der Deich zum erstem Mal nahe seines Dorfes abrutschte, berichtete Herr Baumert von der Panik, die sich der Leute bemächtigte, weil sie sich schon vor die Evakuierung gestellt sahen. Niedergeschlagenheit wäre da im Dorf zu erwarten gewesen. Aber Herr Baumert erlebte die Situation ganz anders. Der Deichrutsch war, „[Lachen] ja, das war der Höhepunkt, muss ich ganz ehrlich sagen“ (Baumert 136). Den Moment größter Gefahr erlebte er als ein euphorisierendes Erlebnis, bei dem die Emotionen so angespannt waren, dass sie ins Gegenteil umschlugen: der Tiefpunkt wurde zum Höhepunkt. Geheuer scheint das aber Herrn Baumert nicht zu sein, wenn er sich dazu genötigt sieht, die Wahrheit seiner Aussage zu unterstreichen. Negative Emotionen können Kräftepotenziale zur Abwehr oder Flucht aktivieren. Und genau das geschah im Angesicht des Deichrutsches. Die Einwohner griffen mit neuer Kraft zu Schaufel und Sandsack. Obwohl das Ergebnis dieses Einsatzes begrenzt war, erschien es Herrn Baumert essentiell für den Erfolg der helfenden Bundeswehrsoldaten. Denn die hatten nun Zeit für ihre Arbeit am Krisenort. Dauernd kamen Materialladungen am Sandsackplatz an, die aber gleich zu einer enormen Menge gefüllter Sandsäcke verarbeitet wurden: „Da is’ ja eene Fuhre Kies nach der andern gekommen, und abends hat man geseh’n, jupp, war wieder alles weg. Konnten die nächsten Kipper kommen“ (145–147). Rasant leerten die schippenden Einwohner den Sandsackplatz. Indem sie den Soldaten der Bundeswehr mit ihrem Einsatz auf dem Sandsackplatz den Rücken freihielten, unterstützten sie diese. Auf dem Sandsackplatz anzupacken war für Herrn Baumert ganz selbstverständlich. Kaum war er mit der Familie von der Urlaubsreise zurück, half er auf dem Sandsackplatz. Schnell bildete sich Routine heraus: Nach dem Aufstehen und dem Frühstücken ging es zur Oder, um den Pegel zu prüfen. Anschließend wurde bis zum Abend geschippt. Den Sandsackplatz erlebte Herr Baumert als ein sich selbst organisierendes Unterfangen. Es gab keine festgelegten Zeiten und keine offiziellen Aufforderungen zum Mittun. Jeder kam nach eigenem Ermessen, er etwas später, weil er noch Urlaub hatte, andere waren schon früher dort. Die Aufgaben, wie das Auf- und Abladen oder das gemeinsame Anpacken bei schweren Säcken, wurden aus der Situation heraus je nach Bedarfslage ganz unproblematisch erledigt, wobei sich Frauen wie Männer gleichermaßen engagierten. Was zählte, war der Einsatz: „Da hab ick gestaunt. Und wie emsig, also wie die Ameisen, wirklich. Haben was geschafft die Leute. Naja

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nu, ging ja um unsere Heimat, da hat man ja och, hat man ja wirklich alles gegeben, was man konnte“ (166–169). Die Einsatzbereitschaft überraschte ihn, obwohl er doch selbst dabei war. Nur mit dem Verweis auf „unsere Heimat“ konnte er sich dieses Engagement erklären. Die Heimat war aber auf dem Sandsackplatz nicht bloß eine abstrakte Idee, hier war sie zu erleben: „Da hat man sich unterhalten. Manchmal war ’s auch lustig, wie gesagt, musst ja, kannst ja nich’ immer stumm vor dir herschippen, das geht ja nich’, aber wie gesagt, da (.) hat Spaß gemacht in der Gemeinschaft, und da hat man Leute kenn’ gelernt“ (182–185). Heimat bedeutete das Aufgehobensein in der Gemeinschaft. Die Unterhaltungen wurden als Frohsinn erlebt, weil man mit Gleichgesinnten zu tun hatte. Und die gute Stimmung profitierte zudem vom Umstand, dass man mit Fremden aus den umgebenden Gemeinden zusammentraf. Die anstrengende Arbeit ging dann so leicht von der Hand, dass es ein Vergnügen war. Heimat war dann mehr als nur der enge Kreis des Bekannten, mehr als das Dorf. Heimat war die Gemeinschaft, der man angehörte. Das veranlasste die Leute auch, nach ihrer Arbeit auf dem Sandsackplatz noch selbständig Sandsackbarrieren in einem tiefer gelegenen Straßenzug ihres Ortes aufzubauen. Dabei war allen klar, dass diese Aktion im Falle einer Flut nicht sehr wirkungsvoll gewesen wäre, aber wenigstens gaben die Barrieren Hoffnung. Wie auf dem Sandsackplatz fanden sich die Leute spontan zusammen, um einen – wenn auch kleinen – Beitrag zum Heimatschutz zu leisten. Wichtig war dabei, dass es sich um eine kleine, in der Gemeinschaft zu bewältigende Aufgabe handelte. So konnte mit der Lösung schnell deren Sinnhaftigkeit und die des gemeinschaftlichen Tuns manifestiert werden. Die Gemeinschaft war aber auch das Netzwerk, das immer die neuesten Nachrichten vom Deich hatte. Diese wurden von einheimischen Transportbeifahrern übermittelt, die den ortsfremden Materialfahrern die Wege in den Sperrzonen zeigten. Anschließend verbreiteten sich die Nachrichten wie von selbst. So fühlten sich alle besser informiert als es durch die Medien je möglich gewesen wäre. Denn durch ihre gemeinschaftliche Unmittelbarkeit haftete den Nachrichten so etwas wie die Tatsächlichkeit des Geschehens an. Glaubwürdiger war nur noch, was man mit eigenen Augen sehen konnte. Als einige Tage nach dem Deichrutsch der Deich in Ortsnähe beinahe brach, verfolgten die Leute auf dem Sandsackplatz die Entwicklung mit großer Spannung, die eher aus Neugierde denn Angst herrührte. „Naja und wie gesagt, als der große Abrutsch war, da war’n wir natürlich neugierig, wie sieht ’s aus, wa“ (232–234). Aber nur die Einsatzfahrzeuge konnten zu dieser Stelle vordringen. Darum wollte nun jeder als Helfer mitfahren, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Herr Baumert konnte mitfahren und war von dem, was er zu sehen bekam, überwältigt. „War natürlich gewaltig, muss ich sagen. So ’n hab ich mein Leben noch nie gesehn, so ’n riesen Loch. War ja richtig wie ’n Granatentrichter, ein

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riesjet Ding, richtiger Abrutsch“ (236–239). Die Wirkung der Naturgewalt kann Herr Baumert nur noch mit der des Krieges vergleichen. Aber weit davon entfernt, sich mit Angst daran zu erinnern, schilderte er dieses als einmaliges, faszinierendes Erlebnis. Die Gewalt, der man sich entgegenstellte, begeisterte mit dem Gefühl, dieser Gewalt auf Augenhöhe begegnen zu können. Herr Baumert bekam die Macht zu spüren, die sich in der Gemeinschaft entwickelte. Und so war es nur folgerichtig, dass Herr Baumert von sich und den Leuten erwartete, einer erneuten Flut in gleicher Art und Weise zu begegnen, „selbstverständlich mit demselben Einsatz wie damals, ganz normal“ (798–799). An der gemeinsam organisierten Evakuierung beteiligte sich Herr Neubert aktiv, nachdem er sein Geschäft wegen des Hochwassers geschlossen hatte. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten viele Dorfbewohner schon auf dem Sandsackplatz. Einem „inneren Druck“ (187) folgend, ging auch er dort hin. „Und dann war noch eine Sache hier, die (..) junge Leute haben sich dann zusammengefunden, haben sich hier von dem [X.Y.], er selber auch, äh so ’n Bus gechartert. Fand ich dann auch so ’n bisschen na ja, humorvoll, kann man sagen, wenn die Sache nicht so ernst gewesen wäre. Aber die haben, dadurch, dass es nun so ’n Armeebus war hier von der NVA22 äh, haben die sich im Prinzip damit den Durchgang verschafft, äh an die Krisenherde“ (Neubert 45–49). Mit einem einfachen Trick überwand diese Gruppe die Sperren vor dem Deich. Sich als „Spezialtruppe von der Melioration“ (56) ausgebend, die von einem imaginären Oberst angefordert wurde, konnten sie bis zum Stab vordringen, und nachdem sie die diensthabenden Offiziere aufklärten, vorn am Deich dabei sein.23 Sie ließen sich nicht auf den Sandsackplatz verbannen. Bei den Soldaten, die nicht über das regionale Wissen über die Bedeutung der Melioration im Oderbruch verfügten, hatte neben dem Dienstgrad des angeblichen Oberst der Truppentitel offensichtlich starken Eindruck gemacht. In der ernsten Situation amüsierte und begeisterte Herrn Neubert die Chuzpe dieser tatkräftigen und wohl auch deshalb „relativ jungen Männer“ (196) zwischen 20 und 45 Jahren, wie er schätzte. Darum erkundigt er sich genauer nach ihren Taten. Nach Meinung der Gruppe gab es schon genug Sandsackschipper, und das sah er genauso. Was aber Not tat, war die moralische Unterstützung der Soldaten am Deich, „die kommen von wo weiß ich woher, die haben doch eigentlich gar keine Bindung hier, ja, die sind auf Be22 NVA, Abkürzung für „Nationale Volksarmee“ der ehemaligen DDR. 23 Melioration bezeichnet Techniken der Regulierung des oberflächennahen Grundwassers, die bis zum Ende der DDR im Oderbruch intensiv eingesetzt wurden. Die institutionelle Präsenz in der Region durch verschiedene Außenstellen des Meliorationskombinates Frankfurt (Oder) oder auch dem VEB Vereinigte Dränrohr- und Ziegelwerke in Bad Freienwalde und die Erfahrungen in der Landwirtschaft machen diesen Titel der „Spezialtruppe“ aus regionaler Sicht plausibel, aber auch durchschaubar. VEB, Abkürzung für „Volkseigener Betrieb“ in der ehemaligen DDR.

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fehlsbasis da vor Ort, und da wäre es doch wichtig, dass auch Leute da sind, die motiviert sind, weil sie hier wohnen äh, da denen zur Seite zu stehen beziehungsweise auch Ansporn zu sein, zu sagen: ,Menschenskinder, die sitzen nicht nur zu Hause und drehen Däumchen und gucken von weitem, was machen die da vorne, sondern die stehen neben uns‘“ (65–70). Die vorgetragene Begründung der Truppe, als Ortsansässige den Soldaten Ansporn zu sein und gegen den Eindruck konsumierender Untätigkeit anzutreten, nahm Herr Neubert sich so sehr an, dass er diese hier selbst vertrat. Sandsäcke schippen war ihm nicht mehr genug. An zwei Tagen fuhr Herr Neubert mit der Truppe mit, und tatsächlich erlebte er diese Arbeit als Unterstützung für die auswärtigen Helfer. Anders als diese schöpften sie ihre Motivation nicht aus organisatorischen Notwendigkeiten, sondern aus ihrem Heimatbezug, die Leute der Spezialtruppe arbeiteten für sich selbst und die Ihren. Sein erster Einsatz mit der Truppe war jedoch enttäuschend: „Na ja, da haben wir dann auch den ganzen Tag in Reitwein gehütet“ (98–99). Am Reitweiner Sporn war eine der am meisten gefährdeten Stellen im Deichabschnitt des oberen Oderbruchs. Aber wie konnte die Truppe den Deich „hüten“? An diesem Tag war die Truppe vor allem beim Bau des hier verlaufenden Schlafdeiches beschäftigt, dessen Sinn Herr Neubert, wie so viele andere Oderbrüchler, nicht einsehen konnte. Mit dem eigentlichen Oderdeich kam die Truppe darum gar nicht in Berührung, sondern sah diesen nur von weitem. Insofern trugen sie lediglich Sorge um den Deich, indem sie die zweite Deichlinie, den Schlafdeich, miterrichteten. Aber das schien Herrn Neubert, trotz der Dankbarkeit der Soldaten (229–232), nicht genug gewesen zu sein. Der nächste Tag bei Zollbrücke, wo sich der Deich abgesenkt hatte, war wesentlich befriedigender. „Ja, die Ergebnisse da vor Ort waren, waren eigentlich auch irgendwo (.) ganz toll, finde ich ja. Dieser Zusammenhalt, das war ja eigentlich immer so, jetzt auch im Nachhinein, wenn man ein bisschen gewertet wird, diese Solidarität untereinander, dass auch wirklich alle gleich waren in dem Moment, dass man da auch wirklich angepackt hat, dass da auch keiner rum stand oder so. Na ja gut, wenn man so in Betrieben guckt, dann quatscht der da. Wenn es los ging, ging es los. Ja, dann haben da alle angepackt und waren alle motiviert, da wirklich schnell irgendwas zustande zu kriegen. Ja und das war irgendwo phantastisch, ja“ (108–115). Das Ergebnis der Arbeit war offensichtlich nicht die Sicherung des Deiches. Das Ergebnis war der Zusammenhalt, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, das auf Gleichheit beruhte. Und auch noch im Erinnern im Kontext einer anderen Zeit konnte dieses Gemeinschaftsgefühl bestehen. Die unbedingte Gleichheit vor der Aufgabe ließ alle persönlichen Unterschiede vergessen. Ohne Zögern waren alle gleichermaßen tätig. Hier erfüllte sich ganz unproblematisch die Erwartung an die Truppe, sich gemeinsam gegen die Gefahr des Hochwassers für die Sache des Oderbruchs zu engagieren. Dieses Gemeinschaftserleb-

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nis von Zollbrücke aber war nur möglich, weil Herr Neubert den Eindruck hatte, eine richtige Aufgabe zu haben, nicht nur hinsichtlich ihres Umfangs, sondern gerade auch hinsichtlich ihrer moralischen Dimension. Die Arbeit am Schlafdeich bei Reitwein erschien ihm ja als ein recht sinnloses Unternehmen, gegen das sich auch der Protest der Einwohner richtete. Darüber konnte auch der Dank der Soldaten nicht hinwegtäuschen. Die Truppe genügte sich nicht selbst, erst mit dem Bewusstsein, im Einklang mit der Gemeinschaft das Richtige zu tun, kam sie zur Erfüllung. Insofern kann diese Episode als ein weiterer Hinweis dafür verstanden werden, dass diese Gruppe – bei aller Exklusivität – ihr Selbstverständnis nur in ihrem positiven Bezug auf die größere Gemeinschaft gewann. Das beflügelte deren Protagonisten: In dieser Situation verspürte Herr Neubert keine Angst. Selbst ein Riss im Deich, der sich während ihres Einsatzes noch vergrößerte und ein Bruch werden konnte, oder das Vibrieren des mit Wasser vollgesogenen Deiches machten ihm nicht Bange. Dieses Hochgefühl, das in Herrn Neuberts Erzählung immer noch zum Ausdruck kam, dauerte dann beim gemeinsamen Scherzen und Lachen auch die Heimfahrt über an: „Wir haben herzlichst gelacht dabei auch, man muss ja, es ist ja auch sicherlich so ’n bisschen äh (..) ja, wie sagt man jetzt dazu (..) Galgenhumor, ja. Aber man versucht sich auch abzulenken, und wir haben auch da gelacht. Und man verdrängt das irgendwo dann und versucht es. Man hat im Bus gelacht. Es ist irgendwie, ich sag mal, ist jetzt nichts Negatives jetzt dabei, sondern ist einfach nur, dass man äh (.) wie Gesang beim Marschieren oder so, dass man da irgendwo dieses, dieses Zusammengehörigkeitsgefühl dennoch zusätzlich ausdrückt, dass man seine Scherze halt auch macht. Aber wie gesagt, ich hab da nichts Negatives bei gesehen, dit is’, man hat sein Gewissen beruhigt indem man da richtig aktiv wurde und man ist dann eben auch stolz wieder nach Hause gefahren, man hat was gemacht, und dies Gefühl von Stolz und Beruhigung hat natürlich auch ’n bisschen die Sache äh aufgelockert und mal halt auch diese Scherze da im Bus stehen dann“ (298–307). Das Scherzen unterstrich nochmals die unterschiedslose Gemeinschaft der Truppe. Die gemeinsam erlebte Gefahr und deren Bewältigung schlug in ein Gefühl um, das Durkheim mit dem Ausdruck Efferveszenz beschrieb.24 Der damit gemeinte Überschwang der Gefühle, eine Trunkenheit an Gemeinschaft, führte zu übermütigen Scherzen, die Mut machten und Energiereserven aktivierten und diese später auch abbauten. Das gemeinschaftliche Erleben aktivierte ein positives emotionales Schema. Doch schien Herrn Neubert das später nicht mehr geheuer. Denn gleich zweimal betonte er, dass ihm

24 In der deutschen Übersetzung von Durkheims elementaren Formen des religiösen Lebens (1994) blieb der Ausdruck „effervescence“ nicht erhalten, anders als in der angelsächsischen Rezeption (z. B. Tiryakian 1995). Joas (1999) wies auf dessen Bedeutung für die Konzeption der Gemeinschaft nachdrücklich hin.

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das nicht „negativ“ erschienen war, er sich dabei nicht unwohl fühlte. Eine Distanz zum Geschehen in der Truppe trat hier jedoch deutlich hervor. Dieser zweite Einsatz bei der Truppe war sein letzter. Zunächst konnte sich Herr Neubert nicht recht erinnern, wie es dazu kam: „Warum bin ich denn nicht mehr mitgefahren? Dann war das Wochenende, ja, dann man dieses ganz akute Gefühl auch nicht mehr gehabt, muss ich sagen“ (286– 287). Der Druck war weg, führte er aus, die Notwendigkeit für solche Einsätze ebenfalls nicht mehr gegeben, weil genügend Soldaten an den Deichen waren und die Gefahr einer Überflutung gebannt schien. Selbst als er von der Truppe gefragt wurde, ob er mitkommen wolle, lehnte er ab. Der zeitliche Abstand hatte bei Herrn Neubert Ernüchterung zur Folge, führt aber auf den eigentlichen Mechanismus seines Gemeinschaftsbezuges hin: Die Arbeit mit der Truppe half ihm bei der Bewältigung seiner Bedrohungsgefühle. Sein Geschäft und damit auch seine Stellung hatten mit der Hochwassergefahr ihre Bedeutung eingebüßt und blieben wohl nicht ohne Folgen für sein Selbstwertgefühl – er wurde nicht gebraucht. Beim Schippen auf dem Sandsackplatz konnte er es nicht wiederfinden. Aber die Einsätze mit der Truppe boten die Gelegenheit, erneut Bedeutung für sich selbst zu gewinnen, weil ihm diese Tätigkeit bedeutend für die Truppe, die Soldaten am Deich, aber vor allem für die zu schützende Gemeinschaft erschien. Von dieser Warte aus hatte sich sein Verhältnis zu den anderen Truppenmitgliedern nicht verändert, sondern Herr Neubert konnte mit dem zeitlichen Abstand und dem Nachlassen der Gefahr wieder an seiner alten Selbstbeschreibung im Hinblick auf die Gemeinschaft anknüpfen. Die überschwänglichen Scherze in der Truppe, die immer auch unkontrollierte, intime Einblicke erlaubten, erschienen vor diesem Hintergrund als nicht mehr angebracht. Die Erfahrungen in der Truppe wollte er nicht missen, aber sein Ausstieg ging folgerichtig mit dem Rückgewinn seiner Souveränität einher. Wie sehr er diese der Truppe und dem erlebten Gemeinschaftsbezug verdankte, schien Herr Neubert zu spüren, als er später von seiner Enttäuschung über den Dorfumzug nach überstandener Hochwassergefahr berichtete, an dem der Bus der Truppe nach anfänglich anders lautender Absprache dann doch nicht teilnehmen konnte. Dem Widerstand gegen das Unvermeidliche war durch bloßes Ausharren nicht Genüge getan. So hatte es Frau Gerster empfunden und ergriff die Gelegenheit, mit ihren beiden Nachbarinnen an die Oder zum Helfen zu fahren. Weil nach Frauen gefragt wurde, war den Männern in der Runde der Evakuierungsverweigerer anscheinend sofort klar, dass es um Frauenarbeit ging. Tatsächlich brach jede der drei Frauen im Autokonvoi am nächsten Tag auf, um in der Küche einer Gaststätte an der Oder zu arbeiten. Die Küchenarbeit war monoton und darum anstrengend, aber trotzdem tat sie ihnen gut: „So. Das war (.) für uns beruhigend“ (109). Die Arbeit war keine Erfüllung, aber eine Therapie gegen die Angst. Weil an ihrem Arbeitsort auch die Einsatzzentrale der Hilfskräfte war, eröffnete das Kar-

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toffelschälen die besten Informationsquellen, durch die die Frauen alles über den Stand der Geschehnisse am Deich aus erster Hand erfuhren. Dabei entwickelten die Frauen schnell Routinen, bei denen sie auf ihren Heimvorteil setzten. Bei der Arbeit in der Nähe der Oder sitzend, konnten sie den Pegelstand beobachten und die Deichläufer ausfragen, denn als Oderbrüchlerinnen kannten sie die. Jedoch die meisten Informationen gab es in den Verpflegungsstellen der Soldaten. Sobald diese hektisch wurden, brauchten die Frauen nur kurz nachzufragen, um Bescheid zu wissen. Das gab Frau Gerster Sicherheit. So beunruhigte es sie auch nicht, als es am 30. Juni zum zweiten Deichrutsch in Hohenwutzen kam, bei dem der Deich nur noch eine Standfestigkeit von fünf Prozent hatte. Als der Alarm ausgelöst wurde, war Frau Gerster mit einer der Nachbarinnen während einer Pause bei schönem Wetter am Deich spazieren. Diese Nachbarin verfiel in heillose Aufregung, aber sie selbst blieb ruhig und ging zu ihrem Auto, was nur vordergründig mit ihrem damaligen Handikap, einer leichten Verletzung am Bein, zu tun hatte: „Ich sage: ,Geh, renne! Wenn Du musst, musst Du rennen. Ich laufe vernünftig und ich komm auch noch dahin, wo ich hin will.‘ Nu, bin ich dann zu meinem Auto gegangen“ (134–135). In diesem selbstbeherrschten Moment erschien Frau Gerster vielleicht souveräner, als sie tatsächlich war. Die Angst brach später als Panikattacke aus ihr heraus. Als sie nach Hause kam, machte sich die Nachbarin mit „ihren beiden Männern“ (139) auf den Fluchtweg. Nun schwand auch ihre Sicherheit. Rat suchend wandte sie sich an ihre Familie. Ihr Mann schlug ihr vor, aus der Gefahrenzone herauszufahren. Das traute sie sich allerdings nicht mehr zu, zu unsicher fühlte sie sich plötzlich. Erst die noch verbliebene Nachbarsfrau konnte sie wieder beruhigen, und schließlich begannen sie für ihre Gemeinschaft von Ausharrenden zu kochen. Das Kochen für die Verbliebenen im Dorf gehörte zu den Aufgaben der Frauen, weil die Männer Sandsäcke schippten oder anderweitig halfen. Jeder hatte Aufgaben nach seinen Fähigkeiten. Die Angst konnte Frau Gerster trotz des Beistandes der Nachbarin nicht vergessen, aber sie konnte weitermachen. Tätigsein verdrängte ihre Angst. Sie verschwand aber erst, als Frau Gerster spät in der Nacht von der Bewältigung der Hohenwutzener Deichkrise erfuhr. Am kommenden Tag hatte sie Geburtstag, der ihr wegen des bedrückenden Regens in Erinnerung geblieben war. „Der Himmel wurde total schwarz und das KAM runter, was nur runterkommen konnte. Das hat so gedröhnt […]. So, das hat vielleicht anderthalb Stunden so richtig gegossen und dann hellte sich der Himmel auf, und dann kam ein Schwanenpaar da langgeschwommen. Ich sag, das sieht ja aus, als ob jetzt die Rettung hier kommt. Und da war eigentlich, möchte ich mal sagen, an dem 31., da hatten wir [die Angst] so einigermaßen auf die Reihe gekriegt“ (166–173). In ihrer Not erfuhr Frau Gerster die Ereignisse als Zeichen: die nächtliche Nachricht vom Ende der Deichkrise und das

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Schwanenpaar nach dem Wolkenbruch waren Hoffnungszeichen, an die sie sich klammerte. Tatsächlich beruhigte sich die Lage in den nächsten Tagen, und sie besiegte ihre Angst. Bei der letzen kritischen Situation nahe ihres Einsatzortes konnten sie sich den Riss im Deich sogar ansehen. Dabei erlebte sie die Hubschrauber der Bundeswehr und die Solidarität der Soldaten, was ihr Zuversicht gab, gegenüber den Naturgewalten obsiegen zu können. Denn die Betroffenen, wie Frau Gerster sagte, „haben eben selbst miterlebt, wie man uns hilft. Und das hat uns eigentlich wieder Kraft gegeben. Da haben wir gemerkt, Mensch, hier hat der Mensch noch mal die Natur überlistet“ (176–178). Diese Solidarität bei den Hilfeleistungen gab ihr letztlich den Mut zum Durchhalten. Der Mensch, so schien ihr, hat sich nicht unterkriegen lassen, der Mensch beherrscht die Natur. Damit appellierte Frau Gerster an keine regionale Partikular-, sondern an die umfassende Universalgemeinschaft25. Aber hier wird klar, dass die Universalgemeinschaft keine Indifferenz bedeutet, sondern nur wieder andere Partikularitäten aufruft: hier die Natur. Die Gemeinschaft wies in den Erlebnissen der Oderbruchbewohner während der Flut weit über die unmittelbaren Kontakte hinaus. Diese Kontakte standen zunächst im Mittelpunkt der Erzählungen über die eigenen Aktivitäten, sei es als Partner auf dem Sandsackplatz, als Informanten, als Aktivisten der „Spezialtruppe“ oder Kolleginnen beim Kartoffelschälen. Dabei wurde immer wieder das fraglose Miteinander betont. Der Sandsackplatz organisierte sich selbst, jeder stand immer am richtigen Platz beim Dammbau und jeder hatte seine spezielle Aufgabe, die er für die Gemeinschaft leisten konnte. Alltäglich tradierte soziale Unterschiede waren verschwunden. Sie wurden von der Bedrohung aufgehoben. Aber das war die Voraussetzung für die Gemeinschaft der Gleichen. Diese Gemeinschaft war dabei immer größer als die unmittelbar erlebte.26 Ohne die Imagination eines größeren über den unmittelbaren Erlebniszusammenhang hinausragenden Rahmen wäre keine sinnvolle Bestimmung des gemeinschaftlichen Tuns möglich, und die Frage nach der Geltung der eigenen Werte könnte nicht positiv geklärt werden. Die täglich erlebte Gemeinschaft aber war für den einzelnen Betroffenen der unmittelbare Möglichkeitsrahmen, um sich selbst wieder als Handelnden wahrzunehmen. Das Motiv der Selbsthilfe betraf dabei nicht nur die Herstellung von Sandsäcken, die Bedienung von Transportmitteln oder die Bereitstellung von Verpflegung. Diese Tätigkeiten erscheinen hinsichtlich der Individuen nicht als Zweck, sondern als Mittel der Selbsthilfe. Durch diese Tätigkeiten banden sich die Betroffenen aktiv in einen größe25 Wie sie Tietz (2001) als Wir1-Gemeinschaft kennzeichnete. 26 Das Imaginäre der Gemeinschaft trifft darum nicht nur für Nationen zu, sondern für jede Art von Partikulargemeinschaft, worauf schon Anderson hinwies (2006: 6).

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ren Kreis, in die Gemeinschaft ein. Die Gemeinschaft aber konnte auf einen Sinn verweisen, der an Symbole wie „Heimat“, „Gleichheit“ und „Solidarität“ anknüpfen konnte, als eine Möglichkeit zur emphatischen Bejahung eines bestimmten, eben partikularen „Wir“, weil es um „Uns“ ging. Mit der abstrakten Sinnbestimmung der Gemeinschaft öffnete sich als bejahte und so geltende Werteordnung den Betroffenen die Möglichkeit zur erneuten individuellen Sinnbestimmung, einer an diesen Werten orientierte Bestimmung als sinnvolle Existenz. Auf diese Weise konnte gegenüber der mehrdimensionalen Entwertung Souveränität erlangt werden.

Hilfe der Anderen Sobald klar war, dass das Oderhochwasser im Sommers 1997 gefährlicher werden würde als zuerst angenommen, wurde die auswärtige Hilfe an der Oder verstärkt. Aus ganz Deutschland kamen Polizisten und Angehörige des Bundesgrenzschutzes sowie Mitarbeiter des Technischen Hilfswerkes (THW) an den Oderdeich und half die Berliner Feuerwehr in Frankfurt (Oder). Den größten Helferposten stellte aber die Bundeswehr. Die Helfer kamen in eine in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit eher unbekannte Region im Osten. Die Hilfeleistungen nahmen in den Medien einen breiten Raum ein, so dass dort auch über die Chance einer im Verlauf des gemeinsamen Abwehrkampfes vollzogenen deutschen Einheit spekuliert wurde.27 Für die Gemeinschaft der Oderlandbewohner konnte die erlebte Hilfeleistung durchaus diese Bedeutung annehmen, wenn sie sich als Gemeinschaft explizit in einer übergeordneten Nationalgemeinschaft Deutschlands aufgehoben thematisierten. Ebenso gut konnten diese Hilfeleistungen aber auch Anlass für die Reaktualisierung einer oderländischen Gemeinschaftsgrenze sein. Die Bundeswehr machte von allen Hilfskräften auf Herrn Baumert den größten Eindruck. Als er auf den Sandsackplatz kam, waren neben vielen anderen auch schon die Soldaten dort und am Deich. “Da war Himmel und Menschen. Unvorstellbar war das eigentlich für uns, so was haben wir noch nicht erlebt. Also das war natürlich der blanke Wahnsinn, also ehrlich“ (Baumert 86–89). Diese Ansammlung von Menschen, die er zuerst als Medienleute wahrnahm und später davon auch die Helfer unterscheiden konnte, war unfassbar. Die Überwältigung aber hatte ihre Ursache vor allem in dem darin zum Ausdruck kommenden massiven Interesse an seinem eher unscheinbaren, entlegenen Heimatort. Dieses Erstauen, das sich gleich bei der Rückkehr aus dem Urlaub bei Herrn Baumert einstellte, hielt eine Weile an. Großen Eindruck machte auch die Technik der Bundeswehr, die Hubschrauber, die in nächster Nähe landeten, die Netze mit den Sandsäcken luden und wieder davonflogen. „Das war ja mehr, das war ja wie ‘n Abenteuer, ja kann man sagen. Da haben die keene Rücksicht ge27 Siehe dazu Döhring (2003).

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nommen so großartig“ (94–95). Von dieser Technik und deren Macht waren wie alle Männer, die Kinder und auch Herr Baumert begeistert. Beinahe gewinnt man durch die Schilderung den Eindruck eines Rummels. Die Leute wurden mitgerissen von der Kraft der Technik, und wurden ein Teil von ihr. Das war das Abenteuer, bei dem man Sicherheit trotz Anwesenheit der Gefahr verspürte. Aber die Gefahr war begreifbar, die Handlungen echt und darum „großartig“. Herr Baumerts Euphorie war kaum zu bremsen. Aber nicht nur die Technik überraschte ihn, auch die Freundlichkeit der Soldaten. Selbst die Arbeit auf dem Sandsackplatz wurde mit Schaufeln der Bundeswehr unterstützt. Das war eine ganz andere Armee, als er sie in der DDR erlebt hatte. „Die schieben zwar nicht mehr so ’n Dienst wie unsereener. Aber ne, wir haben uns gewundert, wie die organisiert warn und och die Technik und Hubschrauber und wie das geklappt hat, das war ja wirklich, das war wie ’n Katastropheneinsatz, also wirklich, war et ja och“ (271–275). Diese Armee war lässiger und trotzdem auf der Höhe der Zeit. Sie konnte den Anforderungen der Situation an der Oder genügen. Diese Erfahrung, die seinen Erinnerungen und Vorurteilen widersprachen, ließen ihn die Ernsthaftigkeit des Engagements erkennen. Die Soldaten taten nicht nur so, sie waren „wirklich“ im „Katastropheneinsatz“. Die Situation an der Oder war schließlich genau das, eine Katastrophe, wie er betonen musste. Aber dass Fremde sich dem so annahmen, war unerhört. Denn die Soldaten kamen nicht aus der Nähe des Oderbruchs, sondern aus Norddeutschland. Da konnte Heimatverbundenheit kein Grund für deren famoses Engagement rund um die Uhr sein. Dieses Geheimnis löste Herr Baumert nicht. Aber er hatte die Erfahrung der problemlosen Zusammenarbeit gemacht: „Da würd’ ich sagen, wir alle, wir alle, doch, Hand in Hand, doch“ (297–298). Trotz der widrigen Umstände, wie die Mücken, die durch die feuchten Wiesen infolge gestiegenen Grundwasserspiegels zur Plage wurden, hatten die Soldaten durchgehalten und sogar noch Schutzmittel an Einheimische verteilt. Durch diese Erfahrung hatte sich seine Einstellung zur Bundeswehr zum Besseren verändert. Anders verhielt es sich mit den Besuchen von Politikern vor Ort, die vom Tross der begleitenden Journalisten kaum zu unterscheiden waren. Er war mit keinem von diesen direkt zusammengetroffen, wenn er auch wie viele andere neugierig war. Allerdings lief niemand deswegen vom Sandsackplatz weg. Eher kühl gaben sich die Leute auf dem Platz, wenn sie die mitfühlenden Fragen der Politiker mit der Aufforderung zum Mittun quittierten. Herr Baumert glaubte aber, dass die Besuche der Politiker wirklich von deren Betroffenheit zeugten. Deren Anwesenheit wirkte sich trotz der Zurückhaltung der Einwohner auch stimulierend auf ihr Engagement aus, erst recht, als die Hilfszusagen tatsächlich wahr wurden. Denn die Leute im ganzen Oderbruch waren so fleißig, dass das gesamte Material, die Jutesäcke und der Sand, verbraucht waren. Dieser von Herrn Baumert ausgestellte Fleiß aller wies nun wiederum über den Sandsackplatz, seinen er-

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lebbaren Horizont auf eine größere Gemeinschaft. Im spontanen Miteinander mit den unbekannten Helfern aus den umliegenden Gemeinden wurde diese offenbar. Die gemeinschaftliche Kommunikation bei der Arbeit war der Schlüssel für die Herausbildung einer neuen Selbstbeschreibung im Kollektiv. Die Umlandgemeinden wie das eigene Dorf gehörten selbstverständlich zum Oderbruch. Der tägliche Einsatz mancher Helfer aus anderen, weniger gefährdeten Orten ermöglichte Herrn Baumert, sich mit einer Gemeinschaft zu identifizieren, die mehr als sein Dorf meinte. Diese Helfer waren von Anfang an keine Fremden, denn man lebte mit diesen in einem alltäglichen Zweckverbund administrativer und wirtschaftlicher Beziehungen. Allerdings führte das bis zur gemeinsamen Arbeit auf dem Sandsackplatz zu keiner emotional gefärbten Gemeinschaftsbeschreibung. Das von Herrn Baumert erstaunt zur Kenntnis genommene Engagement war Anlass für ein neues Selbstverständnis in der regionalen Gemeinschaft. Aus dem Zweckverbund verschiedener Kollektivbezüge entstand während der Hochwasserkatastrophe ein gemeinsames „Wir“ wegen des gemeinsamen Engagements und dessen kommunikativer Einbettung. Das kann jedoch unter dem Schlagwort „Katastrophengemeinschaft“ nur unzureichend beschrieben werden, denn der Grund der Gemeinschaft war mehr als unmittelbar gemeinsame Interessen. Diese Gemeinschaft rechtfertigte mit ihrem eigenen Fleiß die Freundschaft und Solidarität der anderen Helfer, vor allem der Bundeswehr, aber auch der fernen Politiker. Die Hilfe konnte auch erleben, wer wie die Krähmers nicht auf dem Sandsackplatz oder am Deich war, sondern zu Verwandten zog: es gab das Fernsehen. Herrn Krähmer hielt es dort allerdings nicht, sondern er fuhr anfangs immer wieder, manchmal auch in Begleitung seiner Frau, nach Hause. Die Hochwassergefahr dauerte viel länger als beide anfangs annahmen. Das hat „an den Nerven gezehrt“ (Krähmer 165–166), meinte Herr Krähmer, und sie pflichtete ihm bei, denn sie konnte „nicht mehr schlafen“ (167). Die Dauer der Bedrohung war die eigentliche Herausforderung für sie. Vom Exil aus war nicht einzuschätzen, wie sich alles im Oderbruch entwickelte. Denn als die Anspannung anhielt, fuhren sie nicht mehr hin. Da tat es gut zu wissen, dass gerade die Soldaten der Bundeswehr keine Anstrengung am Deich zum Schutz des Bruchs scheuten. Herrn Krähmers Bild von der Bundeswehr hat sich durch deren Einsatz völlig geändert. War er lange der Meinung, diese sei nicht mehr als eine „Spielzeugarmee“ (171), ein überflüssiger Tand, so musste er erfahren, dass deren Technik und Engagement das Oderbruch retteten. Denn die ansässigen Leute und die Helfer konnten das nicht leisten, sie verfügten hierfür nicht über die entsprechenden Mittel. Der Einsatz der Soldaten machte sogar die „Fehlinformationen“ der Polizei wett. Die war bloß schlecht organisiert, was im Grunde jeden zur Inkompetenz zwingt, entschuldigen sie die Krähmers. Keinem der Helfer vor Ort wollten sie etwas Schlechtes nachsagen. Denn obwohl sie die konkrete Hilfe am Deich nicht miterleb-

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ten, konnten sie doch sehen, wie umsichtig Polizei und Bundesgrenzschutz die evakuierten Gebiete sicherten. Neben der Bundeswehr war Herr Krähmer auch dem damaligen Umweltminister Brandenburgs, Platzeck, dankbar: „Aber, ansonsten waren wir schon ganz schön erleichtert von unserem Minister, dem zuständigen hier, den Platzeck. Auch vor dem haben wir den Hut abgenommen“ (183– 185). Platzeck war für Herrn Krähmer derjenige, „der wirklich den Überblick behalten hat. Und vor allen Dingen auch die Bevölkerung so informiert hat, wie es wirklich war, keinem den blauen Dunst vorgemacht hat oder so“ (189–191). Der damalige Brandenburger Umweltminister Platzeck beeindruckte Herrn Krähmer. Der erschien ihm ehrlich und sachlich um die betroffene Bevölkerung besorgt, der redete nicht nur, sondern handelte auch. Interessant ist hier jedoch, dass Herr Krähmer wegen Platzeck „erleichtert“ war. Wie der Bundeswehr vertrauten die Krähmers auch nicht den Politikern. Das war Grund zur Sorge, die aber von Platzeck ausgeräumt wurde, von der die Krähmers dann eben „erleichtert“ wurden. Das kraftvolle Engagement der Bundeswehr, der Schutz durch Polizei und Bundesgrenzschutz sowie der ehrliche und tatkräftige Minister gaben den Krähmers die Sicherheit zurück, die sie unter der Last der Daueranspannung verloren hatten. Weil sie das von dieser Seite nicht erwartet hatten, fiel ihre Dankbarkeit um so größer aus. Ähnlich wie Herr Baumert fühlten sie sich von den anderen gut beschützt. Anders erinnerte sich Frau Gerster an die Helfer. Dauernd traf sie auf Helfer vor Ort. Gleich fiel ihr die Polizistin ein, mit der sie sich wegen ihrer Verantwortung gegenüber ihrem Sohn stritt. Aber auch Frau Gerster schränkte ihren Ärger gleich ein mit der Bemerkung, dass die unsicher und unerfahren war. Als die Polizisten dann einsahen, dass Frau Gerster und die anderen verbliebenen Einwohner kompetent genug waren, ihre Situation einzuschätzen, wurden sie freundlicher. Die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes hätten sie darum gleich in Ruhe gelassen. Mit der Armee und dem Zoll hatten die Ausharrenden in ihrem Ort während des Hochwassers immer gute Erfahrungen. Jedoch taten Frau Gerster die Soldaten leid, die sie während ihres Einsatzes am Oderdeich erlebte. Die wirkten so abgearbeitet und wurden noch von einem Vorgesetzten in den Pausen gegängelt. Obwohl sie keine negative Einstellung zur Armee habe – schließlich hätten alle „ihre Männer“ gedient – hatte ihr das nicht gefallen. Lieber scherzte sie mit den Soldaten und versuchte, sie mit Erfrischungen oder Zigaretten zu versorgen. Dafür waren diese sehr dankbar, wie sie froh war, dass die Soldaten am Deich tatkräftig anpackten. Das THW jedoch hatte kein solch gutes Ansehen, sondern wurde verspottet als „Tausend, Tausend haben sie die genannt, Tausend, das hilflose Wesen. Und so ähnlich war das auch“ (874–875).28 Die Helfer vom THW erschienen inkompetent, weil nur einige wenige Profis unter ihnen waren, 28 Eigentlich lautete der Witz: THW – Tausend Hilflose Wesen.

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die unabhängig von übergeordneten Stellen keine Entscheidungen treffen konnten. Wegen dieses hilflosen Eindrucks gab es keinen Kontakt zu den THW-Leuten. Einmal während ihrer Zeit als Kartoffelschälerin am Deich beobachtete Frau Gerster jedoch fasziniert eine Taucheraktion des THW, bei der unter Wasser Folien am Deich angebracht wurden. Das änderte aber nichts an ihrer Meinung über das THW. Frau Gersters Auflistung der Helfer deutet zunächst darauf, dass sie diese insgesamt nicht so sehr beeindruckt haben. Zunächst fiel die Polizei unangenehm auf, weil sie diese zunächst als Bevormundung erlebte, gegen die sie sich zur Wehr setzen musste. Eher lächerlich wirkte das THW auf sie. Für deren empfundene Inkompetenz fand sie aber auf individueller Ebene Entschuldigungen. Die Hilflosigkeit der THW-Leute war nicht deren Willen geschuldet, sondern ihrer Abhängigkeit von anderen, der Situation gegenüber blinden Umständen. Insofern befanden sich diese Helfer in der gleichen Situation, wie diejenigen, denen sie helfen wollten. Solche Hilfe musste vor der eigenen Situation inkompetent erscheinen, entsprechend wurde diese Hilfe nicht ernst genommen. Tatsächliche Dankbarkeit stellte sich bei Frau Gerster darum auch später nicht ein, lediglich Achtung vor dem persönlich guten Willen der Beteiligten. Nur den Soldaten gegenüber stilisierte sie sich als dankbare Soldaten-Mutter, der wiederum der Dank der von ihr versorgten Soldaten zuteil wurde. Die Helfer waren für die Leute im Oderbruch eine Versicherung gegen die Gefahr, denn sie standen der Bedrohung durch das Hochwasser nicht allein gegenüber. Die Bundeswehr stach aus dem Tross der Helfer heraus. Die Armee wirkte hinsichtlich Menschen und Technik als das stärkste Mittel gegen die Naturgewalt. Das Engagement der Soldaten rundete dieses Bild weiter ab. Darin gründete die Begeisterung für die Bundeswehr. Die Beurteilung der anderen Helfer fiel demgegenüber ab. Vor allem die Ordnungskräfte, die von Polizei und Bundesgrenzschutz gestellt wurden, fanden wegen ihrer Rolle bei der Durchsetzung der Evakuierungsanordnung keine so unumwundene Bejahung. In ihrer Funktion als Bewacher des verlassenen Eigentums fanden sie immerhin Zustimmung. Dass andere Helfer, wie die vom THW, nicht einmal diese Anerkennung erfuhren, hat mit deren mangelnder Präsentation als souveräne Entscheidungsbefugte im Angesicht der Bedrohung zu tun. Die Tendenz, den Polizisten und Kräften des THW mit dem entschuldigenden Hinweis auf höhere Desorganisation deren inkompetente Erscheinung nachzusehen, weist auch auf deren Verantwortungslosigkeit. Solche Hilflosigkeit der Helfer ist von den Schutzbefohlenen nicht zu akzeptieren. Dank erwuchs dann vor allem aus Höflichkeit, die sich mit der Notwendigkeit zur Eigeninitiative zu beschränken wusste. Politiker hatten hingegen, soweit sie überhaupt eine Rolle spielten, einen Attraktionswert, der sich aber durch die massenmedial befeuerte Skepsis abnutzte. Einzig die Präsentation des damaligen Brandenburger

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Umweltministers und „Deichgrafen“ Michael Platzeck funktionierte ohne Verlust. Gegenüber der Gemeinschaft hatten die Helfer also eine ambivalente Wirkung. Die Bundeswehr wurde ohne Zweifel von vielen Oderbrüchlern für sie neuartig und überraschend als ihre Armee im staatsbürgerlichen Sinne begriffen. Insofern war diese für die Leute im Oderbruch ein Tor zur politischen Nationalgemeinschaft der Deutschen. Das blieb aber durchaus diffus. Als negative Grenz-erfahrungen wurden hingegen in vielen Fällen die Ordnungskräfte erfahren, was klar wird, wenn denen gegenüber die eigene, regionale Kompetenz ins Spiel gebracht wurde. Haben die Massenmedien die nationale Einheit an der von ihnen zum deutschen Schicksalsfluss stilisierten Oder auch mit Liebesgeschichten und Dankfesten beschworen, die Leute vom Oderbruch hat das kaum erreicht. Die Erfahrung der massiven deutschlandweiten Spenden hingegen hat da eine wesentlich bedeutendere Rolle gespielt. Die Helfer wurden in den meisten geschilderten Fällen als Gruppen wahrgenommen. Individualisierung fand kaum statt und auch das war noch keine Weg, um ein gemeinsames Wir zu formulieren. Dankbarkeit und mindestens höflicher Respekt zollte man den Helfern wie entfernten und wohlgesonnenen Verwandten, die beim Rohrbruch zu Hilfe kommen. Sitzt man wieder im Trockenen, erwartet man, anschließend für sich bleiben zu können; Besuche nicht ausgeschlossen. Die Hilfe der betroffenen Nachbarn aber, mit denen man schon vorher zusammenlebte, war hingegen Anlass, die Gemeinschaft neu und umfassender zu beschreiben.

Die bedrohte Gemeinschaft Die Differenz zwischen dem „Wir“ der Region und dem „Ihr“ der Helfer aus ganz Deutschland blieb im Oderland im Sommer 1997 erhalten. Diese Differenz zu den Anderen leitet über zu den expliziten Geschichten vom Handeln in der Gemeinschaft. Bei allen bisherigen Episoden zu den Erlebnissen während des Oderhochwassers 1997 kam schon immer die Gemeinschaft in den Blick. Die anfänglichen Bedrohungserfahrungen führten zu deren Aufruf. Die Entscheidung für oder gegen die Evakuierungsaufforderung orientierte sich an einer sich auflösenden und neu etablierenden Gemeinschaft. Die Selbstaktivierung im Widerstand gegen die Hochwassergefahr war nur in Gemeinschaft möglich und die Bemühungen der Helfer problematisierten die Grenzen der Gemeinschaft. Der Dank gegenüber den Helfenden fiel um so deutlicher aus, je weniger diese Eingang in die Gemeinschaft fanden. Denn deren hilfreicher Einsatz war dann eben nicht selbstverständlich, ging es doch um „unseres“, was nicht „ihres“ war. Die Gemeinschaft war dabei immer mehr, als in den unmittelbaren Interaktionen zu erleben war. Wurden in diesen Episoden die Rahmenbedingungen erwähnt, stießen die Protagonisten immer wieder und verstärkt nach der

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ersten Erzählung der chronologischen Ereigniskette zur Frage vor, was die Gemeinschaft ausmachte, wie die Beziehungen vor, während und nach dem Hochwasser waren. Während des Oderhochwassers 1997 war Herr Baumert vor allem mit dem Abfüllen von Sandsäcken beschäftigt. „Und so geht ’s Tag für Tag und immer in der Hoffnung: mmh, dass eben der Damm nich’ bricht, dass er hält. Mm, so das war unser Ziel“ (Baumert 202–204). Der Einsatz bekräftigte den trotzigen Widerstand gegen die Gewalt des Hochwassers. Alle glaubten optimistisch an den Erfolg ihrer Mühen, wobei sie viel Kraft aus der Anwesenheit der Helfer, allen voran der Bundeswehr, gewannen: „Klar, alle haben gesagt, den Damm, den halten wir, das schaffen wir“ (259–260). Die Sicherung des Deiches, dieses Bollwerks gegen die Wassermassen der Oder, bündelte die Anstrengungen der vielen auf dem Sandsackplatz. Damit wurde der Deich zum kollektiven Symbol, die Anstrengung darum zum Wert. Als dieses Symbol vor der scheinbaren Zerstörung stand, schien auch alle Mühe fast schon verloren gewesen und damit auch der verbindliche Gemeinschaftswert prekär geworden. Daher kann man sich den gemeinschaftlichen „Aufruhr“ erklären, der losbrach, als es beinahe zum Bruch gekommen wäre. Das konnte nicht wahr sein. Um die nahe Katastrophe glauben zu können, musste Herr Baumert den verwüsteten Deich selbst erst sehen. Der Fluss mit seinem Hochwasser und der Deich waren für alle vom Sandsackplatz aus gut einzusehen. Die Beobachtung der Aktivitäten am Deich, die Informationen über die Ziele der sandsackbeladenen Hubschrauber sowie die Nachrichten der Deichläufer und Transportfahrer ermöglichten einen guten Überblick über den Verlauf des Hochwassers: „Kamen die Meldungen auch immer so durchgesickert. Jetzt ist Zollbrücke extra akut, da wird jetzt hingeflogen, da sickert jetzt Wasser durch“ (215–217). Auf diese Weise stabilisierte der selbstorganisierte Nachrichtenfluss die Gemeinschaft über den unmittelbaren Erlebniskreis hinaus. Bis zum Abend wurde auf dem Sandsackplatz schwer gearbeitet, bis der sich nach und nach leerte und auch die letzten Enthusiasten die Schaufel niederlegten. Wenn es einmal früher wurde, trafen sich alle auf ein Bier und besprachen den Tag: „Na ja, und dann wurde, also abends wurde, wenn man früher kam mal, dann wurde sich noch getroffen hier in der Gaststätte hier unten. Dann wurde nochmal, der ganze Tagesablauf wurde nochmal [Lachen] (.) wie sa-, wie soll man sagen, na, na ja, wurde drüber unterhalten und diskutiert, wie wir, na überhaupt den Stand, wie weit wir sind und alles. Und das wurde bei einem Glas Bier nochmal richtig ausgewertet“ (360–366). Diese Treffen waren wohl reichlich ungewöhnlich. Warum wollten so viele nach einem anstrengenden Tag mit Leuten, die man schon die ganze Zeit um sich hatte, nochmals die Mühen rekapitulieren? Herr Baumert rang um Worte, die das beschreiben, was dabei stattfand. „Richtig auswerten“, das heißt hier, die Dinge aussprechen, die indi-

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viduell verschiedenen Erfahrungen und Informationen gegenseitig mitteilen und miteinander ohne Vorbehalten diskutieren. Jeder interessierte sich dafür und nicht nur, weil man mit Neuigkeiten versorgt wurde. Zu diesen Treffen kamen auch Leute, mit denen Herr Baumert noch nie zusammengesessen hatte. Nochmals war dieses Beieinander während der Zeit des Hochwassers als unerhört zu erleben: „Das war ein Zusammenhalt, sagenhaft. Ehrlich“ (471). Diese Abende in der Gemeinschaft waren Herrn Baumert glückliche Erinnerungen. Themen dieser Abende waren aber nicht nur die aktuellen Geschehnisse des Tages. Einige Ältere berichteten von ihren Erinnerungen an das Winterhochwasser 1947. Bilder wurden gesucht und gezeigt, wo das Wasser damals stand, wie weit es im Sommer 1997 kommen könnte. Jeder „hat natürlich seine, seine Variante erzählt, wa, und dazu konnte natürlich jeder von den Alten was sagen, das war natürlich, da waren sie gefragt, die Älteren, muss man sagen, ganz ehrlich. Na ja, war schon interessant, und vor allem haben sie immer alte Fotos raus geholt, die wurden dann, wo man sonst gar nicht dran gedacht hat, aber dann wurde gekramt und dann haben sie auch Fotos raus geholt: Guck mal hier, hier ist zu sehen und, und hier war das Wasser, und wenn es kommt, denn wird es diesmal weiter kommen, ja und war ganz schlimme Zeit“ (745–752). Mit diesen Erzählungen rückten nun die Alten in den Mittelpunkt der Gemeinschaft, jene, die auf dem Sandsackplatz kaum eine Rolle spielten. Vor allem die nahezu vergessenen Fotos, nach denen „gekramt“ werden musste, hatten große Bedeutung, wohl weil die Bilder die Erzählungen durch die zusätzlichen Sinneseindrücke fassbarer machten. Während des Hochwassers bekamen die alten Bilder wie die Erinnerung der Alten erneut Bedeutung. Die Alten nahmen die Rolle als Vermittler des kollektiven Gedächtnisses ein.29 Auch vor dem Hochwasser hatte man sich im Dorf über die Überschwemmungen in der Vergangenheit unterhalten oder Bilder in der Regionalpresse gesehen. Aber erst im Sommer 1997 wurde das Thema tatsächlich bedeutend für die Gemeinschaft. In der Art der Rezeption lag der Bedeutungszuwachs der Erinnerungen und deren Bebilderung begründet. Die Geschichten der Alten ermöglichten einen Vergleich mit der eigenen aktuellen Situation und dabei konnte erleichtert festgestellt werden, dass im Unterschied zu 1947 wegen der besseren Technik und der ganz anderen politischen Umstände bessere Chancen bestünden, gegen das Hochwasser zu bestehen. So gaben diese Geschichten weiteren Anlass zur Hoffnung.

29 Das kollektive Gedächtnis ist kein Monolith extramundaner Existenz, sondern ein vielstimmiger kommunikativer Prozess, der individuelle Erinnerung formt und diese für die gemeinsame Geschichte zugänglich macht, das hat schon Halbwachs (1985) beschrieben. Das kollektive Gedächtnis sind dann nicht die fixen Mythen, sondern symbolisch vermittelte Kopplungsmöglichkeiten dieser Geschichten, die man individuell erinnern kann, weil sie gemeinschaftlich kommuniziert werden.

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Die Gemeinschaft der Tat wurde abends abgelöst durch die Gemeinschaft der Reflexion. Hier war der Ort, die Eindrücke des Tages zu bewältigen und diese an die Geschichte anzuknüpfen. Indem die aktuellen Ereignisse ins Licht geschichtlicher Ereignisse gestellt wurden, erfand man auch die gemeinschaftliche Tradition erneut.30 Die Gemeinschaft fand damit aus der Vergangenheit ihre Fortsetzung im Heute und wies in die Zukunft. Bei den Kneipentreffen wurde die auf dem Sandsackplatz konstituierte Gemeinschaft durch das Auswerten der Tagesereignisse konfirmiert. Damit fand die Aktualisierung der Gemeinschaft ihren formalen Abschluss. Für Herrn Baumert hatte sich das Miteinander im Dorf dadurch verbessert. Aber dieses Miteinander schloss nicht jeden im Dorf ein. Wenn auch niemand während der Zeit der Hochwassergefahr weggefahren war, hatten sich doch einige nicht am Schippen beteiligt. Das gab denen auf dem Sandsackplatz zu denken. Denn wer sich in dieser Zeit der Gemeinschaft nicht anschloss, verabschiedete sich im Grunde daraus. „Diese Leute hat man mmh ’n bisschen schief angeguckt, kann ich auch nicht sagen, war na ja, bin enttäuscht, muss man ganz ehrlich sagen“ (307–308). Obwohl die Ereignisse zum Zeitpunkt des Interviews schon ein halbes Jahr zurücklagen, schilderte Herr Baumert seine Enttäuschung als gegenwärtig. Die Zurückhaltung der Älteren wurde akzeptiert, aber nicht die der Jüngeren. Das wurde zum Thema der Gemeinschaft, denn diese fand nun ein Gegenüber entgegen ihren Erwartungen. Diese Verweigerungserfahrung öffnete den doppelten Boden des Zweifels an der heroischen Gemeinschaft, wie sie nicht nur Herr Baumert erinnerte. Darauf deutete zumindest seine Abwehr dieser Erinnerung: „Ja, so kann man das sagen, ist eigentlich alles vergessen (....)“ (321–322). Ganz klar wurde hier durch das einschränkende „eigentlich“: Es war eben noch nichts vergessen. Vielmehr sollte die Sache begraben sein. Die Gemeinschaft des Hochwassers vom Sommer 1997 aber gab es zum Zeitpunkt der Interviews ohnehin nicht mehr, nur die Erinnerung daran war noch frisch und sollte ihren heroischen Glanz behalten, nicht wegen der Gemeinschaft, sondern für Herrn Baumert. Der möglichen Entwertung der gemeinschaftlichen Selbsterfahrung beugte er so vor. Die Berichte der Medien zum Hochwasser halfen Herrn Baumert dabei, sein Gemeinschaftsbild zu stärken und zu bewahren. Während des Hochwassers konnten die Reporter überall auftauchen und ihre Technik aufbauen. Schließlich kam er sogar selbst ins Fernsehen, was in der Gemeinschaft registriert wurde. Die Berichte wurden um die ganze Welt gesandt. Der kleine Heimatort und dessen Leute, die eigene Frau, man selbst waren darin der Mittelpunkt. Das Fernsehen vergrößerte die Grenze der 30 Das erinnert an die These von der „invented tradition“ (Hobsbawm 2006), wobei auch hier gezeigt werden kann, dass diese Erfindungen nicht erst auf den Ebenen von Nationen gemacht werden.

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Gemeinschaft, indem es die Anderen vermehrte. Damit potenzierte sich sowohl die eigene Bedeutung als auch die der Gemeinschaft. Die mediale Selbstbegegnung schilderte Herr Baumert als ein schönes und eigenartiges Gefühl. Der Reiz dieser Selbstbegegnung, bei der man sich wie einen Fremden beurteilen konnte, lag wohl in der eigenen Vervielfältigung, die von Herrn Baumert als wunderbare Steigerung erlebt wurde.31 Ab und zu redeten die Leute auch über die Berichterstattung und stellten fest, dass die Leute, die sich sowieso gern ausstellten, auch hier präsent waren. Weil aber nahezu alle einmal dran kamen, fiel das kaum ins Gewicht. Das Bild des Oderlandes, das in den Medien entstand, war davon letztlich unbeeinflusst. Wichtiger war, dass das eigene Bild von der Selbstpräsentation anderer unterschieden werden konnte. Das insgesamt positive Bild, das die Massenmedien vermittelten, hatte erheblichen Einfluss auf die deutschlandweiten Solidaritätsbekundungen und die Spendenbereitschaft. Aber die Spenden interessierten Herrn Baumert kaum, denn diese schienen ihm nicht verdient. Als die Gefahr später gebannt war, hatte er Zeit, um Berichte über die Situation in Polen und Tschechien im Fernsehen anzusehen. Da dachte er darüber nach, wie jenen dort zu helfen wäre. Vom großen Spendenertrag der deutschen Solidarität wollte er nicht profitieren, sondern wünschte sich, dass die von den Überschwemmungen betroffenen Polen und Tschechen damit ebenfalls unterstützt werden würden. Aber er hatte die Überlegungen der Politiker dazu dann nicht weiter verfolgt. Polen und Tschechen waren doch zu weit weg. Die Solidarität der eigenen Leute auf dem Sandsackplatz, abends in der Gaststätte und im ganzen Oderbruch war ihm wesentlich näher. Wirklich schön war es, wie die Leute in Bedrängnis einander halfen und dabei auch solche anpackten, die man noch nicht kannte, mit denen man aber ins Gespräch kam. „Und es war so toll, muss ich ehrlich sagen, ganz ehrlich, der Zusammenhalt, ganz, ganz super, ehrlich, die Leute sind aufeinander zugegangen, und das war ganz toll, wirklich, das war wie eine große Familie also ganz ehrlich, muss ich ehrlich sagen“ (460–464). Dieses Erlebnis, der fraglosen, gegenseitigen Hilfe war ein außergewöhnliches, beglückendes Erlebnis: Die Efferveszenz in der Gemeinschaft hob das Individuum auf. Mit einer spontan organisierten Feier fanden die Wochen des Hochwassers ihr Ende: „Aber hier wurde hinterher gefeiert, der Sieg“ (835). Einen Sieg gilt es nach dem Krieg oder einem Wettkampf zu feiern. Was da31 Von hier aus könnte man auch eine Revision des fraktalen Videoselbst Baudrillards (1990) versuchen und daran erinnern, dass die medial vermittelte Selbstbeobachtung ein probates Mittel im so genannten Kommunikationstraining ist. Von hier aus erscheint die Medialisierung des Selbst keine autistische Zirkulation zwischen den Selbstsplittern zu sein, sondern eine Annäherung über den Umweg des Mediums Video – freilich geschieht das hier immer in der Gruppe. Auch Avatare funktionieren ähnlich: als Selbst auf Probe.

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von war das Hochwasser? Herr Baumert erklärte, dass man gewonnen habe im Kampf mit dem Deich. Nicht über den Hochwasser führenden Fluss hatte man triumphiert, sondern darüber, dass man den brüchigen Deich zum Halten zwang. Als der hielt, war man wieder versöhnt mit ihm, so dass dieser Kampf trotz des militärischen Jargons am Ende ein sportlicher war. Die Feier, eine „Riesenfete“ (837), hatten alle zusammen „ruck-zuck“ (840) organisiert, wenn es hierfür auch ein Festkomitee gab. Jeder trug nach seinen Möglichkeiten zum Gelingen der „Fete“ bei. Herr Baumert hatte dazu ein Wildbret ausgegeben, andere hatten gebacken oder für Musik gesorgt. Die Feier war nochmals eine Manifestation der Hochwassergemeinschaft, als alle „ruck-zuck“, also schnell und unkompliziert mit wenigen Handgriffen alles Notwendige herbeischafften. Dabei sollte niemand ausgeschlossen werden, nicht die Mittellosen und auch nicht die fremden Helfer. Als sogar der Chef der helfenden Bundeswehrtruppen, Generalmajor von Kirchbach, per Hubschrauber für 30 Minuten zu dieser Feier kam, bedeutete das nicht dessen Aufnahme in die Gemeinschaft. Vielmehr wirkte die Anwesenheit des höchsten Repräsentanten der Anderen wie eine Beglaubigung der eigenen Gemeinschaft.32 Die Feier fand auf dem Sandsackplatz statt und ging von Nachmittag bis in den nächsten Morgen: „Es ging los, die Veranstaltung ging um 14 Uhr, glaube ich, los, da oben auf dem Platz, und dann ging es nachts bis, oder frühmorgens um vier, um fünf. Haben wir voll durch, wurde getanzt, getrunken, gefeiert und (...)“ (858–861). Um solche Erfahrungen in der Gemeinschaft zu machen, musste man aber schließlich auch dabei gewesen sein. Andere, vor allem Ältere wie die Krähmers, waren evakuiert und nicht mehr vor Ort. Dabei machten sie im Interview von Anfang an klar, dass sie echte Oderbrüchler seien, weil sie hier geboren wurden, hier aufwuchsen und ihr bisheriges Leben verbracht hatten. Das war der Grund, weshalb sie sich auskannten mit der Oder und dem Hochwasser und anfangs keine Angst davor hatten, bis sie schließlich der Evakuierungsaufforderung nachgaben. Darum konnten sie auch kaum etwas über die Aktionen im Dorf sagen. Gemeinsam überlegten die Krähmers, wie sich andere im Ort organisierten, aber sie hatten keine rechte Idee. Sicher waren sie sich aber, dass viele wohl nicht da blieben, sondern nur „die Gammler“ (Krähmer 198) des Dorfes, aber auch die Feuerwehr. Am anderen Ende des Dorfes waren ebenfalls noch einige im Ort, die alles gemeinsam unternahmen. Aber die kannten sie eigentlich nicht. An dieser Stelle wird eine Differenz zwischen den Krähmers und den Aktiven im Dorf erneut deutlich. Die Angaben konnten sie nur nach dem Hören-Sagen machen, denn es waren nicht ihre Erfahrungen, von denen sie berichten. Zunächst grenzten sie sich von den Dagebliebenen mit dem Hinweis auf 32 Wie wichtig die Interaktion mit den Anderen für die Reproduktion des Eigenen ist, verdeutlicht Siverts (1998) am Beispiel gemeinsamer Markttage, die kaum ihren Grund im gemeinsamen Warenaustausch haben.

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die „Gammler“ ab, die nur an deren Peripherie der Gemeinschaft zu verorten waren. Mit dieser Differenz konnten sie an ihrer Vorstellung festhalten, dass sie der Mehrheit im Dorf während des Hochwassers angehörten. Und dann fiel es auch nicht ins Gewicht, dass sie sich noch an weitere Leute aus dem Dorf erinnerten, die blieben. Bevor sie selbst jedoch zu ihren Kindern in die Großstadt zogen, wurden sie noch von ihrer in der Nachbarschaft lebenden Tochter zu einem abendlichen Treffen eingeladen, bei dem auch andere aus dem Dorf anwesend waren. Im Grunde war das nichts Bemerkenswertes, denn Frau Krähmer erinnerte sich: „Wir haben ganz Belangloses erzählt. Nur vielleicht um die innere Angst, jeder von sich“ (270–271). Nicht so sehr die ausgetauschten Belanglosigkeiten halfen über die Angst hinweg, sondern diese waren eher Zweck, um in Gemeinschaft zu sein. Die Gemeinschaft war darum das Mittel zur Angstbewältigung. Weil ihr dieser Abend sehr gefallen hatte, wünschte sie sich, dass so etwas öfter stattfinden sollte. Aber, schränkte sie sogleich ein, das würde wohl nichts werden, schließlich kam der Kontakt nur durch ihre Tochter zustande. So war das schöne Gefühl der engen Gemeinschaft nur von kurzer Dauer, an dem sie als Gäste teilnehmen konnten. Die kurzzeitig aufgehobene Differenz zu den Anderen war ein Abstand der Generationen. Aber der Unterschied schien doch weiter zu gehen, wenn beide später meinten, dass sie eher allein wären, und Frau Krämer ausführt: „Wir sind ja oft mit niemanden zusammen“ (589). Lediglich mit den angeheirateten Verwandten haben sie Kontakt, stellen sie fest, um dann vom Auffanglager der Evakuierten zu erzählen. Aus Sicht der Krähmers war dem Dorf die Gemeinschaft seit der Wende 1989 abhanden gekommen. So gab es danach keinen Treffpunkt mehr im Dorf. Und Frau Krähmer führte aus: „Das ist nach der Wende ist hier nichts, ist keiner mehr. Wir sind alle nett, ist keiner böse“ (647–648). Diese Distanz hatte nach Meinung Herrn Krähmers mit dem Fehlen eines starken gemeinsamen Bezuges zu tun, wie er vor der Wende durch die gemeinsame Arbeit im landwirtschaftlichen Betrieb gegeben war.33 Ebenso gäbe es auch kaum noch Grund für gemeinsame Feiern. Der Zusammenhalt war darum nicht mehr gegeben. Hätte man früher gegenseitig Bescheid gegeben, wenn man wegfuhr, so ginge heute jeder seiner Wege und spräche sich mit den Nachbarn nicht mehr ab. Diese emotionale Ferne zueinander drückte sich bei den Krähmers sogar in offenem Misstrauen aus, wenn sie erzählten, die Anwesenheit der Polizei hätte vor allem Plünderungen durch die Nachbarn verhindert. Hier wurde eine für die Nachwendezeit in den neuen Ländern typische Geschichte der Gemeinschaft geschildert, die auf der gemeinsamen Ar33 Mit Blick auf Simmels (1993) Betrachtungen zum Großstadtleben ist nach der Wende das urbane Leben auch auf dem Land in Ostdeutschland angekommen.

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beitserfahrung beruhte.34 Seitdem dieses Band verschwand, erschien es vielen, als hätten sie keine Gemeinsamkeiten mehr. Man hatte sich nichts zu sagen, sondern ist nur noch freundlich zueinander, um Kontakt zu vermeiden. Wenn den Krähmers die Leute ihres Dorfes eher fremd waren, was durch die Geschichte des gemeinsamen Abends vor ihrer Evakuierung unterstrichen wurde, gab es trotzdem auch Anzeichen für Gemeinschaftsbezüge. Zunächst stand hier ihre Großfamilie für einen zentralen WirBezug. Aber die Krähmers bezogen sich auch auf eine Gemeinschaft darüber hinaus. Ohne diese hätte die Emphase auf die regionale Herkunft keinen Sinn. Indem sie ihre regionale Kompetenz hervorhoben, bestanden die Krähmers geradezu darauf, Teil einer regional definierten Gemeinschaft zu sein. Aber die vielen Oderbrüchler, die sich vor einer plötzlichen Flutwelle der Oder fürchteten, gehörten nicht unbedingt dazu. Die Überschwemmung des Oderbruchs würde nämlich allmählich und langsam vor sich gehen, wusste Herr Krähmer. An diesem Wissensunterschied wurde für ihn deutlich, dass diese Leute im Oderbruch nicht die Gemeinschaft sind, die er meinte. Außerdem fühlten sich Krähmers in ihrem gemeinschaftlichen Gerechtigkeitsempfinden gekränkt. Der Anlass dazu war die Rekonstruktion des Schlafdeiches, die deshalb nicht richtig war, weil die davor liegende Gegend für die dahinter geopfert werden sollte, obwohl doch klar war, dass dieser Deich auf Dauer nicht standhalten würde – das Opfer wäre vergebliche Mühe gewesen. Wie viele andere ließen sie die Berichte über das Oderbruch nicht kalt, nicht nur wegen der sachlichen Informationen, sondern auch wegen des Bildes von den Bewohnern ihrer Heimatregion. So stellte Herr Krähmer fest, dass oft recht kuriose Leute interviewt wurden: „Aber die Interviews, die sie gemacht haben. Da hätte ich mich ja totlachen können. Die haben ja mit zielsicherer Hand haben sie sich dann immer so ’ne, so ’ne, so ’ne […] Halbwilden rausgesucht.“ Und da stimmte seine Frau zu: „Ja, die man gern im Fernseh’n guckt.“ Konsterniert fasste Herr Krähmer zusammen: „Ach nee. Da war nicht einmal, dass die vernünftige Leute drin hatten“ (349– 353). Das Bild vom Oderbruch war in den Augen der Krähmers ein Medienprodukt. Ihr Selbstverständnis als echte Oderbrüchler blieb davon zwar unberührt, aber sie fühlten sich doch falsch beschrieben. Trotzdem konnten sie über die „Halbwilden“ auch lachen, weil das letztlich gar nichts mit der Gemeinschaft der Oderbrüchler zu tun hatte, wie sie die verstanden. Immerhin kam so die horrende Spendensumme zusammen, was sie sehr begrüßten. Auch sie bekamen wegen ihrer Evakuierung amtlich Geld angewiesen, aber von den Spenden wollten sie im Grunde nichts, weil bei ihnen alles unbeschadet blieb. Skeptisch waren die Krähmers aber, ob der Staat tatsächlich seiner Pflicht nachkommen und alle Gelder verteilen würde. Schließlich flossen die zugesagten staatlichen Hilfen auch ein halbes Jahr nach dem Hochwas34 Dazu die Beiträge in Zoll (1999) und Richter (1999).

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ser noch nicht. Noch weniger Ordnung war für sie beim Blick auf die Situation im Nachbarland zu erkennen. Wie die anderen im Dorf hatten auch die Krähmers für die Flutopfer in Polen gespendet. Aber beide waren sich sicher, dass von den Spenden dort nichts angekommen ist, denn niemand half den Betroffenen. Das hatten sie von einem Verwandten erfahren, der in Polen war. Von ihrer örtlichen Feuerwehr, die Spendengüter nach Polen brachte, wussten sie allerdings nichts Genaues. Krähmers Grenzen der Gemeinschaft schlossen den Staat deutlich aus. Von hier erwarteten beiden anscheinend nichts Gutes. Der Verweis auf Polen schloss auch das dort aufscheinende Elend deutlich als das Andere aus, unabhängig davon, ob hier auch antipolnische Ressentiments mitschwangen.35 Außerdem schienen beide wiederum nicht intensiv am Dorfgeschehen teilzunehmen, wenn ihnen die Aktivitäten der örtlichen Feuerwehr weitestgehend unbekannt waren. All das war kein Teil der von ihnen gemeinten Gemeinschaft. Das Bild, welches die Medien von den Oderbrüchlern präsentierten, erschien auch Herrn Neubert eher unvorteilhaft für das Image der Region. Denn: „So manche Oderbrüchler, die da so gestellt wurden, kamen schon ein bisschen schlecht weg“ (Neubert 761–762). Die Reporter schienen die Leute aus dem Oderbruch entweder verfolgt oder aber in ein fiktives Setting gepresst zu haben. Beide Deutungen der „gestellten“ Oderbrüchler waren hier möglich. Herr Neubert wand sich einerseits gegen die verallgemeinernde Fiktion, andererseits schien ihm, dass die Reporter in der Eile jeden in der Nähe zum Interview genommen hätten. Da war er froh, dass es ihn nicht erwischte. Jedoch war er sich sicher, dass diese Bilder dem Oderbruch nicht schaden konnten, denn diese würden bald wieder vergessen sein. Und so nahm er sie mit Humor: „War manchmal ein bisschen witzig, wie die da auf dem Dings gesessen haben und geangelt haben oder manche dann auch mit relativ wenigen Zähnen im Mund, und da kam dann so ’n bisschen Assitum rüber, ja“ (767–769). Allerdings waren auch die sozial unterprivilegierten zahnlosen Angler auf dem Deich vom Hochwasser betroffen, und vielleicht war das auch ein Grund, dass mancher etwas mehr spendete, spekulierte Herr Neubert noch amüsiert.36 Die in den Medien vorgeführten Oderbrüchler berührten sein Selbstverständnis insofern, als diese wie er Einwohner des Oderbruchs waren. Jedoch hielt er Distanz zu diesen, so dass er über diese Karikatur lachen und daraus noch den Witz eines unterschwelligen Appells an die Spendenbereitschaft gewinnen konnte. Denn die dargestellte Asozialität der Leute zielte hier auf die Un-

35 Gerade die Propaganda der DDR seit der Schließung der Grenze zur damaligen Volksrepublik Polen 1980 infolge der SolidarnoН-Unruhen forcierte die antipolnischen Vorurteile (Nothnagel 1999), die dann die Lage in der Grenzregion ab 1990 bei allen Erfolgen auch schwierig machten (John 2001). 36 Auch die ORB-„Deichprotokolle“ hatten solche Einwohner des Oderbruchs zu bieten (siehe Seite 111, Fußnote 16).

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möglichkeit, für sich Verantwortung zu übernehmen. Allerdings wusste Herr Neubert auch, dass diese sogenannten asozialen Leute von der Katastrophe nicht weniger betroffen waren als andere. Darin bestand der entscheidende Unterschied zu den Krähmers. Vielmehr als diese Medienbilder beschäftigte Herrn Neubert das Ansehen der Truppe, mit der er zweimal an den Deich fuhr. Wenn auch der Nutzen des Einsatzes vielleicht fragwürdig war, die Idee begeisterte ihn immer noch, als er darüber sprach: „Aber ob die letztendlich den I-Punkt ausgemacht, ist, ist, man soll es auch sicherlich auch nicht so. Aber ich fand es irgendwo phantastisch, dass die so diese Idee hatten und (.) und da auch richtig aktiv geworden sind da vorne. Das ist eigentlich gar nicht so groß publik geworden. Es stand auch kaum in der Zeitung mal, so ganz kleenes mal, ja, so schnelle Eingreiftruppe oder so, wurde sie mal betitelt. Aber das fand ich eben ganz super, dass die (.), sag jetzt mal ganz so salopp, dass die Bengels sich da so ein Herz gefasst haben und diesen Geistesblitz hatten da [Lachen]. Ich sag mal, hinter die Front zu kommen, oder an die Front, ja, obwohl es ja wirklich abgeriegelt war, das war schon toll“ (232–239). Herr Neubert bedauerte, dass nur so wenige von der Truppenaktion wussten. Die kleine Zeitungsnotiz wird kaum jemand wahrgenommen haben. Allerdings sprach er hier über die Truppe, als ob er nicht selbst dazugehört hätte. Eher väterlich erinnerte sich der Gleichaltrige an die Aktiven, die nicht nur die Front der Sperren durchbrochen, sondern auch an der Front der Gefahr bestanden hatten. Die Anerkennung durch die Gemeinschaft, die er hier reklamierte, wollte er nicht für sich, das machte er mit seiner Distanzierung ganz deutlich. Und doch ließ ihm diese unbekannte Heldengeschichte keine Ruhe, so dass er ein weiteres Mal darauf zu sprechen kam: „Die wollten das auch gar nicht. Ja, die sehen das so, dass sie aus der Region kommen, und die haben sich eigentlich selbst geholfen, mehr (..) was soll’s, nich’. Das ist, wir sind nicht zu irgendeinen Wettkampf gefahren, wo man sagt, ihr seid die Besten jetzt, und ihr habt moralisch die besten Leistungen gebracht. Sondern das ist einfach nur aus der Not heraus entstanden, und die haben sich, und die haben sich selber am besten aufgewertet dabei“ (315–320). Die Wertschätzung, auf die Herr Neubert zielte, wollte er nicht als eine Erhöhung gegenüber den anderen Einwohnern verstanden wissen. Letztlich war die Wertschätzung, die man vor sich selbst erfahren hatte, Lohn für den Einsatz bei der Truppe – und hier sprach Herr Neubert ja aus eigener Erfahrung. Nur hätte doch wenigstens der Truppenbus beim Dorffest mitfahren sollen. Diese öffentliche Präsentation wäre eine Bestätigung des in der Truppenarbeit erlangten Selbstwertgefühls vor der Gemeinschaft gewesen: „Ich denke mal, das wäre eigentlich ’n Würdigung mal gewesen, ja, mit den Leuten, die da auch teilgenommen haben, oder mit den meisten dieser Leute, und sagt: ,Ach, dass man nach einem Jahr nochmal dran denkt‘. Denke mal, das wäre mal, und das reicht ja auch. Wie gesagt, die Leute sind alle nicht so, dass sie na-

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ja, also ick, wat ich da geleistet habe, ist absolut, da spricht auch keiner mehr drüber. Das ist gelaufen, gut gelaufen und (...)“ (335–340). Die Erfahrungen in der Truppe waren zwar für Herrn Neubert sehr wichtig und begeisterten ihn nach wie vor, aber ihren eigentlichen Wert schienen sie erst vor der Gemeinschaft der Leute im Dorf und in der Region zu erlangen. Bisher konnten die Aktiven der Truppe daran glauben, sich für die Gemeinschaft eingesetzt zu haben, aber mit der Teilnahme am Umzug hätten sie es wissen können. Es ist nur wahr, was in der Gemeinschaft kommuniziert wird und so über die Symbole des Hochwassers mittels des kollektiven Gedächtnisses gemeinsam erinnert werden kann. Die Truppenarbeit meinte für Herrn Neubert nicht nur das überwältigende Gefühl unbedingten Zusammenhalts. Dadurch konstituierte sich für ihn auch eine wie auch immer distanzierte Identifikation mit der Gemeinschaft in der Region. Der Umzug wäre die Konfirmierung dieser Selbstbeschreibung gewesen. Das ließ sich jedoch nicht erzwingen und so wurde diese Geschichte nur individuell und nicht im Gedächtnis der Gemeinschaft aufbewahrt. Im Gegensatz zum Bild der Oderbrüchler, das die Medien der deutschen Nation nahe brachten, war ihm das gemeinschaftliche Bild der Truppe weit wichtiger. Dabei war er bemüht, die gemeinschaftliche Anerkennung deutlich vom individuellen Ehrgeiz unterschieden zu wissen. Dafür war seine Distanz ebenfalls ein Indiz, denn er nahm sich hier weit zurück. Diese Distanz aber wies auch auf seinen plötzlichen Ausstieg aus der Truppe. Hier erschien dieser wie der Rückzug aus der Gemeinschaft, in die er erst wegen der Gefahr gekommen war. So wie er über die Truppe und die ihm wichtige Dorfgemeinschaft sprach, hatte er seine exponierte Stellung im Dorf und der Region zum Zeitpunkt des Interviews längst wieder eingenommen. Aber noch von hier aus wusste er seine Erfahrung in der Truppe und die Einbettung in die Gemeinschaft während der Zeit des Hochwassers zu schätzen. Die gegenseitig demonstrierte Solidarität machte für Frau Gerster die Gemeinschaft aus, bei der alle Unterschiede suspendiert wurden. Sobald die Leute das Notwendigste in Sicherheit gebracht hatten, kamen sie täglich aus den umliegenden Siedlungen wieder, um im Hauptort Sandsäcke zu schippen. Das hatte Frau Gerster sehr beeindruckt, wie alle gemeinschaftlich anfassten: „[Das Dorf] war also [im Dorf], das werd’ ich auch nicht vergessen, was da gelaufen ist, an Solidarität und an Zusammengehörigkeitsgefühl. Da war das ganze Umland, also die ganzen Dörfer, die auch zum Schulbereich gehören, die waren da alle vertreten“ (Gerster 616–618). Zwar war sie nicht auf dem Sandsackplatz, da sie ihre Arbeit am Deich hatte, aber als sie dann in den Hauptort kam, war es ungewöhnlich still, weil alle Leute nur schippten und dabei nicht redeten. Die Unterschiede waren damals in der Gemeinschaft aufgehoben, weil niemand einfach wegblieb, sondern sich auf dem Sandsackplatz einfand und seinen Beitrag zur gemeinschaftlichen Bewältigung der Bedrohung leistete. „So-

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lidarität“ und „Zusammengehörigkeitsgefühl“ fanden darin ihre Realisierung. Diese Schilderung des Sandsackplatzes steht jedoch im Kontrast zu den Erzählungen anderer Interviewter, was nicht nur daran liegen mag, dass Frau Gerster tatsächlich keine eigenen Erfahrungen, sondern nur eine Impression aus der Ferne hatte. So berichtete Herr Baumert von der lustvollen Schipparbeit und auch Herr Neubert erzählte von der aufgekratzten Atmosphäre beim Sandsackstapeln. Warum herrschte in Frau Gersters Erinnerung verbissene Stille auf dem Sandsackplatz? Als sie die Leute kurz nach der überstandenen Hochwassergefahr darüber debattieren hörte, dass sie nun gleich ihre Häuser renovieren könnten, wenn doch die unteren Etagen ohnehin schon ausgeräumt seien, war ihr das völlig unverständlich. Sie konnte während des Hochwassers an nichts anderes denken als an die Gefahr. Und auch den Leuten auf dem Sandsackplatz war es so gegangen, vermutete sie. Als sie ihre Überraschung mitteilte, wurde ihr geantwortet, dass die Menschen doch immer an ihren Vorteil denken würden. Aber das konnte sie nicht glauben und berichtete von einem verzweifelten Deichläufer, den sie am Deich mit ihrem durch ihre auffällig gefärbten Haare verkörperten Optimismus aufgemuntert hatte, auch wenn sie innerlich ebenfalls ohne Hoffnung war. Der Anspannung während der Flut ging allen Beteiligten an die Substanz, davon war sie überzeugt. So kurz nach der Gefahr über den pragmatischen Nutzen der Sicherungsmaßnahmen nachzudenken, schien ihr darum illegitim zu sein, hatten diese Leute doch anscheinend nicht wirklich gebangt wie andere. So bezweifelte sie hier die Authentizität der Sorge und auch der Solidarität dieser Pragmatiker. Entgegen dem resignierten Kommentar war sie immer authentisch in ihrer Sorge, wie sie anschließend herausstellte. Zunächst war sie wieder erkennbar als ermutigende Kämpferin. Dass das wirklich so war, wurde ihr durch die hingegebene Verzweiflung des Deichläufers bestätigt. Wirklich zur Gemeinschaft gehörten die, welche „richtig mitgebangt“ (681) hatten, die also keine Gedanken an die Zukunft verschwenden konnten. Die Sorge um die Gemeinschaft markierte für Frau Gerster deren Grenze. Wie echt diese Sorge war, beurteilte sie nach deren Konsistenz, die sich zeitlich unabhängig zu präsentieren hatte. Und diese Sorge musste der ganzen Gemeinschaft gelten. Da stellte der Schlafdeich ein Problem für den Zusammenhalt der Gemeinschaft dar. Dessen Widerstandskraft bezweifelten ja viele, des erhöhten Schadens an den davor liegenden Häusern waren sie sich aber sicher. Frau Gerster konnte die Argumente der Gegner verstehen, die eine gerechte Schadensverteilung einklagten. Aber ihr leuchtete auch der Sinn zusätzlichen Schutzes des Hinterlandes ein. Für beide Argumente brachte sie aus ihrer Gemeinschaftsperspektive Verständnis auf, ohne sich auf eine Seite schlagen zu können. Jedoch war sie sich der Solidarität der Leute des Hinterlandes sicher, die auf dem Sandsackplatz im Hauptort weiter mit anpackten. Die uneigennützige Sorge und das ernsthafte Einstehen füreinander kennzeichneten für

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Frau Gerster deren Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. So wäre es in ihren Augen am Ende gerecht gewesen, wenn sie vom Schlafdeich profitiert hätten. Die Feste zum Abschluss der Gefahrenzeit gefielen ihr nicht, obwohl sie dabei sogar mithalf. Das Geld für die vielen Feste im Oderbruch, wie auch für das geplante offizielle Denkmal zum Hochwasser, hätte bessere Verwendung finden können, nämlich für Solidaritätsaktionen mit Polen und Tschechien. Frau Gerster lehnte Feste und Feiern nicht generell ab, wenn sie das Außergewöhnliche hervorhoben. Ihr schienen aber die Hochwasserfeste nur das Normale zu betonen und waren darum letztlich nur Mittel zur Befriedigung profaner Gelüste. Dass die Feste für andere hingegen das Ende des Ausnahmezustandes betonten und einen Abschluss möglich machten, kam ihr nicht in den Sinn. Für sie waren diese Feiern nur Verschwendung, die sie moralisch geißelte, wenn sie denen das Leid der in Polen und Tschechien Überfluteten gegenüberstellte. Die eigenen Handlungen mussten sich für sie wohl an einer umfassenderen Solidargemeinschaft messen lassen, die durch das Ereignis konstituiert wurde, damit die eigene Gemeinschaft glaubwürdig sein konnte. So gesehen, vertrat Frau Gerster aus partikularer Warte des Oberbruchs eine universale Ethik, vor der das Partikulare bestehen musste.37 Die Gemeinschaften im Oderbruch während des Hochwassers im Sommer 1997 wurden in den Geschichten ganz unterschiedlich beschrieben. Immer wurden sie in den Erzählungen und Geschichten mit Merkmalen versehen, wie der Deich oder der Fluss, der Sandsackplatz, die Zusammenarbeit, uneigennützige Hilfe, gegenseitiges Einstehen, Ernsthaftigkeit und Solidarität. Diese waren immer Symbole, die bestimmte Werte darstellten. Von den Erzählern wurde dann unter Bezug auf die Gemeinschaft der Nachweis geführt, dass diese Werte galten. Und zwar indem sie sich zuerst einmal selbst daran hielten und das auch von anderen erwarteten. Weiterhin antizipierten die Erzähler, dass auch die anderen die Einhaltung der Werte erwarteten, unter der Voraussetzung, dass sie sich selbst daran hielten. Die Zurechnung der erlebten Leute und von sich selbst zur Gemeinschaft, fiel wie die geschilderten Formen der Gemeinschaft unterschiedlich aus und knüpfte an weitere Erfahrungen an, außer denen, die während des Hochwassers möglich waren. Aus biographischer Sicht und unter den Umständen eines lebensgeschichtlichen Interviews, selbst wenn hier nur nach der Präsentation eines bestimmten zeitlichen Ausschnitts gefragt wurde, erscheint das folgerichtig. Die Gemeinschaft in der Zeit des Hochwassers war in jedem Fall eine hilfreiche Ressource für das persönliche Bestehen vor der Gefahr. Die Formen der Gemeinschaft aber waren wie die idiosynkratischen Selbstrepräsentationen höchst divergent. Eine Kontinuierung früherer Erfahrungen in der Gemeinschaft mittels der 37 Was auf die von Tietz (2002) formulierte Werte-Beziehung von partikularer und universaler Gemeinschaft verweist.

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Hochwassergeschichte und deren Fortführung bis zum Zeitpunkt des Hochwassers war darum als eine Einbettung in die identitäre Selbstrepräsentation anzunehmen. Aber wie konnten die Erzähler dann annehmen, bei der Gemeinschaft der Oderbrüchler vom gleichen Gegenstand zu sprechen?

Die alltägliche Gemeinschaft Das Hochwasser der Oder hielt etwa drei Wochen an. Als das Wasser zurückging, wich auch die Anspannung. Sandsackplätze konnten geschlossen und die Barrieren am Deich weggeräumt werden, die Evakuierten und die Helfer fuhren in entgegengesetzten Richtungen nach Hause. Das Ende des Ausnahmezustandes war der erneute Beginn des Alltags. Die intensiven Erfahrungen in der Gemeinschaft fanden damit ihr Ende. Die Interviews, mindestens ein halbes Jahr nach dem Sommerhochwasser 1997 durchgeführt, waren auch Anlass, die damals aktuelle Situation mit der während des Hochwassers zu vergleichen. Dabei stand immer die Frage im Raum, inwiefern Veränderungen in der Gemeinschaft stattgefunden hatten, was von den Erfahrungen im Alltag übrig blieb, die während des Hochwassers gemacht wurden. Um sich an die Zeit des Hochwassers zu erinnern, hatte Herr Baumert viele Bilder gerade auch vom Fluss gemacht, der während dieser Zeit so anders aussah. Diese Bilder wollte er seinen Kindern zeigen. Bilder vom Einsatz auf dem Sandsackplatz hatten da weniger interessiert, denn alle Erlebnisse schienen sich in der Erscheinung des hochwasserführenden Flusses zu bündeln, alle Erzählungen gewannen davor ihre Glaubwürdigkeit. Noch war die Zeit des Hochwassers im Gespräch: „Ja, na klar, ab und zu wird das Thema noch mal angeschlagen. Bloß, muss ich auch ganz ehrlich sagen. Aber wie gesagt, es gerät schon sachte (..)“ (439–440). Der Alltag brachte inzwischen andere, näher liegende Themen ins Gespräch. Aber es wird nicht vergessen werden, denn bisher wurde jedes Hochwasser und jede Überflutung in den Orten des Oderbruchs markiert. Fünf Monate nach dem Hochwasser fand eine Ausstellung zum Wettbewerb für das Oderflut-Denkmal statt.38 Die Entwürfe dafür hatte Herr Baumert sich nicht angesehen. Ein örtliches Denkmal wurde ebenfalls geplant. Aber dieses sollte eher unauffällig sein: „Die, die hier betroffen waren, die wissen, was los war, und das reicht“ (730–731). Andere könnten sich erkundigen, wenn es sie interessierte. Das Gedenken sollte trotz aller, während des Hochwassers erlangter Popularität, eine Angelegenheit der Gemeinschaft bleiben. Denn das Denkmal markierte den Schlussstein der Geschichte, als es anstelle des wiederholten Erinnerns trat: „Darüber ha38 Dieses steht heute als „Flutzeichen“ bei Neuranft. Die Grundsteinlegung für das Denkmal erfolgte am 9. Mai 1998 nach dem Entwurf „Balance der Kräfte“ von Matthias Körner aus Cottbus. Es wurde am 15. August 1998 enthüllt.

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ben sie sich unterhalten, ob wir das jedes Jahr an denselben Tag machen, so ’n Ding da oben abziehen, so ’ne Fete. Aber die meisten haben gesagt: ,Neh, das war einmal, und das muss reichen. Dafür kommt da ein Denkmal hin und denn is’ ditt gut‘“ (1022–1025). Die Feier auf dem Sandsackplatz war aus Sicht der Dorfgemeinschaft der Abschluss der Ereignisse und nicht ein Auftakt zu einem Ritual. Das war wohl im Überschwang nicht gleich selbstverständlich, immerhin musste darüber geredet werden. Zwischen Feiern und Gedenken aber gab es hier die Differenz, dass Anlass des Feierns der Erfolg der Gemeinschaft gewesen war, das Gedenken sich aber auf die Gefahr für die Gemeinschaft richtete. Am Ende schienen sich die Einwohner mit dem Gedenksymbol individuell der Gemeinschaft versichern zu wollen, statt bei Feiern von ihr überwältig zu werden. So war die Gemeinschaft nüchtern, ohne Efferveszenz zu erfahren, aber auch ungefährdet durch etwaige aktuelle Konflikte. Die eigenen guten Erinnerungen konnten dann bewahrt und gleichzeitig an einem besonderen Platz auf die Gemeinschaft zugerechnet werden. Auch die Publikationen rund um das Oderhochwasser schätzte er, weil man sich so später wieder mit den vergangenen Ereignissen befassen könnte. Jedoch „ich denke mal, es müsste Schluss sein irgendwann mal, also abgelegt werden und dann ist gut“ (1131–1132). Erinnerung ans Hochwasser brauchte für Herrn Baumert kein öffentliches Ritual und keine Serienproduktion. Die Produktion von Gedächtnisstützen musste ein Ende haben, damit die Erinnerungen zur Ruhe kommen konnten. Die eigenen Momente sollten sich von denen anderer unterscheiden und so als eigene Erinnerung aufbewahrt werden können. Und auch die Vermeidung von Ritualen belässt die Erinnerung vorm unauffälligen Gedenkstein im Privaten. Erst diese privaten Erinnerungen sind Grund, sie mitzuteilen: „Wir haben unsere Erinnerungen, und wenn man mal jemanden zeigen will, der nicht hier war, dann hat man mehr oder weniger ein Buch oder so, dann ist das gut, den Rest kann man erzählen oder Bilder hat man, und dann ist das gut, denk ick mal. Aber da nun ständig, neh“ (1134–1138). Jeder der Gemeinschaft hatte darum eigene, nicht dieselben Erinnerungen an das Hochwasser. Und doch gründet das gemeinsame Wir auf die Gewissheit, sich an dasselbe Ereignis zu erinnern. Die Divergenz der Geschichten und das sie bündelnde Thema ermöglichen und provozieren das gegenseitige Erzählen vergangener Erlebnisse in der Gemeinschaft. Das Gefühl der Zugehörigkeit stellt sich nicht in der gemeinschaftlichen Kanonisierung der Erinnerung an die vergangenen Ereignisse ein, sondern im Handeln und Erleben als interaktive Bestätigung des vormals Konstituierten. Und dazu braucht es einen besonderen Anlass, wie das Oderhochwasser 1997 einer war. Wie wenig der Alltag davon berührt wurde, trat deutlich hervor, wenn Herr Baumert von den aktuellen Ereignissen der Dorfpolitik berichtete, bei der sich die Gemeinschaft ganz anders darstellte. Als Mitglied einer Bürgerinitiative, die schon lange vor den Hochwasserereignissen existierte,

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engagierte er sich für eine Alternative zu den Abwasserregulierungen im Dorf und den umliegenden Gemeinden, wobei vor allem die gestiegenen Kosten Auslöser für die Unzufriedenheit der Leute waren. Auch hier wurden Emotionen gebunden, wenn Herr Baumert ausführte: „Da hat sich sogar schon (.) Frankfurt Staatsanwalt hat sich auch schon – […] Ja, ja, ist schon ganz schön akut“ (958–961). Wie beim Hochwasser markierte der Ausdruck „akut“ den Ernst der Situation. Diese Ähnlichkeit der verschiedenen Ereignisse ist ein Hinweis darauf, wie sehr dieses Problem die Kräfte bündelte: Nichts war so dringend wie die aktuellen Ereignisse; das Hochwasser war schon Geschichte. Seltsam unbeteiligt dachte Herr Baumert über die Zukunft des Oderbruchs nach, das ihm zufolge, in Zukunft immer mehr Einwohner verlieren würde. Denn auf Dauer würden die Einwohner des Oderbruchs der Angst und der Politik nachgeben. Diese Entwicklung bezog er aber nicht auf sein Dorf und die nördlich ans Oderbruch anschließende, „Insel“ genannte, Region, der er sich zurechnete. So bliebe von der gefühlten Gemeinschaft kaum etwas übrig. Die aktuellen Ereignisse beanspruchten nicht nur die Aufmerksamkeit für das Unmittelbare, sondern lenkten sie auch auf neue Gemeinschaftsbezüge. Trotzdem erinnerte er sich gern an die Zeit des Hochwassers: „Das war schon irgendwie, auch manchmal mit ein bisschen Schmunzeln so im Stillen, muss ich ganz ehrlich sagen, war gar nicht so schlecht die Zeit, so, ganz ehrlich, war gar nicht so schlecht, hat man mal allerhand mit erlebt so“ (810–813). Das Hochwasser war ein nicht alltägliches Erlebnis und zum Schmunzeln reizte da die Verkehrung der Normalitätsverhältnisse, denn das Ungewohnte trat anstelle der Normalität, und trotzdem hatten alle überlebt: „Nicht jetzt, aber doch, das war schon irgendwie ’n Erlebnis, ein Abenteuer“ (818–819). Das Ende der Hochwasserzeit wurde für die Krähmers durch eine Familienfeier markiert. Diese Feier, die Frau Krähmer als „Samstagtreff“ (439) bezeichnete, fiel mit der Aufhebung der Evakuierungsanordnung zusammen. Die ganze Familie war bei ihnen versammelt, auch die Kinder aus der Großstadt kamen raus ins Oderbruch. Erst hatten alle geholfen, die Wohnung aufzuräumen und dann wurde in der Familie gefeiert. Aber auch ein Dorffest fand statt, erinnerte sich Herr Krähmer. Das sollte ein Dank an die Helfer und Aktiven am Deich und auf dem Sandsackplatz sein. Hier kam es zur Idee der Spendenaktion für Polen, woran sich alle Leute beteiligten, allen voran die Feuerwehr und die Gemeinde. Lag es an der Chronologie der Ereignisse oder drückte sich darin eine Wertung aus, dass zuerst von der Familien-, dann von der Dorffeier berichtet wurde? Die Familie erscheint bei den Krähmers wegen dieser Reihenfolge um so deutlicher als der Kern der Gemeinschaft, von wo aus sie sich auf den Alltag im Ort und in der Region bezogen. Wie sehr ihr Selbstbild das der Gemeinschaft bestimmte, zeigte sich bei ihrem Bericht über das Dorffest. Dankbarkeit allein als Motiv der Feier konnten nur die-

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jenigen empfunden haben, die nicht aktiv am Sandsackplatz und an der Deichsicherung beteiligt waren. Die Aktiven werden zu einem guten Teil auch Genugtuung über den Erfolg ihrer Mühen empfunden haben, wie es Herr Baumert schilderte. Indem Krähmers ihre aus der Evakuierung verständliche Sicht als gemeinschaftliches Motiv darstellten, machten sie sich zur Mehrheit. Die besondere Situation des Interviews erlaubte ihnen solche Deutungshoheit zweifelsfrei. So rückten die Krähmers ins Zentrum der Gemeinschaft. Alles davon zu unterscheidende wurde an die Peripherie gedrängt. Wodurch wurde die Gemeinschaft von ihnen begrenzt, der sie sich wiederholt mit den Hinweisen auf Bekannte und der Demonstration ihrer regionalen Kompetenz zurechneten, welche Form gaben sie ihr? Im Dorf war inzwischen der Alltag wieder eingekehrt. Als positive Erfahrung während des Hochwassers hielten die Krähmers die Hilfe fest. Dabei meinten sie aber nicht etwa die von überall herbeigekommenen professionellen Helfer, sondern die familiär vermittelte Hilfe von Verwandten oder Arbeitskollegen ihrer Kinder. Die Flut erschien nun als beeindruckendes Ereignis, weil es der Festigung der Familienbande diente. Wenn es bei den Krähmers um die erlebte Gemeinschaft ging, dann um die Familie. Der Stolz auf ihre Familie gründete sich nicht allein auf die schiere Größe, sondern darauf, dass sich die Kinder allesamt um ihre Eltern kümmerten und für Zusammenhalt sorgten. Die Gemeinschaft im Dorf blieb dagegen unsichtbar, denn das kurze Aufflackern von gegenseitiger Anteilnahme verschwand genau so rasch wie sie mit der Flutsituation gekommen war. Nach dem Hochwasser lief insofern für die Krähmers alles wieder im alten Trott. Das Hochwasser war noch einige Zeit Gesprächsthema, vor allem bei den Leuten mit Tieren, weil die die größten Probleme hatten. Auch sie redeten noch über die Ereignisse, wie erst kürzlich, als sie Verwandten davon berichteten. Krähmers hielten es aber für möglich, einmal nicht mehr dran zu denken. Niemanden belasteten die vergangenen Erlebnisse noch, weswegen alle blieben und sogar wieder neu bauten. Beide versicherten sich, dass das Oderbruch ihre Heimat sei, wo sie nicht mehr weggehen würden. Herr Krähmer führte aus: „Is’ unsere Heimat genauso, wie die, wie die Bayern ihre, ihre Pappkartenbilder da. Genauso lieben wir unsere Heimat auch, und ich würde eh nicht im Traum einfallen, auch wenn wir abgesoffen wären“ (Krähmer 455–457). Frau Krähmer stimmte ihm zu, auch ihr wäre das nicht eingefallen. Denn schließlich hätten sie das alles aufgebaut, meinte Herr Krähmer. Und Frau Krähmer ergänzte: „Es ist wie ein Traum, den man, als wenn es gar nie gegeben hätte. Es ist manchmal so, es war so ein (..)“ (493–494). „So leicht verlässt man seine Heimat nicht“ (495), sprang Herr Krämer ihr bei, worauf sie zustimmt: „Nee“ (496). Die Erinnerung an das Hochwasser führte bei den Krähmers gleich zur Frage der Zukunft. Fest stand für beide unter dem emphatischen Verweis auf die Heimat, im Oderbruch bleiben zu wollen. Wie ernst es ihnen

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mit der Heimat war, erläuterte Herr Krähmer mit dem Verweis auf die für Außenstehende im Grunde lächerlichen Pappbilder der Bayern. Aus Sicht der Bayern sind diese aber eine ernste Sache, unterstellte Herr Krähmer. Auch den Leuten im Oderbruch geht es so: Was anderen wertlos scheint, hat aus Sicht der Gemeinschaft Wert, weil es die Gemeinschaft verkörpert. Krähmers Plädoyer für die Heimatliebe teilten sie mit anderen, was sich an den Bauvorhaben in der Nachbarschaft zeigte, denn Heimatliebe entspringt dem Engagement beim Errichten der Heimat. Um so mehr erschien Frau Krähmer die mögliche Katastrophe wie ein Albtraum, den sie nicht glauben konnte. An dieser Stelle kam nochmals die ganze Wucht der Bedrohungserfahrung zur Geltung, die in dieser Reflexion viel deutlicher war als bei der chronologischen Schilderung der Ereignisse. Sie waren davon überzeugt, dass es nicht nur ihnen so ging, sondern dass sie dieses Heimatgefühl mit anderen teilten. Dieses Gefühl konnte sich wegen der ländlichen Verhältnisse entfalten, die weniger anonym seien als in der Stadt. Denn das Eigentum, auf und in dem man lebte, schaffe Bindung im Gegensatz zu gemieteten und geliehenen Dingen. Als es nach dem Ende der DDR die Möglichkeit zum Grundstückerwerb gab, war das auch eine Aneignung von Heimat. Darum lehnten sie eine Umweltpolitik, die der Natur einen Vorrang vor den Belangen der im Oderbruch lebenden Menschen geben wollte, ab. „Aber, hier haben ja zig tausend Menschen und weiß ich wie viel Familien haben hier in den 250 Jahren ja hier ’ne Heimat gefunden“ (518–519), warf Herr Krähmer ein. Die Überzeugung der geteilten Heimatliebe war ein Gemeinschaftssymbol, das hier ganz allgemein als Merkmal regional definierender Gemeinschaften dargestellt wurde. Die Krähmers waren Angehörige der Gemeinschaft, weil sie heimatverbunden waren. Die gemeinschaftliche Heimatliebe begründeten sie mit den gleichen Lebensverhältnissen aller, die auf Grund- und Hausbesitz beruhen, was so zum Ausweis der Zugehörigkeit wird. Politik darf diese Heimat nicht nehmen, weil sie sich, anders als die Gemeinschaft, nicht rechtfertigen kann. Die Gemeinschaft der Heimat aber kann sich auf die Geschichte der Inbesitznahme berufen. Anders war das beim Winterhochwasser 1947, als die Leute nichts hatten und sich wegen des Krieges mit solchem Schicksal abgefunden hatten, denn sie besaßen kaum noch etwas. Aber mit Besitz, in den man seit der Wende investiert hatte, war das anders: „Alles, was man, wir haben ja, die Klitsche, hier so viel Geld reingesteckt, und da hängt man noch dran“ (785–786). Nochmals unterstrich Herr Krähmer: Die Sorge um die Heimat entstände mit dem Besitz. Denn wer nichts hat, könne auch nichts verlieren. Die Wende machte ihnen nachdrücklich bewusst, dass sie etwas besaßen. Um sich dessen ganz sicher zu sein, kauften sie auch noch den Boden, auf dem ihr Haus stand. Schließlich steckten sie alles, was sie hatten – wie Herr Krähmer zuerst ansetzte – ins Haus; letztlich investierten sie sich

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selbst. Darum kommt man nicht vom Besitz los, weil sich hier das eigene Leben manifestiert. Aber reicht das für die Heimatliebe? Die Heimat war zwar mit dem Haus verankert, aber meinte mehr als das, was durch das abwertende Synonym „Klitsche“ schon anklang. Wäre das Haus mobil, würden sie das Oderbruch trotzdem nicht verlassen wollen. Während des Interviews fiel es ihnen nicht leicht zu bestimmen, was ihr Gefühl der Heimat ausmachte. Mehr als ihr Haus war es das zu Hause sein. Als sie jung waren, wären sie noch woanders hingegangen, aber da hatten sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Landschaft des Oderbruchs, überlegten sie weiter, war auch nicht der Grund, zu bleiben, sondern dass sie nun den größten Teil ihres Lebens hier verbracht hatten. Erst im Alter hatten sie den Reiz der Landschaft und die Stille schätzen gelernt, weil sie sich Zeit dafür nahmen, so dass Frau Krähmer sagen konnte: „Das ist schon, ist schon schön“ (812). Rund um das Dorf hatten sie ihre Orte und Wegstrecken, die sie nun den Enkeln zeigten. Heimat ist eigentlich nicht der Besitz, dieser verankert dieses Gefühl nur, sondern die Vertrautheit, die man lebenslang schaffen muss.39 Lebenszeit ist der Einsatz für diese Sicherheit gebenden Gewinn. Die Bedrohung dieser Sicherheit durch ein Ereignis wie das Hochwasser ist dann die eigentliche Katastrophe, der Albtraum, den Frau Heise nicht wahr haben wollte. Aber ist die Heimat die Gemeinschaft? Die Heimat ist die Vertrautheit nicht allein mit der Landschaft, sondern mit den Leuten, mit denen man den Bezug zur Heimat teilt. Um so ärger war es dann, als nach dem Hochwasser Wochenendtouristen auf einem wichtigen Teil der Heimat, dem Deich, herumtrampelten, weil sie die vorgeschriebenen Wege verließen. Die Vertrautheit der Krähmers konzentierte sich aber im Kern auf die Familie. Außerhalb dieser pflegten sie keine engen Beziehungen. Das fiel ihnen leicht, weil ihre Familie sehr groß ist und sich immer noch durch Enkel vergrößerte. Beide versicherten sich darin, dass die Familie sehr aneinander hinge. Das Dorf interessierte sie nicht sonderlich, auch auf Feste gingen sie eher nicht. Ihren Enkeln aber wollten sie ihre Heimat als Ausgleich für die Großstadt bieten, nur im Oderbruch leben sollten sie später nicht, weil es für sie hier keine Zukunft geben würde. Nur ein wenig Landwirtschaft und Tourismus wäre alles was bliebe – Arbeit gäbe es woanders. In der Schlusssequenz demonstrierten beide Krähmers eine grundlegende Abgewandtheit vom Dorf, von ihren Nachbarn und Mitbewohnern, die so radikal bis dahin nicht von ihnen formuliert wurde. Ob sie hier nun von ihren Idiosynkrasien getrieben wurden, lässt sich schwer abschätzen, sicher ist aber, dass die Familie den Gemeinschaftsbezug der Krähmers ausmachte. Die im Dorf verbliebenen Kinder schienen eine Art Fensterfunktion zur weiteren Dorfgemeinschaft zu haben, denkt man an den doch als „schön“ eingeschätzten Grillabend vor der Evakuierung. Gerade 39 Darauf spielt Mitzscherlich (2000) in ihrer Studie zum Heimatgefühl an.

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an diesen Geschichten wiesen sie doch ihre regionale Kompetenz nach, die nur unter Verweis auf eine größere Gemeinschaft der Leute im Oderbruch gegenüber den Anderen wirklich Sinn machte. Ihre Heimatliebe, die sie ganz privat hielten und deren Verständnis sie ihren Enkelkinder dennoch nahe bringen wollten, wies immer wieder auch auf andere, die so lebten wie sie. Dazu waren sie im Grunde gezwungen, um damit die Geltung ihrer Wertsetzung zu legitimieren. Die Gemeinschaft der Oderbrüchler, deren Vertreter sie sein wollten, fanden und bestätigten sie vor allem im Kreis ihrer Familie als Vater und als Mutter. Um sich an eine Gemeinschaft des Hochwassers zu erinnern, musste man diese offensichtlich wie Herr Baumert miterlebt haben. Für die Krähmers blieb diese unerreichbar und darum unvorstellbar. Herr Neubert hatte diese in der Truppe intensiv erfahren. Der Zusammenhalt, den er dort erlebte, umfasste auch die größere Gemeinschaft der Leute im Oderbruch. Aber dieser wurde durch die lapidare Ignoranz der Truppenleistung anlässlich des Umzuges im Dorf in seinem Geltungsumfang eingeschränkt. Nach dem Hochwasser hatte sich das Leben im Dorf wieder normalisiert: „Äh, ich denke mal, es ist so wie früher. Dieser Effekt (.) hat keine Langzeitwirkung. Im Prinzip ist jetzt wieder jeder so weit, dass er nur an sich denkt. Ich schließe mich da nicht aus, ja, das ist irgendwo, oder sagen wir mal, ich denke nicht mehr an andere als davor (.) und irgendwo wird man wieder, kommt man wieder ganz schnell dahin. Man hat die gleiche Arbeit, man hat äh die gleichen Probleme wie vorher, es wäre nur dann eben kompliziert geworden, wenn das Wasser hierher gekommen wäre, dann hätte man ganz anders gelagerte Probleme als die, die sonst der Alltag mit sich bringt. Und deshalb ist alles wieder eigentlich in die gleichen Spuren gekommen“ (Neubert 354–360). Die Anforderungen des Alltags nahmen den Platz der Angst, der Aufregung und der Freude, des intensiven Gemeinschaftsgefühls ein. Und diese Anforderungen musste jeder individuell bewältigen. Es klingt fast bitter, dass der Erfolg der Gemeinschaft bei der Abwehr des Hochwassers das Ende des intensiv erlebten Gemeinschaftsgefühls bedeutete. Absicht war es, den Status Quo zu bewahren, der durch die Hochwassergefahr in Frage gestellt war. Aber gerade deshalb ging es nach der Gefahr weiter wie zuvor: Weil die Lage stabil gehalten werden konnte, bewegte sich alles in den alten Bahnen weiter. Die Erfahrungen während der drei Wochen des Hochwassers hatten mit der Zeit danach kaum noch etwas zu tun. Zwar gab es noch einige Aufregung wegen der Ideen, dem Fluss mehr Raum zu geben, aber das war keine Existenzangst, die sich da Luft machte. Alles hatte sich soweit normalisiert, „dass man diese Tugenden, die man da erworben hat, (..) wieder mehr oder weniger (.) abgelegt hat. Man erinnert sich jetzt noch dran, ich meine, ganz so lange ist es ja noch nicht her, man erfreut sich, man klopft sich vielleicht ab und zu noch mal auf die Schulter“ (378–381). Die vergangenen gemeinsamen Wochen waren nur

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noch Reminiszenzen ohne Folgen, und so kamen die erworbenen „Tugenden“ abhanden.40 Hier wird Herr Neubert wohl eher auf ethische Charaktertugenden aus gewesen sein. Darin waren die Werte der Gemeinschaft, die er am Deich mit der Truppe erlebte, realisiert worden. In der durch die Alltagsprobleme erzwungenen Vereinzelung sind diese Tugenden nicht am Leben zu erhalten, weil kein unmittelbar Anderer mehr da war, mit dem man diese gemeinsam verwirklichen könnte. Erinnerung aber half diese zu bewahren, denn „es ist noch nicht ganz weg, aber wenn man nicht an die, an das Hochwasser erinnert wird, ist doch die Tugend denn oder auch der Gedanke an diese ganze Sache, weg, nahezu weg“ (385–387). Die Erinnerung wurde aber auch noch beim Einklagen der früher zugesagten und später nur noch eingeschränkten Mittel frisch gehalten. Vor allem machten sich die Leute Luft wegen der Propaganda, der sie glaubten. Aber das fand zu keiner gemeinschaftlichen Form mehr, denn als letzte gemeinsame Orte fungierten nur noch unzureichend die beiden örtlichen Betriebe und die Nachbarschaft, sonst gab es keinen zentralen Treffpunkt mehr. Nur die regionalen Medien berichteten über den Unmut der Leute, dessen Bekundung im regionalen Fernsehen aber auch inszeniert wurde. Die Tugenden waren die in ihrer Geltung erlebten Grenzmarken der Gemeinschaft, die für Herrn Neubert ganz richtig von der gemeinsamen Praxis abhing. Sie musste sich darin ständig erneuern, sonst wurde sie suspendiert und mit ihr die greifbare Gemeinschaft. Das Gefühl des Zusammengehörens musste erinnernd wiederholt und so aktualisiert werden, um lebendig zu sein, so wie es noch in der Klage gegen die Politik als Gegensatz von Wir und Ihr widerschien. Da aber dieser Protest letztlich Privatsache war, konnten die Tugenden der Gemeinschaftlichkeit hier nicht bewahrt werden. Die zur Zeit des Interviews laufende Gemeindegebietsreform verstand Herr Neubert zunächst als Möglichkeit, dass die Dörfer des Oderbruchs weiter zusammenwachsen könnten. Wie sich aber zeigte, wurde dadurch Streit um die örtlichen Schulen auf dem Land ausgelöst. Denn die Schulen mussten wegen der geringen Kinderzahlen zusammengefasst werden. Aber die Schule hat zentrale Bedeutung für den Zuzug zum Dorf, erklärte Herr Neubert. Verschwände erst einmal dieser Teil der örtlichen Infrastruktur, stirbt das Dorf. Es kann dann auch die letzten Liebhaber des Landlebens oder die wenigen Großstadtflüchtlinge nicht mehr als Wohnort überzeugen. Diese Auseinandersetzung war eskaliert: „Da gibt es jetzt zwischen den Dörfern doch so ein bisschen Krieg“ (423–424). Die Region stand wegen dieses Konflikts um die Schulen und die letzten Zuzugswilligen hinten an. Die Motive zum Landleben schienen Luxus und letztlich Überdruss zu entspringen. Die Landwirtschaft hatte da für Herrn Neubert keine 40 Wie sich hier zeigt, ist die Klage eines Verlustes von Tugenden (MacIntyre 1987) nicht nur hinsichtlich nationalstaatlicher Einheiten zu führen.

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regionale Definitionskraft mehr, sondern nur noch Freizeitcharakter für die Zuzügler. Sein Dorf stand im Kampf um den Erhalt der Schule besser da, was das Nachbardorf veranlasste, den traditionell gemeinsamen Umzug zu boykottieren. Das musste er als einer der Organisatoren miterleben. Die Reaktion konnte er einerseits verstehen, hielt sie aber auch für bedauerlich, weil dadurch das gemeinsame Band leichtfertig aufgekündigt wurde. Er hoffte aber, dass dieser Konflikt nachlassen würde, sobald auf höherer Verwaltungsebene eine Entscheidung getroffen wurde. Allerdings wäre es ein schwerer Schlag für das Dorf, wenn die Schule geschlossen werden würde, das hätte auch Auswirkungen auf sein Geschäft. Und so ginge es auch dem Nachbardorf, weshalb er Respekt vor deren Position hatte. In seiner ausgleichenden Betrachtung gewann der Konflikt nun immer mehr sportliche Züge. Beide Mannschaften kämpften engagiert, seine sah er im Vorteil. Entscheiden würden letztlich Punktrichter. An der Schulgeschichte verdeutlichte Herr Neubert, wie das Hochwasser durch die Probleme des Alltags abgelöst wurde, die ja letztlich nur davon unterbrochen waren. Er selbst nahm eine ausgleichende Position ein, ohne seine Prioritäten zu verleugnen. Unter der Perspektive des Sports schien eine Versöhnung der Kontrahenten nach dem Spiel immer noch möglich. Die Gemeinschaft war zwar stark verblasst vor den alltäglichen Konflikten, aber doch nicht zerbrochen. Sie lebte nochmals auf bei der Organisation von Spenden für ein Dorf das vom Hochwasser überflutet wurde. Die Auswirkung des Hochwassers in Polen und Tschechien wurde erst nach Aufhebung des Hochwasseralarms im Oderbruch in seinem ganzen Ausmaß wahrgenommen. Zunächst war Herr Neubert der Meinung, dass der Rest der Spendengelder, der nach Beseitigung der Schäden in der Ziltendorfer Niederung übrig blieb, an die bedürftigen Polen gegeben werden sollte. Auch die Einwohner seines Dorfes wollten jenen helfen. Dabei sollten die Spenden nützlich eingesetzt sowie gerecht verteilt und nicht durch Nutznießer und Tricks, wie er es gerüchteweise von der Ziltendorfer Niederung hörte, vertan werden. Darum wollte das Dorf nicht Geld schicken, sondern Güter hinbringen. Dazu wurde erst eine Sammlung für ein bestimmtes polnisches Dorf durchgeführt und dann gemeinsam eingekauft oder auch alte, aber funktionierende Haushaltsgeräte abgegeben. Diese konkreten Spenden fand er sinnvoll, weil die wirklich ankommen und nicht „abgefangen“ (698) würden. Schließlich waren einige aus dem Dorf mit all den Sachen nach Polen gefahren und hatten die Verteilung überwacht: „Nich’, dass dann der Bürgermeister drei Waschmaschinen kriegt, ich sag’ das jetzt mal so, ohne dass ich jetzt da eine Abwertung vornehmen möchte. Aber dass dann innerhalb irgendwelcher Mafiosi [Lachen] Sachen da verteilt werden, sondern dass man wirklich sagt: ,Guck da ist eine Familie. Denen geht es wirklich dreckig, die kriegen eine und die kriegen eine‘“ (700–704). Zur polnischen Ordnung scheint Herr Neubert – wie über-

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haupt die Leute im Dorf – wenig Vertrauen gehabt zu haben. Wenn der Verweis auf mafiose Machenschaften auch eher als ein Witz daherkam, klangen doch deutlich Vorurteile mit, die sich freilich auf die Berichte zum missratenen staatlichen Hochwassermanagement und zur -hilfe in Polen stützen konnten. Die Gemeinschaft erfuhr hier aber jenseits der Oder nochmals eine späte Chance zur Demonstration ihrer Tugenden, auch deshalb war die Verteilung in eigener Hand mehr wert, als die einfache Übergabe an offizielle Behörden. Schließlich verwies Herr Neubert am Ende seiner Erzählung noch auf die Chance, die das Hochwasser dem Oderbruch denn doch verschafft hatte. Die neuartige Popularität nutzend, begann er gemeinsam mit anderen, einen Marathonlauf entlang der Oder auf deutscher und polnischer Seite zu organisieren: „Und da haben wir, als das da mit der, mit dem Oderbruchhochwasser vorbei war, haben wir gesagt: ,Menschenskinder (.), wir müssten was machen in der Hinsicht. Wir müssten eine Veranstaltung organisieren, die das noch mal aufgreift‘. Und da haben wir gesagt: ,Was ist eigentlich am werbewirksamsten? Das ist eigentlich ein Marathonlauf. Es gibt den Boston-Marathon, den New York-Marathon, den BerlinMarathon. Alles Sachen mit Namen, die ziehen die Medien an, und die können auch was für die Region darstellen. Ja, dass die Leute sich identifizieren, die hier wohnen, und sagen, Menschenskinder, das ist, das ist hier unser Ding, unsere Veranstaltung‘“ (806–812). Dem Ende der Gemeinschaft im Alltag nach dem Hochwasser setzte Herr Neubert eine neue Gelegenheit für die Gemeinschaft entgegen, einen Anlass zur Identifikation, womit an die tugendhaften Grenzen der partikularen Wir-Gemeinschaft erinnert werden konnte. Das Oderbruch war für Frau Gerster zuerst die Wohnstatt am Fluss, wie sie Journalisten nach ihrem Einsatz am Deich erklärte. Das Hochwasser verstand sie als Anlass dafür, dass die Oderbrüchler ihr Verhältnis zur Natur änderten, wenn sie auch in Zukunft gegen die Gefahr bestehen wollten. Deshalb beobachtete sie den Fluss nun genauer und führte sogar Protokoll darüber: „Und haben uns eigentlich, waren immer als Angler an der Oder, aber jetzt doch einen ganz anderen Blick auf den Fluss Oder gewonnen. So muss ich das eigentlich sagen“ (Gerster 193–195). Wie zum Beginn des Hochwassers präsentierte sich Frau Gerster als Mahnerin gegen die Sorglosigkeit. Als Anglerin erschien ihr der Fluss vertraut, aber nun hatte sich der verändert. Sie nahm sich selbst beim Wort und machte Flussbeobachtungen, worin sich ihr gewandeltes Verhältnis zur Oder ausdrückte. Im Vergleich zu ihrer besorgten Aufregung seien die Leute im Oderbruch im Allgemeinen jedoch verhaltener, was an deren besonderem Naturell läge. Grundsätzlich erklärte sie das am Beispiel ihres Mannes, der gebürtig aus dem Oderbruch stammt: „Das ist ein richtiger Oderbrüchler, wie er im Buche steht. Alle Eigenschaften, die man so ’nem Oderbrüchler

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zu[schreibt]: stur, nicht so gesprächig, überlegt erst lange, bevor er irgendwas loslässt, aber dann mit hintergründigem Humor“ (197–200). Die Beschreibung solch überlegener Ruhe fand sich auch schon bei den ethnographischen Medienberichten über die Bewohner der Oderregion. Deutlich demonstrierte Frau Gerster den Kontrast zu sich, wenn sie sich als impulsiven Typ aus Südostdeutschland vorstellte. Ihr Mann hatte sie während der aufgeregten Zeit des Hochwassers immer beruhigen können: „Und das war mein, war mein, war mein Glück“ (202). An dieser Stelle wird der Sinn der ethnographischen Beschreibung der „ruhigen“, „überlegten“ und „tatkräftigen“ Leute in der Oderregion deutlich, mit der genauso die Leute der Uckermark gekennzeichnet wurden.41 Es ging dabei gar nicht darum, bestimmte Leute zu beschreiben, sondern um den Kontrast gegenüber der dramatischen Situation. Die Figur des besonnenen Tatmenschen schuf im Angesicht der drohenden Katastrophe Vertrauen, unabhängig davon, wie die Leute tatsächlich zu beschreiben waren.42 Obwohl Frau Gerster schon drei Jahrzehnte im Oderbruch lebte, konnte sie sich diese Eigenschaften vermeintlich echter Oderbrüchler nicht aneignen: „Aber ich denk’ mal, so stur so, das ist nicht so meins, aber so ’n richtiger Oderbrüchler, wie die so sich auch bewegen und überhaupt so was, aber das ist eben alles gut durchdacht“ (206–208). Der Oderbrüchler, wie ihn Frau Gersters Mann vorstellte, strahlte „durchdacht“ Harmonie aus, und erschien darum wie ausgedacht. Weil Frau Gerster den kohärenten Habitus ihres Mannes seiner regionalen Herkunft anrechnete, bewunderte sie an ihrem Mann nicht einfach seine Fähigkeit zur überlegten Ruhe, mit der er sie auffing, sie bewunderte auch den Oderbrüchler an ihm. So erschien ihr Mann nicht nur als Stütze ihres emotionalen Gleichgewichts, sondern auch als Garant für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, zu der sie vermittels der Heirat erst Zugang gefunden hatte. Ihre Heirat war für Frau Gerster eine Entscheidung für das Oderbruch. Dass ihre Entscheidung richtig war, offenbarte sich für sie in ihrem glücklichen Eheund Familienleben. Und weil die Familie im Oderbruch bleiben wollte, musste auch sie bleiben trotz der Gefahren, die das Leben am Fluss mit sich bringt. Es war für Frau Gerster auch nicht leicht, hier anzukommen. Sie musste sich ihren Platz in der Gemeinschaft erst hartnäckig erkämpfen. Sie schätzte, dass es zehn Jahre gedauert hat, bis sie ihren AußenseiterStatus los wurde, obwohl sie doch einen Einheimischen geheiratet hatte. Außerdem erschienen ihr die Lebensverhältnisse so rückständig, die Landschaft so öde. Als sie ihr Haus bezogen, war es seit dem Krieg nahezu verfallen. Und so machten sie sich daran, es eigenhändig wieder aufzubauen.

41 Siehe zum Beispiel die MOZ-Dokumentation (MOZ 1997: 31). 42 Weiterhin scheint es sich dabei oft um besonnene Männer zu handeln. Damit sind Hinweise auf die genderspezifische Attributionsforschung gegeben, wobei männlichen Geschlechterrollen Fähigkeit, weiblichen aber Anstrengung zugerechnet wird (Weinbach 2004b).

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Dafür war sie neben ihrer eigentlichen Arbeit in ihrer Freizeit noch landwirtschaftlich tätig, wobei auch die Kinder helfen mussten. So kam es, dass diese auf dem Acker aufgewachsen waren und gleich mitbekamen, wie anstrengend Landarbeit ist. Im Haus hatten Frau Gerster und ihr Mann sich immer weiter mit dem Ziel vorgearbeitet, eine Heimat für folgende Generationen zu schaffen. Jedenfalls wünschten sie sich das. Mit dem Mauerfall änderten sich jedoch die Möglichkeiten des Zuverdienstes, was Grundlage des Hausausbaus war. Zwar hatte die Familie noch mitgeholfen, aber seitdem es die alten Baubetriebe nicht mehr gab, wurde das schwieriger. Inzwischen hätte sie kein Heimweh mehr nach ihrer südöstlichen Herkunftsregion. Im Gegenteil wurde sie von ihren Verwandten um das Leben im idyllischen Oderbruch beneidet. Und obwohl sie auch das Großstadtleben schätzte, wollte sie immer wieder hierher zurückkehren, denn „[hier im Oderbruch] ist die Welt noch so einigermaßen in Ordnung, einigermaßen“ (589-590). Im Oderbruch anzukommen, hatte Frau Gerster offensichtlich Kraft gekostet. Sie musste die Ablehnung der Gemeinschaft überwinden und sich ein Dach überm Kopf schaffen. Ihr Lebensglück musste sie seitdem selbst erarbeiten. Der Entschluss, im Oderbruch auf jeden Fall zu bleiben, gründete auch auf diesen Mühen. Ähnlich wie bei den Krähmers hatte sie schon zu viel investiert, um noch von hier schadlos weggehen zu können. Was die Heimat darüber hinaus ausmachte, wurde im Gegensatz zum Großstadtleben deutlich: Die Welt dort sei schnell, hektisch und unübersichtlich, was sie ab und an genießen könne. Aber Ordnung herrschte vor allem in der Welt vor der Haustür, wenngleich die Wendeerfahrung dies zu bedrohen schien. Ordnung, führte Frau Gerster aus, bestehe darin, dass es hier eine unproblematische gegenseitige Hilfe gibt, eine Alltagssolidarität, die nicht nach Vergeltung frage: „Die Menschen hier, also die Nachbarn, noch zueinander halten, zueinander stehen, wenn einer was braucht, dass er dem anderen was mal hilft, ohne dass da auf die Moneys geguckt wird. Und dass man mit ihm quatschen kann über seine Probleme und der kann seins loswerden. Und dass einer auf den anderen ein bisschen einsteht. Das finde ich gut hier. Muss ich so sagen. Und auch die neu hier zugekommen sind und dann Häuser gebaut haben, auch die sind in die Gemeinschaft wieder aufgenommen worden. Schneller als ich damals alleine war. Heute ist das irgendwie, sind sie froh, dass die jungen Leute herkommen und etwas Leben reinbringen“ (592–599). Gegenseitig höre man sich die Probleme des anderen an, und trüge Sorge füreinander. Das fand sie unbedingt gut. Die Zuziehenden wurden inzwischen auch viel schneller Teil der Gemeinschaft, was sie begrüßte, denn so belebte sich das Zusammenleben, erst recht, wenn auch Kinder mitkamen, weil von den Einheimischen sonst niemand mehr Kinder hatte. Die fraglose Alltagssolidarität machte die Gemeinschaft aus. Man musste sich nicht beweisen, dass man dazugehör-

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te. Das war schon vorher klar. Deshalb half man sich uneigennützig, weil man mit ebensolcher Hilfe rechnen konnte. Das war die Ordnung, die aus Sicht Frau Gersters zwischen Menschen herrschen sollte. Dieses fraglose Einstehen füreinander, die gegenseitige Hilfsbereitschaft und das offene Ohr für den Anderen zeichneten diese Gemeinschaft aus. Das war ihre Normalerwartung, mit der sie ihre Gemeinschaft von anderem zu unterscheiden meinte, eben von dem, wo die Welt nicht in Ordnung war, weil man da nicht ankam und nicht hingehörte. In ihr Dorf gehörte sie ohne Frage: Sie war in der Gemeinde im örtlichen Geschichtsverein engagiert, und sogar einmal ehrenamtliche Bürgermeisterin. Aber sie musste einsehen, dass sie sich dafür nicht eignete. Jedoch interessierte sie sich weiter für die Politik im Ort und in der Region, organisierte Feste, kümmerte sich um die Älteren und traf sich mit Bekannten zum Reden in der Kneipe. Frau Gerster trug ungefragt Verantwortung für das Gelingen des Gemeinschaftslebens. Als Warnerin und als Gemeinschaftspromoterin war sie in der Gemeinschaft längst jenseits der Familie angekommen und stellte das auch immer wieder unter Beweis; und auch die ethnische Selbstbeschreibung zielte in diese Richtung gemeinschaftlicher Authentizität. Die Normalerwartung war schon die gemeinschaftliche Wertsetzung, das machte die Grenzen aus, die hier mit den Symbolen der Idylle jenseits von Hektik, Lärm und Unbehaust-Sein markiert war. Hierin war wohl die Legitimität ihrer Rolle als Mahnerin und Aktivistin der Gemeinschaft begründet. Unterstützt durch ihren Mann machte sie sich daran, eine Initiative für den ökologischen Ausbau der Schutzmaßnahmen im Oderbruch zu organisieren. Dabei setzte sie bewusst auf die Popularität der Region. Mit einem halben Dutzend Leute traf sie sich, um ein Programm auszuarbeiten. Jedoch waren auf der anschließenden ersten Veranstaltung fast nur ältere Leute anwesend, was sie enttäuschte. Sie erklärte sich die Abwesenheit der Jüngeren damit, dass diese meistens erst zugezogen seien und noch keine entsprechenden Erfahrungen gesammelt und Zugehörigkeit entwickelt hätten. Die meisten Leute kamen zudem aus den kleinen Oder-nahen Dörfern und weniger aus den größeren zentralen, weil sie dringlichere Sorgen wegen möglicher Veränderungen am Deich hatten. Als dann auch noch einige Bauern Rechnungen über Belastungen und Produktionsausfälle präsentierten, drohte die Veranstaltung zu platzen. Gerade die Forderungen der Bauern fand sie allerdings dreist. Denn entgegen ihrer abstrakten, an der Gemeinschaft orientierten Interessenformulierung der Initiative präsentierten die Bauern ihre privaten. Zur gleichen Zeit hatte sich eine weitere Gruppe gebildet, die allerdings von jemand aus Berlin geführt wurde, der die Leute aber mit seinen unrealistischen Forderungen bloß aufwiegelte. Mit dieser Gruppe war beim ersten gemeinsamen Treffen kein Übereinkommen herzustellen. Stattdessen entbehrten deren Argumente der sachlichen Grundlage und so gingen alle schnell auseinander, was Frau Gerster als Erfolg wertete.

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Anhand der anderen Gruppe markierte sie deutlich ihre Stellung in der Gemeinschaft. Die anderen waren in ihren Augen nicht an Lösungen, sondern an Konfrontation interessiert, wofür ein Außenseiter verantwortlich war. Damit sprach sie dieser Gruppe die Legitimität nicht nur sachlich, sondern auch sozial ab, indem sie alte Ressentiments der Brandenburger Provinz gegenüber der Großstadt bemühte.43 Mit der Figur des Fremden eröffnete sie weitere Differenzen in der Gemeinschaft der Oderbrüchler. So gab es neben den gebürtigen wie ihrem Mann und den langjährigen, von denen sie eine war, auch die zugezogenen jungen Familien, die gutwilligen Mitstreiter und die verführten Einfältigen. Letztere erlagen wohl einer Art Revolutionsrhetorik, wollte Frau Gerster scheinen: „Naja, mit roten Fahnen hier durch die Gegend marschieren, denk ich mal“ (245). Gerade die älteren gebürtigen Oderbrüchler könnten sich nicht selbst artikulieren, erklärte sie. Die Gemeinschaft ehemaliger Genossenschaftsbauern war in der Öffentlichkeit auf dem Mund gefallen, weil sie durch die einsame Landarbeit auf den weiten Ackerflächen des Oderbruchs nicht an Kommunikation gewöhnt waren. Darin sah sie einen Grund für deren Verschlossenheit, aus der sie sich nur im äußersten Fall reißen ließen, und dann hörte sich das vielleicht auch noch wenig klug an, was sie zu sagen hätten. Anders sei es bei der Generation ihres Mannes und den Kindern. So sei ihr jüngster Sohn während des Hochwassers nämlich „zum denkenden Oderbrüchler“ (269) herangewachsen. Sie unterschied also weiter zwischen den älteren und jüngeren Oderbrüchlern. Beide waren zwar authentisch in Hinsicht eines sturen, verschlossenen Habitus, aber die jüngeren wie ihr Mann haben gelernt, der Welt mit leiser Ironie zu begegnen, was sie so begeisterte. Ihre Familie führte sie als Beispiel für diese jüngere Generation an, die sich selbstverantwortlich und selbstbewusst als Oderbrüchler begreife und ihre Probleme aktiv meistere. Diese war dann auch nicht mehr anfällig für fremde Parolen, weil sie schon eigene gefunden hatte. Aus Frau Gersters Perspektive schien es so, als habe sich erst diese Generation der Oderbrüchler aus dem „Idiotismus des Landlebens“44 befreien können. Eigeninteressen hatten neben der Pflicht für die Gemeinschaft keinen Platz. Deshalb gründete sie nach dem Hochwasser ihre Initiative und bekämpfte gleichzeitig die andere Gruppe, die ihr wegen ihrer Aufgeregtheit suspekt war. Immer wieder versteckte sie ihre Verzweiflung im Kreis der Gemeinschaft, die sie nur im engsten Freundes- und Familienkreis zeigte. Selbst gegenüber entfernteren Verwandten, die von den Fernsehberichten erschrocken waren, gab sie sich entgegen ihrer eigentlichen Gemütsverfas-

43 Diese sorgten auch schon während der Fusionsdebatten 1995 und 1966 für Ablehnung durch die Brandenburger (John 1998, Reimer/Duck 2001). 44 Dieses Wort aus dem Kommunistischen Manifest (Marx/Engels 1964: 48) passt noch und gerade heute wieder auf manche ländliche Gegend Ostdeutschlands.

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sung so, wie ihr Mann ihr erschien, nämlich als kraftvoller Tatmensch aus dem Oderbruch. Hier konnte sie sich ihrem Ideal des Oderbrüchlers doch annähern. Sie erlebte das Hochwasser immer noch als öffentliches Thema. Vor allem die Älteren redeten auch noch Monate danach davon. Aber die hätten diese Zeit wohl auch mit den größten Strapazen und erfahrungsgespeisten Ängsten überstanden. Für sich plante sie, die Geschichte des Hochwassers für den örtlichen Geschichtsverein aufzuschreiben. Die Medien verfolgte sie seit dem Ende des Hochwassers aufmerksam, um Ursachen und Verlauf von Hochwasser hier und anderswo zu begreifen. Das tat sie, weil die Jugend, ihrer Meinung nach, die Gefahr nicht verstand. Gegen diese Sorglosigkeit nahm sie wieder ihre Rolle als Mahnerin ein, was auch mit ihrem Engagement in der Umweltinititative korrespondierte. Das war ihre Art, die Zukunft des Oderbruchs zu sichern. Erst auf dieser Grundlage bot sich auch der Familie eine Zukunft im Oderbruch. Ihr großes Haus sollte dafür der Rahmen sein, weshalb sie es für ihre Kinder weiter ausbauen wollten. Auch kommende Hochwasser würden sie wegen ihrer erhöhten Lage nicht sehr treffen, sondern aus ihrem Ort eher eine kleine flache Insel machen, die zwar einsam, aber auch „romantisch“ (299) wäre. Die Frage der Zukunft hing auch immer mit der Frage nach Erwerbsmöglichkeiten zusammen. Darauf hatten schon Krähmers verwiesen. Aber diese Frage war kein Problem für Frau Gerster, denn ihr Mann hatte sich nach der Wende selbständig gemacht und ihre erwachsenen Kinder hatten Arbeit, wie sie selbst. Obwohl ihre Arbeitssituation von einigen Unsicherheiten überschattet war, focht sie das nicht an, denn sie hatte eine Zusatzausbildung begonnen und war bereit auch längere Anfahrtswege in Kauf zu nehmen. Aber sie wollte auf jedem Fall im Oderbruch bleiben; Wegzug war keine Option. Nicht einmal in der Urlaubszeit führen sie weg, berichtete Frau Gerster: „Ich bin eigentlich nicht so ’n Typ, der wegfahren musste, ich hab eigentlich das hier genossen, die Heimat“ (422–423). Obwohl Frau Gerster bei ihrer Umweltinitiative auch auf die durch das Hochwasser beförderte Popularität des Oderbruchs setzte, stellte sie sich dessen Zukunft unabhängig davon vor. Weder erwartete sie den massiven Zuzug von Berlinern, die ihren Altenwohnsitz hier aufschlagen wollten, noch die Ansiedlung von Gewerbe. Auch vom populären Konzept des sanften Tourismus versprach sie sich nicht viel. Die Arbeitssituation würde vielmehr vom täglichen Pendeln in die Städte geprägt sein. Trotzdem investierten viele in ihre Häuser und planten für die nächste Generation, wie sie das für ihre Söhne taten. Sie erwartete deshalb keine Entvölkerung des Oderbruchs, aber auch keine durchschlagenden Veränderungen. Jedoch sei das auch nicht das Wichtigste, sondern dass sich die Menschen auf den Grundsatz besinnen, ihr Leben fleißig und sparsam zu gestalten. Statt Hoffnungen auf externe Entwicklungsschübe nach dem Hochwasser zu richten, konzentrierte sich Frau Gerster auf die Familie und ihre Art der

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Bewältigung des Lebens. Das Hochwasser erschien so wie eine Episode, die zu ihrem Leben passt: als Ausnahme erwartbar, als Aufgabe gestaltbar. Aber alles blieb am Ende, wie es war.

Gemeinschaft und Individuum im Oderbruch Die Gemeinschaft der Oderbrüchler Das Hochwasser der Oder im Sommer 1997 machte die Gemeinschaft zu einem Thema für die von der Gefahr betroffenen Leute im Oderbruch. Dieses Thema war in die ständig laufende Kommunikation nicht explizit eingeführt worden. Im Oderbruch wurde nicht im Namen einer wie auch immer genannten Gemeinschaft an ein gemeinsames „Wir“ appelliert, weder von Politikern noch irgendwelchen Volksdemagogen. Auch die Massenmedien präsentierten kaum Volksbeschreibungen; ihrer Logik folgend personalisierten sie ihre Berichte (Luhmann 1996: 65 ff.). Freilich hatte das auch den Effekt einer Zuschreibung, aber die zielte gerade nicht auf die Auflösung der Individuen zu einer vereinheitlichenden Gemeinschaft. Mit der verallgemeinernden Präsentation individueller Schicksale wurde jenen Anderen, denen es zu helfen galt, vielmehr Gesichter verliehen. Die im politischen Diskurs aufgeworfene deutsche Nation, die sich vor ihrer ersten gemeinsamen Herausforderung seit der deutschen Einigung gestellt sehen sollte, blieb immer als bloßes politisches Schlagwort erkennbar, selbst für diejenigen, die den Leuten im Oderbruch mit Spenden helfen sollten. Auf die Gemeinschaft als Idee, als Thema für das eigene Denken, kamen die Leute von selbst. Dazu musste das Hochwasser erst zur Bedrohung werden. Die Plötzlichkeit, wie diese Bedrohung für die Betroffenen real wurde, wirkte dann wie ein Schock. Der sicher geglaubte Alltag trat hinter dem Ausnahmezustand zurück. Aber die Gemeinschaft, an der sich die Leute orientierten, war keine Einheitsform. Sie orientierten sich vielmehr an individuellen Ideen, die dem Namen nach mit den Ideen anderer zu tun hatten. So individuell die Wahrnehmung der Gefahr war, so individuell waren auch die Gemeinschaften, auf die sich die Betroffenen bezogen. Das Dorf bannte in der Ferne die Aufmerksamkeit, als man in der Not nicht dort war. Das lebenslang gesammelte Wissen, dass gegen alarmistische Unkenntnis bestehen musste, war nicht so sehr das eigene als das der Generationen zuvor. Die Angst vor der kommenden Katastrophe bezog sich auf die Region, die man kannte. Oder aber die Sorge wegen der unbändigen Naturgewalt richtete sich auf die Familie, die Freunde und Nachbarn. Im Laufe der Ereignisse, die als Sommerhochwasser in Erinnerung blieben, veränderten sich die Formen und Zuschnitte der Gemeinschaft. In

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den Geschichten wandelten sich diese je nach den geschilderten Problemlagen, ohne dass sie ausdrücklich miteinander vermittelt wurden. Im analytischen Blick lassen sich aber Verknüpfungen herstellen, die auf individuelle Positionierungsstrategien Rückschlüsse ermöglichen. Allerdings sollen diese hier nicht als Typus präsentiert werden, als individuelle Verhaltenweisen aufgrund gesellschaftlicher Strukturen.45 Im weiteren Verlauf mussten die Betroffenen des Oderbruchs sich nicht nur zur Tatsache der Gefährdung durch das Hochwasser der Oder verhalten. Entscheidungen waren nun in steter Folge gefordert. Zuerst war die Evakuierung für die Einwohner der ersten Evakuierungszone im Norden des Oderbruchs eine Herausforderung. Die Evakuierung war jetzt weit mehr als die diffuse Gefahr durch den Hochwasser führenden Fluss, denn konkrete Fragen mussten entschieden werden. Wollte man trotz Anordnung bleiben, musste man Einschränkungen und Folgen in Kauf nehmen, die unmöglich einzuschätzen waren. Ging man den Weg in die Evakuierung, konnte man mit bestimmten Umständen rechnen und diese auch gestalten. In jedem Fall war diese Zukunft mit bestimmten anderen Leuten zu teilen – zumindest kam niemand von den Interviewten auf die Idee, sich während dieser Zeit weit entfernt im Urlaub unerreichbar zu machen. Die Gemeinschaftsbezüge wurden gegenüber dem ersten Aufruf konkreter. Waren im Begreifen der Gefahr eher noch abstraktere Vorstellungen der Gemeinschaft virulent, so war diese jetzt fokussierter: Bei der Familie fand man für die Wochen der Evakuierung Unterschlupf. Diejenigen, die sich der Evakuierungsanordnung widersetzten, fanden sich regelmäßig zusammen und beobachteten einander. So wurde der Bezug auf eine abstrakte Gemeinschaftstradition durch die konkreten Familienbande überdeckt, die Sorge um die Nachbarschaft und Region konnte sich an wenige bekannte Gesichter wenden und festhalten. Denn diese abstrakte Gemeinschaft, die als solche im Moment ihrer Gefährdung ins Bewusstsein trat, löste sich nach und nach auf. Die Leute, auf die diese Gemeinschaft zuzurechnen war, verschwanden nach und nach. Die Familie konnte in diesem Fall das probate Refugium sein, von dem aus man das Geschehen weiter beobachtete. Als Rückzugsort ermöglichte die Familie eine Schließung gegenüber den unwägbaren Möglichkeiten der Welt. Die Familie – mindestens die traditionelle Kleinfamilie – bot ja schon allein über die hingenommene Genealogie Sicherheit. Aber sie konnte auch ein weniger regressiver Rückzugsort sein, sie konnte auch als versichernder Ort dienen, an dem die Kräfte zur Bewältigung der diffusen Ängste zu reaktivieren waren. Der Verlust der abstrakten Gemeinschaft führte im überwiegenden Teil zur Konkretisierung der Gemeinschaftsbezüge, die in Interaktionen realisiert wurden. So kamen die Erzähler während des Oderhochwassers tatsächlich in Gemeinschaft. Ge45 Unerklärt bleibt, inwiefern diese den Interviewinteraktionen geschuldet sind. So ist in den Gemeinschaftsformen und deren Dynamik allein ein Teil der Selbstbeschreibung zu erkennen.

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lang diese Neuprojektierung der Gemeinschaft, konnten auch die diffusen Ängste gezügelt und eher als Risiken kalkuliert werden: die Sicherung der Versorgung, Strategien des Verbergens vor den Behörden, die Organisation von Treffen und Aufgabenverteilung sind Ausdruck dafür. Nur in wenigen Fällen gelangen solche Anschlüsse nicht, was aber mit der sozialen Stellung in der Gemeinschaft zusammenhing, die die Individuen vor dem Hochwasser innehatten. Sinnentleerende Einsamkeit war der Preis dafür. Nicht jeder der Interviewten war von der Evakuierungsanordnung gleich oder überhaupt betroffen. Einige wohnten in sicherer Höhe, andere mussten zwar mit der Evakuierung rechnen, aber in der Zone zwei und drei erst später. Wer sich nicht vor der Wahl gestellt sah, zwischen Bleiben oder Fortgehen entscheiden zu müssen, der wurde über kurz oder lang aktiv, was auch für die zutrifft, die sich der Evakuierungsanordnung verweigerten. Niemand konnte einfach abwarten, bis die Gefahr gebannt war. Hierfür boten sich für die Leute im Oderbruch zahlreiche Möglichkeiten, in einem Rahmen aktiv zu werden, der das Private der Ausharrenden und der Familien überstieg, und zwar vor allem hinsichtlich seiner Bedeutung. Zuallererst boten die Sandsackplätze Gelegenheit zum Tätigsein. Hierbei erweiterte sich wieder der Blick für die Gemeinschaft. Man traf mit Menschen zusammen, denen man vorher noch nie begegnet war, und trotzdem stellte sich Vertrautheit ein. Man musste nicht hoffen, am gleichen Strang zu ziehen, man musste nicht Vertrauen schenken. Man wusste, dass man ein gemeinsames Ziel verfolgte und jeder der Anwesenden sich ganz dafür einbringen würde.46 Die Arbeitsgemeinschaft auf dem Sandsackplatz fand über den Nachrichtenfluss ihre Fortsetzungen in der Region. Überall waren Leute wie sie mit den gleichen Zielen tätig.47 Heimat ist ein Name, der dieses Wissen um die Gemeinschaft zusammenfasst. Und Heimat war auch das Emblem, weiter zu gehen und sich in seinem Wagemut nicht von den administrativ gesetzten Grenzen abschrecken zu lassen. Nicht nur die massenhaften Ansammlungen von Leuten auf den Sandsackplätzen wurden aufgesucht, um aktiv zu werden, sondern auch die Sonderaufgaben als Deichläufer, Transportfahrer und Wegweiser übernommen. Oder man fand sich als Gruppe selbstorganisiert zusammen, ob so spektakulär verkleidet als Spezialtruppe der Melioration oder aber als Nachbarschaft. Anders als die administrativ abgesicherten Maßnahmen verlangten diese Sonderaktionen weit ab der Gemeinschaft immer stärker noch nach Legitimation. Der Nachweis des Nutzens für die regionale Gemeinschaft war hier notwendig. Aber auch diese Sonderwege führten zur Gemeinschaft. Das Wissen um 46 Zur Unterscheidung von Vertrauen und Vertrautheit siehe zum Beispiel Luhmann (1973) oder später Giddens (1990) sowie Misztal (1996) und wieder Luhmann (2001). 47 Ausführlich berichtet Anderson (2006) von der Rolle von Nachrichten bei der Herstellung imaginärer Gemeinschaften. Im Oderbruch bedürfte es primär nicht der Massenmedien: Vor allem das Fernsehen spielte eine große Rolle, die mündlichen Nachrichten aber standen weit höher im Kurs.

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die gemeinschaftliche Ablehnung des Schlafdeiches verhinderte die problemlose Wir-Identifikation. Erst am Oderdeich konnte sich die selbstgestellte Mission für die Gemeinschaft erfüllen. Alle Beteiligten hatten ihre Vorstellungen über die Grenzen der Gemeinschaft, der sie sich zurechneten. Diese Grenzen waren im moralischen Sinne verpflichtend. Dagegen konnten sie für sich nicht befriedigend agieren. Auch die stupideste Arbeit konnte mit dem Glauben an das moralische Einverständnis erledigt werden. Und da konnte der Gemeinschaftsverweis auch schon einmal ganz weit ausgreifen auf die ganze Menschheit, die an der Oder der Macht der Natur gegenüber stand. Die Helfer blieben dabei die Anderen. Über diese konnten die Grenzsetzungen fixiert werden. Hilfe den Helfern und Dankbarkeit ihnen gegenüber waren der positive Ausdruck dieses Grenzregimes. Aber an dieser Grenze wurden auch die Vorwürfe an die inkompetenten Fremden in der eigenen Region formuliert. Aber nicht nur die von weithergekommenen Helfer konnten die Anderen sein. Die präsentierten Medienbilder hatten durchaus das Potenzial, Antipoden zum gemeinschaftsorientierten Selbstverständnis zu produzieren. Auch Nachbarn oder die Einwohner der Region entsprachen nicht immer den Vorstellungen vom Oderbrüchler. Deren Erbe war dafür in der eigenen Familie zu finden, ob als nostalgische Reminiszenz oder aber als angstabsorbierende Stütze. Indiskutabel war aber die unbegründete Nichtbeteiligung an den gemeinschaftlichen Aktionen, was allerdings nur selten geschildert wurde. Kaum etwas mit der Gemeinschaftsbildung hatte jedoch der Bezug auf Polen zu tun. Trotz der überwiegend negativen und dann deutschlandzentrierten Berichterstattung, wie sie nach dem Hochwasser angemerkt wurde, bezogen sich die Gemeinschaftsbilder im Oderbruch nicht auf den Gegensatz zur Situation in Polen oder den durchaus umstrittenen Beschluss, die polnischen Rückhaltebecken zu öffnen und damit für die zweite Hochwasserwelle der Oder zu sorgen. Erst später im Zusammenhang mit den Spendenaktionen wurde das Image der Bedürftigkeit an die Polen weitergegeben mitsamt dem Misstrauen gegenüber den staatlichen Behörden, die nun freilich an antipolnische Ressentiments anschlossen. Aber da waren schon wieder andere Gemeinschaftsprojektionen aktuell. Allerdings boten die gemeinschaftlichen Spendenaktionen auch Gelegenheit, die eigenen Wertmaßstäbe nochmals als Abglanz der Hochwasserzeit exterritorial zu realisieren, als Moment erinnernder Animation der Gemeinschaftstugenden, die im Alltag anderen Orientierungen weichen mussten. Mit dem Ende des Hochwassers zog wieder der alltägliche Ablauf des Lebens ein und damit traten die Probleme zutage, die durch die Katastrophe bloß suspendiert wurden. Diese Probleme veränderten die Wahrnehmung und Zurechnung zu den Gemeinschaften gegenüber der Zeit des Hochwassers. Partikulare Interessen gaben die Zielvorstellungen für das Gute der Gemeinschaft vor, wobei diese als sportliche Kämpfe beschrie-

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ben wurden. Im Grunde waren die Ziele für alle beteiligten Parteien dieselben. Nur war eben klar, dass nicht alle diese Ziele erreichen konnten, sondern unter Umständen das scheinbar kürzere Ende der Zukunftsoption zu fassen bekamen. Das Hochwasser konnte auch als Auslöser für gemeinschaftliche Initiativen dienen. Die Gemeinschaften des Hochwassers wurden dabei nicht fortgeführt, diese waren wie die Spezialtruppe oder die Ausharrenden beendet. Individuelle Motive aber, beflügelt von den vergangenen Erfahrungen, wurden nun in gemeinschaftliche Projekte umgemünzt, als Marathonlauf oder als Umweltinitiative, die sich in jedem Fall als Projekte für die Regionalgemeinschaft verstanden. Die geschilderten Gemeinschaftsbezüge als konsistente Typen zu beschreiben, kann deren vielfältige und durchaus widersprüchliche Formen nicht einholen. Sie hängen entschieden von den individuellen Erlebnissen einerseits und von der Dynamik der Präsentation der Selbstentwürfe im Interview andererseits ab, ohne dass die Zurechnung der Elemente zu entscheiden wäre. Die Präsentation der Erzählungen erfolgte immer aus der Perspektive des Individuums, das sich Gemeinschaften zurechnete oder davon abgrenzte. Im Modus einer Zentralperspektive setzt das Individuum sich selbst ins Zentrum des gemeinschaftlichen Geschehens, das sich von Nah- zu Fernbereichen gliedert und an dessen Horizont die Anderen auftauchen. Das Individuum ist deshalb nicht schon dessen Mittelpunkt, aber fraglos darin aufgehoben, die gemeinschaftlichen Geschehnisse betreffen auch immer es selbst. Diese Position wurde aber in manchen Fällen auch noch weiter ausgeführt und die Gemeinschaft deutlich in unterschiedliche Gruppen differenziert, die trotz dieser Unterschiede noch in gemeinsamer Grenze zu fassen waren. Mit solcher Differenzierung war auch die Schilderung von Wandlungsprozessen der Gemeinschaft verknüpft. Andere Schilderungen gingen auch mit einer exzentrischen Positionierung einher. Das Individuum steht hier am Rand der von ihm bestimmten Gemeinschaft und findet selbst einen Weg hinein und wieder hinaus. Dieser flexiblen Exzentrik kann man nach anderen Erzählungen eine fixierte Exzentrik gegenüber stellen. Von der peripheren Position aus gibt es zwar auch Wege in die Gemeinschaft, aber diese werden nur unter besonderen Umständen beschritten. Der Transit braucht eine vermittelnde Scharniergruppe, wie zum Beispiel Familienangehörige, die allerdings aus Sicht der peripher positionierten Individuen Elemente ihrer Parallelgemeinschaft sind. Insofern bewegen sie sich auch beim Transit in den eigenen Gefilden. Die periphere Position ist dann der Grund für Vorstellungen über eine Parallelgemeinschaft mit gleichem Namen, den die Regionalgemeinschaft beansprucht. Erstere gilt ihnen dabei als die eigentliche, wahre Gemeinschaft, deren Wertgrenzen in ihrer Geltung entweder von der mehrheitlichen Regionalgemeinschaft ignoriert oder aber nur partiell wahrgenommen werden. Diese beispielhaften Typen können nirgends in Reinform gefunden werden, was die Frage nach dem Gewinn solcher abstrakten Verdichtun-

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gen aufwirft. Allein das noch weitere angefügt werden könnten, lässt zumindest klar werden, dass die Gesellschaft unendlich viele Formen von Selbst- und Fremdbeschreibungen möglich macht. Gewinnbringender als weitere deskriptive Impressionen anzufertigen ist es darum, die Frage zu beantworten, was das Gemeinsame dieser Erzählungen zum Hochwasser der Oder 1997 ausmacht. Immer kamen die Interviewten darauf zurück, zu klären, was die Gemeinschaften, auf die sie sich bezogen, auszeichnete, was sie von anderen unterschied. Diese Bestimmungsgrößen sind als symbolische Grenzmarken der jeweils eigenen Gemeinschaftsprojektion zu verstehen. Sie sind die Verankerungen der eigenen Geschichte in denen der Gemeinschaft und die der Gemeinschaft in der eigenen. Verschiedene Symbole tauchten in den Geschichten immer wieder auf, andere waren ganz individuell gewählte. Dabei sind diese Symbole im Vergleich mit möglichen anderen Gemeinschaftspräsentationen kaum geeignet, als unverwechselbare Gemeinschaftsmerkmale zu fungieren, weil sie sich kaum unterscheiden. Aber darauf kommt es gar nicht an. Die, auf die selbstzugerechnete Gemeinschaft projizierte Geltung der mit den Symbolen verbundenen Werte und deren Geltungsausschluss bei anderen macht die Differenzen zuerst für die Gemeinschaftsmitglieder plausibel. Dabei funktionieren einige wohl trennschärfer als andere. Auf jeden Fall funktionieren sie gegenüber jenen, die dazu gehören wollen oder sollten. Eines dieser genannten Symbole war Heimat. Sie war nicht festzumachen am Besitz, auch nicht die Landschaft war damit gemeint und erst recht nicht die Leute, mit denen man täglich zusammentrifft. Auf keine konkrete Vorstellung konnte Heimat bezogen werden. Darum fiel es den Interviewten ja auch so schwer, zu beschreiben, was mit Heimat gemeint war. Nur, dass es diese Beziehung zur Heimat war, die ihnen Antrieb gab, die sie von den Helfern unterschied, die sie zu Hause hielt, darin waren sie sich sicher. Heimat ist nicht einfach vorhanden, sondern wird erst gemacht. Dabei ist klar, dass man die Heimat mit anderen teilt, und zwar meistens mit denjenigen, mit denen man täglich Umgang hat, die aber trotzdem nicht schon die Heimat sind. In den Erzählungen erschien Heimat als Anker der Gemeinschaftsprojektion. Aber um sich dieses Ankers sicher sein zu können, musste man ihn erst im täglichen Einerlei erwerben. Das wurde besonders deutlich bei den Zugezogenen. Auch für die Alteingesessenen ist Heimat eine Lebensinvestition, die sich dann lohnt, wenn man mit anderen daran teil hat. Dieser Erfolgsfall bietet dann die Sicherheit, richtig zu leben. Und daraus resultiert schließlich Vertrautheit. Damit ist die Sorge um eben jene verknüpft, mit denen man den gleichen Heimatbezug teilt. Denn der Schaden der anderen ist auch eine Beschädigung der Heimat. In dieser Sorge wiederum steckte dann auch die Verantwortung für die Heimatgemeinschaft, die von der Nachbarrunde bis zur Region reichen konnte. Gegenseitige Sorge und Verantwortung riefen weitere symbolische Bezüge auf. Auf der einen Seite trat die Natur in Er-

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scheinung, wegen der man sich Sorgen machte, die aber auch Verantwortung forderte. Die Natur war dabei nicht nur die hochwasserführende Oder, sondern alles, worauf die Gemeinschaft gegenständlich zu beziehen war. Die Sorge um die Natur aber musste ganz klar hinter der Sorge um die Gemeinschaft zurücktreten. Die erwartete Übernahme von Verantwortung mündete im Mitmachen, bei dem sich alle in ihrer gemeinschaftlichen Gleichheit begegneten. Diese Begriffe traten als symbolische Bezüge auf, weil sie sich an bestimmten Werten orientierten, die im Sinne Tietz’ (2002) gut für die Gemeinschaft waren. Die Deutung dieser symbolischen Bezüge im gemeinschaftlichen Sinne wurde voneinander als Gemeinschaftsmitglieder erwartet. Uneigennützigkeit, Hilfsbereitschaft, Solidarität und Engagement waren die Tugenden, als die die durchaus moralischen Wertorientierungen einmal zusammengefasst wurden. All diese Begriffe sind so allgemein, dass sie im Grunde jederzeit erwartet und darum aber niemals gefordert werden können. Die Aktivierung der Werte, auf die die symbolischen Begriffe sich richten, ihre Geltungsprobe, machte die Zeit des Hochwassers zu einer zwar anstrengenden, aber für manchen eben auch wunderbaren Episode. Daran kann sich gemeinsam erinnert werden, die Erfahrung des Hochwassers im Sommer 1997 verleiht der Forderung nach der Geltung der Gemeinschaftswerte nämlich ihre exklusive Kraft. Der Begriff, der für dieses Sommerhochwasser steht, war darum nicht der Sandsackplatz, sondern dieser ist in den Bildern der so fremd erscheinenden, hochwasserführenden Oder gebündelt. So kann dieses Ereignis seinen Platz neben dem für die Gemeinschaft so wichtigen Datum 1947 finden. Die vertriebenen und geschlagenen Habenichtse im Oderland des Winters 1947, die sich dem Wasser mit Gleichmut ergeben mussten, hatten fünfzig Jahre später – wenn auch mit Hilfe – die Katastrophe abwenden können. Niedergeschlagenheit wäre darum im Ausklang des Hochwassers kaum zu erwarten gewesen. Aber der Erfolg bei der Abwendung des Hochwassers konnte den Pessimismus gegenüber der regionalen Zukunft nicht vertreiben. Die Geschichten des Hochwassers im Oderbruch erzählen von der Entdeckung der Gemeinschaftstugenden, vom wahren Wir, das dann wieder im Gedächtnis aufbewahrt werden musste, weil es gegenüber den Alltagsproblemen utopisch, weil nicht angebracht, erschien. Nur wenig wurde über gewonnene Impulse berichtet. So hinterlassen die Erzählungen einen doppelten Eindruck. Der Ablauf der Ereignisse während des Hochwassers hat im Anschluss an White (1975) überwiegend romantische Züge, ohne dass die gemeinschaftliche Katharsis eine so starke Rolle gespielt hätte, wie das in den Medien beschrieben wurde. Die Gemeinschaft konnte in der Herausforderung des Hochwassers bestehen, weil die Individuen sich selbst als Gemeinschaftsmitglieder – in welcher Form auch immer – entdeckten. Die Gemeinschaft kam dadurch zu sich selbst. Mit dem Ausblick auf die Zukunft des Oderbruch aber bekamen die Geschichten

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eine tragische Wendung.48 Das prognostizierte schleichende Ende der Region deutete darauf hin, dass die Gemeinschaft erst noch in Zukunft gegen die Agonie ankämpfen muss, ohne rechter Hoffnung zu sein. Die Feste waren nur ein vorübergehendes Intermezzo. Interessanterweise lassen sich die Interviewten aber von ihrer eigenen pessimistischen Darstellung nicht schrecken. Der Niedergang betrifft nicht sie selbst, aber wohl andere in der Region. Bezogen sie sich jeweils auf eine – wie vage auch immer – regional umrissene Gemeinschaft, so ist sie zu diesem Punkt kein Orientierungspunkt mehr für die Interviewten. Wenn die Erfahrungen in der Gemeinschaft unter dem Druck des Alltags so schnell ins Gedächtnis einrücken, um momentan vergessen zu werden, wie ist dann überhaupt von Gemeinschaft zu reden? Das Funktionieren der Gemeinschaft muss sich anders als in fixen Abbildern und Zurechnungen realisieren. Sieht man sich nochmals die Reaktionen auf die Wahrnehmung der Gefahr durch das Hochwasser an, wird man der Vielfalt der Gemeinschaftsbilder gewahr. Diese Vielfalt nimmt in den Geschichten noch weiter zu, die alle zusammen ein vielstimmiges Konzert der Leute im Oderbruch anstimmen. Die Gesamtheit der Geschichten erscheint als ein Mosaik, dessen Teile zwar ineinander passen, aber kein einheitliches Bild ergeben. Die Gefährdung des gewöhnlichen Alltags durch das Hochwasser mündet in den Aufruf von Communio (Fuchs 1992). Dabei handelte es sich in den Geschichten vom Oderhochwasser nicht um eine gemeinsame und einheitliche Vorstellung von der Gemeinschaft. Die Aufrufe waren monologische Akte, die in der Gesamtschau der Erzählungen eine Mehrzahl individueller Gemeinschaftszuschnitte offenbarten. Unter diesen Umständen erscheint es zunächst unwahrscheinlich, dass diese Idiosynkrasien auch nur der nächsten Interaktion standhalten könnten, eher würden sie am rauen Widerstand der Realität zerrieben. Jedoch erwiesen sich die Gemeinschaftsentwürfe in den Geschichten sowohl stabil als auch variabel; auf jeden Fall wurden sie nicht als irreal aufgerieben. Die Erzähler kamen in ihren Geschichten alle in Gemeinschaft. Diese beobachteten sie auch hinsichtlich ihrer auf Erfahrungen und Erwartungen gründenden Gemeinschaftsvorstellungen. Selbst resistenteste Vorstellungen an der Peripherie konnten dadurch irritierende Impulse erhalten.49 Damit diese Impulse sich wirksam entfalteten, bedurfte es aber bestimmter Voraussetzungen, nämlich Eigeninitiative und Freiwilligkeit sowie genügend Zeit und Wiederholung. Die Entwürfe erfuhren aufgrund der aktuellen Erfahrungen Veränderungen, die immer auch Komplexitätserweiterungen meinten. Dabei wurde die erneuernde Konstitution der gemeinschaftli-

48 Darin mag sich auch noch eine Nachwirkung der DDR-Sozialisation niederschlagen, die Bude (1993) ebenfalls im Anschluss an White als grundsätzlich tragisch charakterisierte. 49 So dass Umdefinitionen der Mehrheitsverhältnisse wie bei den Krähmers notwendig erschien.

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chen Grenzen und damit verknüpfter Wertgeltungen vorbereitet. Als Katalysator dieses Reaktualisierungsvorgangs dienten nicht selten unfreiwillig kontrastierende Andere, gegen die sich die in Interaktion erlebte Gemeinschaft absetzen konnte. Auch die symbolisierte Gefahr konnte für das andere Gegenüber stehen. Darum schließen solche differenzierenden Gegenüberstellungen eine Diffamierung nicht notwendig ein.50 Aktuelle Ereignisse rufen im Konstitutionsprozess als Kommunikationsthemen die Grenzen und Wertgeltungen als gegenseitige Erwartungen auf. Die in gemeinsamen Aktivitäten realisierten Gemeinschaften an der Oder ließen die Wertgeltungen und damit realisierten Grenzsetzungen erlebbar werden. Die Dringlichkeit der Ereignisse ließen Erleben und adäquates Handeln am Habitus gebunden. Reflexionen erfolgten allemal über Emotionen, aber eine bewusste Reflexion über die partikulare Gemeinschaft und dem ihr gemäßen Guten konnte so nicht stattfinden. Im Gegenteil wäre das, gemessen an den situativen Notwendigkeiten, kontraproduktiv gewesen. Gleichzeitig war auch immer der Verweis über den aktuellen erlebten Zusammenhang hinaus ein wichtiges konstitutives Element. Die realisierte Wertgeltung der Gemeinschaft konnte so im weiteren Zusammenhang aufgehoben und darum verstärkt werden. Die Gemeinschaft fand sich neben den eigentlichen Orten gemeinsamer Aktion in Kneipen oder am nachbarschaftlichen Tisch und Grill zusammen. Hier war Zeit zur gemeinschaftlichen Kontemplation. Einerseits konnten die erlebten Ereignisse schon durch die gemeinschaftliche Kommunikation individueller Erfahrungen ihrer Konkretheit entbunden und verallgemeinert werden. Über das gemeinsam aufgerufene kollektive Gedächtnis wurden Anschlüsse dieser Neu-Konstitution von vergemeinschaftetem Wissen an Traditionsbestände realisiert, die ja ebenfalls immer nur erfolgreiche Konstruktionen hinsichtlich ihrer geglaubten und damit verpflichtenden Geltung sind. Damit wurde die Kontinuität der Gemeinschaft über den Umweg der Wertgeltung und deren Dynamisierung im Kontext historischer Erfahrungen gewährleistet. So sind Gemeinschaftskonstruktionen durchaus nicht a-historisch, nur deren Grenzsetzung selbst ist es, indem damit deren Ewigkeit gegenüber dem Individuum zu behaupten ist. Mittels der individuellen Geschichten aber werden die tradierten Wertgeltungen und damit die symbolischen Grenzen der Gemeinschaft einer Überprüfung und Neujustierung unterzogen. Das aktiv konstituierte Wissen um die Gemeinschaft wird an den Orten der gemeinschaftlichen Kontemplation konfirmiert. Wenn die individuellen Erfahrungen der Gemeinschaft bekannt gemacht werden, können diese über die symbolischen Grenzmarken entlang der Wertgeltungen eingeschlossen oder ausgeschlossen und so Elemente des kollektiven Gedächtnisses werden. Dabei ist es 50 Darin kann man mit Niethammer (2000) einen Teil des Schreckens der Gemeinschaft erkennen. Deswegen wird sich aber noch niemand der Gemeinschaft in der Gesellschaft entziehen können.

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aber nicht sicher, inwiefern Zurechnung auf und Anerkennung in Gemeinschaft von allen gleich geteilt werden. Denn alle glauben sich mit ihrer Ansicht im Recht der Wertgeltung, solange sie auf keinen Widerspruch stoßen. So lassen sich aktuelle konstituierte Erfahrungen zum gemeinschaftlichen Wissen konfirmieren, das als Habitus zur Geltung kommt oder bei entsprechender Gelegenheit explizit erinnert wird. Das erinnert durchaus an das kommunikative Handeln nach Habermas (1988). Dabei geht es hier aber nicht um das Auffinden eines vernünftigen Kompromisses, sondern um die Interpretation des Erlebten vor dem Hintergrund anderer Erfahrungen im selben Kontext. Die Interpretationen bleiben freilich unerreichbar verschlossen im Individuum. Die Beschreibung der Gemeinschaft als partikulares Wir oder auch die kollektive Identität beinhaltet dieselben und für alle gültigen symbolischen Grenzmarkierungen. Diese müssen als gegenseitige Werteverpflichtung jeweils individuell interpretiert werden und werfen so jedes Mal von neuem die Frage nach der Geltung der Gemeinschaftswerte und der individuellen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auf. Mit diesem gemeinsamen Bezug des individuell Gemeinten auf die durch Symbole bezeichneten Wertgeltungen wird das einschließende Wir der Gemeinschaft als das gemeinte Selbe abgesichert. Entscheidend für die Stabilität und Variabilität der individuellen Gemeinschaftsprojektionen ist also deren Kommunikation. Dabei werden sie in den durch die Gefahr provozierten Interaktionen einerseits ihrer Negierung anheim gestellt. Ohne die Kommunikation der individuellen Vorstellungen könnten diese sich aber andererseits auch keiner bejahenden Konfirmierung versichern. Die in Kommunikation ablaufende aktualisierende Konstitution und anschließende Konfirmierung in explizit reflexiven Zusammenhängen, die jeweils schon in durch symbolische Begrenzungen abgesicherten Situationen stattfinden, gewährleisten die variierende Reproduktion der Gemeinschaft. Warum aber überhaupt der Gemeinschaftsaufruf im Angesicht der Gefahr stattfindet, welchen Sinn dieser Aufruf macht und wie damit dem Einbruch des Ungewohnten in das Erwartete zu begegnen ist, bleibt noch in einer weiteren Interpretationsschleife zu beantworten.

Der Oderbrüchler in Gemeinschaft Die Problemlagen des Gemeinschaftsaufrufes waren individuell völlig verschieden, das verbindende Element war zunächst der Zufall, vom selben Ereignis betroffen zu sein. Erstaunlich ist im Nachhinein, dass sich die meisten Einwohner des Oderbruchs von der Gefahr des Hochwassers überraschen ließen. Lange wussten sie schon von den Berichten in Tschechien und Polen, wussten, dass Oder und Neiße das Wasser auch zu ihnen bringen werden.

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Die Geschichten setzen mit dem Erlebnis ein, das mit der Erkenntnis der Gefahr verbunden war. In den meisten Fällen war das Hochwasser der Oder schon lange ein Thema in den Medien, und die von ihnen festgestellte Sorglosigkeit findet hier viele Beispiele, wenn es denn Sorglosigkeit aus Ignoranz gewesen wäre. Dabei haben die Leute aus dem Oderbruch den Hochwasserverlauf durchaus nicht ignoriert, nur waren sie gar nicht betroffen wie die Tschechen und Polen. Das Hochwasser begann für sie erst zu ihrer Geschichte zu werden, als es für sie Bedeutung gewann. Im Urlaub brauchte es dafür die massenmediale Nennung der Heimatregion, bekannter Orte oder gar des Herkunftsortes, um das Geschehen an der Oder auf sich selbst zu beziehen. Immer noch stellte sich in der Ferne des Urlaubs kein Bedrohungsgefühl ein, eher die Faszination darüber, im massenmedialen Panoptikum aufzutauchen. Je näher die Urlauber ihren Wohnorten dann kamen, um so bedrückender erlebten sie die Gefahr. Gefahr, so scheint es auch hier, muss konkret sein, um Wirkung zu auszulösen. Die Erfahrung des Hochwassers aber war im Grunde nicht die Gefahr, sondern die Selbstthematisierung durch die massenmedialen Berichte. Die Selbstthematisierung wurde von den Spekulationen über den Flutverlauf und durch die Diskussion sinnvoller Gegenmaßnahmen ausgelöst. Der Teilnahme an dieser Kommunikation konnte man sich als Individuum kaum entziehen, schließlich ging es hier um die Gestalt und Gestaltbarkeit der eigenen Zukunft. Es ging darum, in seinen Entscheidungen souverän zu bleiben, indem man zeigen konnte, kompetent gegenüber der sich abzeichnenden Katastrophe zu sein. Die Ereignisse können einen aber vor allem dann einholen, wenn die Routinen des Alltags gestört werden. Gerade wenn die eigene Position in der Region eine bedeutende ist, wirkt sich das um so stärker aus. Die Umstände lassen die eigene Rolle, die zuvor selbstverständlich von Wichtigkeit war, unbedeutend werden. Die Themen der Kommunikation verändern sich, die Gefahr drängt sich ins Erwartete hinein, man wird in seiner gewohnten Berufsrolle als Kommunikationsadresse nicht mehr aufgesucht oder wahrgenommen. Dann muss man Umstellen oder Schließen. Wenn das Gewohnte fremd wird, die Erwartungen erschüttert werden und es keine Möglichkeit zur korrigierenden Kontrolle gibt, nehmen Angstgefühle überhand. Diese Angst vor dem Ungewohnten kann aber auch als Sorge zur Vorsorge gegenüber anderen formuliert werden, in der Familie, im Freundeskreis oder in der Nachbarschaft. Das Oderhochwasser wurde erst virulent oder „akut“, wie die Interviewten sich häufig ausdrückten, als diese Gefahr unweigerlich zu einem Problem wurde, das sie selbst betraf. Die Thematisierung der Gefahr durch das Hochwasser war schon eine Reaktion auf die irritierenden Erfahrungen, wie der neuartigen Popularität in den Medien, dem Nachweis regionaler Kompetenz gegenüber anderen, dem Prestigeverlust der Rolle und damit einhergehend der lähmenden Angsterfahrung vor dem Unbekannten. Diese und ähnlich gelagerte Reaktionen waren in ihren zum Teil mehr-

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schichtigen Formen Ausweis für die Krise bestimmter Aspekte der Selbstbeschreibung, was immer die Frage aufwarf, wer man angesichts der Bedrohung eigentlich ist. Die Selbstbeschreibung wurde akut wie die Gefahr: Die Heimatnatur fremdelte mit dem anschwellenden Fluss und schwammigen Deichen, die Berufsrolle wurde obsolet, man fand sich mitten im Schlaglicht medialer Aufmerksamkeit und die Souveränität wurde durch die fremden Behörden eingeschränkt. All diese und ähnliche Problemlagen drängten die Selbstbeschreibung in den Fokus der Aufmerksamkeit, ließen diese zum Problem werden und entzogen dem Individuum damit seine selbstverständliche Sicherheit. Die simplifizierende Selbstbeschreibung, die Identität musste revidiert werden. Die Katastrophe war so eine Aufgabe, vor der zunächst jeder für sich allein gestellt war. Einsamkeit und individuelle Verzweiflung aber hatten immer Gelegenheit, in der Gemeinschaft Anschluss zu finden. Das hob die individuellen Beziehungen zur Gemeinschaft ins Bewusstsein als Möglichkeit, sich in der Gemeinschaft zu begreifen. Die Projektion der irritierenden Unordnung durch die Bedrohung erfolgte immer auf die Gemeinschaft. Nicht nur das Individuum wurde in seiner Selbstbeschreibung problematisiert, sondern andere ebenso, eben die Gemeinschaft in der Not. Nicht mehr länger war man allein, zurückgeworfen auf ein individuelles Sonderproblem, sondern man hatte es nun mit einem zu tun, das auch andere betraf. Die Sorgen und Lasten, die Aufgaben und behördlichen Anweisungen waren allgemeine Probleme. War die individuelle Betroffenheit nicht zu verallgemeinern, wie zum Beispiel die Entwertung der Berufsrolle, dann war es möglich, sich anderen Problemfokussierungen anzuschließen. Das Selbstverständnis beiseite lassend konnte man aktiv werden als Helfer bei der Evakuierung und auf dem Sandsackplatz, bei der Versorgung der Helfer oder eben auch in exklusiveren Unternehmungen wie der Spezialtruppe. Mit der Interaktion in der Gemeinschaft konnten die Angstgefühle verdrängt werden, weil hiermit ein Perspektivenwechsel in zweifacher Hinsicht verbunden war. Zum einen wurden die Wahrnehmung und das Handeln auf bestimmte Aufgaben fokussiert, zum anderen konnten diese Aufgaben mit einer größeren imaginären Gemeinschaft verknüpft werden. Auf dem Sandsackplatz, in der Truppe, am Deich arbeitete man nicht allein und die Nachrichten versicherten einen letztlich der Solidarität der Anderen. So ermöglichten die gemeinsamen Tätigkeiten die Bewältigung der Angst vor dem Unbekannten, weil diese durch übersehbare Aufgaben kleingearbeitet werden konnte und weil statt des problematischen Ichs ein fragloses Wir aufgerufen werden konnte. Denn die Gemeinschaft steht für das scheinbar Gesicherte primordialer Zusammenhänge gegenüber dem vergänglichen Individuum. In diesen Wir-Zusammenhängen fand dann ein Wechsel der Rollen statt, mit der Mitgliedschaft in den verschiedensten Gemeinschaften betont wurde, die aber letztlich alle Elemente einer Gemeinschaft des Oderbruchs waren. Mit der Reaktivierung und

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Reaktualisierung der Wissensbestände um die Gemeinschaft wurden gegenüber den zerbrochenen Erwartungen des Alltags andere Erwartungen als gegenseitige Verpflichtungen etabliert. Wenn sich auch niemand in der Gemeinschaft nach einem Ersatz für die durch die Gefahr angestoßene Sinnentleerung der Selbstbeschreibung auf die Suche begab, so war das der Ort, diese am sichersten und einfachsten zu finden. Genau darin lag die Funktion des Gemeinschaftsbezuges durch die Individuen während des Hochwassers und liegt dessen Funktion darüber hinaus. Die Gemeinschaft erschien gegenüber den Unwägbarkeiten als sicher, denn dessen Existenz konnte durch den Bezug auf Traditionen und Gedächtnis als dauerhaft erlebt werden. Die eigenen Erlebnisse mussten sich daran messen und konnten die kollektive Selbstbeschreibung modifizieren, aber nicht überbieten oder zerstören. Darum mussten sich auch periphere Wir-Beschreibungen als Mehrheitsbeschreibungen ausgeben, sich also in der Mitte der Selbstbeschreibung positionieren. Wichtiger als diese Manöver der Selbstpräsentation in den Interviews war aber im Gemeinschaftsbezug das Erlebnis der gemeinschaftlichen Geltung symbolisierter Werte. Die erlebbare Wertgeltung und aktualisierte Grenzsetzung ermöglichten die Auflösung von problematischen Selbstbeschreibungen und die Übernahme der Gemeinschaftsbeschreibung als Selbstbeschreibung. So wurde es erst möglich, erneut Sinn für sich zu bestimmen, nachdem beispielsweise die exponierte Rolle im Ort für die Truppenmitgliedschaft suspendiert wurde. Daraus resultierten die Efferveszenzerlebnisse, die auch eine Neukonstitution nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch des individuellen Selbstverständnisses waren. Das Erlebnis inmitten problemloser Zusammenarbeit, die gestützt wurde durch funktionierende Technik und zum Erfolg führte, war darum ein Abenteuer, weil am Ende das Selbstverständnis allen Widrigkeiten zum Trotz in der Gemeinschaft verteidigt werden konnte. Diese Selbstbeschreibung erlangte deshalb so viel Überzeugungskraft, weil die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum der widerspenstige Gegen-Stand ist. Die Gemeinschaft ist nicht nur ein Reservoire an Motiven der identitären Selbstbeschreibung, sondern auch Ankerplatz der Selbstbeschreibung außerhalb des Individuums, weil diese gemeinschaftsbezogene Identität, die Zugehörigkeit von anderen, als richtig anerkannt und damit bestätigt wurde. Von dieser gesicherten Position aus kann sich das Individuum auch wieder aus der Gemeinschaft zurückziehen, andere Selbstbeschreibungen aktualisieren, die durch die Umwelt in die Krise geraten waren.

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Fluten und Risse: Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung Die Geschichten aus dem Oderbruch ließen Vorstellungen zum Funktionieren und zur Funktion von Gemeinschaften entwickeln. Im Oderbruch war es für die interviewten Protagonisten in der drei Wochen andauernden Krisensituation möglich, Gemeinschaftsbeziehungen mit anderen zu konstituieren und anschließend zu kondensieren. In Interaktionen bildeten sich weitreichende Sinnanschlüsse an gemeinsam in ihrer Geltung etablierte Wertsetzungen heraus. Das war die Voraussetzung zu erfolgreichen Modifikationen identitärer Selbstbeschreibungen, die durch die Hochwasserbedrohung zuvor ihre Selbst-Verständlichkeit verloren hatten. Zur selben Zeit verlief das Oderhochwasser in der Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt (Oder) ganz anders. Hier brach der Deich in schneller Folge an drei Stellen und die Niederung wurde langsam, aber stetig überflutet. Eine zweite Flutwelle, ausgelöst durch die Öffnung der polnischen Rückhaltebecken am Oberlauf der Oder, erreichte die deutsche Grenze bei Ratzdorf am Zusammenfluss von Oder und Neiße am 21. Juli. Diese erneute Hochwasserwelle war der Auslöser der kritischen Entwicklung, in deren Folge am 23. Juli zum ersten Mal der Deich bei BrieskowFinkenheerd und einen Tag darauf bei Aurith brach. Schon am 22. Juli wurde die Evakuierung weiter Teile der Ziltendorfer Niederung durchgeführt. Standen die Leute im Oderbruch einer dreiwöchigen permanenten Bedrohung gegenüber, geschah in der Ziltendorfer Niederung recht schnell das Unvorstellbare, der Einbruch der Katastrophe einer Überflutung. Bis zum 11. August blieb es dabei. Erst dann konnte eine Pioniertruppe der Bundeswehr mit der provisorischen Schließung des Deiches bei Aurith beginnen, was ihr eine Woche später gelang. Weitere zwei Monate brauchten die Helfer, um die gröbsten Schäden zu beseitigen. Das nur langsam zurückgehende Wasser hinterließ für die Betroffenen die Herausforderung zum Neuanfang, wobei ihnen die inzwischen zu einer beeindruckenden Menge aufgelaufenen Spendengelder halfen. Die Geschichten der Leute aus der Ziltendorfer Niederung zur Zeit des Hochwassers werden zwar ähnlich genug sein, aber aufgrund des anderen Verlaufs dieser Hochwasser-Episode Unterschiede aufweisen. Anhaltspunkte dafür finden sich in den besonderen Ereignissen und dem sich daraus ergebenden Zeitverlauf: Als im Oderbruch die gemeinsamen Anstrengungen und Emotionen auf einen Kulminationspunkt zuliefen, war an drei Stellen der Deich bereits gebrochen und die Niederung überflutet. Als im Oderbruch schon wieder der Alltag eingekehrt war, wurde die Niederung von einer zweiten Flut überschwemmt, nämlich der der Spenden, was Gerede unter den Leuten hervorrief, das so laut wurde, dass es auch in den

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regionalen Medien seinen Niederschlag fand.51 Vor diesem angedeuteten unterschiedlichen Hintergrund der Ziltendorfer Hochwasser-Episode aber lassen sich im Vergleich zum Oderbruch Alternativen des Gemeinschaftsbezuges erwarten. Die Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung sind darum nicht nur weitere Varianten der schon vorgestellten Hochwassererzählungen, sondern die Probe auf die Allgemeingültigkeit der Analyseergebnisse der Erzählungen aus dem Oderbruch hinsichtlich Funktion und Funktionieren der Gemeinschaft.

Wissen vom Fluss Bevor das Rentnerehepaar Jacobi, dessen Hof nicht weit von der Oder entfernt liegt, überhaupt von ihren Erlebnissen während des Hochwassers berichteten, präsentierten sie sich im Interview als Einheimische. Herr Jacobi wurde hier geboren und bekam schon früh die Geschichte seines Wohnortes von seinem Vater erzählt. Daher wusste er, dass ihr Haus schon weit über einhundert Jahre alt, ihre Scheune sogar noch älter ist. Diese wurde auch schon einmal überflutet, wie man an bestimmten Marken im Gebälk ablesen konnte. Früher wurden die Häuser auf Stufen erhöht gebaut und hatten nur ausnahmsweise Keller. Das änderte sich mit der Verbesserung der Deichanlage; die Stufensockel der Häuser wurden niedriger, die Keller größer. „Und äh (..), naja, so ging das denn bis zum heutigen Tage, wa. Und denn war Schluss“ (Jacobi 70–71). Noch ließ er offen, was zu einem Ende gekommen war, denn zuvor berichtete er, dass er nun schon als neunte Generation seiner Familie in diesem Haus wohne. Jedoch leben beide Kinder woanders, wenn auch in der Nähe. Damit kam die weitere Abfolge der Generationen ins Stocken: „Hat dieser [Sohn] neu jebaut und nun sitzen wa mit Muttern hier alleene beede. (.) Und nun ist sowas jekommen“ (78–79). Herr Jacobi ist ein echter Einheimischer, das steht nach der geschilderten Familiengenealogie unzweifelbar fest. Auch seine Frau ist in der Nähe, wenn auch jenseits der Oder, aufgewachsen. Entsprechend präsentierte Herr Jacobi die Geschichte seines Wohnortes: Er ist ein kompetenter Sprecher. Von daher weiß er um das ständig nachlässiger gewordene Bauen bis zum Zeitpunkt des letzten Hochwassers. Nicht nur die Sorglosigkeit hatte aber hier ein Ende gefunden, sondern auch die Familiengeschichte eine Zäsur erfahren, die das Hochwasser vielleicht noch zementierte: Herr und Frau Jacobi werden die letzte Generation der Ahnenreihe sein, die in ihrem Haus lebten. Fast scheint es in dieser Erzählung, als seien sie infolge des Auszuges ihrer beiden erwachsenen Söhne aus dem Familienhort durch das Hochwasser bestraft worden. 51 Einen deutlichen Nachklang davon vernimmt man noch in einem Beitrag der „Berliner Morgenpost“ vom 2. September 2002: http://www.morgenpost.de/ content/2002/09/02/brandenburg/546034.html [letzter Zugriff 28. Juni 2007].

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Aus eigenem Erleben und den Erzählungen seines Vaters kannte Herr Jacobi schon zahlreiche Hochwasser der Oder. Wie sein Vater wurde auch er mehrmals als Deichläufer eingesetzt. Dabei wurde ihm klar, dass der hochwasserführende Fluss durch die Behörden nie sicher einschätzbar oder durch die Maßnahmen beherrschbar war. Der Deich brach an anderen als den vorher bestimmten Stellen, das Hochwasser war weniger gefährlich als prognostiziert oder wurde wie beim Winterhochwasser 1946, erst durch die Sicherungsmaßnahmen zu einer wirklich gefährlichen Situation. Mit eigenen Anekdoten und Geschichten seines Vaters unterstreicht er ein ums andere Mal, dass er das Geschehen tatsächlich selbst oder, vermittels seines Vaters, so gut wie selbst miterlebt hatte. Aufgrund dieser lebenslang gesammelten Kenntnisse beurteilt er auch manche behördliche Anweisungen der Vergangenheit von seiner Kompetenzwarte aus als unsinnig. Er misstraute den Behörden. Ähnlich wie die Fehler bei der fahrlässigen Zerstörung des Deiches nach dem Krieg nicht zugegeben wurden, so wurde auch nicht wirklich die Wahrheit über die Ursache der Überflutung der Ziltendorfer Niederung im Sommer 1997 ausgesprochen: Nach dem Krieg „haben se denn dit Ding da ruffjesetzt so (lacht). Alles rinjelofen. Aber das kommt ja nicht raus. (...) Na ja, und ich schätze mal, was se’ diesmal mit uns erlaubt haben, dat kommt ja och nicht raus. Und äh, wat wollt ick jetzt sagen, wurde ja öffentlich jesagt, die Ziltendorfer Niederung wurde jeopfert. Werden se ja selber im Fernsehen jehört haben. Wurde jeopfert, weiter haben se nüscht jesagt (...)“ (149–153). Aufgrund seines durch seine Lebensgeschichte legitimierten Wissens schließt er von der Überflutung des Jahres 1946 auf die von 1997 und fügt sie zum Bild des behördlichen Betruges zusammen: Beide Überflutungen wurden künstlich erzeugt, erstere aus Unachtsamkeit, die zweite aus Kalkül. Da er das durchschaut hatte, konnte er über die behördlichen Mühen zur Geheimniskrämerei nur lachen. Die Niederung wurde in seinen Augen geopfert, auch wenn er nicht schon sagt für wen. Um die Wahrheit dieser Aussage zu unterstreichen, produziert er einen Widerspruch, den er aber durch das Engagement seines Zuhörers sogleich verdeckte: Zuerst war das Geschehen ein Geheimnis, welches dann aber doch öffentlich bekannt wurde, wie jeder, auch der Interviewer, wissen müsse. Dieser Appell an die Kompetenz des Zuhörers legt dessen Schweigen näher als den letztlich inkompetenten Widerspruch. Von dieser kompetenzgesicherten Position aus beginnen die Jacobis ihre eigentliche Hochwassergeschichte. Zunächst waren sie sich unsicher, wann der Beginn des Hochwassers zu datieren sei. Anlässe für die Bestimmung des Zeitpunktes, an dem ihre Erzählung einsetzen sollte, boten die Ereignisse in den Nachbarländern. Der Fluss hatte schon Hochwasser, als es hieß, in Polen und Tschechien sei es zu Überflutungen gekommen. Dass sie von dieser Entwicklung betroffen sein werden, war ihnen zu diesem Zeitpunkt schon klar: „DA haben wir uns jedacht, na Donnerwetter, hier kann was kommen“ (160–161).

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Dabei rechneten sie mit mancherlei Aufregung, besorgt aber waren sie nicht, weil sie doch den Fluss zu kennen meinten. Das Hochwasser des Oberlaufs der Oder kommt gewöhnlich nur als leichte Erhöhung am Unterlauf an, führte Herr Jacobi aus. Um so mehr waren sie überrascht: „Aber dass denn solche Massen von da oben runterjekommen, damit hat, da haben die ja nicht jerechnet mit und hier ja och keener“ (164–165). Trotz ihrer lebensgeschulten Kenntnis des Flusses war es doch nicht einzuschätzen, welches Ausmaß das Hochwasser annehmen würde. An dieser Stelle scheint die Ambivalenz ihres Wissens auf. Es ist weniger ein Sorgenquell, es beruhigt vielmehr. Denn das Wissen bezieht sich immer auf andere, überstandene Fälle. Davon geht auch die Prognose aus und rechnet nie mit dem Schlimmsten. Ihre Kompetenz wurde deshalb nicht schon delegitimiert, denn mit ihrer Fehleinschätzung des Oderhochwassers waren sie ja nicht allein. Weder Behörden noch andere Einheimische reagierten angemessen auf das kommende Ereignis. So haben letztlich alle mit ihrer Einschätzung daneben gelegen, aber niemand hatte darum auch Unrecht. Letztlich entsprach das Hochwasser nicht den Erfahrungen: es blieb zu lange. Dass das ungewöhnlich war, konnten sie als Einheimische feststellen: „Bloß weil wir hier jeborn sind. Sie wissen ja, ich hab’s ja selber miterlebt, ja 18 äh (.) achtenfuffzich, wa. Na, da stand er hier och 14 Tage […]. Wir sind hier jeborn, wa“ (171–172). Dass sie Einheimische sind und dadurch eine besondere Kenntnis haben, unterstrichen sie im Interview immer wieder. Hier hob Herr Jacobi seine Erfahrung mit einem früheren Hochwasser hervor, die nun auch für das letzte von Bedeutung war: Wenn das Hochwasser lange auf die Deiche drückt, werden diese instabil. Der Hochwasserzustand im Sommer 1997 aber hielt länger an als er das je erlebt hatte, nämlich einen Monat. Während dieser Zeit stieg der Pegel immer weiter, aber dann überschlugen sich die Ereignisse, so dass Herrn Jacobis Erzählung hier aus dem Tritt geriet: „Denn war noch soviel. Na ja, denn hat’s nicht mehr bloß jestiegen und so weiter“ (176). In diesem Moment der Hilflosigkeit gegenüber den Ereignissen setzte Frau Jacobi ein, indem sie erneut Daten einwarf: An Mitte Juli erinnerte sie sich, war das Hochwasser da, und zwei Tage später war schlechtes Wetter mit Dauerregen. Da hatten sie angefangen, ihre Sachen in Sicherheit zu bringen, wobei ein Sohn das Schwein holte und der andere einen provisorischen Stall für die Hühner baute und auch diese wegbrachte. Zwei Tage darauf mussten sie ihr Haus verlassen. Mit der Hilfe ihrer Söhne bereiteten sie sich innerhalb von vier Tagen auf ihre Evakuierung vor. Sie waren also trotz ihrer Fehleinschätzung vorbereitet. Auch für Frau Höhler, eine erwerbstätige Mutter, die zusammen mit ihrem Mann und zwei Kindern in einem Haus nicht weit von der Oder entfernt wohnte, war die Bedeutung der Hochwasserkatastrophe in den Nachbarländern Anfang Juli 1997 klar. Schon aus der Schule sei doch deren Flusslauf bekannt. So war ihr das ein ganz selbstverständliches Wissen

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und der weitere Verlauf des Hochwassers ganz sicher erwartbar gewesen. Während der zwei Jahrzehnte, die Frau Höhler schon in der Ziltendorfer Niederung lebte, hatte sie schon einige Erfahrungen mit dem Fluss und den Gefahren, die von der Oder ausgingen. Aber mit dem tatsächlichen Ausmaß hatten die Höhlers nicht gerechnet, und so waren sie dann doch überrascht. Aber mit der Überraschung waren sie, wie das auch schon Jabobis hervorhoben, nicht allein. Auch die Älteren, die schon ewig vor Ort lebten, hatten damit nicht gerechnet. Das war völlig außerhalb dessen, was man für möglich hielt: „Also das war irgendwie (..) unvorstellbar, unvorstellbar, ja. Also das war irgendwie (..) unvorstellbar, unvorstellbar, ja“ (Höhler 15–16). Die Wiederholung dieses Satzes macht das Außergewöhnliche dieser Situation deutlich: Nicht nur die Kompetenz der erfahrenen Alten war da überfordert, sondern die Phantasie am Ende. Da nutzte ihre reine Aufmerksamkeit gegenüber dem Ereignis nichts mehr. So beobachteten die Höhlers den weiteren Verlauf des Hochwassers in Polen und Tschechien und ihre Befürchtungen steigerten sich: „Ja, und dann, wie es dann immer weiter kam, Polen, Tschechien, immer näher, immer näher, na ja, da wurde es schon ein bisschen mulmig, ja“ (19–22). Aber sie war nicht derart verängstigt, um nicht doch noch zusammen mit ihrer Tochter für etwa eine Woche in den Urlaub zu fahren. Ihr Mann, der aus beruflichen Gründen nicht mitfahren konnte, war nun der Wachposten zu Hause. So handelte aber Frau Höhler auch nicht einfach verantwortungslos gegenüber der Gefahr. Mit ihrem Mann verabredete sie sich an den offiziell prognostizierten Hochwasserterminen – als die erste Welle ihren Wohnort erreichte und deren Scheitelpunkt vorüberzog – zu Telefonaten. Ihr Mann berichtete von der stetig steigenden Oder, die aber erst den Deichfuß erreicht hatte. Nach dieser Information, meinte sie, sich keine Sorgen machen zu müssen. Sie nahm an, noch vor dem Höhepunkt wieder nach Hause zurückkehren zu können. Auch kalkulierte sie das verbleibende Risiko. Dabei erschien ihr die Überflutung in Polen eine Chance für die Entspannung der Lage am Heimatdeich zu sein. Als sie aber dann zurückkehrte, waren schon die Strassen vom nördlichen Frankfurt (Oder) aus gesperrt, so dass es ihr unmöglich war, wie gewohnt nach Hause zu fahren. Über Nebenwege zu Hause angekommen, versuchte sie sich ein Bild von der Lage zu machen und befragte ihren daheim gebliebenen Sohn nach Meinungen älterer Nachbarn. Die schienen ihr in dieser Situation die Experten zu sein. Die Lage stellte sich jetzt wesentlich dramatischer dar, weshalb sie sich nun Sorgen um das Haus machte. Wenn es zu einem Deichbruch kommen sollte, „wär’ alles (..), auf deutsch gesagt, weg gewesen [leiser werdend]. Zwanzig Jahre, was wir uns alles erschaffen haben. Zwischendurch dieses Haus haben wir ja erst kurz vor der Wende gekauft. Alles, was wir hier so drinne stecken haben, haben wir uns nach der Wende geschaffen, ne. Also is’ katastrophal gewesen, ja“ (102–107). Zwanzig Jahre sind ein erheblicher Teil an Lebensarbeit, der nun verloren zu gehen drohte. Darin bestand

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wie im Oderbruch das eigentliche Grauen. Nicht nur, dass sie sich selbst in ihren Besitz investiert hatten, machte die Situation dramatisch. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit konnten sie erst ihr Haus kaufen und sanieren. Gerade als sie damit fertig wurden, drohte ihnen der Fluss, alles zu zerstören. Mit der zweiten Hochwasserwelle wurde es dann aber wirklich ernst. Sarkastisch meinte sie später in einem Rückblick, das war „unser Genickbruch sozusagen [Lachen]“ (430). Bis dahin hatten alle noch auf die Hoffnung gesetzt, aber dann doch dieses Spiel verloren; der Gegenspieler hatte noch einen Trumpf und brach ihnen damit überraschend das Genick; so mussten sie gehen. Von der Hochwassergefahr erfuhr Frau Köppel, die einem Beruf mit hoher regionaler Mobilität nachging und zusammen mit ihrem Mann und zwei Töchtern in einem Dorf in der Randlage der Ziltendorfer Niederung lebte, zum ersten Mal durch Fernsehnachrichten über die Flutkatastrophe in Polen und Tschechien. Danach beobachtete sie auf Spaziergängen mit der Familie rund um ihr Dorf die Wasserstände des mit der Oder verbundenen Kanals und fuhr auch mal zum Fluss, um nach dessen Wasserstand zu sehen. Auch Frau Köppel bezog die Katastrophe in Polen und Tschechien auf sich selbst, ohne aber tatsächlich mit der Möglichkeit einer Überflutung zu rechnen. Die Beobachtung der Gewässer war eher eine Nebensache, die sich auf den Familienausflügen am Wochenende einfach mit erledigen ließ. Da der Berufsalltag weiterlief, konnte sie nur noch in den Nachrichten etwas über den weiteren Anstieg des Flusses erfahren. Am nächsten Wochenende nahm sie ihre Beobachtungen während der Familienspaziergänge wieder auf: „Eine Woche, bevor das richtig, richtig schön dicke kam, da war das schon ziemlich hoch“ (Köppel 18–19). Da waren die Feuerwehrleute schon am Kanal beim Verstärken des Deiches zu beobachten. In der darauf folgenden Woche brach der Deich. „Und einen Dienstag bin ich dann so richtig schön arbeiten gefahren“ (23–24). In dieser alltäglichen Situation hörte sie im Radio die Meldung vom ersten Deichbruch. Da waren die Wege nach Hause schon gesperrt, über Nebenwege gelangte sie schließlich doch zurück. Zu sehen war aber vom Wasser noch nichts. Lediglich die abendlichen Fernsehberichte bebilderten die abstrakten Nachrichten ein wenig. Als die Familie gegen Mitternacht zu Bett ging, fuhr die Polizei durch den Ort und schlug Alarm, weil der Deich gebrochen war. Sie rief die Leute auf, das Notwendigste zusammenpacken und sich auf die Evakuierung vorzubereiten. Ihre Erzählung durchsetzte Frau Köppel immer wieder mit ironischen Formulierungen. So war das Hochwasser „richtig schön“ und ebenso wollte sie auch am Tag des ersten Deichbruches arbeiten gehen. In beiden Fällen ist kaum vorstellbar, dass es sich um Ereignisse handelte, die in ästhetischer Hinsicht bedeutsam sein könnten. „Schön“ zielt hier auf etwas Angenehmes, das zu bejahen ist. Im Zusammenhang mit dem Hochwasser und der alltäglichen Pflicht der Arbeit sowie der zusätzlichen Geltungsbe-

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tonung „richtig“ tritt der Euphemismus dieser Formulierung deutlich hervor, so dass sie in Ironie umschlägt. Derart ist die Formulierung als Trotzreaktion auf das Ereignis zu verstehen, das weder Frau Köppel noch sonst jemand verhindern konnte. Sie ließ sich nicht mit Trauer oder Wut auf das Hochwasser ein, sondern wahrte demgegenüber Abstand in der selbstbehauptenden Eigenwilligkeit ihrer ironischen Formulierung. Eine Woche nachdem zum ersten Mal in den Medien vom Hochwasser in Polen und Tschechien berichtet wurde, kehrten die Benzlers zusammen mit ihrem Sohn aus dem Urlaub auf ihren Hof am Rande der Ziltendorfer Niederung zurück. Als sie während ihrer darauf folgenden freien Tage vom Pilzesammeln nach Hause kamen, trafen sie auf den örtlichen Chef der Feuerwehr, der gerade dabei war, Schlauchboote vorzubereiten. Da auch Herr Benzler Mitglied der Feuerwehr seines Dorfes am Rande der Ziltendorfer Niederung war, erkundigte er sich nach dem Grund für die Mühen seines Chefs. Beide Benzlers waren bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sonderlich beunruhigt, wenngleich sie die Meldungen aus Polen und Tschechien „schlimm“ (Benzler 62) fanden, wie Frau Benzler erklärte. Selbst als das Wasser unerwartet hoch in Ratzdorf am Zusammenfluss von Neiße und Oder ankam, war das für sie kein Anlass, sich Sorgen zu machen. Einen Tag später, auf einer Familienfeier, war das kommende Hochwasser jedoch das Gesprächsthema schlechthin. Zwar hatte die Feiergesellschaft noch darüber gescherzt, aber die Wirkung auf Herrn Benzler war doch eine völlig andere: „Und, na ja, da haben wir uns unterhalten und da wurde schon bewusster dann an dem Tag […], dass es doch ernster ist“ (27–28). Daraufhin meldete er sich bei der Feuerwehr, nötigenfalls am kommenden Wochenende für den Dauereinsatz bereit zu sein. Abends fuhr er dann zum ersten Mal zur Oder, „und da war et eben schon zu sehen. Also, vorher vom Gefühl, vom Bauch heraus war et schon erledigt“ (38–39). Das Gespräch hatte offensichtlich einen starken Eindruck bei Herrn Benzler hinterlassen, dass er sich demonstrativ zu seiner Pflicht bekannte und die vielleicht übliche Laxheit ablegte: Er meldete sich einsatzbereit. Dabei legte er eine Haltung an den Tag, die einen fatalistischen Eindruck machte, wenn er anscheinend das Unvermeidliche der Überflutung zu diesem Zeitpunkt schon akzeptierte. Wie konnte er da noch um den Deich kämpfen, wenn er die Hoffnung fahren ließ? „Man hat’s eben nicht gehofft. Aber irgendwie hatte man schon so det Gefühl, dass es (...)“ (46–47). In dem Augenblick, als er des Hochwassers gewahr wurde, stand sein Gefühl seinem Wunsch gegenüber. Insofern rang auch Herr Benzler seine Tatkraft gegen das Hochwasser einem Trotzdem ab. Dabei entwickelte sich seine Anschauung zur Hochwassergefahr nicht von eigener Beobachtung aus, sondern entstand in den Gesprächen während der Feier. Sein anschließender Besuch der Oder bestätigte seine bereits vorgefasste Meinung, denn für den Feuerwehrdienst hatte er sich ja schon gemeldet. Sein Pflichtgefühl widersprach seinem Gefühl der Hilflosigkeit, die die Hoffnung aufsaugte.

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Bei seiner Pflichterfüllung half ihm aber auch, dass die Benzlers ihre pessimistischen Erwartungen nicht auf sich bezogen, gingen sie zu dieser Zeit doch noch davon aus, dass das Wasser ihren Hof nicht erreichen würde. Die Geschichten vom Beginn des Oderhochwassers in der Ziltendorfer Niederung sind geprägt von der anfänglichen Skepzis der Leute gegenüber der Möglichkeit eines Deichbruches. Die medienvermittelten Bilder aus Polen und Tschechien hatten keine oder eine kaum warnende Wirkung auf die Leute in der Niederung, was nichts mit etwaigen Vorurteilen gegenüber dem polnischen Krisenmanagement zu tun hatte. Vielmehr bezogen die Ziltendorfer das Leid nicht auf sich, obzwar ihnen klar war, dass das Hochwasser am Oberlauf der Oder auch sie erreichen würde. In den Erzählungen wurden immer wieder Rechtfertigungen für die Fehleinschätzung der Hochwassergefahr angeboten, nämlich dass jegliche Erfahrung vor dem außergewöhnlichen Ereignis versagte. Das Schicksal der Polen und Tschechen scheint keinerlei Relevanz besessen, sondern nur zum Mitgefühl aus sicherer Position animiert zu haben. Etwas anders verhielt es sich später im Oderbruch, hier hatte man mit der Ziltendorfer Niederung ein warnendes Beispiel vor Augen, an das man unmittelbar anknüpfen konnte – ein Hinweis darauf, dass das partikulare Gruppenverständnis vom Oderbruch aus einfacher auf die Leute in der Niederung auszuweiten war als von der Niederung aus auf Polen und Tschechien. Weiterhin deutete sich schon die Erklärungsstrategie der Opferung an, welche die Jacobis gleich zu Beginn explizit einführten. Der Sinn dieser Erklärungsstrategie, die weit über die Unvergleichbarkeit des Ereignisses hinausgeht, vor der jede Erfahrung verblassen musste, erschließt sich noch anhand folgender Interviewpassagen. Aber auch für die Bedeutung der Anschauung des Wassers zum Begreifen der Gefahr gab es schon Hinweise bei der Schilderung Herrn Benzlers.

Greifbare Gefahr Schon vier Tage vor der Evakuierungsaufforderung hatten Jacobis angefangen, Haus und Hof vor dem Hochwasser zu sichern. Ihre Tiere waren weggebracht und die Möbel eine Etage höher untergestellt worden. Und dann war es soweit. In der Nacht vor dem Deichbruch rief ein „guter Freund“ (Jacobi 192) aus dem Nachbardorf an, sie sollten ihre Sachen packen und das Haus verlassen, denn es hieß, die Deichläufer würden abgezogen. Auch seine Schwester rief Herrn Jacobi an; da hörten sie schon durch das Telefon, wie die Polizei zur Evakuierung aufrief. Gemeinsam überlegten sie, dass ihr Haus wohl unter Wasser stehen müsste, wenn die Leute im Dorf seiner Schwester den Ort verlassen sollten. Sie packten daraufhin ihre wichtigsten Sachen und blieben wach. Sogar der Hund war unruhig, als ahnte er etwas. Beide hofften nun auf aktive Hilfestellung der Behörden, die jedoch ausblieb. Frau Jacobi meinte: „Ich muss mal sagen,

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wir haben am Zweiundzwanzigsten, den ganzen Tag hat nur’s Telefon jeklingelt. Und wir sind immer in der Erwartung ranjegangen, jetzt gibt’s von irgendwo ’ne Hilfe oder die werden uns irgendwie mal sagen: wie haben se sich zu verhalten oder soll äh eventuell was abtransportiert werden. Nichts von alledem! Nur Bekannte und Freunde haben anjerufen: Wie können wir euch helfen? Und immer mussten wir sagen: Es darf ja keiner her, die lassen nicht mal die Kinder her“ (1501–1505). Jacobis fühlten sich von den Behörden allein gelassen. Auch die Bereitstellung von Sandsäcken für den Schutz der Häuser im Flutgebiet machte einen unkoordinierten Eindruck. So berichteten Jacobis, dass Sandsäcke erst einen Tag vor der Evakuierung in der Nacht geliefert wurden. Darum war auch nicht festzustellen, wer dafür gesorgt hatte. Erst nachdem ein Nachbar sie auf die Säcke aufmerksam machte, waren sie überhaupt im Bild. Vorher wollten Fremde ihnen Säcke für viel Geld verkaufen und so noch Profit aus ihrer Not schlagen. Mit den schließlich zur Verfügung gestellten Sandsäcken dichteten sie die Kellerfenster ab, was sich später allerdings als vergebliche Mühe herausstellte, weil sich der Keller über das Grundwasser füllte. Bei der Sicherung ihres Hab und Gutes vermissten die Jacobis die Unterstützung der Behörden. Bei der Erfüllung vorgegebener Anweisungen erwiesen die Behörden sich hingegen unflexibel. So wurde durch rigide Straßensperren die familiäre Hilfe unterbunden. Als Herr Jacobi versuchte, sein Auto auf einer schon gesperrten, doch für Anwohner vermeintlich zugänglichen Anhöhe zu parken, bekam er einen Bußgeldbescheid von einer jungen Beamtin. Für ihn reagierten die ortsfremden Polizisten nicht angemessen auf die besondere Situation, in der sich alle befanden: „Die waren doch bescheuert, die Leute. Naja, die hätten, die warn dienstgeil, sagen wir mal so, nicht wahr“ (460–461). Auf diese Weise konnte sich kein Vertrauen einstellen. Als es auch bei ihnen hieß, die Einwohner sollten für die Evakuierung nur das Nötigste für wenige Tage mitnehmen, waren viele skeptisch. Niemand benutzte den offiziellen Evakuierungsbus. Die Einwohner hielten sogar noch eine ältere Nachbarin zurück und nahmen sie stattdessen in ihrem Auto mit. Das Misstrauen gegenüber den Behörden, wie es Jacobis wahrnahmen, gründete in deren Abwesenheit einerseits und ihrer fehlenden Sensibilität andererseits. Als die Gefahr greifbar wurde, half den Jacobis ihr Bezug auf ihr Netzwerk aus Familie und Freunden. Dieser Bezug hat sich in den erlebten Hilfestellungen als belastbar erwiesen und so bestätigt. Demgegenüber erschienen die Behörden als Gegenteil dessen, was die Vorurteile nur bestätigte. Dadurch trat die Bedeutung des Netzwerkes noch deutlicher hervor. In dieser Situation erinnerte sich Frau Jacobi an ihre Kindheitserfahrungen gegen Ende des zweiten Weltkrieges, als ihre Mutter auf sich allein gestellt über die Neiße nach Westen floh. Heute jedoch erfuhren sie Unterstützung durch ihre Familie, was sie froh machte. Gleichzeitig waren sie glücklich, dass ihre Kinder vom Hochwasser nicht betroffen waren, denn

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dann müssten die sich um sich selbst kümmern und hätten ihnen kaum helfen können. Die Gegenüberstellung anderer leidvoller Erfahrungen, wie der Flucht am Ende des zweiten Weltkrieges, aber auch das Schicksal der in Polen Überfluteten, minderte den Hader mit dem eigenen Schicksal. Denn im Angesicht der Familiensituation hatten sie sogar Glück. Als Frau Höhler und ihre Tochter nach einer Woche Urlaub in ihren Wohnort zurückkehrten, war die Niederung wegen der Hochwasser führenden Oder in Aufregung versetzt. Nur wenige Tage blieben der Familie noch bis zur Evakuierung. Diese Zeit empfand Frau Höhler als bedrückend und angespannt, jedes Geräusch ließ das Schlimmste vermuten: „Und dann war es – die, die Tage, restlichen Tage, bis wir raus mussten, bis wir evakuiert wurden – war das kein Leben mehr [seufzt], muss ich sagen. Es war eine sehr nervliche Belastung. Die Hubschrauber flogen, die Fahrzeuge fuhren mit Sandsäcke’ und und und so weiter und so fort, ja [stöhnt]. Ja, und denn, bei jedem Ton, jedes Dings, jedes Geräusch, war es jetzt, ist jetzt die Oder soweit, kommt’s jetzt durch, oder, oder wie oder was? Es ist also, es war sehr (.) ja, nervig muss ich sagen, ja“ (Höhler 69–79). Selbst beim Rekapitulieren der vergangenen Zeit erlebte sie die Anstrengung nochmals, wie ihr Stöhnen und Seufzen zeigte. Die Umgebung war erfüllt mit aufregenden Geräuschen. Der angeschwollene Fluss selbst stand vor einem Moment des Ausbruchs, was bei Frau Höhler klang, als wollte die Oder gebären. Das Ungewisse in dieser Situation schien nicht mehr das Brechen des Deiches selbst zu sein, sondern nur noch der Zeitpunkt, auf den alle gebannt warteten. Das erste Wochenende nach dem Urlaub verbrachte Frau Höhler mit Packen und Möbelrücken, denn sie rechneten mindestens mit einer Überflutung der ersten Hausetage. Ihre Tochter hatten sie schon bei Bekannten in sicherer Gegend untergebracht. In dieser Situation forderte der Alltag am Wochenbeginn noch seinen Tribut, als Frau Höhler wie immer zur Arbeit musste. Da waren der Ehemann und ihr Sohn schon längst bei der Deichsicherung engagiert. Während dieser Zeit füllten im Ort Soldaten, Einwohner und THW-Angehörige gemeinsam die ganze Nacht hindurch Sandsäcke. Das war in der Woche zuvor noch nicht so, erfuhr Frau Höhler von ihrem Mann. Zunächst gab es nicht einmal Material für Sandsäcke. Ähnlich, wie in Ratzdorf am Zusammenfluss von Oder und Neiße die dortige Bürgermeisterin im Moment der Hochwasserwarnung Initiative übernahm, rief auch ein Einwohner ihres Dorfes alle Einwohner zum Selbstschutz auf: „So von sich aus. Und er hat mit die (..) mit die da, unser, mit de Bürger gesprochen: ,Was mach mer? Wir fangen an zu sichern‘“ (649– 651). Ein Nachbar, der gerade ein Haus baute, stellte seinen Kies zur Verfügung, ein anderer besorgte Säcke. Mit diesen ersten Sandsäcken wurden Türen und Kellerfenster notdürftig geschützt. Die Abwesenheit der Behörden rief einen Initiator auf den Plan, der an die Gemeinschaft als „Wir“ appellierte und sie so in Aktion versetzte, wodurch deren Konditionierung

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und Konfirmierung angestoßen wurde. Die zentrale Bedeutung des Initiators wurde in der Erzählung Frau Höhlers durch die wörtliche Rede geradezu herausgestellt. Jedoch hatte sie selbst diese gar nicht erlebt, sondern davon nur über den Umweg des Berichtes ihres Mannes erfahren. Damit ist hier ein Hinweis auf ein Gemeinschaftssymbol gegeben. Der Verweis auf die Bürgermeisterin von Ratzdorf machte die Gemeinschaft des Heimatdorfes von Frau Höhler vergleichbar mit eben jener Partikulargemeinschaft. Erst so konnten sich die Leute ihres Dorfes als Wir-Gemeinschaft begreifen, weil sie dieser in diesem Punkt ähnelten. In dieser Situation war das Eingreifen von Bundeswehr und THW keine Rettung mehr, sondern Unterstützung des eigenverantwortlichen Tuns. Später wurde klar, dass die Maßnahmen zu spät angelaufen waren, jedoch nahm Frau Höhler da für die Bewohner wie für die Behörden mildernde Umstände in Anspruch: alle wurden von der Heftigkeit des Hochwassers überrascht. Solange sie die Oder schon beobachteten, solche Wasserstände kannten die Leute nur vom Hochwasser kurz nach dem Krieg. Aber da war der Deich um einen Meter niedriger und das kommende Hochwasser sollte höher werden. Durch die lange Beziehung zum Fluss war den Leuten klar, dass es gefährlich werden würde. Aber die Gewalt des sonst so friedlichen Flusses war unbekannt, obwohl die Berichte aus Polen und Tschechien Grund zur Sorge waren. Alle hofften zwar, aber „ja, da mussten se ja dann der Tatsache ins Auge sehen, ja. Ja, obwohl viele gehofft haben, dass es nicht passiert, ja, dass es nicht passieren würde, ja“ (479–482), bemerkte Frau Höhler später noch. Für die Leute an der Oder kam die Verwandlung der gemütlichen Oder zu einem reißenden, breiten Fluss zu plötzlich. Gerade die lange und selbstverständliche Aufmerksamkeit für den Fluss war darum eine Ursache der zögerlichen Gegenmaßnahmen. Nach allen Erfahrungen schien das Hochwasser unwahrscheinlich und so gaben sich die Leute ihrer trügerischen Hoffnung hin. Frau Höhler nannte hier einen weiteren Aspekt für den Umstand, dass auf die warnenden Nachrichten aus den Nachbarländern kaum reagiert wurde. Nicht nur gab es keine selbstverständlichen Bezüge zu den Menschen dort, die Nachrichten passten anscheinend auch nicht zu den bisherigen Erfahrungen mit dem Fluss. Erst als eine Überflutung unvermeidlich bevorstand oder sogar schon eingetreten war, wurden die Nachrichten als Warnung verstanden, teilweise gefolgt von Schuldzuweisungen an die Behörden, die nicht rechtzeitig aktiv geworden wären. Bundeswehrsoldaten und die Angehörigen des THW aber erschienen Frau Höhler letztlich als große Hilfe beim Rettungsversuch der Dorfbewohner, die allein weniger hätten ausrichten können. Für den recht plötzlichen Abzug der Helfer zum südlicher gelegenen Vogelsang führte sie die stärkere Gefährdung dieses Ortes an. Weil dieser Ort dann vor der Überschwemmung bewahrt werden konnte, hieß sie das auch gut. Verwunderlich ist aber doch, warum sich im Bericht Frau Höhlers anscheinend niemand darüber beschwerte, durch die-

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sen Abzug im Stich gelassen worden zu sein. Hatte sie sich dem Kalkül der effizientesten Schadensvermeidung als offizielle Begründung für den Abzug nach Vogelsang angeschlossen oder war dieser Ort in der WirGemeinschaft gar eingeschlossen? An dem Tag, als der erste Deich nördlich der Ziltendorfer Niederung brach, passierte nicht viel in Frau Köppels Wohnort. Vom Wasser war nichts zu sehen, aber die Stimmung im Dorf unruhig. Als die Polizei wiederholt durch die Strassen fuhr, um die Einwohner zu warnen, schlossen Frau und Herr Köppel die Fenster des Hauses, packten einige Sachen zusammen und brachten die Töchter samt Haustieren zu ihrer Mutter, die im erhöhten Teil des Dorfes wohnte. Sie selbst, ihr Mann und die älteste Tochter kehrten wieder heim. Wenn die Gefahr auch noch nicht ersichtlich war, die Hektik im Dorf veranlasste sie, die Schutzbefohlenen in Sicherheit zu bringen. Am nächsten Tag holten sie sich Sandsäcke vom Dorfplatz, um damit ihren Keller zu sichern, den sie vorher schon ausgeräumt hatten. Aber noch immer war kein Wasser in Sicht. Von einigen Stellen des erhöht liegenden Teils des Dorfes beobachtete sie, wohin die Hubschrauber mit den Sandsäcken flogen, um sich ein Bild über die Lage des Deichbruchs zu machen. Auf dem Sandsackplatz berieten sich die Leute über das Ausmaß der Überflutung. Die Älteren berichteten vom letzten Deichbruch im Winter 1946, bei dem das Wasser bis zur örtlichen Kirche stand, nur konnte niemand sagen, welche Häuser damals betroffen waren. Der Dorfplatz war nicht nur der Ort der Sandsäcke, sondern auch ein Kommunikationstreffpunkt. Vorher hatte sich auch im Dorf wegen der Nachrichten aus Polen und Tschechien niemand wirklich Sorgen gemacht. Erst die Deichbrüche bei Finkenheerd und später bei Aurith änderten das. Doch weil das Wasser sehr langsam die Niederung flutete, konnten viele die Gefahr immer noch nicht fassen. Erst als das Wasser vor der Haustür stand, war die Gefahr greifbar, und dann musste alles sehr schnell gehen. In der Zeit, bis das Wasser tatsächlich kam, stellten Frau Köppel und ihr Mann ihre wertvollsten und neuen Sachen bei ihrer Mutter unter. Alles andere blieb im Haus, denn an die anfangs prognostizierte Fluthöhe für ihren Ort von sieben Metern glaubte sie sowieso nicht: „Aber wo die dann nachher gesagt haben, jetzt sieben Meter Höhe, dann war alles wohl [Lachen]. Hab’ ich mir einfach gesagt, so weit kann das gar nicht kommen. Also das hab’ ich – weil das, das hab’ ich nicht geglaubt. Wär’ ja unser Haus fort gewesen“ (Köppel 229–234). Diese horrende Höhe war nicht etwa unglaubwürdig, weil geographische Gegebenheiten oder die bisherigen Hochwassererfahrungen der Alten dagegen sprachen, sondern weil das Haus dann verschwunden wäre. Das zu denken war für Frau Köppel schlicht unmöglich. Denn wäre dieser Fall eingetreten, wäre kaum noch etwas übrig geblieben von dem, was sie sich seit der Wende geschaffen hatten. Diesem Fall verweigerte sie sich sogar noch im Interview durch ihr Lachen.

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In der Nachbarschaft waren am Tag nach dem Deichbruch alle mit der Sicherung ihrer Häuser und der Unterbringung ihrer Kinder beschäftigt. Als das getan war, zog wieder Ruhe ein. Diese hielt bis zum Wochenende an, als Sonnabend Nachmittag das Wasser anrückte und erst an der Schwelle ihrer Haustür zum Stehen kam. Bald waren die ersten Schaulustigen da, die später jedoch ferngehalten wurden. Der Strom wurde ab- und wieder angeschaltet, die Abwasserleitung geschlossen, und der Keller füllte sich trotz der Sandsäcke mit Wasser. Herrn Benzlers böse Vorahnung, die er beim Anblick der hochwasserführenden Oder während seines ersten Feuerwehreinsatzes bekam, nahm durch die Berichte von Kollegen über den Zustand des Deiches nur noch weiter zu. Zum Wochenbeginn ging er dann wieder seiner Arbeit nach, aber schon am Abend wurde er erneut als Feuerwehrmann zum Deich gerufen. Als er dort über die Deichkrone sah, wurde er sich des enormen Ausmaßes des Flusses bewusst: „Am Dienstag dann eben in Aurith da unten. Und den Damm erhöhen. Und wenn man erhöht hat und es war bloß noch circa 30 Zentimeter bis zur Korne oder 25, wo die Senke war da, dann kriegt man schon Gefühl dafür, wenn man rüberguckt. Hat eine ganz andere Breite gekriegt, eben: was das für ein gewaltiges Wasser ist“ (Benzler 100–104). Dieser Anblick machte ihm letztlich die Hochwassergefahr deutlich. Wenn hingegen Frau Benzler für diese Zeit noch erzählte, dass sie die Berichte aus Polen und Tschechien noch immer nicht auf sich beziehen konnte, wie sie es in ihrem Hochwasser-Tagebuch vermerkte, dann wird die schon oft diskutierte Diskrepanz zwischen Information und Erleben deutlich. Die Nachrichten in den Massenmedien, erst recht die sachliche Berichterstattung, konnten kaum selbstreferenzielle Relevanz erzeugen, weil die Emotionsschemata durch die auf das abstrakte Verstehen zielende Nachricht umgangen wurden.52 Im Erleben aber, das, anders als bei den heute üblichen Massenmedien, die Möglichkeit des Handelns nicht ausschließt, muss das Individuum die Situation auf sich beziehen, weil es daran arbeitet. Einerseits ist die Gefahr Sinnvermittlung dieser körperlichen Entäußerung, andererseits ist der Blick auf den veränderten Fluss ein Moment des Fremdwerdens, des Verlustes an Vertrautheit. Im Ablauf der Ereignisse ist das nicht reflektierbar, erst für die Momente des Innehaltens erinnerte Herr Benzler einen Wandel von der Skepsis aus Unsicherheit zur Gewissheit der Katastrophe, vom Nicht-hoffen-wollen zur Furcht.

52 In der metaphorischen Sprechweise von Watzlawick, Beavin und Jackson (1990: 63 ff.) sind die sachlichen Nachrichten digitale Kommunikationsweisen, die die sozialen Beziehungsaspekte der Kommunikation allenfalls als weitere Sachen behandeln und Emotionen eben helfen auszublenden. Kunst, Filme und die gerade im Fernsehen und Radio immer stärkere Emotionalisierung der Formate schließen viel eher an vorreflexive, das bewusste Verstehen umgehende Wahrnehmungen an und nehmen insofern Emotionen in Anspruch.

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Obwohl Frau Benzler von der Furcht nicht in gleicher Weise betroffen war wie ihr Mann, nahm sie doch daran Anteil, indem sie ihre eigenen Bedenken zurückstellte und ihre Beziehung als emotionales Rettungsnetz ausbreitete. Währenddessen beobachtete sie, wie die Situation im Dorf immer angespannter wurde. Da hielten die Leute LKWs an, die zum Oderdeich unterwegs waren, um an Sand und Säcke zu gelangen. Diesen Egoismus verstand Frau Benzler nicht. Später wurde Sand auf dem Dorfplatz abgekippt, wo sich jeder ohne Unterstützung der Behörden mehr schlecht als recht bedienen konnte, was sie ebenfalls als falsch empfand. Zur immer hysterischer werdenden Stimmung hatte Herrn Benzlers Meinung nach der für sie zuständige Krisenstab sein Scherflein beigetragen. Anstatt vor Ort gemeinsam mit örtlichen Vertrauenspersonen den Einwohnern mit Rat und Tat beizustehen, habe sich der Krisenstab von Ferne allein auf Ratzdorf konzentriert. Mit den Helfern von Bundeswehr, Polizei und THW wie auch mit dem Leiter der Brandenburger Umweltbehörde war vor Ort jedoch unkompliziert zu reden. So unterließ die Polizei nach einer Rücksprache mit Einwohnern, mit Blaulicht und Sirene nachts durch die Orte zu fahren. Auch die auswärtige Bereitschaftspolizei, die die Evakuierung in ihrem Dorf durchführen sollte, reagierte flexibel. Anstatt auf die Evakuierung zu bestehen, halfen sie solange wie möglich noch beim Möbelpacken mit. Das mitzuerleben, war für die Leute sehr wichtig. Frau Benzler unterstrich das später nochmals: „Das war auch moralisch schon stark, ja“ (1371). Stark im Sinne einer besonderen Leistung war nicht nur die eigentliche Hilfeleistung, sondern die Wirkung dieser Unterstützung. Denn obwohl der Auftrag der Bereitschaftspolizei ganz anders, nahezu gegenteilig, lautete, ließen sie sich die Zeit, gemeinsam mit den Betroffenen deren Sachen zu retten, soweit es irgend möglich war. Dieses für alle als sinnvoll erlebte Handeln ermöglichte, Gemeinschaftswerte wie Solidarität und Eigenverantwortung zu aktualisieren; darin lag der moralische Aspekt dieser Unterstützung. Und so hätte auch die Evakuierung in der Niederung ablaufen sollen, anstatt den Leuten nur wenig Zeit zu lassen, wenige Sachen zusammenzusammeln, meinte Frau Benzler. Aber so schloss sie an: „Also, Führung hat total versagt“ (574). Darin spiegelt sich keine DDRtypische Verhaltensweise, Verantwortung an politische Leitungsebenen abzuschieben.53 Auch Frau Benzler sprach „Fehlinformationen“ (581) an, denen sie gerade hinsichtlich der zu erwartenden Überschwemmungshöhe ausgesetzt waren. Da musste sich der Bürgermeister selbst erst um topographische Karten bemühen, um den Evakuierungsbedarf nach den Höhenlagen ihres Dorfes und selbst gesetzten Pegeln besser einschätzen zu können. Die fehlerhaften Informationen vom Krisenstab behaupteten erschreckende Hochwasserhöhen bis weit ins Oberdorf hinein. Später stellte sich heraus, dass diese auf Übermittlungsfehler der Angaben über die Länge 53 Siehe Meuschel (1992) zum unpolitischen Leben in der DDR und eine Diskussion anhand von Interviews bei John (1999).

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des Deichbruches bei Aurith beruhten. Jedoch versetzten diese Angaben die Einwohner in Panik. Darin bestände auch der Grund, warum die Leute an einen Opfermythos glaubten, der besagte, dass der Deich bei Aurith bewusst gesprengt worden sei. Herr Benzler, der als Feuerwehrmann noch bis kurz vor dem Bruch diese Stelle besucht hatte, war jedoch davon überzeugt, dass es sich um eine normale Unterspülung handelte, die eben auch ein Loch erzeugt, was die Leute zu wilden Spekulationen anregte. Er hingegen meinte, von einer Opferung könne man deshalb ausgehen, weil trotz besseren Wissens um die Schwachstellen im Deich keine geeigneten Gegenmaßnahmen wie später im Oderbruch ergriffen wurden. Diese Unterlassung hielt er für eine bewusste Inkaufnahme der Überflutung der Ziltendorfer Niederung, um eben den Druck vom nördlichen Oderbruchdeich zu nehmen: „Sorglosigkeit nicht. Es war keine Sorge. Sorglosigkeit ist, wenn ich zu wenig mache. Aber wenn ich gar nichts mache und sehe, dass es rübergeht, das ist bewusst“ (711–712). Jedoch sahen beide Benzlers die Alternative eines überfluteten Oderbruchs als noch schwerwiegender an, so dass es besser die Niederung erwischt hatte als die „Wirtschaftsperle“ Oderbruch54, wo weitaus mehr Menschen von einer Überflutung betroffen gewesen wären. Dieser Art nichtpartikularer Solidarität versagten sich auch die Benzlers nicht. Weitere Indizien für das Missmanagement des Krisenstabes macht Herr Benzler aus: So wurden Hilfsangebote von kompetenten Leuten des THW abgelehnt und auch ein Erfahrungsaustausch mit westdeutschen Behörden nicht angestrebt, die doch schließlich an Rhein und Mosel schon über Erfahrungen mit Hochwasser verfügten. Dann hätte man mit dieser Erfahrung anders und planvoller vorgehen können, was auch den betroffenen Leuten einen ruhigeren Umgang mit der Situation ermöglicht hätte. Sarkastisch meinte er, dass nicht alle in Panik verfielen, sei allein dem Alkoholkonsum mancher Leute zu verdanken gewesen. Die von Frau Benzler dargestellte aggressive Stimmung rund um den Dorfplatz hatte ihre Ursache, wie Herr Benzler ausführte, in der Hilflosigkeit der Leute, aus der sie von den Verantwortlichen nicht herausgeholt wurden. Und so hatten die Ignoranten im Ort, die einfach weitermachten, als sei nichts geschehen, es in seinen Augen beinahe noch am besten getroffen.

54 Frau Benzler spielt indirekt auf den zu DDR-Zeiten populären Titel für das Oderbruch als „Obst- und Gemüsekammer Berlins“ an, als Ostberlin als „Hauptstadt der DDR“ auch bevorzugt mit Lebensmittel versorgt wurde. Tatsächlich verfügt das Oderbruch über fruchtbare Böden, die von den regelmäßigen Überflutungen der Oder vor der Begradigung herrührten. Allerdings war der Titel im Sommer 1997 schon reichlich anachronistisch und wurde im Oderbruch kaum noch in Anspruch genommen, es sei denn als nostalgische Referenz in touristischer Absicht. Als ein Erklärungsschema lag diese Assoziation für Frau Benzler jedoch noch nahe, was eher auf ihre Ferne zum Oderbruch schließen lässt.

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Als das Wasser nach den beiden Deichbrüchen dann in Richtung Dorf anrückte, wurde klar, dass lediglich die ersten tiefstehenden Häuser am Ortsrand betroffen sein würden. Daraufhin seien die Nichtbetroffenen einfach nach Hause gegangen, berichtete Frau Benzler. Ärgerlich war auch, dass andere wiederum Sandsäcke horteten, die anderswo gebraucht wurden. Im Grunde konnten die Betroffenen nur auf die Hilfe ihrer Familien und Freunde zählen. So kümmerten sich alle im Wesentlichen nur um ihre eigenen Belange, wobei sie noch von anderen aus dem Ort, die in sicherer Höhenlage wohnten, begafft wurden. Andere ließen sich nun erst recht nicht ihren Alltag verderben, wie Herr Benzler berichtete: „Denn Fußball haben sie auf dem Fußballtraining gemacht. Da war’s schon akut. Das Wasser kam, wir haben geschindert wie die Kaputten, und die haben Fußballtraining gemacht. Nebenan ist ,Spielothek‘ hier. Da ist ein bisschen hier, hier, na, sage ich mal hier, Balkon, da haben sie gesessen und gesoffen“ (388–393). Von einer Gemeinschaft des Dorfes war hier nicht mehr zu reden, wenn Nichtbetroffene sich nicht mehr um die Belange der vom Hochwasser Bedrohten kümmerten, sondern ihrem Alltag nachgingen oder sich wie Schaulustige aufführten. Der Bericht der Benzlers war stark von Argumentationen durchsetzt und kontrastierte mit den gelassenen Haltungen der anderen Interviewten. Wieso entfalteten Benzlers diese Dramatik? Allen Nachrichten aus Polen und Tschechien zum Trotz waren die Einwohner der Ziltendorfer Niederung vom Ausmaß des Oderhochwassers überrascht. Die Katastrophe musste erst auf dem Deich oder spätestens vor der Haustür zu erleben sein, um begriffen zu werden. Aber da stand sie unmittelbar bevor oder war sogar schon eingetreten. Da war keine Mußezeit mehr, die Gefahr durch risikokalkulierende Reflexion in Entscheidungsprämissen zu überführen. In diesen Momenten des Gewahrwerdens mussten die Betroffenen schon handeln; Emotionen, die als Panik und Angst geschildert wurden, waren eine naheliegende Reaktionsweise auf diese Überforderung. Der Zwang zur Entscheidung und zum Handeln machte die Relevanz der Hochwassersituation nun unbedingt einsichtig. Deshalb waren die Leute, die nahe der Oder wohnten, wie die Jacobis oder die Höhlers, besser gewappnet. Obwohl auch sie nicht mit der tatsächlichen Wucht des Hochwassers rechneten, war ihnen die Anschauung des bedrohlich angeschwollenen Flusses doch eindrückliche Aufforderung genug zum Handeln. Fatal war das aber für die Ziltendorfer Niederung insofern, als die tiefsten Punkte der Gegend, ähnlich dem Oderbruch, sich nicht unmittelbar am Flusslauf befanden, sondern weit im Innern. Die Leute an der Oder organisierten sich selbst, als die Hilfe von den Behörden auf sich warten ließ. War diese Selbsthilfe auch in ihrer Wirkung hinsichtlich des Hochwassers marginal, so schien die Wirkung auf die Dorfgemeinschaft doch beeindruckend. Denn die selbstinitiierte Aktion bot die Möglichkeit zu Herausbildung einer Wir-Gemeinschaft. Ein Initiator verlieh der Gemeinschaft Evidenz. Nicht nur, weil er die Wir-Behauptung zum

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Fokus der gemeinschaftlichen Kommunikation aufrief und damit Grenzmarkierungen thematisiert wurden, sondern auch, weil die Rolle des Initiators an Vorbilder anschloss. Damit erfolgte der Verweis auf andere Gemeinschaften, denen die eigene hinreichend ähnlich und doch aufgrund der momentanen Unerreichbarkeit unweigerlich verschieden war. Die herausragende Bedeutung der Initiatorenrolle bei der Konstituierung von Gemeinschaft ist hier unbestreitbar, aber sie scheint doch im Kontext der Erzählungen aus dem Oderbruch nicht notwendig. In welchem Moment also tauchte der Initiator während des Hochwassers auf? Auf dem Sandsackplatz, von dem Frau Köppel berichtete, trat kein Initiator auf, wenngleich der Sandsackplatz im Moment der Not wie im Oderbruch der wichtigste Ort gemeinschaftlicher Kommunikation war. Als die Helfer später an der Oder eintrafen, schien es so, als traten sie der schon etablierten gemeinschaftlichen Selbsthilfe nur noch bei. Diese Helfer erwiesen sich in den meisten Fällen als umgänglich und engagiert. Die Erfahrung Herrn Jacobis mit der vorschriftenversessenen Polizistin erscheint im Kontext der anderen Erzählungen als Ausnahme. In ihrem Engagement wurden die anwesenden Helfer in Kontrast zu den fernen Behörden gestellt. Übernahmen die einen Verantwortung, handelten die anderen verantwortungslos; konnten die Helfer auf die örtliche Situation aufgrund eigener Anschauung eingehen, war die Ferne des verantwortlichen Krisenstabes Auslöser für Kommunikationsprobleme und Fehldiagnosen. Diese wiederum boten Anlass für die Spekulationen der Bewohner der Ziltendorfer Niederung, mit denen sie die Deichbrüche politischem Kalkül zurechneten. Der Opfermythos schloss aber immer an eine Legitimationsformel an, mit der der eigene Schaden mit dem möglicherweise größeren Schaden im Oderbruch verglichen und relativiert wurde.

Odersee Nachdem Herr Jacobi sein Auto nach der Auseinandersetzung mit der Polizistin tags zuvor andernorts untergebracht hatte, brauchte er es wieder, um gemeinsam mit seiner Frau Einkäufe zu erledigen. Er wollte Wasser, Notstromaggregat und Gaskocher kaufen, so dass sie beide im Haus während der Überflutung ausharren könnten. Sie rechneten damit, dass das Hochwasser einige Tage andauern würde, nicht aber mit der tatsächlichen Dauer von mehreren Wochen, wie Frau Jacobi ergänzte. Nachmittags, als ihr Mann unterwegs war, kam zuerst ein Polizist, später zwei ABMBeschäftigte und eine halbe Stunde darauf ein Lautsprecherwagen, die alle zur Evakuierung aufforderten. Mit denen diskutierte sie, dass sie beide nicht gehen würden, weil sie sich sicher in ihrem auf einer Anhöhe erbauten Haus fühlten. Sie wollten nämlich während der Überflutung auf ihre Sachen aufpassen. So schienen es auch die anderen zu halten, denn als der Evakuierungsbus kam, fuhr niemand mit. Derweil stellte ihr Mann das Au-

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to bei ihrem Freund im Nachbarort ab und ließ sich von ihm nach Hause bringen. Als sie später versuchten, ihre Nachbarn telefonisch zu erreichen, mussten sie allerdings feststellen, dass die meisten schon verschwunden waren. Da bekamen sie es doch ein wenig mit der Angst zu tun. Anscheinend waren alle mit den eigenen Autos abgefahren. Bald nachdem sie ins Bett gegangen waren, rief sie der Freund an und informierte sie über den Abzug der Deichläufer. Als auch noch seine Schwester später anrief, hörten sie die Sirenen der Polizei durch das Telefon. Nun packten sie ihre Sachen und stellten Möbel und Bilder in die obere Etage. Viele Nachbarn versuchten am nächsten Morgen zurückzukehren, aber da wurden sie nicht mehr durchgelassen. An diesem Morgen landete bei Jacobis „früh um viertel zehn“ (Jacobi 242) ein Hubschrauber vorm Hof. Die Leute darin teilten ihnen mit, dass sie jetzt allerdings gehen müssten, weil der Deich bei Finkenheerd in der letzten Nacht gebrochen sei. Mit einem alten roten Traktor russischer Bauart mit anmontierter Schaufel und einem Schiebeschild zogen Jacobis ab: „Na, denn haben wir Tasche ruff und Koff- äh Koffer ruff, Tasche uffjebunden uff’n Tank vorne, Frau rinjeschmissen denn, hinten rin, Hund, Hund rin, denn sind wir beede abjebrummt. Der Hund war, bebte, ne. Aber ach“ (248–250). So fuhr er dann samt Frau, Hund und Gepäck durch die Niederung außerhalb der Evakuierungszone und der Hubschrauber folgte ihnen. Wasser war da noch keins zu sehen und es dauerte dann noch anderthalb Tage, bis der Deich bei Aurith brach, schloss Herr Jacobi. Dafür, dass sie ausharren wollten, waren sie schnell zur Aufgabe bereit gewesen. Jedoch waren sie zuvor ja von den heimlich verschwundenen Nachbarn überrascht worden. Dass sie nun nahezu allein zurückblieben, machte ihnen Angst. In ihrer Heimlichkeit kündigten die Nachbarn aber auch die Gemeinschaft auf, wenngleich Jacobis das wieder auszugleichen versuchen mit dem Hinweis, dass die Nachbarn an der Rückkehr gehindert wurden. Auch kann die Absicht zum Ausharren als ein Versuch gelesen werden, gegenüber der Hochwassergefahr nicht aufzugeben. In dem Sinne bewies noch ihre Abfahrt, dem sehr dynamischen Gestus entsprechend, Tatkraft. Die Aufgeregtheit wegen des Hochwassers aber war, ihrer Meinung nach, gar nicht gerechtfertigt. Das machte Herr Jacobi deutlich mit dem Hinweis, kein Wasser sei zu sehen gewesen, und auch der zweite Deichbruch bei Aurith ließ noch auf sich warten. So konnte er zumindest in seiner Erzählung noch Recht mit seiner Gelassenheit behalten. Das erinnert an die Geschichte Herrn Krähmers aus dem Oderbruch, der ähnlich seine Gelassenheit im Konzert mit seiner Frau demonstrierte. Darin scheint sich eine Bewältigungsstrategie der Alten mit dieser unbeherrschbaren Situation abzuzeichnen: sie beherrschten wenigstens sich selbst. Den Moment der Ruhe nach ihrer wilden Flucht mit dem Traktor beschreibt Frau Jacobi: „Äh, irgendwie war man richtig kühl und ich weiß es nicht.“ „Ach, wie jelähmt, oder (.)“, ergänzte ihr Mann, und sie fasste zusammen: „In dem Moment war’n wir nun erst mal zufrieden, dass wir, äh,

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aus dieser Gefahrenzone raus waren“ (478–479). Beinahe vermittelten Jacobis hier den Eindruck, als seien sie während ihrer Traktorflucht gestorben, so kalt und gelähmt wie sie ankamen. Schließlich aber waren sie erleichtert, nicht nur, weil sie in Sicherheit ankamen, sondern auch weil sie ihren Hund, „unsern treuen Begleiter“, wie Frau Jacobi ihn nannte, ebenfalls retteten. Jacobis waren wieder bei ihren Leuten, der einsamen Gefahr entkommen. Bei ihrer Erzählung über die Sicherung ihrer Sachen und der Rettung ihrer Tiere betonten sie auf die eine oder andere Weise ihre Treue und die der Freunde, der Familie, von Katze und Hund. Mit Treue war für Jacobis ein entscheidender Wert markiert, eine symbolische Grenze der Geltung ihres Gemeinschaftsverständnisses. In ihrer Notunterkunft bei der Schwiegermutter eines Sohnes nahmen sie an ihrem Alltag teil, so dass zu vermuten ist, dass es hier schon Absprachen gab. Jedoch hatten sie dort nicht viel Zeit, denn Behördengänge wegen des Schadens wollten erledigt sein. Jedoch berieten sie sich mit ihren Verwandten über den Hergang des Deichbruchs. Da hörten sie zum ersten Mal davon, dass der Deich gesprengt worden sei. Das wollte Herr Jacobi zuerst nicht glauben, aber später, als das Wasser aus der Niederung verschwunden war und er sich den Deich ansah, musste er diesem Gerücht Glauben schenken. Da lag ein großer Betonklotz, der seiner Meinung nach kaum zum Verschließen, sondern nur zum Schaden des Deiches dort abgeworfen worden sein konnte. Leider waren ihre Fotos, mit denen sie das dokumentieren wollte, nichts geworden, bedauerten beide Jacobis. Alle späteren Äußerungen, vor allem des Brandenburger Umweltministers, unterstützten ihre nunmehrige Gewissheit, dass der Deich vorsätzlich zerstört worden sei. Aber schließlich wurde niemand verletzt, stellte Herr Jacobi fest, und wer sich bis dahin noch nichts Neues angeschafft und am Haus gebaut hatte, schnitt sogar noch mit Gewinn ab. Für beide Jacobis war ganz klar: Für das nördliche Oderbruch wurden sie geopfert, weil der Schaden dort viel größer gewesen wäre. Tausend Ziltendorfer mussten für zwanzigmal so viele Oderbrüchler einstehen. Das fanden sie an sich in Ordnung, aber die Behörden hätten es ihnen so auch sagen können. Allerdings sah Herr Jacobi selbst die Unmöglichkeit seines Ansinnens ein, denn niemand wäre wohl bereit gewesen, sich freiwillig zu opfern: „Aber wer äh hätte hier jesagt: ,Lasst uns absaufen!‘? Wer äh, wer will sich schon selber gleich erhängen, so nicht?“ (1133–1135). Und Frau Jacobi ergänzte, dass es letztlich die beste Lösung war, die Ziltendorfer Niederung zu überfluten. Schließlich hatte die dadurch gewonnene geringe Entlastung des Deiches entlang des Oderbruchs doch einen positiven Effekt gehabt. Und trotz alledem und der enormen Hilfe der Soldaten und der eingesetzten Technik war es im Oderbruch weiterhin schwierig, den Deich zu halten. Ohne die Überflutung der Ziltendorfer Niederung wäre im Oderbruch mit Sicherheit der Deich gebrochen: „Naja, aber es wäre doch so, wenn man jetzt mal überlegt so im Nachhinein, die 5000 Hektar war’n hier volljelaufen, und im Oderbruch hatten se

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trotzdem noch ihre Schwierigkeiten, dis zu erhalten. Also wäre doch denn da unten was jekommen. […] Wollen wir mal ganz ehrlich sein!“ (1149– 1153). Als die Opfergeschichte ausgesprochen wurde, erlangte sie immer mehr Überzeugungskraft und wurde zur Gewissheit. Zwar gab es keine Beweise, aber die Indizien reichten den Jacobis, um überzeugt zu sein. Jenseits der Fakten wird hier ganz klar, dass die Opfergeschichte der Auftakt für eine ganze Reihe rationaler Erklärungsmuster für die Überflutung der Niederung war, an deren Ende die Überflutung sogar als sinnvoll anerkannt und akzeptiert werden konnte. Das fand sich so bereits bei Herrn Benzlers Bericht, wenn hier auch der eigentliche Sabotageakt am Deich subtilere Formen annahm. Die Zerstörung durch die Flut war durch den Opfermythos mit Sinn zu erfüllen – daher seine Kraft. Zwei Tage nachdem Jacobis ihr Haus verlassen mussten, fuhren sie mit einem Nachbarn nach Polen, um von der gegenüberliegenden Seite der Oder nach ihrem Haus zu schauen. Da sahen sie Wasser auf ihren Höfen und klagten sich gegenseitig ihr Leid. Als sie am frühen Nachmittag zurückkamen, erfuhren sie, dass es möglich sei, mit einem Boot nach Hause zu fahren, um nach dem Rechten zu schauen. Am frühen Abend waren sie dann vor Ort und mussten feststellen, dass schon zweieinhalb Meter Wasser auf dem Hof stand. Gemeinsam mit ihren Söhnen versuchten sie, weitere Sachen zu retten. Aber das Wasser stieg noch weiter, bis es an der Oberkante der Fenster der ersten Etage zum Stehen kam. Dahin setzten sie eine Markierung zur Erinnerung. Mit Sarkasmus brachte Herr Jacobi den damaligen Zustand zum Ausdruck: „So weit stand das Wasser, bis jetzt. Äh, wo es gegenwärtig so weit war. Da, da oben stand es. Sieht gut aus, nicht? Schönes Bild. Wassergrundstück. […] Jetzt können wir schon wieder lachen“ (314–317). Die Katastrophe ist überstanden, das Wasser ist weg und sie immer noch da. Und da hatten sie gut lachen. Trotz ihrer Vorbereitungen gab es noch etwas zu retten. Einerseits hatten Jacobis das Ausmaß des Hochwassers falsch eingeschätzt, andererseits schrieb die Gelegenheit des Hausbesuches geradezu vor, Weiteres aus dem Wasser zu retten. Ein Sohn konnte nach Absprachen mit der Polizei weiterhin zum Räumen des überfluteten Hauses mitfahren. Ansonsten wurde das Gebiet weiträumig gesperrt, um Schaulustige und Diebe fernzuhalten. Sogar mit Hubschraubern sei verhindert worden, dass solche Leute von der polnischen Seite der Oder herüberkommen konnten. Allerdings gab es im Grunde nichts mehr zu holen. Inzwischen ging die Polizei flexibel mit ihren Anweisungen gegenüber den betroffenen Einwohnern um. Ohne Frage befürwortete Herr Jacobi deren Schutzfunktion, und das auch, weil sie nun Unterschiede machten. Skepsis richtete sich nun gegen die Anderen, die gaffen oder schlimmer noch, vom ohnehin Zerstörten den letzten Rest plündern wollten. Sein Hinweis, dass es eigentlich ja nichts zu holen gab und man sich trotzdem schützen müsse, wies auf eine Furcht hin, die we-

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nig mit der Angst um den inzwischen nicht mehr wertvollen Besitz zu tun hatte. Vielmehr ging es um den Schutz ihres wie auch immer geschädigten Heimes, denn die Verletzung dieser Barriere zur Privatheit ihrer Wohnung wäre ein weiterer, nur schwer zu ertragender Souveränitätsverlust gewesen. Bei ihren nächsten Fahrten räumten sie ihre erstaunlicherweise noch intakte Kühltruhe aus. Dabei waren die Bootsfahrten selbst abenteuerlich, denn im Wasser gab es überall Hindernisse und der Wind machte die Fahrt ebenfalls schwierig. Da fühlte sich Herr Jacobi an seine Kindheit erinnert, als er, um in die Schule östlich der Oder zu kommen, jeden Morgen bei jedem Wetter mit einem Fährkahn über die Oder fuhr. Da musste er manches Mal Wasser schöpfen, und so war es auch bei den Fahrten zum Haus: „Na und denn ist man ’n bisschen jewesen, man ist ja abjebrüht, nicht. Aber da hab ich jedacht: ,Donnerwetter, jetzt müssen wir bald anfangen zu schöpfen!‘, nicht? Aber (...) aber es hat Spaß jemacht hier, wa! [Lachen] Kinder, ne! Ach man lacht drüber, damals haben wir nicht jelacht“ (769– 772). Die Erinnerung seiner Kindheit ist mit einem ambivalenten Gefühl von Angst und Abenteuer verbunden. Aber weil er am Ende gut nach Hause kam, bleibt das Abenteuer zum Erzählen, worüber man darum lachen konnte. Wenn sie von ihren Hausbesuchen in ihre Notunterkunft zurückkamen, verfolgten sie abends regelmäßig die Nachrichten der Regionalsender, die ihnen ein objektives Bild zu vermitteln schienen. Meistens kannten sie schon alle Neuigkeiten, weil sie diese von ihrer Gastgeberin erzählt bekamen. Dann saßen sie auch mal mit Leuten aus der dortigen Nachbarschaft zusammen, die sie eigentlich gar nicht kannten, und versuchten sich zu trösten, erzählte Herr Jacobi: „Und: ,Ah, was ist nun bei Euch?‘ Da haste och noch mitjeweent, jeweent haben wir jenuch, wa“ (605–606). Nach einer Weile, meinte er später, prallten die Schrecknisse nur noch ab: „Wir haben’s uns anjeguckt. Mit der Zeit, wenn das Wasser steigt weiter oder wird sogar jesagt (.), na ja, denn sind och wieder mal ’n paar Tränen jerollt, wa. Aber man war wie gelähmt, abjestumpft war man so, man hat sich dis anjeguckt und (.), irgendwie (.) nicht drüber (.), also drang nicht ein, also man hat nicht drüber nachgedacht oder so“ (997–1000). War man am Tag abgelenkt, kamen nachts erst recht die Bilder wieder hoch, ergänzte Frau Jacobi. Und er versuchte sich ein wenig mit Schnaps zu beruhigen, aber das half nicht. Dann hatten sie Pläne gemacht, kamen aber zu keinem rechten Ergebnis. Aber die Berichte hatten auch etwas Tröstliches insofern, als die Berichte aus Polen mit den enormen Schäden und sogar Toten ihnen ihre im Vergleich weniger furchtbare Situation aufzeigten. Sie hatten wenigstens keine Toten zu beklagen. Da baute sie der Gedanke auf, dass sie doch noch Glück gehabt hatten.

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Auch die Jacobis holen ihre Emotionen in Momenten der Einkehr ein. Da reichten Nachrichten oder die Nachfragen von besorgten Leuten aus, um die Schleusen zu öffnen, die am Tag durch Geschäftigkeit verschlossen gehalten wurden. Die Nachrichten waren immer Anlässe, an ihre eigene Misere zu denken. Diese Spannung zwischen Katastrophe und Machtlosigkeit war ja nicht wirklich zu lösen, wie die ins Leere gegangenen Versuche des Pläneschmiedens zeigten. Da blieben nur erlösende Tränen, was selbst noch im Erzählen Herrn Jacobis zu spüren war, wenn er immer wieder kurz stockte und nach Worten suchte. Und dann gewannen sie Trost aus dem Leid anderer, was nicht unredlich zu nennen ist. Denn Voraussetzung des Trostes war ja erst die Anerkennung jenen Leides. Nachdem alles gepackt war, geriet Frau Höhler das Warten zur Geduldsprobe. Sie war zu sehr angespannt, um Ruhe zu finden. Schließlich brachte ihr Sohn am Dienstagabend die Nachricht, dass es bald mit der Evakuierung losgehen würde. Aber da konnte sie ihren Mann nicht erreichen, der wieder arbeiten musste. Kurz zuvor hatten alle Einwohner des Dorfes einen Informationszettel wegen der möglichen Evakuierung erhalten. Schon zwei Stunden später verkündeten Sirenen, dass es tatsächlich so weit war. Daraufhin versammelten sich alle Dorfbewohner und ihnen wurde mitgeteilt, dass sie bis auf die Feuerwehrmänner und einige Frauen, die die Versorgung übernehmen wollten, nur wenige Tage später ihre Häuser verlassen müssten. Frau Höhler war vorbereitet, aber ohne ihren Mann fühlte sie sich unsicher. Obwohl die Evakuierung wohl unvermeidlich schien, setzten selbst die Behörden auf eine kurze Evakuierungszeit, wovon auch Jacobis berichteten. Aber auch in der Situation höchster Unsicherheit waren die Geschlechterrollen unbestritten: Männer blieben bei der Feuerwehr, die Frauen mussten gehen, es sei denn, sei übernahmen die Versorgung der Feuerwehrmänner. Frau Höhler fuhr zu Bekannten, die ihrer Familie Quartier angeboten hatten. Ihr Mann und ihr Sohn blieben noch am Deich zurück. Als sie hörte, dass der Finkenheerder Deich gebrochen sei, gab sie ihrem Mann Bescheid, die restlichen Vorräte auszuräumen und diese bei der Arbeitsstelle unterzubringen. Da auch schon das Dorf gesperrt war, in dem ihre Familie bei den Bekannten Zuflucht fand, konnte Frau Höhlers Mann nur über Nebenwege dorthin kommen. Als auch bei Aurith der Deich brach und ihr Sohn noch in der Evakuierungszone im Einsatz war, machte sie sich erneut Sorgen. Während dieser Zeit wurde sie zum ersten Mal interviewt. Wurden im Ort ihrer Zuflucht zunächst noch Anstrengungen unternommen, diesen zu schützen, hieß es bald, dieser sei nicht mehr zu halten, denn das Wasser kam nach dem zweiten Deichbruch schnell heran. Darum waren sie gezwungen, die Unterkunft bei den Bekannten ebenfalls zu verlassen und in ein Evakuierungslager auszuweichen. Drei Tage später mussten sie auch dieses wieder verlassen und in eine weitere Unterkunft umziehen. Während dieser Zeit strömten immer neue Informationen auf

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sie ein, wobei auch noch die absurdesten verbreitet wurden. So wurde erzählt, dass das Hochwasser die Niederung mit neun Metern überfluten wird. Da glaubten alle, ihre Sicherungsmaßnahmen wären vertane Mühe gewesen. „Bloß im Nachhinein ham wir denn gedacht, na ja, det, das war die Panikreaktion, dieses Aufgeregte un’ alles, dann hat man alles geglaubt, was man, was auf einen zuströmt, weil man ja nichts anderes gehört hat, nur Berichterstattung, ja, und all (..) alles so mit die (..) mit Bundeswehr sind wir ja nich’ zusammengekommen, oder mit Feuerwehrleute und die, die so ’ne“ (Höhler 204–210). Die Resignation, die durch diese Nachrichten befeuert wurde, ohne dass Expertenmeinungen dem widersprachen, war damals eine Möglichkeit, mit der Überflutung fertig zu werden. Diese Beschreibung Frau Höhlers erinnert an die Situation, die Krähmers aus dem Oderbruch von Verwandten berichteten. Ohne sachliche und soziale Alternativen auf Dauer gediehen im homogenen Milieu der Notunterkünfte, wo die vom Unglück Heimgesuchten unter sich blieben, die Angstneurosen. Und das geschah selbst dann noch, als in der Ziltendorfer Niederung der befürchtete Fall schon eingetreten war, dann wurden weitere Gefahren imaginiert. Die Ereignisse präsentierte Frau Höhler sehr gedrängt, was den Eindruck vermittelte, dass alles in kurzer Zeit passierte. Da war keine Zeit mehr, um sich zu sammeln und dem Geschehen souverän handelnd zu begegnen. Auch wenn sich in diesen Momenten das Netzwerk aus Bekannten, Verwandten bis hin zu Arbeitskollegen aufspannte, konnte sie doch noch die Ereignisse und sich selbst als macht- und hilflos erleben. Die Sorge um den Sohn, die Umzüge aus dem selbstgewählten Notquartier von einem in das nächste nahmen Frau Höhler in Anspruch, ohne dass sie das Geschehen noch steuern konnte. Als dann die Informationen über absurde Fluthöhen auf sie eindrangen, war sie endlich der Verzweiflung nahe. Erst als ihr Mann nach einem Hausbesuch per Boot Nachrichten über den tatsächlichen Zustand des Hauses mitbrachte, hatte sie wieder Zuversicht: „Wir wussten nichts, wir mussten den ganzen Medien glauben, alles, weil wir ja nich’ des Bild hatten, wie’s sich (..) wie es hier aussieht und so weiter und so fort, ja also der Druck is’ dann ersch’ wieder von gewichen, dass wir, wie wir hier so, wie wir hier wieder nach Hause durften, een bisschen! Ja, dieses von dem Wasser“ (736–741). Es stellte sich heraus, dass es sie weniger hart getroffen und ihre Mühe sich doch gelohnt hatte, denn sogar ihre Haustiere hatten in den vorher geöffneten Ställen, bis auf wenige Hühner überlebt. So hatten die Hausbesuche, wie sie schon Jacobis schilderten, eine heilende Wirkung gegen die unsinnige Aufregung. Und auch Frau Höhler tröstete die Vorstellung, im Vergleich mit anderen besser abgeschnitten zu haben. Schließlich hörte sie davon, dass in Eisenhüttenstadt, südlich der Niederung, kostenlose Zwischenwohnungen für evakuierte Leute angeboten wurden. Weil ein baldiges Ende der Evakuierung nicht abzusehen war, riet ihr Mann, dass Ange-

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bot anzunehmen. In der Zweitwohnung angekommen, begann Frau Höhler mit der Suche nach anderen Familienangehörigen, die im stärker betroffenen Teil der Niederung lebten. Die hatten sich anfangs noch der Evakuierung verweigert. Weil Frau Höhler von den Maßnahmen und Konsequenzen der Zwangsevakuierung gehört hatte, war sie um sie besorgt. Wie sich jedoch herausstellte, waren die Verwandten ebenfalls in Eisenhüttenstadt. Während ihrer Umzugszeit zwischen den Evakuierungsquartieren wurden die Höhlers von einer Journalistin eines regionalen Radiosenders begleitet. Aufmerksam geworden durch ihre deprimierte Tochter kam die Journalistin überall hin mit und war auch noch in Eisenhüttenstadt mit dabei. Die kurzen Interviews wurden immer morgens gesendet. Aber das hörte Frau Höhler sich nur selten an, weil sie da schon wieder arbeiten musste. Andere erzählten ihr dann, dass das gut gewesen wäre, was sie sagte. Dieser Zuspruch tat ihr gut, gerade als es während der Aufbauzeit zum Streit wegen der Verteilung der Gelder kam. So wurde Frau Höhler während der Evakuierungszeit zu einer regionalen Medienpersönlichkeit, was ihrem Selbstwertgefühl zugute kam. Über die Bedeutung ihrer Medienpräsenz aber schien sie sich erst während der Streitereien um die Fördergelder für den Wiederaufbau im Klaren geworden zu sein. Während ihrer Evakuierung verfolgte sie die Berichterstattung über den weiteren Verlaufes des Oderhochwassers im Oderbruch viel intensiver. Das interessierte sie, weil sie vorher schon die Erfahrung der Bedrohung gemacht hatte. Außerdem war auch ihr klar, dass es für den Aufbau der Niederung im Fall einer Überflutung des Oderbruchs schwieriger werden würde. Denn der Schaden wäre größer gewesen und für die Niederung hätten weniger Mittel zur Verfügung gestanden: „UND aber da hat man dann och mitgefiebert, denn eh (.) och eh een bisschen mit Angst gehabt, dass, wenn des Oderbruch noch gekommen wär’, hätten wir se ’ne nich’ so ’ne große Schadensreguierung gehabt, ja. Denn hätten mir uns viel mehr (.) eh (..) engagieren müssen eh Dings“ (1260–1265). Schließlich reichten ihnen ja schon die Behördengänge, die sie ohnehin machen mussten. Wäre das Oderbruch überflutet worden, hätte alles viel länger gedauert und ihre Rückkehr nach Hause verzögert. Falsche Betroffenheit war nicht die Art Frau Höhlers, aber auch sonst verleumdete keiner der Interviewten das Eigeninteresse der Ziltendorfer an einem glimpflichen Ausgang der dreiwöchigen Bemühungen des Oderbruchs gegen die Hochwassergefahr. Erst aus Bemerkungen von Reportern gegenüber einer Nachbarin erfuhr Frau Köppel vom Aurither Deichbruch. Von einer Anhöhe aus konnte sie dann schon das heranrückende Wasser sehen: „Ja, da konntest du ja richtig schön gucken, war wie an der Ostsee gewesen hier bei uns“ (Köppel 104). Immer noch erzählte Frau Köppel im ironischen Tonfall von der eingetretenen Katastrophe: nun hatte sie nach „schöner“ Arbeit und einer ebensolchen Woche, in der sich die Schwierigkeiten anbahnten, eine „schöne“ Aussicht auf ein Meer wie im Urlaub.

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Bis zu dem Augenblick, als die Behörden Meldungen verbreiteten, die die Leute in Panik versetzten, standen die sich bis dahin vom Hochwasser betroffen Fühlenden gegenseitig in nicht gekannter Weise bei: „In dieser Zeit haben ja die Leute dermaßen zusammengehalten. Ja, also meine […], was jetzt wieder gar nicht ist, und vorher war das auch nicht so. Dann war mal alles so dick befreundet, jeder hat den, einer hat dem anderen geholfen. Und alle haben sich gemeinsam geholfen. […] Jaja, das war, also so war das eigentlich, war das eigentlich wunderbar vom Zusammenhalt her“ (190–196). Dieser „Zusammenhalt“ der Leute während der Bedrohungsphase war neuartig. Vorher hatte man zwar normal miteinander gesprochen, aber jeder hatte seine eigenen Probleme. Und auch nach dem Hochwasser redete man wieder so miteinander. Aber während der Zeit des Hochwassers als alle damit beschäftigt waren ihre Sachen zu sichern, traf man sich an einem einzigen Ort, dem zum Sandsackplatz umfunktionierten Dorfplatz. Da wurde dann miteinander über dieselben Probleme geredet, da half man sich gegenseitig. Das war schön: „Ich, ich meine, klar, man sagt ja auch: ,Guten Tag‘, und man unterhält sich unter die, wenn man sich mal so sieht und mal aneinander vorbeigeht. Aber so wie jetzt wieder nach dem Hochwasser: es macht jeder seins. Es geht jeder seiner Tätigkeit nach, und mehr oder weniger sieht man sich mal oder – und da hält man da mal ein Schwätzchen oder nicht. Und da bei diesem Hochwasser, wo sie dann alle gerade zu der Zeit auch zu Hause geblieben sind, um halt das Hab und Gut zu retten – und man hat sich dann da unten – das war nun mal der einzigste Platz, wo da der Kies hingefahren wurde vom THW, und da hat man sich dann halt getroffen, und da hat man sich dann halt auch unterhalten und mitgeholfen gegeneinander dann, Sandsäcke füllen und Sandsäcke wegfahren. Das war ganz dufte, ja“ (484–491). Auf dem Sandsackplatz begannen die Leute schon in der Nacht, selbst mitgebrachte Säcke mit Kies zu füllen. Später trafen dann die Soldaten und die THW-Helfer vom aufgegebenen Oderdeich ein. Nur wenige Leute aus den höher gelegenen Bereichen ihres Dorfes kamen zum Helfen. Ob sich das änderte, nachdem die Prognosen für das Hochwasser nach oben gesetzt wurden, konnte Frau Köppel nicht sagen. Dass diese anderen Leute aus ihrem Dorf nicht zum Helfen kamen, wurde auf dem Platz nie besprochen. Viele von denen kamen aber, um nach dem Stand der Dinge zu sehen, aber da waren sie kaum noch vor lauter Reportern und Schaulustigen auszumachen. Und die wurden von den Schippenden ja zum Mitmachen aufgefordert, wie man im Fernsehen sehen konnte. Als dann aber von den Behörden die erwarteten Wasserhöhen der Flut deutlich nach oben korrigiert wurden, war es mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl vorbei, denn die Leute waren wie erschlagen davon, und sie begannen ihre Möbel zu packen. So verheerten die offiziellen Nachrichten die gerade konstituierte Gemeinschaft der Betroffenen. Diese Gemeinschaft war mit nichts zu vergleichen, was Frau Köppel vom Alltag davor

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oder danach gekannt hatte. Diese Erfahrung des Aufgehobenseins, der Zusammengehörigkeit, begeisterten sie noch im Moment des Erzählens. Der unmögliche Superlativ der Vereinzelung, mit dem sie den Treffpunkt, den Sandsackplatz als Ort der Gemeinschaft beschrieb, hob das Besondere nachdrücklich hervor. Trotz der später eingetroffenen Helfer war das die Aktion der Gemeinschaft und blieb es auch so lange, bis sie sich in Panik auflöste. Warum hielt sie nicht stand? Der Sandsackplatz hatte sich selbst etappenweise vom Einzelnen zu Gruppen bis hin zu einer spontanen Organisation mit ausdifferenzierten Aufgaben organisiert. Das wurde von den Helfern, den Soldaten und den THW-Helfern nicht aufgegriffen, sondern ersetzt. Wegen deren größeren Professionalität wurde das auch akzeptiert. Das gegenseitige solidarische Handeln wurde aber so zunehmend zum Erleben von Solidarität. Wie sehr sich die freiwillige Gemeinschaft da noch selbst genügte und welche Souveränität sie entwickelte, zeigte sich in ihrer Ignoranz der Ignoranten im Dorf gegenüber. Deren Abwesenheit war nicht nur vor der gemeinsamen Aufgabe, sondern auch für den Bestand der Gemeinschaft nebensächlich, bis sie unter dem Druck der angstpotenzierenden Nachrichten zusammenbrach. Diese Gemeinschaft fand sich in der Katastrophe, aber fiel dieser schon als erstes zum Opfer, bevor der eigentliche Grund für die Ängste zu sehen war. Die Leute stapelten später vor dem Dorf auf der Wiese Sandsäcke, an die das Wasser schon heranreichte. Aber das Wasser drang dann doch bis zu ihrer Haustreppe vor. Die Leute vom THW wurden bald darauf abgezogen, da halfen nur noch die Ortsfeuerwehr und andere aus dem Umland, weitere Sandsackbarrieren zu bauen. Denn das Wasser stieg weiter. Zwar war das Untergeschoss ihres Hauses noch trocken, später in der Nacht erzählte Frau Köppels Mann jedoch, dass das Grundwasser in den Keller drücke: „Solange wie wir trocken bleiben, ist mir das, ist mir das – bin ich nicht aufgeregt, gar nichts. Aber wo er gesagt hatte, jetzt fängt an das Grundwasser, dann war aus. […] Jetzt ist erst mal aus für mich hier. Bin ich erst mal, bin ich erst mal niedergeschlagen. Also, dass es bis zu uns rüberkommt, hab’ ich nun nicht erwartet. Dass es zwar daaa vielleicht bleibt, wo die immer so gesagt haben, das (..) das hab’ ich ja noch gedacht. Aber nicht, dass es bei uns kommt“ (305–309). In diesem Moment verließ Frau Köppel die Kraft, zu den Ereignissen ironische Distanz zu wahren. Auch mit einem Lachen, wie noch angesichts der absurden Fluthöhen, konnte sie sich nicht mehr der Tatsache entziehen, dass auch sie nun vom Hochwasser erreicht wurden. Sie war geschockt, denn alle Hoffnung, die sie auf diversen Berichten früherer Hochwasser gründete, brach zusammen. Ihre Hoffnung, die sie anscheinend auch noch nicht verlassen hatte, als das Wasser schon vor der Haustür stand, hatte getrogen. Das Grundwasser im Keller spülte sie hinweg. Der Abzug des THW spielte dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings waren die Betroffenen mit ihren Bemühungen nun tatsächlich

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allein auf sich gestellt. Aber das reflektierte Frau Köppel hier nicht als Problem, das Wasser im Haus überdeckte all das andere. Jedoch standen die Häuser auf der anderen Straßenseite noch tiefer und hatten auch Wasser in der ersten Etage. Ein Nachbar wusste sich mit einer Pumpe, die an einem Traktor angeschlossen war, zu helfen. Und dann waren auch noch die ungebetenen Zuschauer da, worüber sie sich wunderte, weil es hieß, alle Zufahrten seien gesperrt. Nur mit den Journalisten kam sie gut zurecht, die sogar für Getränke auf dem Sandsackplatz sorgten. Sie selbst wurde immer wieder vor ihrer Haustür interviewt. Das hatte sie sich später angesehen. Aber auch die Soldaten wurden immer während ihrer Pausen gezeigt. An sich war sie mit den Berichten aber einverstanden, nur wenn sich die Reporter offensichtlich gar nicht auskannten in der Gegend, ärgerte sie sich ein wenig. Dumm fand sie jedoch die prinzipiell ablehnende Haltung manches Einwohners der Niederung gegenüber den Journalisten. In der Nacht zum Sonntag, als das Wasser am höchsten stand, hielt sie es zu Hause allerdings nicht mehr aus. Zusammen mit ihrer Tochter verbrachte sie die Nacht bei ihrer Mutter weiter oben im Dorf. Das war ihre einzige Nacht außer Haus, betonte sie. Die Flutung der Häuser in der Randlage ihres Dorfes hätte verhindert werden können, führte Frau Köppel nun weiter aus. Einige Leute, die der örtlichen Bürgerinitiative angehörten, sich wirklich auskennen würden und schließlich auch im Gemeinderat säßen, wollten den Landrat davon überzeugen, den nördlichen Deich bewusst ein weiteres Mal zu öffnen, so dass das Wasser von der Niederung dorthin abfließen könnte. Der Landrat aber hatte Bedenken wegen der Gefahr für die Nachbarorte und das nördlich gelegene Frankfurt (Oder). Später hieß es, der Landrat hätte den Durchbruch nach einer waghalsigen Besichtigung des Deiches angeordnet. Andere behaupteten, der Deich sei von selbst gebrochen, denn der Landrat weigerte sich doch und auch im Radio hätte es geheißen, eine Sprengung bliebe wegen des Risikos aus. Durch den Bruch aber sank das Wasser in der Nacht zum Sonntag tatsächlich und zumindest bei ihnen entspannte sich die Lage ein wenig. So hatten sie lediglich 30 Zentimeter Grundwasser im Keller, den sie so weit wie möglich ausgeräumt hatten. Auch die Heizung war da schon fachmännisch gesichert worden. Das funktionierte am Ende alles ganz reibungslos: „Also das fand ich eigentlich ganz […], also das lief eigentlich gut“ (404–408). Mitten im Schreck, doch noch vom Hochwasser geholt zu werden, findet auch Frau Köppel noch Trost im Vergleich mit anderen, die es eben schlimmer erwischt hatte. Sie hatten kein Wasser im Wohnbereich und brauchten auch keine abenteuerliche Pumpenkonstruktion. Als sie das Haus verließ, war das auch eine Art Kapitulation vor dem aufreibenden Schwanken zwischen Hoffen und Bangen, das durch die Schaulustigen und wohl auch durch den Abzug des THW noch verstärkt wurde. Als das Wasser schon am nächsten Tag wieder fiel, war das eine Erlösung, so dass sie am Ende ganz zufrieden mit dem Verlauf des Hochwassers war.

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Die Gerüchte um den Deich, um die Experten der Bürgerinitiative und den Landrat erschienen in ihrer ganzen Verworrenheit mehr als ein Ventil für die Frustration der Leute aus der Niederung, für die der Landrat eine gute Adresse für Schuldzuweisungen darstellte. Als solche Adresse wurde er auf keinen Fall entlassen. Denn selbst als das steigende Wasser zum Stillstand kam, blieb da immer noch der Vorwurf von Ahnungslosigkeit, Ignoranz und Anmaßung bestehen, ohne dass das klar formuliert werden konnte oder auch nur musste. Demgegenüber kannten sich die Leute der Bürgerinitiative wirklich aus. Mit diesen Vertretern der Gemeinschaft konnte sich Frau Köppel problemlos identifizieren und machte sich auch deren Meinung gegenüber den Behörden zu ihrer eigenen. Sie akzeptierte die Geschichte um den Deich als Identifikationsangebot, weil sich damit klare Selbstbeschreibungsmöglichkeiten boten. Dabei blieb die Verantwortung für die Heizungssicherung, die nicht auf private Initiative veranlasst wurde, außen vor. Andernfalls hätte die postulierte Opposition zwischen ignoranten Behörden und kompetenter Betroffenengemeinschaft zweifelhaft werden können. Ein weiteres Indiz für die fragwürdigen Aktionen der Behörden präsentierte Frau Köppel anhand des Ablaufes der Evakuierung. Es wäre Zeit genug gewesen, in aller Ruhe die Häuser zu räumen, wenngleich die Leute sich absehbar geweigert hätten, diese ganz und gar zu verlassen. Sie hörte sogar von Zwangsevakuierungen durch die Polizei, und dass es trotzdem einige wenige in der Niederung schafften zu bleiben. Die Evakuierung geriet zu einer von den Behörden veranlasste Eilmaßnahme: „Das war ja Hau-Ruck-Aktion gewesen vom THW und von der Polizei. Die haben ja gesagt, wenn die nicht mitkommen, haben sie sie abgeführt in Handschellen“ (426–428). Dabei durften die Leute bis auf Haustiere nichts mitnehmen, wie sie hörte. Die Evakuierung verlief jedenfalls unnötig panikartig. Denn im Grunde war allen klar, wie langsam das Wasser stieg. Stattdessen machten die Behörden die Leute verrückt: „Die haben ja, wie bei uns, direkt Panik gemacht. Die haben ja gar nicht (.) gar keine Ahnung gehabt, wie’s überhaupt kommt. Die wussten zwar, der Damm ist gebrochen, aber dann haben die jeden Moment gedacht, jetzt kommt eine Riesen-, eine meterhohe Flutwelle“ (447–449). Wegen dieser Panik hätten die Leute alles im Stich gelassen. Dabei hätte es noch lange gedauert bis alles geflutet worden wäre – Zeit um die wichtigsten Sachen wegzuschaffen. Ob diese Darstellung Frau Köppels den Tatsachen entsprach, ist im Gunde gleichgültig. Interessant ist vielmehr, warum sie die Evakuierung der Niederung, von der sie nur vom Hören-Sagen wusste, so darstellte. Die Aufregung, die die Polizei in ihrem Dorf verursachte, deckt sich mit den Erzählungen der Evakuierten, auch hier gab es „Panik“. Außerdem aber hatten sich die Behörden und auch teilweise die Helfer als inkompetent erwiesen, sie hatten „keine Ahnung“. Das THW hatte auch nicht genug unternommen, um Schaden abzuwenden, wobei die THW-Mitarbeiter selbst jedoch ange-

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nehme Menschen waren. Letztlich war es auch nicht deren Schuld, dass sie so spät zum Einsatz kamen: „Also, es wurde ein bisschen zu wenig gemacht vom THW. Aber ich meine, beklagen kann ich mich auch nicht, waren alle nett und freundlich. Hilfsbereit waren sie auch wieder auf der anderen Ecke. Nicht? Denn dafür können sie ja nun auch nichts, dass sie hier nun zu spät eingesetzt wurden, nicht?“ (545–547). Bei ihnen am Haus wurden die Dinge sehr gut gesichert und die Probleme gelöst. Die Darstellung der Evakuierung und der Unterstützung durch Behörden und THW kommen als Erhärtung der breit kommunizierten These von den unzulänglichen Behörden und deren Hilfemaßnahmen daher. Gegenteilige Erfahrungen, wie die „netten“, „freundlichen“, „hilfsbereiten“ und wohl auch kompetenten THW-Mitarbeiter wurden durch deren Personalisierung als Ausnahmen neutralisiert. Die Behörden und deren Unfähigkeit wurden so zum Anderen der Gemeinschaft Betroffener, die sich so eine Adresse für ihre durch das Hochwasser ausgelöste Frustration schuf. Das Hochwasser wäre demgegenüber eine hochabstrakte Adresse gewesen, die keine Resonanz erwarten ließ. Aber die Behörden waren konkret benennbare Andere, wie der Landrat, denen man die negativen Attribute des Versagens und schließlich die Schuld am Desaster zuschreiben konnte. Aber Frau Köppel führt auch noch den schwerwiegendsten Vorwurf an, den die meisten Interviewten aus der Ziltendorfer Niederung zu nennen wussten, ihre Opferung. Frau Köppels Meinung nach hatte niemand damit gerechnet, dass der Deich brechen würde. Zu spät aber wurden überhaupt Maßnahmen zur Deichsicherung eingeleitet. Über die Ursache des Deichbruchs gab es damals nur Gerüchte, die darauf hinausliefen, dass der Rettung des Oderbruchs wegen der enormen Stärke des Hochwassers das Hauptaugenmerk der Einsatzstäbe gegolten hätte. Und darum wurde der Deich bei Aurith zerstört und zwar auf eine Weise, dass es niemand merkte. „Na ja, gerechnet hat eigentlich damit keiner. Die waren alle selbst überrascht, ja. Aber wo sie, möchte ich sagen, ganz toll überrascht waren, dass das bricht. Damit haben sie ja nun gar nicht gerechnet, dass das bricht. So. Und dann haben sie ja angefangen – dann hatten sie angefangen, mit LKW-weise zu fahren, mit Kies runter an der Oder, um die Dämme zu verstärken und da, wo Schwachstellen sind, aufzufüllen. Und, na ja, und dann sind ja die Leute, die selber da unten wohnen, ich nehme an, die werden auch runter gefahren sein zum Gucken, um Informationen so zu hören kriegen. Ja, und dann – ach, es wurde ja so viel hier gemunkelt. Es wurde ja gemunkelt – na, normalerweise haben sie ja getuschelt und gesagt, oder halt dieses Oderbruch, was sie da retten wollten, weil’s ja da auch so dick kam, nicht? Uns haben halt die unten da, also die haben in Aurith den Damm, als sie den gesprengt hatten. […] So dass du’s halt nicht mitgekriegt hast, nicht? Weil eine Sprengung hättest du ja mitgekriegt. Wenn’s eine richtige Sprengung vielleicht gewesen wär’, dass sie vielleicht da irgendwas gemacht haben. Da sind ja trotzdem nicht gleich

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alle abgehauen, nee. Dann war das da in Finkenheerd der erste, hier unten der zweite, der nachher in Aurith, das war dann der dritte, nicht? Und in Finkenheerd der letzte, das war der vierte ja. Das waren die vier, ja (.)“ (464–476). Nicht nur eine geheimnisvolle Sprengung ereignete sich in der Erzählung Frau Köppels, sondern gleich vier. Dass sich niemand, einschließlich der Behörden, eine Überflutung überhaupt vorstellen konnte, nährte den Zweifel daran, dass die Überflutung tatsächlich ein unvermeidbares Ereignis war. Zunächst wurden die Abwehrmaßnahmen zu spät eingeleitet. Weil es keine Informationen gab, war man auf Gerüchte angewiesen. Mitsamt der Geschichte um die Auseinandersetzung der Bürgerinitiative mit dem Landrat wegen der Sprengung eines künstlichen Abflusses durch den nördlichen Deich wurde die Sprengung zur viermaligen Gewissheit. Dass diese Sprengungen niemand hörte, galt nur noch als Indiz für die behördliche Sabotage am Deich. Als Hinweis auf den Wahrheitsgehalt dieser Deutung galten Frau Höhler unterschiedliche Bilder von den Schäden an den gebrochenen Deichabschnitten, die sie während des Interviews zeigte. So hinterließ das Wasser beim Aurither Deichbruch ein sehr großes Loch von acht Metern, das ihr ganz unerklärlich war: „Das ist alles weggerissen unten. Alles überschwemmt hier. Das ist alles das Loch. Ja, der hatte doch einen riesengroßen Krater da reingerissen, da unten. […] Riesengroßen Krater reingerissen hier, von acht Meter Tiefe soll das sein. Also ist das, ist das ganz spanisch, dass der soll nur den Damm weggerissen haben. Ja? Durch dieses, durch das Wasser. Und dann mit acht Metern tief ausgespült haben, also ist das – ich weiß es nicht, das ist für mich ganz spanisch. […] Wie der dann soll so acht Meter Tiefe nur den Damm wegreißen und den acht Meter tief den aus (.), ja, da so ein Loch reinhauen. Sagen Sie mal, wo hatten wir denn das hier?“ (735–743). So nimmt Frau Köppel auch den Interviewer solidarisch in ihr Deutungsgebot hinein, fuhr in diesem Sinne weiter fort, um verwundert zu schließen: „Na ja, und dann braucht man sich nicht so wundern, wenn die Leute munkeln (.), nicht?“ (764–765). Sie selbst stimmte diesen Leute in gewisser Weise zu, dass nämlich die Ziltendorfer Niederung für das Oderbruch herhalten musste: „Na ich, weiß ich nicht, ich muss den Leuten Recht geben irgendwie. Dass die uns haben hier wirklich so, wie sie – wie nicht ich bloß alleine denke, wie die anderen auch denken, die haben uns hier wirklich absaufen lassen, um (das) Oderbruch zu retten“ (467–469). Denn beim Finkenheerder Deich, der zuerst gebrochen war, gab es kein so großes Loch, dafür waren Bäume umgeknickt. Da fragte sie sich, wie das sein kann, dass der Deichbruch nicht auch so ein Loch hinterließ: „Ja, also das weiß ich nicht. Ich weiß es nicht. Kann ja sein, dass sich da –“ (808). Wie auch immer die Deichbrüche letztlich zustande gekommen sind, Frau Köppel war sich sicher, dass im Fall eines Deichbruchs im Oderbruch das Ausmaß der Flutkatastrophe

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dramatischer geworden wäre, weil viel mehr Menschen betroffen gewesen wären. Und so hat sie auch mit dem Oderbruch mitgebangt: „Ich meine, […], da haben sie schon gekämpft, hab’ ich ja auch immer mitgefiebert, damit das da dann nicht knallt, obwohl ich hier ein bisschen verwundert war, dass es nur bei uns hier geknallt hat. Aber es kann nun keiner was dafür, nicht“ (1346–1348). Frau Köppel präsentierte hier ein Deutungsangebot, das nicht von ihr stammt, sondern das sie lediglich aufnahm. Die meisten Interviewten berichteten diese Geschichte als schon bereits kommunizierte, der sie sich bloß anschlossen. Wer kam da eigentlich selbst drauf? Die so anonymisierte Meinung einer scheinbaren Mehrheit offerierte Gemeinschaftszugehörigkeit durch Bejahung eines Selbstverständnisses als Opfer. Diente die negativ konnotierte Darstellung der Behörden als antithetische Darstellung von Gemeinschaftswerten, bot die Geschichte von der Deichsprengung und Rechtfertigung die Möglichkeit zur positiven Sinnbestimmung. Die Überfluteten wurden nicht Opfer von nur fern zu beeinflussenden Umständen, sondern von bewusster Manipulation, um einen anderen, höher gewerteten Landstrich zu retten. Die Abwesenheit von Beweisen galt als der beste Beweis. Aber so war die idiosynkratische Sinnkonstruktion auch am besten gegen eventuell widersprechende Erfahrungen zu sichern. Wenngleich Frau Köppel auch einen scheinbaren Nachweis für die Wahrheit der Opfergeschichte aufbrachte, offenbarte sich diese als Mythos. Das Wissen um die tatsächlichen Geschehnisse blieb bis hin zur Beschreibung eigenen Erlebens und eigener Anschauung vage.55 Umso deutlicher tritt der orientierende, der erklärende Charakter der Geschichte um die Opferung für das Oderbruch hervor. Erst unter diesen Umständen waren die Einwohner der Ziltendorfer Niederung, selbst wenn die Geschichte von Herrn und Frau Benzler ohne Sprengung auskam, in der Lage, das Geschehene mitsamt unterstellter behördlicher Geheimniskrämerei zu akzeptieren. Sie brachten ein notwendiges Opfer zur Vermeidung größeren Elends, das sie freiwillig nicht hätten bejahen können. Diese Selbstbeschreibung konnte ohne Zweifel auf tatsächliche Anlässe zurückgreifen, jedoch band Frau Köppel all diese Anlässe hinsichtlich ihrer Konsistenz ein oder schloss diese zum Beispiel durch Personalisierung aus. Mangelhafte Informationspolitik begünstigte diese Konstellation. Aber diese Gemeinschaftsbildung erscheint im Gegensatz zur aktiven in den Geschichten aus dem Oderbruch als rea-

55 Und das unabhängig vom sprachlichen Vermögen! An anderer Stelle ist Frau Köppel sehr wohl in der Lage genauere Beschreibungen abzugeben. Mit wenig Mühe hätten sich Alternativen für die Sprengungsgeschichten finden lassen, denn die Regionalpresse (MOZ 1998) bot unter anderem Erklärungen für das Zustandekommen der tiefen Ausspülungen, wie beim Aurither aber auch beim Hohenwutzener Deichbruch im Oderbruch. Darum spielte der Erklärungsansatz Herrn Benzlers im Sinne bewusster Vernachlässigung wesentlich subtiler der Geschichte von der Opferung zu.

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gierende, passive. Jedoch half auch sie bei der Bewältigung der Krisenerfahrung des Oderhochwassers. Als mittels der selbstgesetzten Pegel klar wurde, dass das Wasser in der Niederung seinen Höchststand hatte und nicht mehr weiter steigen würde, beobachteten Benzlers die rasche „Normalisierung“ des Alltags der meisten nichtbetroffenen Dorfbewohner. Zunächst wurden weitere Räumungen gefährdeter Häuser eingestellt. Lediglich ihren Keller hatten Benzlers noch völlig ausgeräumt. Danach trat dann Ruhe ein, die Frau Benzler noch mehr zu schaffen machte als die Anstrengungen der letzten Tage. Denn sie traf dann Leute im Dorf, für die alles wieder in den gewohnten Bahnen verlief. Das konnte sie nicht fassen: „Und da hab ich die Leute getroffen, und es war Alltag. Und das hab ich nicht verkraftet. […] Und ich hab gedacht, ich muss in die Nervenklinik. Hallo, und ein Witz und bub und ich konnte überhaupt noch nicht loslassen. Weil ich mich so integriert hatte als (.). Kann ja nur jeder für sich sprechen“ (Benzler 1865– 1870). Frau Benzler steckte noch mitten in der Hochwasserkatastrophe, obwohl ihr Haus letztlich gar nicht betroffen war. Sie war weniger parallelisiert von den anstrengenden vergangenen Tagen als von den aktuellen Begegnungen mit Dorfbewohnern. Schockierend kontrastierte deren Teilnahmslosigkeit zu Frau Benzlers Rolle als Helferin, mit der sie sich „integriert“ hatte. Das Engagement folgte ihrer Integration als ein Mitglied der Betroffenengemeinschaft offensichtlich nach. Diese Gemeinschaft aber war – und das war wohl der Grund für das Schockartige ihres Erlebnisses – eine Partikulargemeinschaft, die mit der Gemeinschaft des Dorfes oder sogar der Niederung ganz offensichtlich nicht übereinstimmte. Für sie war klar, dass ihr „integrierendes“ Engagement noch nicht zu Ende war, weil sie mit den Geschädigten noch beruflich zu tun haben würde. Deshalb kümmerte sie sich weiter um jene, indem sie zum Beispiel Notquartiere besorgte. Nur die anderen lebten schon wieder ihr normales Leben. Über die Katastrophe des Hochwassers war nicht zu reden, sondern es wurde gleich auf Alltägliches und Belangloses umgeschalten, was in Frau Benzlers Bericht wie Luft klang: „Und und und, und für jedermann war Alltag. Und wenn Du nur den Versuch gemacht hast, das anzusprechen, ach, was willste denn und ja hmm, war schlimm, ok, und – pfhh! – wie geht’s sonst, wie isset Wetter?“ (1874–1877). Das war nicht gut, so fühlte sie es. Während der Zeit des Hochwassers musste sie oft an Krieg denken, weil sie die Ereignisse als so schlimm empfand. Da hatte sie Vorstellungen, dass nun alle aufeinander zugehen und zusammenstehen würden, „vielleicht war das ein Wink vom lieben Gott, dass die Leute sich wieder auf sich selbst besinnen“ (1898–1899). Aber das Gegenteil von dem trat ein. Am Tag, als das Wasser nicht weiter stieg, war alles wieder plötzlich wie zuvor: „Und ab Sonntag früh, also kannst sagen, innerhalb von Stunden war für alle heile Welt“ (1899–1900). Die Leute zogen wieder übereinander her und

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pflegten ihre gegenseitigen Antipathien. Damit wusste sie nichts anzufangen. Der Grund dafür war, pflichtete ihr Herr Benzler bei, dass diese Leute schon gar nicht bei den Bemühungen um die Abwehr des Hochwassers dabei waren: „Weil sie nicht geholfen haben. Weil sie nicht bei waren richtig. Weil sie’s gar nicht interessiert hat. So nah dran. Aber bei ihnen, sie hatten’s ja nicht, trotzdem“ und Frau Benzler ergänzte, dass die Leute „insofern kein schlechtes Gewissen“ gehabt hätten (1906–1908). Die meisten Nichtbetroffenen sahen von zu Hause, beim Spazierengehen oder Fahrradfahren nur zu, wie sich die anderen auf dem Sandsackplatz abmühten, erklärte Frau Benzler: „Aus dem Fenster gucken können, wenn ich die da alle am Sandsack, da die Leute vorbei gegangen, mit Fahrrad spazieren gefahren. Musste mal direkt vorstellen. Das ist der Dorfplatz, das war eins, du das war kein Unfallwagen. Da sind Tausende von Kindern gerannt, Sandsäcke geschippt“ (1915–1918). Die Hochwasserkatastrophe betraf in ihrem Dorf lediglich eine Minderheit, denen nur wenige wie die Benzlers beisprangen. Die anderen Leute liefen aufgeputzt herum und selbst war man dreckig, hungrig und müde, denn es gab kaum Gelegenheiten zum Waschen oder Essen. Später war das erste ausgiebige Bad eine Wonne, erzählte Herr Benzler. Beide Benzlers warfen hier ein deutliches Schlaglicht auf ihre große Enttäuschung im Dorf. Beide waren als Helfer eingerückt in die Reihe der Betroffenen. Deren Sache machten sie sich zueigen, obwohl sie gar nicht betroffen waren, was sie im Grunde von Anfang an annahmen. Nur durch dieses Mitmachen konnte man jedoch überhaupt die Idee einer gemeinschaftlichen Einheit bekommen, wie sie sich Frau Benzler ausmalte und auf dem Sandsackplatz wohl auch erlebt hatte. Als mit dem Ende des steigenden Wasserpegels sich diese Hoffnung als Illusion entpuppte, überraschte Frau Benzler mehr als das Hochwasser. Für sie offenbarte sich hinter der Illusion ein Riss durch die Dorfgemeinschaft, den sie an anderer Stelle noch deutlicher beschrieb. Herr Benzler nannte den Schlüssel für die Gleichgültigkeit der Nichtbetroffenen gegenüber den Flutopfern und Helfern: Sie waren nie bei der Notgemeinschaft dabei gewesen. Weil sie die Katastrophe nicht auf sich bezogen, sondern Abstand in der Nachbarschaft einhielten, konnten sie die Konstitution dieser Gemeinschaft nicht miterleben, ging sie diese auch nichts an. Die persönlichen Differenzen wurden darum auch nicht suspendiert, sondern lediglich in Ruhe gelassen, bis der emotionale Druck auch von ihnen im sich einstellenden alltäglichen Einerlei nachließ. Denn das Wasser war ja da, nun konnte man nur warten, dass es langsam wieder zurückging. Für Benzlers wurde aber mit dieser Passivität dieser Nichtbetroffenen nun klar, dass sie sich noch nie an der Gemeinschaft beteiligt hatten, dass sie nie „richtig bei waren“. Diese Leute erschienen als Fremde, die aufgrund ihres Abstandes frei von Pflichten gegenüber der Gruppe waren. Der Fremde tritt von außen als ein Gegenüber

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in Interaktion mit der Gruppe. Der Fremde teilt nicht die Erfordernisse und Ansichten der Gruppe, weil er sich außerhalb dieser befindet und insofern mehr Objektivität beanspruchen kann. Als jemand, mit dem man entlang universaler Wertgeltungen kommuniziert, nimmt der Fremde nicht an der partikularen Wertgeltung teil. Der Fremde tritt dann als allgemein Anderer auf und ist deshalb nicht wirklich ein Individuum.56 Aber wenn Leute vom Dorf der Dorfgemeinschaft als Fremde gegenübertraten, dann war die Dorfgemeinschaft, wie sie Benzlers kannten, zerbrochen. Frau Benzlers Normalisierungsschock gründete darum in der Enttäuschung ihrer Erwartung an diese Gemeinschaft, die im Kern aus ihrem Netzwerk von Freunden und Bekannten bestand. In dieser Situation gab Frau Benzler ein Interview, was eine Woche zuvor noch unwahrscheinlich gewesen wäre. Während der Tage am Deich, auf dem Sandsackplatz und beim Räumen waren den Benzler die Journalisten ein Ärgernis. Als Herr Benzler das erste Mal mit Journalisten zusammentraf, war er gereizt, weil diese überall im Ort herumliefen und mit ihren Autos die Strassen verstopften. Die Freiheit der Medien hielt auch er hoch, aber nicht in einer Krisensituation. Als er dann einem Journalisten damit drohte, dass dessen teures Gerät Schaden nehmen könnte, merkte er jedoch, dass er damit zu weit ging. Entschuldigend merkte Herr Benzler an, dass er wegen seines Schlafdefizits überreizt war. Zwar wurden die Einwohner der Ziltendorfer Niederung durch die Journalisten zu massenmedialen Ereignissen, aber damit waren Benzlers zumindest anfangs nicht einverstanden. Die Journalisten wollten immer die dramatischsten Momente einfangen, während sie die Helfer bei ihrer eigentlichen Arbeit behinderten. Die massenmedial produzierte Doppelung der Situation provozierte Reflexion, die die Koordination des Handelns mit den Erfordernissen dieser Situation behinderte. Dadurch störten die Journalisten noch mehr, als dass sie bloß im Wege standen. Später lernten Benzlers eine Journalistengruppe besser kennen. Ein Journalist erklärte ihnen, warum ihre Berichte notwendig seien. Mit diesen hätte der Spenden-Motor erst zum Anspringen gebracht werden können. Wenn sich da alle nur meckernd abwenden würden, wollte auch kein Medienkonsument mehr helfen. Frau Benzler war darum auch nicht mit den Mediendarstellungen unzufrieden, sondern mit den Reaktionen, die sie im Dorf aufgrund ihres Interviews nach dem Normalisierungsschock erfuhr. Obwohl sie sich sehr bemühte, niemand zu nahe zu treten, reagierten die Leute gereizt. Herr Benzler hatte darum bei seinen Interviews Befürchtungen, falsch anzukommen. Er hatte das Gefühl, seine Äußerungen kaum kontrollieren können, wenn plötzlich ein Mikrofon vorm Gesicht auftauchte. Das war er nicht gewohnt und darum konnte er sich gar nicht so schnell fassen: „Na, ist ja gar nicht so einfach, das überhaupt dann zu geben. Kriegst Mikrofon. Da fängst ja schon wieder an zu denken. Trau ich mir det, was sag ich 56 Dieser Begriff des Fremden findet sich bei Simmel (1958: 509 ff.).

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denn? Oder wie weit gehe ich oder wat? Ist gar nicht so einfach“ (512– 515). Aber dieser temporäre Verlust der Kontrolle im Unvertrauten war im Grunde kein Problem. Das eigentliche Problem entstand erst im FremdWerden aufgrund des Normalisierungsschocks und der ablehnenden Reaktionen der vertrauten Dorfbewohner. Obwohl viele Bekannte mit bestimmten Verhaltensweisen einiger Dorfbewohner nicht einverstanden waren, waren all jene Differenzen schnell vergessen. Frau Benzler hingegen sprach das in verschiedenen Interviews an. Als sie dann von jenen Leuten geschnitten wurde, konnte sie damit gut umgehen. Aber niemand sonst hatte seine Meinung geäußert. Aber gab es für sie überhaupt Anlass dazu? Mit dem Stillstand des Hochwassers endete auch der Zustand der Bedrohung. Diejenigen, deren Häuser überflutet wurden, hatten den angedrohten Schaden bereits erlitten, die anderen blieben verschont. Darum mussten die einen wie die anderen unterschiedliche Probleme lösen. Die einen kümmerten sich um Entschädigungszahlungen und Reparaturen, die anderen um die Wiederherstellung alltäglicher Abläufe, wobei sich beide Gruppen gegenseitig als die Anderen wahrnahmen. Entsprechend formulierten sie ihre gemeinschaftlichen Selbstzuschreibungen, nämlich als Flutopfer oder als Verschonte. Nur Benzlers, die sich an einer regionalen Gemeinschaft jenseits dieser beiden Gruppen orientierten, waren mit ihrer Formulierung weitgehend allein. Die nachfolgenden Berichte über die Mühen von Einwohnern und Helfern entlang des Deiches im Oderbruch verfolgten auch Benzlers mit gemischten Gefühlen. Die Betroffenen der Niederung fühlten sich als Opfer zur Bewahrung des Oderbruchs, was schon als Gerücht gleich nach dem zweiten Deichbruch kursierte, bemerkte auch Frau Benzler. Das war auch Thema bei den anschließenden Diskussionsrunden mit Politikern und Verantwortlichen, und im Fernsehen meinten sie, Hinweise darauf gesehen zu haben. Als das Wasser in der Niederung zum Stillstand kam, nahm sich Frau Benzler die Zeit und verfolgte Berichte über das nördliche Oderbruch. Dort liefen die Arbeiten am Deich viel besser ab, stellte sie fest. Da hatte sie wieder den Verdacht, dass die Koordination in der Ziltendorfer Niederung vielleicht absichtlich so defizitär war. Jedoch hatten die Behörden ja auch anhand des Verlaufes in ihrer Region für das Oderbruch lernen können. So wäre dort allein schon ein viel größerer technischer Aufwand betrieben worden, ergänzte Herr Benzler. Denn niemand hätte sich die Überflutung des Oderbruchs leisten können, die Spenden allein hätten nicht für beide Regionen ausgereicht, das wäre ein Staatsakt geworden. Aber da sollten die Leute der Niederung doch dankbar sein und nicht nur immer schimpfen. Das kann Herr Benzler schließlich einklagen: „Kann man sich so drüber ärgern. Weil wir doch wirklich mitgekämpft haben, ganze Nächte lang durch“ (2007–2008). Als die Katastrophe über die Ziltendorfer Niederung im Wesentlichen in zwei Stufen hereinbrach, nämlich durch die Deichbrüche zuerst bei Fin-

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kenheerd und später bei Aurith, traten zwei Themen in den Erzählungen der Interviewten deutlich hervor. Zum einen stand ihr Selbstverständnis ein weiteres Mal angesichts der Umstände in Frage, zum anderen wurde die Schuldfrage nun explizit als Ursachenklärung für das Eintreten der Deichbrüche diskutiert. Die individuellen Reaktionen auf die Nachricht und vor allem auf das Erleben der Überflutung, ob nun als heranrückendes Wasser, beim Besuch des überfluteten Hauses oder sogar bei Nachrichten im Fernsehen, schwankten zwischen trotziger Selbstbehauptung und Verzweiflung. Ironie und Tatkraft erfordern ein enormes Maß an Selbstbeherrschung. Hierbei erlebten sich die Interviewten immer als Handelnde unter der Maßgabe eigenwilliger Bewertung der Umstände und Verfolgung selbstgewählter Ziele. Diese Selbstbeherrschung brach in Momenten der Ruhe zusammen, also immer, wenn kein äußerer Anlass zur Verfolgung kurzfristiger Ziele gegeben war: in der Stille der Nacht, passiv vor dem Fernseher oder an der Haustür. Das Ereignis geschieht, aber die Bestimmung des Sinns fokussiert nur auf die Katastrophe, die, ob als solche verweigert oder akzeptiert, auf das Ende von weiteren Anschlüssen hinausläuft. Emotionale Schemata werden dann aktiviert, die als Formen von Verzweiflung beschrieben wurden, in denen sich die Interviewten gelähmt, völlig handlungsunfähig fühlten. Dann erlebte man nur noch das Ereignis und sich selbst mitten drin. Nur bei Frau Benzler gab es einen anderen Moment der Verzweiflung, der sie an ihrer geistigen Gesundheit zweifeln ließ, ihr Normalisierungsschock. Die Familie ist in allen Berichten und Erzählungen das erste und wichtigste Netz, denen sich Freunde schnell anschließen. Hier wurde fraglos Solidarität erwartet und in keinem Fall enttäuscht. Die Sorge umeinander, die Unterstützung füreinander und Treue wurden hier als Tugenden genannt, die von hier aus auch auf den weiteren sozialen Kontext der Freunde und Bekannten und des Dorfes übertragen und erwartet wurden. Berichteten hier alle über positive Erfahrungen, gaben sich Benzlers enttäuscht, denn sie bezogen sich auf die Gemeinschaft in der Region, wo sich die Erwartungen genauso wenig erfüllten wie bei einem Teil ihres Bekanntenkreises. Waren Benzlers Erwartungen unrealistisch? Wie kamen sie überhaupt darauf? Aber auch bei Frau Höhler und bei Frau Köppel deuteten sich Misstöne hinsichtlich der Regionalgemeinschaft im Zusammenhang mit der Diskussion über die Vergabe von Aufbaumitteln an. Was hatte es mit den Gemeinschaftsbezügen in der Ziltendorfer Niederung auf sich? Anhand von zwei Themen, die bisher in allen Erzählungen und Berichten aus der Ziltendorfer Niederung ausführlicher zur Sprache kamen, wurden die Grenzen zu den partikularen Wir-Gemeinschaften markiert. Das waren die Helfer und Verantwortlichen einerseits sowie der Mythos der Opferung der Niederung andererseits. Beide Themen liefen mit dem Ereignis der Deichsabotage zusammen. Die Vernachlässigung durch Helfer und Verantwortliche und die eigene Hilflosigkeit gegenüber dem Ereignis

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gewannen mit der Sabotage der Deiche als Opferung für die nördliche Region einen positiv aufzugreifenden Sinn. Die Gelder für den Aufbau lassen die Geschichte im Nachhinein erst recht als ein romantisches Ereignis erscheinen, bei dem gegen die widrigen Umstände am Ende doch ein Triumph zu konstatieren war. Darum hielten die Leute so sehr daran fest, wie sehr die Fakten auch dagegen sprachen. Die entsprechende Erzählung Herrn Benzlers stach hervor, weil sie subtiler war. Hier erschien der Mythos im Einklang mit den Fakten, weil die Opferung als gewolltes Ergebnis vorsätzlicher Vernachlässigung beschrieben wurde. Aber die Solidaritätsgelder führen nachdrücklich auch ein tragisches Moment in die Geschichten ein, was schon überdeutlich im Bericht von Benzlers hervortrat, nämlich die Spaltung der Gemeinschaft. Die Berichte aus der Aufbauzeit können zeigen, inwiefern diese Frustration gegenüber der Gemeinschaft allgemeiner Natur war.

Aufräumen als Neuanfang Als das Wasser zum Stillstand kam und die Ziltendorfer Niederung sich in einen grotesken See mit Alleebäumen und Inseln aus Häuserdächern verwandelte, fuhren Jacobis während der nächsten drei Monate beinahe täglich von ihrem Notquartier aus zu ihrem Haus. Das Leben ging weiter: Ihre Katze hatte während dieser Zeit geworfen und so mussten sie sich nicht nur um ihre Habseligkeiten, sondern auch um den Katzennachwuchs kümmern. Dann war das Wasser weg und das Aufräumen konnte beginnen. Das Wichtigste war, dass das Haus trocken wurde, berichtete Herr Jacobi. Es musste alles ausgeräumt und gelüftet werden. Dazu wurde der Putz von den Wänden geklopft, und als Mitte September der Keller wasserfrei war, konnte auch die Heizung angeschaltet werden. Von überall her hatten sie Unterstützung: „Freunde, Helfer, Kinder, Verwandtschaft. Also, in der Not haben wir och mal jesehn, wie viel Freunde wir haben“ (Jacobi 347–348). Diese Gemeinschaft gründete nicht auf die geographisch umrissene Region der Ziltendorfer Niederung, sondern auf Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die Leute kamen aus Orten über die Niederung hinaus als Besuch, aber dann halfen sie auch noch mit. Ein Tischler machte die Hoftüren, ein Bauunternehmer besorgte unter anderem jene für das Haus. Herr Jacobi half diesem wiederum bei anstehenden Landarbeiten. In ihrer Bedrängnis offenbarten sich die Freunde, und Jacobis staunten, wie viele es doch waren. Sogar Unbekannte, wie die Arbeitskollegen eines Sohnes kamen, um zu helfen. Damals begann Frau Jacobi mit Aufzeichnungen, um die Ereignisse nicht zu vergessen. Sie erinnerte sich noch, dass es im Haus wegen der nassen Wände trotz der Heizung und des warmen Spätsommers sehr kalt war. Das hatte sie besonders gespürt, weil sie die zahlreichen Helfer mit Essen versorgte und darum oft in der Küche stand. Aber das waren die Ja-

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cobis denen ja auch schuldig. Alle brachten Möbel und Geschirr mit, weil im Haus kaum noch etwas zu gebrauchen war. Jetzt zahlte es sich aus, wenn auch anders als gedacht, dass sie noch vor der Evakuierung den Gaskocher auf dem Boden versteckt hatten. Während dieser Zeit war die Luft voller Mücken und modrigem Geruch, den das Oderwasser hinterlassen hatte. So erinnerte sich Herr Jacobi, dass er deswegen dauernd husten musste. Da wunderten sie sich während des Erzählens, wie sie diese Zeit überstanden haben. Ihnen blieb nichts weiter als ein sanierungsfälliges Haus. Ende November bekamen sie dann endlich wieder eine ordentliche Tür. Seitdem konnten sie auch wieder in einem nichtunterkellerten Zimmer ihres Hauses wohnen, dass sie mit einem alten Sofa von den Kindern ausstatteten. Dabei hatten sie es eilig, wieder in ihr Haus zu ziehen, denn sie wollten nicht mehr täglich zwischen ihrem Notquartier und der Baustelle pendeln. In ihrem Haus mussten sie sich jedoch erst wieder einleben. Durch die Überflutung war alles durcheinander geraten. Nichts hatte mehr seinen alten Platz und auch die Erinnerung an die alte Ordnung der Dinge schien vom Oderwasser weggespült zu sein. So musste Herr Jacobi sich alles neu erobern: „Jetzt fängt sich’s ja bald an zu generieren, regenerieren hier oben wieder“ (436–438). All die benötigten Werkzeuge waren irgendwohin verschwunden und wenn man sie fand, waren sie von einem gelben Rostfilm überzogen, der ihren Aufbauhelfern noch Monate später an den Fingern klebte. Aber sie wollten in ihr Haus zurück: „Wir wollen hier […] erst mal ’n bisschen menschlich wieder wohnen, ne (..) ja (...)“ (446–448). Jacobis gelang das, weil sie noch eine aus DDR-Zeiten übernommene Versicherung hatten, die auch Hochwasserschäden abdeckte. Mit dieser Summe und den Spenden stand schnell und problemlos Geld zur Verfügung, wobei sie von der Solidarität der Deutschen beeindruckt waren. Damit konnten sie den Neubeginn wagen, wobei sie aufpassten, alles genau einzuteilen, um ohne Kredit zurechtzukommen. Mit Hilfe der Spendengelder gelang ihnen das, wenn sie auch gegenüber den Spenden-Paten jede Mark belegen mussten. Der Aufbau war für Jacobis aber sowieso ein Neuanfang, der ordentlich, verantwortungsvoll beginnen sollte: „Ne, wir haben unser Leben neu jestaltet, dass wir keene Schulden haben, dass wir immer ruhig schlafen können. Nicht, dass nicht eener an, an de Türe klopft: ,Pass mal uff!‘, nicht. Und wie schnell geht das heutzutage! Und das woll’n wir vermeiden“ (984–986). Darum verglichen sie zum Beispiel die Möbelpreise aufwendig, um möglichst günstig einzukaufen. Brauchbares wurde ebenfalls genutzt, denn das neue Hoftor, welches anstelle des fortgeschwemmten den Hof abschloss, entstand aus den alten Dielen des Hauses. Und auch die Helfer waren eine Ersparnis. Wenn sie so keine Schulden machten, bewahrten sie nicht nur sich, sondern letztlich auch der Gemeinschaft aus Familie und Helfern deren finanzielle Unabhängigkeit. Jedoch hatten sie sich manche Geldquelle entgehen lassen, von der sie immer erst erfuhren,

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wenn es schon zu spät war. Denn nur die Wissenden bekamen auch etwas ab. Doch bekamen sie ohnehin genügend Geld für die Renovierung ihres Hauses und konnten sogar noch eine neue Heizung einbauen. Andere hatten da mehr Pech, denn die mussten ihr Haus abreißen, hatten sie doch allein ihre Heizungstanks nicht fachmännisch sichern können. Bis Ende November war die neue Heizung im Haus eingebaut, bis Weihnachten die Elektrik installiert. Dann hatten sie auch einen Weihnachtsbaum und später feierten sie mit den Nachbarn, die neu bauen mussten, gemeinsam Silvester. Am Neujahrstag ging es gleich weiter mit der Renovierung bis zum Februar. Trotz der widrigen Umstände regte sich das Leben im Haus der Jacobis. Helfer und Geld aus Versicherung und Spenden ermöglichten diesen Neuanfang. Zwar hatten sie Chancen für manche zusätzliche Finanzspritze verpasst, aber letztlich waren sie mit dem zufrieden, was sie an Geld bekamen. Denn ihnen wurde ja von so vielen geholfen. Und so, wie die sich für sie engagierten, fühlten sie sich jenen gegenüber verantwortlich. Diese gegenseitige Solidarität zu erfahren, machte sie froh. Die Zeit drängte, denn sie wollten noch vor dem Winter wieder zurück in ihrem Haus sein und wieder „menschlich wohnen“. Ihnen ging es in ihrem Notquartier nicht schlecht, aber dort waren sie eben nicht bei sich zu Hause, nicht als selbstverantwortliche Menschen im Reich ihrer Intimität. Während der Aufbauzeit bekamen sie auch immer wieder Besuch von neugierigen Bekannten und Fremden sowie von Journalisten. „Also dis fand ich denn doch ’n bisschen zu kurios (..). […] Na, na. Hier war vieles komisch, möchte ich mal sagen“ (629–632), erinnerte sich Frau Jacobi. Denn so mancher von denen trat recht fordernd auf, sich das Haus ansehen zu dürfen. Als das Drängen der Journalisten überhand nahm, wies Herr Jacobi sie brüsk ab. Mit der Zeit verging sein Ärger darüber, aber es blieb doch etwas zurück: „Ja, und auch die Zeit heilt denn och wieder die Wunden, aber Narben, jede Wunde hinterlässt Narben, ne?“ und Frau Jacobi ergänzte: „Ja, und in dem Alter verkraftet man dis sowieso nicht mehr so wie vielleicht ’n junger Mensch, möchte ich mal sagen. Ist doch nicht (.) mehr wegzuwischen“ (641–644). Die ungebetenen Besucher, die von Neugierde getrieben ihr Mitleid verteilten, ihre Augenlust mit dem Fotoapparat befriedigten oder eben auf die Betroffenheit der Jacobis aus waren, schienen ihre Emotionen auszubeuten. Andererseits konnten diese auch als Ventil für ein wenig Schicksalshader benutzt werden, wie Herr Jacobi es mit den Journalisten machte. Aber deutlich wurde, dass diese Leute die Barrieren zwischen den bedrückenden Erinnerungen an die Katastrophe und der hoffnungsfrohen Zeit des Aufbaus einreißen konnten. Wenn auch ihre Bitterkeit vergangen war, erinnerten sich Jacobis noch an deren Geschmack. Schließlich wurden aber auch sie zu Medienpersönlichkeiten, als sie Besuch vom Ministerpräsidenten Brandenburgs bekamen. Gerade als Herr

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Jacobi mit einem seiner Söhne Putz vom Haus abklopfte, kam der Ministerpräsident mit seiner Karawane von Begleitern inmitten des ganzen Chaos. Diesen Besuch hatte ein politisch engagierter Nachbar organisiert und geführt, der später ihre örtliche Bürgerinitiative gründete. Der Ministerpräsident umarmte sie dann zum Abschied und wünschte ihnen Kraft zum Durchhalten. Aber das hatte sie nicht sonderlich beeindruckt, denn so schnell wie der kam, war er auch wieder weg. Auch kamen andauernd Leute und wünschten ihnen alles Gute. Im Fernsehen waren sie zu sehen, wie sie mit ihrem Dutzend Helfern um den Tisch herum versammelt waren und Herr Jacobi wegen der fehlenden Stühle auf einem Klobecken saß. Da wurde auch die Fluchtgeschichte mit dem roten Traktor erzählt. Das waren alles Anlässe für ein paar Scherze, wenn man Bekannte traf, aber ansonsten fanden Jacobis es eher uninteressant, sich selbst im Fernsehen zu begegnen. Wenn sich die Jacobis auch gegen den Ansturm des Medieninteresses zunächst zur Wehr setzten, gaben sie das eine oder andere Interview. Das hing wohl ganz vom Auftreten des Journalisten ab. Zur selben Kategorie von Ereignissen, bei denen sich externe Interessen aufdrängten, zählte anscheinend auch der Besuch des Brandenburger Ministerpräsidenten, von dem ganz bewusst in nonchalanter Art erzählt wurde. Aber dass diese Episode ausführlich geschildert wurde, zeigt auch, dass Jacobis sie gern präsentierten. Jedoch gaben sie sich hinsichtlich der angetragenen Prominenz in den Medien und der Politikeraufmerksamkeit ganz uneitel. Das war ihnen letztlich nicht wichtig, sondern lediglich Anlass für eine ironisierende Erinnerung an die Zeit in Bedrängnis, die nun mit Scherzen verwunden werden konnte. Diese Erinnerung fand so ihren Platz in der Gemeinschaft, wo sie Gelegenheit zur Konfirmierung bekam. Durch begleitende Events war das nicht möglich. Während der Wiederaufbauzeit lebte Frau Höhlers Familie weiterhin in der Wohnung in Eisenhüttenstadt. So oft es ging, fuhren sie nach Hause, um dort alles wieder in Ordnung zu bringen, so dass sie bis Weihnachten wieder einziehen konnten. Diese Zeit war anstrengend, denn oft musste sie allein die Arbeiten koordinieren. Aber da es auch ein Weg zurück zum gewohnten Alltag war, fand sie die Kraft dazu. Der enorme finanzielle Ausgleich war dabei sehr hilfreich, wenngleich immer noch viele, langwierige Aufgaben zu erledigen waren. Das wog auch das Geld nicht auf, und darum war sie froh, dass die Überflutung ihres Hauses eher glimpflich verlief. Nur kurz wurde ihr Aufbaueifer durch die Diskussion um die Zukunft der Niederung als Polder, also als Ausweichfläche für zukünftige Hochwasser, getrübt, jedoch war das schnell vom Tisch. Dann hieß es, andere Gegenden seien dafür besser geeignet. Während der ersten Übernachtung nach der Flut zu Hause erinnerte sie die vergangenen Ereignisse seit dem Ende ihres Urlaubs so intensiv, als ob sie alles ein zweites Mal durchleben musste. Auch Bilder und Videos über

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das Oderhochwasser, die sich Frau Höhlers Familie besorgte, hatten diesen Effekt; und so bereitete ihr das Interview ebenfalls ein wenig Unbehagen: „Ich hab en ganz flaues Gefühl im Magen, ja. Und man lebt jetzt ganz anders da, nach der Katastrophe, wie vorher, ja, wie vorher. (..) Es, es is’ en ganz, ganz andere Erfahrung, ja“ (Höhler 363–365). Ihr Leben hatte sich wie nach einem Unfall verändert. So als ob ihre Sinne für ihre Umwelt geschärft wurden, interessierte sie sich seitdem für den Zustand des Flusses. Dankbar war Frau Höhler, dass ihre Tochter von der Aufregung während der Zeit der Evakuierung und des Aufbaus meistens verschont blieb. Erst als das Wasser zurückgegangen war, kam sie wieder heim. Bis dahin blieb sie in Eisenhüttenstadt. Einmal war sie auch auf einer Fahrt nach Bayern, die vom Landkreis angeboten wurde, damit die Kinder aus dem Aufbau rausgehalten wurden. Trotzdem hatte die Tochter aber etwas von der Aufregung gemerkt. Andererseits, überlegte Frau Höhler, wäre das Hochwasser eine bedeutende Erfahrung gewesen. Nur war sie sich nicht sicher, ob ihre Tochter das alles verkraftet hätte. Allerdings redeten sie über die Flut, weil die Aufräumarbeiten ja Fragen aufwarfen, gerade wenn in der Nachbarschaft ein Haus abgerissen und wieder neu aufgebaut werden musste. Bei all den Anstrengungen um den Wiederaufbau sorgte sich Frau Höhler vor allem um das Wohl ihrer Tochter, die sie für zu sensibel hielt, die Geschichte der Flut zu ertragen. Aber vielleicht projizierte hier die Mutter auch ihre Ängste auf die Tochter. Frau Höhler bedauerte jedoch auch, ihrer Tochter eine Erfahrungsmöglichkeit vorenthalten zu haben. Wozu sollte diese gut gewesen sein? Vielleicht um in Zukunft über Erfahrungen zu verfügen, über die sie aus erster Hand kommunizieren kann – als Ressource von Gemeinschaft? Immerhin reagierten die Behörden nun angemessen, als sie mit der Reise der Kinder diese aus dem Arbeitstrubel raus- und den Eltern den Rücken freihielten. Für Frau Höhler waren die Aufräumarbeiten der Weg zurück zu ihrem alten Leben. Das Warten hatte damit ein Ende, jetzt konnte sie tätig werden. Die Anstrengung nahm sie mit dieser Aussicht in Kauf und mit dem festgesetzten Termin der Rückkehr blieb das Ende auch in Sichtweite. Indem die Höhlers wieder Ordnung schafften, richteten sie auch wieder ihre Welt auf, die ihnen durch das Hochwasser abhanden kam. Deshalb wurden die Pläne zur Einrichtung von Polderflächen trotz aller vernünftigen Argumente nur als Bedrohung wahrgenommen und stießen entsprechend auf Ablehnung. Wie sehr Frau Höhler diese Debatte mitnahm, zeigte sich an ihrem Engagement dieser gegenüber, indem sie alle Berichte dazu sammelte. Und so war sie erleichtert, als diese zweite Bedrohung ad acta gelegt wurde. Immer noch aber schreckten sie die bebilderten Erinnerungen an das Hochwasser. Warum aber setzte sie sich diesen Erinnerungen noch aus, wenn sie das so sehr erregte? Eine Antwort darauf steckt in ihrer Bemerkung über ihre veränderte Wahrnehmung gegenüber dem Fluss. Diese

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neue Aufmerksamkeit erstreckte sich auch auf die Erinnerung an die jüngste Geschichte der Oder. Wie bedroht die Gemeinschaft erst recht nach dem Hochwasser war, wurde Frau Höhler mit dem Streit um die Aufbaumittel klar. Auslöser hierfür waren aus ihrer Sicht Zeitungsberichte über Details der Vergabe von Geldern durch die Diakonie. Die Schwierigkeiten begannen damit, dass man sich entschieden hatte, Gelder je nach dem Grad der Betroffenheit zu vergeben, anstatt sich ortsparitätisch und an der Kirchenzugehörigkeit der Leute zu orientieren. Weil die Verantwortlichen aber mit Streit rechneten, sollte niemand darüber Auskunft geben. Denn klar war ihnen wohl, diese Vergabepraxis „SCHÜRT doch (..) schürt doch erstmal böses Blut!“ (826–827). Besonders in dem Ort, der am stärksten betroffen war, kam es dann auch zum heftigsten Streit: „Na [in dem Ort] is’ sehr viel böses Blut. […] Also [dort] is’ schlimm. Ja, muss ich (.), muss ich so sagen. […] Ja. Also [dort] is’ ganz schlimm. Da guckt nich’ ener den andern nich’ mehr an. Und deswegen hab ich ja das och jesacht, das find ich nich’ schön“ (834–841). Wie Frau Höhler berichtete, wurde sie während ihrer gesamten Evakuierungszeit von einer Radioreporterin begleitet und ihre Statements und Interviews wurden morgens ausgestrahlt. Dabei tat sie auch ihre Meinung über diesen Streit kund. Andere stimmten ihr dabei zu, dass sich die Streitenden sich einfach gegenseitig nichts gönnten. Soweit Frau Höhler die Fakten erklärte, handelte der Streit um die rechtmäßige Verteilung von Geldern durch die Kirche an Nichtmitglieder. Dieser Aspekt war aber nur eine Facette im aufkommenden Streit um die Vergabe und die Verwendung der Solidaritätsgelder. Anscheinend rechneten die Verantwortlichen von vornherein mit Streit, der umgangen werden sollte, indem ein Schweigegebot ausgegeben wurde. Wie wenig nütze solche Kommunikationsverhinderungen sind, musste im Grunde allen klar gewesen sein. Selbst einer guten Absicht öffentlicher Dankbarkeit war so nicht nachzukommen. Denn sobald die Umstände der Vergabepraxis bekannt wurden, führte das zu Protest, wurde das „böse Blut“, in Wallung versetzt. Mit dem antiquierten Begriff vom „bösen Blut“ das „geschürt“ wurde, deutete Frau Höhler Mächte an, gegen die Vernunft nicht ankann. Das Böse selbst kommt da in den Menschen zum Vorschein und gefällt sich im Zerrütten vorhandener Ordnung. Gerade im Nachbarort wurde der sonst so feste Zusammenhalt zerstört. Denn jeder schien nur noch den eigenen Nachteil gegenüber dem anderen aufzurechnen und im Grunde auf den eigenen Vorteil bedacht. Der eigentliche Streit in der Ziltendorfer Niederung aber drehte sich um jene, die bis zum Hochwasser ihr Haus vernachlässigt hatten, es mit den Aufbaumitteln aber nun aufwendig in Stand setzten. Manche derjenigen, die seit Anfang der 1990er Jahre ihre Häuser Stück für Stück und entsprechend ihrer finanziellen Möglichkeiten modernisierten, mussten mit dem Hochwasser wieder von vorn beginnen. Als es den anderen aber

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durch die Vergabe der Spendenmittel ermöglicht wurde, sofort umfassend zu renovieren oder gar neu zu bauen, kam das einer Entwertung von Fleiß und Sparsamkeit gleich. Das war in den Augen der Modernisierer nicht gerecht. Frau Höhler wies darauf hin, dass in ihrem Wohnort nur sehr wenige über jene schimpften, die all die Jahre zuvor nichts an ihren Häusern unternahmen. Aber auch diese Leute hatten ja durch das Hochwasser Schaden erlitten, meinte sie, wobei sie das Argument der nun Unzufriedenen durchaus verstehen konnte. Sie wollte da aber keinen Unterschied machen, denn auch ihre Familie hatte ja sehr viel in ihr Haus investiert. Jeder sollte einen Ausgleich bekommen, und das sei auch die Meinung ihres Mannes. Frau Höhler führte in ihrer Argumentation den Kern des Streites vor, nämlich die Frage nach dem angemessenen Referenzrahmen. Dabei vergaß sie aber nicht festzustellen, dass sie legitimiert war, darüber zu befinden. Schließlich sprach auch sie von der Seite der Modernisierer, von denen sich nun einige um den Vorteil ihrer Mühen geprellt sahen. Als Bemessungsgrundlage für die Gerechtigkeit stellte sie den Fleiß und die Sparsamkeit der vergangenen Jahre seit der Wende gegen das von allen gleichermaßen erlittene Leid. Für die Beurteilung der Gerechtigkeit der Geldvergabe zog sie das Leid vor, denn auf dessen Bekämpfung richtete es sich ja schließlich auch. Es war keine Belohnung für das Engagement der Modernisierer. Beim Abwägen der Werte Fleiß und Leid bevorzugte Frau Höhler denjenigen, der auf die Gleichheit zielte. Mit dem Fleiß differenzierte sich die Gemeinschaft seit der Wende, mit dem Leid aber traf es alle gleichermaßen. Das gemeinsame Leid war ihr ein Symbol für die Gemeinschaft. Wichtig war ihr aber hier auch der Hinweis, dass sie nicht nur für sich allein sprach, sondern für die Familie, wenn sie auf ihren Mann verwies. Sie stellte sich so als Teil der Gemeinschaft vor. Wie wichtig ihr diese Sicht hinsichtlich der Gerechtigkeit war, machte sie mit dem Verweis auf das Oderbruch und den Betroffenen in Polen und Tschechien deutlich. Von den Gerüchten über die Opferung der Niederung hatte auch sie gehört, aber davon hielt sie nichts. Denn wenn man den Verlauf der Ereignisse realistisch einschätzte, dann war doch klar, dass das Oderbruch gehalten werden würde. Außerdem konnte man am Verlauf des Hochwassers sowieso nichts ändern. Auch an die Leute in Polen und Tschechien musste sie denken. Denn hätte es sie nicht so hart getroffen, wäre es für die Niederung viel schlimmer gekommen. Da konnte Frau Höhler gar nicht verstehen, warum sich die Leute beschwerten, dass ein Teil der Solidaritätsgelder dorthin geleitet werden sollte. Dazu hatten gerade die Leute in der Niederung keinen Grund, denn deren Schaden wurde nahezu komplett ausgeglichen. Auch wenn das den Modernisierern nicht gerecht erschien, weil die Faulen letztlich besser dastünden. Da kam dann der Neid in den Leute hoch: „Die bösen Worte hat man (..). Stimmt schon, des is’ da. Und Sie wissen ja och, jeder Mensch, des is’ von Neid erfasst

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und gerade bei Katastrophen, ja gerade bei Katastrophen“ (1313–1315). Die Leute aus dem Oderbruch hatte sie hingegen ganz anders, nämlich dankbar erlebt. Die hielten sich zum Beispiel auch an die Regeln und fuhren nicht auf den Damm mit ihrem Auto. Für sich wollte sie nur festhalten, dass sie nicht neidisch oder schlecht sein kann: „Also ich, ich eh, ich eh, ich bin so en Mensch ich muss (..) kann das nich’ […] dass eh so böses Blut. Klar, es, es is’ bei jedem so, aber manchet (..), aber ich ebent, ich kann des ebent nich’, diese Sache (..)“ (1329–1332). Anstatt sich als Opfer zu stilisieren, sollten die Leute besser ihr Leid gegen das der Betroffenen in Tschechien und Polen stellen. Dass hinter dem Streit um die Vergabe der Aufbaumittel letztlich Selbstnutz steckte, wurde auch deutlich, wenn die Leute von den Spendengeldern nichts dorthin abgeben wollten. Frau Höhler entwarf dabei das pessimistische Menschenbild eines eigennützigen Neiders. Das erklärte sie zum Normalzustand in Zeiten der Not. Aber diese Eigenschaft muss nicht jedermann jederzeit kennzeichnen. Als Beleg führte sie zuerst die verständnisvollen Besucher aus dem Oderbruch und schließlich sich selbst an. Mit Bezug auf ihr Dorf, wo die meisten so waren wie sie, wurden hier auch die symbolischen Grenzen ihrer Gemeinschaftsvorstellung klar: Solidarität und Sorge um den Anderen, Anerkennung gesetzter Regeln sowie schließlich die Bevorzugung der Gleichheit als Individuen gegenüber der Leistung. Damit schloss sie nicht einfach an ein romantisches Gemeinschaftsbild an, sondern begründete dieses auch pragmatisch: Durch Beobachtung hätten in der Niederung alle den wahrscheinlichen Verlauf des Hochwassers einsehen können, wobei es aus der Perspektive der Verteilung der Spendengelder höchst unsinnig gewesen wäre, dem Oderbruch das gleiche Schicksal zu wünschen. Die Zeit des Wiederaufbaus war aber nicht nur von privater Initiative geprägt. Staatliche Projekte, wie der Neubau der Hauptverkehrsstraße durch die Niederung, wurden endlich durchgeführt, was aber auch den zum Teil überregionalen Tourismus erst richtig ankurbelte. Während dieser Zeit nutzten zahllose Neugierige den schönen Spätsommer für Wochenendausflüge in das abgelegene Dorf. Dass so viele Besucher in die Niederung strömten, begrüßte Frau Höhler nachdrücklich, zeigte sich doch daran, dass sie nach dem Hochwasser nicht vergessen wurden. An den Wochenenden nahm dieser Tourismus allerdings überhand, wenn überall Autos parkten und kein Durchkommen mehr für die Einheimischen war. Dabei hielten sich die meisten Besucher auch nicht an die Regeln, sondern fuhren bis zum Deich vor, beinahe auf den Deich. Dieses Verkehrsaufkommen passte nicht zu ihrem Ort, schließlich liefen auch Kinder im Ort umher, Rettungsfahrzeuge brauchten den Platz, auf dem Autos parkten, und überhaupt gab es keine Ruhe mehr, die gerade die Attraktivität des Ortes ausmachte.

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Die neue Popularität hatte offensichtlich ihren Preis, den die Einwohner nur zum Teil zu zahlen bereit waren. Der touristische Erfolg, der für die Zukunft Potenzial zu besitzen schien, musste verstetigt werden und sich nicht selbst aufzehren, indem der eigentliche Charme des Ortes unter den Touristenmassen verschüttet wurde. Darum mussten Zukunftsentwicklung und Lebensqualität in Einklang gebracht werden. Aus diesem Grund entwarfen Dorfbewohner als Bürgerinitiative ein Gestaltungs- und Tourismuskonzept für das Dorf, mit welchem es gelingen sollte, die Natur zu schonen, den Ort lebenswert zu gestalten und ihn für den Tourismus trotzdem attraktiv zu machen. Ein wichtiger Punkt in diesem Tourismuskonzept stellte ein Parkplatz dar, der vor dem Dorf errichtet werden sollte, damit die Autos draußen blieben. Die Tagestouristen waren weiterhin willkommen, deren Besuch dürfte aber nicht bereits vorhandene eher längerfristig angelegte Projekte behindern. Durch ihre Aktivitäten wurde die Bürgerinitiative zum eigentlichen der Motor des Dorfes. Aus der Erfahrung, dass sich auch vor der Wende niemand recht um sie kümmerte, hatten einige schon vor dem Hochwasser im Dorf darüber diskutiert, dessen Entwicklung in die eigene Hand zu nehmen. Da fühlten sich vor allem die Jüngeren im Ort angesprochen. Als Initiative aber begriffen sich deren Aktive auch als Gemeinschaft, wenn sie gemeinsam zum Beispiel den Jahreswechsel feierten. Sogar Leute aus den umliegenden Siedlungen und Höfen waren in der Initiative aktiv. Jeder wurde akzeptiert, wenn er sich einbrachte. Da erlebten sie nun einen schönen Zusammenhalt: „Des, ich sach ja, es is’ ene Gemeinsch- (.). Is zwar nich’ mehr so aber wie zu DDR-Zeiten, aber ebent wir kümmern uns so“ (1420–1422). Das Ziel der jungen Bürgerinitiative „des is’, ich sach ja, des is’ eine (..): Wir woll’n aus unserm Ort was machen“ (1430– 1431). Die schon ältere Idee einer Bürgerinitiative erfuhr durch das Hochwasser und den Tourismusboom einen neuen Schub, der sogar bis zu deren Institutionalisierung als Verein führte. Im Mittelpunkt der Zielsetzung stand das Dorf, dessen Entwicklung die Jüngeren als ihre Aufgabe begriffen. Dabei kam es jedoch nicht auf örtliche Zugehörigkeit an, sondern auf das Bekenntnis zum gemeinsamen Ziel und der Teilnahme an gemeinsamen Aktionen. Die differenzierende Reminiszenz auf die Gemeinschaftserfahrung zu DDR-Zeiten deutet – allerdings im Unterschied zur Gerechtigkeitsbewertung bei der Vergabe der Zuwendungen – eine Veränderung der Gleichheitsrhetorik in der Wertereferenz Frau Höhlers an: Man glich sich nicht wegen der gleichen äußeren Umstände, sondern die Gleichheit entsprang der Wahl der gleichen Zielsetzung. Was früher die gemeinsame Arbeit garantierte, wurde nun durch eine selbst gewählte Aufgabe ersetzt. Entgegen den Umständen musste für den aktualisierten Bestand der Selbstbeschreibungen selbst gesorgt werden. Im Bürgerverein fand Frau Höhler Gleichgesinnte: realistische und pragmatische und darum solidarische Leute. So ließ sich für sie Zukunft gewinnen.

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Ähnlich wie die Bundeswehr und das THW beim Füllen der Sandsäcke geholfen hatten, halfen sie auch bei deren Beseitigung nach der Flut, berichtete Frau Köppel. Alles Material wurde dazu unter strengen Sicherheitsvorkehrungen auf dem Dorfplatz gesammelt. Sogar im Radio wurden Warnungen ausgegeben, die Sandsäcke und den mit dem Hochwasser angespülten Müll nur mit Handschuhen zu berühren und den Kontakt mit dem Wasser in diversen Pfuhlen ganz zu vermeiden, weil es wegen der aus Polen drohenden Seuchengefahr kontaminiert sein könnte: „Das war – nee, das war, was weiß ich, so wie Radioaktives, so ungefähr wurde das behandelt“ (Köppel 1112). Als absurd empfand Frau Köppel den Rat, sich deswegen impfen zu lassen. Allerdings tat sie das mitsamt der Familie dann doch. Aller Müll, den man vors Haus stellen konnte, wurde mehrmals wöchentlich eingesammelt. Da haben die Leute gleich noch mehr altes Zeug rausgeworfen. Wie es hieß, sollte aller Abfall als Sondermüll behandelt werden. Aber dann wurde doch wieder ein Witz daraus, als der Kies aus den Sandsäcken einfach hinter die alte Gleisanlage gekippt wurde, wo sich anschließend jeder bedienen konnte. Die vielen Mücken und Frösche sind ihr aus dieser Zeit noch im Gedächtnis; an das Gequake erinnerte sie sich allerdings gern. Die Leute vom THW kümmerten sich unkompliziert um die Lösung diverser Probleme. In solchem Fall brauchte man sich nur bei der Einsatzstelle auf dem Dorfplatz melden. Weil die Soldaten und die THW-Leute das Gros der Schäden im und um das Dorf beseitigten, konnte sie sich weitestgehend um ihr Haus kümmern. Am Ende hatten die von der Flut Betroffenen noch Geld gesammelt, Getränke besorgt und Essen vorbereitet, um sich bei den Helfern zu bedanken. Weitere Feiern fanden nicht statt. Kurz vor dem Interview aber las sie in der Zeitung von einem geplanten Fest zum ersten Jahrestag der Flut in der Niederung, wofür Sponsoren mehrere zehntausend Mark geben wollten. Das Aufräumen nach dem Hochwasser klappte durch die Helfer viel besser als die schleppend angelaufenen Sicherungsmaßnahmen, wenngleich auch hier übertrieben erschienener Aktivismus nicht ausblieb. Die erneute Ironie bei dieser Schilderung hatte ihre Quelle wohl im Schlussbild des einfach abgekippten, vormals als gefährlich eingeschätzten Sandes. Da war die Aufregung so wenig wie die Impfung nötig gewesen. Aber geschadet hatte das auch nicht, und so konnte Frau Köppel von Ferne her entspannt milde erzählen. Auffällig ist hier, dass das THW als Hilfsorganisation im Unterschied zu den Erzählungen aus dem Oderbruch vor allem bei Frau Köppel so eine prominente Stellung einnahm. Verständlich wird das durch deren in der Niederung notwendigen lebenspraktischen Hilfeleistungen, wofür es im Oderbruch ja kaum Bedarf gab. Die Feier der Betroffenen hatte wohl eher den Charakter einer halbprivaten Veranstaltung. Und so wie das Hochwasser letztlich kein Ereignis des ganzen Ortes war, war auch die Feier nur eine Sache der Betroffenen und Helfer. Damit aber

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fand die Hochwasserzeit für Frau Köppel ihren Abschluss. Das Fest zum Jahrestag war bis zum Zeitpunkt des Interviews kaum mehr als irgendein Datum im Ortskalender. Zentral für den Wiederaufbau waren die Spendengelder. Aber deren Vergabe war nicht optimal geregelt, im Gegenteil: „Ja, das hat sich eigentlich ganz blöd gestaltet“ (1357). Die Medien berichteten von ungenutzten Spendengeldern, was sie gar nicht verstehen konnte. Und so spekulierte sie, ob die vielleicht vergessen und umgewidmet wurden. Auch ihre Familie bekam pro Kopf Geld zum Ausgleich für ihren Schaden, „das so genannte Kellergeld“ (1370). Das lief an, nachdem die Evakuierten ausgezahlt wurden, was sie aber nicht betraf. Jene mussten in die nächstgrößere Stadt fahren und Anträge ausfüllen. Außer den drei Arten von Fördermitteln für die Evakuierung, Wasser- und Kellerschäden, wurden auch Hilfsgelder von Versandhäusern, Ladenketten und bestimmten Lebens- und Genussmittelherstellern verteilt. Wie das genau ablief, konnte sie nicht sagen, nur ein Beispiel war ihr von einer Kollegin bekannt, die aufgrund einer Rückmeldung bei einem Lebensmittelhersteller Hilfsgeld überwiesen bekam. Wie Frau Höhler erinnerte sich auch Frau Köppel an eine Diskussion um die Vergabepraxis von Spendengeldern durch die Kirche, was jedoch längst schon kein Thema mehr war. Die Diskussion um die generelle Gerechtigkeit der Fördermittelvergabe war ihr wesentlich präsenter, denn tatsächlich hätten einige sich mit diesen Geldern über Gebühr besser gestellt. Einige mussten ihre Häuser abreißen, wegen der leck geschlagenen Öltanks der Heizungen, andere, wie ein Rentnerehepaar, waren nicht mehr in der Lage, an ihren Häusern etwas herzurichten. Viele aber hatten eben von sich aus seit der Wende renoviert, was dann durch das Hochwasser zunichte gemacht wurde. Doch sie bekamen das Gleiche wie jene, die in der Vergangenheit nichts investierten. „Die sagen auch, hier haben sich viele jetzt gesund gestoßen. Das sind – muss ich aber manchen Leuten Recht geben, die haben sich alles alleine erarbeitet, erwirtschaftet, die haben ihr Haus, alles kurz bevor das Hochwasser kam, gehabt, umgebaut und neu gemacht zum größten Teil, alles verschönert. Und dann kam das Hochwasser. Und andere, die überhaupt nichts gemacht haben, die noch nicht mal vielleicht von drin Putz hatten, geschweige denn von draußen, die kriegen jetzt ein schönes Haus. Denen wird alles drin schön gemacht und draußen schön gemacht“ (1444– 1449). Das konnte, Frau Köppels Meinung nach, nicht in Ordnung sein. Dieser Streit um die Gerechtigkeit bei der Vergabe der Gelder zum Wiederaufbau überdeckte alle anderen Probleme. Anders als Frau Höhler aber stellte Frau Köppel die Leistung der Leute als maßgeblichen Wert heraus. Dass alle das Gleiche bekommen, setzt jene, die investiert hatten, ins Unrecht. Sie hätten einen Nachteil erfahren, wenn die eigene Leistung durch die egalitäre Geldvergabe im Nachhinein noch negiert wurde. Jedoch nannte Frau Höhler keine Alternative für die Handhabung. Das mag

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aber die eigentliche Schwäche dieses leistungsorientierten Gerechtigkeitsarguments gewesen sein und kam darum nicht zum Zuge. Neben der Missachtung erbrachter Leistungen war Frau Köppel aber auch nicht mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit einverstanden, mit der die Leute die ungewöhnlich großzügigen Fördermittel annahmen. Um das auszuführen, stellte sie zunächst die Bürgerinitiative in der Niederung als ein neuartiges Phänomen vor, das im Verlaufe des Hochwassers auftauchte. Während der Überflutung hatten sich einige Leute zu Bürgerinitiativen zusammengeschlossen und so zu Ansprechpartnern gemacht, die Probleme anderer Leute zu lösen versuchten. Auf den Einwohnerversammlungen mit politisch Verantwortlichen machten sie sich lautstark bemerkbar und stellten sich so in den Mittelpunkt. Als aber über das Fernsehen eine Sendung aus der Niederung aufgezeichnet wurde, um der Leute Dankbarkeit für die Spendengelder Ausdruck zu verleihen, war von den Initiativen niemand anwesend. Letztlich war es gleichgültig, wie viel einer an Geld für die Schadensregulierung bekam, wichtig war in ihren Augen, dass man sich dafür bedankte. Aber niemand trat da vor bis auf einen Leiter eines landwirtschaftlichen Betriebes: „Da haben die, wenn wir hier unten mal eine Versammlung gemacht haben auch, dieser Herr Stolpe kam oder dieser Landrat […], da bei uns hier unten im Saal, da waren die alle da. Da haben die alle das Maul so groß aufgemacht. Wir sind von der Bürgerinitiative von [dort], wir sind von der Bürgerinitiative von da und von da und wir sind von da. Alles Bürgerinitiativen. Und zu dieser Sendung, was die hier gemacht haben nach dem Hochwasser, war nicht einer da gewesen von so einer Bürgerinitiative, die sich da öffentlich vor’m Fernsehen gesagt haben, wir sind von der Bürgerinitiative und wir bedanken uns bei allen, die gespendet haben. Ja? Ist ja nun scheißegal, ob nun einer was mehr gekriegt hat oder der andere weniger. Das ist ja nun ganz scheißegal, aber da war nicht einer zu sehen. […] Aber es hat nicht einer Dankeschön gesagt, nichts. Der einzigste, der das wirklich war, das war der [Leiter des Landwirtschaftsbetriebes]. Das war der einzigste. Ansonsten hat sich nicht einer bedankt“ (1882–1896). Wegen dieser Undankbarkeit, schätzte Frau Köppel, wird es in Zukunft keine solche Spendenbereitschaft geben, aber die wird sowieso geringer ausfallen, da ein Teil der Gelder nun in die betroffenen Nachbarländer gehen sollte, womit wohl einige Spender nicht einverstanden gewesen wären. Die Undankbarkeit, die Frau Köppel bei den Einwohnern der Ziltendorfer Niederung festzustellen meinte, war eine weitere Quelle ihres Ärgers, hinter der sogar die Frage nach der gerechten Verteilung zurückstand. Sie empfand gegenüber den Spendern eine Pflicht zum Dank, die eben nicht als Rechenschaft missverstanden werden durfte. Aber das schienen doch viele darunter zu verstehen, wenn sie sich zu den Spenden äußern sollten und dann die Höhe ihres Spendenbetrages angaben oder sich mit einem Anflug von Stolz, der aber wie Arroganz wirkte, sich ver-

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weigerten. Frau Köppel erwartete nun, dass diese Leerstelle von den Bürgerinitiativen ausgefüllt werden würde, die sie aufgrund ihrer Selbstannoncierung als Interessendurchsetzer offensichtlich als Einwohnervertretung missverstand. Weil die Bürgerinitiativen aber nicht in die Leerstelle eintraten, verloren diese für Frau Köppel ihre Legitimation, denn in diesem – für sie – entscheidenden Punkt der Dankesbekundung wurden sie nicht initiativ. Und darum hielten sich in der Niederung Nehmen und Geben nicht mehr die Waage. Das war moralisch enttäuschend. Diese Gemeinschaft konnte nicht die ihre sein, sondern entpuppte sich als eine Illusion, vor der die Ironie zur Tragik wurde. Wegen ihres Berufes, durch den sie sich in der Region hervorragend auskannte, wurde sie nach dem Hochwasser von auswärtigen Leuten gebeten, Bedürftige für Geldzuweisungen zu nennen. In diesen Fällen riet sie, den Pfarrer zu fragen oder den eigenen Beobachtungen zu trauen. Jedoch gab es neben denjenigen, die unverhofft zu renovierten oder neuen Häusern kamen und neben dem allgemeinen Undank auch noch Lügner. Frau Köppel berichtete hier von einem Fachhändler, der behauptete, dass ihm durch das Hochwasser Schulden entstanden waren, was aber nicht stimmte. Ein anderer Unternehmer ließ sich sein Geschäftsobjekt renovieren und verlangte anschließend überhöhte Preise wegen angeblicher Ausgaben. Zudem beklagte sich dieser noch im Fernsehen wegen der Flut. Auch andere, die sich in den Interviews ganz hilflos gaben, obwohl in der Niederung alle wussten, dass die das nicht waren, hatten sie geärgert: „Das find’ ich, ist total bescheuert“ (1976–1977). Diese dreisten Lügen machten sie ganz missmutig: „Also das find’ ich nun, also das fand ich nun auch gar nicht gut von den Interviews, was die Leute so selber abgegeben haben. Jedenfalls von den dreien nicht. Alles andere hatte ich ja nun nichts zu beanstanden. Aber von den dreien war ich wirklich arg enttäuscht gewesen“ (1985–1987). Und damit ist sie dann auch mit ihrem Bericht zu Ende: „Das war dann das einzigste, was ich Ihnen zu sagen hatte“ (2004). Die Übervorteilung, die aufgrund der institutionellen Regeln möglich war, die Undankbarkeit, deren Ursachen die soziale Inkompetenz und Dummheit waren, wurden von den dreisten Lügen noch überboten. Die Lügen, die im Angesicht der Gemeinschaft stattfanden, negierten diese letztlich. Die Gemeinschaft konnte ja, anders als die Behörden oder die Journalisten, die Lügen durchschauen, was auch den Lügnern klar war. Mit dieser Dreistigkeit betrogen sie eben auch die Gemeinschaft: Denn diese Leute schlugen aus dem Gemeinschaftsschicksal ihren Profit, nahmen den Ausschluss aus der Gemeinschaft in Kauf und gaben sie letztlich selbst schon auf. Da schien der souveränen Ironikerin am Ende doch noch unter der Hand ihre Geschichte zur Tragödie geronnen zu sein, in der die Gemeinschaft an Übervorteilung, Undankbarkeit und freches Abzocken zerbrach. Aber wie allgemein kann man diesen Schluss für Frau Köppels Bericht formulieren?

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Das zeigt sich erst anhand der resümierenden Zusammenfassung der Hochwassergeschichte. Einen skeptischen Bericht zum Verlauf des Oderhochwassers gaben auch Benzlers zu Protokoll. Während dieser Zeit machten sie ganz neue, enttäuschende Erfahrungen mit ihren Nachbarn und Bekannten. Nicht nur ihnen ging es so, aber es wurde nur unter Vorbehalt darüber gesprochen. Bei der Spendenflut, fand Frau Benzler interessant zu beobachten, wie die Nutznießer diesen Segen schätzten. Die nahmen das viele Geld oft einfach nur so hin. Da fragte sie sich, ob die wohl in Zukunft ebenfalls einen Impuls spürten, für andere Leute zu spenden. Sie zweifelte aufgrund der Reaktionen und Erfahrungen während und nach dem Hochwasser daran. Und auch Frau Benzler kannte einen Fall unerlaubter Inanspruchnahme von Hilfsmitteln. Diese Art illegitimer Zuwendung war für diese Menschen kein Problem. Herr Benzler führte aus, dass er Leute erlebt hatte, die keinen Dank kannten, sondern nur Forderungen. Das Nehmen war ihnen geläufiger als der Dank. Und so hatten sich die Leute oft mehr genommen als ihnen zustand oder sie verbesserten sich überproportional. Das vor allem war nicht in Ordnung, wenn man die Nachbarländer Polen und Tschechien vor Augen hatte. Aber die Leute redeten stattdessen über den Umgang der anderen mit den Fördermitteln: „Es wird drüber geredet“, meinte Frau Benzler, und Herr Benzler stimmte zu: „Es wird sehr viel. Das ist schlimmer noch als das Wasser, auf alle Fälle“ (Benzler 1458–1459). Aber wenn Evakuierte ebenfalls Geld bekamen, ohne dass das Haus beschädigt war, dann erschien ihm das nicht gerechtfertigt zu sein. Das war eine bittere Erfahrung für sie: „Da find ich das eigentlich unwahrscheinlich, wie man so ’n Geld dann annehmen kann. Aber die Leute nehmen, wenn’s irgendwie ist, da sind wir – für uns sind wir sehr enttäuscht über die Leute. Da wir so engagiert waren“ (1474–1478). Aber die Menschen nehmen, wenn ihnen gegeben wird, meinten Benzlers. Den betroffenen Polen und Tschechen wäre mit dem Geld besser zu helfen gewesen. Aber da waren sehr viele Leute, Spender wie Empfänger, dagegen. Lieber „sanierten“ (1483) sich eine Menge Leute, meinte Frau Benzler. Nur die wenigsten gaben wieder Geld zurück, das sie zu viel erhalten hatten. Die Leute waren doch bestens bedient worden, denn nun sei alles neu, womit ein großer Wertzuwachs einher ging. Statt zehn Prozent Verlust, weil ja nur neunzig Prozent durch die Fördergelder ersetzt wurden, müsste man sagen, dass alle einhundert Prozent Gewinn gemacht hatten. Das wurde ganz deutlich an den weggeworfenen Sachen, die durch neue ersetzt wurden. Als die Leute dann ihre durch die Spendengelder erreichten Vorteile verglichen, kam es zum Streit. Das war schlimm genug, aber der eigentliche Skandal war, dass sich die Leute bis auf wenige Ausnahmen nicht einmal bedankten. Viele, wie Benzlers selbst, hatten sich für den Schadensfall schon vorher abgesichert, aber einige leichtsinnigerweise eben überhaupt nicht. Und obwohl die nach dem Hochwasser sehr viel Geld und auch Hilfe bekamen, waren die

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nicht zufrieden. „Und so sind die Leute hinterher, es ist sehr enttäuschend“, stellte Herr Benzler fest, und seine Frau stimmte da nur noch zu: „Ja, ist so“ (1609–1611). Auch Benzlers thematisierten die moralisch inadäquaten Verhaltensweisen der Spendenempfänger in der Ziltendorfer Niederung. Wie Frau Köppel, die nur Kellergeld bekam, fühlten sie sich dazu im Recht, waren sie doch keine Spendengeldempfänger. Aber vor allem waren sie engagierte Helfer beim Schutz vor dem Hochwasser. Und eben diese Leute, denen sie geholfen hatten, zeigten nun solche schäbige Reaktionen. Dieselben Symptome moralischen Zerfalls, wie sie schon Frau Köppel bemerkte, sind auch Benzlers Thema: Undank, Übervorteilung und Spendenprofit. Erstaunlich ist, dass die Empfänger von enormen Fördermitteln keine Dankbarkeit empfunden haben sollen, sondern nur mehr fordernd auftraten. So erscheinen sie Frau Köppel und Benzlers anmaßend und unersättlich. Diese Haltung könnte, ohne dass das explizit genannt wurde, aus dem Opfermythos herrühren. Aus dem erbrachten Opfer ließe sich leicht der moralische Anspruch auf finanziellen Ausgleich und Hilfe ableiten. Dank könnte dafür dann nicht auch noch verlangt werden. Im Gegenteil konnten die Gelder als Dank für die Opferung der Niederung verstanden werden. Sicher ist jedoch, dass die Leute mit dieser Haltung die Regionalgemeinschaft vor der allgemeinen Gemeinschaft der deutschen Spender diskreditierten. Und darum distanzierten sich Benzlers hier ein zweites Mal, nachdem sie sich schon von den gaffenden, ignoranten Normalisierern abwandten. Ihren moralischen Grundsätzen entsprachen nur die wenigsten, von denen aber, um des alltäglichen Friedens willen, niemand zu seiner Distanz stand. Wurden diese Konflikte zwar hinter vorgehaltener Hand diskutiert, aber im Grunde nicht offen ausgefochten, sondern durch das Anknüpfen an vorherige Praxen überdeckt, dann erschien das Oderhochwasser wie einen Probe der Gemeinschaft, bei der sie nur noch zu retten war, indem an die Vergangenheit vor der Flut angeknüpft wurde. Die Zeit des Hochwassers wurde besser vergessen, denn da wurde das moralische Scheitern der Gemeinschaft sichtbar. An Benzlers zeigte sich jedoch, dass der Stachel der Erinnerung tief sitzt und die Vorstellung von der Gemeinschaft zerstören kann. Da wundert es nicht, wenn Benzlers der Meinung waren, dass die Stimmung in einigen Orten der Niederung schlecht sei. Herr Benzler setzte an: „Ja, da ist irgendwie untereinander, da ist wohl“, und Frau Benzler vollendete den Satz: „Der Wurm ist drin“ (1517–1519). Er war schon vorher der Ansicht, dass die Spendengelder das Dorf verändern würden. Ein Jahr nach dem Hochwasser war eine zentrale Feier in der Niederung geplant, von deren Ankündigung auch schon Frau Köppel berichtete. Wie man hörte, wollten viele Leute aus der Siedlung wegfahren, um dem geplanten Trubel an Menschen und Prominenten zu entgehen. Benzlers vertrauten aber auch den zwei Organisatoren dieser Veranstaltung nicht,

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die nur an einem ordentlichen Gewinn interessiert gewesen seien. Einer von ihnen hatte schon eine suspekte DDR-Vergangenheit und betrieb inzwischen Immobiliengeschäfte. Der andere ortsfremde Organisator wollte sich für die Ausrichtung des Festes gut bezahlen lassen. Trotz dieser Bedingungen hätte sich der Bürgermeister des Nachbarortes zu diesem Fest überreden lassen, welches auch von der Regionalzeitung unterstützt wurde. Das empörte Frau Benzler: „Natürlich dargestellt in der [Zeitung] wieder. Ein ganz linkes Ding ist das“ (1542). Die Leute ihres Dorfes wollten da jedenfalls nicht mitmachen, sondern lieber ein eigenes kleines Fest mit den ehemaligen Helfern organisieren. Solch einen Trubel wie im Nachbardorf wollten sie vermeiden, denn sie waren viel mehr an der Begegnung zwischen den Menschen interessiert. „Das wäre was. Aber nicht so, die beide wollen Geld verdienen und ein Haufen Buden und so weiter, und die Menschen sind doch nicht zueinander gekommen“, stellte Herr Benzler heraus (1553–1555). Solchen Rummel wollten die Leute besser nicht haben, auch weil sie noch im Streit lagen. Statt einer Feier hatten die Betroffenen gleich nach dem Hochwasser über einen Gedenkstein für ihren Ort diskutiert. Ein Bekannter Herrn Benzlers fertigte den als Spende an und später wurde der dann an einem Platz aufgestellt, bis zu dem das Wasser gekommen war. Die geplante Feier erschien den Benzlers suspekt. So vermuteten sie, dass diese Veranstaltung eher auf eine kommerzielle Ausschlachtung der Erinnerung an die Flutkatastrophe zielte. Aber nicht nur das Ziel der Veranstaltung war illegitim, sondern auch die Veranstalter. Dem wollten sich die Leute entziehen wie auch dem Streit aus dem Wege gehen. Die eigentliche Erinnerung war ganz woanders aufgehoben und brauchte keine Großveranstaltung. Ein kleiner Feldstein mit Inschrift genügte den Einwohnern. Der sich mit dem Stein ausdrückende Gegensatz der Erinnerungskulturen konnte auch Kern eines anderen Gemeinschaftsbekenntnisses werden. Dadurch konnte das Großereignis zum Anlass einer anderen Gemeinschaftskonstitution werden, wenn eine Mehrzahl der Leute durch Abwesenheit ihre Distanz dazu demonstrierten und mit dieser Ablehnung trotz aller streitbedingten Differenzen gemeinsame Werte konstituierten. Für Jacobis und Frau Höhler begann sich das Blatt mit dem Beginn der Aufbauphase zu wenden. Die Gefahr war gebannt, das Wasser ging zurück und die Eroberung des früheren Refugiums konnte beginnen, der Raum für die alltäglichen Routinen wurde neu geschaffen. Dabei schilderten diese Protagonisten die Aufbauzeit als eine der Selbstinitiative, der sich eine Reihe von Helfern im Fall Jacobis anschlossen. Keine Relevanz schien für Jacobis der Streit unter den Leuten der Ziltendorfer Niederung gehabt zu haben. Ganz anders war das bei den drei weiteren Interviewten. Über die Streitereien wurde von ihnen ausführlich berichtet. Deutlich wurde dabei, dass der Streit für die Interviewten ein Vehikel zur Diskussion der Gemeinschaft anhand der Themen Gerechtigkeit und richtiges Verhalten war.

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Die Gerechtigkeit wurde dabei unterschiedlich abgeleitet, wie bei Frau Höhler und bei Frau Köppel, die letztlich entgegengesetzte Positionen bevorzugten. Hinsichtlich des richtigen Verhaltens aber waren sich alle in ihrer negativen Bestimmung ihres Gemeinschaftsbildes einig: Neid, Habgier und Undank lehnten sie strickt ab. Stattdessen nahmen sie für sich Hilfsbereitschaft und Solidarität als Symbole der Selbstbeschreibung in Anspruch. Das trat ganz deutlich bei der Beschreibung der Helfer der Jacobis hervor. Hier konstituierte sich eine Gemeinschaft aus Freunden, die zwar schon im weiteren Netzwerk vorhanden waren, aber die nun diese Verbindungen durch ihre helfende Anwesenheit legitimierten.57 Die Prominenten ehrten zwar die Besuchten, aber bei der Verwindung der Schicksalsschläge konnten sie bei aller Mühe nicht helfen. Das gelang nur in der Gemeinschaft beim Erzählen der Erlebnisse und dem gemeinsamen Lachen. In einer Gemeinschaft schien Frau Höhler aufgehoben zu sein, wenn sie von der Bürgerinitiative erzählte, die so gut zu ihrer Selbstbeschreibung passte. Der Streit betraf sie darum auch gar nicht wirklich, wenngleich sie eine dezidierte Meinung dazu hatte. Hier fielen die auf, die nicht dazugehören. Die Abgrenzung zu jenen, die gegen die Wertepräferenzen Frau Köppels verstießen, die vor allem undankbar und fordernd auftraten, war für sie nicht einfach. Da konnte sie sich nur noch mit einem kategorischen Ausruf der Abwehr behelfen; ihre ironische Distanz und Souveränität gegenüber diesen Anderen brach damit jedoch zusammen. Wie eine Steigerung dieses Verlustes der Selbstbeherrschung angesichts der widrigen Umstände, die nun nicht mehr von einem unbeeinflussbaren Ereignis herrührten, erscheinen die Schilderungen der Benzlers. Der Selbstausschluss, der sich mit dem Normalitätsschock schon andeutete, ist hier anhand verschiedener Episoden belegt. Aber hier am Ende der ehemals bekannten Gemeinschaft fanden sich Hinweise auf eine Neudefinition der Zugehörigkeit am gemeinsamen Gedenkstein, der als Gegensatz zum kommerziellen Gedenkrummel als eine symbolische Grenzmarkierung erscheint. Die Gemeinschaft rückt damit in den Vordergrund der Beschreibungen der Berichte über das Hochwasser aus der Ziltendorfer Niederung. Offensichtlich hatte sich während der Flut und in der Zeit danach viel im Sozialgefüge der Niederung verändert. Ist das als eine Fragmentierung vormals selbstverständlicher Gemeinschaft durch den schnöden Mammon zu verstehen, weil der das „böse Blut“ kreisen ließ?

57 Zum Legitimationsproblem beim Zugriff auf soziale Adressen in Netzwerken siehe Stichweh (2004a: 14 ff.). Netzwerke erscheinen dort als Möglichkeiten von Interaktionen, die aber gerade darum nur in den seltensten Fällen und dann nicht mehr im Netzwerk realisiert werden.

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Vergangenheit und Zukunft in der Niederung Die Interviewten aus der Ziltendorfer Niederung bezogen sich wie auch die Oderbrüchler bei der Schilderung der Hochwasserereignisse immer wieder auf die Gemeinschaft. Dabei beschrieben die Erzähler jeweils andere Gemeinschaften, zu denen sie sich über die Zeit unterschiedlich ins Verhältnis setzten. Die Existenz der Gemeinschaft aber hängt ab von den Bedingungen, die in der Vergangenheit herrschten und in der Zukunft möglich scheinen. Die Gemeinschaft war für die Jacobis nach der Flut ein Aspekt, der sie zum Bleiben und zum Neuanfang in der Ziltendorfer Niederung bewegte. Zuerst legte sich Herr Jacobi aber eine Erklärung für das ungeahnte Hochwasser zurecht. Für ihn stand fest, dass in Polen die Rückhaltebecken mit dem Schmelzwasser des Frühjahrs zu spät geöffnet wurden. Gewöhnlich erhöhte sich der Pegel der Oder immer etwas für zwei Wochen, wenn die Becken geleert wurden. Weil es aber im Jahr zuvor nicht genügend regnete, behielten die Polen das Wasser diesmal in den Staubecken, bis es zu spät war. Da hoffte er doch, dass sie dort daraus gelernt haben. Jedoch stellte auch Herr Jacobi fest, wenn in Polen nicht so viele Dämme gebrochen wären, hätte es für die Niederung noch schlimmer kommen können. Von den Diskussionen nach der Flut waren beide Jacobis irritiert, als es hieß, dass die Oder für den Schiffsverkehr bis zur Donau ausgebaut werden sollte, wobei Herr Jacobi zweifelte, ob sich das lohnte. Das würde die Hochwassergefahr nur verschärfen. Und der Brandenburger Umweltminister wollte sowieso die Niederung als Polder zurückgewinnen, wusste Herr Jacobi. Immerhin hatten die anderen Mitglieder der Regierung das abgelehnt. Aus der Niederung hatte das aber kaum jemand verfolgt und diskutiert, weil die Leute von der Überschwemmung noch zu sehr geschockt waren. Vielleicht hätte man einen Ausgleich bekommen, spekulierte Herr Jacobi weiter, aber der hätte wohl nicht gereicht, um woanders neu zu bauen. Für sie wäre das sowieso keine Option mehr gewesen, denn in ihrem Alter hätten sie keinen Kredit mehr bekommen. Die Rückgewinnung der Niederung als Polder hätte die Regierung schon beschließen sollen, als sie noch überflutet war, dann – so schätzte Herr Jacobi – hätte es nur wenig Widerstand gegeben. Als das Wasser aber weg war, wollte jeder wieder zurück in sein Haus: „Das hätte gleich müssen, wo se alle noch weg warn, wo hier das Wasser, hätten se jesagt: ,Das bleibt!‘, nicht. Aber wo es denn wieder weg war, denn hat, hängt doch jeder an seine Scholle. Und ’n alten Baum verpflanzen, der wächst schlecht an, nicht“ (Jacobi 834–837). Der Grund zu bleiben ist die „Scholle“, womit nicht so sehr das Grundstück und auch nicht das Haus gemeint waren, das Herrn Jacobis Familie seit neun Generationen bewohnte. Damit war eher das Gewohnte bezeichnet, und das sind mehr die Leute, Bekannten und Freunde, mit denen man tagtäglichen Umgang hatte, die Landschaft, die nicht auffällt, die

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Behörden, mit denen man sich auskennt, eben das Vertraute, das einem erlaubt, sich auf die Probleme und Freuden des Lebens zu konzentrieren. Nur wenn das Vertraute den Anschein von Dauerhaftigkeit hat, ist auch Gemeinschaft möglich. Beim ersten Besuch ihres Hauses schien alles zerstört zu sein, so dass sie darüber nachdachten, wegzugehen. Sie waren schon so sehr entschlossen, dass sie konkrete Orte als mögliche Wohnstätten miteinander diskutierten und über eine Eigentumswohnung nachdachten. Die Söhne rieten von dieser Idee ab, aber Platz für die Eltern hatte auch niemand. Als die ersten nach dem Hochwasser wieder anfingen aufzuräumen und ihre Häuser in Stand zusetzen, haben sie mitgemacht: „Denn haben wir jesagt, denn machen wir’s nu och so“ (848–849). Denn schließlich mussten sie nicht ihr Haus abreißen wie manch anderer, sie konnten der stillen Sehnsucht nach dem alten Heim nachgeben: „Aber dis Heimweh treibt ’n doch immer wieder zurück“ (852). Das Leben während ihrer Evakuierungszeit war recht langweilig, so wäre es wohl auch im Fall eines Umzuges gekommen: „In de Dörfer ist ja och nichts mehr los, da ist ja och ’ne tote Stille. Da sieht man ja Sonnabend, Sonntag och keen mehr uff de Straße laufen, ich weeß nicht, wie die Menschen alle so jeworden sind“ (858–860). Die „tote Stille“ meinte wohl mehr als die Sonntagsruhe, nämlich eine Leere, die von der Abwesenheit der Menschen zeugt. Sogar in einem größeren Dorf begegnete sich niemand mehr ohne weiteres. Vor der Wende traf man sich unweigerlich bei der Arbeit in der LPG und ab und an ging man noch auf ein Bier in die Kneipe. Dieses Band, das die Umstände formte, war fort, und da hingen die Menschen nicht mehr aneinander. Aber es tut ihnen, in den Augen Jacobis, nicht gut, so frei zu sein. Denn man war damals nie so allein wie heute. Ruhe und eine gewisse Einsamkeit wollten Jacobis gar nicht missen, aber die Chance auf unwillkürliche Treffen mit anderen sollte es geben. Aber auch die alltäglichen Routinen und Aufgaben rund um ihr Haus und auf ihrem Acker fehlten ihnen. Wenn sie auch in der Notunterkunft freundlich aufgenommen wurden, waren sie dort nicht heimisch. Da zog es sie wieder zurück: „Naja, und dis is’ nun doch unser Eigentum. (..) Naja, wie ich och schon sagte: die Zeit heilt Wunden!“ (862–863). Das Unglück war zu verwinden. Hier waren sie erreichbar für ihren Freundeskreis, mit dem sie noch viel unternehmen wollten. Auch wenn sie am unbekannten Rand Deutschlands lebten, dem „Idiotismus des Landlebens“58 gaben sie sich nicht hin, wie Herr Jacobi ausführte: „Und wir haben och so ’n halt Freundeskreis und fahren och jemeinsam weg und. Also dass wir nun verblöden hier, so ist es nun auch nicht, ne. Heute Abend, wie spät haben wir’s denn? Naja, wir haben noch ’n bisschen Zeit. Wir wollen ja heute och noch so ’n jemütliches Beisammensein. Nicht, verschmoren will’n wir och noch nicht, ne!“ (887–890). Dieser Aktivismus gründete auf 58 Auch hier gilt dieses Wort aus dem Kommunistischen Manifest (Marx/ Engels 1964: 48).

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ihre Gemeinschaft von Freunden. Diese ist vielleicht nicht unwesentlich aus Kontakten während der früheren gemeinsamen Arbeit entstanden, aber sie hat sich schon längst von diesen äußeren, institutionellen Zwängen befreit, und darum war sie auch nicht bedroht, als sich das institutionelle Regime veränderte. Diese Gemeinschaft in Aktion beim Feiern und beim Aufbau zu erleben, ließ Jacobis glücklich sein. Nachdem der Wiederaufbau nun geschafft war, wollten sie nicht mehr umziehen. Sie fühlten sich schon wegen ihres Alters auch gar nicht mehr in der Lage dazu. Niemand könne sagen, ob es in naher Zukunft wieder ein Hochwasser geben wird, aber die Hoffnung, dass sie verschont blieben, die sei immer da, denn ein zweites, ähnliches Hochwasser wäre das Ende für sie. Es war „eine schaurige Zeit“ (1726), „dis war ’ne schaurige Zeit!“ (1734) wiederholen Jacobis abwechselnd. Nichts wünschten sie sich mehr, als dass sich so etwas nicht wiederholt. Sie vermuteten auch, dass es dann endgültig mit der Besiedelung der Niederung vorbei sein würde und es auch keine Spenden mehr gäbe. Die Oder, in deren unmittelbare Nähe sie wohnten, war ihnen währenddessen etwas fremd geworden. So wunderten sie sich über den Fluss, der sie so böse überrascht hatte: „Man guckt zu viel drüber weg, nicht. Und sagt: ,Was hast ’n mit uns jemacht?‘, wa“, meinte Herr Jacobi. Und Frau Jacobi ergänzte: „Nee. (.) Man sagt, man sagt immer wieder: ,Dieses kleine Wässerchen, wie konnt’ es dazu kommen?‘“. Für ihn war die Oder „ja ’n bescheidener Fluss, wa“. Verwundert fragte sich Frau Jacobi: „Nicht, wenn man jetzt, das ist doch keen Wasser drin in der Oder. Wie konnten diese Wasser-, wo konnten diese Wassermassen herkommen?“ (1739–1744). Beide waren verwundert, obwohl doch Herr Jacobi schon recht einleuchtende Erklärungen für das Hochwasser gefunden hatte: Übermäßiger Regen bewirkte das Hochwasser, das durch zusätzliches Wasser aus den Rückhaltebecken zu ungewöhnlich langer Belastung der Deiche führte, denen sie nicht standhalten konnten. Kein Wort mehr von einer Sprengung, und doch war ihnen das Fluterlebnis nicht geheuer. Die Natur veränderte sich, weil der Mensch sie mit Absicht manipulierte, um im wirtschaftlichen Wettbewerb besser dazustehen. Dabei gäbe es im Weltmaßstab gesehen viele nahe liegende Probleme, wie zum Beispiel das soziale Elend. Obwohl sie die Zeit des Hochwassers am Ende gut überstanden, waren sie sich einig, dass das eine schlimme Zeit war. Den Aufbau zählten sie wohl nicht mehr dazu, denn der war eigentlich eine recht positive Erfahrung hinsichtlich der Hilfe von Freunden und auch der finanziellen Unterstützung. Seitdem war der Fluss sichtbar wie eine Person, die sie ansprechen konnten. Sie sehen nicht mehr drüber hinweg, sondern achten die Oder, weil sie eine Gefahr unter ihrem gemächlich strömenden Wasser verbirgt. Den Grund für den Wandel des Flusses erkannten die Jacobis in obskuren menschlichen Machenschaften. So wird alles Schlechte von Menschen gemacht, selbst das Wetter. Die Sprengung der Deiche, die so ein wichti-

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ges Element des Opfermythos war, wird vor diesem pessimistischen Weltbild zu Marginalie. Es ging hier auch nicht mehr darum, die Überflutung der Niederung mit einem akzeptablen Sinn zu versehen. Das von Jacobis am Ende ihrer Erzählung vom Hochwasser formulierte pessimistische und statische Weltbild fand auch in der Niederung seine Entsprechung. Das mag man klischeehaft dem Alter der Jacobis zurechnen, jedoch gehörten sie ja der unternehmungsfreudigen, agilen Generation der jungen Alten an, wie sie dem Interviewer mit Blick auf die Uhr deutlich machten. Trotzdem erwarteten sie für die Zukunft keine Veränderungen in ihrer Region. Die Spendengelder sorgten für die Fixierung des Status quo. Auf Popularität oder Tourismus setzen sie gar nicht. Der Deich wurde ordentlich verstärkt, nur die Oder nicht ausgebaggert, obwohl sich der Flusskies gut zum Bauen eignen würde, meinte Herr Jacobi. Aber den Behörden blieb das wieder einmal verborgen. Und so ging alles beruhigend weiter wie zuvor: das Leben in der Niederung, die Ignoranz der Behörden und die Schlechtigkeit der Menschen, vor der ihre Gemeinschaft aus Freunden um so stärker leuchtete. Damit trat eine Tragik des Geschehens hervor, der komische Züge nicht fremd waren. Die Wasserstände der Oder interessierten auch Frau Höhler seit dem Hochwasser auf ganz neue Weise. Regelmäßig informierte sie sich darüber in der Zeitung. Zwar wohnte Frau Höhler schon lange in der Nähe des Flusses und hatte ihn immer wieder beobachtet, aber nun war das Gefühl dieser Nähe anders, es war dichter: „Wenn man hier so, wenn man wusste, dass die Schneeschmelze im Mai und Juni, denn sind mer mal gucken gegangen oder so ma’ spazieren oder so, des is’ gar nich’. Aber es is’ intensiver geworden, ja. Und so wie jetzt, das is’ jeder, sonst hat man nie en Blick in die Zeitung ’macht nach de Wasserstände. Nichts, nichts, gar nichts. Man konnte sich ja des er (..), ja. Aber es is’ irgendwie en ganz komisches Gefühl. En ganz komisches Gefühl, ne [sehr leise]“ (Höhler 375–383). Die Oder war für Frau Höhler nicht erst seit dem Hochwasser interessant, aber sie achtete eben nicht anders darauf als auf jedes andere landschaftliche Merkmal solchen Ausmaßes. Nun war es ihr „komisch“ mit der Oder, aber gar nicht zum Lachen. Das Komische spielte hier vielmehr auf das Überraschende an, das den Erwartungen, ob explizit formuliert oder implizit als Schemata, widersprach.59 Ein Stück Vertrautheit ging hier verloren, und Frau Höhler versuchte sich diese durch neue Routinen zurückzuholen. Verlust und Wiedereroberung der Vertrautheit aber waren Frau Höhler nichts Neues. Zum ersten Mal musste sie Vertrauen gewinnen und Ver-

59 Freud (1985: 152 ff.) arbeitete den Aspekt des Überraschenden als Mechanismus des Witzes heraus, wenngleich Erwartungen sich hier psychoanalytisch als Changieren zwischen Bewusstsein und Unbewusstem darstellen. Das Komische selbst ist darum noch kein Humor, sondern stellt den Widerspruch heraus, der zum Witz werden kann.

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trautheit erobern, als sie vor zwei Jahrzehnten in die Ziltendorfer Niederung zog. Inzwischen konnte sie sich keine andere Wohngegend mehr vorstellen, auch wenn es sie immer wieder nach ihrer Herkunftsgegend verlangte, freute sie sich ebenso wieder zurückkehren zu können: „Man hat Sehnsucht nach der alten Heimat und wir fahren och regelmäßig nach Hause, regelmäßig ja. Aber ich freu’ mich och wieder, wenn ich wieder hierherfahren darf, nach Hause komme. Jetzt, für mich is’ es jetzt e’n Zuhause geworden, ja“ (1120–1124). Zwei Heimaten, eine alte und eine neue, unterschied Frau Höhler. Die alte war die ihrer Kindheit und Jugend, die neue war die ihres selbstständigen Lebens. So wie erstere ein Schicksal ist, ist die zweite eher eine Wahl und darum ein aktiv gestalteter Aspekt der Selbstbeschreibung, im Gegensatz zur alten Heimat, die nur noch in der Erinnerung erlebt werden kann. Darum ist die neue, selbstgewählte Heimat so viel wichtiger als die alte, die man besucht, aber ohne weiteres auch wieder verlassen kann. Anfangs war die Ruhe der Ziltendorfer Niederung ungewohnt, inzwischen wollte Frau Höhler nicht mehr darauf verzichten. Vor allem aber hatten ihr Mann und sie sich während der Jahre alles geschaffen, was sie nun besaßen. Das Haus, das sie gegen Ende der DDR kauften und seitdem immer weiter ausbauten, war da das sichtbarste Ergebnis. Und auch der enge Zusammenhalt mit den Leute im Ort ist so ein Ergebnis jahrelangen Engagements: „Aber ich würde nie wieder weg wollen. Nie, nie nirgendswo weg wollen. Es sei denn jetze zum Beispiel, es kommt wieder so ’ne Katastrophe, das mir’s nich’ mehr halten könne’ oder wie oder was. Das, das muss schon ’n ganz extreme Sachen sein. Aber weg wollen würd’ ich nich’ mehr, nich’ mehr wollen, nee wirklich nich’. Also es is’ so ’ne eingeschworen, diese Gemeinschaft. Das is’ alles, das ham wir uns alles erarbeitet alleine, ja. Da steckt, da steckt zu viel, zu viel Fleiß da drinne“ (1148–1156). Die Leute in der Niederung empfand sie bis auf einige Ausnahmen immer als sehr angenehm, stellte Frau Höhler fest, denn sie seien freundlich und offen für andere. Diese Erfahrung machte sie schon, bevor sie überhaupt hier wohnte. Da besuchte sie zusammen mit ihrer Mutter die Schwester, die zuerst in die Ziltendorfer Niederung gezogen war. Die Freundlichkeit fiel ihr damals auch im Vergleich zu den Leuten ihres Geburtsortes auf. Inzwischen wohnte auch ihre Mutter hier. Der Zusammenhalt der Ziltendorfer war ihr damals ganz neu. Sie kannte das aus ihrem Herkunftsort nicht. „Aber hier, des is’ so des Dorf, wie ich schon sagte, ’ne eingeschworene Gemeinschaft so, ja, ja, des is’ alles entgegenbringen so“ (1188–1190). Als sie damals herzog, war sie gerade Mutter geworden. Da traf sie auf ihren Spaziergängen mit dem Kinderwagen den einen oder anderen, und die redeten gleich mit ihr. So kamen die Leute auf sie zu. Ihr Mann, mit dem sie gemeinsam in die Ziltendorfer Niederung zog, hatte es leicht

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durch seine Arbeit im Landwirtschaftsbetrieb. Nach einem Jahr waren sie mit allen bekannt und seitdem keine Fremden mehr gewesen: „Seitdem is’ gar nichts, dass wir so wie Fremde behandelt werden, weil wir ja hier nich’ geboren wurden und so weiter und so fort. Nicht, überhaupt nicht, ja“ (1212–1214). Aber das war nicht nur bei ihnen so. Auch die jungen Leute, die kürzlich in ihren Ort gezogen waren, wurden offen begrüßt. So wie die hiesigen Leute andere annahmen, das fand sie immer großartig. Die gemeinsame Arbeit erleichterte das gegenseitige Kennenlernen, aber das war keine Notwendigkeit, sondern es ging auch einfach so, wie sich zeigte. So ist ihnen die Eroberung der Gegend und der Leute gelungen. In deren offenherziger und freundlicher Gemeinschaft fühlte sie sich seither wohl. Ohne darauf hinzuweisen, meinte sie sich mit dieser Beschreibung auch selbst, sonst wäre ihr der Mentalitätsunterschied der Leute ihres Herkunftsortes nicht erwähnenswert gewesen. Nach der unvermeidlichen Eingewöhnungszeit gehörten sie selbstverständlich dazu. Und im Wesentlichen hatte sich daran nichts geändert. Damit aber hob Frau Höhler das Wesen der Gemeinschaft als primordiales aus der Geschichte heraus. Um so mehr irritierte sie das neue, angespannte Klima in einigen Orten der Ziltendorfer Niederung. Vor der Wende gab es zwar keine ordentlichen Kneipen oder andere Treffpunkte im Ort, aber man traf sich bei der Arbeit und bei Betriebsfeiern, denn die meisten Leute waren in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, der LPG, beschäftigt. Nach der Arbeit war das Dorf eine feste Gemeinschaft mit gegenseitiger Hilfestellung. Das hatte sich ab 1990 jedoch geändert, weil viele keine Arbeit mehr hatten oder schlicht alt wurden: „Ee is’ ’ne eingeschworene Gemeinschaft in Aurith gewesen. Jeder kannte jeden, jeder half jeden, wenn er mal ’ne größere Arbeit gehabt hat und so weiter und so fort, ja. Es is’ ’en bisschen anderscht geworden nach der Wende und so weiter, ja. Manche sind arbeitslos und viele sind Vorruheständler oder Rentner und und so weiter“ (664–669). Nach der Wende hatte man darum nicht gleich weniger miteinander zu tun. Nur wurde die gegenseitige Hilfe nicht mehr gebraucht, weil die private Landwirtschaft sich nicht mehr lohnte. Auch erzählte man sich nicht mehr alles: So redete niemand mehr wie früher darüber, was man sich anschaffte oder welches Gehalt man bekam. Auch zogen viele der Jüngeren fort. Aber nun gab es die Bürgerinitiative zur Verschönerung des Ortes. Hier war die Gemeinschaft seitdem zu erleben und zu gestalten. Wie üblich für die Geschichten, die vom Leben in der DDR erzählen, schilderte auch Frau Höhler die Arbeit als den verbindenden Faktor der Gemeinschaft.60 Ob auf Festen oder bei der Arbeit waren alle unter Gleichen. Und wegen der nahezu gleichen Probleme halfen sich auch alle, konnte man sich darüber austauschen, ob über Anschaffungen oder das Gehalt. Das konnte man erwarten, es war kein individuelles Geheimnis. 60 Siehe dazu die empirischen Studien von Richter (1999).

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Nach der Wende war der Gemeinschaftsfaktor der ausgestellten Gleichheit abhanden gekommen. Was wurde aus der Gemeinschaft, die vordem noch „eingeschworen“ war, was bedeutete, dass hier jeder ohne Umschweife für den anderen einstand, andernfalls aber kein Mitglied der Gemeinschaft mehr war? Ohne die Rahmenbedingungen der Gleichheit bei der Arbeit, beim Gehalt und beim Konsum musste sich die Gemeinschaft neu konstituieren. Das Symbol der Gefolgschaft musste sich anders begründen, und das geschah mittels nun formulierter und überhaupt formulierbarer gemeinsamer Interessen in der Bürgerinitiative. Das war aufwendiger als früher, aber das Hochwasser der Oder hatte da für weiteren Antrieb gesorgt. Nach dem Hochwasser aber hatte sich in der Niederung einiges im Verhalten der Leute verändert. Denn auch der zerstrittene Nachbarort war vordem eine feste und solidarische Gemeinschaft, die zum Beispiel immer ordentlich Karneval feierte: „Also da war des och so (..). Ich sach ja, das war ’ne eingeschworene Gemeinschaft, ne. So Nachbarn hat Nachbar geholfen und so weiter und so fort, ja. Wir ham groß Fastnacht gemacht und alles riesengroß gefeiert und alles das“ (855–858). Dabei waren sie dort nur zu Gast und haben eher mit Leuten anderer Orte gemeinsame Feste organisiert. Aber die Leute der nach dem Hochwasser so sehr zerstrittenen Orte hatten das weit intensiver zelebriert. Nun musste man abwarten, meinte Frau Höhler, wie sich die Stimmung dort entwickelt, wenn die Schäden erst einmal behoben wären. So war die Zeit des Hochwassers eine des großen Durcheinanders und der Anstrengung, die in der Ziltendorfer Niederung noch fortwirkte, fasste Frau Höhler zusammen. Der Fluss erschien ihr seitdem gefährlicher und mahnte sie, weil er immer zu sehen war. Jedoch fühlte sie sich nach wie vor sehr wohl. Da achtete man mehr auf die Oder: “Man lebt anderschter, man hat Respekt vor diesem Fluss, muss ich sagen. Man hat en bisschen mehr Respekt“ (1504–1506). Der Verlust der Ordnung war für Frau Höhler eine große Belastung, weil damit auch ein Kontrollverlust einher ging. Da schilderte sie sich hilflos. Aber sie eroberte sich ihre Souveränität wieder zurück, sei es gegenüber den Hochwasserschäden, dem Befremden gegenüber der Oder oder gegenüber der drohenden Erosion der Gemeinschaft. Mit trotziger Tatkraft am Haus, neuen Beobachtungsroutinen der Oder und dem Engagement in der Bürgerinitiative erhielt sich Frau Höhler ihr Bezüge zur Heimat und Gemeinschaft in einer sich verändernden Welt. Sie verteidigte ihre Wertepräferenzen, indem sie deren Geltungsbereiche aktiv gestaltete und veränderte. Die Zeit des Hochwassers erinnerte Frau Köppel als eine für die Gemeinschaft außergewöhnliche, die bis zu dem Augenblick hielt, als die Leute – durch die Meldungen der Behörden in Panik versetzt – nur noch ihre Möbel retten wollten. Damit löste sich das gemeinsame Problem in Sonderprobleme jedes Einzelnen auf und die eben entstandene Betroffe-

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nen-Gemeinschaft hatte keine Grundlage mehr. Zwar unternahmen sie danach noch einige gemeinsame Aktionen, aber das von Frau Köppel anlässlich des Sandsackplatzes formulierte Gefühl der Zusammengehörigkeit trat hier kaum noch ein. Die besondere Gemeinschaft der Betroffenen ging in den allgemeineren Verbund des Dorfes und der Niederung wieder auf. Ein gemeinsames Moment der Leute in der Niederung war die Debatte um deren Opferung. Aber das war zur Zeit des Interviews kein Gesprächsstoff mehr, stellte Frau Köppel fest. Sie war aber davon überzeugt, dass es richtig war, was die Leute sagten, dass das Oderbruch so bewahrt wurde. So hatte sich das Opfer letztlich gelohnt, denn es wäre ungleich schwerwiegender gewesen mit so vielen Leuten, wo es bei ihnen doch weniger als tausend waren. Damit teilte Frau Köppel die Ansicht aller aus der Ziltendorfer Niederung zu Wort gekommenen. Das andere große Thema, die Vergabe und Verwendung der Spendengelder, hatte die Kraft, die weitere Gemeinschaft der Leute in der Niederung dauerhaft auseinanderzudividieren. Aber so wie erwartet kam es nicht. Sie waren größtenteils trotz allem noch einander zugewandt, sogar in den Orten, wo es ehedem die größten Streitereien gab. In einem davon, den sie durch ihren Beruf nach der Wende besser kennenlernte, waren die Leute immer hilfsbereit und offen miteinander. Und das ist immer noch so: „Aber ich möchte sagen, so der Zusammenhalt ist nicht viel anders. Die sind irgendwie alle wie eine riesengroße Familie“ (Köppel 1472–1473). Gerade dort gab es heftigen Streit. Aber jeder Streit bietet auch die Chance, sich wieder zu vertragen. Sie war lange davon beeindruckt, wie dort einer für den anderen einstand. Da war es in ihrem Wohnort anders, wo sie den Eindruck hatte, dass jeder auf sich selbst große Stücke hielt. Und das hatte sich in den letzten drei Jahrzehnten, in denen sie im Ort schon wohnte, nicht geändert. Für die Leute im Nachbarort hatte Frau Köppel viel Sympathie. Deren Leben schien ihr ähnlich ihrem Gemeinschaftserlebnis vom Sandsackplatz. Jedoch war der Sandsackplatz die schon längst wieder vergangene Ausnahme. Das Leben im Nachbarort aber schien ihr der Alltag zu sein, der sich auch durch den Spendenstreit nicht verändert hatte. Die Leute ihres Wohnortes hingegen waren ihr schon seit drei Jahrzehnten fremd. Vielleicht war es auch deshalb irrelevant, über die Nichthilfe der weiter oben wohnenden Nachbarn zu reden, weil niemand das erwartet hatte. Sie selbst, das kann man aus den Verweisen auf den sympathischen Nachbarort und auch auf die anderweitige Herkunft ihres Mannes ersehen, versteht sich als jemand anderes. Sie schätzt Hilfsbereitschaft, Offenheit und Anteilnahme, die Formulierung gemeinsamer Ziele und deren gemeinsame Umsetzung. Nach dem Hochwasser fürchteten die Leute, der reparierte Deich würde trotz Verstärkung wieder nicht halten. Frau Köppel war mit dem Auto jedenfalls schon dort, um sich anzusehen, was aus dem Deich geworden war. Zur Diskussion um die Ausweisung von Polderflächen in der Niederung hatte sie keine Meinung. Sie hatte nur von den Älteren gehört, dass es

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früher da mehr Platz gab. Ab und an wurden noch alte Geschichten erzählt, aber das war auch alles. Als das Hochwasser vorbei war, schien aus Sicht Frau Köppels alles wieder in die alten Bahnen zurückzufinden. Technik löste das Problem der Bedrohung und die Gespräche der Leute gingen zu alltäglichen Dingen über. Insofern hatte sich auch für sie nichts am Leben in der Niederung geändert und wird es auch in Zukunft nicht tun: „Ich kann mir nicht vorstellen, das sich da was groß dran ändern wird. Jetzt durch das Hochwasser“ (1627). Weil alle ihren Ausgleich bekamen, sind die Lebensbedingungen dieselben wie zuvor. Nichts ist schlechter geworden, aber verbessert hat sich auch nichts. So suchte ihre ältere Tochter schon eine Weile nach der Flut vergeblich eine Ausbildungsstelle. Nur Wegziehen konnte sie trotzdem nicht, weil die anderen der Familie aus unterschiedlichen Gründen bleiben wollten. Frau Köppels Mann wollte höchstens noch näher an die Oder ziehen. Aber da wären sie in noch größerer Gefahr. Jedoch konnte sie auch nicht sagen, dass sich ihr Verhältnis zum Fluss geändert hatte. Sie fürchtete ihn nicht. Wenn das Hochwasser wieder käme, könnte man das sowieso nicht aufhalten. Und so „ist die Oder bei mir immer noch die Oder“ (1780). Am Ende ihrer Erzählung stellte sich Frau Köppel wieder ganz als Pragmatikerin dar. Die Oder gehört zu ihrem Leben, aber sie möchte dem Fluss keinen Glorienschein aus Furcht und Respekt anhängen. Hatte sich also für Frau Köppel in der Ziltendorfer Niederung letztlich nichts verändert, sondern war alles nur zum vorherigen Status quo zurückkehrt? Allerdings hatte sie während der Hochwasserzeit eine ganz neue Erfahrung gemacht, die im Grunde sehr schön war. Da hatte sie die Solidarität der Leute erleben können: „Hm ja, eigentlich fand ich die Zeit ganz toll, muss ich sagen. Ich fand die ganz dufte. Weil der Zusammenhalt so untereinander mit den Leuten hier war ganz anders. […] Na ja, das, das war ganz anders. Das haben ja die Leute selber gesagt. Dass man ja in so einer Situation – das haben sie auch schon immer gesagt, das hat man auch im Fernsehen gehört –, dass dann irgendwie der Zusammenhalt und das Zusammen, ist man irgendwie dichter zusammengewachsen, nich’“ (1710–1717). Ihre eigene Erfahrung fand Widerhall in den Berichten der Medien, also hatte sie sich nicht geirrt. An dieser Erinnerung, die so „toll“ und „dufte“ war, konnte sie sich festhalten, das war etwas anderes zum Alltag der zwischenmenschlichen Beliebigkeiten. Denn inzwischen war das Gefühl wieder verschwunden, weil zum Beispiel jeder mit seiner Arbeit zu tun hatte, die seit der Wende die Menschen viel mehr beanspruchte als davor. Aber ihr blieb auf jeden Fall die Erinnerung an den Zusammenhalt der Leute, an deren fraglose gegenseitige Hilfe, ihre Solidarität und problemlose gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Leistung der Anderen bei der Lösung des gemeinsamen Problems. Vor diesem Erlebnis trat

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Frau Köppels kurzzeitige Kapitulation vor dem Wasser an der Haustür völlig in den Hintergrund. Die Zeit des Hochwassers war für die Benzlers eine Zeit der Erkenntnis und der Enttäuschung. Im Grunde betraf sie die Flut gar nicht, denn ihr Haus gehörte schon zum oberen Teil des Dorfes, wo man sicher sein konnte, nicht vom Wasser erreicht zu werden. Trotzdem standen sie für die Bedrohten ein, aber da waren sie die Ausnahme. Darum waren sie der Meinung: „Also, hast das Dorf richtig kennengelernt. Oberdorf hat uns verraten, sagen wir beede“ (Benzler 403–404). Dieser Meinung waren auch einige andere Verantwortliche im Dorf, wie der örtliche Feuerwehrchef. Wie sehr Benzlers Selbstverständnis von dieser Erfahrung betroffen war, zeigte sich, als beide darüber verhandelten, wo die Grenze zwischen Ober- und Unterdorf eigentlich verlief. Für Herrn Benzler war klar: „Auf dem Berg hier oben hier“, und Frau Benzler stimmte zu: „Ja, eigentlich ab hier“. Jedoch spezifizierte er nochmals: „Ja, oberhalb hier“, worauf sie ergänzte: „Ja, bisschen“ (420 –433). Gehörten sie einst zum Oberdorf, so verlief seit dem Hochwasser für sie die Grenze anders: Zum Oberdorf gehörten sie nicht mehr. Fassungslos staunten sie noch Monate nach der Flut, wie dreist sich Nachbarn ihrer Pflicht zur Hilfe entzogen, obwohl in einem anderen Fall ihnen diese Hilfe zugute kam. Die ließen es sich gut gehen, weil sie sich einredeten, gegen das Hochwasser machtlos zu sein. Da kamen sie dann nur noch zum Gaffen herunter. Wenn man wusste, dass zuvor deren Haus vor dem Feuer gerettet wurde, konnte man erkennen, wie viel Undank dabei war, das weitere Geschehen einfach abzuwarten, meinte Herr Benzler. Mit ihren Überlegungen zum Verhalten gegenüber den Betroffenen, zum Grenzverlauf zwischen Ober- und Unterdorf, denen in Not und den ignoranten Gaffern formulierten Benzlers die Spaltung ihres Dorfes; der Feuerwehrchef war ihnen dafür Gewährsmann. Sie grenzten sich damit ab von jenen, die mit dem Anschein der Unschuld die Hände in den Schoss legten, abwarteten und die anderen ihrem Schicksal überließen. Damit hatten sich diese ihrer Gemeinschaft als unwürdig erwiesen, erst recht, wenn deren frühere Leistung sie zur Solidarität verpflichtete. Weil sich in ihren Augen fast das ganze Oberdorf so verhielt, verschoben Benzlers die Grenze, wodurch sie zum räumlichen Symbol für ihre NichtZugehörigkeit wurden. Diese Wertung der Ereignisse steht ganz im Gegensatz zur Schilderung Frau Köppels, die unter ähnlichen Umständen eine beglückende Gemeinschaftserfahrung machte. Sie hatte im Grunde kein Problem damit, dass sich die Betroffenen größtenteils allein behelfen mussten. Aber im Gegensatz zu Benzlers war Frau Köppel eine von jenen, die tatsächlich vom Hochwasser bedroht waren. Benzlers waren sich hingegen immer sicher, dass sie das Wasser nicht erreichen würde. Trotzdem halfen sie, trotzdem übernahmen sie für die Bedrohten Verantwortung. Frau Köppels Erfahrung der „tollen“ und „duften“ Zusammengehörigkeit gründete ja auf

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einer stillen Übereinkunft hinsichtlich desselben Problems aller in dieser Gemeinschaft, die sich unmittelbar aus ihren eigenen Interessen ableitete. Benzlers nahmen sich dieses Problems in Form einer Selbstverpflichtung an, die an die Not anderer Leute anknüpfte, welche ihrer Vorstellung nach der Gemeinschaft angehörten. Andere, wie die Leute im Oberdorf, entschieden da wohl anders und an ihrem eigenen Wohl orientiert gegen diese Pflicht, ja erkannten womöglich nicht einmal die aus der Gemeinschaftlichkeit erwachsende Pflicht und hatten dann sicherlich eine ganz andere Vorstellung von Gemeinschaft, die im Moment des Hochwassers relevant war. Aus dieser Diskrepanz der Gemeinschaftsvorstellungen erwuchs das Unbehagen der Benzlers. Dabei war ihnen wichtig klarzustellen, dass nicht nur sie diese Gefühle der Enttäuschung hatten. Ihren Bericht wollten sie als sachlich verstanden wissen, weil sich ihre dabei formulierten Einsichten erst im Verlauf vieler Gespräche mit anderen, vernünftigen Leuten herausbildeten. „Aber dennoch muss ich sagen, eh, denk ich, sind wir relativ objektiv, was wir so sagen. Es ’s Ergebnis erst mal von vielen nächtelangen Gesprächen miteinander, aber auch mit Leuten, auf die du hältst, die was im Dorf wert sind. Die das genauso sehen“ (2035–2037), begründete Frau Benzler. Die Wertschätzung, die sich in den Gesprächen herausstellte oder geprüft wurde, kann als Anlass für eine neue Gemeinschaftsbildung gelten. Als verlässliche Leute beschrieb Frau Benzler solche, die so waren wie sie selbst, die sich zum Beispiel im Dorf verschiedentlich engagierten. Als das Hochwasser vorüber war und sie ihre Gemeinschaftsbezüge neu ordneten, dachte Frau Benzler zunächst, auch andere würden nun die üblichen Anlässe dörflicher Geselligkeit meiden, um sich abzugrenzen. Aber schnell wuchs dann doch Gras drüber, und so waren viele Leute dort wieder anwesend. Aber das wollte sie gar nicht verurteilen, denn man stand ja vor einer unmöglichen Alternative, sich aus allem rauszuziehen und abgeschottet weiterzuleben wie ein „Einsiedler“ (2059). Dann hätte man auch wegziehen können. Für sie kam das nicht in Frage. Stattdessen zogen sie die Grenzen schärfer, wählten die Leute aus, mit denen sie Umgang haben wollten und beteiligten sich weiterhin im Dorf. Sie schnitten die Leute, von denen sie enttäuscht wurden. Aber viele andere, von denen sie den Eindruck hatten, der gleichen Meinung zu sein, hatten eben doch schnell wieder Umgang mit jenen Leuten. Benzlers folgerten daraus, dass die Leute von der Schnelligkeit des modernen Lebens überfordert seien, so dass sie besser schnell vergessen würden, um sich den nächsten Problemen stellen zu können. Darum wich der Schreck über die Katastrophe dem normalen Alltag und die Vorwürfe lösten sich wieder in alte Zuneigungen auf: „Ja, ist eben die Menschen eben, die Zeit so schnelllebig geworden, ist diese rasante Geschwindigkeit, und so ist das auch alles.“ Aber für Frau Benzler stand fest: „Nee, kann das nicht“, und Herr Benzler stimmte zu: „Ich auch nicht“. Vergessen könnten sie das alles nicht so schnell wie die

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anderen. Bei denen sei „alles weg, aber ganz schnell“, schon „einen Tag später, Sonnabend nachts auf Sonntag, ein paar Stunden später ist schon wieder alles: ,Huch, na ja‘, und das war’s nu“. Alles war wie immer, nämlich „dicke Freundschaft“ (2081–2089). Die Ereignisse ließen Benzlers nicht in Ruhe, weil sie der vermeintlichen Schnelligkeit der Ereignisse nicht nachgaben, sondern am Erlebten festhielten, sich ein Gewissen leisteten. Dabei waren sie bemüht, die moralische Fallhöhe zu reduzieren, indem sie immer wieder Gewährsleute anführten, die ähnlich dachten wie sie. Trotzdem war ihre Argumentation eine durch und durch moralische. Das war auch unvermeidlich, denn es ging ihnen bei ihrem Bericht zum Hochwasser um die Wertsetzung und die Forderung nach deren Geltung. Darüber verhandelten beide Benzlers im Gespräch miteinander, sich der gemeinsamen Position und dem Einverständnis anderer zu versichern. Insofern schilderten sie keinen Ausschnitt ihrer Lebensgeschichte, sondern schon prozessierte Erfahrungen, denen Entscheidungen folgten: sie blieben im Ort, wählten aber ihren Umgang nach den Kriterien tugendhafter Wertsetzungen. So erschien ihre alte Gemeinschaft zerfallen, aber eine andere hatte sich ihnen aufgetan, die sich über die gemeinsame Bestimmung der Werte in den „nächtelangen Gesprächen“ ergaben. Hier wurde über symbolische Grenzmarkierungen verhandelt. Klar wird daran, dass die Angst vor einem Verlust der Tugend, wie sie in der Kommunitarismusdebatte61 diskutiert wurde, unbegründet ist. Tugenden gehen beim Bruch von Gemeinschaften nicht ebenfalls verloren, stattdessen finden sich andere Gemeinschaften – und das nicht in Ausschließlichkeit, sondern in jeweils nach Relevanz gewählten adäquaten Bezügen.62 Für sich nahmen die Benzlers in Anspruch, so wie niemand sonst über das Geschehen während des Hochwassers nachgedacht zu haben. Denn sie hatten sich im Unterschied zu anderen dabei selbstlos engagiert. Später wurden sie dafür noch von anderen belächelt. Überhaupt schien ihnen, seien sich die Menschen seit der Wende abhanden gekommen. Niemand sei mehr dem anderen zugewandt, enge Beziehungen würden von Sprachlosigkeit überschattet, oft hatten sich Freunde entfremdet. Die Leute kümmerten sich heute vor allem um ihren Besitz, seien ganz eingenommen von der Arbeit und vom Konsum, wobei wirklich wichtige Dinge, wie Beziehungen, vernachlässig würden. Auch Benzlers hatten sich etwas Neues angeschafft, jedoch nicht um der Sache Willen, sondern um dessen Ge61 Für einen Überblick siehe Honneth (1994). 62 MacIntyre (1987) freilich bezog den Verlust der Tugenden auf eine scheinbar höhergelagerte soziale Ebene, nämlich auf die der Nation. Aber ein Blick auf die Geschichte dieser immer noch jungen Idee zeigt, dass, ehe diese Vorstellung überhaupt zum Wirken kam, sie sich schon wieder auflöste (Anderson 2006). Authentizität der Tugenden ist darum nur in Gemeinschaftsbezügen zu haben. Sie besteht allein in der Adäquanz der Wertebezüge, unabhängig vom etwaigen Maßstab der Imagination des partikularen Wir.

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brauchswert willen, wie eben ein Auto zum Fahren und nicht wegen des Autos als männlicher Fetisch. Auch in den Familien wird kaum noch etwas gemeinsam unternommen, sondern nur noch die Zeit totgeschlagen. Das alles hat seine Ursache in den großen sozialen Differenzen. In dieser Argumentation der Benzlers klingt nun deutlich ein nostalgischer Bezug zur DDR an. Aber nicht der DDR als Staat gilt ihre Sehnsucht, sondern das dort ermöglichte Leben in Gemeinschaft. In diesem Leben waren alle gleich, worauf das gemeinschaftliche Leben gründen konnte und so Gerechtigkeit erzeugt wurde. Heute hingegen muss die Gemeinschaft bei der Gerechtigkeit ansetzen, indem sie Werte zur Gültigkeit verhilft, erst daran entsteht Gleichheit. Klangen Benzlers bis hierher überwiegend verbittert und einsam, hatten sie doch die Gewissheit, nicht allein zu sein. Viele blieben um des sozialen Friedens willen still, würden aber im entscheidenden Augenblick den Mund aufmachen, war sich Herr Benzler sicher. Und so gehörten sie keiner Minderheit an, sondern eigentlich der Mehrheit, die unter der Oberfläche eines Meeres aus zivilisiertem Schweigen ruht; Benzlers stachen da lediglich als die sprechende Spitze dieser Mehrheit hervor. Der dörflichen Gemeinschaft fehlte vielleicht auch eine charismatische Figur, wie Herr Benzler mit Blick auf Geschehnisse in einigen Nachbardörfern überlegte. Hätte man die Leute mit Nachdruck aufgefordert, wäre vielleicht vieles anders gekommen. Und auch die gleichartige Betroffenheit hatte wohl das Engagement breiter werden lassen. Das jedenfalls sei sein Eindruck vom Oderbruch gewesen, wo eben alle auf gleicher Höhe wohnten. Außerdem gäbe es im Oderbruch auch ein anderes Geschichtsbewusstsein, wo sich alle noch an das Hochwasser von 1947 erinnerten, war er überzeugt. In der Niederung gab es nichts Ähnliches, sondern nur Erzählungen von einem während der Kriegshandlung vor sechzig Jahren zerstörten Deich. Aber das war nicht viel, worüber man reden konnte. Drei Momente als Voraussetzung von Gemeinschaftlichkeit formulierte Herr Benzler in diesem Zusammenhang, nämlich Führungspersonen, gleichartige Betroffenheit und gemeinsame Geschichte. All das fehlte, seiner Meinung nach, in der Ziltendorfer Niederung. Abschließend schien Herrn Benzler das Hochwasser die gemachten Erfahrungen wert. Auch beim nächsten Mal würde er sich auf gleiche Art engagieren. Frau Benzler fühlte sich durch ihre Reflexion über die Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Leute gewachsen. Nun konnte sie sich an den alltäglichen Dingen viel mehr freuen, weil sie wusste, dass sie nicht einfach gegeben waren. Auch hatte sie erneut erfahren, wie wertvoll eine verständnisvolle Partnerschaft ist. Und so hatte sich jeder Augenblick während des Hochwassers gelohnt, weil das Normale ihnen nun als das Außergewöhnliche erschien. Sie waren froh zu erfahren, dass es Leute gab, auf die sie bauen konnten. Hatten sie für sich viel gewonnen, so waren sie sich sicher, dass die Region sich nach dem Hochwasser nicht weiterentwickeln wird.

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Benzlers erfuhren das Hochwasser als Probe ihrer Selbst. Am Scheitern ihrer Selbstbeschreibung fühlten sie sich gewachsen, insofern sie die wahren Werte des Lebens und der Gemeinschaft erkannten. Dabei hatte sich ihnen einen neue Gemeinschaftsperspektive eröffnet. Anknüpfungspunkte für die Reformulierung ihres Gemeinschaftsbezuges fanden sie im Erleben der Verhaltensweisen der Anderen und deren Engagement, das nicht angeordnet werden konnte, sondern das jeder aus sich selbst bestimmen musste, damit es wertvoll, authentisch wurde. Das unterschied aber die Gemeinschaft von jener der Vorwendezeit. Jedoch bestanden sie in der aktualisierten Selbstbeschreibung der Idiosynkrasie ihrer Angehörigkeit an einer Mehrheitsgemeinschaft verhaftet. Damit konnten sie von sich glauben, richtig zu liegen. Die Bedingungen der Gemeinschaft, das wurde in den Erzählungen über das Hochwasser klar, hatten sich historisch verändert. Nicht einmal acht Jahre waren seit der Wende und der Wiedervereinigung vergangen, als die vorliegenden Interviews durchgeführt wurden. Der Bezug auf die DDR, die bis dahin um so vieles länger die Biographien der Interviewten prägte, lag nahe. Die Erzählungen machten deutlich, dass die Konstitution der Gemeinschaft vor und nach der Wende unterschiedliche Grundlagen hatte. War es unter den Bedingungen der DDR die Gleichheit aller, so verlor sich diese Gleichheit in allen Belangen. Die Individuen wurden aus der erzwungenen Kollektivität ausgelöst, was sie aber nicht als Befreiung, sondern als neue Last und Verunsicherung erlebten. Die Erzähler kamen damit freilich trotzdem zurecht, aber die Sehnsucht nach dieser Gleichheit war nicht umsonst so ein starker Antrieb der Mitte der 1990er Jahre aufbrechenden und auch hier auszumachenden Nostalgie. Alle Interviewten nahmen die Aufgabe der Selbstverantwortung und des gemeinschaftlichen Engagements im Grunde an, doch die verklärte Gleichheit aller mischte sich immer wieder bei den Beschreibungen des Scheiterns von Engagement ein. Das wirft auch auf die Debatte um die Bemessungsgrundlage von Gerechtigkeit ein neues Licht. Diese war vor allem eine Konkretisierung der umfassenderen Debatte über die Grundlagen gesellschaftlicher Gerechtigkeit. War auch die Loslösung von Gleichheit zugunsten der Annahme einer für alle gleichen Aufgabe zur Selbstverantwortung akzeptiert, wurde für die eigene Region immer wieder Stillstand konstatiert. Selbstverantwortung konnten die meisten Protagonisten vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation in der DDR offensichtlich nicht auf eine Verantwortung für das Gemeinwesen übertragen, sondern verlangten diese zunächst von anderen, vor allem den Behörden. Selbst die aus der Aufgabe zur Selbstverantwortung abgeleitete Ungleichheit, mit der Benzlers am unzufriedensten waren, aber auch Jacobis und Frau Köppel in gewisser Weise haderten, wurde nicht als eine dynamisierende Veränderung wahrgenommen, sondern als Zustand der Ungerechtigkeit. Darum schien der Status quo bis in alle Ewigkeit durch die

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Spendengelder und den neu aufgeschütteten Deich garantiert zu sein. Die eigene Lage war allen angenehm, die allgemeine aber hoffnungslos. In dieser unpersönlichen Resignation, die eine Selbstbehauptung immer gegen widrige Umstände behauptete, ist eigentlich eine Fortsetzung der Erfahrungen in der DDR, wo man sich immer ein doppeltes Spiel leisten musste, um mit sich selbst zurechtzukommen. Vorderhin gab es die Gemeinschaft der Gleichen unter gleichmachenden Bedingungen, die man hinterher durch diverse Netzwerke im Privaten differenzierte. Diese Gemeinschaft der Gleichen war ein für alle Mal vorüber. Sie war schon zur Zeit des Hochwassers in Netzwerke aus Freunden und Bekannten, den Leuten der Orte, den Bürgerinitiativen, schweigenden Mehrheiten moralisch aufrechter Bürger und den Anderen fragmentiert. Die gemeinschaftlichen Bezüge waren nun weniger strikt und dadurch anstrengender aufrechtzuerhalten. Denn sie erforderten eine Menge Arbeit in nächtelangen Gesprächen oder gemeinsamen Zielformulierungen für die Gestaltung eines Dorfes. Aber trotz der mehr oder weniger vorhandenen Ressentiments bemerkten alle Erzähler die neuen Chancen auf Glücksmomente der Selbsterfahrung, die es so vorher nicht gab.

Gemeinschaft und Individuum in der Ziltendorfer Niederung Gemeinschaft in der Ziltendorfer Niederung Die Geschichten der Leute aus der Ziltendorfer Niederung waren immer ganz individuelle Schilderungen der Geschehnisse während des Sommerhochwassers der Oder 1997. In den Antworten waren die Spuren nach der Suche der eigenen Geschichten zu lesen. Die erzählten Geschichten waren Selbstverständigungen, denen die Aufforderung zum Erzählen nur Anlass war. Dem anderen galt es sich selbst zu erklären und so zu verstehen. Auch der anwesende Partner war da keine Ausnahme. Man erklärte sich den anderen und diese gaben emphatisch oder nicht den Anschein von Verständnis. Insofern waren auch diese Geschichten, wie auch die Geschichten aus dem Oderbruch, immer individuell und unvergleichlich in ihrem Gehalt. Aber gerade darin liegt deren Brauchbarkeit für einen Vergleich, der das Besondere gegen das Allgemeine aufwiegt, der in den solitären Geschichten Probleme ausmacht, die alle Erzähler gleichermaßen umtrieben, selbst wenn sie für sich vor jeweils anderen Herausforderungen standen. Alle Protagonisten, deren Stimmen hier ausführlicher dargestellt wurden, hatten sich trotz aller Bezüge auf Freunde, Bürgerinitiativen, das Dorf oder Behörden nicht primär als Gemeinschaftsmitglieder, sondern als Personen dargestellt. Viele Episoden konnten gar den Eindruck von Einsamkeit erwecken. Als Jacobis verlassen von den Nachbarn in ihrem Haus

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saßen, Frau Höhler obdachlos von einer Evakuierungsunterkunft zur nächsten zog, bis sie in einer fremden Stadt unterkam, Frau Köppel allein an ihrer Haustür stand, als das Wasser kam und die Benzlers sich in tiefster Enttäuschung von der Dorfgemeinschaft abwandten. Trotzdem war da Gemeinschaft, selbst in diesen Momenten der Einsamkeit. Zunächst einmal kann man nur einsam im Bezug auf die Gemeinschaft sein, womit aber keiner der Erzähler sich in einer Robinsonade einstrickte. Im Gegenteil ließen sie die Gemeinschaft nicht ruhen, sowenig wie diese sie. Die Erzähler suchten sie oder wurden von einer Gemeinschaft gefunden. Dabei waren ihre Geschichten immer solche von individuellen Schicksalen. Die Nachricht von der drohenden Gefahr erreichte die meisten im Alltag, wenige im Urlaub. Die Gemeinschaft als Idee war bei den Leuten in der Niederung keine vorgegebene, die irgendwelchen Kampagnen folgte. Die Gemeinschaft wurde in vielerlei Formen und unter besonderen Bedingungen aufgerufen. Aufgrund der Erzählungen und Berichte ist auf keinen Fall von einer Regionalgemeinschaft zu sprechen, die sich an administrative oder landschaftliche Grenzen halten würde. Auch ist keine einheitliche, für alle Erzähler selbe Gemeinschaft auszumachen. Nicht einmal Übereinstimmung hinsichtlich der Dauerhaftigkeit der dargestellten Gemeinschaften ist festzustellen. Trotzdem finden sich viele Beispiele für die Aufrufe von Gemeinschaft in den Erzählungen über das Hochwasser in der Ziltendorfer Niederung. Der Nachweis regionalen Wissens aufgrund langer Familientradition bei Jacobis verwies auf eine Gemeinschaft, wie die Beschreibung der Hilfestellungen von Bekannten und Verwandten. Frau Höhlers Erzählung aus zweiter Hand über die Selbstorganisation erschien wie das Präludium der späteren Bürgerinitiative. Die Erinnerung Frau Köppels an die kurze Episode des Sandsackplatzes war einer Schau auf die Idealgemeinschaft, die im nahen, aber doch so fernen Nachbardorf Wirklichkeit zu sein schien. Die Zerstörung der Gemeinschaftsvorstellungen von Benzlers wurde aber auch als eine Art Erwachen aus einer Illusion geschildert, wodurch erst die Augen für eine echte Gemeinschaft geöffnet wurden. All diese Gemeinschaftsentwürfe hatten ihren Anlass in der Hochwassergefahr. Diese war der Anlass für deren Aufruf als Kommunikationsthema und Erlebnis. Und doch kann man nie von einer Katastrophengemeinschaft sprechen, einem Zusammenschluss, der aus der Angst geboren solange anhielt, bis die Gefahr gebannt schien. Die Formen und Zuschnitte der Gemeinschaften fallen nämlich vielfältiger aus und folgen individuellen Selbstzurechnungen und Abgrenzungen. Die Gemeinschaften, die benannt wurden, waren für die Erzähler schon viel länger als Selbstzurechnungen möglich. Anderen widerfuhren die Gemeinschaften erst mitten im Geschehen, aber dann endeten sie nicht mit dem Ende des Hochwassers. Jedoch waren dessen Anfang und Ende für die Erzähler nicht wirklich klar zu markieren und blieben so ihren Bestimmungen überlassen. Die offizielle Chronik gab da

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kaum Anhaltspunkte für die individuelle Erinnerung. Eher schienen die Betroffenen in dieses Ereignis hineingerutscht zu sein. Das Hochwasser begann für die Jacobis mit den Nachrichten aus Polen und Tschechien, aber auch sie selbst beobachteten schon die Oder. Hier betonte Herr Jacobi sein besonderes regionales Wissen, das über Generationen auf ihn gekommen war. Es handelte sich um einen Gemeinschaftsbezug, wenn das Wir sich auf die Ahnen bezieht, erst recht, wenn beide Jacobis bemerkten, dass diese Kette sich vom Ort gelöst hatte und mit ihnen verloren zu gehen drohte. Als das Hochwasser sich von Ferne ankündigte, war der Bezug auf die Erfahrung der Altvorderen eine Quelle vermeintlicher Sicherheit, die sie entsprechend handeln ließ. Sie beschlossen zu bleiben. Und auch gegenüber den unwissenden Behörden konnten sich Jacobis mit diesem Wissen behaupten. Auf diesen Bezug wollten sie sich aber nicht mehr stützen, als sie bemerkten, dass sie von ihren Nachbarn verlassen waren. Deren Abwesenheit machte sie für das eigene Befinden erst relevant. Die Zweifel am Entschluss zum Bleiben entfachten schnell die Angst. Amtliche Verhaltensanweisungen, die vordem von ihnen noch abgelehnt wurden, waren jetzt erwünscht. Als dann die Aufforderung per Hubschrauber kam, zögerten Jacobis nicht. Die Fahrt ins Exil erschien vor der Erfahrung der Einsamkeit dann wie eine Heimfahrt inmitten der Gemeinschaft, die sich nun als ein Netzwerk aus Familienangehörigen und Bekannten ausnahm. Und dieses Netzwerk nahm im weiteren Verlauf immer konkretere Formen an. Das regionale Wissen von Generationen bot Orientierung zur Selbstversicherung, bei der Bewältigung des Schmerzes und der Schäden aber konnte nur das gegenwärtige Netzwerk helfen. Die Nachrichten aus Polen und Tschechien hatten bei den Leuten in der Niederung kaum einen abschreckenden Effekt in dem Sinne, dass sie sich besonders betroffen fühlten, obwohl sie sich im Grunde darüber klar waren, dass die Wassermassen trotzt Deichbrüchen in Polen doch auch bei ihnen vorbeikommen mussten. Vertrauen in den Deich, in die Lebenserfahrung mit dem bis dahin doch so ruhigen Fluss und darin, dass einem selbst die Katastrophe nicht widerfahren kann, beruhigten die Gemüter. Die Erzählungen der Alten im Dorf waren für Frau Höhler trotz ihres Wissens ein Beruhigungsquell. Bis zu ihrer Rückkehr aus dem Urlaub war da noch keine Gemeinschaft relevant. Erst die Situation vor Ort, bei der sich die Zeit in Hektik verkürzte und beim Warten auf das Unvermeidliche verlängerte, machte ihr die Bedeutung der Gemeinschaft beim Sichern des Ortes bewusst. Sie selbst schien nicht Teil dieser Gemeinschaft, sondern über ihren Mann und ihren Sohn assoziiert gewesen zu sein. Die Dorfgemeinschaft und deren Initiator, obwohl sie schon ihre Rolle an die professionellen Helfer verloren hatten, wurde für Frau Höhler zum Orientierungspunkt ihrer Aktivitäten nach ihrer Rückkehr aus der Evakuierung; und das auch, weil hier schon vorherige Gemeinschaftsdebatten zusammenliefen und sich in der Bürgerinitiative bündelten. Zwischenzeitlich war

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auch für sie die Familie der primäre Bezug, weshalb sie sich trotz ihrer Odyssee zwischen den Evakuierungsunterkünften nicht verlor. Frau Höhlers Geschichte und auch die der Jacobis von ihrem bewährten Familienund Freundesnetzwerk haben einen romantischen Charakter, weil sich die Gemeinschaft gegenüber den Umständen bewährt und weiterentwickelt hat. Am Rand der Niederung waren die Nachrichten noch weniger beunruhigend als nahe der Oder. Entweder war das Hochwasser ein fernes Ereignis wie anfangs für die Benzlers oder aber ein Element für den Wochenendspaziergang der Familie Frau Köppels. Die Gefahr wurde für Benzlers in der Gemeinschaft von Freunden real, weil die zwar im Scherz, aber doch hauptsächlich darüber redeten. Durch dieses Gespräch drängte sich Herrn Benzler eine ganz andere Dimension der Gefahr auf. Zwar formulierte er diese nicht explizit, wenn er sich aber als Feuerwehrmann mit seiner Aufgabe auseinandersetzte, so war die Hochwassergefahr eine der Dorfgemeinschaft und darüber hinaus der Ziltendorfer Niederung, erst recht, als er am Deich im Einsatz war. Hier entwickelte sich der Bezug seines Engagements auf die bedrohten Einwohner der Niederung als Gemeinschaft. Weil er sich für die Bedrohten am Deich und anderswo einsetzte, leitete er später daraus auch seine Berechtigung für seine Beurteilung des Verhaltens der Passiven und der Flutopfer ab. Frau Köppel war hingegen lange ganz selbstverständlich in ihrer Familie aufgehoben. Ihr Alltag wurde erst gestört, als es zur Sperrung der Zufahrten zur Niederung kam. Die weitere Familie war nun die nächste Adresse, um einige Selbstsicherheit zu gewinnen, die sie immer wieder in ihrer Ironie der Situation gegenüber ausdrückte. Ein einschneidendes Erlebnis war die kurze Episode der Gemeinschaft vom Sandsackplatz, die sich erst langsam über mehrere Etappen entwickelte, dann aber unter den Panikattacken schnell wieder auseinanderbrach. Da blieb wiederum nur der Familienkreis, aber der half nicht wirklich, gegen die nun unmittelbare Gefahr zu bestehen. Und so floh Frau Köppel aus ihrem Haus, denn sie konnte den Abstand nicht mehr ironisch aufrecht halten. Erst mit zeitlicher Distanz gelang es ihr wieder, Souveränität zu gewinnen. Die Gemeinschaft thematisierte sie anschließend in zwei Versionen, denen sie beiden nicht angehörte. Zum einen waren da die Undankbaren und Nutznießer, die sie ablehnte, zum anderen aber erinnerten sie die Erlebnisse inmitten der Sandsackplatzgemeinschaft an ihr Idealbild der Gemeinschaft im Nachbardorf. Dieser Gemeinschaft konnte sie aufgrund ihres anderen Wohnortes nicht angehören. Darin lag trotz aller Satire die Tragik der Erzählung Frau Köppels. Die Vereinsamung Benzlers durch stufenweise Enttäuschung machte den Eindruck eines Katalysators, mit dem sie einen neuen Gemeinschaftszuschnitt entwarfen. Diese Gemeinschaft wandelte sich dann erstaunlicherweise von einer Minorität zur Majorität der regionalen Gemeinschaft, die dann ja nur

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noch landschaftlich-geographisch von den Grenzen der Ziltendorfer Niederung umrissen sein konnte. Neben der Vielfalt an Gemeinschaftskonstruktionen fallen einige Gemeinsamkeiten auf. Die Familie wurde von allen Interviewten als der kontinuierlichste Gemeinschaftsbezug genannt, dem bei der Bewältigung des Hochwassers größte Bedeutung zukam. Sie war die Ressource von Hilfeleistungen, aber auch die Adresse der Befürchtungen, sie war emotionales Auffangbecken und der Hort des Vertrauens. Die Familie und das anhängende Netzwerk jedoch waren nie ein umfassender, sondern immer sehr spezieller Gemeinschaftsbezug. Die Behörden wurden unisono abgelehnt, je mehr, umso weiter entfernt diese von den regionalen Brennpunkten agierten. Aus der Nähe betrachtet, hatten die Vertreter dieser Behörden ein Gesicht und wurden zu Personen, die vom behördlichen Versagen freigesprochen werden konnten. Darum blieben die Behörden und auch die Helfer Andere, die nie vom Wir eingeschlossen waren. Ebenso verhielt es sich mit den Journalisten und Prominenten. Nach und nach wurde allen Betroffenen klar, dass die Reporter die Leiderfahrungen in Nachrichten an die Welt transformierten. Aber in dieser Rolle mussten auch sie eine Gruppe bleiben, gegen die man sich abgrenzte. Ob das nun als prinzipielle Ablehnung oder als spätere Kooperation erfolgte, der Bezug auf die jeweils relevante Gemeinschaft wurde bedeutender. Die Interaktionen mit jenen konnten bei der Bewältigung der Erfahrung des Leides nicht helfen, sondern diese höchstens wegen der erzwungenen Reflexion noch potenzieren. Aber sie waren eben auch Mittel zum Zweck der Gewinnung von Spendengeldern, indem sie die Verknüpfung eines einstmals abgelegenen Gebietes mit dem Rest des Landes und dann auch der Welt produzierten, wodurch Anlässe zur Solidarität und zum Spenden gegeben waren. Polen und Tschechien, obwohl viel stärker betroffen, erlangten nie die Bedeutung wie der deutsche Osten an der Oder. Für die Einwohner der Ziltendorfer Niederung aber war der Bezug auf die Betroffenen in diesen Ländern eine Quelle des Trostes. Denn durch die Selbstrelativierung angesichts des viel größeren Leides dort war es besser möglich, nicht in Trauer und Niedergeschlagenheit zu versinken, sondern die Herausforderung des Hochwassers anzunehmen. Die Spendengelder halfen da freilich sehr, aber von den Interviewten begriff dies niemand als ein Angebot, sich einer neuen deutschen Nation zuzurechnen. Das wohl wichtigste Thema für die Selbstzurechnung zu einer Gemeinschaft, die die umfassendste Klammer im Zusammenhang mit dem Hochwasser darstellte, war der Opfermythos. Dieser bestand, soviel wurde klar, aus der Sabotageerzählung und der Legitimation der Sabotage. Darin bündelte sich die Ablehnung der Behörden, das regionale Wissen, mit welchem deren Geheimnis zu durchschauen war, mit dem Edelmut, sich selbst zur Verhinderung größeren Leides eingesetzt zu haben. Die Legitimation mit dem Gegenstand des Oderbruchs schließlich ließ sogar das un-

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terstellte Spiel der Behörden rechtfertigen, hätte aber auch als Begründung für ein Anrecht auf Ausgleichszahlungen getaugt. Soweit ging jedoch keiner der Erzähler. Eine weitere Gemeinsamkeit war der ablehnende Bezug auf den Streit um die Vergabe der Fördermittel. Alle Protagonisten zählten sich nicht zu den illegitimen Nutznießern, weshalb sie beim Streit um die Vergabe der Fördermittel klar engagiert waren. Nur Frau Köppel konnte recht leicht darüber hinweggehen, denn wie es schien, war sie in ihrem Dorf und ihrer gerade nach dem Hochwasser so relevanten Bürgerinitiative nicht betroffen. Unterschiede wurden bei diesen Debatten immer dann deutlich, wenn es um Nennung der symbolischen Grenzmarkierungen, der Werte, ging, die für die gemeinsame Sicht auf die Dinge gelten sollten. Die Entscheidung über Gerechtigkeit aufgrund von Leistung oder Gleichheit gab hier den Ausschlag, wie man sich zurechnete. Die Frage nach Gerechtigkeit lag aber auch der Enttäuschung zugrunde, wie sie Benzlers deutlich machten. Gerecht konnte der nicht sein, dem das Schicksal der anderen Gemeinschaftsgenossen gleichgültig war. Denn so kamen diejenigen nicht mehr dem Geltungsanspruch dieses Wertes ausgleichender Leistung im Sinne gegenseitiger Hilfestellung nach. Die Reziprozität wurde ebenfalls durch die ausgestellte Undankbarkeit gegenüber der deutschlandweiten Spendengemeinschaft verletzt. Der Skandal, wie besonders Frau Köppel formulierte, wurde nicht aufgrund einer Zurechnung zur nationalen Gemeinschaft hervorgerufen. Durch den demonstrierten Undank wurde vielmehr die für die eigene Regionalgemeinschaft unterstellte Wertgeltung torpediert. Das widersprach ganz offensichtlich Frau Köppels Verständnis dieser Gemeinschaft, wenngleich es sich hier auch um einen universalen Wert handelte. Es lag nahe, dass dieser aus Sicht der Fremdbeschreibung gestrichen werden konnte. Und insofern antizipierten Frau Köppel und auch Benzlers, dass das Verhalten der Undankbaren unmittelbar Schatten auf das Selbstverständnis der Gemeinschaft warf. Als eine Marke der Gemeinschaft, an deren Geltung sich außerdem die Selbstzurechnung entschied, galt die Treue, wie sie Jacobis für sich und ihr Netzwerk als konstitutiv benannten. Solidarität forderten sämtliche Protagonisten ein. Damit war ein Absehen von eigenem Vor- und Nachteil zum Wohle des Anderen gemeint. Das Wohl des Anderen sollte die Quelle eigenen Wohls sein. Gerade deshalb traf Benzlers der nahtlose Übergang zum Alltag der von der Flut nicht Betroffenen. Aus diesem Grund fühlte sich Frau Köppel so wohl auf dem Sandsackplatz, machte der Wiederaufbau inmitten hilfsbereiter Verwandter und Bekannter Jacobis auch Spaß und fand Frau Höhler die Energie, sich für die Zukunftsgestaltung ihres Dorfes verantwortlich zu zeigen. Dabei wurden an unterschiedlichen Stellen der Interviews Gruppen von Leuten benannt, die mit ihrem Handeln zeigten, dass für sie diese Werte nicht oder nur sehr eingeschränkt galten. Diese waren im Wesentlichen die Ignoranten, die illegitimen Nutznießer und Undankbaren. Diese

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brachen mit der Reziprozität zugunsten eigenen Vorteils, womit sie sich von der Gemeinschaft der sie benennenden Protagonisten disqualifizierten. Alternativen zu den so zusammengestürzten Gemeinschaftsvorstellungen aber fanden sich entweder in Neukonstruktionen, wie sie Benzlers betrieben und sie auch die Bürgerinitiative für Frau Höhler darstellte, oder aber die erlebte Gemeinschaftserfahrung wurde auf ein zeitloses Gemeinschaftsideal übertragen wie von Frau Köppel. Nur Jacobis erfuhren eine Fortführung ihres Netzwerkes und damit dessen aktualisierte Stärkung und Erneuerung. In jedem Fall aber waren die jeweils während des Hochwassers erneuerten Gemeinschaftsvorstellungen Zukunftsprojekte. Damit wird bereits das Funktionieren der Gemeinschaften hinsichtlich der Stabilität und Variabilität berührt. Die Gemeinschaftsvorstellungen wurden immer nur hinsichtlich spezifischer Umstände gebildet, aufgerufen und aktualisiert. Das heißt zunächst, dass die Individuen nicht unweigerlich an bestimmte Selbst- und Fremdzurechnungen gebunden waren, sondern diese immer aufgrund sozialisierten Habitus’ oder Kulturwissens als Sozialkompetenz auf die konkrete Situation hin bestimmten. Die Konstitution der Gemeinschaft und ihre Konfirmierung während des Oderhochwassers waren in der Ziltendorfer Niederung heterogen. Bezüge auf die Gemeinschaft ergaben sich bei unterschiedlichsten Gelegenheiten und die Angesprochenen waren nahe Personen, wie die Familienmitglieder. Hier wurde auf vorhandene Netze erwartungsgemäß zurückgegriffen. Dass sich darüber weitere Interaktionen ergaben, war ein freudiges Überraschungsmoment. Die sonst nur potenziell vorhandenen Adressen im Netzwerk wurden unter der besonderen Relevanz des Hochwassers zu Personen, die halfen. Dadurch erweiterte sich das intime Beziehungsgeflecht aus Familienangehörigen und Freunden nicht in dem Sinne, dass es auf einen anderen Bezug hin transformiert wurde, was etwa symbolische Grenzen veränderte. Neue Mitglieder konnten durchaus aufgenommen oder die Möglichkeiten der Aufnahme zumindest latent gehalten werden. Solange die ursprüngliche Aufgabe der Hilfe aktuell blieb, war die Interaktion davon abhängig. Wenn sich die Interaktion aber von dieser spezifischen Relevanz lösen konnte und auf andere Relevanzbereiche überführen ließ, wären Verstetigungen der Beziehungen durchaus möglich gewesen. Aber wie wahrscheinlich solche Verstetigungen tatsächlich waren, führt über das Anliegen der Erzählungen zu weit hinaus. Die gemeinsame Arbeit am Haus der Jacobis war eine Seite der Medaille dieser Gemeinschaft, bei der es nicht um die Verständigung über die Wertepräferenzen ging, sondern deren Geltung schon mit dem helfenden Eintritt akzeptiert und erlebt wurde. Die gemeinsamen Essen am improvisierten Tisch, der Austausch von Anekdoten unterwegs boten erst die Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten zu bestätigen und weitere zu erproben. Fast schien es, als wäre hier das Verhältnis von Konstitution und Konfirmierung umgekehrt worden. Aber dem war nicht so. Die Konstitution fand schon mit der Bereitschaft zum Mit-

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machen als Projektion auf eine vorhandene Gemeinschaft statt. Der Austausch bei den gemeinsamen Essen muss dann als Konfirmierung verstanden werden, bei der eine Kodifizierung der Erinnerung betrieben wurde und es so zur Aktualisierung der symbolischen Grenzen kam. Ähnlich verhielt es sich auch auf dem Sandsackplatz, wie ihn Frau Köppel schilderte. Ohne Absprache, wie von allein, ordnete sich der Arbeitsablauf. Erst dann redete man darüber, wie wunderbar das klappte. Die Zugehörigkeit war hier keine Entscheidungsprämisse zum Sandsackplatz zu gehen. Diese Selbstbeschreibung als eine Gemeinschaft der Leute vom Sandsackplatz entstand erst während der Arbeit. Das gemeinsame Problem war Basis für eine grundsätzliche Gleichheit als Quelle einer Idee von Zugehörigkeit. Jedoch scheint diese Episode einfach zu kurz gewesen zu sein, denn Frau Köppel konnte daran nicht zukunftsorientiert anschließen. Sie brachte sie stattdessen mit ihrem Gemeinschaftsideal in Verbindung, wodurch die Erinnerung aber ein utopisches Moment erfuhr. Die kleine gemeinsame Dankesfeier konnte keine Kodifizierung sein, weil eine Konfirmierung der Gemeinschaftskonstitution ausblieb. Welchen Impuls ein Initiator geben kann, wurde durch die Erzählung Frau Höhlers deutlich. Der Impuls wirkte sogar noch auf jemanden wie sie, die dessen Ansprache gar nicht miterlebt hatte. Durch den initiatorischen Appell an das „Wir“ der Partikulargemeinschaft wurde die Gemeinschaft als Thema behauptet und somit konstituiert. Die Zurechnung zu diesem „Wir“ hing dabei von Akzeptanz der Richtigkeit der Problemlage und der Lösungen ab, die alle auch Symbole für bestimmte Wertsetzungen waren, wie Eigenverantwortung und Solidarität. Das gegenseitig erlebte Handeln war schon eine Konfirmierung der zuvor behaupteten Zurechnung. Auch diese Gemeinschaft der Katastrophe war nicht lange zu erleben. Sie erfuhr aber eine Fortsetzung als Bürgerinitiative, weil die symbolischen Markierungen schon vorher Themen einer Debatte der Dorfgemeinschaft waren, ohne dass sie konstitutive Kraft erlangen konnten. Unter den zwingenden Bedingungen des Hochwassers aber wurde die Gemeinschaft derart in Gang gesetzt, dass sie später an die vorherigen Themen des Dorfes anschließen konnten. Die Aufgabe der Dorfgestaltung und die gemeinsamen Feste waren dann die Momente der wiederkehrenden Konfirmierung und Aktualisierung der etablierten Gemeinschaftsgrenzen, die hier weniger nach geographischen Merkmalen diskriminierten, sondern interessanterweise nach Alter. Damit war eine Transformation von Gemeinschaftsbezügen gelungen, die sich als verlässliche Struktur der Selbstbeschreibung auch in Zukunft erwies. Das Anliegen der Benzlers war genau eine solche Transformation. Bei ihnen änderte sich der Gemeinschaftszuschnitt und so auch die Selbstbeschreibung. Deshalb waren sie trotz der Enttäuschung am Ende ihrer Erzählung doch noch recht zufrieden mit ihren Erfahrungen während des Hochwassers. Ganz klar wurde dabei die Rolle der kommunikativen Konstitution herausgestellt. Die Konfirmierung hingegen blieb weitestgehend Spekula-

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tion auf eine schweigende Mehrheit, eine These, die sich in tagtäglichen Interaktionen der Benzlers gerade nicht bewehrte und darum spekulatives Projekt bleiben musste. Darum haftete der Geschichte der Benzlers bei aller Tragik ein romantischer Zug mit Zukunftsverweis an. Eindeutig bewehrt hatte sich allerdings im Maßstab der Region die Konstitution als Opfergemeinschaft. Diese Deutung des Hochwassers bot ein derart überzeugendes Sinnangebot, dass es damit möglich war, das Hochwasser als kategorial erledigt ins kollektive Gedächtnis eingehen zu lassen: Für das allgemeinen Wohl wurde man geopfert. Damit ließ sich in der Niederung leben. Der anschließende Streit war dann schon wieder Ausdruck ganz anderer kollektiver Zurechnungen, die sich an der Geltung der Werte Leistung oder Gleichheit als Gerechtigkeitsgrundlage schieden und die Opferdiskussion samt anhängenden Selbstverständnisses ins kollektive Gedächtnis abdrängten. Daran können sich die Ziltendorfer nun in Zukunft bei den Erzählungen ihrer Versionen zum Oderhochwasser erinnern.

In der Ziltendorfer Niederung in Gemeinschaft Die Protagonisten der Erzählungen über das Hochwasser in der Ziltendorfer Niederung hatten ganz klar unterschiedliche Problemlagen des Gemeinschaftsaufrufes. Diese waren im Wesentlichen davon geprägt, wie man sich der Überflutungsgefahr ausgesetzt sah. Anfangs fühlten sich die Protagonisten der Erzählungen aus der Ziltendorfer Niederung ihrer selbst noch ganz sicher. Da präsentierten sie sich als Einheimische und in Familien. Das Hochwasser erschien aufgrund des regionalen Wissens als bekannt und entsprechend beherrschbar. Vorsichtig begannen die Leute trotzdem ihre Habseligkeiten zu sichern, was der erste Grund war, auf eine Gemeinschaft zurückzugreifen. Das ging aber noch wenig mit dem Umstand einer bewussten Selbstzurechnung einher, dafür aber mit einem habituellen Zugriff auf eine quasinatürliche Familienangehörigkeit. Die Sicherheit der ersten Wochen verlor sich aus unterschiedlichen Gründen. Direkt an der Oder wurde die Gefahr konkret, als es um die Evakuierung ging. Eine Gemeinschaft der Bleibenden war eine unerwartet irreale Adresse und entsprechend groß die Angst der Jacobis. Hier konnte man nicht Mitglied, sondern nur allein sein. Selbstbeschreibung auf dieser Grundlage war dann nur noch grotesk, weshalb dann auch das Notlager auf dem Dachboden ebenso erschien. Mit der Evakuierung und der Überflutung begann die Zeit des Wartens auf den Rückgang des Wassers. Während dieser Zeit trafen die Betroffenen, wie Jacobis, Frau Höhler aber auch Frau Köppel, auf Leute in ähnlichen Lagen, wodurch die Leidensgemeinschaft nahe lag. Trost und Hilfe fand sich gleichzeitig im Netzwerk aus Angehörigen und Bekannten. Helfer wie die Benzlers, die vom Hochwasser nicht bedroht waren, nahmen sich der prekären Lagen der Anderen altruistisch

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an. So wie sich mit dem Verlauf des Hochwassers die Problemlagen änderten, so veränderten sich auch die Aufrufe der Gemeinschaften. Während der Aufbauzeit, die nach dem Rückgang des Flutwassers und der Schließung der Deiche begann, waren für die stark Betroffenen, wie die Jacobis und die Familie Frau Höhlers, der Rückgriff auf die Netzwerke von Familie, Freunde und Bekannte essentiell. Gerade in dieser Zeit waren deren Erweiterungen problemlos. Weniger oder gar nicht von der Flut Betroffene, wie Frau Köppel oder Benzlers, waren an weitergefassten Gemeinschaften orientiert. Die Episode auf dem Sandsackplatz ließ Frau Köppel ihre Gemeinschaftsutopie aktuell erscheinen, mit der sie sich vor allem in eine Gegenposition zu den Neidischen, Nutznießern und Undankbaren brachte. Benzlers hingegen riefen nach dem Zusammenbruch ihrer bis dahin gültigen Gemeinschaftsvorstellung eine spekulativ schweigende Mehrheit auf, als deren exponierte Vertreter sie sich verstanden. Entsprechend den sich situationsabhängig verändernden Wir-Projektionen änderten sich auch die individuellen Beziehungen zur Gemeinschaft. Als durch neun Generationen verbürgte authentische Einwohner konnten sich Jacobis immer als inmitten einer regionalen Gemeinschaft begreifen. Und obzwar die Familie sich von dieser Verankerung zu lösen begann, verbürgte diese doch noch immer die Gewissheit unbedingter Zugehörigkeit. Ausgehend von dieser mussten sie sich jedoch plötzlich als Exkludierte erleben, als sie erkannten, dass sie von allen verlassen waren. Mit der Traktorfahrt hinaus aus der Evakuierungszone fanden sie wieder Anschluss an die Gemeinschaft. Und so blieb es dann dabei, dass sie im Zentrum ihrer Gemeinschaftsvorstellung verblieben, so dass der Moment des Verlassen-Seins nur noch eine komische Episode am gemeinsamen Tisch der Gemeinschaft war. Die temporäre Suspendierung der Gemeinschaftsbezüge Frau Höhlers wurde durch das stellvertretende Erleben ihres Mannes wettgemacht. Entfernte sie die Evakuierung zunächst auch noch weiter von der Gemeinschaft, so gab es für sie ebenso gut wie für ihren Mann die Erinnerung an das eigenständige Engagement. Die Familie war während dieser Zeit ohne Zweifel der wichtigste Bezug. Sobald aber der Weg in die Niederung wieder möglich war, wurde Frau Höhler ein Mitglied der Bürgerinitative. Bis auf das Inklusionserlebnis auf dem Sandsackplatz schien Frau Köppel immer eine große Reserve gegenüber einer etwaigen Gemeinschaft mit ihrer Ironie zu bewahren. Und dieser Abstand fand seine Konsequenz in ihrer Orientierung an einer Utopie. Darum war es ihr auch gleichgültig, aus der Niederung wegzuziehen. Nur ihre Familienbezüge hielten sie hier. So gehörte sie zwar zur Familie, aber keiner anderen Gemeinschaft an. Eine große Dynamik ihrer Positionierungen offenbarten Benzlers mit ihrer Erzählung vom Hochwassergeschehen. Anfangs waren sie ganz und gar einer Gemeinschaft von Bekannten und Freunden verschrieben, von der sie problemlos auf den weiteren Regionalbezug umschalteten. Mit dem in ihren Augen aufgekündigten Wertekanon exklu-

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dierten sie sich selbst aus einem Teil ihrer Gemeinschaftsbezüge, wobei die Region weiterhin ein Fixpunkt ihrer Orientierung war. Aktiv betrieben sie Gemeinschaftsarbeit, indem sie über Gespräche mit ausgewählten Leuten eine Erneuerung der Wertgeltungen vorantrieben. Daran bildeten sie ihre spekulative Inklusion in die schweigende Mehrheit aus. Dieser kommunikative Aufwand hatte unmittelbar mit der Funktion des Gemeinschaftsbezuges zu tun, die in den diversen Geschichten zum Ausdruck kam. Immer ging es den Protagonisten um die Präsentation ihres Selbstverständnisses, das auf ganz unterschiedliche Art und zu verschiedenen Zeiten verunsichert wurde. Der Gemeinschaftsbezug ist daraufhin als eine Reaktualisierung des während des Hochwassers in die Krise geratenen Selbstverständnisses zu verstehen. Dieses Reaktualisierung konnte mit oder gegen Gemeinschaftsprojektionen erfolgen und, wie das Beispiel Benzlers zeigte, mit einer gänzlichen Neuerfindung einhergehen. Im Gemeinschaftsbezug ist immer Selbstvergewisserung angelegt. Das wurde deutlich, wenn Jacobis sich in ihrem Familien- und Freundesnetzwerk als Familienoberhaupt und Freunde aufgehoben wussten und Frau Höhler ihre Wertepräferenzen in der Bürgerinitiative zur Geltung gebracht sah. Frau Köppel konnte ihr Selbstverständnis bestätigen, indem sie sich gegen die widrige Welt mit ihrer Utopie behauptete und so ihren ironischen Abstand dazu rechtfertigte. Schließlich ermöglichte die Neukonstitution einer an bestimmten Werten orientierten Gemeinschaft den Benzlers, sich ihr Selbstverständnis zu bewahren.

Gemeinschaften an der Oder – drei Analysen im Vergleich Die Gesellschaft steht nicht still für ihre Protagonisten und auch nicht für ihre soziologischen Beobachter. Unaufhörlich geschieht etwas und dabei geht das meiste im alltäglichen Lärm unter. Erst wenn die Gesellschaft Notiz nimmt, erlangt ein Stück aus dem endlosen Strom des Geschehens Evidenz als Ereignis. Solche Ereignisse reihen sich als Episoden der Weltgeschichte aneinander oder überlagern sich, sind miteinander verknüpft oder haben allem Anschein nach nichts miteinander zu tun. Die Wahrnehmung des Geschehens als gesellschaftliches Ereignis hängt von dessen Folgenreichtum ab, worunter auch die Aufbereitung als Ereignis fällt. Folgenreichtum ist dann sowohl Anlass als auch Ergebnis dieser Aufbereitung zum Ereignis und Thema in den Massenmedien. Die Oderflut 1997 war zweifelsohne ein Ereignis, das sowohl folgenreich als auch ein massenmedial zugerichtetes Ereignis war. Das Hochwasser hatte darum nicht nur vielfältige Folgen für die unmittelbar Betroffenen, sondern verwandelte vor allem die deutschen Fernsehzuschauer in Spender. Als gesellschaftliches Ereignis war es vielleicht das erste seiner

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Art, welches derart massiv und dauerhaft massenmedial begleitet wurde. Auf diese Weise wurde die Oderflut aber für die Betroffenen doppelt erlebbar, nämlich als reales Geschehen und als parallel ablaufendes massenmediales Ereignis. Von dieser Verdoppelung des Hochwassers durch den Spiegel der Nachrichten kann angenommen werden, dass es die Resonanz des Ereignisses veränderte. Das eigene Erleben musste sich nicht nur gegenüber dem der anderen Anwesenden bewähren, es musste sich auch dem in den Massenmedien unmittelbar wiederholten Ereignis der sekundären Darstellung als redundantes Erlebnis erwehren, so dass diese Darstellung nicht an die Stelle der Erinnerung des Erlebten trat. Angesichts der Überwältigung durch die Bilderfluten aber wäre das eine schwierige Aufgabe gewesen. Um festzustellen, wie das massenmediale Ereignis die individuelle Erinnerung an das Hochwasser und die Selbstdarstellung beeinflusste, wurde zunächst die massenmedial erzeugte Geschichte des Hochwassers rekonstruiert. Das geschah anhand der Retrospektive „Deichprotokolle. Die Oderflut – Protokoll einer Katastrophe“ des ehemaligen Regionalsenders Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB) und der Dokumentation „Die Flut. Hochwasser an der Oder 1997 – Eine Dokumentation in Texten und Bildern“ der regional weit verbreiteten Tageszeitung Märkische Oderzeitung (MOZ). Beide massenmedialen Retrospektiven basierten auf Berichten, die während der Hochwasserwochen gedruckt oder gesendet wurden. Insofern können diese Berichte sowohl als tagesaktuelle Spiegelung des Hochwassergeschehens gelten wie auch als Ressourcen des Gedächtnisses. Inwiefern diese Annahme zutraf, war an den Hochwassergeschichten aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung zu prüfen. Jedoch war diese Gegenüberstellung individueller Geschichten und massenmedialer Erzählungen nur ein Mittel, um festzustellen, ob die in den individuellen Geschichten präsentierten Gemeinschaftsbezüge etwaigen Vorlagen, womöglich ein und derselben Vorlage folgten. Damit sollten sich mindestens Anzeichen finden lassen, ob Gemeinschaftsvorstellungen etwa durch Medienkonstruktionen zu steuern sind. Nach der Präsentation der acht exemplarischen Interviews deuten viele Anzeichen darauf hin, dass die Bezugnahmen individuellen Eigensinns und gemeinschaftlicher Deutungsangebote wenig gradlinig ausfallen. Darum ist von hier die Frage nach den Formen der Gemeinschaftsbezüge zu stellen, wie sie in den Erzählungen wiederholt präsentiert wurden. Handelt es sich immer um gleiche Gemeinschaftsformen, auf die sich die Individuen in immer gleiche Weisen beziehen? Letztlich sollte mit dem Vergleich eine Antwort auf die zweiteilige Frage dieser Untersuchung gefunden werden, nämlich erstens, wie die Protagonisten der Gemeinschaften von der Vorstellung ausgehen können, dasselbe zu meinen, wenn bestimmte Partikulargemeinschaften zum Thema werden und zweitens, was mit dem individuellen Bezug auf Gemeinschaften im Zusammenhang mit dem Hochwasser an der Oder 1997 eigentlich

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gewonnen wurde. Das ist Voraussetzung für den letzten Schritt vorliegender Analyse, nämlich die Anschlüsse der empirischen Befunde entlang der theoretischen Diskussion aufzuzeigen und die Befunde damit letztlich vom Gegenstand der Oderflut zu lösen.

Ein Ereignis – viele Geschichten Die Massenmedien: Tageszeitung und Fernsehen sind unterschiedliche Formen der Massenmedien. Zwar produzieren beide Nachrichten, aber es gibt eine Reihe von Unterschieden in der Art und Weise nicht nur der Produktion, sondern auch der Repräsentation und der Archivierbarkeit. Tageszeitungen können im Vergleich zu den Funkmedien, wie Radio und Fernsehen, und erst Recht im Vergleich zu computernetzbasierten Blogs und RSS-Feeds nur viel langsamer auf Ereignisse reagieren und diese in Nachrichten transformieren. Inzwischen sind alle diese Medien im Internet zu finden mit Text, Ton und Bild. Im Grunde finden sich hier nur noch Unterschiede als historische Reminiszenzen. Jedoch gibt es weiterhin gedruckte Tageszeitungen. Diese sind – genauso wie Bücher – noch immer keine Anachronismen. Das Medium des Drucks lässt sich allem Anschein nach nicht durch das elektronische Display ersetzen.63 Die durch den Druck limitierten Möglichkeiten des Lesbaren suggerieren, anders als die elektronischen Medien, die Fixierung des gesellschaftlichen Geschehens und laden zur Muße ein. Schließlich ist die Möglichkeit des Archivs eine andere. Einmal in Besitz gebracht und in eine Ordnung eingestellt, bleibt das Gedruckte – abgesehen von etwaigen Unfällen – ohne weitere Vorkehrungen im Archiv zugänglich (Esposito 2002: 239). Schon Funkmedien benötigen technisches Gerät zur Aufbewahrung und zur Wiederholung, die Archivierung ist dann jedoch die gleiche wie beim Druck. Hier bieten die computergestützten Netzmedien völlig neue Möglichkeiten der Wissensgenerierung, dass kein Ortswissen, sondern Verfahrenswissen voraussetzt (Esposito 2002: 357). Um Ereignisse abzuschließen, ihnen eine – wie vorläufig auch immer – finale Form zu geben, eignen sich Druckerzeugnisse besser. Zwar wurde die ORB-Retrospektive zum Hochwasser schneller produziert als die der MOZ, letztlich sind aber weit mehr Druckerzeugnisse in Form diverser Dokumentationen und Rückblenden erschienen. Insofern scheint die Rückschau der MOZ maßgeblicher für die Kanonisierung der Erinnerung an das Hochwasserereignis zu sein. Jedoch haben MOZ und ORB ihre Anstrengungen als CD-ROM (MOZ 1998) kombiniert, so dass von einer gewissen Konvergenz bei der Schilderung des Ereignisses auszugehen ist. Wie der Vergleich der ORB-„Deichprotokolle“ mit der „Flut“-Dokumentation der MOZ zeigte, unterschieden sich beide Berichts63 Der Habitus im Umgang mit den Massenmedien mag sich aber im Lauf der nächsten Generationen ohne Probleme umstellen und sich dann eher als Problem technischer Raffinesse und Sozialisation darstellen.

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formen kaum hinsichtlich Begriffs- und Themenfelder. Manche Nuancen wurden anders gesetzt, ohne dass sich das auf die Geschichte vom Hochwasser als solche auswirkte. Vielmehr scheint das den Spezifika der jeweiligen Massenmedien geschuldet gewesen zu sein. Die „Deichprotokolle“ berichteten strikt entlang der Chronologie von verschiedenen Orten im Oderland, wohingegen die „Flut“-Dokumentation sich primär an Themen und Orten orientierte und erst sekundär auch an der Chronologie. Dabei war dieser Berichterstattung aber gleich zu Beginn eine Chronologie als Richtschnur für den Leser beigegeben, so dass dieser selbst hin- und herblätternd der Chronologie folgen konnte. Darum fanden sich in beiden Retrospektiven genaue Datumsangaben zum Verlauf des Hochwassers, wodurch ein zeitlicher Rahmen dieses Ereignisses definiert wurde. Innerhalb dieses Rahmens war nun für die spätere Analyse der Erlebnisse der Interviewten aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung von Interesse, welche Geschichte die Medien zu erzählen hatten. Der Chronologie folgend setzten die Berichte mit den ersten Nachrichten über die Überflutungen am Oberlauf von Oder, Neiße und Bober in Polen und Tschechien ein. Die Gelassenheit oder gar Gleichgültigkeit der Einwohner des Oderlandes auf deutscher Seite und die ersten Maßnahmen sowie die behördlichen Versicherungen über die Standfestigkeit der Oderdeiche und einer adäquaten Vorbereitung waren zunächst Berichtsthemen. Als die Hochwasserwellen doch höher ausfielen, die Deiche in der Ziltendorfer Niederung brachen und eine Überflutung auch im Oderbruch wahrscheinlich war, eskalierte das Ereignis recht schnell zur Katastrophe, die alle überraschte. Die individuellen Schicksale der vom Hochwasser und der Evakuierung Betroffenen waren nun von gesteigertem Interesse. Zwar waren schon Helfer allenthalben vor Ort, zum bestimmenden Thema wurden diese aber erst mit dem langwierigen „Kampf“ am Deich im Oderbruch, den vor allem die Soldaten der Bundeswehr ausfochten. Schließlich ging es am Ende des Hochwassers ums Aufräumen und darum, wie sich die Erleichterung in Feiern artikulierte. Sowohl die Retrospektive der MOZ als auch des ORB war zum Beginn des Hochwassers vom Begriffsfeld Natur bestimmt, was angesichts des Ereignisses nicht erstaunlich war, sondern nahe lag. Die Reaktion der Gemeinschaft auf die Gefahr und sich daraus ergebende Aufgaben für die Politik waren bestimmend für die Berichte im ersten Themenkomplex. Die Berichtselemente mit Bezug zur Politik nahmen im weiteren Verlauf stetig ab, blieben aber weiterhin präsent. Die Begriffsfelder Kampf und Gemeinschaft bestimmten dann die Themenkomplexe zur Überflutung, zur Evakuierung und vor allem zu den Bemühungen um die Sicherung des Deiches im Oderbruch. Im Unterschied zu den Retrospektiven der MOZ waren die Referenzen auf das Bedeutungsfeld der Politik in den ORB-„Deichprotokollen“ häufiger. In beiden Medien wurden neben einigen Portraits von Einwohnern die verantwortlichen Politiker und Behördenleiter sowie die

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weitere politische Prominenz hervorgehoben. Die Fabel der Mediengeschichte über das „Jahrhunderthochwasser“, die „Oderflut 1997“, die schon als Katharsis-Erlebnis der Gemeinschaft beschrieben wurde, muss angesichts der Prominenz der politisch Verantwortlichen dahingehend ergänzt werden, dass die Läuterung der Gemeinschaft erst durch den Einsatz jener Verantwortlichen angestoßen wurde und diese nur eine Chance hatte, weil die Helfer zumindest im Oderbruch die Katastrophe verhinderten. Das Leid der Überfluteten in der Ziltendorfer Niederung freilich wurde nach dieser Lesart wenigstens durch die Helfer schnell beendet, durch die mediale Präsenz auch in seinem Bedürfnis nach Anerkennung befriedigt und durch die Spendengelder moderat besänftigt. Die romantische Geschichte einer Selbstentwicklung durch die Bewältigung widriger Umstände in der Welt fand damit seinen Abschluss. Während der Zeit des Hochwassers wandelte sich demnach die Gemeinschaft und entsprechend auch deren Beschreibung. Aus medialer Sicht gab es keine Zweifel an diversen Kollektivbezeichnungen, die je nach Fokus unterschiedlich regional attribuiert wurden. Die beiden nach den Katastrophenregionen begrenzten Gemeinschaften differenzierten sich in diverse Orts- und Interessengemeinschaften, wobei die Städte Eisenhüttenstadt und vor allem Frankfurt (Oder) immer im Zusammenhang mit der nahe gelegenen Ziltendorfer Niederung behandelt wurden. Merkmale der Gemeinschaft waren zu Beginn Ignoranz und Leichtsinn gegenüber der Gefahr, die von Aufgeregtheit und Aktivismus abgelöst wurden. Als sich der massenmediale Beobachtungsfokus auf das Geschehen im Oderbruch konzentrierte, entstanden dann anhand von Kurzportraits der Einwohner auch ethnographische Beschreibungen. Zuversicht, Ruhe und Tatkraft waren die Kerne dieser Klischees, die sich vor dem Hintergrund der Gefahr eher als platzierte Antipoden denn als Wesensbeispiel der Gemeinschaft ausnahmen. Ist diese Darstellung der Oderflut bei aller überwältigender Medienmacht als die Folie der Konfirmierung der Erlebnisse und der Kanonisierung des Gedächtnisses zu werten? Das Oderbruch: Die Geschichten aus dem Oderbruch waren diverse Erzählungen eines Ereignisses aus individueller Perspektive. Jedoch kann man wie bei den massenmedialen Geschichten auch hier eine allgemeine Abfolge von Themen erkennen, die sich aus der Dramaturgie des Ereignisses selbst ableitete. Der Beginn des Hochwassers war schon der erste Themenkomplex der Interviews. So begannen die Geschichten der im Oderbruch Interviewten mit Beschreibungen des Momentes, an dem die Gefahr für sie zu einer konkreten Idee geworden ist. Das waren immer ganz individuelle Umstände und entsprechend war der Beginn des Hochwassers immer ganz verschieden terminiert. Die aus der Idee vom Hochwasser resultierende Bedrohung war kein plötzliches Gefühl, sondern eines, das sich parallel zum Näherkommen der Hochwasserwelle entlang der Oder verstärkte. Im Ringen um einen adäquaten Umgang mit der entfessel-

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ten Natur, die wie eine Krankheit am Ausbruch nicht zu hindern war, errichteten einige der Interviewten ein Bollwerk tradierter Wissensbestände, mit denen eine Weile der tatsächliche Lauf weniger bedrohliche Formen annehmen konnte. Die in den Massenmedien bemerkte Sorglosigkeit hatte hier mindestens eine ihrer Ursachen. Wie aber die Hochwasserwelle die Oder herunterkam und schon in der Nähe Schaden anrichtete, brach die Realität in den durch das Regionalwissen, die alltäglichen Rollenerwartungen und Selbstbeschreibungen abgezirkelten Bereich heimatlicher Sicherheit ein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde in irgendeiner Weise die Gemeinschaft angerufen. Mit diesem Ausweg aus den in die Krise geratenen Selbstverständlichkeiten war auch ein Weg gefunden, wie es weiter gehen konnte. Die Geschichten gabelten sich hier zum einen in die mehrheitlichen Geschichten über die Selbstaktivierung und zum anderen in die der Evakuierten. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg kennzeichnete den zweiten Themenkomplex. Zwar nahmen auch die Evakuierten für sich in Anspruch, aktiv gewesen zu sein, jedoch waren ihre Möglichkeiten bei Verwandten oder im Notquartier beschränkter als für jene, die sich eine Aufgabe suchen konnten. Die Geschichte des Hochwassers erscheint aus der Perspektive des Oderbruchs darum mehr von den Leuten bestimmt, die legal oder halblegal ausharrten und sich auf Sandsackplätzen, am Deich oder auch in einer Versorgungsküche engagierten. Mit dieser Arbeit als dritten Themenkomplex wandelte sich die Angst in Hoffnung. Von hier aus schloss sich als vierter Themenkomplex die Wahrnehmung der zahlreichen Helfer und des allgemeinen Interesses von Medien und politischer Prominenz an. Die Themen lösten sich dabei in den Erzählungen nicht einfach ab, sondern überdeckten sich mehr oder weniger. Ein kontinuierliches Thema war die Beschreibung der eigenen Situation im Bezug auf die Gemeinschaft. Die aus dem Bedrohungsgefühl aufgerufene Gemeinschaft war in den Berichten über das eigene Engagement ein wichtiges Element. Das zeigte sich an der Besetzung der Themenfelder mit Stichworten aus dem Begriffsfeld des Gemeinschaftlichen. In der Reflexion nach dem erfolgreichen Widerstand am Deich wurde die gemeinschaftliche Dynamik selbst zum Thema, an das sich abschließend die Schilderung des Übergangs in den Alltag und die Folgen für die während der Hochwasserzeit gebildeten Gemeinschaftszuschreibungen anschloss. Schon die Verdichtung der individuell präsentierten Episoden auf Themen zeigte Unterschiede zu den in den Retrospektiven verdichteten Mediengeschichten. Das ist an sich noch nicht bemerkenswert, aber es lässt doch schon erste Zweifel an der Orientierungskraft der massenmedialen Berichte aufkommen. Ebenso verhält es sich mit den zu Begriffsfeldern verdichteten Stichworten, wobei die jeweilig fehlenden Entsprechungen auffallen. Vor allem die in den Massenmedien so ausführlich benutzen Kampfmetaphern waren in den Erzählungen bei aller Technikbegeisterung und Sympathie für die Soldaten der Bundeswehr viel weniger präsent.

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Selbst da noch, wo der Deich zur „Front“ wurde, an der die „Truppe“ Sandsäcke stapelte, waren die Erzähler den Kampfmetaphern nicht derart verfallen, wie der Jargon der Berichte in den Massenmedien und der Politiker suggerierte. Das Feld der Politik war weitaus schwächer in Stichworten präsent, ebenso auch das der Natur. Dafür wurden die Bedrohung, die Gemeinschaft, ihre Historie sowie deren und die eigenen Zukunftsaussichten in den Geschichten aus dem Oderbruch angesprochen. Die Gemeinschaftsbilder waren keine homogenen. So gab es in keinem Interview eine gleichlautende Gemeinschaftsbezeichnung, wie sie in einem anderen angesprochen wurde. Darüber hinaus wurde in den jeweiligen Erzählungen eine Vielzahl von Gemeinschaftsprojektionen präsentiert. Gemeinsamkeiten sind auch hier am ehesten anhand der chronologischen Entwicklung der angesprochenen Gemeinschaftsprojektionen zu erkennen. Zum Beginn des Hochwassers, als die zunehmende Verunsicherung in ein Gefühl der Bedrohung umschlug, wurden von den Interviewten aus dem Oderbruch diese Bedrohungserfahrungen auf eine abstrakte Gruppe projiziert und mit dieser Projektion versucht, diese zu beherrschen. Das war immer die Gemeinschaft der Oderbrüchler, zum Beispiel in Form der landschaftlich oder historisch legitimierten Region oder der Ahnen. Mit dem zunehmenden Zwang zum Handeln, der durch den Druck der Behörden ausgelöst wurde, setzte eine Konkretisierung dieser Gemeinschaftsbezüge ein. Die abstrakte, gesichtslose Gemeinschaft wurde in Familien, den Ausharrenden oder der Nachbarschaft personifiziert, die als auf einen Kern verdichtete Teilgemeinschaft begriffen wurde. Insbesondere die Familie hatte hier die Funktion einer Schutzgemeinschaft, und zwar nicht nur für die Evakuierten, sondern auch für die Ausharrenden. Aber diese Schutzfunktion konnten auch die anderen Teilgemeinschaften erfüllen. Die Konkretisierung auf Kerngemeinschaften wurde zum Teil auch durch die Behörden forciert, die als bestätigendes Element der Entmündigung durch die Katastrophe und entsprechend als das Andere, das nicht Zugehörige aufgefasst wurde. Das gab den Kerngemeinschaften die Möglichkeit zur klaren Grenzziehung. Auf dem Sandsackplatz waren diese Grenzen zu den Helfern wesentlich durchlässiger. Hier wurden Abgrenzungen vor allem durch das Auftauchen von Politikern und Journalisten möglich. Die Konkretisierung der Gemeinschaft fand seine Aufhebung in der Legimationsstrategie der Kerngemeinschaften. Diese durften kein Selbstzweck sein, sondern suchten ihre Begründung in Aufgaben, die sie als Erwartung der abstrakten Gemeinschaft erwarteten. Indem die Angehörigen der Kerngemeinschaften sich Aufgaben stellten, konnte der Bezug zur größeren Partikulargemeinschaft realisiert und die Kerngemeinschaft legitimiert werden. Indem die Kerngemeinschaft die im Hinblick auf die Partikulargemeinschaft bestimmten Aufgaben als ihren Zweck begriff, war damit auch ein Ausweg aus drohender Isolation gewiesen. Das gemeinschaftliche Ziel der Abwendung der Hochwasserkatastrophe war durch die Bestätigung allerorten zur

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Selbst-Verständlichkeit geworden, wodurch der Bezug auf die Partikulargemeinschaft mit dem Titel Heimat ausgezeichnet werden konnte. Die damit bezeichnete emotionale Bindung war dann Ursache für die Irritation über das Engagement der Bundeswehrsoldaten bei ihrem Einsatz am Oderdeich. Damit traten dann aber auch deutlich die Grenzen der Gemeinschaft hervor. Die Helfer waren willkommen, blieben aber ganz klar Fremde. Nach dem Abklingen der Gefahr durch das Hochwasser wurde sich die Gemeinschaft der Heimat wieder fremd, weil andere Problemlagen andere Gemeinschaftsbezüge provozierten. Die Fabeln der Erzählungen aus dem Oderbruch hatten oft die Stimmung einer Romanze, bei der die Helden die Widerstände der Welt am Ende überwanden. Aber hier ging es nicht wie in den massenmedialen Repräsentationen um eine Selbstüberwindung. Es ging vielmehr um die Überwindung der Fremdheit der Heimat, des Verlustes der Vertrautheit, der Enttäuschung von Erwartungen, die sich zunächst schwierigerweise nur an die nichtkorrespondierende Adresse der Natur richten konnten: No reply at all. Es sei denn, dass die Natur in mythischen Überhöhungen doch in Bildern zu sprechen begann, jedoch wurde das schnell in den Bereich von eigener Unzurechnungsfähigkeit durch Überforderung, als „Anfall“, einsortiert. So hatten die Romanzen oft auch einen komischen Einschlag, der letztlich auf die Versöhnung mit den widerstreitenden Umständen zielte. In der Zeit nach dem Hochwasser brach diese Fabel wieder auf und machte den Blick frei für diverse Probleme, die in den Geschichten von Bürgerinitiative, Schulstreit, Familie oder die Debatte um die Polder beschrieben wurden. Aber damit begannen im Grund schon neue Geschichten nach der Geschichte des Sommerhochwassers im Oderbruch. Die Ziltendorfer Niederung: So wie die Geschichten aus dem Oderbruch ein Chor von Stimmen zu einem Thema waren, so waren auch die Erzählungen aus der Ziltendorfer Niederung vielstimmig. Klangen jene aber eher harmonisch, so war aus der Niederung eher Polyphonie, wenn nicht gar Dissonanz zu vernehmen. Die Geschichten orientierten sich wie schon die Medienpräsentation und die Erzählungen aus dem Oderbruch an der Chronologie des Ereignisses Hochwasser. Auch hier ging es zunächst um die Suche nach dem Beginn der Hochwasserzeit. Dieser erste Themenkomplex umfasste die Formulierung von Erwartungen und Sorgen. Dabei waren hier deutliche Unterschiede auszumachen, die mit den Lagen der Wohnorte der Erzähler zum Fluss zu tun hatten. Trotz aller Bezüge auf die tradierten Wissensbestände bereiteten sich die Leute, die unmittelbar an der Oder wohnten, schon mehr oder weniger auf den Eventualfall vor. Hingegen verhielten sich die Bewohner der Orte im Innern und am westlichen Rand der Ziltendorfer Niederung abwartend. Der zweite Themenkomplex der Vorbereitung zeigte, dass die Gefahr erst durch konkrete Beobachtung greifbar werden musste, was auf ganz verschiedene Art geschah. So konnte die Ge-

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fahr erst begriffen werden, als die Katastrophe vor der Haustür stand. Mit dem Begreifen der Gefahr ging die Selbstaktivierung der bedrohten Leute zum Selbstschutz einher, der sich als Informationsbedarf über die Folgen der Deichbrüche äußerte und sich in Eigeninitiative beim notdürftigen Schutz der Häuser und bei der Sicherung der Einrichtung verwirklichte. Hier spielten dann auch die auswärtigen Helfer eine Rolle, deren Beschreibung durchaus ambivalente Züge hatte. Die Vorbereitungszeit war aber vor allem eine Zeit des Wartens, als ob die Katastrophe unausweichlich bevorstand. Entsprechend waren die Deichbrüche, vor allem der bei Aurith, auch ein erlösendes Ende des Schwebezustandes. Damit wurde zum nächsten Themenkomplex, der Zeit der Überflutung, übergeleitet. Für den größten Teil der Ziltendorfer Niederung wurde nun die Option der Evakuierung zur einzigen Alternative, wenn das auch nicht ohne Widerstand vor sich ging. Haus und Hof mussten verlassen werden. Aber die verlassenen Grundstücke wurden kurz darauf per Boot wieder besucht. Die Veränderungen waren erschreckend. Der Versuch, weitere Dinge aus dem Wasser zu retten, stellte sich bald als ein vergebliches Unterfangen heraus. Die für die Flutopfer einsetzende Zeit in den Evakuierungsquartieren war nun erneut eine Zeit des Wartens, nämlich auf den Rückgang des Wassers. Inzwischen mussten sie wieder ihren alltäglichen Routinen soweit wie möglich folgen. Der Alltag kehrte aber vor allem für die meisten Nichtbetroffenen schnell zurück. Der dramatische Akt des Hochwassers war mit der Überflutung beendet. Mit dem neuen Zustand der Niederung als großer See konnte problemloser umgegangen werden, weil klar war, dass das nicht von Dauer sein würde. In dieser Zeit der Muße entwickelte sich der Opfermythos in all seinen Variationen und befriedigte das Bedürfnis nach einer Erklärung des trotz allem Unbegreiflichen. Gleichzeitig gerieten die Einwohner der Ziltendorfer Niederung nun unter verschärfte journalistische Beobachtung. Aber da hatten die meisten schon gelernt, mit den Reportern einen einvernehmlichen Umgang zu pflegen. Als der Deich wieder geschlossen werden konnte und das Wasser endlich zurückging, wurde der Schaden inspiziert und mit dem Aufbau der beschädigten Häuser begonnen. Aber die gegenseitigen Beobachtungen und Unterstellungen bei der Verwendung der Spendengelder führten zu Streit, der nie wirklich öffentlich ausgetragen wurde, sondern immer in der Nachbarschaft verblieb. Aber er erzeugte doch so viel Lärm, dass davon auch etwas in die Medien geriet. Die politischen Diskussionen über zukünftige Sicherungsmaßnahmen regte die Gemüter weiter auf. Schließlich führte diese Situation zur Herausbildung neuer Gemeinschaftszurechnungen, die im resümierenden Themenkomplex breit als Selbstverortung in der gemeinschaftlichen Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft diskutiert wurden. Diese Reflexionen vermittelten gerade im Vergleich zum Oderbruch den Eindruck komplexer Verwerfungen des Sozialgefüges, die zumindest von den retrospektiven Medienberichten gar nicht mehr berührt wurden. Aber auch

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hier handelte es sich ja schon um andere Geschichten, deren Saat jedoch während der Hochwasserzeit ausgebracht worden war. Auch für die Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung trifft die Aussage wie schon für die Erzählungen aus dem Oderbruch zu, dass hinsichtlich der massenmedialen Berichte vor allem die Unterschiede bei den Begriffsfeldern, mit denen die Themen gestaltet wurden, interessant sind. Gerade zu Beginn nahm die Schilderung von Gefühlen aller Art einen breiten Raum ein, was sich aber im Grunde bei allen weiteren Themenkomplexen fortsetzte, ging es doch dann um die Bewältigung der Flutfolgen sowohl in sachlicher als auch sozialer Hinsicht. Kaum spielte aber bei der Schilderung des Geschehens in der Niederung die Natur eine Rolle, ebenfalls wurden kaum Kampfmetaphern verwandt, wenngleich doch während der Vorbereitungszeit noch so manche Anstrengung am Deich und an den Häusern, um die Dörfer und auf den Sandsackplätzen unternommen wurde. Die Helfer, in den Darstellungen der Massenmedien diesem Begriffsfeld zugeordnet, wurden in den Erzählungen der Interviewten wesentlich ziviler in ihrem Auftreten und ihren Aufgaben geschildert. Ein ganz wesentlicher Punkt war auch in den Erzählungen aus der Ziltendorfer Niederung die Darstellung der Gemeinschaft und des eigenen Verhältnisses dazu. Die Beschreibung der Gemeinschaftsbilder hatte im Vergleich zu den Geschichten aus dem Oderbruch eine größere Komplexität, sowohl was die Beschreibungen der individuellen Beziehungen als auch deren Veränderung im Laufe des Ereignisses anging. So kam es zu Beginn des Hochwassers, als die Gefahr zur unmittelbaren Gewissheit wurde, nicht zu einem Aufruf einer abstrakten Gemeinschaft, sondern zum Verweis auf die engeren Bezüge, nämlich auf das Netzwerk aus Freunden und Familienangehörigen. Zwar wurde im Umgang mit der Gefahr auch das regionale Wissen reaktiviert und als Ausweis für die Gemeinschaft mit den Ahnen angeführt, aber dieser Bezug war nicht eingebettet in weitere aktuelle Gemeinschaftsbezüge. Das regionale Wissen war vielmehr eine Strategie, mit dem Verlust der Heimat, der alltäglichen Vertrautheit, umzugehen. Es diente noch als selbstversichernde Kompensation, führte aber nicht zu einem Aufruf an eine zum Beispiel regional umgrenzte Gemeinschaft der Bedrohten. Die Familie in ihrer Form als Nukleus der Anwesenden wie auch der erweiterte Kreis der Verwandten war im Grunde die wirklich fortgeführte Gemeinschaft während der gesamten Zeit des Hochwassers. Hinzu kam die Orientierung am Netzwerk aus Freunden und Bekannten. So behielten die aktivierten Gemeinschaften immer noch die individuelle Färbung des Privaten. Daneben gab es in den Erzählungen Beispiele für eine erfolgreiche Ausweitung der Gemeinschaftsorientierung und für deren Scheitern. Dabei stand eine durch einen Initiator aktivierte Gemeinschaftsform neben einer sich spontan gebildeten. Ein Versuch des abstrakten Gemeinschaftsanschlusses war gleich gescheitert und ging in die Erosion der Gemeinschaftsvorstellungen – infolge des als abrupt erlebten Phasenwechsels des Hochwassers – von

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der hektischen Bedrohung zum ruhigen Überflutungszustand über. Die während der Vorbereitungszeit aufgerufenen Gemeinschaften konnten nur in einem Fall fortgeführt werden, nämlich als Bürgerinitiative. Ansonsten bewegten sich die Protagonisten der Hochwassererzählungen zwischen den Extremen abzulehnender Anderer und Idealvorstellungen von der Gemeinschaft. Die Anderen, gegen die man sich vehement abgrenzte, waren durch die Betrüger und Undankbaren in der Spendengeld-Debatte oder schon vorher durch die unsolidarischen Ignoranten markiert. Die Idealvorstellungen wurden unterschiedlich beschrieben: als solidarische Nachbarschaft oder Orts- und Regionalgemeinschaft. Aber auf die eine oder andere Weise musste die Gemeinschaft auch wirklichkeitsnäher bestimmt werden, denn nur in der Gemeinschaft ließ sich das Leiden an der Flut und an der sozialen Zerrüttung bewältigen. Der einigende formale Rahmen wurde durch den Opfermythos angegeben. Auf die Opferung konnte man sich in der gemeinsamen Selbstverständigung einigen. Damit war eine recht strikte Abgrenzung gegen Andere möglich, die Zugehörigkeit anhand der Beurteilung der Opferung zu überprüfen und daraus moralische Überlegenheit aufgrund wissenden Einblicks in der Abwägung des Leides der Niederung gegenüber dem Oderbruch zu gewinnen. Nur in einer Erzählung wurde dem Opfermythos nicht die prominente Stelle im Gemeinschaftsdiskurs angewiesen. In diesem Fall war die solidarische Ortsgemeinschaft in eine zukunftsorientierte Bürgerinitiative überführt worden. In den Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung war der Eindruck zu gewinnen, dass die Fixierung auf und das Ringen um die Gemeinschaft bei der Bewältigung der Flut die Leute so sehr einband, dass die Helfer nur noch Staffage waren, die als Legitimation für Abgrenzungen herangezogen wurden. Die Fabeln der Geschichten aus der Niederung sind darum durch ganz unterschiedliche Tropen gekennzeichnet. Neben der komödiantischen Erzählung über die Versöhnung der Familie mit ihrem Habitat an der Oder steht die durch ironische Elemente verdeckte Tragödie, während der zwar die widerstreitenden Elemente aufgedeckt wurden, aber deren Lösung am Ende als gemeinschaftliche Utopie wieder in die Ferne gerückt scheint. Die blanke Tragödie des Zusammenbruchs der gemeinschaftlichen Bezüge gab sich hingegen einen romantischen Ausblick auf die heldische Aufgabe zur Neuformung der Gemeinschaft. Eine Romanze schließlich konnte im Wandel der örtlichen Selbstinitiative in eine tatkräftige Bürgerinitiative erkannt werden. Massenmediale Ideengeber: Gerade die offensichtliche Vielfalt der Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung, aber auch die individuell recht verschieden ausgestalteten aus dem Oderbruch lassen Zweifel an einem einfachen Medieneinfluss, wie er am Anfang der empirischen Untersuchung als Vermutung aufgestellt wurde, aufkommen. Am ehesten mag dieser Einfluss noch hinsichtlich bestimmter Ereignisse gelten, die mittels der Berichte ihren Platz in einem sachlich-zeitlichen Kontinuum angewie-

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sen bekamen. In diesem Sinne konnte jeder der interviewten Erzähler aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung auf bestimmte Ereignisse verweisen und sicher sein, dass die anderen um diese wussten. Selbst vom Interviewer wurden diese Daten nachgerade erwartet. Darum ist davon auszugehen, dass es durch die Massenmedien zur Synchronisierung des individuellen Erlebens kam. Die wiederholten Unsicherheiten wegen der Daten bestimmter Ereignisse machten immer wieder Überlegungen notwendig, die die Erzählungen unterbrachen. Das sind Zeichen für die zwingende Maßgabe massenmedialer Synchronisation, um dann entlang der etablierten Reihenfolge zu erzählen. Diese Wirklichkeit äußerte sich während des Erzählens als Realitätswiderstand gegen das Zeitgefühl eigener Erinnerung. Es kam beim Erzählen nicht nur darauf an, dem Fluss eigener Erinnerungen zu folgen, sondern diese entsprechend der massenmedial vorgegebenen und damit verbindlichen Chronologie darzustellen. Die Synchronisation aber erstreckte sich nur auf die Ereignisse während des Hochwassers, über Anfang und Ende des Erlebens konnte sie nicht bestimmen. Die Themen und die für deren Beschreibungen angeführten Begriffe unterschieden sich von den Erzählungen der Betroffenen zum Teil erheblich. Auffällig war vor allem, dass der von Medien und Politikern benutzte Militärjargon sich nicht in den Beschreibungen der Leute aus dem Oderbruch und erst recht nicht in denen derer aus der Ziltendorfer Niederung durchsetzte. Etwaige regionale Gemeinschaftsbezeichnungen wurden am ehesten noch im Oderbruch verwandt, die aber so allgemein gehalten waren, dass diese nicht erst durch die Berichte vorgegeben werden mussten. Aber auch konkrete Beschreibungen von gemeinschaftlichen Eigenschaften waren zwar recht detailliert gehalten, aber in ihren Aussagen letztlich ebenfalls austauschbar, so dass davon auszugehen ist, dass auch solche Selbstbeschreibungen in den Interviews nicht erst auf massenmediale Anregung hin angefertigt wurden. Ganz und gar fehlte in den Berichten der Massenmedien der für die Debatte in der Ziltendorfer Niederung so wichtige Opfermythos. In diesem Fehlen zeigt sich eine gewisse Unfähigkeit der demokratischen Massenmedien, mit dem Eigensinn gemeinschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen umzugehen. Denn schnell könnte man sich darin populistisch verfangen, und Aufklärung stieße die Leute womöglich zu sehr vor den Kopf. In den Berichten hatte das Oderbruch ein gewisses Übergewicht. Nachdem aber nach etwa einer Woche in der Niederung mit der Überflutung schon alles vorbei zu sein schien und nur noch durch den Fernsehhubschrauber zum Kreisen gebrachte Kühe und bis zum Dach im Wasser stehende alte Busse zu zeigen waren, boten die drei Wochen Anspannung im Oderbruch immer wieder aufs neue Nachrichten. Dafür suchten die Journalisten dann später umso mehr die Flutopfer in der Niederung

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auf, was aber schon nicht mehr zur eigentlichen massenmedialen Flutgeschichte gehörte.64 Neben der Synchronisierung hatten die Berichte der Massenmedien auf die Gestalt der Erzählungen keinen direkten Einfluss. Die in den Massenmedien entworfenen Gemeinschaftsbilder und Deutungen, insbesondere die romantische Katharsis-Fabel spielten überhaupt keine Rolle. Aber die Medien, vor allem die regionalen, wurden während der Hochwasserzeit ständig von den Leuten entlang der Oder verfolgt. Sie fungierten hier als Spiegel, der durch die Verdoppelung des Erlebten deren individuelle und gemeinschaftliche Reflexion forcierte. Die Massenmedien haben darum keine Bedeutung als Sinnstifter oder als Kanonisierungsvorlage für die gemeinschaftliche Erinnerung. Deren Bedeutung liegt vielmehr im Offerieren von Anlässen für eigensinnige Erinnerungen begründet. Die Bilder, die die Massenmedien lieferten, wurden zu gemeinsamen Bildern und ähnelten oft genug denjenigen, die die Protagonisten vom Sandsackplatz, am Deich oder im Dorf selbst anfertigten. Zweifelsohne wurden Informationen als Fakten für die eigenen Geschichten aus den Massenmedien gewonnen. Aber diese waren eben vor allem Anlass für die eigenen Geschichten, die Idiosynkrasien der eigenen Vorstellungswelt, die sich nicht im Bezug auf die Massenmedien beweisen mussten, sondern im Bezug auf die Partikulargemeinschaft, der man meinte anzugehören. Hochwasser-Regionen: Rekapituliert man die Geschichten aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung, könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass sie von ganz verschiedenen Ereignissen berichteten, die nur zufällig jeweils als Hochwasser daherkamen. Dieser Eindruck wird noch durch den Umstand verstärkt, dass einmal die Katastrophe der Überflutung ausblieb und einmal eintrat. Aber die Unterschiede können noch weiter vertieft werden, wodurch klar wird, dass das zunächst in sachlicher und zeitlicher Hinsicht selbe Ereignis des Oderhochwassers im Sommer 1997 doch ganz andere soziale Folgen hatte, so dass in Deutschland nicht eine Region, nämlich das Oderland, sondern mindestens zwei betroffen waren. Darum ist die Unterscheidung des Oderbruchs und der Ziltendorfer Niederung als ein Ergebnis der Interviewanalysen nochmals zu unterstreichen. (1) Die Geschichten aus dem Oderbruch hinterließen in ihrer Gesamtheit einen eher homogenen Eindruck, wohingegen diejenigen aus der Niederung ein divergentes Bild, ein Patchwork offerierten, dessen Einheit fast nur der Konvention der Region und des Ereignisses zu verdanken war. (2) Das Ereignis selbst aber gab eine grundsätzliche Unterscheidung vor. Während im Oderbruch der Deich der Oder zwar hier und da riss und rutschte, brach er doch nicht, in der Ziltendorfer Niederung dafür aber 64 So strahlte der ORB schon am 2.8.97 eine Dokumentation mit dem Titel „Der alte Mann und die Flut“ aus, der weitere Berichte über die Flutopfer und über den Aufbau nach dem Hochwasser folgten.

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gleich mehrfach. (3) Die darauf folgende Überflutung weiter Teile der Niederung führte zu einem vorläufigen Ende einer Zeit der Angst und Anspannungen, der Aufregung und Hektik. Als das Wasser nicht mehr weiter stieg, kehrte in der Niederung wieder Ruhe ein. Anders verlief das Hochwasser im Oderbruch. Hier herrschten drei Wochen hindurch Aufregung zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Dieses Wechselbad der Gefühle zerrte an den Kräften der Leute im Oderbruch. (4) In dieser Situation erst erhielten die auswärtigen Helfer, insbesondere die Soldaten der Bundeswehr, ihre Bedeutung. Im Moment der Gefahr nicht allein zu sein, konnte wiederum Kräfte mobilisieren und Hoffnung stiften. Dieses Moment gab es in der Niederung nicht. Nur vereinzelt tauchen die Helfer in den Erzählungen auf, und dann vor allem als Dienstleister, nur selten als solidarische Stützen. (5) Damit einher gingen in der Niederung wesentlich stärkere Abgrenzungsbemühungen an vielen Fronten. Wenngleich Abgrenzungen auch im Oderbruch beschrieben wurden, so waren diese doch insgesamt klarer definiert und in ihrer Qualität weniger strikt. (6) Die Durchlässigkeit der Abgrenzungen kann auf die geschilderten Aktivitäten der Leute im Oderbruch zurückgeführt werden, die sie aus ihren Kerngemeinschaften wieder an größere Zusammenhänge anschließen ließ. Regionalgemeinschaft und die primär durch die Helfer repräsentierte solidarische Universalgemeinschaft waren die Orientierungspunkte der Identifikation, wobei sich diejenigen Interviewten als Handelnde wahrnahmen, deren Mühe im Konzert der Abwehrmaßnahmen als wertvoll erfahren werden konnte. Die Leute in der Ziltendorfer Niederung hingegen waren vor allem Erlebende. Ihre Aktivitäten, gerade erst in Gang gekommen, wurden durch die professionelle Hilfe, aber vor allem durch den Verlauf des Ereignisses unterminiert. Die bedrohten Leute wurden seit der Überflutung in die Passivität oder Vereinzelung getrieben. Als das Wasser da war, gab es nichts mehr zu tun. Selbst die Fahrten zu den überfluteten Häusern waren im Grunde – wenn auch nicht gering zu schätzende, aber doch eben nur – Placebos für das individuelle Gemüt. (7) Das passive Erleben spielte dem Opfermythos bei der gemeinschaftlichen Sinnbestimmung der Leute in der Ziltendorfer Niederung zu. Die Leute im Oderbruch konnten sich ihren Sinn regelrecht bei ihren Aktivitäten auf dem Sandsackplatz und am Deich erarbeiten und ausprobieren. (8) Damit waren hier problemlose Gemeinschaftsbezüge möglich. Deren Konstituierung erfolgte quasi als Nebenprodukt beim Sandsackschippen oder -packen. Die Konfirmierung war dann möglich im anschließenden Zusammentreffen. Dabei waren die Gemeinschaftsbezüge sehr wohl differenziert, aber die Abstufungen mussten sich immer gegenüber den umfassenderen Gemeinschaften als sinnvoll erweisen, indem sie die gemeinschaftlichen Wertgeltungen realisierten. Wiederum einen diesbezüglich gegenteiligen Eindruck hinterließen die meisten der Erzählungen aus der Ziltendorfer Niederung. Die Gemeinschaftsbezüge blieben meistens problembehaftet oder aber fragmentierten. Der Bezug auf eine

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wie auch immer definierte Regionalgemeinschaft wurde in keinem Fall unternommen. Selbst die aktive Ansprache einer Gemeinschaft fand keine Resonanz und wurde daraufhin als utopisches Wunschbild präsentiert, dessen Realitätsgehalt freilich zweifelhaft bleiben musste. (9) Diese Unterschiede bilden sich auch hinsichtlich der formalen Gestalt der Erzählungen ab. Diese sind zunächst wieder Unterschiede, die dem Ereignisverlauf geschuldet waren. So orientierte sich die thematische Abfolge an der jeweiligen regionalen Chronologie, wobei in den meisten Fällen die Themen komplementär zueinander waren. Keine Korrespondenz war allerdings hinsichtlich der in den Erzählungen aus dem Oderbruch ausführlich dargestellten Helfer feststellbar. Die Rolle der Gemeinschaft nahm in den Oderbrucherzählungen eine dezidiertere Stellung ein und wurde von den regionalen Zukunftsaussichten deutlicher getrennt. Die Ausgestaltung der Themenkomplexe offenbarte unterschiedliche Nuancen hinsichtlich der genutzten Begriffsfelder. So wurden von den Erzählern Begriffe der Eigeninitiative erst verstärkt bei der Schilderung des Aufbaus genutzt und diese mit Zukunftsbegriffen verknüpft. Das war in den Erzählungen der Interviewten aus dem Oderbruch deutlicher getrennt, was jedoch klar auf die sachlichen Relevanzen zurückzuführen war. Waren die Leute im Oderbruch lediglich damit beschäftigt, aufzuräumen und wieder in den Alltag zu finden, indem sie alte Stränge wieder aufnahmen, mussten die Leute in der Niederung oft von vorn anfangen: Sie bauten ihre Häuser und womöglich ihre sozialen Netzwerke neu. Die hier stark verdichtet aufgeführten Unterschiede sind allesamt auf den jeweils besonderen Verlauf des einen Ereignisses, der Oderflut, zurückzuführen. Aber was ist das Ereignis? Das Hochwasser hatte seine Dauer und Materialität. Aber das Hochwasser wurde ja erst zur Katastrophe wegen der sozialen Folgen. Im Schnittpunkt dieser basalen Verweise sachlicher, zeitlicher und sozialer Art erscheinen die besonderen Räume, die als Oderbruch und als Ziltendorfer Niederung dem Ereignis einen jeweils eigenen Verlauf gaben und sich dabei letztlich selbst als Regionen reproduzierten (Kuhm 2000, 2003b). Erst in der Benennung einer Region und ihrer territorialen Zurechnung wird sie evident. Dann wird zum Beispiel erst eine regionale Hierarchie hinsichtlich bestimmter Leistungsbezüge beobachtbar, wie die zwischen Ziltendorfer Niederung und dem Oderbruch. Tatsächlich verlaufen funktionale Leistungsbezüge keineswegs gleichmäßig. Vielmehr entstehen in der Weltgesellschaft immer wieder von Funktionsbezügen ausgeschlossene Bereiche die als Regionen beobachtet werden. Durch spezialisierte Agenten, wie Journalisten, werden diese Regionen unter Umständen auch in illegitimer Weise an diese Leistungsbezüge wieder angeschlossen (Stichweh 2004b: 61). Die Leistungsbezüge sind also für Regionen immer als hinreichend spezifisch anzunehmen. Diese Spezifika bestimmten eben über den besonderen Verlauf des Hochwassers. Nicht die Landschaft gab die Überflutung vor, die ist topo-

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graphisch sogar wenig unterschiedlich, sondern die Umstände behördlichen Entscheidens und gemeinschaftlicher Aktivierung gaben letztlich den Ausschlag. Das gilt auch für die verheerenden Überflutungen in Polen; wobei am Versagen dortiger staatlicher Stellen in der deutschen Debatte nie Zweifel geäußert wurden. Auch die Behörden und die Gemeinschaften vor Ort in Deutschland bestimmten und reproduzierten also die Raumausschnitte in ihren sachlichen, zeitlichen und sozialen Bedingungen sowie in ihren Folgen. Trotz dieser überall aufscheinenden Differenzen zwischen den regional zugerechneten Erzählungen, was natürlich selbst eine Erzeugung und Bestätigung der Regionen ist, fand sich in den Erzählungen eine Gemeinsamkeit, die entscheidend als Basis für den Vergleich der Befunde ist: Die Erzählungen waren immer durchdrungen von der Suche nach der Gemeinschaft. Das führt zu den treibenden Fragen der hier präsentierten Untersuchung: Warum riefen Erzähler aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung die Gemeinschaft auf und wie geschah das?

Viele Geschichten um ein Problem Das allgemeine Problem des Besonderen: Zum Beginn der Geschichten über das Oderhochwasser im Sommer 1997 stand jeder Erzähler der Katastrophe allein gegenüber, egal, in welchen Lebensumständen er sich befand. Die Verständigung darüber mit jemand anderem war der erste Schritt zur Gemeinschaft, in welcher Form auch immer, denn hier konnte ein „Wir“ formuliert werden. Der Aufruf der Gemeinschaft folgte einer Antizipation des Hochwassers als Katastrophe, die als Überraschung empfunden wurde. Dabei schilderten sich alle Interviewten als aufmerksame Beobachter, die über die Zusammenhänge bestimmter Wetterlagen und ihrem Fluss, der Oder, ausreichend Bescheid wussten. Und gute Beobachter waren auch diejenigen, die in der Ferne Urlaub machten. Die dort bemerkte Popularität der Heimat war noch ein Kuriosum, das sich aber auf der Rückfahrt, wie die Überraschung der Daheimgebliebenen, in Angst wandelte. Denn das Hochwasser war nun eine diffuse Gefahr für nahezu alles, von dem man bisher mit Selbstverständlichkeit ausgegangen war. Die Erfahrung von Angst war aufgrund der für alle Betroffenen geltenden Gefahr eine allgemeine, die jedoch nur individuell zu erleben war. Diese Gefahr bewirkte eine Verunsicherung, für die ein Umgang gefunden werden musste. Die darin liegende Angst musste dafür zuerst benannt werden. In diesem Moment war in vielen Fällen die Familie die erste Adresse eines Gemeinschaftsaufrufes. Andere appellierten an eine abstrakte Ortsoder Regionalgemeinschaft. Dieser Aufruf war vor allem als Benennung der Angst gemeint und nicht als Hilferuf. Wie sich in den Interviews zeigte, hingen die Formen der aufgerufenen Gemeinschaft von der individuellen Position gegenüber der Gemeinschaft ab, der man sich im Wir-

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Gebrauch als zugehörig auszeichnete. Hier stellten sich die Erzähler je nach ihrem für ihren Gemeinschaftsbezug maßgeblichen Rollenverständnis in periphere und zentrale Positionen. Diese Positionen waren primär von dem als Gefahr wahrgenommenen Hochwasser bedroht. Bisweilen wurde die Wahrnehmung der Gefährdung dieser Positionen – die gerade bei Älteren mit örtlichen Bezügen ausgestattet waren – und die daraus resultierenden Angstreaktionen mit tradiertem Wissen unterdrückt. Manche Vorstellung vom Ausharren auf dem Dachboden hatte hierin ihre Wurzeln. Unter dem Druck des Ereignisses, zu dem auch die Präsenz der Behörden gehörte, brachen diese Blockaden schnell zusammen. Einige agierten wie betäubt, weil die Alltagsroutinen nicht mehr griffen, aus denen andere bereits herausgerissen waren. Die Struktur der Alltagsroutinen war plötzlich abhanden gekommen: Strassen waren gesperrt, Leute diskutierten lauthals, Kunden blieben aus. Aber wenn die Routinen nicht mehr greifen, gerät man in Gefahr, selbst aus dem Rahmen zu fallen. Es ging beim angstgetriebenen Aufruf der Gemeinschaft also gar nicht um diese. Es ging um die durch die Bedrohung der Gemeinschaft ebenfalls bedrohte oder schon obsolete Position, die sich mit dem eigenen Rollenverständnis verband. Und dieses Rollenverständnis war ein maßgeblicher Teil der Selbstbeschreibung, der Identität. Weil das Hochwasser die Gemeinschaftsstrukturen bedrohte, verwarf es auch das in der Identität aufgehobene Selbstverständnis. Den sich aus den individuellen Rollenverständnissen ergebenden besonderen Situationen aller vom Hochwasser Betroffenen, die zu besonderen Geschichten führten, lag dasselbe Probleme zugrunde. Dieses Problem war im Grunde eine tiefe Verunsicherung des Individuums, die die Frage aufwarf: Wer bin ich nun noch? Die aktivierte Gemeinschaft: Mit dem Aufruf der Gemeinschaft, der Behauptung eines Wir wurden auch schon Grenzen aufgerufen, mit denen die Gemeinschaft von den Anderen zu unterscheiden war. Die Grenzen der Gemeinschaft sind die Grenzen der Geltung, der von ihr als verbindlich definierten Werte. Für diese Werte stand in den Erzählungen aus dem Oderbruch zuvorderst die Heimat. Im Symbol der Heimat wurde genau das verankert, was durch das Hochwasser bedroht war, nämlich die Vertrautheit des Alltäglichen. Die Vertrautheit ergab sich aus dem gemeinsamen Leben der Gemeinschaft entlang der selbstverständlichen Erfüllung gegenseitiger Erwartungen. Darin war das Leben als das Richtige zu erleben. Darum war die hochwasserführende Oder das Falsche, das Andere, welches, indem es die Gemeinschaft in Frage stellte, die Gemeinschaft zum kommunikativen Thema machte, was mit dem Aufruf des Wir aufgegriffen wurde. In vielen Geschichten aus dem Oderbruch und der Ziltendorfer Niederung wurden allenthalben diese Aufrufe des Wir benannt, die auf unterschiedliche Weise Resonanz fanden. War es die Familie, die half, oder die spontane Gemeinschaft der Leute auf dem Sandsackplatz, die avantgardistische Truppe oder die Nachbarschaft beim Dammbauen, hier waren

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andere mit demselben Problem; man verstand sich gut und das war ein schönes Erleben. Dasselbe Problem machte alle zu Gleichen in der Gemeinschaft. So waren die Individuen auf sehr zugespitzte Weise und darum problemlos als Personen ansprechbar. Die gegenseitigen Erwartungen waren darum zuerst zu limitieren und ein Offenheit signalisierender Habitus möglich. Auf dieser Grundlage kam man wie von selbst in die gemeinsame Aktion und es konnten sich die gemeinschaftlichen Tugenden entfalten: Solidarität, Uneigennützigkeit, Hilfsbereitschaft und die Sorge umeinander waren selbstverständlich, und zwar ohne explizite Anspruchshaltung. Denn erst wenn diese Tugenden nicht gefordert werden und trotzdem in Erfüllung gehen, können sie authentisch sein. Die Efferveszenz, die Euphorie in der Gemeinschaft, die das Individuum selbstvergessen werden lässt, stellte sich hierbei ein. Im Angesicht der Gefahr war durch tugendhaftes Handeln die Wir-Gemeinschaft aktuell zu erleben. Hier konstituierte sich die Gemeinschaft in ihren vielfältigen Formen, die im Oderbruch immer auf eine abstrakte Regionalgemeinschaft verwies, in der Ziltendorfer Niederung häufiger auf Ortsgemeinschaften. Aber immer ging es dabei um mehr als die Anwesenden. Erst im Verweis auf eine umfassendere Gemeinschaft war die Verankerung der Tugenden als Realisierung der Werte zu begreifen. Jedoch war der Vergemeinschaftungsprozess mit dem aktiven Handeln noch nicht bewältigt. Von gleicher Wichtigkeit wie die anfängliche Konstitution der sachlich, zeitlich und sozial begrenzten Gemeinschaft war die anschließende Konfirmierung. Hier wurden einerseits die individuellen Erlebnisse gegenseitig kommuniziert und gemeinschaftlich verallgemeinert. Andererseits konnte hier an alte, ähnlich gelagerte Geschichten angeknüpft werden, wodurch eine Kontinuität der aktuellen mit der historischen Gemeinschaft zu realisieren war. Wegen dieses Bezuges auf die erinnerten Erfahrungen unter Bezug auf das kollektive Gedächtnis war der Vergemeinschaftungsprozess eigentlich eine Reaktualisierung der Gemeinschaft. Dabei wurde aber auch schon die Kanonisierung der aktuellen Erfahrungen als Facetten des kollektiven Gedächtnisses betrieben, wegen der dann später die unauffälligen Gedenksteine für die Gemeinschaft errichtet wurden. Bei der Kanonisierung hatten sich bestimmte Ereignisse und ihre Interpretation mit bestimmten Bildern verknüpft: die breite Oder vom Sandsackplatz aus gesehen als Bild der widerstandenen Naturgewalt, die sandsackwerfenden Soldaten als Stütze in der Not, der aufgerissene Deich bei Hohenwutzen als ambivalente Machterfahrung, ein See mit Verkehrsschildern und Alleebäumen als Versinnbildlichung des Grotesken der Katastrophe oder eben der zerstörte Deich als Zeichen für das Opfer der Niederung. Jedoch ging es schon bei der Konstitution, erst recht aber bei der Konfirmierung um die Feststellung der gemeinschaftlichen Grenzen anhand der Geltung verbindlicher Werte. Darüber wurde kommuniziert, und dafür waren die Anderen nötig, gegen die man sich abgrenzen konnte. Nur so konnte man die Geltung der Werte ex-

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klusiv und für sich als richtig feststellen. Denn ohne Exklusion gäbe es keine Gemeinschaft zu bestimmen und ohne diese Möglichkeit keinen Grund sie aufzurufen. Die Tugenden im Sinne gerechten Verhaltens und Handelns wurden mittels der Konfirmierung zum gemeinschaftlichen Anspruch erhoben, mit dem die gemeinschaftlichen Grenzen wieder symbolisch markiert wurden. Aber diese Ansprüche wurden nur an jene gerichtet und waren auch nur von jenen legitim zu erfüllen, die zuvor die Gleichheit beglaubigen konnten. Nur die mit dem gleichen Problem konnten auch der Gemeinschaft Gerechte sein. Darum blieben die Helfer aus der Ferne außen vor, denn dasselbe Problem als Voraussetzung der Gleichheit hatten sie nicht. Von daher ist – neben den raum-zeitlichen Limitierungen durch die Überflutung – schließlich das Scheitern der Gemeinschaftsprojektionen in der Ziltendorfer Niederung zu verstehen. Wie sich in den Interviews zeigte, ging es um das Problem der Gerechtigkeit, nach der die Erzähler über die Zugehörigkeit zu der von ihnen gemeinten Wir-Gemeinschaft bestimmten. Im Zentrum stand die Frage nach der Referenz der Gerechtigkeit, die sich entweder an der ungleichen Leistung oder aber an der gleichen Betroffenheit ausrichten sollte. Des Weiteren ging es aber auch um das darin steckende Problem der Reziprozität, die immer nur anhand der gemeinschaftlichen Kommunikation hinsichtlich der Relationen auf Werte zu bestimmen ist. Gerade in den Erzählungen aus der Ziltendorfer Niederung wurden zahlreiche Beispiele dafür genannt: Wenn Leistung galt, wurde die Gleichheit vor dem Schicksal ausgeschlossen und umgekehrt, wurde Hilfsleistung erbracht, war diese später vom Nutznießer gefordert, da schloss der gemeinschaftliche Vorteil den individuellen aus, und die Lüge wurde vor allem als Affront gegen die Gemeinschaft65 gewertet. Die im Oderbruch in großer Allgemeinheit als Gleichheit der Problemlage beantwortete Frage nach Gerechtigkeit machte die Reaktualisierung der Gemeinschaftsbezüge möglich. In der Ziltendorfer Niederung hingegen war sehr bald die Grundlage dieser Gleichheit dahin, denn mit der Überflutung waren die Problemlagen klar zu unterscheiden, es gab nun Überflutete und Verschonte. Eine auf das Hochwasser bezogene Grundlage, um über das gerechte in der Gemeinschaft zu reden, war da nicht mehr gegeben. Die Aufbaumittel verschärften dieses Problem, indem die Vergabe der Fördermittel nun für die Gemeinschaft der Flutbetroffenen erneut die Frage nach der angemessenen Grundlage von Gerechtigkeit aufwarf. So war die Gemeinschaft nicht mehr zu aktivieren. Und damit ging für einige dann erst recht der Verlust des Selbstverständnisses in Enttäuschungen unter. Insofern spülte hier eine weitere Flut durch die Niederung, die die bisher gültigen Gemeinschaftsprojektionen mit sich riss. Die Reaktionen auf den 65 Bei Cohen (1984: 89 ff.) findet sich ein Beispiel zur Lüge als konstitutives Element für die Gemeinschaftsgrenze gegenüber Fremden: die Gemeinschaft ist sich einig darin zu lügen, wodurch Fremde, die Wahrheit höher schätzend, immer ins Leer laufen.

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Zusammenbruch der Gemeinschaftsprojektionen, nämlich der erneute Aufruf von Gemeinschaften, zeigte, dass diese unabdingbar sind. Denn nur im Gemeinschaftsaufruf lässt sich das individuell erlebte Problem verallgemeinern und so das krisenhafte Moment der Selbstbeschreibung, die Kritik der Identität, bewältigen. Das gerettete Ich: Die Katastrophe des Hochwassers der Oder im Sommer 1997 war die Bedrohung der Selbstbeschreibung angesichts der Auflösung alltäglicher Vertrautheit, die in den selbstverständlichen Rollenmodellen verankert war. Die Identitäten der Individuen waren immer ganz spezifisch, aber für alle auf ähnliche Weise problematisch geworden. Darum erzählten die Geschichten vom Hochwasser immer von der Sicherung der Selbstbeschreibung. Die konnte man aber nur mit Hilfe der Anderen wiedergewinnen. Denn die Modifikation, die eigensinnig konstruierte Um- und Neudefinition der Selbstbeschreibung kann ihren Realitätsgehalt nur durch andere prüfen. Mit dem Gemeinschaftsaufruf unter Maßgabe einer grundsätzlichen Gleichheit aller aufgrund desselben Problems gewinnt man schon die erste Selbstbeschreibungsmöglichkeit, die man gegenüber der Gemeinschaft ausprobieren und bestätigen kann. Das Handeln in der Konstitution der Gemeinschaft und die Teilnahme an der Kommunikation der Konfirmierung gaben den Erzählern situationsabhängig weitere Möglichkeiten zur Selbstbestimmung an die Hand. So war es wieder möglich, adäquate Selbstbeschreibungen zu entwerfen, mit der man sich Auskunft über den Sinn eigener Existenz geben und Selbstsicherheit zurückerlangen konnte. Von hier aus war es ein Leichtes, nach dem Abklingen der „akuten“ Situation des Hochwassers in die alten Rollenschemata zurückzukehren. Aber auch diese waren weiterhin in Gemeinschaften verankert und darauf orientiert. Nur im Bezug auf die Gemeinschaft sind die Rollen identitätsrelevant. Nur durch die Verortung in der Gemeinschaft kann das Individuum sich selbst bestimmen. Wie sehr das Selbstverständnis auf die Gemeinschaft angewiesen ist, zeigte sich am Leiden infolge zerbrochener Gemeinschaftsprojektionen, wie manche Geschichten aus der Ziltendorfer Niederung es darstellten. Diese Erzählungen sind Zeichen für den Bedarf an Gemeinschaft, für ihre Funktion. Denn auf den Zusammenbruch der Gemeinschaftsprojektionen antworteten die Erzähler mit Neuentwürfen, die sie als unerreichbare Utopien konzipierten oder als Imagination einer schweigenden Mehrheit. Die Gemeinschaft ist für die Selbstbestimmung schlicht notwendig. Und so wird klar: Die Gemeinschaft ist die Lösung des individuellen Problems, eine legitime Selbstbeschreibung, eine glaubhafte Identität herzustellen. Das ist die Funktion der Gemeinschaft.

Die Gemeinschaft des Individuums Das Hochwasser der Oder im Sommer 1997 war für die Betroffenen ohne Zweifel ein bedeutendes Ereignis, das ihnen im Gedächtnis bleiben wird. Das machte die Intensität der Erzählungen deutlich. Das Jubiläum 2007 zeigte, dass nichts vergessen wurde: Zehn Jahre nach dem Hochwasser gab die regionale Märkische Oderzeitung eine weitere Sonderausgabe (MOZ 2007) heraus, der fusionierte Regionalsender „Rundfunk BerlinBrandenburg“ (RBB) brachte erneut Retrospektiven, und in der Ziltendorfer Niederung sowie im Oderbruch fanden allenthalben Feste und Gedenkveranstaltungen statt. Die in den Interviews präsentierten Erzählungen waren individuelle Erinnerungen an die Gemeinschaft, und das zehn Jahre nach dem Oderhochwasser veranstaltete Gedenken geschah wiederum in Gemeinschaft über die Gemeinschaft. Bei der Untersuchung ging es jedoch nie um den Nachweis einer Gemeinschaft oder mehrerer Gemeinschaften im Oderbruch oder in der Ziltendorfer Niederung. Am Anspruch eines Nachweises solcher regionaler Gemeinschaften kann man nur scheitern, weil die Frage am Problem der Gemeinschaft vorbei geht.1 Worum es in der Untersuchung ging, war der Frage nachzugehen, wie und warum es zu Bezügen auf partikulare Wir-Gemeinschaften kommt. Dabei interessierte einerseits, wie Gemeinschaften für ihren Selbsterhalt sorgen, sich also als Gemeinschaft beweisen, indem mehrere Personen sich darauf beziehen. Denn es scheint nicht selbstverständlich, dass die daran beteiligten Individuen überzeugt sein können, dasselbe zu meinen, wenn sie sich über ihre gleichlautenden Wir-Bezüge verständigen. Aber die Gemeinschaft funktioniert ohne weiteres. Andererseits interessierte bei der Untersuchung, wie sich Individuen auf Gemeinschaften beziehen. Im Wir-Bezug scheint ja zunächst die Negation des Ich-Bezuges mitzuschwingen, denn wie soll sich das unteilbare, weil nicht in toto mitteilbare 1

Das machte die sozialgeographische Debatte ab den 1980er Jahren klar, die nach Orten und Wesen von Gemeinschaften forschte und nie wirklich ankam (siehe Pohl 1993).

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Individuum als Teil der Gemeinschaft begreifen und glaubhaft machen können. Wieso sollte es sich der Mühe einer paradoxen Performanz unterziehen? Jenseits der Motive liefernden Anlässe muss die Gemeinschaft Lösung für ein grundsätzliches Problem des Individuums bieten. Dieses Problem – so die methodologische Unterstellung – macht die Funktion der Gemeinschaft aus. Daran aber stellt sich gleichzeitig die Modernität der Gemeinschaft neben ihrer zwar unabweislichen, vielfachen, aber ebenso zufälligen Evidenz im Alltag der Gesellschaft dar. Modernität der Gemeinschaft: Die Ausgangsthese, dass Gemeinschaften in der modernen Weltgesellschaft bedeutend sind, konnten die Erzählungen über das Oderhochwasser 1997 eindrücklich unterstützen. Es wurde dabei deutlich, dass die Gemeinschaften funktionieren, und dass es darum sehr wohl einen Sinn haben muss, sich als Individuum auf Gemeinschaften zu beziehen. Ansonsten wäre die Gemeinschaft nicht als ein so breit ausgefächertes Thema in den Erzählungen vorgekommen.2 Insofern hat sich die Soziologie nicht geirrt, sich diesem Thema mit so viel Verve zu widmen. Jedoch darf die Gemeinschaft nicht als die antimoderne Widergängerin konzipiert werden, als Untote, die die moderne Gesellschaft verschreckt. Die Gemeinschaft erscheint auch in der soziologischen Literatur vielmehr als ein genuines Element der Gesellschaft und zwar als eine Sphäre der Werteerzeugung (Joas 1999). Jedoch wird ihr attestiert, und einiges spricht schon bei bloßer Politikbeobachtung qua Massenmedien dafür, dass mit der Gemeinschaft die moderne Wertepluralität verdeckt wird (Fuchs 1992). Dadurch werden dann die diskriminierenden Unterscheidungen hinsichtlich Rasse, Ethnien, Kultur und anderen zum Spuk gewordenen Kategorien forciert. Aber ist das anti- und vormodern oder aber eine Seite der Moderne selbst? Vieles spricht dafür, dass es sich bei der Gemeinschaft um ein modernes Phänomen handelt, bei dem sich aus der Totalinklusion der Schichtzugehörigkeit befreite Individuen gemeinsam als Mitglieder beschreiben – wohlgemerkt als Mitglieder, nicht als Individuen. Aber wozu diese Beschreibung, wie kann diese glaubhaft sein? Selbstbeschreibungen des Individuums: Individuen fallen in der modernen Gesellschaft gleichsam aus den grundlegenden Bezügen der Gesellschaft heraus (Elias 1988). Sie können sich selbst nicht mehr begreifen, indem sie auf ein Funktionselement der Gesellschaft rekurrieren, denn deren Differenzierung erfolgt in der modernen Gesellschaft entlang von bestimmten Problemen, deren Lösungen von Funktionssystemen, kommunikativen Sondersphären wie dem Recht, der Wirtschaft, der Familie oder dem Bildungssystem erbracht werden, was an der Auflösung von stratifikatorischen Leistungskonglomeraten wie dem Oikos unschwer zu erkennen ist. Das Individuum ist immer nur noch partiell daran beteiligt, nur 2

Das hat natürlich auch mit der stimulierenden Provokation durch den Interviewer zu tun. Aber wäre das Thema ohne Relevanz gewesen, hätten die Erzähler es einfach ignoriert.

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immer partiell als Person inkludiert durch spezifische, sich zu Rollen bündelnde Erwartungen (Luhmann 1991). Diese können durchaus durch andere, sich aufgrund weiterhin relevanter sekundärer Differenzierungen ergebende Erwartungen, wie der stratifikatorischen Geschlechterdualität oder segmentärer Regionalverortung, konterkariert werden (Weinbach 2004b). Das Individuum muss als Person für sich und für andere Beschreibungen anfertigen, um kommunikative Anschlüsse zu ermöglichen, wobei nur ausnahmsweise nach einer biographischen Gesamtschau gefragt wird. Diese Selbstbeschreibungen sind die ausgestellten Identitäten des Individuums (Luhmann 1993a). So fertig das Individuum eine Vielzahl paralleler Identitätsbeschreibungen an. Auch biographische Narrationen bilden hier als erläuternde Beschreibungen von Identität keine Ausnahme (Meuter 1995). Denn auch diese werden immer partiell und konkret präsentiert und verändern sich ständig in zeitlicher, sozialer und sachlicher Hinsicht. Das hat weniger damit zu tun, dass Zeit vergeht und weitere Ereignisse passieren, als vielmehr damit, dass die Erinnerungen immer in Abhängigkeit der sozialen Relevanz als erlebte Geschichte erzählt werden, um sich in der aktuellen Gegenwart aus einer bestimmten Vergangenheit für eine bestimmte Zukunft zu beschreiben. Selbstbeschreibung aber, das zeigten die Interviews vom Hochwasser der Oder im Sommer 1997, war das Tor, durch das die Erzähler in die eigene Geschichte einluden. Und die Selbstbeschreibung, das heißt also die Identität, war auch das eigentliche Problem der Erzählungen. Denn das Hochwasser stellte nicht bloß eine Überflutungsgefahr dar, sondern war eine Bedrohung eben jener Selbstbeschreibung. Diese Selbstbeschreibung bezog sich auf bestimmte Rollen, die die Erzähler ausfüllten und die sie im Zusammenhang mit den Ereignissen im Sommer 1997 für relevant erachteten.3 Selbstbeschreibungen, stellte Luhmann (1993a) fest, werden individuell angefertigt und sind im Grunde Tautologien. Sie müssen auf Referenzen verweisen, die vom Individuum nicht kontrolliert werden können. Bei Mead (1973) wird die Selbstbeschreibung im Wechselspiel zwischen der Selbstreferenz und der Fremdreferenz auf den generalisierten Anderen erzeugt. Jedoch erscheint der generelle Andere unter den Bedingungen einer multiplen, funktional differenzierten Gesellschaft jenseits der ersten Mutter- oder Vater-Kind-Dyade unmöglich. Mit der Unwahrscheinlichkeit eines einheitlichen Anderen wird aber auch die monolithische Identität unmöglich. Eine Vielzahl von Selbstbeschreibungen wird nötig, die immer auf bestimmte Referenzen zugerechnet wird. Die Referenzen sind dann immer jeweils an Organisationen in Form von Karriere oder Ansprüche orientiert (Luhmann 1993a). Diese Referenzen eröffnen die Chance, mit den eigenen Erwartungen zu scheitern. Erst durch diese Möglichkeit der Negation der Selbstbeschreibung ist ihr realistischer Gehalt zu prüfen. So3

Und auch gegenüber dem Interviewer mussten diese Rollen als mitteilungswürdig und -fähig erachtet werden.

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lange sich gegen die Selbstbeschreibung kein Widerstand bemerkbar macht, ist sie hinsichtlich der für sie angefertigten Umstände hinreichend realistisch. Ereignisse in der Umwelt können aber gleichzeitig eine Vielzahl von Aspekten der Selbstbeschreibung desavouieren, was dann als Katastrophe wahrgenommen wird. Das Hochwasser der Oder und dessen Folgen wurden als solch katastrophaler Widerstand gegen die Selbstbeschreibungen empfunden, weil die spezifische, bisher relevante Identität problematisch wurde. Sie passte nicht mehr, weil der soziale Rahmen (die soziale Umwelt) infolge der Hochwassergefahr (als nicht-soziale Umwelt) schon so sehr verändert war, dass die unreflektierten, im Habitus schematisierten Erwartungen hinsichtlich der gemeinsam geglaubten Wertgeltung enttäuscht und darum zum Thema gemeinschaftlicher Kommunikation wurden. Erst wenn die Geltung der Werte nicht mehr gegeben ist, werden sie zum kommunikativen Gegenstand (Tietz 2002). Die Bedeutung dieses Verlustes an Vertrautheit, die oft mit dem Verweis auf Heimat beschrieben wurde, verunsicherte die Erzähler anfangs derartig, dass sie dem meistens mit dem emotionalen Schema der Angst begegneten. Damit war aber schon eine erste Re-Aktion gegeben, die die Möglichkeit zum erneuten Sicherheitsgewinn bot (Vester 1991). Konstitution: Auf die erste Wahrnehmung der Gefahr erfolgte in den meisten Fällen der Versuch, den Referenzrahmen zu verändern, um Anschluss an die veränderte soziale Umwelt zu finden. Dazu wurden andere soziale Zusammenhänge aufgesucht, bei denen weder die eigene Rolle noch Erwartungen definiert waren. Die auf die Rollenerwartungen aufbauende, durch das Hochwasser aber unrealistisch gewordene, personale Selbstbeschreibung wurde durch eine weitere, aber weit weniger klare, abgelöst. Dass dieses Vorgehen erfolgreicher war, als auf die obsolete Personenbeschreibung zu beharren, zeigten solche Beispiele, bei denen sich die Betroffenen nach kurzer Zeit doch umorientieren mussten. Die Veränderung der Referenz hatte bei den Interviews die Form eines Aufrufs einer abstrakten Gemeinschaft. Weil die Rollenerwartungen hier nur schwach durch lose Kopplungen definiert waren, blieb auch die Selbstbeschreibung weitestgehend unbestimmt: Verschiedene biographische Elemente wie Genealogie oder Zuzug wurden präsentiert, die auf vage gemeinschaftliche Historie und Region verwiesen. Diese darin geschilderten Karrieren oder Ansprüche hatten offenbar kaum Prägekraft für bestimmte Rollen oder diese verloren, und waren bis zur Hochwasserkatastrophe nur noch marginal bedeutend für die Selbstbeschreibung. Die damit aufgesuchten Gemeinschaften waren eben nur weitere, weniger relevante Verweisungsrahmen gewesen. Weil es dafür nur schwach definierte Erwartungen oder gar Rollen gab, entstand ein Spielraum für eine Neubestimmung. Aufgrund der nur noch losen und allgemeinen Erwartungshaltungen, die zudem noch Unterstützung in einer allgemeingültigen Problemlage fanden, stellte sich eine grundsätzliche Gleichheit ein. Dadurch waren die Kom-

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munikationsprobleme der doppelten Kontingenz recht unkompliziert zu lösen. Die Erwartungen fokussierten auf sachliche und zeitliche Zusammenhänge, die Bestimmung von spezifischen Erwartungen an Personen musste sich ja erst entwickeln. So reichten dann Spaten, Sand und Säcke, ein Treff- und ein Zeitpunkt, um in Interaktion und sogar ins Gespräch zu kommen. An dieser Stelle trat die Bedeutung der regionalen Bedingungen hervor, die sich als unterschiedliche Kommunikationschancen bemerkbar machten. Eine Bedingung für das Gelingen eines relevanten Neuentwurfes der Selbstbeschreibung war, sich selbst als handelnde Person wahrzunehmen. Selbst wenn den Erzählern aufgrund ihrer Evakuierung der Zugang zu gemeinschaftlichen Aktivitäten verwehrt war, bemühten sie sich, sich als Handelnde darzustellen. Frustrierend war hingegen, die sich durch das Hochwasser verändernden Umstände nur erleben zu können. Offensichtlich gab es hier keine Gelegenheit, alternative Selbstbeschreibungen für die obsoleten anzufertigen. Die Interaktion in Gemeinschaft stellt einen Resonanzraum für das Entstehen von Erwartungen dar. Als Resonanzraum kann die veränderte Gemeinschaft, die nach der ersten Katastrophenwahrnehmung sehr konkret in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht zu bestimmen war, über einen längeren Zeitraum als Verstärker wirken, der zu neuen relevanten Selbstwahrnehmungen und -beschreibungen der Handelnden führte. Kondensierung und Konfirmierung: Diese in Gemeinschaft konstituierten Identitäten konnten sich durch Wiederholungen kondensieren und bei anderer Gelegenheit konfirmieren (Luhmann 1990: 16 f.). Die Bedeutung der Kondensierung und Konfirmierung trat dann deutlich hervor, wenn diese Gelegenheiten nicht gegeben waren. Waren die bisher gültigen Selbstbeschreibungen hinsichtlich der Gemeinschaft an der veränderten Realität zerbrochen, alternative Beschreibungen nicht möglich oder konnten sich diese nicht bestätigen, weil die Gelegenheit der für die alternative Selbstbeschreibung konstitutiven Gemeinschaft nicht mehr gegeben war, blieb nur noch der Rückgriff auf irreale Gemeinschaftsvorstellungen, ob diese nun als Utopie oder Wunschbild formuliert wurden. Diese brauchten sich nicht mehr an der Realität zu messen, sondern nur noch an der Imagination, wie zum Beispiel der unterstellten schweigenden Mehrheit in einer der Erzählungen. Der Prüfung entzog sich diese Vorstellung durch ihr Schweigen, sie konnte so aber auch nicht desillusioniert werden. In jedem Fall geht mit solchen abgeschotteten Beschreibungen Diskriminierung einher: Identitäten werden dann gegenüber aufscheinenden Alternativen restriktiv in hierarchische Ordnungen der Super- und Inferiorität gestellt. Die Kondensierung ist also eine notwendige Bestätigung realistischer Selbstbeschreibung. Erfolgt die Kondensierung im Vollzug des gemeinschaftlichen Handelns quasi nebenher, so wird Konfirmierung explizit betrieben. Im Wechselspiel von Selbst- und Fremdreferenz muss die kondensierte alternative Selbstbeschreibung bestätigt werden und zwar im Bezug auf die

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Gemeinschaftsreferenz. Gemeinsam ist aber dazu erst noch diese Referenz selbst zu bestimmen. Bei den Gesprächen und Treffen in der Kneipe, den Grillabenden und Festen oder an den Gedenksteinen wurde während und nach dem Oderhochwasser über die Grenzen des relevanten Gemeinschaftsbezuges debattiert. Jene, die sich als Handelnde erlebten, verankerten ihre Gemeinschaftsprojektion historisch, territorial und auf eine bestimmte Gruppe bezogen. Auch die Konfirmierung wiederholte sich, so dass sich nach und nach ein Kanon des Ereignisses und dessen Einordnung in die Historie einer bestimmten Gemeinschaft durchsetzte. Was sich damit weiterhin durchsetzte, war die Annahme über die Geltung bestimmter Werte. Diese Werte, die als symbolische Grenzen (Cohen 1984) dargestellt wurden, sind für die sich bei der Gelegenheit der Konfirmierung definierende Gemeinschaft nicht exklusiv, denn andere Gemeinschaften mögen sich auf die Geltung der gleichen Werte beziehen. Darum taugen diese Werte auch kaum, um eine Kultur der Gemeinschaft zu bestimmen. Das zeigte sich am Beispiel der immer wieder aufscheinenden ethnographischen Beschreibungen anlässlich des Oderhochwassers: Sie unterscheiden sich kaum voneinander. Und so bestätigt sich Webers Verdikt (1985: 235 ff.), dass es keine ethnischen Unterschiede gibt, sondern bloß den Glauben daran. Aber eben dieser Glauben ist entscheidend, denn er bestimmt die Grenze der Wertgeltung, die Grenze der Gemeinschaft, die Grenze zwischen In- und Exklusion. Die Gültigkeit dieser Werte hängt immer von der Bewertung dieser als Tatsachen wirkenden Gegenstände ab. Die Bewertung aber muss wiederum auf die Bedingungen referieren, die die Konfirmierung der Wertgeltung ermöglichen. Das Oderhochwasser ließ die Wertgeltungen der Gemeinschaft in die Krise geraten, weil die Selbstbeschreibung der sich ihr zurechnenden Individuen durch das Ereignis irreal wurde. Die Bewertung der Wertgeltung musste darum negativ ausfallen. Die die alltägliche Vertrautheit herstellenden gegenseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen hatten nur noch geringe oder keine Aussicht auf Erfüllung; das für die Gemeinschaft Gute konnte nicht mehr widerspruchsfrei bezeichnet werden. Dass diese Sicht, die vor allem aus den erzählten Episoden zum Beginn des Hochwassers gewonnen wurde, richtig ist, zeigte sich überraschend an den gescheiterten Gemeinschaftskonstitutionen in der Ziltendorfer Niederung. Die Gemeinschaftsprojektionen waren unrealistisch, weil die Erwartungen hinsichtlich der Geltung der Werte sich als unrealistisch erwiesen, weil die Geltung des für die Gemeinschaft behaupteten Guten negiert wurde. Das wirkte sich unmittelbar als Frustration aus, denn alternative Selbstbeschreibungen waren unter diesen Umständen erst einmal nicht möglich. Erneuerte Selbstbeschreibung: Im Changieren zwischen Selbst- und Fremdreferenz erfolgt die Konstruktion von Identität, und zwar nicht einer einzigen und auch nicht einer beliebigen, sondern einer bestimmten. Dass diese gegenüber der Umwelt realistisch ist, zeigt sich daran, dass sich

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nichts zeigt, was gegen diese Selbstbeschreibung spricht.4 Anhand der Diskussion des Habitus bei Weinbach (2004a) ist eine Möglichkeit für die Darstellung der durch den Gemeinschaftsbezug realisierten Selbstbeschreibung gegeben: Im Verweis auf die Gemeinschaft lässt sich die Spannung zwischen den Wertgeltungen und der dauernden individuellen Selbstbestimmung prozessieren, die in der immer momentanen und distinkten Identität ihren Ausdruck erfährt. Dabei findet das Individuum im Bezug auf Gemeinschaft eine weitere Möglichkeit, sich in Gesellschaft als Person zu realisieren. Die Wertgeltungen machen sich als normativer Rahmen des Sollens bemerkbar, sie zeichnen die Erwartungen aus, die in der Gemeinschaft bestimmt wurden. Das individuelle Wollen und Können, wie es einen Teil der Selbstbeschreibung ausmacht, muss sich daran anschließen. Wahrgenommen wird das Individuum als Person, und zwar hier als ein bestimmtes Mitglied der Gemeinschaft. Hier nimmt es eine bestimmte Rolle ein, an die sich bestimmte Erwartungen knüpfen, die nicht nur funktionaler Art sind, sondern auch zum Beispiel stratifikatorische Attribute transportieren. Das Bewusstsein über die Stellung in der Gemeinschaft manifestiert sich in der jeweiligen Selbstbeschreibung, der Identität, die sich als ein angemessener Habitus niederschlägt, was als Projektion auf dem und durch den Körper erscheint. So kann die in der Gemeinschaft eingenommene Rolle verkörpert werden. Ist das Bewusstsein nun wegen der unrealistisch gewordenen Selbstbeschreibung hinsichtlich der an den Wertgeltungen erzeugten Erwartungen verunsichert, weicht auch der Habitus. Im Bezug auf Gemeinschaft eröffnet sich dann eine weitere Chance über erneuerte Rollenerwartungen, alternative Selbstbeschreibung und veränderten Habitus, auf andere Art die Limitierung von Erwartungen zu realisieren und den unübersichtlich gewordenen Ausschnitt sozialer Umwelt wieder zu kontrollieren. Man erlangt aufgrund des anderen Wir-Bezuges dann wieder ein darstellbares Ich, aber man ist in der angefertigten Selbstbeschreibung, der Identität, ein anderer. Indem die Gemeinschaft zusammen mit anderen in konstituierender Interaktion sowie kondensierender und konfirmierender Kommunikation hergestellt wird, stellt das Individuum auch eine alternative, unter den Umständen mögliche Identität her, mit der es als Person die Rollenerwartungen habituell ausfüllen kann. Diese Selbstbeschreibung ist solange gültig, wie die Umweltbedingungen es ermöglichen. Als das Hochwasser der Oder vorüber war, nahmen die Leute des Oderbruchs problemlos ihre alten Positionen wieder ein, wurden wieder die Personen von zuvor. Dabei hatten sie sich auch gemeinsam als Mitglieder einer anderen Gemeinschaft bewiesen, auf die beim nächsten, ähnlich gelagerten Krisenfall als Selbstbeschreibungsmodell zurückgegriffen werden kann. 4

Der Widerspruch kann in Interaktionen aufkommen, weniger im narrativen Interview (Nassehi/Saake 2002a), was man sich aber für die Analyse zunutze machen muss.

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Im Gemeinschaftsbezug, der sich als Kommunikation über die Wertgeltungen der Gemeinschaft anhand von symbolischen Grenzen vollzieht, realisiert das Individuum Selbstbeschreibung, stellt es Identität her. Selbstbeschreibungen, stellte Luhmann (1993a) fest, sind Tautologien. Sie müssen durch Bezüge auf die Umwelt jenseits des Individuums verankert werden, wodurch der tautologische Charakter der Identität verdeckt werden kann. Die gegenüber anderen entworfene Biographie, die Karriere, die Ansprüche sind solche Verankerungen der Selbstbeschreibung in der Umwelt. Aber inzwischen ist auch klar, dass der Gemeinschaftsbezug ebenfalls solch eine enttautologisierende Verankerung darstellt. Im Verweis und Bezug auf Gemeinschaft lässt sich Identität herstellen, weil sich daran Erwartungen als Mitglied knüpfen, die dazu berechtigen, ebenfalls Ansprüche an Gemeinschaftsmitglieder zu stellen, die sich auf die Wertgeltungen beziehen und auf die Anerkennung von für die Gemeinschaft relevanten Rollen. Die Gemeinschaft aber ist im Grunde im individuellen Bezug ebenfalls nichts weiter als eine tautologische Beschreibung, eben ein Glaube an ein partikulares „Wir“. So muss die Gemeinschaft ebenfalls Enttautologisierung betreiben und erreicht dies durch den Bezug auf eine primordiale Umwelt, zum Beispiel ihre Historie, ihre Region oder ihre Ethnie. Weil das Individuum durch den Gemeinschaftsbezug seine prekäre, aber in sozialer Hinsicht relevante Selbstbeschreibung modifizieren und reaktualisieren oder neu entwerfen kann, bezieht es sich auf das partikulare Wir, gibt es seine Singularbeschreibung scheinbar auf, aber nur, um sich mit einer anderen stabilen, einer realistischen Selbstbeschreibung, einer weiteren Identität auszustatten. Die Herstellung der Selbstbeschreibung ist das Problem, für das Gemeinschaft eine Lösungsmöglichkeit ist, womit die Funktion der Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft bezeichnet ist. Gemeinschaft in der Moderne: Der Intention und den Ergebnissen der Analyse wird mancher mehr oder weniger widersprechen wollen, womöglich wird man den präsentierten Aussagen sogar zustimmen. Einige Parallelen und mögliche Einsprüche der angeführten Arbeiten sollen kurz diskutiert werden: So stellt Opielka (2004) die Gemeinschaft als gesellschaftlichen Integrationsmechanismus heraus, weil hier Werte erzeugt und zur Geltung gebracht werden. Aber die Bindung von Individuen an Werte hat nur eine von anderen Selbstbeschreibungen zur Folge. Darüber hinaus wird das Individuum nicht integriert, sondern hinsichtlich spezifischer Rollen und als Person immer spezifisch inkludiert. Dabei kommen immer unterschiedliche Erwartungen als Wert zur Geltung, die sich ergänzen, aber auch widersprechen können. Das stellt an das moderne Individuum erhöhte Ansprüche, sich adäquat darzustellen; eine Fähigkeit, die Bourdieu (1988, 1991) als symbolisches Kapital auswies und Giddens (1991) zu seiner Idee von der Identitätspolitik veranlasste. Anstatt sich die Sicht auf Gemeinschaft durch die Komplexität des Modellmechanismus infolge Par-

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sons zu verstellen, sollte der Blick auf die Komplexität geöffnet werden, die die vielfältigen Beobachterstandpunkte und entsprechend multiplen Gemeinschaftsbezüge erzeugen. Erst so kann die Funktion der Gemeinschaft offen gelegt werden. Dass die Gemeinschaft eine Funktion in der modernen Gesellschaft hat, wurde hier hinlänglich dargestellt. Als eine Wir-Vorstellung ist die Gemeinschaft aber eben auch eine Einheitsvorstellung. Das allein dürfte für Fuchs (1992) jedoch kein Grund sein, die Gemeinschaft für obsolet zu erklären. Vielmehr scheint er von der Gemeinschaft zu befürchten, sie verschleiere die Sicht auf die moderne Gesellschaft, indem sie ein Ganzheitsmodell suggeriert. Aber sollte die in der Gemeinschaft mitschwingende und zumal paradoxe Einheitsvorstellung, die wie jede Form darauf gründet, sich zu allererst zu unterscheiden und die so erzeugten Grenzen zu erhalten, nicht zunächst als Hinweis einer notwendigen Ontologisierung der idiosynkratischen Weltzugriffe geschätzt werden? Schließlich werden die Mitglieder von Gemeinschaften von den Vorwürfen an ihr etwaiges sozial wärmebedürftiges Hinterwäldlertum unbeeindruckt bleiben, wie Bergem (2005) feststellt. Erst dann ist die Funktion der Gemeinschaft als Ressource für die Enttautologisierung der Selbstbeschreibung des Individuums zu erkennen. Dann braucht man auch nicht mehr ohnmächtige Denkverbote vorzuschlagen wie Niedhammer (2000) am Ende seiner Tour de Force. Denn dann kann man zur Gemeinschaft auch keine relevanten Aussagen mehr treffen, sondern sich vor diesem Phänomen nur fürchten. Gemeinschaften sind ein soziales Phänomen der Moderne, insofern braucht es auch keine gegenteilige Angst um die Auflösung von Gemeinschaften (Putnam 2001a) und einen Verlust der Tugenden zu geben, wie ihn die Kommunitaristen, allen voran MacIntyre (1987), formulierte. Diesen Zuspitzungen ist aber entgegenzuhalten, dass sie sich lediglich vor dem Umstand fürchten, dass sich Gemeinschaften der Inanspruchnahme durch Politik verweigern. Gemeinschaften haben aber eben keine primäre sozialstaatliche oder demokratiesichernde Funktion, sondern eine, die Selbstbeschreibungen von Individuen ermöglicht. Erst dadurch wird die Werteerzeugung und Geltungsdurchsetzung in der modernen Gesellschaft möglich, erst dadurch wird eine Pluralität der Werte erzeugt, die partikular verbindlich sind und das operative Changieren zwischen Einheit und Differenz in Gang setzen. Das moderne Individuum ist aufgrund seiner Exklusivität, seiner sozialen – das heißt hier: kommunikativen – Unerreichbarkeit genötigt, multiple Bezüge und so auch multiple Gemeinschaftsbeschreibungen zu realisieren. Die bei der Herstellung der Selbstbeschreibung erzeugten Werte, ihre Bewertung und Geltungsdurchsetzung sind nur noch in der Gemeinschaft zu bewerkstelligen. Es gibt keine andere Instanz mehr in der Gesellschaft, die verbindliche Werte bereitstellt und deren Geltung als solche postulieren kann. Hinsichtlich der Einordnung in das systemtheoretische Design kann die Gemeinschaft als parasitäres (Serres 1987) Subsystem der Gesellschaft

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bezeichnet werden. Im Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft wird die tautologische Selbstbeschreibung auch an die partikulare Gemeinschaft verwiesen. Die Gemeinschaft ist dabei zunächst nicht mehr als ein Aspekt der Selbstbeschreibung. Jedoch ist der Gemeinschaftsbezug eine symbolisch markierte Limitierung durch gültige Orientierung an die für die Gemeinschaft konstitutiven Werte. Diese Orientierung setzt die Selbstbeschreibung immer dem spezifischen Widerstand anderer, sich der Gemeinschaft zurechnender Individuen aus und ermöglicht eine Reflexion der Selbstbeschreibung hinsichtlich alltäglicher Routinen, die nicht primär funktionsspezifisch determiniert sind. Die durch Vergleich als Gemeinschaftskultur ausfallenden gebündelten Erwartungen haben symbolischen Charakter. Dabei sind die gemeinschaftlich gültigen und so erwartungsdeterminierenden Werte Rahmungen des Verhaltens. Diese schränken Möglichkeitsbereiche für die Interpretation eigener kommunikativer Beiträge sowie der Handlungen anderer ein, so dass sich der Unterschied zwischen der Gemeinschaft und deren Umwelt reproduzieren kann. So ist die Gemeinschaft als soziales System zu beschreiben, das sich nach Mitgliedschaft unterscheidet und seine Kommunikation anhand von Symbolen für die Wertgeltung orientiert. In Hinsicht auf die Unterscheidung der Systemebenen (Luhmann 1988) ist es ein Subsystem der Gesellschaft, das nicht allein als Interaktion oder Organisation zu fassen ist, sondern Anlass zur Ausbildung dieser Systemformen geben kann. Der Bestand der Gemeinschaft aber hängt davon nicht ab. Imaginierte Gemeinschaften müssen dazu nicht ständig auf Interaktion zurückgreifen. Es genügt, das durch Mitglieder prozessierte Gemeinschaftsgedächtnis, dass das Wissen um die symbolisierten konstitutiven Wertgeltungen als Möglichkeit bereithält, ob als schematisierte Praxisabläufe oder Themenreservoire der gemeinschaftlichen Kommunikation. Jedoch gibt es Gemeinschaft nur, solange sie auf dieser Grundlage geschieht. Die durch Gedächtnis bewahrten Symbole garantieren den Anschluss gemeinschaftlicher Kommunikation und schließen diese ab, indem sie als Grenzmarkierungen reproduziert werden. Gemeinschaften können aber trotz der Feststellung ihrer Funktion nicht als Funktionssystem konzipiert werden. Durch die identifizierte Funktion wird in spezifischer Weise die oben beschriebene Enttautologisierung der Selbstbeschreibung des Individuums möglich. Aber diese Funktion wird von der einen Partikular-Gemeinschaft so gut wie von jeder anderen erfüllt. Aus der Zugehörigkeit allein ergeben sich nicht zwingend unterschiedliche Kommunikationschancen für die Mitglieder. Darum sind Gemeinschaften als Segmente aufzufassen, an die stratifikatorische Attribute andocken und über die funktionale Leistungen prozessiert oder Ansprüche gestellt werden. Erst unter den Bedingungen der primären funktionalen Differenzierung gewinnen Gemeinschaften entsprechende Bedeutungen, sei es in politischer, wirtschaftlicher oder anderer Hinsicht. Dabei besteht für die segmentäre Gemeinschaft die Gefahr ihrer Transformation in Netzwerke oder

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Organisationen, für Funktionssysteme eine dadurch in Gang gesetzte nichtlegitime Inanspruchnahme von Leistungen. Aus Sicht der Funktionssysteme müssen dann Gemeinschaften als parasitäre Strukturen erscheinen. Das heißt aber nicht, dass Gemeinschaften überholt seien. Sie sind es so wenig wie andere sekundäre Differenzierungsformen, denn sie versorgen die Gesellschaft mit Strukturen, an denen sich weitere Selbstbeobachtung anstellen lässt, Strukturen, auf welche Funktionssysteme – nicht zuletzt Politik – zurückzugreifen versuchen. Aber vor allem sind Individuen auf Gemeinschaften zur Selbstbeobachtung und Herstellung von simplifizierenden Selbstbeschreibungen, ihren Identitäten, angewiesen.

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

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Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht März 2008, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8

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Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

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