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German Pages XI, 696 [685] Year 2020
KINDHEIT – BILDUNG – ERZIEHUNG
Heinz-Elmar Tenorth
Die Rede von Bildung Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz
Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven Reihe herausgegeben von Johannes Drerup, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland Franziska Felder, Zürich, Schweiz Veronika Magyar-Haas, Institut Erziehungswissenschaft, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Gottfried Schweiger, Salzburg, Deutschland
In der Reihe „Kindheit– Bildung – Erziehung: Philosophische Perspektiven“ erscheinen Monographien und Sammelbände, die sich mit philosophischen Debatten über Fragen der Kindheit, der Bildung und der Erziehung beschäftigen. Thematisiert werden etwa Problematiken der theoretischen Konzeptualisierung, der Legitimation und Gewährleistung von Erziehung und Bildung in (post-) modernen Gesellschaften genauso wie aktuelle Kontroversen über normativ relevante Unterscheidungen zwischen Kindern und Erwachsenen, über spezifische Güter der Kindheit und über das Verhältnis von Eltern- und Kinderrechten in und außerhalb von liberalen Demokratien. Die Reihe richtet sich an Interessierte aus der Erziehungs- und Bildungsphilosophie, den Childhood Studies, der Philosophie der Kindheit und aus weiteren philosophischen Disziplinen (z.B. Politische Philosophie), die sich mit den genannten Themen- und Problemfeldern beschäftigen. In the series „Childhood and Education. Philosophical Perspectives“ monographs and edited volumes are published that deal with philosophical debates about childhood and education. Topics include philosophical questions and problems concerning the conceptualization, justification and the practice of education in (post-)modern societies, as well as controversies over normatively relevant distinctions between children and adults, the specific goods of childhood, and the relation between the rights of children and parents in and beyond liberal democracies. The series addresses scholars from the philosophy of education, childhood studies, philosophy of childhood as well as from other philosophical disciplines (e.g. political philosophy), who are interested in the aforementioned topics and issues. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16428
Heinz-Elmar Tenorth
Die Rede von Bildung Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz
Heinz-Elmar Tenorth Philosophische Fakultät IV Humboldt Universität zu Berlin Berlin, Deutschland
ISSN 2662-5040 ISSN 2662-5059 (electronic) Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven ISBN 978-3-476-05668-9 ISBN 978-3-476-05669-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Lesesaal Grimm-Zentrum, Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. (© Matthias Heyde | Universitätsbibliothek, https://www.grimm-zentrum.hu-berlin.de/de/media_kontakt_und_ information/bilderservice) Planung/Lektorat: Franziska Remeika J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Danksagung
Die Arbeit an diesem Buch begann mit dem Angebot eines Verlages, gemeinsam mit Nicole Welter eine Einführung in die Reflexion von „Bildung“ zu schreiben. Persönliche Umstände ganz unterschiedlicher Art, die wir beide erlebten und z. T. auch erlitten, haben die Realisierung dieses Plans verhindert. Nach 2014, als Nicole Welter nicht nur Titel und Stelle, sondern auch eine Fülle neuer und erfreulicher Herausforderungen gefunden hatte, dienstlich wie privat, und ich selbst gesundet war, habe ich die alten Pläne wieder aufgenommen, jetzt allein, auch zuerst ganz ohne Verlagsaussichten. Nicole Welter war so großzügig, mir ihre Vorarbeiten u. a zu Herder und zur Säuglings- und Bindungsforschung für die eigene Darstellung zu überlassen, sogar mit der Erlaubnis, sie auch für meine Schreibversuche auszubeuten. Sie war gleichzeitig so engagiert wie geduldig, im Fortgang meiner Arbeit immer neu produktive Rückmeldungen zu allmählich entstehenden Texten zu geben. Dafür und für kritische Lektüre und geduldiges Zuhören bei der Erläuterung meiner immer weiter auswuchernden Pläne muss ich ihr und zahllosen anderen Kollegen und Freunden sowie den Teilnehmern diverser Colloquien ganz herzlich danken – und natürlich, sie sind für das Endprodukt nicht verantwortlich zu machen. Schon in seiner materialen Gestalt läge es aber auch nicht vor, wenn nicht Bettina Eweleit und die Mitarbeiter der historischen Bildungsforschung mich nicht immer wieder und ohne laute Klage oder Murren bei den Recherchen in Bibliotheken und im Netz unterstützt hätten. Die Ermutigung zur Drucklegung in der jetzt vorliegenden Fassung kam von den Herausgebern der Reihe, in denen der Text jetzt erscheinen kann. Sie, zumal Johannes Drerup und seine Mitarbeiter, haben nicht nur eine erste Fassung des gesamten Textes so kritisch wie rasch gelesen, sondern für den Druck auch redigierende und editorische Unterstützung gegeben, ohne die der Band nicht schon zum jetzigen Zeitpunkt hätte erscheinen können. Auch dafür muss ich danken, ja sogar betonen, dass ich es ohne ihre Rückmeldungen wahrscheinlich nicht gewagt hätte, den Band der Öffentlichkeit vorzulegen – und das Schöne am Wissenschaftsbetrieb ist ja, dass die Kritik mit gutem Recht den Autor und seine Argumente zum Thema machen wird, nicht die Entstehungsgeschichte oder das publizistische Umfeld. V
VI
Danksagung
Jeder Autor weiß natürlich, dass die damit verbundene Fiktion der Autorschaft zwar nicht völlig grundlos ist, aber doch immer auch aus den eigenen Schreiberfahrungen heraus nicht völlig bestätigt wird. Zumal Texte wie der vorliegende verbrauchen nicht nur eigene Zeit und Arbeitskraft, sondern auch die Kraft, Geduld und Nerven anderer, vor allem des familiären Feldes, bis hin zu den Enkeln, die den Kontrast von beruflicher Entlastung und intensiven Schreibverpflichtungen problematisieren. Das Unternehmen kam dennoch zu einem glücklichen Ende. Dafür gilt mein größter Dank meiner Frau, die mich auch jetzt noch erträgt, obwohl die Rede von Bildung unseren gemeinsamen Haushalt sehr lange und mehr als alltäglich belastet hat. Ihr gehört deshalb das Buch, ohne sie wäre es nicht möglich gewesen und schon gar nicht fertig geworden. Berlin im Winter 2019/20
Heinz-Elmar Tenorth
Inhaltsverzeichnis
1
Bildung – kann man darüber noch reden? Zur Einleitung . . . . . . . . 1 1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Teil I Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition 2
Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
3
Bildung und die „Bestimmung des Menschen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
4
„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ – Die Geschlechterfrage im Bildungsdiskurs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
5
Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt. . . . . . . . . . . . 67
6
Ermöglichungsformen: Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
7
Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
8
Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion – „der Gebildete“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 8.1 … im Theater und in der Poesie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 8.3 …. „Gelehrte“ und „Gebildete“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
VII
Inhaltsverzeichnis
VIII
8.4 8.5 9
… in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 … Gebildet sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“. . . . . . . . . . . . . . . . . 117
10 ... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 11 Die Rede von Bildung im Ursprung – Selbstkonstruktion des Menschen in seinen Welten. Ein Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . 143 Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation 12 Das anthropologische Argument – Separierung und Retraditionalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 12.1 Bildung, „Bildsamkeit“ und „Bestimmung“ – ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz gegenüber der Realität von Bildungsprozessen . . . . . . . . 167 12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte von Individualität und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als Praxis von Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 13 Bildungswelten: Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten . . . 191 13.1 Bildung in der Gesellschaft – Bildung im Staat: „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht und die Struktur der Disziplinargesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus . . . . . . . . . . . 203 13.4 Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“. . . . . . . . . . . 208 13.5 Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose von Verfallsformen: Halbbildung vs. wahre Bildung. . . . . . . . . . . . . . 215 14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung – Die triadische Konstruktion von Bildungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 14.1 Die rettende Welt des Spiels und die Versöhnung im schönen Schein: Schillers „ästhetische Erziehung“. . . . . . . . . . . . 223 14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie und die Möglichkeit der Emanzipation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
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15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 15.1 Klassizität – ein Programm der Selbstbegrenzung . . . . . . . . . . . . 252 15.2 Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes, Primat der Erwartung des Guten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Teil III Bildung in der Erziehungsgesellschaft 16 Die Empirie von Bildungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen zwischen Bildungsreflexion und Humanwissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten. . . . . . . . . . . . . 277 16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik – Zur Auswahl der Exempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling: Bildsamkeit als Naturprämisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 17.2 Bildung in der Schule oder trotz der Schule? – Outcome-orientierte vs. bildungstheoretische Analyse. . . . . . . . . 305 17.3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken der Selbsttätigkeit und der pädagogische Kontrollblick . . . . . . . . . . . 324 17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 17.5 Bildung im Jugendalter – Emanzipation in kultureller Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 17.6 „Wir sind gelebt worden“ – das „Elend der Welt“, Aufstieg durch Bildung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 18 Utopien und die Realität – Die Bildungspraxis der Subjekte und die Möglichkeit anderer Welten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Teil IV „Beschulung“ – die bildungstheoretische Legitimität öffentlicher Erziehung 19 Bildung als soziale Tatsache – Das Konstruktions- und Legitimationsproblem des Bildungssystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 20 „Allgemein“ – Adressatenbilder und Kanonfragen. . . . . . . . . . . . . . . 385 20.1 „Allgemeine Bildung“ – das traditionale Kriterium der Bildungsorganisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen. . . . . . . . . . . . . . 391 21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse . . . . . . . . 401 21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 21.2 Capability-approach – „Befähigungsgerechtigkeit“ . . . . . . . . . . . 413
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21.3 Anerkennungsgerechtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem . . . . . . . . . . 429 22.1 Gleichheit – gesellschaftliche Erwartungen, pädagogische Optionen, bildungstheoretische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 22.2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen und die Bringeschuld des Bildungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion in der Einheit und Differenz von Bildungsgängen. . . . . . . . . . . . . 449 23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 23.1 … als Wert in sich selbst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 23.2 … für Besitz und Status. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung. . . . . . . . . . . . . . 471 23.4 … für die „Bildung der Nation“ – Demokratie als Lebensform, Integration durch Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 23.5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotential . . . . . . . . 490 24 Zwischenfazit – wahre Bildung oder Bildung als Ware – ein Reflexionsdilemma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung“? 25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . 513 25.1 Adressaten und Referenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen. . . . . . . . . . . . . . . 518 25.3 Exkurs: Kritik als Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung – Themen, Relationen, Kausalitäten . . . . . . . . 544 26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion . . . . . . . . . . . 559 26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . 560 26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . 585 27.1 Mensch, Welt, Selbst – die Universalität und Offenheit der Thematisierung des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 28 Epilog – Bildung: Redeform und Lebensform. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
Kapitel 1
Bildung – kann man darüber noch reden? Zur Einleitung
Bildung ist ein Megathema, nicht erst, seit es Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Rede vom 26. April 1997 zu einer der zentralen Aufgaben der Gegenwart erklärte, die angemessen erst behandelt werden können, wenn endlich ein „Ruck durch die Gesellschaft“ gegangen sei.1 Aktuell wie historisch versammelt Bildung, meist in den spannungsreichen Dualen von „Bildung und Erziehung“ oder „Bildung und Ausbildung“ zugleich abgrenzend und verknüpfend präsent, aber nicht immer präzise unterschieden, die Diskutanten immer neu dann, wenn die Bedingungen des Aufwachsens der jungen Generation, das von ihr erwartete Verhalten oder die Struktur und die Leistungen des Bildungssystems behandelt werden. Dann bestimmt der Begriff der Bildung den deutschen Diskurs über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, ja der Menschheit, und zwar in höchst vielfältiger Weise. Gelegentlich wird dabei sogar die Frage thematisiert, wie im Wechsel der Generationen endlich die Vernunft zur bestimmenden Kraft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden kann. Aber die Vernunft ist nur eine Referenz: „Bildung macht reich“, das versprach im Sommer 2009 die Einladung zu einer Podiumsdiskussion, die vom
1Michael Rutz (Hrsg.): Aufbruch in der Bildungspolitik. Roman Herzogs Reden und 25 Antworten. München 1997; Roman Herzog: Megathema Bildung – vom Reden zum Handeln. Rede des Bundespräsidenten auf dem Deutschen Bildungskongress am 13. April 1999 in Bonn. In: Roman Herzog/Initiativkreis Bildung: Zukunft gewinnen, Bildung erneuern. München 1999, S. 11–23. Aber noch 2012 war er mit den Bildungsreformen seither überhaupt nicht zufrieden, wie ein Interview im Focus am 13.05.2012 belegt: „FOCUS: In Ihrer Amtszeit als Bundespräsident erklärten Sie „Bildung“ zum „Megathema“ und stellten dringenden Reformbedarf fest. In den vergangenen Jahren hat sich viel bewegt: Das Abitur wird nahezu flächendeckend nach zwölf Schuljahren abgelegt, es gibt Gemeinschaftsschulen, an denen die Kinder länger zusammen lernen, an den Universitäten ist ein Großteil der Studiengänge auf Bachelor und Master umgestellt. Sind Sie zufrieden mit dieser Entwicklung? Roman Herzog: Ich bin heute der Überzeugung, dass diese ganzen sogenannten Reformen in erster Linie Organisationsspielereien waren, die im überwiegenden Interesse der Lehrer veranstaltet wurden“.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_1
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
anagerkreis der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet M wurde. Gegen die „Ökonomisierung der Bildung“ und für eine „zweckfreie Bildung“ demonstrierten dagegen im Juni 2009 in ihrem „Bildungsstreik“ mehr als 200.000 Schülerinnen, Schüler und Studierende – und auf keiner Demonstration oder Diskussionsveranstaltung haben sie sich mit der Aussicht auf Reichtum trösten lassen, vielmehr die Kosten der Bildung, vor allem die Studiengebühren, als Mechanismus des Ausschlusses von Bildung verurteilt. Die Ausbreitung von „Bildungsarmut“ stellen wiederum Bildungsforscher fest,2 und sie bezeichnen damit die Tatsache, dass die Zahl der Schulabsolventen unvermindert hoch bleibt, die nicht über Bildungsabschlüsse verfügen („Zertifikatsarmut“) und auch nicht die Kompetenzen erworben haben, erfolgreich eine berufliche Ausbildung aufzunehmen, um sich durch Bildung gegen Arbeitslosigkeit zu sichern („Kompetenzarmut“) oder selbstbestimmt an Gesellschaft und Kultur oder auch nur am Arbeitsmarkt teilzunehmen („Marktarmut“). In den „Wissensgesellschaften“ oder gar „Bildungsgesellschaften“, in die wir anscheinend eingetreten sind, ist das aber, eine Existenz ohne hinreichende „Bildung“, offenbar einem Ausschluss gravierender Art gleichzusetzen. Jedenfalls ist man bei diesem Blick auf massenhafte Bildungsarmut von dem „Aufstieg durch Bildung für alle“ weit entfernt, der als Slogan um 1900 erfunden wurde und seit dem Beginn der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren bis heute so laut versprochen wird.
1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme Es ist heute offenbar nicht mehr allein der Zusammenhang von „Bildung und Kultur“, gar nur der vermeintlich hohen Kultur, wie traditionell,3 der mit der Rede von Bildung thematisiert wird. Im 20. Jahrhundert kamen andere Verknüpfungen auf, z. B. „Bildung und Wirtschaftswachstum“, und heute gibt es nahezu kein Thema, das sich im Kompositum oder in der Attribuierung nicht mit Bildung verbinden lässt4: Bildungspolitik, natürlich, Bildungssystem, Bildungsrendite, Bildungsinhalte, Bildungsziele, Bildungskapital, Bildungsgesellschaft, Bildungsgüter, Bildungsforschung, Bildungsökonomie, Bildungsrecht, Bildungsplanung, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgleichheit, sogar die
2Schon
früh und nachdrücklich Jutta Allmendiger: Bildungsarmut – zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50 (1999), H. 1. S. 35–50. 3Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1994. 4Die einschlägige F IS-Datenbank wirft allein für „Bildung“ im Januar 2015 insgesamt 65.265 Literaturangaben aus, ohne alle Komposita.
1.1 Die Rede von Bildung – Platzhalter für gesellschaftliche Probleme
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Bildungslüge5, Bildungspanik6 und den Bildungswahn7 findet man. Sucht man in den Attribuierungen gibt es: allgemeine, spezielle, grundlegende, wissenschaftliche, kulturelle, ästhetische, musische, mathematische, naturwissenschaftliche, technische oder berufliche, kaufmännische, gewerbliche oder mediale Bildung. Alle diese Spezialformen – und noch mehr8 – werden diskutiert, selbst über „erotische Bildung“9 wird – so ernsthaft wie ironisch – gehandelt, genauso wie über „Bildung durch Wissenschaft“ oder „Nahrung als Bildung“.10 Nicht nur in der Politik, so hat man den Eindruck, wird Bildung, samt Komposita und Attributen, inzwischen als Formel genutzt, um bei beliebigen Problemen – von der Jugendarbeitslosigkeit bis zu Einkommensungleichheit, von offenen Zukunftsfragen bis zum Umgang mit Medien, bei Kriminalität, befürchtetem Werteverfall oder erhofftem Wertewandel, bei Migrationsfolgen und für Integration – ein Heilmittel anzupreisen, von dem man sich Rettung und Hilfe für alle Probleme verspricht.11 „Wie halten wir’s mit der Bildung?“, das ist für die 5Darüber klagt Werner Fuld: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Berlin 2004 – das ist ein Plädoyer gegen das überlieferte Wissen der abendländischen Kultur bzw. des klassischen schulischen Kanons und für die Fähigkeiten, die mit der Digitalisierung der Gesellschaft vermeintlich notwendig werden. 6Heinz Bude: Bildungspanik – Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011, sowie – dann nicht mehr überraschend – parallel zur Panik die Angst: Heinz Bude: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014. 7Arno Makowsky: Erziehung, ein Kinderspiel. In: Der Tagesspiegel 31.05.2015, S. 7 – der Mitleid mit überforderten Eltern hat, aber weiß: „schuld daran ist der Bildungswahn – und der Anspruch perfekt sein zu wollen“. Solche Qualifizierung findet sich schon 1922 bei Leonard Nelson: Vom Bildungswahn – Ein Wort an die proletarische Jugend. (Abdruck in Tenorth 1986, Allgemeine Bildung, S. 48 ff.) in einer Rede an die Jungsozialisten, der damit aber die seiner Meinung nach falsche Annahme tadelt, dass Bildung den politischen Kampf ersetzen könne. 8Das „Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch“ des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim (zugänglich über www.elexiko.de) verzeichnet 234 Treffer bei der Suche nach Worten, die mit „Bildung“ beginnen (von „Bildungsabbau“ bis „Bildungszweck“, aber „Bildungspanik“ war am 31.07.2015 noch nicht erfasst); hinzu kommen 313 Treffer mit Worten, die auf Bildung enden, und 869 Treffer bei Worten, die „Bildung“ enthalten (von „Abbildung“ bis „Zwitterbildung“, also mit Überschneidungen zur zweiten Gruppe, aber die „Alltagsbildung“, die z. B. Sozialpädagogen diskutieren, fehlt z. B. noch). 9Bei Gerrit Walther: Erotische Bildung. In: Michael Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar 2011, S. 23–26. 10So wurde ein Buch im B eltz-Verlag 2014 angekündigt, das jetzt unter anderem Titel, aber immer noch im Assoziationsraum von Bildung, erschienen ist: Birgit Althans/Friederike Schmidt/Christoph Wulf (Hrsg.): Die Gabe der Nahrung. Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen, Nahrung und Ernährung als Bildungsraum. Weinheim 2014. 11Für die Sprache der Bildungspolitik, dieses enge Segment der Rede von Bildung, gibt es bereits Analysen, vgl.: Zwischen Re-education und Zweiter Bildungsreform. Die Sprache der Bildungspolitik in der öffentlichen Diskussion. In: Georg Stötzel/Martin Wengeler: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York 1995, S. 163–209 – hier reicht die Liste der Beleg- und Stichwörter von „äußere Schulreform“ bis „Zweite Bildungsreform“ und sie umfasst auch „Bildungs“-Belege – von „Bildung vs. Qualifikation“ bis „Bildungswunder“.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
Leibniz-Gemeinschaft, eine der großen außeruniversitären Forschungsverbünde, heute „die Gretchenfrage“.12 Man kann angesichts der Allpräsenz der Rede von Bildung verstehen, wenn das „Bildungsgerede“13 Überdruss erzeugt. Aber man versteht auch, dass ein Autor sogar vermutet, dass der „Bildungsdiskurs“ historisch „einen, wenn nicht den zentralen Diskurs der Bundesrepublik“ darstellt, „eine bis heute unverzichtbare autopoetische [sic, nicht autopoietische] Rede der zweiten deutschen Republik“. Das klingt überzeugend, zumal er dann doch, und angesichts der deutschen Geschichte und des Holocaust wohl notwendiger Weise, systematisch relativiert, und den Bildungsdiskurs „neben dem Schulddiskurs der politischen Philosophie“ einen minderen Platz einräumt.14 Es ist in dieser Allzuständigkeit offenbar dennoch ein „Bildungswunder“, das man hier beobachten kann, wie ein soziologischer Beobachter jüngst amüsiert kommentierte.15 Aber das hat ja Tradition: „Heilung für die Gebrechen aller Sphären kommt freilich nur durch Erziehung“, das sagte 1813/1814, mitten in den Befreiungskriegen, schon der Theologe, Philosoph und Bildungsreformer Friedrich D. E. Schleiermacher.16 Dem Status des Begriffs, seiner Klarheit und Präzision, hat diese Redeweise nicht gutgetan. Beobachter nennen Bildung ein „deutsches C ontainer-Wort“,17 das alles aufnimmt, aber nichts mehr eindeutig aussagt, ein „catch-word“. Die Philosophie, wenn sie es denn je hatte, hat heute jedenfalls kein Monopol auf die Rede von Bildung. Die Wissenschaften insgesamt mischen mit, auch die Öffentlichkeit, die produktiv informierenden Übersichten z. B. zu den Dimensionen des Themas liefern auch eher die Historiker18 als die Philosophen. „Die höchste und 12Diese These findet sich auf dem Titelblatt des „Leibniz-Journal“, H. 1/2015. In Heft 2/2017 des DSW-Journals, dem Magazin des deutschen Studentenwerkes, verkünden drei Direktoren von Leibniz-Instituten (Marcel Fratzscher, Jutta Allmendiger und Ludger Wößmann) eindeutig und klar „So geht Bildung!“ – ohne alle Zweifel. 13Michael Felten: Schluss mit dem Bildungsgerede! Eine Anstiftung zu pädagogischem Eigensinn. Gütersloh 2012 – ganz ohne Angst vor dem performatorischen Selbstwiderspruch, den der Autor mit seinem eigenen Plädoyer für die Reform der Schule präsentiert, zumal mit dem Zentralbegriff reformorientierter Pädagogik, dem „Eigensinn“ der Bildung. 14So formuliert – in der Darstellung der u. a. über Hellmut Becker (Direktor am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung und Sohn des ehemaligen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker) vermittelten Rolle von Stefan George für den Bildungsreformdiskurs der Bundesrepublik – Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009, zit. S. 433. Die Zentrierung der Bildungsreform auf das Becker-Netzwerk ist allerdings historisch viel zu eng. 15Hans-Peter Müller: Vom Bildungswunder. In: Neue Züricher Zeitung, 17.07.2013. 16In den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1813/1814. In: Pädagogische Schriften, hrsg. von Weniger, 1957, Bd. 1, S. 375. 17Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik 43(1997), S. 949–968, zit. S. 949. 18Besonders anregend und umfassend jüngst der o. g. Sammelband von Maaser/Walther (Hrsg.): Bildung. 2011. Die Debatte zu „Bildung – Renaissance einer Leitidee“ in der Zeitschrift für Pädagogik H. 4/2015, mit Beiträgen von Dreßler/Saner; Dörpinghaus; Benner; Harant (z. B. erneut in der Wiederbelebung alter Unterscheidungen: „Die Problematik der affirmatio von Herkommen und Fortschritt als Fluchtpunkte von Bildungsdenken“) ist dagegen insgesamt sehr konventionell in den Fragestellungen, pädagogisch binnenzentriert und z. T. esoterisch.
1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung
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proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen“, wie Bildung mit den klassischen philosophischen Texten Wilhelm von Humboldts häufig beschworen wird, die Verbreitung des „Wahren, Schönen und Guten“ und die „Höherbildung der Menschheit“, das kann man vielleicht noch in Festreden hören, aber das ist bei Weitem nicht mehr der einzige Ton, in dem heute über Bildung gesprochen wird. Selbst die Gewerkschaften verknüpfen Bildung mit „Humankapital“. Diese Vielfalt der Akteure und Redeweisen ist, gegen allen Überdruss kann man das festhalten, gleichzeitig auch verständlich, denn die Praxis der Bildung und ihre Konsequenzen waren und sind genauso wie die Rede über Bildung schon immer mehrdimensional. Die historische Gestalt von Bildung bezeichnete die Tugenden und Leistungen der Subjekte genauso wie die Strukturprinzipien von Bildungssystemen, sogar die Frage, wie die Vernunft in die Gesellschaft kommt, hat hier traditionell ihren Platz. Verkörpert in Zertifikaten hat Bildung gleichzeitig schon immer, jedenfalls seit dem frühen 19. Jahrhundert in Westeuropa, über den sozialen Status mitentschieden und schon im Verhalten der Gebildeten soziale Unterschiede erzeugt und als Distinktionsmerkmal fungiert. Bildung war, bereits in der Aufklärung, auch Leitformel für die Identität einer Nation und bevorzugter Begriff einer Kritik, die immer neu, nicht etwa erst heute, die wahre Bildung von der Halb- und Unbildung unterscheiden wollte. „Bildung“ ist, man muss es als Ausgangspunkt festhalten, nicht einfach auf den Begriff zu bringen, schon gar nicht nur in einer Bedeutung präsent: Bildung ist ein deutscher Mythos, ist pädagogisches Programm, politische Losung, philosophische Kategorie, Mechanismus gesellschaftlicher Distinktion, Schlüsselwort öffentlicher Debatten, Thema interdisziplinärer Forschung und Ideologie des Bürgertums zugleich. In der semantisch-begrifflichen Diffusität ist der Begriff anscheinend offen für alle Zuschreibungen, man kann hier auch „ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft“19 sehen. Die Frage liegt deshalb nahe, ob man vor diesem Hintergrund die Rede von Bildung wissenschaftlich, als Thema theoretisch ausweisbarer Reflexion überhaupt noch ernst nehmen kann?
1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung Ein hilfesuchender Blick in die aktuelle Forschung zum Thema Bildung erzeugt allerdings, so jedenfalls der erste Eindruck, selbst eher Irritation als Klarheit. Bildung wird hier, einerseits, als Thema wissenschaftlicher Arbeit der K ontinuität
19Wolfgang Sander: Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. 2018 – der mit der „Vertreibung aus dem Paradies“ einsetzt und mit der „Erziehung zum Weltbürger“ endet. Für die Bewältigung der Herausforderungen, die mit der Globalisierung verbunden sieht, wird ähnlich argumentiert: Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung. Berlin 2019. Hier soll Bildung das globale Bewusstsein schaffen, das jetzt nötig sei.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
von Kritik zum Trotz und gegen alle wiederkehrenden Letaldiagnosen oder alternativen Angebote, wie z. B. „Kultur“20, reichhaltig und auch nicht allein in der traditionellen Pädagogik oder in der hergebrachten Bildungsphilosophie intensiv gepflegt. „Bildung“ ist bis heute ohne Zweifel ein stabiles und viel diskutiertes Thema in zahlreichen Disziplinen. Andererseits, betrachtet man die theoretischen und methodischen Referenzen auch nur einiger zentraler Arbeiten aus dem 21. Jahrhundert, dann kann man schwerlich sagen, dass die einschlägige Forschung ihr Thema immer und nachhaltig auch methodisch sauber, clare et distincte, mit eindeutigen Begriffen, vergleichbaren Methoden, relationierbaren Befunden und anschließbaren Argumenten behandelt hätte. Die Forschung präsentiert sich eher selbst in der verwirrenden Vielfalt, die auch die alltägliche Rede charakterisiert. Dabei mag es zum wissenschaftlichen Alltag in den Humanwissenschaften gehören, dass es Forschung über Bildung in großer methodischer Differenz gibt, empirisch und historisch, philosophisch und kritisch, diskursanalytisch oder praxeologisch, quantitativ und qualitativ,21 und entsprechend auch in disziplinärer Besonderung sowohl in den Geistes- wie in den Human- und Sozialwissenschaften. Aber es ist doch ungewöhnlich, ja paradox, dass innerhalb der sich selbst als „empirische Bildungsforschung“ etikettierenden Forschungspraxis bis heute scharfe Kontroversen über die Frage ausgetragen werden, ob der Begriff der Bildung überhaupt sinnvoll als Referenz verwendet werden kann und ob eine (meist philosophisch argumentierende) „Bildungstheorie“ und die „empirische Bildungsforschung“ wirklich über identische oder wenigstens über anschlussfähige Themen arbeiten.22 Kontroversen dieser Art mögen sich noch als disziplinpolitische Machtkämpfe innerhalb der Erziehungswissenschaft auflösen lassen, die Mannigfaltigkeit der Forschungszugänge und die bis heute unreduzierte und vielleicht auch systematisch nicht mehr reduzierbare Vielfalt der Perspektiven auf Bildung in der jüngeren Forschung bleibt bestehen. Lässt man einmal die Traditionen der Bildungsphilosophie und ihre Arbeit an den jeweils bevorzugten Klassikern noch ganz außer Acht (obwohl auch hier immer neue Arbeiten23 zu vermeintlich längst bearbeiteten Autoren ebenso 20Das
Plädoyer für „Kultur“ als „fächerübergreifende Orientierungskategorie“ und zugleich als „Erbe der ‚Geisteswissenschaften‘“ und ihres Begriffs der „Bildung“ findet sich bei Hartmut Böhme u. a.: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek 22002, zit. S. 10 f., vgl. auch 19 ff. 21Eine Übersicht bieten Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen 42017. 22Die Opposition von „empirischer Bildungsforschung“ und „Bildungsphilosophie“ ist offenbar schon fest etabliert. Aber zumindest reden die verschiedenen Fraktionen der Bildungsforschung gelegentlich noch miteinander, wie das jüngste Exempel zeigt, vgl. Jürgen Baumert/Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2016, Sonderheft 19. 23Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015 hat insofern noch einmal sehr anregend die Spezifik des Hegelschen Programms der Bildung gezeigt, alle anderen bis zu Hegel historisch präsenten Fassungen des Begriffs daran gemessen – und für unzureichend erklärt.
1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung
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alltäglich sind wie kontinuierliche Differenzen24), dann liegt diese Vielfalt sicher lich an den theoretischen Referenzen, in die „Bildung“ übersetzt wird. Bildungsgeschichte hat z. B. innerhalb der historischen Disziplinen und mit dem Handwerk der Historiker, begriffs- wie sozial oder alltagsgeschichtlich, auch in diversen turns, eine eigene Stabilität gewonnen25 und die Bedeutung von Bildung im Lebenslauf wird sowohl system- wie lebensweltbezogen breit analysiert. Die an Foucaultsche Denkfiguren angelehnten jüngeren Untersuchungen zur „Genealogie der Bildung“26 allerdings folgen in der Konstruktion ihrer Geschichten anderen Quellen, anderen methodischen Standards und anderen Begriffen, wenn sie die „Ordnung“ oder „Macht der Bildung“27 diskutieren, schon die Anschließbarkeit an die ansonsten erzählten Bildungsgeschichten ist nicht einfach gegeben. Auch wenn innerhalb der Geschichtswissenschaft die „Vergesellschaftung des Menschen“28 als Thema historischer Sozialisationsforschung diskutiert wird, sind die manifesten Differenzen in den Quellen und Geltungskriterien von Analysen unübersehbar, die sich bei einem scheinbar eindeutigen Thema auch schon in historiografischer Perspektive zeigen. Vergleicht man z. B. die aktuellen Arbeiten an einer „Historischen Anthropologie“, dann ist trotz der gemeinsamen Anspielung auf „historisch“ bereits das methodische Selbstverständnis höchst different, wenn dieses Thema kulturwissenschaftlich29 oder historiografisch30 bearbeitet wird. Kulturwissenschaftler lehnen eine Gleichsetzung
24Man
vergleiche nur die Arbeiten von Jürgen Mittelstraß mit der bildungsphilosophischen Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft. 25Ich verweise nur auf C. Berg (u. a.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987–2006 sowie auf die Arbeiten zum Bildungsbürgertum, die für den Arbeitskreis moderne Sozialgeschichte von Werne Conze und Reinhard Koselleck vorgelegt wurden. 26Meine Anspielung gilt Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006. Ricken diskutiert seine Reflexion auf „Bildung als Dispositiv“, indem er neben einem „alltagsweltlichen Zugang“ innerhalb der historischen Perspektive außer seinem eigenen „genealogischen Zugang“ noch vier andere historiografisch diskutierbare „Zugänge“ unterscheidet – „ideengeschichtliche“, „sozialgeschichtliche“, „begriffsgeschichtliche“ und „diskursgeschichtliche“ (ebd., S. 163 ff.) – und sich schließlich selbst auf „eine ‚anthropolitische‘ [sic, H.-E.T.] Interpretation“ einlässt, wenn er „die Macht der Bildung“ diskutiert. 27An anderer Stelle wird die „Macht der Bildung“ ganz klassisch ideen-, sozial- und personengeschichtlich untersucht, vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln (usw.) 1997. 28Eine einschlägige Übersicht schon bei Andreas Gestrich: Vergesellschaftungen des Menschen. Einführung in die Historische Sozialisationsforschung, Tübingen 1999. 29Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim: Beltz 1997 oder die laufenden Publikationen in der Zeitschrift Paragrana. 30Das dokumentiert in der Differenz zu Paragrana sehr nachdrücklich die Selbstbeobachtung der Zeitschrift „Historische Anthropologie“, vgl. Peter Burschel: Wie Menschen möglich sind. 20 Jahrgänge „Historische Anthropologie“. In: Historische Anthropologie, 20(2013)2, S. 152–161.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
mit der Historiografie nicht selten explizit ab, Historiker halten kaum für methodisch gesicherte historische Forschung, was gelegentlich kulturwissenschaftlich produziert wird. Historiografisch sind auch sonst die Differenzen signifikant. Wenn z. B. die „Bildungsrevolution“31 um 1800 in der Literaturgeschichte beschrieben wird oder Prozesse der Selbstbildung und historische Praktiken autodidaktischen Lernens32 bei Bildungshistorikern, dann werden ganz andere Quellen genutzt als bei den Jüngern Foucaults. Bildung wird dabei auch in identischen Zeiten oder Räumen anders dargestellt und bereits grundlegend, für die Frage, ob sie möglich oder unmöglich ist, sehr kontrovers beurteilt. Auch die Rolle der Subjekte wird aktuell vielfältig und different beschrieben, aber gelegentlich doch mit der These, die klassische Rede von Bildung habe nur eine andere theoretische Referenz gefunden, sei aber noch immer bei sich selbst.33 Geht hier die Referenz noch ganz klassisch auf Individualität, wird dort das „Selbst“ mit seinen „Selbsttechnologien“ eingeführt, postmodern und in der selbstsicheren (nur selten aufgestörten34) Gewissheit, nach dem Tod des Subjekts zu leben und zu analysieren. Das Selbst wird dann allerdings nicht mehr in den Dimensionen diskutiert, in denen das Thema aus der Tradition der Ideengeschichte oder der Philosophie vorliegt.35 Solche mehr als marginalen Differenzen belegen auch die mit den Methoden aktueller Empirie forschenden Disziplinen. Sie bieten weder methodisch noch begrifflich ein einheitliches Bild von Bildung, wie sich vor allem an jüngeren Studien über „Selbst-Bildung“ zeigt. Diese Forschungen nutzen andere Quellen
31Heinrich
Bosse: Bildungsrevolution 1770–1830. Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012. 32Holger Böning/Iwan-Michelangelo D’Aprile/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hrsg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Prozesse der Selbstbildung von „Autodidakten“ unter dem Einfluss von Aufklärung und Volksaufklärung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Mit 600 Kurzbiografien von Autodidakten im deutschen Sprachraum bis 1850 und Verzeichnissen von Bauernbibliotheken. Bremen 2015 (Philanthropismus und populäre Aufklärung, Bd. 10). 33Otto Hansmann: Die Bildung des Menschen und des Menschengeschlechtes. Eine herausfordernde Synopse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014. 34Aber man kann auch lesen: „Das Subjekt hat, wie es scheint, seinen Tod überlebt.“ – so Michael Wimmer: Das Selbst als Phantom. In: Ralf Mayer/Christiane Thompson/Michael Wimmer (Hrsg.): Inszenierung und Optimierung des Selbst. Zur Analyse gegenwärtiger Selbsttechnologien. Wiesbaden 2013, S. 295–321, zit. S. 295 – aber es lebt nicht mehr als das Subjekt im Zeichen der alteuropäischen Autonomie, sondern nur noch als „Phantom“ und hat in der verbreiteten Rede vom „Selbst“ seine eigene Wirklichkeit gefunden. 35Für die schon klassisch gewordene historische Perspektive Charles Taylor: Quellen des Selbst. (1992) Frankfurt a. M. 1996, für eine philosophische Perspektive, ausgehend von Selbstbestimmung, Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999 – der allerdings das Thema diskutieren kann, ohne auf Bildungsphilosophie auch nur mit einem Wort einzugehen.; für die soziologische Thematisierung u. a. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006 – sicherlich nach seinem Selbstverständnis auch kein Bildungstheoretiker, trotz des Themas und der Form der Thematisierung.
1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung
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und Referenzen, wenn sie sich in ihrer Methodik als „praxeologisch“ verstehen36 oder als „kulturwissenschaftlich“ oder wenn sie z. B. im Kontext der Ethnologie argumentieren.37 Aber deutlich unterscheiden sich diese Forschungsarbeiten auch von den zahlreichen biografisch ansetzenden Studien über Bildung, die innerhalb der Erziehungswissenschaft38 oder der Soziologie immer neu vorgelegt werden und dann auch den Begriff der Bildung nutzen, der an anderer Stelle nicht selten völlig gemieden wird. So überraschend zumal für bildungsphilosophisch fixierte, traditionell meist kritische Blicke auf Bildung (die auch immer wieder erneuert werden39) die hier dominierende Empirisierung des Themas auch sein mag, es sind zugleich eindeutig differente Welten, die hier gezeichnet werden, nicht zufällig begleitet von Kontroversen, ob wirklich als „Bildung“ bezeichnet werden kann, was hier beschrieben wird. Aber statt einer methodischen Klärung des Begriffs findet man dann doch wieder nur die kategoriale Differenz von Kritik und Analyse, von historischer und empirischer Beobachtung zum einen oder Debatten der praktischen Philosophie und normative Bilder des Gebildeten zum anderen. Zugleich werden die Milieudifferenzen in der wissenschaftlichen Rede von Bildung wieder signifikant, zwischen der kritischen oder normativen Ambition kritischer Bildungsphilosophie zumal innerhalb der Erziehungswissenschaft und einer beobachtend-analysierenden Perspektive, die sich eher außerhalb der Pädagogik findet40 und eigene Bindestrichdisziplinen auch in Psychologie41 und
36Exemplarisch
nur Andreas Gelhard/Thomas Alkemeyer/Norbert Ricken (Hrsg.): Techniken der Subjektivierung. München 2013; Thomas Alkemeyer/Gunilla, Budde/Dagmar Freist (Hrsg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013; Thomas Alkemeyer/Herbert Kalthoff/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Bildungspraxis. Körper – Räume – Objekte. Weilerswist 2015. 37Braun, Karl/Dieterich, C laus-Marco/Treiber, Angela (Hrsg.) (o. J./2015): Materialisierung von Kultur. Diskurse Dinge Praktiken. Würzburg: Königshausen & Neumann. 38Einen ersten, guten Einblick liefert Heft 2/2016 der Zeitschrift für Pädagogik, zumal im einführenden Text der Herausgeber des Themenschwerpunktes: Bettina Dausien/Andreas Hanses: Konzeptualisierungen des Biografischen – zur Aktualität biografiewissenschaftlicher Perspektiven in der Pädagogik. Ebd., S. 159–171. 39Das geschieht intensiv im Anschluss an Arbeiten Adornos oder Heydorns, exemplarisch für diese Praxis z. B. Armin Bernhard, unter Mitarbeit von Sandra Schillings: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns. Hohengehren 2014. 40Signifikant für die differenten Argumentationsformen war erst jüngst die Vorgabe von und die Reaktion auf Krassimir Stojanov: Bildung: zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In: EWE Erwägen – Wissen – Ethik 25(2014)2, S. 202–212 sowie die darauffolgenden zahlreichen Beiträge zu diesem Versuch, vom „normativen Kern“ aus Bildung zu bestimmen. 41Christiane Spiel/Barbara Schober/Petra Wagner/Ralph Reimann (Hrsg.): Bildungspsychologie. Göttingen (usw.) 2010 – mit einem Verständnis von Bildung und mit Themen, von der Bildungskarriere über bestimmte Bildungsaufgaben bis zu Handlungsfeldern, die traditionell in der Pädagogischen Psychologie, in der empirischen Schulforschung, in der lebenslauforientierten Forschung und in der Persönlichkeitspsychologie vertreten werden.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
Soziologie erzeugt hat.42 Eine „Renaissance“ erlebt die Bildungsreflexion aktuell trotz aller Kritik der Empiriker innerhalb der klassischen Erziehungsphilosophie, in den Referenzen aber auf die disziplinäre Binnenkommunikation begrenzt, wenig anschlussfähig an die Debatten außerhalb des eigenen Reviers.43 Die Erziehungswissenschaft, die angesichts der Vielfalt von Begriffen immer neu und offenbar gern Kontroversen über den wahren Begriff der Bildung austrägt, trägt selbst wenig dazu bei, die Fülle der Referenzen, Thesen und Diagnosen zum Thema Bildung systematisch aufzulösen und ihren eigenen „Grundbegriff“, als den sie Bildung immer wieder (wenn auch nicht im Konsens innerhalb der Disziplin) bezeichnet, in seiner begrifflichen Qualität zu demonstrieren. In einem „Handbuch der Erziehungswissenschaft“44 wird z. B. „Bildung“ in lockerer Vielfalt präsentiert, als „Theorie der Menschenbildung“ zunächst, dann aber weniger theoretisch eigenständig als über die Kopula „und“ in Relation zu vielen allgemeinen Themen dargestellt, und zwar als „Bildung und … Geschichtlichkeit … Vernunft … Entfremdung … Alterität … Leiblichkeit, Körper und Leib“ und abschließend auch wieder als „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“.45 Aber es bleibt dem Leser selbst überlassen, in der Vielfalt solcher ja keineswegs harmonisch präsenter oder bereits andernorts hinreichend geklärter Themen und Begriffe46 sich selbst ein Verständnis von Bildung im breiten Kontext disparater Referenzen und Angebote zu erarbeiten. Am Ende hat er mehr über die pädagogische und erziehungsphilosophische Wahrnehmung von Vernunft, Entfremdung, Alterität (usw.) gelernt, als das Thema Bildung präzise präsentiert
42Ulrich
Bauer/Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hrsg.): Handbuch Bildungs -und Erziehungssoziologie. Wiesbaden 2012 – die allerdings der gesellschaftskritischen Grundorientierung ihrer eigenen Soziologie entsprechend die begriffliche Differenz von Bildung und Erziehung aus der kritischen Bildungstheorie innerhalb der Erziehungswissenschaft beziehen. „Bildung“ betrachten sie entsprechend als „systematischen Differenzbegriff zu Erziehung“ (S. 14, in der Einleitung der Herausgeber). 43Typisch dafür neben dem Themenschwerpunkt „Bildung – Renaissance einer Leitidee“ in H. 4/2015 der Zeitschrift für Pädagogik die Vielfalt der Thematisierungsformen in Andreas Dörpinghaus/Barbara Platzer/Ulrike Mietzner (Hrsg.): Bildung an ihren Grenzen. Zwischen Theorie und Empirie. Darmstadt 2014 oder die kontinuierliche, im Duktus eher konservativkritische Diskussion in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik. 44Ich beziehe mich auf Winfried Böhm u. a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn usw. 2008, Teil II, Erziehungs- und Bildungsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Verankerung. 1. Abschnitt Begriffe: Kap. 2. Bildung, S. 209–311. 45Die Themen und Autoren sind dort: Bildung – Theorie der Menschenbildung (Benner/ Brüggen); B. und Geschichtlichkeit (Böhm/Seichter), B. und Vernunft (Ruhloff), B. und Entfremdung (Koch), B. und Alterität (Lippitz), B. und Leiblichkeit, Körper und Leib (Molzberger), B. als pädagogischer Grundbegriff (Frost). 46Nur als Beispiel: Der Beitrag über Bildung und Entfremdung (Koch, S. 265–271) bemüht zwar Schiller und Marx, lässt sich aber die Möglichkeit zur aktuellen Diskussion des Themas entgehen, die z. B. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M. 2005 eröffnet.
1.2 Bildung als Thema eigenständiger Reflexion – Forschung über Bildung
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bekommen, oder doch nur gelernt, dass Begriff und Thema der Bildung in der Vielfalt scheinbar nicht reduzierbarer Referenzen leben. In dieser Situation wirkt es wie ein mutiger Ordnungsversuch, wenn eine „Theorie der Bildung“ vorgelegt wird,47 die „Bildung im denkbar weitesten Sinne“ zum Thema macht und von sich behauptet, als erste das „Grunddokument einer neuen Bildungswissenschaft“ und die „Grundphänomene von Bildung“ vorzustellen und „historisch-systematisch zu begründen“. Das wird sogar mit dem Anspruch formuliert, den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung“ zu bahnen, als „natur- und kulturgeschichtliche Theorie der allgemeinen Menschenbildung“ und zwar „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“. Diese neue Theorie soll alle einschlägigen Begriffe der Humanwissenschaften, von Anthropogenese über Entwicklung und Personalisation, Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation und Enkulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation sowie Erziehung relationieren und thematisch über den Begriff der „Person“ integrieren (freilich ohne sich der Schwierigkeit zu stellen, die aus den Debatten z. B. von und mit Foucault und die „Technologien des Selbst“ entstehen). Irritierend ist es bei so einem umfassenden Anspruch aber doch, dass zeitgleich in einer als „integrative Humanwissenschaft“ auftretenden Buchreihe (die Wiersing ignoriert) und bei der Konzentration auf dieselben Begriffe und Forschungskontexte nicht der Begriff der „Person“ die Referenz der Analysen beschreibt, sondern die „Psychogenese der Menschheit“.48 Es verwundert noch mehr, dass der Begriff der „Bildung“ in allen dazu bisher erschienenen Bänden überhaupt nicht vorkommt, obwohl auch hier die Themen und Begriffe regieren, die sich andernorts als Referenzen einer Theorie der Bildung finden. Das für die Reihe zentrale Programm49 kann sicherlich unschwer in jede Bildungstheorie übersetzt werden, die selbst „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“ denkt. Aber ungeklärt ist nicht nur, was eine Bildungstheorie neben dem Beharren auf „Person“ und der damit verbundenen Normativität diesem Programm hinzufügt, sondern auch, welcher Begriff diese Integration leistet und ob wirklich das ganze Wissen über den Menschen jeweils
47Erhard
Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn 2015. 48Die Reihe „Die Psychogenese der Menschheit“ wird von Gerd Jüttemann herausgegeben. Nach einem „Vorband“ (G.Jüttemann, Hrsg., Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich/Berlin (usw.) 2013) sind seit 2013 fünf weitere Bände erschienen, und zwar zu Themen, die auch Wiersing behandelt: Bd. I: Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur. 2015; Bd. II: Rolf Oerter: Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution. 2016; Bd. III: Christine Hennighausen/Benjamin P. Lange/Frank Schwab (Hrsg.): Evolution des Sozialen. 2016; Bd. IV: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychogenese Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativen Humanwissenschaft. 2016; Bd. V: Clemens Schwender/Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Evolutionäre Ästhetik. 2017. 49Der Grundsatzartikel ist G. J.: Wie der Mensch die Welt verändert und zugleich sich selbst: Prozesse und Prinzipien der Psychogenese. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit, 2013, S. 14–37.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
integriert wird. In beiden Kontexten schreiben z. B. weder Historiker noch, um ein Beispiel zu geben, Kriminologen, Disziplinen, die man kaum aus den Humanwissenschaften ausgrenzen wird. „Bildung“, so kann man diesen knappen Blick auf die jüngere Forschung resümieren, ist in der begrifflich einschlägigen Forschung nicht konsensual oder klar bestimmt, sie fungiert auch keineswegs als umfassender Oberbegriff der Humanwissenschaften, wie manche Autoren wünschen, sondern sieht sich vielfältigen Konkurrenzangeboten gegenüber, nicht nur dem Begriff der Kultur. Das zeigt sich selbst bei einem Autor, der die „Bildung der Geisteswissenschaften“ unter der These beschreibt, dass „Bildung“ der übergreifende Referenzbegriff aller Geisteswissenschaften sei. Er belegt dann im Kern aber nur die Nutzung des Begriffs der Bildung im Kontext von Debatten über die Idee der Universität (und tut das noch in den Quellen höchst selektiv).50
1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt – das Thema von Bildung Schon das Thema, das hier behandelt werden soll, ist also nicht einlinig oder eindimensional gegeben. Eingrenzende Präzisierungen des eigenen Themas sind daher notwendig. Riskiert man eine sicherlich vereinfachende Stilisierung, dann wird, historisch gesehen, im Begriffspaar von „Bildung und Erziehung“ in Deutschland (und vergleichbar auch in slawischen Sprachen51) das Aufwachsen in Gesellschaften thematisiert und zugleich in einer normativ interpretierbaren Differenz codiert, nicht allein als „education“, wie im Französischen oder im Englischen. Aber auch dort wird die Differenz zwischen den gesellschaftlich kontrollierten Formen des Aufwachsens und den schönen Bildern der Subjektwerdung natürlich argumentativ ebenfalls markiert, obwohl immer die Übersetzungsprobleme bleiben, und zwar in beide Richtungen52: „Formation“ und 50Julian
Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. Zur Genese einer sozialen Konstruktion zwischen Diskurs und Feld. Konstanz 2014. 51Den komparativen Blick auf den Begriffsgebrauch eröffnet konzis Wolfgang Hörner: Bildung. In: Wolfgang Hörner/Barbara Drinck/Solvejg Jobst: Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Opladen/Farmington Hill 22010, bes. S. 11 ff.; für die nicht unproblematischen Folgen der Rezeption des Begriffs im japanischen Kontext Jun Yamana: Wie ‚Bildung‘ die pädagogische Semantik in Japan bildet. Eine Beobachtung des Herumtollens von Bedeutungen in Übersetzungen. In: R.Mattig/M.Mathias/K.Zehbe (Hrsg.). Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2018, S. 257–273. 52Ein Text des Collège de France z. B. mit „Propositions pour l’enseignement de l’avenir“ (Rapport du Collège de France. Paris, Éditions de Minuit, 1985; publié dans le Monde de l’éducation, n°116, mai 1985, S. 61–68) wird 1987 unter dem Titel „Vorschläge für das Bildungswesen der Zukunft“ deutsch vorgestellt. Dabei nimmt sich der Übersetzer (Gottfried Pfeffer) aber die Freiheit, den Begriff der „Bildung“ (schon Zeile 4, S. 253) zu wählen, wo im
1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt …
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„education“ sind auch im Französischen nicht identisch. Auch upgrowing ist im Englischen nicht identisch mit education, und education bedeutet auch nicht einfach und immer nur Erziehung, sondern transportiert gelegentlich durchaus mehr an Erwartungen. Aber man muss offenbar doch von self-cultivation sprechen,53 um bestimmte Konnotationen des deutschen Bildungsbegriffs im Englischen behandeln zu können. Aktuell wird in einem anglophonen Kontext auch explizit auf „the german notion of Bildung“ Bezug genommen, um wichtige Differenzen für Lernprozesse zu markieren, wie das aktuell z. B. bei der Klärung von „digital literacy“ geschieht,54 die dann allein als „digital bildung“ akzeptabel erscheint. Das Begriffspaar von Bildung und Erziehung, um ins Deutsche zurückzukehren, hält auch schon fest, dass es nicht allein um Wissen geht, sondern immer auch um Verhalten und Handeln, nicht nur um empirisch beobachtbare Prozesse, sondern auch um Ziele und Programme sowie die Ergebnisse einer Praxis, die den Titel der Bildung beansprucht oder verdient. Der „gebildete Mensch“ ist das primär gesuchte Objekt, das „Bildungssystem“ folgt erst dann, bei der Frage, wie man den eigenen Zielen zur Wirklichkeit verhelfen kann. Mit dem Kanon der „Bildungsgüter“ vertraut, so sagt es die Tradition, zeigt der Gebildete ein Verhalten, das den geltenden Normen und den herrschenden
französischen Original, dem Gesamttitel entsprechend, von „enseignement“ gesprochen wird. An weiteren Stellen wird (ohne erkennbare Systematik) „Bildung“ gesagt, wenn im Französischen von „éducation“ oder „formation“ die Rede ist. In Kap. VII. z. B. wird das Thema, „VII. Une Éducation Iminterrompue“ mit „Kontinuierliche Bildung …“ übersetzt. An anderer Stelle wird im Deutschen vom „Unterschied von Kultur und schulischer Bildung“ gesprochen und hier macht der Übersetzter selbst darauf aufmerksam, dass im Französischen „in beiden Fällen culture“ steht, aber, wie man im Original sieht, steht dort „la culture et la culture scolaire“, das Letztere aber wäre theoriesprachlich deutlich besser mit „Schulkultur“ als mit „Bildung“ übersetzt – usw. (vgl. die deutsche Version der „Propositions …“ „in Sebastian F. Müller-Rolli (Hrsg.): Das Bildungswesen der Zukunft. Stuttgart 1987, S. 253–282). 53Wie William Bruford sagt, wenn er über das deutsche Bildungsthema schreibt, u. a. W. H. B.: The German Tradition of Self-Cultivation. Bildung from Humboldt to Thomas Mann. New York 1975. Aber in einem jüngst erschienenen us-amerikanischen Humboldt-Artikel (vgl. Kurt Mueller-Vollmer: Wilhelm von Humboldt. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2014 Edition), Edward N. Zalta (Hrsg.), forthcoming, URL: http://plato.stanford.edu/archives/ win2014/entries/wilhelm-humboldt/– eingesehen 15.11.2014) wird in Humboldts bekanntem Zitat von 1792 über die „höchste und proportionierlichste Bildung der Kräfte zu einem Ganzen“ Bildung schlicht mit „development“ übersetzt: „the highest and most harmonious development of his powers to a complete and consistent whole“. Die Vielfalt der Übersetzungsmöglichkeiten, zumal in einem spezifischen Milieu wie dem der amerikanischen Transzendentalisten, also im Umkreis von Ralph Waldo Emerson, deutet sich allerdings gleich im Nachsatz an: „Yet the free development of the individuals, their self-realization, or Bildung, their ‚self-culture‘, as the American Transcendentalists would translate the term, …“ (ebd.). 54So argumentiert David Buckingham: Defining Digital Literacy. What Do Young People Need to Know About Digital Media? In: Colin Lankshear/Michele Knobel (Hrsg.): Digital Literacies– Concepts, Policies and Practices. New York 2008, S. 75, und er will damit „a broader form of education“ markieren, d. h. „a more rounded, humanistic conception“, also in „the german notion of Bildung“, wie er sagt. „Digital Bildung“ wird dann der gesuchte Differenzbegriff.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
Idealen des guten Lebens zugleich entspricht, erwartbar für andere und an universalen Prinzipien orientiert. „Bildung“, das gilt seit der Aufklärung, ist der Zielpunkt der Erziehung. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“, liest man bei Kant,55 als man begann, die Differenzen in der Erziehung zu markieren und dafür dann bald „Bildung“ als Ziel- und Differenzbegriff zu Erziehung erfand. Die Erziehung, quasi der Einstieg in den Bildungsprozess, vollzieht sich bei Kant bis zu diesem gewünschten Ergebnis in Stufen, interpretierbar als Prozess der Emanzipation. Dieser Prozess beginnt mit der „physischen Erziehung“, der die „Zivilisierung“, „Kultivierung“ und „Moralisierung“ folgt, verdichtet in der „Bildung“, die „Aufklärung und Kultur“ vereint,56 wie man bei einem Zeitgenossen Kants, bei Moses Mendelssohn lesen kann. Dieser Prozess, interpretiert als die Menschwerdung des Menschen, d. h. systematisch als Konstruktion seiner „zweiten Natur“57 jenseits der ersten, der biologischen Natur, wird im Ursprung der Bildungsreflexion z. T. auch in radikaler Abgrenzung zu Erziehung gedacht, also nicht mehr fremdbestimmt, sondern immer schon selbsttätig, selbstbestimmt, vollzogen von einer Individualität, die Lernanlässe und Bildungsgüter nur als Angebote sieht, die der Einzelne nach seinen Interessen, Bedürfnissen und Möglichkeiten wählt, um seine eigene Vollkommenheit zu befördern. Aufgeklärt und mündig wird der gebildete Mensch dann in Selbstbestimmung und Freiheit entlassen, frei von pädagogischen Erziehungszumutungen, weil er gelernt hat (oder doch hätte lernen sollen), sein Verhalten in der Gesellschaft nach begründungsfähigen Prinzipien, der Vernunft folgend, zu organisieren, als lebenslangen Prozess der Bildung des Selbst in Wechselwirkung mit der Welt. Man hört den Ton der Aufklärung und der klassischen idealistischen Philosophie und ist beruhigt. Kant aber, der muss natürlich in Deutschland zum Zeugen werden bei solch großen Fragen, war allerdings schon bewusst, dass Bildung ein Ideal ist, Ideal einer Welt wie der Subjekte, der Gattung wie des Einzelnen, das man nicht mit der Wirklichkeit verwechseln darf. Der einzelne Mensch, so wusste er realistisch, ist „aus krummem Holz“ geschnitzt, orientiert sich an seinem Vorteil, lügt und betrügt auch, schon um zu überleben. Man muss froh sein, wenn er weiß, woran er sich hätte orientieren sollen, und dass er wenigstens „strebend sich bemüht“, so zu werden, wie es das Ideal ausmalt, ohne es alltäglich erreichen zu können. Bildung war also nie Garantie des guten Menschen oder der schönen Welt, bestenfalls eine Prämisse des Verhaltens, als Regulativ des Handelns eher bekannt als befolgt. Auch der „Bildungsbürger“ war nicht durch sein Verhalten
55Immanuel
Kant: Über Pädagogik. (1803) In: Kant-Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, zit. S. 699 (A 8). 56Moses Mendelssohn: Was heißt aufklären? In: Berlinische Monatsschrift (1784)2, S. 193–200. Mendelssohn grenzt in diesem Beitrag „Aufklärung, Kultur und Bildung“ gegeneinander ab und sagt „Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung“ (S. 194). 57Deren angelsächsische Theoretiker, z. B. John McDowell, rezipieren dann auch die Bildungsphilosophie und werden hierzulande als Bildungstheoretiker eingemeindet.
1.3 Aufwachsen und Leben in Wechselwirkung mit Welt …
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und Handeln moralisch ausgezeichnet (sonst hätten sich z. B. die deutschen Bildungseliten nicht so zahlreich durch den Nationalsozialismus verführen lassen), sondern zuerst sichtbar durch eine gesellschaftlich dominierende kulturelle Praxis, vor allem aber war er durch das Bildungszertifikat zu erkennen. Es ist dann primär das Abitur, das klassische deutsche Trennungs- und Unterscheidungsmedium, das den Bildungsbürger mit dem Besuch des Gymnasiums von anderen gesellschaftlichen Akteuren ebenso unterscheidbar machte wie der Besuch von Theater und Oper, die Lektüre der Klassiker, die Bildungsreise und die eigene kulturelle Praxis, vor allem aber die immerwährende Bereitschaft, zu lernen und sich selbst „zu bilden“. Lernen gehört also zur Bildung, Lernen und Lernbereitschaft sind die Medien der biografischen Konstruktion, zumal des Gebildeten, schon weil er seinen Lebenslauf kaum anders konstruieren konnte; denn über materiellen Besitz, der ihn gesellschaftlich handlungsfähig gemacht hätte, verfügte er eher nicht. Bildung musste deshalb ins Zertifikat münden, zuerst im Abitur, dann in den weiteren Examina, vorzugsweise den staatlichen Examina, um danach als Arzt oder Jurist, Pfarrer oder Oberlehrer seinen Lebensunterhalt (durchaus kommod) zu verdienen. Bildung war mithin der „Besitz“, um ein akademisches Amt oder die anderen, von Zertifikaten abhängigen Tätigkeiten wahrnehmen zu können. Bis heute ordnen Tarifverträge die Bezahlung so, d. h. nach Bildungsstufen, in der Annahme, dass sich in dem schulisch oder in berufsbezogenen Lernprozessen erworbenen Zertifikat die „Leistung“ verdichtet, die zum Kriterium für differenzierte Bezahlung werden kann und damit zugleich die Legitimation von gesellschaftlicher Ungleichheit liefert. Entsprechend stark war und ist in diesem bis heute existierenden System der Zertifizierung und Berechtigung die Stellung des Bildungswesens, in dem man die Zeugnisse erwirbt. Die „Schule der Gebildeten“, das Gymnasium in seinem emphatischen Selbstbild, und die Universitäten haben hier ihre wesentliche Funktion, als „zentrale soziale Dirigierungsstelle“, wie die mutig generalisierende, aber empirisch nicht so umfassend bestätigte These des Soziologen Helmut Schelsky lautete (andere Faktoren, soziale Herkunft, Macht oder Geld z. B., spielen ganz unabhängig von Schule und Bildung bis heute eine wesentliche Rolle).58 Sie vermitteln deshalb auch nicht nur Wissen, generalisieren nicht nur Tugenden des Verhaltens und erziehen den angehenden Staatsbürger, sie verbinden in den Zeugnissen auch innerschulische Lernprozesse mit außerschulischen Effekten – den Zugang in privilegierte Berufe, den Erwerb von sozialem Status, die Einordnung in die Hierarchie von Bezahlung, Beschäftigungssicherheit, sozialer Anerkennung und Distinktion. Man erwirbt nicht nur kulturelles Kapital, sondern auch die Voraussetzungen, um sich ökonomisch und sozial zu platzieren – oben, wenn man in Bildungsprozessen erfolgreich war, oder in der Mitte und unten, wenn man nicht zu den happy few gezählt wird, die sich im Leistungswettbewerb besser als andere behaupten konnten. „Bildung lohnt sich“, ist die
58Helmut
Schelsky: Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. Stuttgart 1957.
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schlichte Formel der Ökonomen, so vereinfachend wie das bei ihnen dominierende Bild vom Menschen. „Zweckfrei“, wie man bis heute gelegentlich Bildung stilisiert, war dieses System von Praktiken und Belohnungen, von Indikatoren der Leistung und des Scheiterns deshalb nie. Bereits einer seiner klassischen Vordenker, Wilhelm von Humboldt, hat nicht nur die schönsten Sätze über die Bildung gesagt – dem „Begriff der Menschheit in unsrer Person“ gebe sie Gestalt –, sondern auch das Abitur mit durchgesetzt und den Zugang zu öffentlichen Ämtern und akademischen Berufen vom Nachweis der individuellen Leistung in Prüfungen unter Wettbewerbsbedingungen abhängig gemacht, und zwar zum Schutz der Gesellschaft und der Durchsetzung des liberal-egalitären Prinzips der Leistung zugleich. Staatliche, später demokratische Elitenbildung sollte über akademische Leistung begründet werden, meritokratisch, wie es dem Liberalen Wilhelm von Humboldt vorschwebte. Und diejenige „Nation“, so seine Vorstellung, war modern, politisch gerechtfertigt und leistungsfähig, in der Bildung in Staat und Gesellschaft diese Funktion zwischen Ideal und Besitz entfalten konnte. Aber nicht erst heute, vor dem Hintergrund von PISA-Daten und angesichts der offenkundigen Tatsache, dass Bildungserfolg sich eher durch soziale Herkunft als allein durch Leistung erklärt, sind das strittige Thesen. Als Programm vielleicht allseits anerkannt, hat Bildung in ihrer Realität ganz offenkundig nicht die Gestalt, von der die große Philosophie geträumt hat und die pädagogische Ideologie des Bürgertums sich nährt.
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches Es ist also nicht allein die Heterogenität eines Sprachgebrauchs, die zum Problem wird, sondern auch eine Vielfalt von Themen und begleitenden Theorien, die in der Rede von Bildung simultan präsent sind. Man könnte deshalb durchaus die Frage aufwerfen, ob es überhaupt sinnvoll ist, diese Rede auch weiterhin nach ihrem systematischen Gehalt, in ihrer gesellschaftlichen Funktion und in theoretischer Absicht aufzunehmen und zu diskutieren, oder ob es nicht besser wäre, sie endgültig als Gerede abzulegen. Experten im Revier des Bildungsdenkens, Erziehungstheoretiker zum Beispiel,59 haben den vermeintlich notwendigen Abschied vom Bildungsbegriff auch schon mehr als einmal verkündet oder gefordert; und es war immer die Diffusität der Redeweise und ihr theoretisch
59Nur
exemplarisch, statt vieler, schon Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Analyse, Kritik, Vorschläge. München/Basel 1974, passim. Brezinka plädiert und entfaltet seinen Erziehungsbegriff ja u. a. deswegen, weil der Begriff der Bildung „mehrdeutig und vage“ (23) sei, zugleich Prozesse wie Produkte beschreibe, vom menschlichen Verhalten nur wenige Dimensionen sehe, sie aber nicht präzise analysiere (etc.).
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches
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wie methodisch unpräziser Status, die solchen Abschied begründen sollten. Allerdings, die Ersatzbegriffe, die dann angeboten wurden, haben nicht Karriere gemacht. Die Öffentlichkeit spricht jedenfalls nicht von „Autopoiesis“, also systemtheoretisch, wenn sie Bildung in Schulen oder im Lebenslauf behandelt, und auch Lernen60 oder Sozialisation sind theorieimmanente Begriffe geblieben. Auch die Pädagogik, die sich eine Zeit lang von Bildung verabschiedet hatte und lieber von Emanzipation redete, kehrte sehr bald erneut, und natürlich in kontroversen Debatten, zum Bildungsbegriff zurück. Die Unterschiede zwischen anerkannter Rede und der als Gerede diskreditierten Thematisierung von Bildung wird zwar immer neu versucht,61 ohne aber umfassend Anerkennung zu finden. Bevor man Abschied nimmt oder gar nur an die Verbesserung der Bildungspraxis denkt, sollte man sich deshalb noch einmal der Dimensionen des Phänomens vergewissern und dafür vor allem und zuerst die Realität der Rede von Bildung in ihrer Praxis beobachten und in ihrer Geltung diskutieren. Das erste Ergebnis dieser Beobachtung ist dann die erstaunliche – und selbst erklärungsbedürftige – Stabilität der Rede von Bildung trotz aller wiederkehrenden Kritik.62 Als zweiter Befund ergibt sich, dass diese Karriere zwischen intensiver Nutzung und starker Anerkennung, kritischer Destruktion und völligem Desinteresse nicht allein für die Öffentlichkeit galt und gilt, sondern auch wissenschaftlich, und auch hier nicht allein im Dual von „Bildung und Kultur“63 oder nur bei den unverbesserlich bildungsaffinen Pädagogen und in ihrer Bildungsphilosophie und -theorie. Dass man, drittens, in der Karriere des Themas allein einen „semantischen Sonderweg“ der Deutschen sehen kann, gar ihr „semantisches Gefängnis, dem das Bildungsbürgertum und seine Denker … nicht entkommen“, das wird man schon deswegen nicht behaupten können, weil die Nutzung des Begriffs nicht auf „das Bildungsbürgertum und seine Denker“ beschränkt war und ist und er auch nicht nur als „Deutungsmuster“ sozial, sondern auch als Begriff theoretisch fungiert. Historisch und auch aktuell erheben zudem Theoretiker Anspruch auf den Begriff, die sich selbst jenseits bürgerlicher Verirrungen als
60Paul
Heimann, Erfinder der Berliner Schule der Didaktik, hat z. B. schon früh „Lernen“ als besseren Begriff gegenüber dem „bildungsphilosophischen Stratosphärendenken“ vorgeschlagen, aber sein umfassend ansetzender Begriff des Lernens hat sich nicht als Alternative zu Bildung durchgesetzt (vgl. dazu Werner Jank/Hilbert Meyer: Didaktische Modelle. Frankfurt a. M. 1991 (u. ö.), bes. S. 204 ff.). 61Exemplarisch die Versuche bei Jörg Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 44(1998), S. 411–423, der doch nur zeigt, dass er einen distinkten Begriff von Bildung hat, den andere – zu seinem Leidwesen – nicht teilen. 62Schon Reinhart Koselleck hat festgehalten, dass „dem Begriff ‚Bildung‘ eine produktive Spannung inne(wohnt), sich durch selbstkritische Verwendung immer wieder zu stabilisieren.“ In: R.K.: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 11–46 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II), zit. S. 11. 63Bollenbeck: Bildung und Kultur. 1994, daraus die folgenden Zitate, u. a. S. 27.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
ertreter „kritischer Theorie“ verstehen.64 Der Begriff macht schließlich in einem V theoretisch anspruchsvollen Sinne heute sogar Karriere im englischsprachigen erziehungsphilosophischen Kontext.65 Das Thema und die spezifische begriffliche Referenz sind also nicht allein kulturell und national geprägt, sondern durchaus international präsent, wenn auch immer im Bewusstsein der spezifischen deutschen Reflexionstradition. Mit anderen Worten, die Rede von Bildung, ihre Themen und Referenzen, ihre Stabilität und ihre fortdauernde Nutzung und Kritik, verlangen gerade wegen der Allpräsenz und trotz aller Widersprüchlichkeit nach einem zweiten Blick, jenseits der dominierenden Urteile und Zuschreibungen, um angemessen verstanden und diskutiert zu werden. Es muss ein Blick aus der Distanz sein, will man die Kontroversen nicht nur fortschreiben oder selbst in den Kontroversen nur Partei werden. Die Schwierigkeiten eines solchen Blicks aus der Distanz sind natürlich unübersehbar.66 Die Quellen zur Rede von „Bildung“ sind nahezu grenzenlos, selbst wenn man sich – wie es im Folgenden geschieht – auf die Beobachtung der Konstruktion und Diskussion des Begriffs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschränkt, auf den Zeitraum also, in dem der seither dominierende, der meist als ‚modern‘ attribuierte, Begriff der Bildung im deutschsprachigen Raum erfunden wurde und seine bis heute folgenreiche Gestalt und Wirkungsgeschichte gewann. Die zeitliche Eingrenzung ist von diesen Indizien aus und vor dem Hintergrund der Forschung noch relativ einfach zu begründen, auch wenn die Zäsur nicht mehr die unbefragte Bedeutung wie zu den Zeiten hat, als man noch von „Moderne“
64Man
lese nur in einen Sammelband wie Christoph Leser u. a. (Hrsg.): Zueignung. Pädagogik und Widerspruch. Opladen (usw.) 2014, dessen Autoren u. a. in der Orientierung an Andreas Gruschka die kritische Theorie und die Bildungstheorie zugleich kritisch erneuern wollen. 65Vgl. die Hinweise in Anm. 54 für die Debatte über „Digital Literacy“ vs. „Digital Bildung“ oder auch die Beiträge in Philosophy of Education 36(2002)3. Sie kann man sogar erziehungsphilosophisch als Beleg lesen, weil nicht nur deutschsprachige Autoren (u. a. Roland Reichenbach oder Helmut Peukert) zum Thema schreiben oder allein die deutsche Tradition rekapituliert wird (Sven Erik Nordenbo: Bildung and the Thinking of Bildung. (S. 341–352), sondern der Begriff systematisch genutzt wird, wie es schon die Einleitung andeutet: Lars Løvlie/ Paul Standish: Introduction: Bildung and the idea of a liberal education. (S. 317–340), oder grundlagentheoretisch fungiert, u. a. bei Michael Uljens: The Idea of a Universal Theory of Education – an Impossible but Necessary project? (S. 353–375). 66Auch in dieser Diagnose kann ich Norbert Ricken nur zustimmen, dessen Beitrag zum Thema ich leider erst in einer späten Phase meiner Arbeit zur Kenntnis nehmen konnte: N.R.: Das Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Streit um Bildung. In: Christian Palentien, Marius Harring und Carsten Rohlfs (Hrsg.): Perspektiven der Bildung: Kinder und Jugendliche in formellen, nonformellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden 2007, S. 15–41. Allerdings – so sehr ich Rickens Problemdiagnose für den aktuellen Diskurs zustimme (ohne seine skeptischen Bemerkungen zum Sinn einer erneuten historischen oder theoretischen Rekonstruktion zu teilen), in seinem Versuch, Bildung gleichzeitig als fundamentale Antwort auf aktuelle „Herausforderungen“ neu zu verstehen, macht er sich zum Teil des Syndroms, das er kritisiert. Auch gegenüber der Rede von „Herausforderungen“, denen man vermeintlich nicht ausweichen und nur mit Bildung begegnen könne, ist zunächst und primär Distanz zu empfehlen.
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches
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im Singular sprechen konnte,67 den Übergang als „Sattelzeit“68 markierte und noch ganz eurozentrisch qualifizierte. Solche Zuschreibungen werden mit der hier gewählten Zäsur nicht verbunden. Der folgende Text argumentiert immanent für „Bildung“ in ihrer Geschichte und muss – und kann – dann selbst ausweisen, mit welchem Recht für die Zeit um 1800 von einer Zäsur in der Rede von Bildung gesprochen werden kann. Für die weitere Geschichte des Begriffs bis zur Gegenwart wird kontinuierliche Aufmerksamkeit für den Begriff unterstellt, er gilt also nicht nur als Schlüsselbegriff des 19. Jahrhunderts,69 sondern ungeachtet seiner frühen Herkunft auch als einer der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts.70 Sein Wandel in dieser langen Zeit und die damit gegebene interne Periodisierung zwischen dem frühen und späten 19., und den weiteren Entwicklungen im 20. Jahrhundert, ist wiederum Thema der Analyse selbst, und dann reicht die Zuordnung zu Jahrhunderten allein nicht mehr aus, wie sich zeigen wird. Für die Auswahl der Quellen und Referenzen sowie der als bedeutsam beurteilten Themen und Kontroversen gibt es dagegen, anders als für die zeitliche Eingrenzung, keine gegen theoretische und methodische Einwände immune und auch keine arbeitspragmatisch einfach handhabbare Lösung. Die in diesem Band vorgestellten Beobachtungen aus der Distanz suchen den Weg aus dem Dilemma, indem sie den zentralen Befund der aktuellen Diskussion über Bildung selbst zum Ausgangspunkt der Überlegungen und zum systematischen Problem der Analysen machen. Die Beobachtungen und Analysen gehen von dem systematisch diffusen und ungeklärten Status des Begriffs und damit auch von der Frage nach der Legitimität der Qualifizierung dieser Rede als Bildungstheorie aus. Die offenen Fragen der aktuellen Kontroversen und der Streit über Status und theoretische Qualität dieser Rede, das macht sie als
67Die späteren Attribuierungen dieser Phase, z. B. als „klassische Moderne“ (Habermas), oder der relativierende Verweis auf die „multiplen Modernen“ sind mir bewusst, sie sind für die Markierung der Zäsur für die Analysen im engeren Sinne, die hier versucht werden, nicht ausschlaggebend. Singularität wird jedenfalls schon deswegen nicht behauptet, weil die Frage nach funktionalen Äquivalenten des Begriffs in anderen Kulturen nicht ignoriert wird. 68Reinhard Koselleck (vgl. R.K.: Einleitung. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV) hatte von der „Sattelzeit“ gesprochen. Zumindest seine begriffsgeschichtlich relevanten Charakterisierungen, u. a. in der Verzeitlichung der Begriffe und ihrer Ausbildung im Dual von Erwartung, Erwartungshorizonten und Erfahrung behalten für die Analyse des Bildungsbegriffs ihre Bedeutung, wie sich zeigen wird, ganz unabhängig von den intensiven Debatten, die über sein Konzept der Begriffsgeschichte selbst seither geführt wurden und werden, bis hin zu der stupend gelehrten Übersicht bei Ernst Müller/Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Frankfurt a. M. 2016. 69Brüggen, Friedhelm: Bildung. In: A.Hand/C.Bermes/U.Dierse (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Hamburg 2015, S. 63–81. 70Geulen, Christian: Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 79–97 blendet jedenfalls Bildung nicht aus, wenn er die Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts nennt – und diskutiert deren Geschichte u. a. in dem von Koselleck entlehnten Dual von Erfahrung und Erwartung.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
usgangspunkt so lohnend, werden ja nicht nur von den Kritikern dieser Rede, A sondern auch von ihren Protagonisten selbst nicht bestritten – es gibt in der Beanspruchung des Bildungsbegriffs also zumindest diese Konsenszone und schon das verlangt nach Erklärung. Die leitende Annahme der folgenden Überlegungen ist dann, dass sich diese Situation und diese Zuschreibungen nur historisch erklären lassen, nicht als Normdissens oder im Ausweichen vor dem wahren Begriff der Bildung. Die Problematik der Rede ist vielmehr als Ergebnis der Dynamik, die der Begriff in seinen unterschiedlichen Kontexten selbst erlebt, forciert durch die eigenen thematischen Referenzen, die ihn für ganz unterschiedliche Akteure attraktiv machen und dafür sorgen, dass sich die Rede von Bildung seit ihrem Ursprung als eine sich selbst anregende Semantik bis heute zu der spezifischen Gestalt entwickelt, die aktuell ihre Qualität und ihr Problem zugleich darstellt. Dabei soll die Karriere des Begriffs nicht allein begriffsgeschichtlich untersucht werden oder gar nur in der immanenten Tradierung als Bildungstheorie und -philosophie in der Klassikerexegese, sondern als Analyse der historischen Semantik in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext. Als spezifisch werden dabei die Öffentlichkeiten und Akteure der Rede von Bildung betrachtet. Sie werden aber nicht auf eine Arena „zwischen Philosophie und Pädagogik“ reduziert,71 wie das jüngst noch einmal geschehen ist. Die Rede von Bildung wird dagegen im Folgenden nicht allein in dieser zweistelligen Relation betrachtet, sondern in einem Reflexionsfeld, das systematisch erweitert wird um die Humanwissenschaften, wie sie sich seit 1800 ebenfalls im deutschsprachigen Kontext (und international) entwickeln, um die Semantik im Bildungssystem, wie sie pädagogisch-professionell und administrativ seit 1800 eigene Gestalt gewinnt, und schließlich um das Publikum, das in der (bildungs-)politischen und allgemeinen Öffentlichkeit präsent ist. Die erste dabei zu klärende Frage ist dann, mit welchen – konstanten oder historisch sich entwickelnden – Themen und Argumenten die Rede von Bildung seit dem Ursprung dieses in sich ja höchst heterogene Publikum dauerhaft attrahieren kann. Die Leitfrage in diesem Teil der Analyse lautet: „was bedeutet Bildung“ im historischen Kontext um und seit 1800 und für wen gewinnen die dabei praktizierten historischen Zuschreibungen ihre Relevanz, Stabilität und dauerhafte Aufmerksamkeit. Angesichts des aktuell problematischen Status des Begriffs ergibt sich unmittelbar die zweite Frage: Welchen systematischen Status haben diese Zuschreibungen im Prozess und wie verändern sie sich, seit sich die Rede im Ursprung als philosophische gegenüber einer früher dominierenden, meist theologischen Rede verselbstständigt hat, während sie aktuell weder unstrittig als ‚Philosophie‘ noch als ‚Theorie‘ anerkannt ist. Die Rede von Bildung soll deshalb nicht nur auf ihr Bedeutungsreservoir hin historisch, sondern auch auf
71Jutta
Breithausen/Rita Casale/Andres Dörpinghaus/Giancarla Soly/Egbert Witte: Der Begriff der Bildung in Deutschland. Zwischen Philosophie und Pädagogik. In: Studi sulla formazione 1, 2016, S. 55–85.
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches
21
ihren geltungstheoretischen Status hin epistemisch untersucht werden, und zwar in der eigenen Zeitlichkeit, die methodisch und theoretisch analysierbar ist und sich in der Relationierung vor allem zu den Humanwissenschaften auch begründet diskutieren lässt. Die historisch naheliegende Leitfrage dafür heißt „Wie ist Bildung möglich?“, konkretisiert in der Frage, ob überhaupt und wenn ja wie, die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – von Bildung im Ursprung und danach reflektiert und letztlich als Aufgabe von Forschung diskutiert wird. Diese Frage stellt die Rede von Bildung auch in den Kontext der Humanwissenschaften, für die ebenfalls um 1800, also in der Ursprungsphase des Bildungsbegriffs, in der eine solche „wie möglich“-Frage ebenso wie die Problematisierung des tradierten Wissens und seine Theoretisierung, Methodisierung und Verwissenschaftlichung ihren Ausgangspunkt nehmen.72 Die Komposition des Bandes und der Gang der Analysen gewinnen aus diesen Annahmen und Thesen, Leitfragen und Relationen die jetzt vorliegende Gestalt. Dabei muss ich, gegen vielleicht überbordende Erwartungen, vorab zunächst die Grenzen der Argumentation einräumen. Vor allem das forschungspragmatische Problem des Umgangs mit der Uferlosigkeit der relevanten Quellen bleibt letztlich ungelöst, wohl auch unlösbar. Sicherlich, man könnte das Thema und die Fragestellung in den Kreis von Untersuchungen einordnen, die aktuell als „Diskursanalysen“ propagiert werden.73 Hier werden Verfahren vorgeschlagen und praktiziert, mit denen zur Analyse großer Bestände an historischer Semantik Text-Corpora konstruiert und z. T. auch statistisch analysiert oder in Varianten des Lesens, zwischen „close“ und „distant“, interpretiert werden können. Es gibt auch Varianten dieser Methodik, die ausdrücklich für die Analyse gesellschaftlicher Schlüsselbegriffe vorgeschlagen werden. Aber diese Verfahren räumen schon jetzt immer auch ein, dass diese Corpora nicht repräsentativ sind, so dass die Analysen dann auch nur Scheinpräzision erzeugen, schon weil sie sich nicht auf eine einzige, sinnvoll zu konstruierende und zu analysierende Grundgesamtheit zurechnen lassen, und zwar schon arbeitspragmatisch nicht. Die vorliegenden Exempla von Diskursanalysen zum Begriff der Bildung belegen das eindeutig. Sie können z. B. seine Rolle für die Geisteswissenschaften zeigen, müssen der Heterogenität der Nutzung aber schon darin Tribut entrichten, als sie die institutionelle und die
72Niklas
Luhmann hat die aufschließende Kraft dieser Frage für diese wissenschaftshistorische Zäsur stark betont, und auch seine eigene Theorie ließ sich von dieser Leitfrage stark inspirieren vgl. N.L.: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: N.L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981, S. 195– 285, Luhmann hat dort auch eine der Phasen des Ursprungs von Erziehungswissenschaft und ihrer Reflexion über Bildung gesehen, vgl.: N.L.: Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft: Von der Philanthropie zum Neuhumanismus. Ebd., S. 105–194. 73Erschöpfende Einblicke in die dabei genutzten Praktiken, auch in die Technizität der praktizierten Sprache, geben die Beiträge in Martin Nonhoff u. a. (Hrsg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. 2 Bde. Bielefeld 2014.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
epistemische Referenz nicht zugleich behandeln.74 Andere Arbeiten analysieren Bildung im Kontext politischer Begriffe,75 aber ihre thematische Referenz ist dann doch sehr begrenzt, weil die Untersuchung sich auf Schulpolitik konzentriert und z. B. weder die Berufsbildung noch die Debatte über die Hochschulen und Universitäten (und damit z. B. auch nicht „Bildung durch Wissenschaft“) oder die Erwachsenenbildung mit einschließt, und schon gar nicht die öffentlich folgenreichen Konstruktionen des „Gebildeten“ oder das „Bildungsgerede“. Die diskursanalytisch gleichzeitig nicht selten in systematischer Absicht mitgelieferten selbstbewussten Abgrenzungen von eher traditionellen Analysemethoden, die zumindest noch als „Dunkelkammer interpretativ-hermeneutischer Kunstlehren“76 erinnert werden, verlieren deshalb auch viel von ihrem Glanz, wenn man sie an der Praxis von Diskursanalysen auf ihre Implikationen und Ergebnisse hin prüft. Für das hier zu diskutierende Thema und die dafür leitenden Analyseabsichten sind die Praktiken der Diskursanalyse also schon deswegen nicht geeignet, weil angesichts der Breite und Tradition der Rede von Bildung zwischen Philosophie und Öffentlichkeit, Politik und Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften, Geschichte und empirischer Bildungsforschung in den mehr als zwei Jahrhunderten, die Gegenstand der Beobachtung werden sollen, sich selbst die Konstruktion nicht-repräsentativer Corpora als wenig sinnvoll erweist. Die folgenden Analysen ruhen deshalb in der Quellenauswahl primär auf einem schon länger praktizierten Umgang mit dem Thema77 und seinen Quellen sowie auf einer intensiven Kommunikation mit der älteren und jüngeren Sekundärliteratur, die gerade in jüngerer Zeit durchaus produktive neue Anstöße gegeben hat.78 74Vgl.
schon meine Hinweise oben im Text zu Julia Hamann: Die Bildung der Geisteswissenschaften. 2014 (oben Text und Anm. 50). Die von ihm – „induktiv“ – konstruierten Corpora von Texten zum Konnex von Bildung und Geisteswissenschaften sind höchst selektiv, weder für die Geisteswissenschaften aussagekräftig noch für die Geschichte des Bildungsbegriffs, die er als bedeutsam für sein Thema reklamiert (vgl. meine Rezension in ZfPäd 2015). 75Das praktizieren z. B. Georg Stötzel/Martin Wengeler: Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York 1995, S. 163–209 – hier reicht die Liste der Beleg- und Stichwörter von „äußere Schulreform“ bis „Zweite Bildungsreform“ und sie umfasst auch „Bildungs“-Belege – von „Bildung vs. Qualifikation“ bis „Bildungswunder“. 76So argumentiert z. B. Johannes Angermuller: Hochschulpolitische Positionierungen der Parteien im hegemonialen Wandel. In: Nonhoff u. a. (Hrsg.), Diskursforschung, 2014, Bd., 2, S. 117, Anm. 2; für die systematische Abgrenzung von hermeneutischen Praktiken vgl. den Abschnitt „Grenzgänge – Diskursanalyse im Verhältnis zu anderen Forschungsperspektiven“, in Bd. 1, S. 507 ff. 77Meine eigenen historischen und theoretischen Vorarbeiten, die aus der Zeit von 1986 bis 2019 den bereits publizierten Hintergrund meines Zugangs zum Thema dokumentieren, habe ich in einem Anhang zur Literaturliste separat nachgewiesen. 78Exemplarisch verweise ich hier, unter Verzicht auf die zahlreichen Einführungen, aber mit dem erneuten Hinweis auf die ambitionierten Versuche zu einer „Theorie der Bildung“, für die ich Wiersing (2015) und Osterloh (2015) schon genannt habe, auf die folgenden Sammelbände, und zwar nur aus der jüngeren Zeit: Maaser/Walther (Hrsg.): Bildung. 2011; Klaus Vieweg/Michael Winkler (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012; Pauli Siljander, Ari Kivela, Ari Sutinen (Hrsg.): Theories of Bildung and
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches
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Die Analysen bevorzugen auch nicht die statistische Analyse, sondern wählen den Weg der Relektüre der Quellen und der intensiven Auseinandersetzung mit solchen Texten, die als signifikant für systematische, d. h. wiederkehrende und zugleich kontinuierlich als kontrovers und damit als zentral geltende Probleme der Reflexion über Bildung und der Nutzung des Begriffs gelten. Die Rede von Bildung seit der Genese ihres modernen Begriffs wird also, nüchtern betrachtet, als eine sich selbst anregende kritische Masse betrachtet (wie das Luhmann einmal für die historische Semantik formuliert hat), deren distanzierte Beobachtung zur Geltung bringen soll, welche Bedeutung diese Rede theoretisch und politisch, kulturell und pädagogisch hatte und noch haben kann. Man darf angesichts solcher methodischen Grenzen auch keine neue Theorie erwarten oder gar die endgültige historische Analyse, allenfalls Beobachtungen, die aus der Distanz traditionelle Formen der Ordnung und überlieferte Praktiken der Rede von Bildung neu befragen. Die Rede von Bildung wird dabei, konzeptionell und systematisch, in den Kontext von generellen Versuchen platziert, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“ zu verstehen,79 und damit, methodisch gesehen, „die ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert“80 systematisch zu vermeiden, aber auch die Wirkungsgeschichte von Ideen nicht nur an und in kommunikativen Strukturen, etwa Texten, beantwortbar zu machen. Für diese Frage ist die Idee der „Bildung“ nicht nur angesichts der Vielfalt der diskursiven Referenzen, in die sie eingebettet ist, ein ausgezeichneter Kandidat, sondern auch wegen der Funktion als Kontingenzformel, die sie in und für die Ausdifferenzierung des Sozialsystems der Bildung gewonnen hat. In dieser Perspektive können die folgenden Analysen auch sehr gut an die Fragestellungen und Methoden der jüngeren historischen Bildungsforschung anschließen81 und auch deren, die nur nationale Perspektive dezentrierenden Blick auf Ideen und Programme aufnehmen, der sich z. B. in der
Growth. Sense Publishers: Rotterdam 2012; Sabine Schmidt-Lauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster (usw.) 2012; Dörpinghaus/Platzer/ Mietzner (Hrsg.): Bildung an ihren Grenzen. 2014. Weitere themenspezifisch relevante Literatur wird natürlich im Fortgang der Analyse genannt. 79Dabei folge ich Arbeiten, auch eigenen, z. B. zur Idee der Bildsamkeit, aus einem einschlägigen Schwerpunktprogramm der DFG, exemplarisch repräsentiert in: Lutz Raphael/HeinzElmar Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006 (Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 20). 80So wird, aus der Ausschreibung des Schwerpunktprogramms und seiner Ziele, Peter Burke zitiert bei Lutz Raphael: „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanzierung eines DGF-Schwerpunktprogramms. In: Raphael/Tenorth, 2006, S. 11–27. Raphael verortet dieses Programm dann in einem dichten Überblick zu neueren Entwicklungen in der Ideengeschichte und den Kulturwissenschaften. 81Dazu meine Übersicht in Heinz-Elmar Tenorth: Historische Bildungsforschung. In: R. Tippelt/B. Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung, Bd. 1. 42018, S. 155–186.
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
linguistisch orientierten Analyse u. a. der Reflexion von Bildung schon breit entfaltet hat.82 Die Analyseabsicht ist deshalb auch im Grunde einerseits bescheiden, nicht mehr als der Versuch einer explorativen Begründung einer neuen Lesart der Rede von Bildung, andererseits aber auch systematisch ambitioniert, in dem Versuch, die thematischen und theoretischen Dimensionen von Bildungsreflexion und -theorie deutlicher zu unterscheiden83 und von das auch die argumentative Praxis und die Möglichkeiten dieser Rede seit ihrem Ursprung und in ihrer weiteren Geschichte deutlicher zu sehen als bisher. Systematisch und methodisch soll deshalb in einem mehrfachen Zugriff und in je spezifischer Methodik die Rede von Bildung in ihren je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren, aber miteinander verschränkten Dimensionen sichtbar gemacht werden. In den beiden ersten Teilen I und II, wird die Genese der traditionellen Rede von Bildung und ihre weitere Praxis untersucht, und zwar in zweifacher Hinsicht, nach den Themen, die sie präsentiert, und nach der Praxis, in der sich ihre spezifische Denkform entfaltet. Das heißt im Einzelnen: i) In einer historischen Rekonstruktion soll die Rede von Bildung, wie sie sich um 1800 in Deutschland entwickelt, in der Gesamtheit der Themen und Dimensionen dargestellt werden, die sie in diese Ursprungsphase aufnimmt, auch um die Fixierung auf wenige klassische Texte aufzubrechen. In dieser Rekonstruktion erweist sich die Ursprungsdebatte über Bildung zwar reflexiv als national wie kulturell zentriert, aber zugleich als vieldimensional und offen auch für die internationale humanwissenschaftliche Diskussion ihrer Zeit. Im Namen von „Bildung“ und der historischen Zuschreibungen ihrer Bedeutung, so die resümierende These und das Ergebnis der Rekonstruktion, bestimmen nicht allein Idealbilder des Menschen, sondern umfassende
82Exemplarisch
dafür u. a. Daniel Tröhler: Languages of Education. Protestant Legacies, National Identities, and Global Aspirations. New York/London 2011 oder Rebekka Horlacher: „Bildung“: Nationalisierung eines internationalen Konzepts. In: Rita Casale/Daniel Tröhler/ Jürgen Oelkers (Hrsg.): Methoden und Konzepte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 199–213. 83In dieser Unterscheidung von Thema und Theorie inspiriert von historisch-epistemischen Analysen bei Gerald Holton: Thematische Analyse der Wissenschaft. Die Physik Einsteins in seiner Zeit. Frankfurt a. M. 1981. Holton interpretiert Themata als „tiefe, vorgefaßte Anschauungen“ der Wissenschaftler und „die thematische Struktur der wissenschaftlichen Arbeit“ als eine „Struktur, die man sich weitgehend von ihrem empirischen und analytischen Gehalt unabhängig vorstellen kann“ (ebd., Einführung“ S. 8). Für die wissenschaftshistorische Exemplifizierung u. a. G.H.: Themata im naturwissenschaftlichen Denken. Ebd., S. 18–49. Eine Abgrenzung zu anderen wissenschaftshistorischen oder soziologischen Angeboten, vom kollektiven „Denkstil“, wie ihn z. B. Ludvik Fleck diskutiert, bis zu entfalteten Modellen historischer Epistemologie kann ich hier verzichten (vgl. dazu vom Beispiel der Erziehungswissenschaft aus H.-E.T.: „Erziehungswissenschaft“ – Konstitutionsprobleme im Ursprung, Lektionen eines Misserfolgs. Versuch einer historischen Epistemologie des Erziehungswissens. In: Wolfgang Meseth u. a. (Hrsg.): Empirie des Pädagogischen und Empirie der Erziehungswissenschaft. Beobachtungen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Bad Heilbrunn 2016, S. 33–54).
1.4 Die Rede von Bildung – These, Plan und Aufbau dieses Buches
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Perspektiven auf Mensch und Welt, auf die Gegenwart und Zukunft von Staat und Nation, Kultur und Gesellschaft die Rede von Bildung, Themen also, die bis heute insgesamt in den Humanwissenschaften behandelt werden. ii) In einer historisch-epistemischen Analyse werden danach die Denkformen untersucht, in denen im Prozess erörtert wird, „wie Bildung möglich ist“. In ihren Leistungen, Fixierungen und Selbstbegrenzungen erweisen sich diese Argumentationen als eine Form des Umgangs mit dem Thema, die sich zunehmend von der beobachtenden Position der Humanwissenschaften, der die Rede anfangs noch zugerechnet werden konnte, zugunsten von Kritik, normativen Konstruktionen und der Immunisierung gegenüber Erfahrung weg entwickelt. Damit wird im Prozess eine Denkform fernab von Forschung erzeugt und stabilisiert, die bis heute für die Rede von Bildung belastend bleibt, v. a. in der expliziten Selbstbegrenzung auf Wunschbilder von Mensch und Welt, auf die Delegitimierung von Bildungswelten und auf den Rückzug in utopische Konstrukte und romantisierendes Versöhnungsdenken. Gegen die begrifflichen und argumentativen Selbstblockaden, die mit der Rede von Bildung offenbar zunehmend verbunden sind, gehen die Teile III und IV der Frage nach, ob die systematischen Prämissen des Bildungsdenkens mit der Ausbildung ihrer spezifischen Denkform auch zugleich ihre Bedeutung für die Forschung über den Menschen, für die Realität seiner Bildungsprozesse und für die sozialphilosophische Legitimation gegebener Bildungswelten tatsächlich verloren haben, wie es zumal die kritische Rede von Bildung aktuell nahelegt. Dabei wird im Einzelnen die Gegenthese von der vielfach zwar nur impliziten, systematisch aber unentbehrlichen Bedeutung der klassischen Annahmen über Bildung ebenfalls in zwei methodisch unterscheidbaren Schritten entfaltet: iii) In einer epistemischen Analyse zentraler, auf die Themen der Bildung bezogener Forschung in den Humanwissenschaften kann belegt werden, dass eine der zentralen thematischen Annahmen der klassischen Bildungstheorie, die Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, in der humanwissenschaftlichen Forschung so unentbehrlich wie produktiv war und ist – wie sich trotz aller spezialistischen Ausdifferenzierung der Humanwissenschaften auch weiterhin zeigen lässt. Das Ergebnis und die These dieser Analysen ist nämlich, dass die einschlägige Forschung bei einer zu starken Distanz gegenüber den thematischen Implikaten von Bildung, zumal gegenüber ihrem Subjektbegriff, ihr Forschungspotential verliert, in der Orientierung an den zentralen bildungstheoretischen Annahmen dagegen ihr Erkenntnispotential steigern kann. Die Tradition der Rede von Bildung ist also mit ihren leitenden Annahmen als latente Struktur, als basales, der Theoretisierung so zugängliches wie bedürftiges Thema der aktuellen Forschung rekonstruierbar und argumentativ nutzbar, um Erkenntnisfortschritt oder -rückschritt in zentralen Dimensionen der Humanwissenschaften zu erklären. iv) In einer begründungtheoretischen, praktisch-philosophisch orientierten Argumentation wird danach geprüft, ob die klassischen Kriterien der Gestaltung von (obligatorischen) Bildungssystemen auch aktuell noch
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1 Bildung – kann man darüber noch reden?
normative Geltung gewinnen können, auch gegen eine Kritik, die das gegebene Bildungssystem primär als Verfallsform legitimer Bildungswelten interpretiert. Die leitende These wird hier – anders als im sonstigen Text – nicht mehr allein aus der Distanz der Beobachtung, sondern in dem Versuch einer eigenen Begründung für obligatorische (Grund-)Bildung argumentativ entfaltet. Dabei soll als Ergebnis gezeigt werden, dass sich das inzwischen hoch komplexe System der Bildung für die Selbstkonstruktion der Subjekte nicht etwa als organisierte Form der Entmündigung, sondern als eine der legitimen Bildungswelten verstehen lässt, die mit der Moderne entstehen und als unhintergehbare, aber auch notwendige und produktive Herausforderung in der individuellen und kollektiven Gestaltung von Lebensläufen erfahren werden. Das abschließende Teil V nimmt schließlich die Frage auf, ob und wie sich vor diesem Hintergrund historischer Rekonstruktionen, epistemischer Analysen und philosophischer Legitimationsversuche Einheit und Zusammenhang der Rede von Bildung behaupten lassen und ob gar die Frage positiv zu beantworten ist, dass es eine „Theorie der Bildung“ gibt. v) Die grundlegende Frage, ob es für die Vielfalt dieser Redeformen auch Formen der Einheit gibt, gar einen Grad an Systematizität, der sich auch aktuell und jenseits traditioneller Selbstbeschreibungen als Theorie der Bildung mit guten Gründen behaupten kann, wird mit einem dreistufigen Angebot beantwortet: zunächst in der Präsentation von unterscheidbaren Formen der Ordnung des Wissens und der Themen, die international für die Rede von Bildung bereitstehen, aber begrifflich höchst different und meist jenseits von Bildung bezeichnet und systematisiert werden – vom politischen Slogan bis zum forschungsleitenden Analysemodell. „Bildung“ wird dagegen nur in ganz wenigen Versuchen aktuell und explizit als Leitbegriff einer neuen Theorie gesucht, einerseits im pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Kontext, andererseits interdisziplinär, ohne dass der Begriff eine neue Einheitsform überzeugend begründen kann. Schließlich findet sich das Thema der Bildung – als Problem der Mensch-Welt-Beziehungen – in der Praxis von Forschung und Theoriebildung in funktionalen Äquivalenten, die zwar das Thema behandeln, aber auf den Bildungsbegriff zugunsten anderer Begriffe, z. B. „Resonanz“ oder im Blick auf den „ganzen Menschen“, verzichten. Sie behandeln freilich das Thema, ohne selbst den Schwierigkeiten zumal des normativen Überschwangs, der Konstruktion von Wunschwelten oder der Distanz gegenüber methodisch kontrollierter Forschung systematisch zu entgehen, die in der Tradition der Bildungsargumentation als spezifische Schwäche beobachtbar waren. Thema und Denkform lassen sich auch bei Vermeidung des Begriffs offenbar nicht einfach trennen, weder in ihrem Potential noch in ihren typischen argumentativen Belastungen. Das Ergebnis ist selbstverständlich nicht ein Vorschlag, mit dem sich die Heterogenität oder Diffusität der Rede von Bildung auflösen lässt, aber eine Unterscheidung. Die Redeform von Bildung bleibt dabei trotz aller rekonstruktiven und epistemischen Analysen zwar ein Problem, aber ihre Komponenten sind identi-
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fizierbar und unterscheidbar, ihr theoretischer Status ist ebenso d iskutierbar wie die Kriterien legitimer Argumentation und die typischen Schwächen der Redeform in einem politischen Kontext. In dieser multiplen Referenz liegen die Stärke und die Problematik des Begriffs zugleich. Er kann Themen und Argumente bezeichnen und relationieren, und das ist politisch wie wissenschaftlich aufklärend, wenn die differenten Referenzen bewusst bleiben und transparent gehalten werden. Die Rede von Bildung bleibt dennoch mit dem Risiko behaftet, in emphatischen Formeln die Differenzen zu überspringen und Einheit auch dort stiften zu wollen, wo Differenz und Distanz notwendig sind. Gleichzeitig liegt es wohl an der Bedeutung von Bildung, dass sie solche Emphase immer neu inspiriert, schon weil die Mühen der alltäglichen Konstruktion von Subjektivität damit scheinbar leichter auszuhalten sind. Bildungsphilosophie schließlich bestärkt diese verständliche Flucht in wünschbare Welten durch die immer neue Konstruktion von Utopien, aber diese spezifische Redeform ist an Forschung kontrollierbar, die auf die Möglichkeiten und Grenzen, Implikationen und Folgen der Realisierung derart antizipierter Welten verweist. Damit wird zugleich Bildung als Lebensform sichtbar, als eine Praxis, die Individuen konstruieren, innerhalb der Welten, mit denen sie sich auseinandersetzen, aber auch gegen die Restriktionen, die solchen Welten innewohnen. Realisierbare und utopisch ersehnte Welten werden dabei auch in ihrer Differenz sichtbar, und die historisch präsenten Lebensformen können auf die Frage hin gelesen werden, was Bildung vermag und was man legitimer Weise von der alltäglich notwendigen Selbstkonstruktion der Subjekte erwarten darf. Das ist mehr, als die Kritiker unterstellen, und weniger, als die utopischen Entwürfe erwarten, aber es sind doch eigene Welten mit je spezifischer Legitimität und Dignität, in bildungstheoretischer Reflexion weder zu vereinheitlichen noch zu normieren.
Teil I
Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition
„Was bedeutet Bildung?“ – das ist die erste Frage, wenn man sich einem so vielgestaltigen und verwirrenden Themenfeld nähert, schon wegen der notwendigen Klarheit für die weitere Diskussion und Behandlung des Themas. Das, die Frage nach der Bedeutung, ist auch eine Frage, die sich relativ präzise beantworten lässt, anders als die häufig zuerst gestellte Frage „Was ist Bildung?“ Diese Frage ist im Alltag so naheliegend wie plausibel, verspricht sie doch in der Antwort eine leicht fassliche, möglichst allgemeingültige und allseits anerkannte Bestimmung, vielleicht sogar eine wissenschaftliche Definition des Begriffs. Aber die Frage führt eher ins Elend vielfältiger und unvereinbarer Bestimmungen als zur Klarheit des Begriffs. Wie alle „was ist“-Fragen1 im Bereich des Sozialen mündet sie nämlich unmittelbar in die bekannte und bisher kaum zu schlichtende Konkurrenz von Positionen und nährt zugleich nur die falsche Erwartung, als gäbe es einen – und nur einen – wahren Begriff der Bildung, der vielleicht sogar ihr „Wesen“ für alle Zeiten festhält. Fragt man dagegen, was Bildung bedeutet, und geht man von der Vielfalt der Welten aus, in denen sie eine Rolle spielt, dann kann man Varianten in der Rede von Bildung und im Gebrauch des Begriffs unterscheiden, ohne sich theoretisch schon auf Wahrheitsansprüche einlassen zu müssen, aber durchaus im Bewusstsein der schon historisch nicht zu leugnenden Tatsache, dass auch hier Norm- und Wertfragen diskutierbar eine Rolle spielen. Und, nebenher, auch bei diesem Blick auf die Bedeutung von Bildung hat man immer noch die Chance, in der Welt der Wissenschaften präzise Begriffe oder auch nur klare und übersichtliche Ordnungen für die Vielfalt der Verwendungsweisen und Redeformen von Bildung zu finden.
1Der Sozialphilosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper hat „was-ist“-Fragen als Argumente erläutert, die er „essentialistisch“ nannte, deren philosophische und politische Fallstricke er u. a. am Beispiel von Platon sowie von Marx und Hegel diskutiert und die dabei mitlaufende Absicht problematisiert, „Ziel der Wissenschaften sei, Wesenheiten zu enthüllen und mit Hilfe von Definitionen zu beschreiben“ (so in Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons. (1944) Bern/München 1957, 2. Aufl. 1970, zit. S. 60). Er plädiert dagegen für den „methodologischen Nominalismus“ und sieht „das Ziel der Wissenschaft in der Beschreibung der Gegenstände und Ereignisse unserer Erfahrung und in einer ‚Erklärung‘ dieser Ereignisse“ (zit. S. 61).
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Teil I Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition
„Was bedeutet“-Fragen gehen von der Annahme aus, dass Bildung nicht nur bei Beobachtern in der Philosophie, sondern historisch und gesellschaftlich, lebensweltlich und institutionell zu einem gewichtigen Thema geworden ist, ja selbst eine Wirklichkeit mit eigener Geltung darstellt, eine soziale Tatsache in ihrer ganzen Eigendynamik und Widerständigkeit, wie man mit Durkheim sagen könnte.2 Diese Annahme ist auch schon deswegen notwendig, weil die Rede von Bildung (neben ihrem philosophischen und theoretischen Anspruch) eindeutig einen sozialen, gesellschaftlich-kulturellen sowie historischen und insofern veränderlichen Status hat. Die Bedeutung dieser Referenzen sieht man sofort, wenn man nach dem Ursprung des Begriffs fragt und nach dem Kontext, dem sich die bis heute dominierende Rede von Bildung verdankt. Sichtbar wird auf diese Weise zunächst der – systematisch eher irreführende – Gemeinplatz, dass man es mit einem typisch deutschen Phänomen zu tun habe, oder dass nur wir, hier in Deutschland, bei der Diskussion von Bedingungen und Formen des Aufwachsens mit dem Dual von „Bildung und Erziehung“ operieren. Zu den – eher hilfreichen – Gemeinplätzen zählt es dagegen, dass der aktuelle, der „moderne“, Begriff von Bildung im ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert entstanden ist, aus vielfältigen Kontexten, auch gesamteuropäischen, und schon damals, im Ursprung, in mehrfacher Bedeutung. Man muss das Thema also zuerst historisch in seinem Sinn und in seiner Thematisierung aufsuchen, um die Rede von Bildung in ihrer Vielfalt zu verstehen. Die erste Frage – „was bedeutet Bildung?“ – soll deshalb auch dadurch beant wortet werden, dass das Phänomen, „Bildung“ im modernen Verstande, zuerst im historischen Ursprung aufgesucht wird, dort, wo sich dieses Wort in einer Weise eingebürgert und für ein dezidiertes Thema bis zum theoretischen Begriff entwickelt hat, dass man auch eine Kontinuitätslinie bis zur Gegenwart ziehen kann. Das Thema der Bildung, historisch explizit als Wechselwirkung von Mensch und Welt verstanden und damit als Prozess der Konstitution des Subjekts, ist selbst natürlich älter. Nicht zufällig rekurrieren die einschlägigen Geschichten – die „Narrative“3 von Bildung – auf die klassische griechische Antike, erinnern an den Begriff der Paideia und interpretieren immer neu die überlieferten philosophischen Texte, zumal Platos „Staat“, um den Ursprung der abendländischen Idee der Bildung und zugleich den Ursprung der Philosophie zu zeigen.4 Die 2Emile
Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. (1895) Hrsg. und eingel. von René König. (1961) Darmstadt/Neuwied 5. Aufl. 1976, dort die nähere Bestimmung für soziale Tatsachen bzw. „soziologische Tatbestände“. 3In jüngerer Zeit wird mit diesem etwas modisch gewordenen Begriff angezeigt, dass die erzählte Geschichte selbst einem Muster folgt, sich nach Prämissen und Annahmen, Erzählformen und Quellenreferenzen in spezifischer Weise organisiert. 4Den Ursprung des Themas bis zur Moderne in der zweifachen historischen und epistemischen Referenz diskutiert Jörg Ruhloff: Bildungs- und Erziehungsphilosophie: Wahrheitsfragen und kulturgeschichtliche Erläuterungen ihrer Anfänge. In Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91 (2015), S. 304–352. Ruhloff verfolg zugleich die Absicht, diesen Begriff als den einzig wahren neu zur Geltung zu bringen und ihn zugleich mit dem Ursprung der Philosophie zu verbinden.
Teil I Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition
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Erläuterung des modernen, im Ursprung unserer Gegenwart zuzurechnenden Begriffs der Bildung wird aber zeigen, dass es trotz fortlaufender Inspiration, wie sie z. B. immer neu aus der Interpretation des sog. „Höhlengleichnisses“ in Platons „Staat“ gezogen werden kann (wenn Bildung als Umkehr, Bruch und neues Weltverhältnis sichtbar wird), keine ungebrochene Kontinuitätslinie bis in die Antike gibt. Die politisch-gesellschaftliche Struktur und Umwelt sind genauso different wie die Annahmen über den Menschen, das Wissen, die Philosophie oder die Wissenschaften und das Bildungssystem. Auch die Funktion der Religion ist so verschieden wie das Geschlechterverhältnis oder die Arbeitsverhältnisse und Produktionsbedingungen (usw.). In den Epochen der Menschheitsgeschichte und für Westeuropa lässt sich nicht zufällig von solchen Referenzen aus die Moderne von ihrer Vorgeschichte unterscheiden. Erst in dieser Moderne, deren Ursprung wir in Westeuropa auf das ausgehende 18. Jahrhundert datieren und deren Dauer – in allen Veränderungen – wir bis zur Gegenwart unterstellen, wird das Verständnis von Bildung geboren und reflektiert, das hier diskutiert werden soll – schon weil nur dieses Bild von Bildung in der dann neu konstruierten Wirklichkeit auch bis heute in eigenartiger Rezeption und Transformation5 fortlebt. Im Blick auf diesen Ursprung wird sich zeigen, dass es ein Geflecht von Ideen und sozialen Praktiken, politischen Erwartungen und philosophischen Erwägungen, individuellen Strategien und kollektiven Vorgaben war und ist, dem sich der Begriff verdankt. Man stößt insgesamt auf eine scharfe Zäsur im historischen Prozess und in den gesellschaftlichen Verhältnissen, wenn man dieser Ursprungssituation des modernen Phänomens der Bildung und seiner Reflexion nachgeht. Nicht ohne Grund sprechen bildungshistorische Studien von einer „Bildungsrevolution“ im ausgehenden 18. Jahrhundert,6 wenn sie der Genese von Begriff und Phänomen der Bildung in ihrer historisch-gesellschaftlichen Bedeutung nachgehen. Sie sehen die Revolution darin, dass sich die Menschen jetzt im Medium des Selbstlernens als Konstrukteure ihrer eigenen Welt v erstehen. 5Das ist natürlich auch schon diskutiert und dokumentiert worden, in Analysen und Quellensammlungen, die einen festen Kanon erzeugt haben, aber auch offen für Erweiterungen jenseits der deutschen Klassizität sind. Ich nenne nur Hans-Ulrich Musolff: Bildung. Der klassische Begriff und sein Wandel in der Bildungsreform der sechziger Jahre. Weinheim 1989, als Sammlung von Interpretationen Rudolf Rehn/Christian Schües (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Grundlagen Methoden Perspektiven. Freiburg/München 2008, als Sammlung zur Klassizität stilisierter Texte u. a. Heiner Hastedt (Hrsg.): Was ist Bildung? Stuttgart 2012, der mit Herder, Schiller, Humboldt, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche beginnt und über Adorno zu Foucault, Koselleck, Rorty und Butler fortschreitet. Die als Kritik der kanonisierten Konstruktion angekündigte knappe Studie von Egbert Witte: Zur Geschichte der Bildung. Eine philosophische Kritik. Freiburg im Breisgau 2010 ist in der historischen Basis und Analyse dagegen wenig überzeugend, trotz aller systematischen Anstrengung gilt das auch für die historische Themenpräsentation bei Jutta Breithausen/Rita Casale/Andreas Dörpinghaus/Giancarla Sola/ Egbert Witte: Der Begriff der Bildung in Deutschland zwischen Philosophie und Pädagogik. In: Studi sulla formazione 1(2016) S. 55–85 – sie beginnen nicht zufällig mit der Frage „Was ist Bildung?“. 6Heinrich Bosse: Bildungsrevolution 1770–1830. Herausgegeben mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012.
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Teil I Bildung in der Moderne – Dimensionen einer Reflexionstradition
Es ist wiederum auch kein Zufall, sondern signalisiert nur die Bedeutung der sozialen Tatsache der Bildung, dass über ihre weitere Geschichte bis heute historiografische (und natürlich theoretische und programmatische) Kontroversen bestehen. Man muss z. B. schon die Frage klären, ob es nicht eher zwei als nur eine „Bildungsrevolution“ in modernen Gesellschaften gegeben hat,7 eine zweite im späten 19. Jahrhundert; denn jetzt etabliert sich auch ein Bildungssystem, mit dem die Ambitionen der Bildung nicht nur individuell adressiert, sondern gesellschaftlich geordnet und universal gesetzt werden. In dieser historischen Perspektive erfährt man aber auch, dass vielleicht nur die begrifflich und politisch so stark besetzte Rede von „Bildung“ semantisch ein spezifisch deutsches Phänomen darstellt, dass aber das Phänomen – Bildung als wirksame soziale Tatsache, ja als Strukturprinzip moderner Gesellschaften – keineswegs allein und singulär für die deutsche Geschichte Bedeutung hat. Die Genese und die weitere Geschichte, die zentralen Argumente, die für Bildung im Ursprung der Moderne gefunden wurden, und die spezifische Entwicklung, die das Reden über Bildung danach nimmt, sollen deshalb zuerst dargestellt werden. Man kann dabei erfahren, wie diese neue Wirklichkeit entsteht, welchen Anforderungen und Reflexionen sie sich verdankt und in welche, auch spannungsvolle Referenzen sie von Beginn an eingebettet war. Ein Blick auf diese Tradition zeigt insgesamt also, was Bildung im Ursprung im historisch-gesellschaftlichen Kontext und in ihrer Praxis und Reflexion bedeutet hat, die Formulierung und Begründung eines Ideals vom Menschen, zugleich damit die Konstruktion einer spezifischen Form der Lebensführung und die Konstruktion einer gesellschaftlichen Ordnung des Aufwachsens. Die historische Gestalt des Bildungsbegriffs ist seit dem Ursprung mit Annahmen über Mensch und Welt verbunden, die in der Rede über Bildung bis heute nachwirken und leben. Sie prägen eine eigene Denkform, die Kontinuität eröffnet, aber auch als Hypothek dieses Diskurses wirksam wird.
7Vgl.
dazu in meiner Rezension von Bosse 2012 in Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau 36 (2013) die Hinweise auf den gegenüber Bosse anders platzierten Begriff der Bildungsrevolution u. a. bei Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften. München 1972, bes. S. 218, sowie bei Karl-Ernst Jeismann: Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert. In: Ders./P. Lundgreen (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. München 1987, S. 1–21, zur „modernen Bildungsrevolution“ (S. 4) und zur These, dass im späten 19. Jahrhundert „Erziehung und Bildung zu wichtigen Faktoren der Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung wurden.“ (S. 3).
Kapitel 2
Der Begriff in seiner Geschichte – Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit
„Bildung“ als Wort, noch in einem vortheoretischen Sinn, hat eine alte Tradition, die kann und soll hier nicht insgesamt rekapituliert werden, so wenig wie die Begriffsgeschichte in ihrer eigenen diffizilen Verzweigung.1 Diese Tradition erfährt zum ausgehenden 18. Jahrhundert, auch im Bewusstsein der Zeitgenossen, eine neue Bestimmung, ja eine begriffliche Verdichtung und eine Transformation in philosophische und theoretische Überlegungen, die bis in die heutige Debatte über Bildung folgenreich bleiben. Auf diesen Ursprung und den daraus entwickelten Gang der Bildungsgeschichte konzentrieren sich die folgenden Überlegungen, zunächst als Geschichte der Bildungsreflexion und ihrer Thematisierung von Bildung. Im Grimmschen Wörterbuch,2 um wortgeschichtlich zu beginnen,3 wird Bil dung als ein „heute sehr gangbarer ausdruck“ eingeführt und sogleich kulturell codiert, denn Bildung wird als „für unsere mundart bezeichnend“ charakterisiert.
1Informative Zugänge bieten Ernst Lichtenstein: Bildung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, 1971, Sp. 921–937; Rudolf Vierhaus: Bildung. In: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508–551; Friedhelm Brüggen: Bildung. In: A.Hand/C.Bermes/U. Dierse (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Hamburg 2015, S. 63–81 (Archiv für Begriffsgeschichte, SH 11), sowie Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der Worte ‚bilden‘ und ‚Bildung‘ in der Literatur-Epoche von Gottsched bis Herder (1931). In: Franz Rauhut/Ilse Schaarschmidt: Beiträge zur Geschichte des Bildungsbegriffs. Hrsg. von W. Klafki, Weinheim 1965, S. 25–87. 2Schon hier, in Bd. 2 von Grimm, also nicht erst heute, findet sich auch eine Fülle an Komposita, von „Bildungsanstalt“ über „Bildungsgeschäft“ und „Bildungssinn“ bis zu „Bildungsstufe“ und „Bildungsweise“ (Im Übrigen: in den frühen Bänden des Grimm regiert die Kleinschreibung). 3Die Einträge im Zedler (Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste“) gehören noch in den Vorhof des modernen Bildungsverständnisses. In Bd. 3, 1733, S. 928 f. wird „Bildung, Formatio“ aus dem medizinischen Sprachgebrauch erklärt; „Bildung des Menschen“ von Psalm 139, 15 aus als offene Frage der „inneren“ und „äußeren“ Bildung des Menschen bestimmt, also der Bildung im Mutterleib sowie danach.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_2
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2 … Bildung, Bildungstrieb, Bildsamkeit
Dann finden sich, repräsentativ für die weitere Geschichte, zunächst die folgenden vier Begriffsvarianten: „1) ursprünglich bedeutete bildung imago, … bild und bildnis … 2) länger hält sich der sinn von forma, species, gestalt, nicht nur der menschlichen, sondern auch der thierischen, und jeder andern natürlichen, dann auch gestaltung: …. 3) bildung, cultus animi, humanitas: … 4) bildung, formatio, institutio … die bildung eines heers, einer schule; … bildung von ständen.“4 Auch hier wird Bildung also zuerst national-kulturell zugeschrieben, „für unsere Mundart“, wie Grimm sagt, aber die Wortgeschichte verweist noch auf mehrere Bedeutungen, die gleichzeitig zeigen, auf welche Kontexte sich die Rede von Bildung traditionell bezieht und die auch alltagssprachlich bedeutsam bleiben: Als „imago … bild und bildnis“ ist die alte religiöse Tradition des Bildungsgedankens erkennbar, in der wir die Menschen als Kinder Gottes verstehen und nach seinem Bilde bilden. Von dieser religiös-kirchlichen Referenz wird sich der moderne Bildungsbegriff ablösen, in seiner Bedeutung verweltlichen und trotz der Fortdauer theologisch inspirierter Denkformen5 auch nicht mehr primär religiös begründen, sondern philosophisch oder im Kontext einer spezifischen Anthropologie oder Politischen Theorie. Dabei bleibt daneben, in quasi unspezifischer Rede, als weitere Bedeutung ein sehr allgemeiner Sinn von „Bildung“ erhalten, als Bildung einer Form und insofern im Sinne von Gestaltung, nicht allein des Menschen. Diese besondere, die humane Referenz findet sich schon deutlicher, wenn in der antiken und humanistischen Tradition Bildung als „cultus animi“ übersetzt wird, als Formung oder Kultivierung der Seele, d. h. als eine Praxis, die sich der spezifischen Eigenart des Menschen, der „humanitas“, zurechnen lässt. Das wiederum ist eine Bestimmung, die aus der Traditionsgeschichte von Bildung heraus die Reflexion bis heute prägt, und zwar gesamteuropäisch,6 in der Bekräftigung des Humanismus oder des Neuhumanismus als Referenz für Bildung.7 Traditionsreiche, jetzt antike Unterscheidungen kehren auch in der vierten Bedeutung wieder, wenn Bildung als „formatio, institutio“ bestimmt und
4Grimmsches
Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 21–23; für die letzte Variante liefert eine Denkschrift des Freiherrn vom Stein den Beleg. 5Das zeigt sich an der Denkform der Jansenisten, z. B. für die spezifischen individuellen und intrapsychischen Mechanismen und Wirkungsannahmen von Bildung, dazu Fritz Osterwalder: Die pädagogischen Konzepte des Jansenismus im ausgehenden 17. Jahrhundert und ihre Begründung. Theologische Ursprünge des modernen pädagogischen Paradigmas. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 2 (1995), S. 59–84. Man könnte das für die deutsche Diskussion vergleichbar an der starken Rolle pietistischer Traditionen und Denkformen im Diskurs über Bildung leicht weiter belegen, auch am Fortwirken theologischer Denkformen in der gesamten deutschen Pädagogik und Bildungstheorie, vgl. J.Oelkers/F.Osterwalder/H.-E.Tenorth (Hrsg.): Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie. Weinheim/ Basel 2003 oder Patrick Bühler/Thomas Bühler/Fritz Osterwalder (Hrsg.): Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren. Bern 2013. 6Dafür u. a. Günther Böhme: Bildungsgeschichte des Humanismus. Darmstadt 1984 oder die Darstellung und die Quellen zumal in Bd. 2, Humanismus, von Eugenio Garin (Hrsg.): Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik. (1957) Reinbek 1966. 7Jüngst erneuert bei Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013.
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damit in ihren gesellschaftlichen Kontext, den der Beschulung, gestellt wird, während „educatio“, die dritte Formel der antiken Trias zur zeit- und praxisbezogen differenzierten Thematisierung des Aufwachsens, als familiäre Leistung begriffen wird. Die Abgrenzung von Bildung und Erziehung ist in dem bei Grimm zitierten Sprachgebrauch – im Übrigen aber auch im Bewusstsein der Zeitgenossen8 – noch nicht sehr scharf, wie man sieht, wenn man den ersten Beleg bei Grimm für Erziehung nutzt: „er hat keine erziehung, ist ohne erziehung, ohne bildung“, wie das Wörterbuch den Göttinger Physiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg zitiert, wenn der über „alle menschen von erziehung“9 schreibt. Aber Unterscheidungen bahnen sich offenbar an: Erziehung meint bald eher die gesellschaftliche Dimension, schon in normativ bestimmter Differenz, nicht die umfassende Konstruktion des Menschen oder sogar eine Tatsache der Natur; denn „eine gute, feine erziehung erhalten“ oder „genieszen“, das verweist auf die Unterschiede und die erwarteten Standards, die man in der Gesellschaft mit Erziehung und anfänglich auch noch gleichsinnig mit Bildung verbindet. Auch „die erziehung des menschengeschlechts“, über die man bei Lessing lesen kann,10 zielt auf die spezifische Bestimmung des Menschen. In ihrem argumentativen Duktus gehört Lessings Schrift aber vielleicht noch eher in den Kontext der Theologie und einer Gattungsgeschichte der Menschheit, als in den einer säkularen Erziehung und einer wissenschaftlichen, aus der Beobachterperspektive formulierten modernen Theorie der Bildung.11 Bei Lessing dominiert im Grunde doch noch eine „Was-ist“-Frage, wenn er über Bildung nachdenkt. Damit klärt er zwar – im
8Vierhaus 1972, S. 508 zitiert eine einschlägige Beobachtung von Moses Mendelssohn, der indes nicht Erziehung als Referenz wählt, sondern Aufklärung und Kultur: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum … Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen derselben festzulegen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen ihren geselligen Zustand zu verbessern. … Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen … Aufklärung mehr auf das Theoretische zu beziehen.“ (Aus M.M.: Über die Frage: was heißt aufklären? Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 193 f.). 9Grimm fügt hinzu, leicht kritisch angesichts der Lust zur Wortprägung bei Jean Paul, der Wörter, die, wie Erziehung, auf „-ung“ enden, vermeiden wollte: „J[ean]. P[aul]. hat ihrer einen haufen unnützer, steifer, um dem ihm verhaszten ungs auszuweichen, mit bloszem erzieh gemacht, wie erziehlehre für levana, erziehschreiber für schriftsteller über erziehung. sie verdienen keine aufnahme.“ (Grimm 3, Sp. 1093). 10Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780, Teile waren bereits 1777 erschienen. 11Schon Lessings Ausgangsthese legt eine solche Zuordnung nahe: „Erziehung ist Offenbarung, die dem einzelnen Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.“ (§ 2). „Bildung“ kommt hier in einem von Erziehung unterscheidbaren, theoretisch eigenen Sinn nicht vor.
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Kontext der Theologie –, was Bildung bedeutet, aber er klärt das Bildungsproblem nicht im Kontext der neuzeitlichen, modernen Wissenschaft. Für die moderne Wissenschaft, die um 1800 auch in den Humanwissenschaften entdeckt wird, ist nämlich eine weitere Frage zentral, die sich der Zerstörung der Selbstverständlichkeiten eines religiös-theologischen Weltbildes verdankt und für die Möglichkeit von Erscheinungen in der Welt nicht mehr einen allmächtigen Urheber einsetzen kann. „Wie ist möglich“ – das wird die Leitfrage, nachdem die Welt selbst zum Problem geworden ist, und zwar in den Naturwissenschaften wie in den Sozialwissenschaften. Die fragen z. B., wie soziale Ordnung möglich ist, in der Ökonomie wird gefragt, wie angesichts von Knappheit wirtschaften möglich ist, und die Frage, wie Erziehung oder Bildung möglich sind, beherrscht die Diskussion der Erziehungstheoretiker im späten 18. Jahrhundert und wird, wenn auch nicht als erste Frage der Bildungsreflexion, auch in der Gegenwart gelegentlich wieder aufgenommen.12 Damit bestätigt sich, dass diese Theorien in den Ursprungskontext der modernen Humanwissenschaften gehören. Auch in den frühen Bestimmungsversuchen von Bildung wird schon die Frage aufgeworfen, wie denn möglich ist, was dabei wirklich werden soll. Einerseits sind es im Verständnis der Zeit soziale Orte, „Welten“ in einer ganz umfassend-radikalen Weise, die Bildung ermöglichen. Liest man z. B., was der Philosoph Fichte für die „Bildungsstätten“ formuliert, dann befindet man sich weit jenseits eines engen Verständnisses von Schule, wird aber auf eine spezifische Form von Bildung, nämlich die Bildung des „Willens“ geführt: „bildungsstätte“, so zitiert das Wörterbuch aus Fichtes „Tatsachen des Bewußtseins“, sei „die gegenwärtige welt“, sie sei „für alle künftigen welten die bildungsstätte“, sogar in spezifischer Referenz, z. B. als „bildungsstätte des willens.“13 Man erkennt eine These wieder, die sich bis heute finden lässt – „das Leben bildet“14 – und sieht bereits für den Ursprung, dass Fragen von Moralität und Sittlichkeit die philosophische Reflexion von Bildung zentral bestimmen. Aber gleichzeitig wird auch deutlich, dass Bildung weder exklusiv noch immer von der Arbeit der Schule und der Pädagogen hergedacht wird. Diese Welten und Akteure treten zwar bald in den Diskurs und in die Praxis von Bildung ein, haben das Revier aber nicht für sich gepachtet. Als grundlegenden Mechanismus, der Bildung möglich macht, findet man aber nicht allein die „Welt“, die Schule und die Pädagogen oder den Menschen selbst angesichts seiner Auseinandersetzung mit der Welt, sondern auch die menschliche Natur. Im Verständnis der zeitgenössischen Anthropologie wird, höchst folgenreich
12Lothar
Wigger (Hrsg.): Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn 2009 ist ein prominentes jüngeres Exempel, aussagekräftig auch wegen der Differenzen, in denen in der ganzen Breite der aktuell präsenten theoretischen Positionen der Bildungsreflexion die Frage zwischen variantenreicher Empirie, normativen Konstruktionen und verzweifelter Diagnose der Unmöglichkeit wahrer Bildung beantwortet wird. 13Grimm, Bd. 2, Sp. 24 bezieht sich auf Johann Gottlieb Fichte, Tatsachen des Bewußtseins. (1810/1811) In: Sämtliche Werke 2, Berlin 1845. 14Das ist die Leitthese in Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. Stuttgart 1996, der dann auch die Schule nur einen, keineswegs den bedeutsamsten, „Lernanlass“ neben anderen nennt.
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in einer breiten Rezeptionsgeschichte dokumentiert und bedeutsam z. B. auch für Kant15, die menschliche Natur von dem Göttinger Naturphilosophen Johann Friedrich Blumenbach im Begriff des „Bildungstriebes“ als Modell von Selbstorganisation gedacht.16 Aber diese Idee, Selbstorganisation als spezifischer Mechanismus der Bewirkung von Wirkungen, ist in der gesamten europäischen Diskussion der Humanwissenschaften verankert, nicht allein in der Biologie.17 Die Unterstellung von Selbstorganisation als Mechanismus der Gestaltung von Mensch und Welt findet sich z. B. auch in der Ökonomie und in deren Ordnungsmodell der „unsichtbaren Hand“.18 Der Begriff des „Bildungstriebes“, in dem Blumenbach seine These erläutert, setzt ebenfalls auf diesen in seiner Zeit viel diskutierten Mechanismus, wenn die Ermöglichung von Bildung erklärt werden soll, beschreibt also letztlich eine Prämisse der Selbstorganisation und die ihr eigene Form von Verursachung.
15Das Lob für Blumenbachs Leistung in Kant, KdU, § 81 (hrsg. von Weischedel, Bd. 6, S. 545) im „Anhang. Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“ im Kontext der Theorien der Epigenesis. Für die Korrespondenz von Kant und Blumenbach vgl. Robert J. Richards: Kant and Blumenbach on the Bildungstrieb: A Historical Misunderstanding. In: Stud. Hist. Phil. Biol. und Biomed. Siences 31 (2000), S. 11–32. Das Mißverständnis (aber „a rather creative and useful one“ – S. 12), das Richards zeigen will, besteht darin, dass Blumenbach keineswegs die feinsinnigen Unterscheidungen zwischen regulativen, reflektierenden und kausalen Urteilen macht, die Kant zur Erklärung der Methodik der teleologischen Urteilskraft vorschlägt. Blumenberg, so resümiert Richards (S. 30–32), dachte schlicht an Kausalität, eine für Kant unvertretbare Deutung der Denkweise biologischer Wissenschaft. 16Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb. (1781) Göttingen 21789. 17Für die Rolle Blumenbachs in diesem Kontext bereits Timothy Lenoir: The Strategy of Life. Teleology and Mechanics in Nineteenth-Century German Biology. Univ. of. Chicago Pr.: Chicago/London 1982, Chapter 1–3., passim (und zur Diskussion u. a. der Kant-Rezeption von Lenoir wiederum Richards 2000); konzentriert auf Kant, Blumenbach und dem medizinischnaturphilosophischen Kontext sehr konzis auch Sebastian Manhart: Im Begriffsgeflecht. Zur Entstehung der Bildungssemantik um 1800 zwischen Selbstorganisation, Leben, Mensch und Markt. In: Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hrsg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld 2008, S. 165–186. 18Für den historischen Kontext der gesamteuropäischen Reflexion von Selbstorganisation in allen Humanwissenschaften, in denen auch Blumenberg mit der These der Epigenesis verortet ist, jetzt umfassend Jonathan Sheehan/Dror Wahrman: Invisible Hands. Self-Organization and the Eighteenth Century. Chicago: Univ. Pr. 2015, zu Blumenbach und der deutschen Diskussion über den „Bildungstrieb“ in Kap. IV, S. 170–173. Sie übersetzen den Bildungstrieb als „developmental drive“, skizzieren knapp den Kontext der Rezeption von Herder bis Kant und Goethe (zu Kant und seiner eigenen, „kritischen“, Lösung des Erkenntnis- und auch des Kausalitätsproblems, in Abgrenzung zu Denkformen, wie denen Blumenbachs, abschließend, S. 297–303). Sie betonen auch Blumenbachs Rolle für die Verbindung des deutschen und angelsächsischen humanwissenschaftlichen Diskurses der Zeit, zeigen die problematischen Annahmen über den Status des „Bildungstriebes“ und seine ungeklärten kausalen Implikationen bei Blumenbach, der zugleich als entschiedener Gegner aller teleologischen Argumentation belegt wird (für die weitere Diskussion zur „unsichtbaren Hand“ als Form der Konstruktion von Ordnung und ihrer nicht unproblematischen Implikationen im Kontext der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft u. a. Till Breyer: Unsichtbare Hand. In: Merkur 804, 70 (2016), S. 70–77 – ohne Bildung und Blumenbach).
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Betrachtet man das zuerst nur in der kurzen Zitation, die man im Grimmschen Wörterbuch findet, der das Stichwort „bildungstrieb“ nennt und es in Bezug auf seinen Erfinder Blumenbach (bei dem Wilhelm und Alexander von Humboldt übrigens in Göttingen intensiv studiert hatten), erläutert, dann erkennt man die starke anthropologische These. Blumenbach habe für den Bildungstrieb „das höchste und letzte des ausdrucks“ gegeben, denn, so Grimm in Nutzung eines Goethezitats: „er [Blumenbach] anthropomorphosierte das wort des rätsels und nannte das wovon die rede war einen nisus formativus, einen trieb, eine heftige thätigkeit, wodurch die Bildung bewirkt werden sollte.“19 So, wie der nisus formativus hier vorgestellt wird, bezeichnet er die wesentliche Zäsur, die in der Naturphilosophie für das Bildungsdenken vorbereitet und begründet wird. Der Begriff wird, das betont Goethe mit Nachdruck, von Blumenbach „anthropomorphisiert“, also dem Menschen nachgebildet, nach dem Maß des Menschen formuliert und von der alten naturphilosophischen oder religiösen Betrachtungsweise abgelöst.20 Die Abkehr von der religiösen Tradition bedeutet deshalb nicht allein die Lösung von der Gottesebenbildlichkeit. Jetzt kommt vielmehr auch in der Begründung des zentralen Mechanismus der Selbstkonstruktion des Menschen die Natur zu ihrem Recht, nicht etwa die Gnade Gottes. Der „Bildungstrieb“ wird als eine eigene „Kraft“21 der Natur verstanden, der sich die Entwicklung des Menschen zum Menschen autopoietisch verdankt – und das meint nicht Kausalität, sondern eine Wirkungsweise eigener Art. Freilich wird der spezifische Status dieser Wirkungsweise, wie schon Kants Kritik andeutet, nicht hinreichend und systematisch geklärt. Die Qualifizierung der Möglichkeit von Bildung als Mechanismus der Selbstorganisation und damit die Kausalitätsfrage bleiben ein virulentes Thema der Bildungsreflexion. Kant selbst spricht von einer Kausalität
19Zit.
Grimm Bd. 2, Sp. 24. dafür ist die Deutung bei August Ludwig Hülsen: Über den Bildungstrieb. In: Philosophisches Journal 9(1800)2, S. 99–130. Hülsen erläutert vom Bildungstrieb aus, dann aber wesentlich mit Fichte, die Möglichkeit des freien Handelns, vgl. schon die Hinweise bei Willy (d. i. Wilhelm) Flitner: Friedrich August Hülsen und der Bund der freien Männer. (1913) ND in: Flitner, Ges. Schriften Bd. 5, Paderborn (usw.) 1985, S. 15–130, bes. S. 75–78. 21Bei Humboldt ist es der Begriff der „Kraft“, mit dem er die Funktionsweise und Eigendynamik von Bildung erläutert, vgl. „Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der Originalität, und das also, worauf die ganze Grösse des Menschen zuletzt beruht, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muss, und was der, welcher auf Menschen wirken soll, nie aus den Augen verlieren darf, ist Eigenthümlichkeit der Kraft und der Bildung. … durch Freiheit des Handelns und der Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt … bringt sie beides wiederum hervor.“ Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, zit. S. 65. Für den ästhetischen Kontext, in dem der Begriff der Kraft dann Bedeutung gewinnt, u. a. für das Spiel, jetzt in Differenz zur erworbenen Kultur vgl. Christoph Menke: „Kraft“. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 2008. 20Typisch
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aus Freiheit22 und verlagert das Thema der Bildung in die pragmatische Anthropologie (davon wird noch zu reden sein). In diesen Kontext wird auch der prominenteste „Grundbegriff der Pädagogik“ (Herbart) eingebettet, d. i. der Begriff der „Bildsamkeit“, mit dem sie ihre eigene Praxis mit der Idee und Praxis der Bildung verbinden kann. Auch das ist zunächst ein naturphilosophischer Begriff, auch bei dem Königsberger Philosophen Johann Friedrich Herbart, der mit seiner Bestimmung und Diskussion von Bildsamkeit am meisten zitiert wird, dann in der Regel im Blick auf die ethische Dimension, transferiert also in die Moralphilosophie.23 Im § 1 in seinem „Umriß pädagogischer Vorlesungen“ sagt Herbart, der „Grundbegriff der Pädagogik“ sei „die Bildsamkeit des Zöglings“.24 Herbart selbst stellt den Begriff hier noch in einen zweifachen Begründungskontext. Zum einen betont er in der begleitenden „Anmerkung“ zu diesem Paragraphen: „Der Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weiteren Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlen Tiere.“ Insofern naturphilosophisch und allgemein gewinnt der Grundbegriff der Pädagogik erst in der zweiten Erläuterung seine bereichsspezifische Besonderung: „Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“. Es gehört zur weiteren Entwicklung und zur Intensivierung der Diskussion über Bildung, dass allmählich diese zweite Frage, die nach der Spezifik des menschlichen Bildungsprozesses und dann noch in der Eingrenzung auf Fragen der Willensbildung, die Oberhand gewinnt, gelegentlich so stark, dass andere Fragen jenseits des Themas der Moralität für die Klärung der Wie-Frage vollständig ausgeblendet werden.25 Die basale Annahme aber, dass es die – pädagogisch 22Für
die erziehungsphilosophische Diskussion hat Peter Vogel (noch vor dem Hintergrund des Positivismus-Konflikts) das damit bezeichnete kantische Problem der Kausalität aus Freiheit diskutiert, vgl. P.V.: Kausalität und Freiheit in der Pädagogik. Studien im Anschluß an die Freiheitsantinomie bei Kant. Frankfurt a. M. u. a. 1990. 23Zum theoretischen Status dieses Begriffs jetzt die an aktuelle Theorien der Autopoiesis angelehnte Interpretation von Elmar Anhalt: Bildsamkeit und Selbstorganisation. Johann Friedrich Herbarts Konzept der Bildsamkeit als Grundlage für eine pädagogische Theorie der Selbstorganisation organismischer Aktivität. Weinheim 1999. Anhalt lässt sich die Relationierung auf Blumenbach, Hülsen und die zeitgenössische allgemeine Debatte über Selbstorganisation und die davon unterscheidbare Frage nach der spezifischen Methode der Naturerkenntnis entgehen, diskutiert allerdings subtil das mit Selbstorganisation aufgeworfene Kausalitätsproblem. 24Johann Friedrich Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen. Göttingen 1835, § 1, S. 1 ff. 25Vgl. für diese thematische Fixierung z. B. schulpädagogisch Jürgen Rekus (Hrsg.): Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht. München 1993, oder, und verständlicherweise, die Diskussion in der Sozialphilosophie, die dann aber auch den pädagogischen Diskurs primär als einen ethischen wahrnimmt, u. a. Holger Burckhart: Philosophie, Moral, Bildung. Würzburg 1999; ders.: Diskursethik. Diskursanthropologie, Diskurspädagogik. Reflexiv-normative Grundlegung kritischer Pädagogik. Würzburg 1999; Karl-Otto Apel/Holger Burckhart (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik. Würzburg 2001.
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zu nutzende – Natur des Menschen ist, bildsam zu sein, vervollkommnungsfähig, ausgestattet mit der Kompetenz, Kompetenzen auszubilden, gerät dabei fast in den Hintergrund. Aber diese „perfectibilité“, eine Prämisse über die Natur des Menschen, ist die Basisannahme des gesamten neuzeitlichen Bildungsund Erziehungsdiskurses.26 In der Regel bei Rousseau im Ursprung platziert, in der deutschen Diskussion naturphilosophisch verstanden, bleibt diese Prämisse zentral, auch nicht allein in der deutschen Diskussion, wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. die Thematisierung von Bildung und Bildsamkeit bei John Stuart Mill belegt.27 Die Konzentration, ja Verengung auf Fragen der Sittlichkeit (nicht nur in der deutschen Debatte28) gewinnt die bildungstheoretische Reflexion im Wesentlichen dadurch, dass sie an alte theologische Überlegungen zur „Bestimmung des Menschen“ anschließt. Dieses Thema war auch dem naturphilosophischen Denken nicht fremd (und bleibt ein zentrales Thema der pädagogischen Anthropologie bis heute29), nur sollte in ihrem Kontext die damit verbundene Frage zunächst noch „erfahrungsmässig“ geklärt werden, also auf der Basis der empirisch beobachtbaren Phänomene und mit Annahmen über die „Erziehungsbedürftigkeit“ und „Bildsamkeit“ des Menschen als pädagogischer Naturprämisse; denn als solche wurde auch die naturhafte Ermöglichung von Bildung verstanden. Demgegenüber wird um 1800 in vielen Reflexionen über die „Bestimmung“ des Menschen nicht primär oder allein subjektbezogen-empirisch, historisch oder gattungsgeschichtlich argumentiert,30 sondern zunehmend metaphysisch, prinzipientheoretisch oder
26Eine
Koppelung beider Begriffe, allerdings ohne Bezug auf den naturphilosophischen Kontext, liefern nur Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen: Bildsamkeit/Bildung. In: D. Benner/J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, S. 174–215. 27Vgl. jetzt, auch für den Kontext der Bildungsreflexion bei Mill, die sich u. a. aus der expliziten Berufung auf Humboldt speist, John Stuart Mill: Vervollkommnungsfähigkeit (1828). In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. Von Ulrike Ackermann/Hans Jörg Schmidt, Bd. II: Bildung und Selbstentfaltung. Hrsg. und eingeleitet von Hans Jörg Schmidt. Hamburg 2013. 28Die „Philosophie der schönen Sittlichkeit“ gehört z. B. in den Kernbereich der Argumentation Shaftesburys (vgl. für dessen Rezeption in Deutschland schon Hans Bayer: Zur Soziologie des bürgerlichen Bildungsbegriffs. In: Paedagogica Historica 15 (1975)2, S. 321–355, bes. S. 335 f.), auch wenn die bildungstheoretische Diskussion und Rezeption, u. a. bei Herder, vielfach die damit verbundene politische Dimension nicht mehr sieht, die bei Shaftesbury zugleich präsent ist, so bemerkt, zu Recht kritisch, Rebekka Horlacher: „Bildung“: Nationalisierung eines internationalen Konzepts. In: Rita Casale/Daniel Tröhler/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Methoden und Konzepte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 199–213 sowie erneut dies.: Bildung. Bern 2001. 29Bei Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie. Hannover (usw.) 2 Bde., Bd. 1, 1966/Bd. 2, 1971, trägt Bd. 1 den Untertitel „Bildsamkeit und Bestimmung“, Bd. 2 gilt „Entwicklung und Erziehung“. 30Ein Überblick bei Ch. Garwe: Bestimmung des Menschen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, Sp. 856–859, der für die Zeit um 1800 u. a. Kant, Herder, Fichte und Hegel knapp diskutiert. Für die Frühgeschichte des Begriffs im Kontext der Theologie und seine Transformationen über Spalding und Kant zu Fichte Laura Anna Marcor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. Stuttgart/Bad Cannstatt 2013.
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in einem nicht immer präzisen Sinne ‚anthropologisch‘31, wobei der Ursprung der Frage in theologischen Reflexionen latent wirksam bleibt. Das führt in einigen erziehungsphilosophischen Texten, etwa bei Fichte und seinen Jüngern bis heute, sogar zu der Annahme, dass nicht mehr die Empirie der Erziehung oder der Blick auf die Natur, sondern „Prinzipien“ die Frage beantworten, wie Bildung möglich ist. Die empirische Erforschung von Bildungsprozessen lässt sich seitdem nur schwer mit diesen Theorien und Philosophien der Bildung verbinden. Die Reflexion über die Bestimmung des Menschen bleibt im Ergebnis also eine offene, problematische Frage. Sie wird damit auch eher eine Belastung, denn eine Bereicherung der Reflexion über Bildung, jedenfalls dann, wenn sie mehr zeigen will als die sparsame pädagogisch-anthropologische Prämisse, dass „Vervollkommnungsfähigkeit“ als zentrale Hypothese der Praxis des Aufwachsens wie der Erziehungspraxis zugleich angenommen werden muss, aber als naturhafte Prämisse, nicht etwa als metaphysische, das „Wesen“ des Menschen endgültig klärende philosophische Aussage über die wahre Natur des Menschen. Für das hier zu diskutierende erste Problem, „was bedeutet Bildung?“, ist es dennoch notwendig, diese weite und bis heute offene Frage ebenfalls in ihrem Ursprung aufzunehmen. Ein Großteil der Schwierigkeiten, denen sich die Rede über Bildung bis heute konfrontiert sieht (und die sie sich selbst bereitet), sind erst vor dem Hintergrund von „wesens“-bezogenen Bestimmungsversuchen, von der je eigenen Metaphysik der Autoren, verständlich. Mit der Konstruktion von Bildungsidealen und der Behauptung ihrer universalen Geltung bleiben entsprechend problematische Begründungsansprüche verbunden, die der Reflexion von Bildung den primär normativen, kontrafaktischen Anspruch und Duktus geben, den sie bis heute bewahrt. Zeitgenössisch ist es dagegen zuerst der Rückgriff auf Anthropologie, auf eine neue, von der Theologie abgelöste und methodisch in vielfältiger, nicht etwa nur metaphysischer Weise ausgearbeitete Lehre vom Menschen, die solche Begründungsansprüche tragen soll.
31Zu
den immanenten Schwierigkeiten des anthropologischen Arguments im ausgehenden 18. Jahrhundert generell Odo Marquard: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. (1978). In. O.M.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1981, S. 39–66. Zur weiteren historischen Diskussion, u. a. im Anschluss an Foucaults Analysen, u. a. Hilmar Kallweit: Zur anthropologischen Wende in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – aus der Sicht des ‚Archäologen‘ Michel Foucault. sowie Peter Hans Reil: Die Historisierung von Natur und Mensch. Der Zusammenhang von Naturwissenschaften und historischem Denken im Entstehungsprozeß der modernen Naturwissenschaften. Beide in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.). Geschichtsdiskurs, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1994, S. 17–47 bzw. S. 48–61. Für die systematischen Fragen einer „Historischen Anthropologie“ vgl. die Überlegungen im Anschluss an Marx in Kap. III.
Kapitel 3
Bildung und die „Bestimmung des Menschen“
Die „Bestimmung des Menschen“ wird in der einschlägigen Reflexion um 1800 die Formel, mit der man die spezifische „Natur“ des Menschen zu klären sucht. Diese Natur wird zwar nicht mehr in der Theologie gesucht, sondern innerweltlich, aber nicht nur empirisch, sondern auch philosophisch aufgefasst und über den Begriff der Bildung des Subjekts und über Freiheit, Sittlichkeit und Vernunft definiert. Die Bestimmungsversuche sind dabei zunächst sehr konsensual1: Der Mensch sei „sein eigener letzter Zweck“, so beginnt die Vorrede zu Kants Anthropologie; er sei „selbst der letzte Grund seiner Bestimmungen“, definiert Fichte in seinem Versuch, die „Bestimmung des Menschen“ (1800) zu klären. Die „Idee der Freiheit als absoluter Endzweck“ gilt wiederum Hegel als die Antwort, die er in der „Philosophie der Geschichte“ gibt. Herders klassische Formel vom Menschen als dem „ersten Freigelassenen der Schöpfung“2 steht in ihrer primären Orientierung an Freiheit also nicht allein. Das gilt auch für die Verbindung dieser basalen anthropologischen Bestimmungsstücke mit dem Hinweis auf Erziehung, auf Erziehungsbedürftigkeit und den Begriff der Bildung. Gelegentlich wird die Frage nach der Bestimmung des Menschen durch den Verweis auf Bildung selbst beantwortet: Wilhelm von Humboldt z. B. definiert in seinem Fragment über „Bildung“ deren Status und Funktion selbst als die Bestimmung des Menschen. Bildung wird von ihm „als letzte Aufgabe unsres Daseyns“ bestimmt, der es darum gehe, „dem Begrif der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich zu verschaffen“.3
1Die hier zitierten Bestimmungsstücke referiert Garwe: Bestimmung des Menschen, 1971, Sp. 856 f., für Herder nennt er nur „Humanität“. 2Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). In: Herder-Werke Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 145/146. 3Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 234–240, zit. S. 235.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_3
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3 Bildung und die „Bestimmung des Menschen“
Die Reflexion über die Bestimmung des Menschen, das sollte man insgesamt aber auch beachten, gilt in diesen Überlegungen der Gattung und der „Höherbildung der Menschheit“ sowie dem Individuum und seiner Vervollkommnung gleichermaßen. Die klassische Philosophie und die dort verankerte Bildungstheorie4 erhalten erst in dieser Einheit ihre Themen. Auch die leitenden bildungstheoretischen Prämissen und die implizierten Ziele – des Fortschritts der Gattung, der Aufklärung des Menschen auf dem Weg zu Moralität und Vernunft, Zivilisierung und Mündigkeit – werden hier umfassend als Anspruch der Bildung in der Welt und für den Menschen formuliert. Zugleich wird die Rolle der Erziehung in diesem Reflexionskontext so emphatisch besetzt, wie sie dann tradiert wird, nämlich als Praxis der Ermöglichung der zukünftigen und erwünschten Wirklichkeit von Mensch und Welt.5 Das findet sich sogar in der starken These, dass der Mensch nur Mensch wird durch Erziehung, wie man von Kant bis in die französische Philosophie seiner Zeit übereinstimmend sagt, weil erst sie ihn zu seiner Bestimmung führen kann und muss. Aber das ist keine Annahme mehr, die alle Bildungstheoretiker im Konsens teilen, so wenig wie die Prämisse, dass der Mensch erst – und allein – durch Erziehung zu seiner Bestimmung findet. Solche Behauptungen führen eher zu Versuchen, die richtige und legitime, manchmal auch die ‚höhere‘ Form von Erziehung zu bestimmen, die der Bildung angemessen ist, andere Formen von Erziehung aber davon abzugrenzen. Die Differenzen in den Antworten jenseits des basalen Konsenses in der Zuschreibung von Freiheit als specimen humanum sind also für die Form von Bildung und das Aufwachsen in Gesellschaft kontinuierlich von Bedeutung. Solche Differenzen zeigen sich schon, wenn man bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen einer der klassisch gewordenen, bis heute immer wieder zitierten Antworten nachgeht. Es ist der Theologe, Philosoph und Pädagoge Johann Gottfried Herder, der mit der Formel vom „ersten Freigelassenen der Schöpfung“ die neue Anthropologie und sein Bild des Menschen auf den populär werdenden Begriff bringt. In der Verbindung von Bildung und Humanität präzisiert er zugleich mit der Bestimmung des Menschen das zentrale Bildungsideal. Herder argumentiert dabei nicht etwa pädagogisch, sondern anthropologisch, mit Annahmen über die Natur und die Formen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten ihrer Kultivierung. Man erkennt in seinen Texten die methodisch differenten Dimensionen in den Versuchen zur „Bestimmung des Menschen“, wenn sie auch bei Herder nicht so präzise unterschieden werden wie bei Kant (der bekanntlich insgesamt mit der methodisch-theoretischen Klarheit
4Eine
knappe Zusammenfassung der einschlägigen Versuche bei Benner/Brüggen: Bildsamkeit/ Bildung. 2004, S. 174–215. 5Von diesem Aspekt aus argumentiert systematisch und u. a. im Blick auf „sakralisierte Möglichkeitsräume“ für die „neuzeitliche Pädagogik“, aber vor dem Hintergrund der Geistesgeschichte seit der Antike jetzt Alfred Schäfer: Die Erfindung des Pädagogischen. Paderborn (usw.) 2009, bes. 231 ff.
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von Herders Überlegungen nicht sehr zufrieden war6). Kant hatte die „physiologische“, also naturwissenschaftliche, wie man heute vielleicht sagen darf, von der „pragmatischen“ Anthropologie unterschieden, die „Kenntnis des Menschen“ deshalb auch in zwei differenten „Hinsichten“7 konzipiert: „Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht oder machen kann und soll.“ Herder akzeptiert wahrscheinlich solche Unterscheidungen, ohne sie durchgehend präzise zu handhaben. Er ist aber immer geneigt, naturwissenschaftliche oder naturgeschichtliche Befunde teleologisch zu deuten, als sei es die List und das Ziel der Natur und ihrer Geschichte, die philosophische Bestimmung des Menschen vorbereitet, ja erzwungen zu haben. Schon bei der Diskussion der Rolle von Bildung und Erziehung entwickelt er deshalb auch so eigene wie eigenartige Positionen. Herder teilt mit Kant zwar die Zuschreibung von „Bildsamkeit“ in der Bestimmung der Natur des Menschen,8 aber die Rolle der Erziehung wird in Differenz zum Prozess der Selbstkonstruktion, wofür bei ihm „Bildung“ steht, eigens und anders thematisiert. Die Differenz zu der kantischen, dort pädagogisch grundierten These – „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“9 – oder zur materialistischen Anthropologie, wie man sie in Frankreich finden kann,10 ist dabei auch nicht
6Kants kritische Rezension zu Herders „Ideen zur Philosophie …“ in, Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, S. 779–806. Gleich einleitend vermisst Kant „logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze“; dagegen dominiere „ein sich nicht lange verweilender viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauche derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen“, zit. S. 781 (A 17); insgesamt vermisst Kant klare Beweisführung, eine präzise Verbindung geschichtsphilosophischer Annahmen mit naturwissenschaftlichen Befunden, generell erwartet er mehr Erklärungen statt Vermutungen. Zur Kontextualisierung und Systematizität dieser scharfen Konfliktlage zwischen Kant und Herder die ausführliche Analyse bei Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild. Berlin 2015, S. 863–881. 7Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798, 21800) Hrsg. von R. Brandt, Hamburg 2000, Vorrede, zit. S. 3. 8Kant bestimmt den „Menschen im System der lebenden Natur seiner Klasse“ nach dadurch, „daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinem von ihm selbst genommenen Zweck zu perfektionieren; wodurch er als mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann;“ (Kant, Anthropologie, 2. Teil, E. der Charakter der Gattung, ebd., zit. S. 257, Herv. im Original, dort gesperrt). 9Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803). In: Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, S. 699 (A 8). 10Man vgl. z. B. Paul Thiry d’ Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt (1770). Berlin 1960 oder Claude Adrienne Helvétius: Vom Menschen, seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Erziehung. (1772) Frankfurt a. M. 1972, der den Nachweis versucht, dass der „Mensch wirklich nur das Produkt seiner Erziehung ist“ (S. 37).
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belanglos. Im Kontext bis heute aktueller Theoriekontroversen könnte man sagen, dass zwar „Bildsamkeit“ dem Menschen universell zugeschrieben wird, auch der Zwang, sich durch Lernen seiner Umwelt anpassen und mit ihr auseinandersetzen zu müssen, dass aber „Erziehungsbedürftigkeit“11, gar die Angewiesenheit auf professionelle und öffentlich organisierte Erziehung im Prozess der Bildung sich anthropologisch nicht von selbst verstehen. Notwendiger und konsensualer Bestandteil der Gesamtheit des anthropologischen Diskurses des ausgehenden 18. Jahrhunderts12 ist die These von der „Erziehungsbedürftigkeit“ jedenfalls nicht. Der Mensch, so beginnt Herder (wie andere Autoren auch13) bei seinen weiteren Bestimmungsversuchen mit vergleichenden Überlegungen zwischen Mensch und Tier, sei im Vergleich zum Tier instinktungesichert und triebgeschwächt und bedürfe aus diesem Grund der Bildung. Das sei sein spezifischer Modus des Weltzugangs, denn zugleich sei er weltoffen und dadurch besonders lernfähig. Seine Natur sei die Fähigkeit zur Bildung seiner selbst. Jedem Menschen wird insofern bereits aufgrund seines Menschseins neben der Freiheit auch Bildsamkeit – perfectibilité – zugesprochen. Bildsamkeit, so Herder, sei sowohl möglich als auch notwendig, weil der Mensch als Ersatz für die Instinkte des Tieres über Vernunft verfüge. Sie sei jedoch nicht eine einzelne Kraft, die im Prozess der Bildung zur Natur hinzukommt,14 der Mensch sei vielmehr von Beginn an Vernunftwesen: „Ist nämlich Vernunft keine abgeteilte, einzelwürkende Kraft, sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muss der Mensch sie im ersten Zustand haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem Insekt, daß es Insekt war“.15 Der Begriff der Vernunft wiederum wird von Herder als „Vernommenes“ und alternativ als „Besonnenheit“ beschrieben, der Mensch,
11Für
die Kritik der häufig zu laxen Redeweise bei diesem Thema und für die notwendigen begrifflichen Unterscheidungen vgl. Wolfgang Brezinka: Erziehungsbedürftigkeit. In: W. B.: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel 1974, S. 156–218. 12Eine knappe, aber instruktive Übersicht über den anthropologisch-pädagogischen Diskurs gibt Christa Kersting: Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim 1992, bes. S. 115 ff. bzw. S. 229 ff. für die Überlegungen zur „Bestimmung des Menschen“ im Philanthropinismus; für die europäische sensualistische, organologische und mechanistische Diskussion insgesamt Hans Rüdiger Müller: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg 1997, dort auch ausführlich zu Herders organologischem Denken; zur Kritik seiner geschichtsphilosophischen Denkweise und seines Vernunftbegriffs auch Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015, zu Herder S. 83–118. 13Kant gibt dem die schöne These: „Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um.“ (Kant, Pädagogik, ebd., S. 697). 14So könnte man wieder Kant lesen, der zwischen „Vernunftfähigkeit“ als Naturausstattung und Vernunft als erworbene Dimension unterscheidet (s. o. Anm. 29). 15Herder (1770/1772): Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart 1966, S. 29.
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heißt das für ihn, ist von Natur aus nicht nur bildsam, sondern auch reflexionsfähig.16 Allerdings bedeutet Vernunftfähigkeit und -gebrauch keineswegs, dass Emotionalität abgewertet oder bedeutungslos sei. Die Ganzheit der menschlichen Seelenkräfte soll besonnen, demnach vernünftig sein und dem Individuum gemäß gebildet werden. Der Mensch ist nicht das kalte animal rationale, als das er gelegentlich unter Berufung auf die (wie immer definierte) Ganzheitlichkeit seiner wahren Natur kritisiert wird, sondern er ist von Denk-, Urteils- und Reflexionsfähigkeit zugleich bestimmt, auch hinsichtlich seiner Leidenschaften, Bedürfnisse und Gefühle. Herders Maxime für die Selbstbildung ist deshalb eindeutig und klar: „Kurz, folge der Natur! Sei kein Polype ohne Kopf und keine Steinbuste ohne Herz: laß den Strom deines Lebens frisch in deiner Brust schlagen, aber auch zum feinen Mark deines Verstandes hinaufgeläutert, und da Lebensgeist werden.“17 Die Konsequenz für den Lebenslauf ist ebenfalls eindeutig: Die Bestimmung des Menschen ist es, zu lernen und sich zu bilden: „Der Mensch muss am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigenerlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt“.18 Die Stärke des Menschen, so deutet Herder diese Situation, liegt also gerade in seinen Schwächen, da er noch nicht festgelegt und aufgrund seiner Konstitution gezwungen ist, sich selbst zu bestimmen. Herder interpretiert diese Schwäche sogar, quasi kausal, als Voraussetzung der Spezifik des Menschen: „Eben deswegen … damit“, so unterstellt er in seinem Argument, wenn er diesen Aspekt der Natur des Menschen hervorhebt: „Eben deswegen kommt der Mensch so schwach, so dürftig, so verlassen von dem Unterricht der Natur, so ganz ohne Fertigkeiten und Talente auf die Welt, wie kein Tier, damit er, wie kein Tier, eine Erziehung genieße und das menschliche Geschlecht, wie kein Tiergeschlecht, ein innigverbundnes Ganze werde!“19 Die Notwendigkeit zur Selbstbestimmung wird mit der Freiheit, die ausschließlich dem Menschen eigen ist, verbunden und zugleich begründet. Von daher sucht sich der Mensch eine, seine Welt, die er sich selbstständig aneignet, nicht zuletzt, indem er sich eine „Sphäre der Bespiegelung“20 sucht, die es ihm erlaubt, auch die Welt und sich selbst in der Welt „zu bespiegeln“: „Da er auf keinen Punkt blind fällt und liegen bleibt, so wird er freistehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur,
16Herder
(1772) 1966, S. 31. Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. 1774–1778. In: HerderSchriften, Hrsg. Bollacher/Brummack, Bd. 4, S. 327–393, zit. S. 362. 18Herder 1989a, S. 153. 19Herder (1772) Sprache, 1966, S. 97, Herv. H.-E.T. 20Die Argumentation mit dem „Spiegel“ als Welt der Selbstbildung in der Spiegelung des Selbst und im Anderen gewinnt ja in der weiteren Geschichte des Themas der Menschwerdung des Menschen ihre eigene Stabilität, vgl. u. a. Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel – Subjektivität zwischen Natur und Kultur. In: O. Güntürkün/J. Hacker (Hrsg.): Geist – Gehirn – Genom – Gesellschaft. Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Halle/Stuttgart 2014, S. 109–122. 17Herder:
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wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung“.21 Das anthropologische Konstrukt, dass den Menschen als frei und selbstbestimmt, als selbstentscheidend und autonom, als Prozess und Ziel von Bildung begreift, kumuliert dann im berühmten Diktum: „Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm, er kann forschen, er soll wählen“.22 Diese Freiheit birgt aber auch ihre Risiken, als Preis der Freiheit, wie man lesen kann: „Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden: er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen.“23 Dennoch bleibt er ein „Freigeborener“. Herder denkt die Bildung des Menschen nicht – erstaunlicher Weise – vom Ergebnis her, sondern vom Ausgangspunkt und Prozess aus: „So ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner: wenn noch nicht vernünftig, so doch einer besseren Vernunft fähig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar“.24 Diese humane Emphase unterscheidet sich wieder von der Nüchternheit, mit der Kant das Problem des Bösen behandelt. Zunächst unterscheidet er dafür das Individuum und die Gattung, sieht dort die alltäglichen Verirrungen, hier erst die Erwartung als legitim, dass Moralität und Sittlichkeit sich durchsetzen. Vor allem unterscheidet Kant drei Ebenen der „Anlage“, eine „technische“ – bezogen auf die „Handhabung der Sachen“ –, eine „pragmatische“ – hier zeigt der Mensch die Fähigkeit „andere Menschen zu seinen Absichten geschickt zu brauchen“ – und schließlich erst „die moralische Anlage in seinem Wesen“. Erst auf der Basis dieser dritten Anlage, so argumentiert Kant, sei der Mensch fähig, „nach dem Freiheitsprinzip unter Gesetzen gegen sich und andere zu handeln“.25 Erst auf der dritten Stufe ist daher auch die Frage angebracht, ob „der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines oder das andere empfänglich sei“26 – und für den intelligiblen Charakter des Menschen, die moralische „Person“, und für die Gattung, anders als für konkrete Individuen, ist die Frage nur zum Guten hin zu beantworten.27 Die Besonderheit der Lern- und Bildungsfähigkeit des Menschen wird dennoch nicht nur durch die Lernprämisse seiner Natur, die Bildsamkeit, und durch 21Herder
(1772) Sprache, 1966, S. 26. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784). In: Herder-Werke Bd. 6, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 145/146. 23Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, (1784) 1989, S. 146. 24Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte, (1784) 1989, S. 147. 25Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 258. 26Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 260, Herv. im Original, dort unterstrichen. 27Kant, Anthropologie, ebd., zit. S. 261, denn die Person sehe „sich … selbst mitten in den dunkelsten Vorstellungen unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm oder durch ihn anderen recht oder unrecht geschehe“, und „vom Charakter der Gattung“ müsse man sowieso sagen, „daß dieser ihre Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum besseren bestehe“ (zit. S. 261). 22Herder:
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„Gefühl (welches dann das moralische heißt)“ bestimmt, sondern auch durch die zweite Prämisse, seine Soziabilität und Sozialität. Der Mensch ist für Herder ein Wesen der Gesellschaft, ein geselliges Wesen, Teil der Gattung. Auch das erinnert an Kant28, denn Kant sah u. a. in der „ungeselligen Geselligkeit“, d. h. in der „Neigung, sich zu vergesellschaften“, ebenfalls einen Mechanismus der Bildung, nämlich „das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“.29 Bei Herder entstehen daraus Annahmen über die Gattung: Nicht nur der Einzelne bildet sich, sondern mit ihm die gesamte Menschheit, die über Tradition, Sprache und Geschichte miteinander verbunden ist. Lernen aus tradierten Erfahrungen zeichnet die Gattung Mensch aus. Der Mensch ist also lernfähig (und d. h. auch, gleichzeitig lernbedürftig und erziehbar). „Warum hängt dieser Unmündige so schwach und unwissend an den Brüsten seiner Mutter, an den Knien seines Vaters? Damit er lehrbegierig sei und Sprache lerne. Er ist schwach, damit sein Geschlecht stark werde. Nun teilt sich ihm mit der Sprache die ganze Seele, die ganze Denkart seiner Erzeuger mit, aber ebendeswegen teilen sie es ihm gerne mit, weil es ihr Selbstgedachtes, Selbsterfundenes ist, was sie mitteilen“.30 Kant sieht das Problem wieder nüchterner und allgemeiner: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaft zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren“, und zwar durchaus mit Mühe, gegen seine noch nicht disziplinierte Natur; denn er tut es, „wie groß auch sein tierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit der Natur anhängen, sich der Menschheit würdig zu machen.“31 Man sieht die Anstrengung, die Bildung und Zivilisierung fordern, und erkennt, dass sie auch scheitern können, jedenfalls gilt: „Der Mensch muß also zum Guten erzogen werden“ (wobei Kant das Problem schon sieht, dass der Erzieher selbst erzogen sein muss32). Herders
28Trotz
der unverkennbaren Differenzen in der Auffassung der „Philosophie der Geschichte der Menschheit“, die gegenüber Herder bestehen, vgl. Immanuel Kant: Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 9, S. 31–50 (A 385–411), hier, 4. Satz, S. 37 (A 392). 29Immanuel Kant: Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. ebd., Bd. 9, hier, 4. Satz, S. 37 (A 392). 30Herder (1772) 1966, S. 98. 31Kant, Anthropologie, zit. S. 261. Herv. im Original, dort unterstrichen. 32Kant, Anthropologie, S. 261: „der aber, welcher ihn erziehen soll, ist wieder ein Mensch, der noch in der Rohigkeit der Natur liegt und nun doch dasjenige bewirken soll, was er selbst bedarf.“ – und die „Auflösung dieses Problems und die Hindernisse derselben“ (ebd.) kann er auch nur empirisch, vom Fortschritt der Gattung erhoffen, von der „Vorsehung“, die „rauh und strenge“ erziehe (vgl. S. 266). Generell gilt aber: Marx hat (in der 3. Feuerbachthese) das Problem also nicht als Erster gesehen, dass der „Erzieher selbst erzogen werden muß“ und daher der Fortschritt zum Besseren über Bildung und Erziehung nicht einfach zu erreichen oder zu prognostizieren ist.
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Annahme klingt sehr viel edler. Er unterstellt, dass sich in diesem Prozess zugleich sein Bildungsziel, die Humanität, wie von selbst realisiert. Seine Orientierung am Schönen, Wahren und Guten, wie er Humanität übersetzt, und seine Deutung von Bildung ist aber keineswegs nur für ihn charakteristisch oder etwa nur innerhalb der deutschen Bildungsreflexion zu finden. Man erkennt die klassischen Vorgaben der Antike, aber auch die gesamteuropäische Bildungsdiskussion seit der Renaissance und ihre Reflexionen über Individualität. Insbesondere Shaftesbury hat in Bezug auf die englische Adelserziehung in dieser Tradition ein Bildungsideal entworfen, das als einer der Vorläufer des deutschen Bildungsverständnisses gelten kann, die „englische Virtuosen-Ausbildung“,33 die dann später vom Leitbild der „Politeness“ verfeinert und abgelöst wird.34 Schon der „Virtuoso“ gilt hier als das „Urbild gelungener Menschlichkeit“, dessen zentrale Aufgabe in der „Pflege der eigenen Seelengestalt“ liegt, mit dem Ziel einen „in sich harmonischen Lebensstil auszubilden“. Die englische G entleman-Erziehung fließt in dieses Bildungsideal ebenso ein wie eine ästhetische Orientierung am Schönen und Guten und am Gedanken der Selbstgestaltung und Reflexion. Der Gebildete bei Shaftesbury hat, gut rousseauistisch, „Innen und Außen in Übereinstimmung gebracht“.35 Er zeichnet sich durch eine innere Qualität der Seele aus, die sich außen, als das Schöne zeigt und das Gegenteil, den äußeren oberflächlichen Schein, vermeidet. Allerdings, Shaftesburys Plädoyer hat schon einen apologetischen Grundzug. Gegen die bei seinen Zeitgenossen bereits dominierende Kritik an den überhöhten Annahmen dieses Bildungsideals muss er sich offenbar schon verteidigen, jedenfalls versucht er noch einmal reflexiv zu rechtfertigen, was seine Selbstverständlichkeit längst verloren hatte. Der Prozess der Selbstgestaltung wird dafür sein Argument, die Idee des Schönen und Guten die Referenz. Dieses auch ästhetisch orientierte humanistische Bildungsideal kommt in England ebenso vor wie in Frankreich oder in Deutschland. Schiller z. B. wird im Begriff der „Schönen Seele“ in Fortsetzung der cultura animi-Tradition ein Bildungsziel betonen, in dem sich der Einzelne innerlich in seinem Fühlen, Denken und Handeln harmonisch und humanistisch zeigt. Die Idee der moralischen Bildung, die durch Selbstgestaltung, innere harmonische Formgebung und die Konstruktion einer Gesamtstruktur den Gebildeten auszeichnet, ist im 18.
33Für
diese Shaftesbury-Rezeption Johannes Bilstein: Bildung: Über einen altehrwürdigen Grundbegriff und seinen anhaltenden Charme. In: Bildung und Erziehung 57 (2004)4, S. 415– 431, zit. S. 422 f., dort auch die folgenden Zitate. Bilstein bezieht sich im Wesentlichen auf Antony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury: An Inquiry Concerning Virtue and Merit (1699; dt.: Untersuchung über die Tugend.) In: Shaftesbury, A.: Der gesellige Enthusiast. Hrsg. v. K.-H. Schwabe, München 1990. 34Horlacher, Bildung, 2011, S. 23 ff. 35„Werfen wir nur einen Blick auf die heitere Ruhe, die Glückseligkeit und Sicherheit eines bescheidenen und stillen Geistes, der völlig über sich selbst Herr ist, in jeden Stand paßt, sich in alle nur irgend erträgliche Umstände schicken kann, so werden wir einen solchen Charakter gewiß äußerst liebenswürdig und einnehmend finden.“ (Shaftesbury [1699]1990, S. 308).
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Jahrhundert also auch eine gesamteuropäische Erscheinung und keine exklusive deutsche Besonderheit. Sie ist allerdings auch schon früh als das idealistische, sich auf die Innerlichkeit zurückziehende Bild des Menschen problematisiert, wie man diese Bestimmung des Menschen später kritisieren wird. Das Ziel von Bildung ist in diesen frühen Texten der Bestimmung des Menschen entsprechend, zumal bei Herder, aber nicht allein ästhetisch, sondern noch dreifach definiert36: Aus einer individuellen Perspektive handelt es sich, erstens, um Selbsterkenntnis und Selbstreferenz im Prozess, zweitens, um die Erwartung „Werde der du bist“. Die individuellen Möglichkeiten des Einzelnen sollen ausgeschöpft werden und zugleich soll das allgemein Menschliche, z. B. selbstständig zu fühlen, wahrzunehmen und zu denken, im Bildungsprozess realisiert werden. Ein drittes allgemeines Ziel ist die Verwirklichung von Humanität durch Bildung. Dies gelingt dem Einzelnen oder der einzelnen Gesellschaft oder auch der einzelnen Epoche, das sagen Herder wie Kant, nur bedingt, niemals vollkommen. Es handelt sich um einen unabschließbaren Prozess und eine nicht endende Aufgabe der Menschheit. „Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unsres Bestrebens, die Summe unserer Übungen, unser Wert sein: denn eine Angelität37 im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert kein humaner Dämon ist, werden wir Plagegeister der Menschen. Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität.“38 Pointiert auf die Funktion von Bildung für die Verwirklichung von Humanität fügt er hinzu: „Die Bildung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken, höhere und niedere Stände zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück.“39 Die erhoffte Wirkung der neuen Praxis wird im Ideal des „Gebildeten“ formuliert, den Herder schon in seinem ersten pädagogischen Entwurf, dem „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, emphatisch beschreibt, und zwar schlicht als „Menschen“: „Welch ein großes Thema, zu zeigen, daß man, um zu sein, was man sein soll, weder Jude, noch Araber, noch Grieche, noch Wilder, noch Märtyrer, noch Wallfahrter sein müsse; sondern eben der aufgeklärte, gebildete Tugendhafte, genießende Mensch, den Gott auf der Stufe unsrer Kultur fordert“.40 Der Gebildete ist ein humaner Kosmopolit, der seine Seelenkräfte und sich selbst gemäß dieser Prämissen gebildet hat und mit diesen besonderen Fähigkeiten
36Hier und bis zum Ende des Abschnitts argumentiere ich, auch z. T. wörtlich, angelehnt an Nicole Welter: Herders Bildungsphilosophie. St. Augustin 2003 – und danke ihr für die Erlaubnis der Paraphrase. 37Sic, von angelus, der Engel abgeleitet, H.-E.T., mit der wohl zutreffenden Annahme, dass Menschen keine Engel sind. 38Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (1793/1797). In: Herder Werke, Bd. 7, Frankfurt 1991, zit. S. 148. 39Ebd., Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität (1793/1797). 40Herder, Journal, 1989b, S. 30, vgl. auch Welter 2003, 406 ff.
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an der Welt partizipiert. Humanität ist das Leitideal, das den Bildungsprozess begleitet, die innere Struktur des Fühlens, Handelns und Denkens in Übereinstimmung mit sich selbst bestimmt und zum Ziel der Menschheit als ewige Aufgabe definiert wird. Die „Bestimmung des Menschen“ bleibt bei diesen Überlegungen die grundlegende Referenz, „Freiheit“ wird die überwölbende Annahme für diese Bestimmung, Bildung die zentrale Formel, um auszudrücken, dass sich die Bestimmung nicht von Natur aus artikuliert oder in Natur schon präsent ist, sondern erst in der Konstruktion der zweiten Natur zu ihrer Gestalt findet. Schwierig für die Diskussion des Bildungsthemas wird es allerdings, dass die Referenz auf den Menschen in diesen frühen Texten sowohl den je historischen, einzelnen, konkreten Menschen meint als auch die Gattung.41 Auch Annahmen über die Teleologie und das Ziel des Prozesses und über den Fortschritt, den man erwartet, werden in dieser zweifachen Referenz zugeschrieben und diskutiert. Herder benennt ausdrücklich die Differenzen, mit denen man für den Einzelnen oder die Menschengattung zu rechnen hat; Kant erwartet den Fortschritt in einem systematischen Sinne nur für die Gattung. Die historisch präsente, im Ursprung ausgeprägte Rede über Bildung führt auch deshalb in der Rezeption bis heute die Komplikation mit sich, dass die Referenz für Bildung nicht eindeutig definiert ist, schon gar nicht, wenn von „Höherbildung“ die Rede ist. Wenn man bei Pestalozzi lesen kann, der Mensch sei „das Werk seiner Natur, seines Geschlechts und seiner Selbst“, dann sind die Referenzen des Bildungsprozesses eindeutig: Natur, Gesellschaft (denn das meint hier ‚Geschlecht‘) und die je individuelle Praxis. In der Rede von der „Bestimmung des Menschen“ erweist sich, dass der Bildungsbegriff im Ursprung nicht nur diese Referenz auf das Subjekt hat, sondern – und als Quelle unklarer Zuschreibungen – immer auch auf die Gattung und ihre Geschichte. Die Gesellschaftlichkeit des Aufwachsens und der Selbstbildung sowie die historische Funktion und Gestalt von Bildung und Erziehung sind damit schließlich noch gar nicht benannt. Hegel nähert sich diesen konkreten Problemen, vor allem in der Rechtsphilosophie (aber z. B. auch in seinen Schulreden), wenn er die gesellschaftliche Konstruktion des Menschen zum Thema macht. „Bildung“ wird hier das Medium, das den Menschen zur „Person“ macht, d. h. zum rechtsfähigen und für sich selbst verantwortlichen, weil zurechnungsfähigen Subjekt, zu einer Person, in der die Spannung von Individualisierung und Vergesellschaftung aufgehoben ist: „Der Mensch ist selbst frei, überhaupt im Besitze seiner selbst, nur
41Kant
unterscheidet in der Regel ebenfalls in dieser Dualisierung von Mensch und Gattung, gliedert aber die Überlegungen in der Anthropologie (2. Teil) in fünffacher Referenz und verdeutlicht damit die Komplikationen, die sich in empirischer Behandlung des Themas stellen. Müsste man dann doch die folgenden Dimensionen berücksichtigen: „A. Der Charakter der Person“, „B. Der Charakter des Geschlechts“, also die Differenzen zwischen Mann und Frau, „C. Der Charakters des Volks“, „D. Der Charakter der Rasse“, sowie „E. Der Charakter der Gattung“.
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durch Bildung.“42 Das gehört in den Kontext der Versuche, auch die gesellschaftliche Bestimmung des Menschen – jetzt sozialphilosophisch, nicht mehr theologisch oder prinzipientheoretisch – zu begründen, noch immer allerdings in der Nutzung der Differenz von erster Natur, d. h. „unmittelbarer Existenz“, und zweiter, durch Bildung gezähmter Natur: „Der Mensch ist nach der unmittelbaren Existenz an ihm selbst ein natürliches, seinem Begriffe Äußeres; erst durch die Ausbildung seines eigenen Körpers und Geistes, wesentlich dadurch, daß sein Selbstbewußtsein sich als freies erfaßt, nimmt er sich in Besitz und wird das Eigentum seiner selbst und gegen andere.“43 Bildung ist für Hegel also der Prozess, „die Form der Sache zu erhalten“, sich selbst als „Eigentum“ behandeln zu können, d. h. in einem gesellschaftlichen Sinne dem „Begriff des Menschen“ zu entsprechen, nicht „bloße Subjektivität“ zu sein: „Das Vernünftige des Eigentums liegt nicht in der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern darin, daß sich die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt. Erst im Eigentum ist die Person als Vernunft.“44 Schon um Differenzen zu markieren, auch in einem rechtlichen Sinne und um z. B. das Unrecht der Sklaverei zu markieren, müsse man deshalb aber gleichzeitig auch „am Begriffe des Menschen als Geistes“ festhalten. Dieser „Begriff des Menschen“ formuliert die Gattungsspezifik, „des an sich freien, … daß sie den Menschen als von Natur frei, … als das wahre nimmt.“45 Das specimen humanum ist nämlich „in eben diesem Begriffe, nur durch sich selbst und als unendliche Rückkehr in sich aus der natürlichen Unmittelbarkeit seines Daseins das zu sein, was er ist.“46 In dieser Perspektive liegt auch die für die – jetzt gesellschaftliche – Bestimmung des Menschen wesentliche Differenz, hier „liegt die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen dem, was er nur an sich und nicht auch für sich ist (§ 57), sowie umgekehrt zwischen dem, was er nur für sich, nicht aber an sich ist.“47 Bei diesem Begriff des Menschen, der erst durch Vergesellschaftung zum Individuum geworden ist, gibt es auch verfehlte Bildung, die sich z. B. im Grad der erreichten oder verfehlten Selbstreflexivität darstellt. Als „Beispiele von Entäußerung der Persönlichkeit“, also der Verfehlung der Ansprüche, nennt Hegel konkret „die Sklaverei, Leibeigenschaft, Unfähigkeit Eigentum zu besitzen, die Unfreiheit desselben usf., Entäußerung der intellektuellen Vernünftigkeit, Moralität, Sittlichkeit,
42Hegel,
Grundlinien der Philosophie des Rechts (RPh, 1821), 57 N, Herv. dort (Hrsg. von Reichelt, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972, S. 335). Vgl. für den Begriff der „zweiten Natur“ und für Hegel auch unten Kap. 13. Zu Hegels Bildungstheorie im Blick auf den Begriff der Person jetzt v. a. Osterloh, 2015. 43Hegel, RhP, § 57, 1972, S. 65, Herv. dort. 44Vgl. auch Hegel, RPh, Zusatz 1 zu § 41, zit. 1972, S. 54. 45Hegel, RhP, § 41, 1972, S. 65–66. 46Hegel, RPh, § 66, 1972, zit. S 73, Herv. dort. 47Hegel, RPh, § 66, 1972, zit. S. 73, auch für das folgende Zitat; Herv. jeweils dort, Verweis auf § 57 im Text.
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3 Bildung und die „Bestimmung des Menschen“
Religion kommt vor/im Aberglauben, in der anderen eingeräumten Vollmacht, mir … zu bestimmen und vorzuschreiben“.48 In der Diskussion über die Bestimmung des Menschen und die Rolle, die dabei der Bildung zukommt, ist also jenseits des Konsenses – in der Zuschreibung von Bildsamkeit und Freiheit, Sozialität und Lernfähigkeit, wie Herder sie exemplarisch formulieren und Kant wie Hegel49 bekräftigen – die Tatsache von Bedeutung, dass es unterschiedliche Referenzen sind, mit denen die Frage nach der zweiten Natur des Menschen und dem Ziel der Bildung eingelöst wird: Humanität, das Ästhetische, die Vernunft, der Status als rechtsfähige Person. Die Vielfalt der Referenzen für die Bestimmung des Menschen wird vom Begriff der Bildung selbst nicht reduziert, sondern nur reproduziert. Er transportiert in der ungeklärt-gleichzeitigen Referenz auf das Individuum oder die Gattung, die Menschheit und die Geschichte des Geistes nur die klärungsbedürftige Frage, wie diese Bestimmungen denn nebeneinander bestehen können, unversöhnt, es sei denn man schließt sich einem der Autoren zu Lasten der anderen an. Je für sich mögen das – in der historischen Konstellation und für die je einzelnen Autoren – distinkte theoretische und philosophische Kontexte sein, ihre Präzision haben sie nicht durch den Begriff der Bildung; denn der ist in zu vielen Kontexten in heterogener Bestimmung in Gebrauch. Auch in der „Anthropologie“, wenn man darunter die Klärung der „Bestimmung des Menschen“ erwartet, hat Bildung nur autorspezifisch Eindeutigkeit gewonnen, jedenfalls nicht insgesamt, schon gar nicht in der Ursprungsphase.
48„und
hierin die Möglichkeit der Entäußerung der Persönlichkeit und seines substantiellen Seins, diese Entäußerung geschehe auf eine bewußtlose oder ausdrückliche Weise.“ (ebd., S. 73). 49Für Hegel wird das noch einmal in jüngster Zeit diskutiert, vgl. Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn/München/ Wien/Zürich 2012 sowie Osterloh 2015.
Kapitel 4
„Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ Die Geschlechterfrage im Bildungsdiskurs
Bei aller Rede vom „Menschen“, man kann nicht übersehen, dass es in der Regel der männliche – und zunächst auch nur der christlich getaufte – Mensch ist, der hier thematisch wird, selbst bei Autoren, die mit dem Anspruch der „Allgemeinen Bildung“ sonst jede Rücksicht auf Differenzen, etwa der Herkunft oder von Stand, Beruf und Religion, mit scharfen Worten ausschließen.1 Aber die Unterscheidung nach den Geschlechtern ist im Ursprung der modernen bildungstheoretischen Reflexion kein Zufall oder singulär, sondern breit akzeptierte Tatsache. Die Polarität der Geschlechtscharaktere zählt zu den nahezu unbezweifelt geteilten Ausgangsprämissen der anthropologischen Reflexion des ausgehenden 18. Jahrhunderts, ungeachtet der Tatsache, dass in der „Querelle des femmes“2 solche Polarisierung schon seit langem problematisiert worden war. Dieser historische Kontext einer Differenz in der Geschlechterphilosophie bestätigt sich aber auch – bei aller Subtilität der Argumente, auf die man dann trifft – z. B. in den Schriften, die Wilhelm von Humboldt zum Thema beigesteuert hat, oder in den Texten der Philanthropen, also bei den innovativen Denkern der Zeit.
1Die Kritik an dieser geschlechterspezifischen Betrachtungsweise setzt zeitgleich mit der Karriere des Gender-Themas ein, vgl. z. B. Pia Schmid: Das Allgemeine, die Bildung und das Weib. In: H.-E.Tenorth (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Weinheim/München 1986, S. 202–214 sowie dies: Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800. In: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hrsg.). Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 327–345. 2Für diese im späten 14. Jahrhundert einsetzende Debatte Katharina Fietze: Frauenbildung in der „Querelle des Femmes“. In: Kleinau/Opitz, Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1, 1996, S. 237–251.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_4
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4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
Für Wilhelm von Humboldt3 hat die Frage nach dem „männlichen“ und dem „weiblichen Charakter“4 zentrale Bedeutung. Der „Unterschied der Geschlechter“ beschäftigt ihn intensiv, und er gibt dieser Frage eine durchaus eigenständige Antwort. Im Kontext der anthropologischen Debatte innerhalb der Bildungstheorie ist es wichtig zu sehen, dass Humboldts Aussagen über die Differenz sich einerseits in einer Reihe von Dualen präsentieren, dass er andererseits die Dualisierung selbst und damit die vermeintlich definitive „Spaltung des Gattungscharakters“5 nach männlich und weiblich nur als eine erste, vorläufige, für die gesamte Fragestellung nicht hinreichende Form der Unterscheidung erklärt. Die Duale, die man zunächst erhält, sind die bekannten und vielleicht auch die erwarteten: Der Mann (aber im Grunde die gesamte Dimension des Männlichen in der organischen Natur) wird über „Form“, „Formtrieb“ und „Selbsttätigkeit“, „zeugend“ und „Einwirkung“, auch über „Energie“ charakterisiert, die Frau über „Stoff“, „Sachtrieb“ und „empfangend“, „Empfänglichkeit“ und „Rückwirkung“ sowie „Ausdauer“.6 Das sieht zunächst aus, als sei die Frau vom Bildungsprozess ausgeschlossen, wenn ihr nicht einmal „Selbsttätigkeit“ zugestanden wird, aber die Dinge liegen verwickelter. Humboldt nimmt nämlich für den Prozess, in dem sich der Geschlechtscharakter bildet, an, dass beide Dimensionen erst in ihrem Zusammenwirken zur Wirkung beitragen, indem für beide, Mann wie Frau, „Geben und Nehmen“7 bedeutsam sind, so dass sich das Individuum und sein Geschlechtscharakter erst im „Widerstreit der Kräfte“8 bilden. Unabhängig vom differenten Geschlechtscharakter kennt Humboldt deshalb auch eine „allgemeine Natur“ des Menschen, die erst in der Einheit der Charaktere zu ihrer Gestalt kommt.9 Für Humboldt ist, dritte Ebene der Unterscheidungen, neben diesen gattungsspezifischen Argumenten nämlich wesentlich, dass die historischen Individuen nie als „reine“ Geschlechtscharaktere auftreten: „In der Erfahrung kommt immer der eigenthümliche Charakter des Individuums dazwischen, der den allgemeinen
3Die
relevanten Texte Humboldts sind: „Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluss auf die organische Natur“; „Über die männliche und weibliche Form“ (1795) sowie „Plan einer vergleichenden Anthropologie“, alle in: Humboldt, Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, Darmstadt 1964, S. 268–295; S. 296–336; S. 337–375. 4Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied …, zit. S. 286, S. 277 für das folgende Zitat. 5So nennt das im Kapitel über „Das Problem des Geschlechtsunterschieds“, den er also nicht ignoriert, Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909, S. 280 f. 6Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 277 f. 7Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 289. 8Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 281. 9Humboldt, Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 296, vgl. auch Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, S. 287: „Die höchste Einheit erfordert allemal zwei entgegengesetzte Richtungen.“ Die „Geschlechtscharaktere“ erscheinen insofern als „zwei wohltätige Gestalten … aus deren Händen die Natur ihre letzte Vollendung empfängt“ (ebd., Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 295).
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Geschlechtscharakter in demselben theils durch Einmischung fremder Züge entstellt, theils durch Mittheilung seiner eigenen zufälligen Schranken ihn hindert, seine höchste Vollendung zu erreichen.“10 Bezogen auf den Bildungsprozess bedeutet das nicht nur, dass der „Geschlechtscharakter“ immer als „Schranke“11 der Möglichkeiten erfahren wird, und zwar für Mann und Frau in vergleichbarer Weise, sondern auch, dass sich „die männliche und weibliche Bildung einander dadurch annähern, das in jeder dem besonderen Ausdruck des Geschlechts der allgemeine Ausdruck der Menschheit zur Seite steht.“ Insofern können auch der „Formtrieb“ und der „Sachtrieb“ nicht etwa den Geschlechtern exklusiv zugerechnet werden, sie „tauschen“ vielmehr „in freiem Spiel ihre gegenseitigen Funktionen aus“,12 wie Humboldt (mit ausdrücklichem Verweis auf den 1. und 2. der Briefe Schillers über die „ästhetische Erziehung“) erläutert. Betrachtet man vor diesem Hintergrund „nun die einzelnen Züge der Natur der Weiber in Vergleichung mit den Männern“,13 die Humboldt auch, pragmatisch orientiert und in empirischer Orientierung, resümiert,14 dann hat man solche Unterscheidungen in der Zurechnung deutlich zu sehen. Humboldts Anthropologie ist deshalb weit entfernt von einer schlichten Dichotomisierung der Geschlechtscharaktere. Er achtet vielmehr sorgfältig auf die Differenzen der Individuen und der Gattung im Blick auf den „Geschlechtscharakter“. Für den Prozess der Bildung nimmt er insofern auch an, dass er sich bei allen auf die gleichen Mechanismen, den „Bildungstrieb“15 (Blumenbach bleibt bedeutsam) und die „Wechselwirkung“ mit der Welt stützt. Bei allen Differenzen und Gemeinsamkeiten, die sich dann ergeben, kann Humboldt zugleich immer noch von einer „allgemeinen“, und insofern gleichen „Natur des Menschen“ reden. Materiale Konsequenzen für Bildungsprozesse, etwa der Teilhabe an institutionalisierter Bildung oder der Präferenz für bestimmte weibliche oder männliche Bildungsgüter oder je exklusive Lebensformen, zieht er überhaupt nicht, da herrscht Gleichheit zwischen den Geschlechtern. In Deutschland, z. B. auch bei den Philanthropen, entstehen aber auch Texte, die Bildungsprozesse insgesamt anders sehen, sie in folgenreicher geschlechterspezifischer Differenz bestimmen und die Bildungsperspektiven der
10Humboldt, 11Humboldt, 12Humboldt,
Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 297. Über die männliche und weibliche Form, zit. S. 318, S. 317 für das folgende Zitat.
Über die männliche und weibliche Form, zit. 316, für den Hinweis auf Schiller die Anm. 1, S. 316. 13Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, bes. S. 364 ff., zit. S. 364. 14Es sind in Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, S. 364 ff. dann die folgenden vier Aspekte, die er hervorhebt, immer in der graduellen Differenz, nie als Defizitzuschreibung: „1. ihren Körperbau …, 2. In Rücksicht auf ihre intellectuellen Fähigkeiten … 3. In Rücksicht auf den ästhetischen Charakter des Geschlechts … 4. In Rücksicht auf das Empfindungsvermögen und den Willen“. 15Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied, zit. S. 288, wo er dessen Zusammenwirken in „Verbindung … mit der rohen Natur“ beschreibt; S. 269 zit. für den folgenden Begriff.
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Frau von ihrer häuslich-mütterlichen Rolle aus definieren.16 Joachim Heinrich Campe schreibt Erziehungsratgeber, die den „Väterlichen Rat“ ausdrücklich nach Knaben und Mädchen sortieren. Der „Väterliche Rat für meine Tochter“, zuerst 1789, schließt dann zwar Bildungsprozesse nicht aus, sondern als Tatsache und Voraussetzung eines bürgerlichen Lebensstils ausdrücklich ein, aber doch in Differenz. Campe weist der Frau zuerst einen Platz in der Familie zu, als „Hausfrau, Gattin und Mutter“, ausgestattet mit bürgerlichen Tugenden; dagegen seien „Putzsucht, Intellektualität und Eitelkeit“ – in dieser schönen Verknüpfung – ihre größten Gefährdungen. Der bis heute im Kontext der Geschlechterphilosophie innerhalb der Bildungstheorie vor allem anstößige Text kommt allerdings mit Rousseaus Emile 1762 auf den Tisch. Im fünften Buch, zum Thema „Sophie oder die Frau“, wird die Bildungsgeschichte der Sophie in einer Weise konstruiert, die allen Kriterien radikal widerspricht, die Rousseau selbst für die Erziehung des Emile als eine Erziehung zum Menschen als einzig richtig vorgestellt hat. Sophie wächst nicht fern der verderbenden Gesellschaft auf, sondern im elterlichen Haus. In den dort erwarteten Verhaltensstandards und Kompetenzen findet sie, erzeugt im Spiegel der Öffentlichkeit und ihrer frauenspezifischen Normen ihre Identität. In ihrer gesellschaftlichen Rolle wird sie insofern auch allein von der Funktion aus gedacht, die sie als Frau und Mutter und für die Vollendung der Bildung des Emile hat; ihm soll sie gefallen, seine Begierde soll sie wecken und zugleich kanalisieren, für ihn soll sie erzogen werden. Bildung zum Menschen ist das nicht, wenn man zum Vergleich die Erziehung des Emile heranzieht, allenfalls Bildung zum Weibe. Die Rezeptionsgeschichte dieses Emile-Kapitels ist umweghaft und konfliktreich, in der näheren Gegenwart zunehmend von feministischen Positionen bestimmt und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen Status und Funktion von Rousseaus Argumenten zumindest historisiert werden,17 entsprechend meist scharf R ousseau-kritisch. Noch immer erscheint Rousseaus These über die Sophie in der Regel, kritisch oder entschuldigend attribuiert, als der „zeitbedingte Appendix“18 vormoderner Anschauungen in einem sonst modernen Text, nicht
16Knappe
Übersicht bei Hermann Weimer, neu bearb. von Juliane Jacobi: Geschichte der Pädagogik. 19. Völlig neu bearbeitete Aufl., Berlin/New York 1991, S. 124 ff., dort S. 124 f. die hier folgenden Zitate. 17Souverän geschieht das bei Claudia Opitz: Mein Feind Rousseau? Zur Bedeutung philosophisch-pädagogischer Klassiker in der historischen Geschlechterforschung. In: R. Casale/D. Tröhler/J. Oelkers (Hrsg.): Methoden und Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 64–90. Opitz stellt Rousseau nicht nur in den historischen Kontext, sie problematisiert auch die exegetische Fixierung auf den Klassiker Rousseau. 18So wird die Kritik an Rousseau kritisch qualifiziert bei Friederike Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin 2005 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 11), zur Sophie-Debatte bes. S. 12 ff., dort auch die hier gegebenen Zitate.
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selten auch nur als „misogyne Entgleisungen“ eines Mannes, der mit persönlichen „Idiosynkrasien“ zum „Stammvater weiblicher Unterdrückung im bürgerlichen Zeitalter avanciert“. Dennoch ist die Interpretation dieses Buches des Emile bis heute innerhalb der Bildungsgeschichte und -theorie nicht so einfach, wie sie nicht selten in der Kritik stilisiert und resümiert wird. Liest man den Text nicht feministisch, sondern im Blick auf die Spezifik der sozialen Interaktion, die den Abschluss der Bildung des Emile verdeutlichen und ermöglichen soll, funktional also innerhalb dieses Gedankenexperiments über Erziehung, das der Emile ja darstellt, dann ist – in der Interaktion – nicht nur die symmetrische Struktur der Beziehungen unverkennbar, sondern auch die Anerkennung der Sophie, und zwar als Verkörperung des Anderen, das Emilie noch zu achten und anzuerkennen lernen muss, um die Bildung seiner Identität zu vollenden. Besser als in der Sophie lässt sich dieses notwenige Andere aber nicht verkörpern. Rousseau formuliert also weniger eine Defizitzuschreibung an Sophie als eine Form der Anerkennung, die man in der die Zuschreibung einer Differenz zuerst sehen sollte, d. h. die Anerkennung der eigenen ‚Natur‘ der Frau. Die „Akzeptanz ihrer Andersheit“19 signalisiert deshalb auch Gleichheit, allerdings in der Differenz. Auch Humboldts Geschlechterphilosophie kann man deshalb eher aus solchen Überlegungen heraus verstehen, weniger als Abwertung der Bildungsmöglichkeiten der Frau. Dennoch, die zentrale feministische Frage an Rousseau, d. h. die Frage nach den Gründen des Ausschlusses der Frau aus der Sphäre des Staates und die Unterscheidung von Staat und Familie, der zwei „Sphären“ des Privaten und des Staatlichen, diese Frage bleibt. Aber auch sie lässt sich gesellschaftstheoretisch anders als mit nur feministischer Kritik beantworten. Rousseau konstruiert „zwei Muster von Sozialität“, die nicht allein unterscheidbar sind, sondern auch funktional aufeinander verweisen.20 Die Familie als „intime Gemeinschaft“, geleitet vom „Ideal einer empfindsam-introspektiven Beziehungskultur“, und die „gelingende Sozialisation zum Bürger“, also der „Bildungsaspekt“, bilden in dieser Lesart für Rousseau nicht nur eine eigene Welt, sondern die „sozioökonomische Grundlage des Staates“. Freilich, der in der feministischen Kritik monierte „Ausschluß der Frauen aus der Dimension des Politischen“, die sich „aus männlichen Haushaltungsvorständen als ökonomisch Selbstständiger zusammensetzt“, bleibt für die Organisation dieser Sphären „konstitutiv und damit strukturbildend“. Rousseau
19Gegen
die naheliegende Versuchung, „Rousseau Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen“, hebt Alfred Schäfer: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim/Basel 2002, zit. S. 138, immerhin diesen Aspekt hervor, sieht insgesamt aber mit dem Sophie-Kapitel die „Aufspaltung der Anthropologie“ Rousseaus und damit „die Grundlage seiner gesamten Theorie infrage gestellt“ (S. 140). 20Das Argument nach Kuster: Rousseau – Die Konstitution des Privaten. 2005.
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4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
versucht, die scheinbaren Widersprüche von – aristotelisch gedacht – oikos und polis, von Haus und Staat, zugunsten einer Komplementarität von privat und öffentlich aufzulösen. Die Rolle der Frauen wird damit zugleich geklärt, als konstitutives Moment der von Rousseau konstruierten gesellschaftlichen Welt, aber sie bleibt in Distanz zur politischen Welt des Mannes. Jenseits solcher Theorieprobleme und historiografischer Kontroversen, junge, gebildete Frauen nehmen schon zeitgenössisch solche sozialen und theoretischen Kontexte der ausgrenzenden Zuschreibungen und Eingrenzungen der ihnen zugedachten Bildung und ihrer gesellschaftlichen Rolle auch selbst wahr, und durchaus kritisch. Sie kommunizieren untereinander über die gesellschaftlich angebotenen und die eigenen Alternativen, in denen sie ihr Leben gestalten sollen und wollen und machen das Thema selbst zum Problem ihrer Bildungsarbeit. Dorothea Schlözer z. B., Tochter des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer, behandelt diese Fragen z. B. am 19.06.1785 in einem Brief an ihre Freundin Luise Michaelis, die solche Fragen der Planung der eigenen Zukunft aufgeworfen hatte. Die Optionen – „Kochen und Spinnen“ statt Lernen und Studieren – werden dann schon von den Frauen selbst nicht als gleich bewertet. Manche, z. B. ihre Freundin, so notiert Dorothea Schlözer etwas irritiert, meinen offenbar, „dass Kochen und Spinnen angenehmer ist, als wenn ich ein historisches Collegium bei meinem Vater höre?“ Sie sieht das anders. Sich mit Problemen im Lateinischen oder beim Euklid auseinanderzusetzen, das sei „wohl angenehmer, als bei Hitze und Frost in der Küche zu stehen“, aber das eine schließe das andere nicht aus. Dorothea Schlözer will die Kompetenzen der gelehrten Frau nicht gegen die der Hausfrau aufrechnen und rühmt sich selbst ihrer häuslichen Fähigkeiten: „Du mußt Dir aber ja nicht einbilden, dass ich nichts von weiblichen Arbeiten verstehe: im Kochen nehme ich es doch wohl mit Dir auf und meine Mutter macht mir oft Schmeicheleien über mein flinkes Stricken.“. Aber dann wird sie grundsätzlich, und ihre Prämisse, „Weiber sind Menschen wie Männer“, liest sich wie ein direkter Kommentar gegen das Bild der Sophie im Emile, den sie ihrer Freundin liefert: „Liebes Mädchen, ich will Dir vieles beichten, was wir 15-jährigen Mädchen sonst in der Welt nie so früh erfahren, und auch in keinem Buche steht, was ich aber schon seit mehreren Jahren unter vier Augen von guter Hand habe: Weiber sind nicht in der Welt, blos um Männer zu amüsiren. Weiber sind Menschen wie Männer: eines soll das andre glücklich machen. Wer blos amüsirt sein will, ist ein Schlingel, oder verdient nur ein Weib von schönem Gesicht, das er in vier Wochen satt ist.“ Auch im Blick auf die erwartete Zukunft wehrt sie solche schlichten Alternativen ab, kein Mann könne auf Dauer allein mit den häuslichen Tugenden glücklich sein. „Lernen“ sei ihr schon deshalb von Bedeutung, wenn sie z. B. einen international tätigen „Kaufmann oder Fabrikanten“ heirate: „ich verstehe die Sprache dieser Länder und könnte ihm gar seine Correspondenz führen“, und die Konsequenz für die Strukturen der Ehe, für Symmetrie und Arbeitsteilung sind für sie ebenfalls eindeutig gegeben: „müßte mein Künftiger – will’s Gott! – denn nicht ein Flegel sein, wenn er mir nicht eine Köchinn bezahlte, weil ich ihm einen Buchhalter ersparte?“ Konsequenzen werden schließlich auch für die anstehende Gattenwahl gezogen: „Wenn mein
4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
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Temperament so bleibt wie bisher, so heirathe ich nicht anders als aus Vernunft.“21 Aber sie weiß: „Freilich, wählen können wir Mädchen nicht, weder ich noch du“. Die soziale und intellektuelle Emanzipation der Frau wird hier in einem bürgerlichen Gelehrtenhaushalt möglich, nicht zuletzt, weil Vater Schlözer energisch dafür sorgte, dass seine Tochter früh an die Universität ging und auch promovierte. Im weiteren gesellschaftlichen Kontext bleibt das aber singulär, trotz der Diskussion über die Menschenrechte. Sie, zumal die internationale, kennt ja auch die Einbeziehung der Rechte der Frau in diese politische Programmatik, in Paris – und nicht nur in der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791) bei Olympes de Gouges – wie in England. Das Menschenrecht auf Bildung wird auch für die Frauen reklamiert, in Texten und von Theoretikerinnen, die man auch in Deutschland sieht und, gelegentlich, sogar nachdrücklich rezipiert. Das berühmte Manifest der Mary Wollstonecraft z. B. – A Vindication of the Rights of Woman: with Strictures on Political and Moral Subjects. London 1792 – wird von dem Philanthropen Christian Gotthilf Salzmann 1793/1794 ins Deutsche übersetzt.22 Neben Caroline Rudolphi oder Betty Gleim wäre für die egalitäre Position aus der deutschen Diskussion auch z. B. Amalie Holst zu nennen, die „Über die Bestimmung des Weibes zur höheren Geistesbildung“ schreibt (1802),23 und die Ausgrenzung der Frauen von höherer Bildung scharf attackiert. Explizit gegen Rousseaus Bild der Frau kritisiert sie den „Irrtum verständiger, gebildeter Männer, wenn sie über Menschenrechte im bürgerlichen Verhältnisse philosophieren“. Wer gar, wie Rousseau, solche Unterscheidungen über die „physische Schwäche“ der Frau zu legitimieren suche, so ziehe er sich, wie sie ironisch moniert, mit dem Argument des Vorrangs der „körperlichen Kräfte“ doch nur den Vorwurf zu, dass dann auch „der erste beste Lastträger, den großen Friedrich (hätte) vom Thron jagen können; der Karrenschieber… unserm verewigten Denker Lichtenberg den Rang streitig gemacht haben (müsste), und der Tagelöhner manchem Philosophen vorgezogen werden“ sollte (79). „Höhere Bildung des Menschen, und folglich auch des Weibes“ müsse vielmehr als Einlösung der „Pflicht der Menschheit“ anerkannt werden, „alle seine Kräfte auszubilden“ (80). Allerdings, und hier unterscheidet sie sich nicht von manchem zeitgenössischen männlichen Bildungstheoretiker, von den „niedern Ständen“ glaubt sie solche höhere Bildung nicht verlangen zu können: „Von dem Weibe eines Tagelöhners oder Handwerkers jene Bildung verlangen zu wollen, wäre lächerlich.“ (80).
21Dorothea
Schlözer (1770–1825), Tochter des Göttinger Historikers August Ludwig Schlözer; am 19.06.1785 an ihre Freundin Luise Michaelis, in: Ludwig Fertig (Hrsg.): Bildungsgang und Lebensplan. Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900, Darmstadt 1991, S. 29–30. 22Vgl. die Salzmannsche Übersetzung: M. Wollstonecraft: Rettung der Rechte der Weiber mit Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände. 2 Bde. Schnepfenthal 1793/1794; eine aktuelle deutsche Fassung von Wollstonecrafts Buch erschien Leipzig 1989. 23Textauszug in: Elke Kleinau/Christine Mayer (Hrsg.): Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts, Bd. 1, Weinheim 1996, S. 78–82, danach hier die Zitate.
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4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
Egalitäre Positionen, selbst in diesen Grenzen, bleiben in der Zeit aber marginal. Das sieht man auch daran, dass eine Schrift, die unter dem Titel „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“24 zuerst 1792 anonym erschien, nahezu singulär geblieben ist. Sie nimmt, schon in der Titelformulierung, allerdings einen klassisch gewordenen Programmsatz auf, der der zweiten, von Staat und Bildung, Bürgerrechten und politisch-sozialer Emanzipation ebenfalls ausgeschlossenen Gruppe galt, den Juden. In der Absicht der politischen Emanzipation der Juden hatte Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781 seine ausführliche Denkschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ erscheinen lassen.25 Sie ist höchst signifikant für die Frage, in welchem Verhältnis die Reflexion auf Bildung im Ursprung die Frage der „Nation“ thematisierte und dabei auch die Gleichheit nach Konfession und Religion zu berücksichtigen suchte. Dieses Thema muss und wird deshalb aufgenommen, wenn die umfassende Reflexion auf die Rolle von Bildung für die Konstitution der Nation behandelt wird (s. u. II.10.). Dabei wird auch nicht allein über das Bürgerrecht der Juden diskutiert, sondern auch der Antijudaismus selbst der klassischen Vertreter der Bildungsphilosophie bewusst, als eine Idiosynkrasie, die das Menschheits-Pathos in der Rede von Bildung relativiert und die Begrenzungen zeigt, die nicht nur gegenüber der Frage des Geschlechts existiert haben. Bleibt man zunächst bei diesem Thema, dann ist die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ in ihrer eindeutigen Position für die deutsche Diskussion von größter Bedeutung, aber in der Argumentation nahezu ein Unikat – und verdient schon deshalb ausführliche Erinnerung, wenn die Breite der Themen der Bildungsreflexion über den meist zitierten Kanon an Texten hinaus belegt werden soll. Ihr zunächst unbekannter, dann öffentlich gewordener Autor ist der Königsberger Beamte (und gelegentliche Gesprächspartner Kants) Theodor Gottlieb von Hippel. Hippel, 1741 in Gerdauen, Ostpreußen, als Sohn eines Schulrektors in einer pietistischen Familie geboren, wird nach einem Theologie-Studium von 1756 bis 1760 in Königsberg, dem er seit 1762 ein JuraStudium folgen lässt, 1765 Advokat und macht, ebenfalls in Königsberg, Karriere bis zum Criminaldirektor. 1780 ist er sogar regierender erster Bürgermeister und 1796 stirbt er in Königsberg. Vor seinem epochemachenden Text schrieb er schon vorher Über die Ehe (1779), ein Buch, das vier Auflagen erlebte, bevor 1792 sein Opus magnum folgte. In diesem Text Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber nimmt Hippel die nahezu rhetorisch formulierte Frage auf, ob „es außer dem Unterschiede des Geschlechtes noch andre zwischen Mann und Weib (giebt)?“ Er sieht diese 24Theodor
Gottlieb von Hippel: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber. Anonym 1792; i. Dr. 1828 (Werke Bd. 6); Neudruck mit einer Einleitung von Juliane Dittrich-Jacobi, Vaduz 1981, Zitatnachweise aus dieser Edition in Klammern im Text; einschlägig zum Thema auch der „Nachlass über weibliche Bildung“ (1801) (Werke Bd. 7, 1828). 25Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Tle. in 1 Bd. Berlin/Stettin 1781–83. Nachdruck: Olms/Hildesheim u. a. 1973; eine Kritische und kommentierte Studienausgabe hat Wolf Christoph Seifert ediert, Göttingen 2015.
4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
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Unterschiede durchaus, schreibt sie aber nüchtern und klar der gesellschaftlichen Situation zu, der Rolle, die den Frauen zugeschrieben wird, und der fehlenden Anerkennung, die sie finden. Seine erste große Frage – „Woher die Ueberlegenheit des Mannes über die Frau entstanden?“ – wird sowohl im „Rückblicke auf die ältere Zeit“, aber auch für die „neuere Zeit“ beantwortet. Hippel macht dafür vor allem gesellschaftliche Ursachen, Vorurteile und gesellschaftliche Strukturen verantwortlich, denen sich die Ungleichheit verdankt. Er macht dann „Verbesserungs-Vorschläge“ und formuliert eine „Nutzanwendung“. Sein theoretischer Ausgangspunkt ist klar und einfach formuliert. „Die Weiber sind Menschen“,26 ohne wesentliche Differenz,27 und schon deswegen gibt es keine legitime Begründung, „ihre Geistesanlagen [zu] beschränken“, und von den Männern können solche Begrenzungsargumente schon gar nicht vorgetragen werden: „wie dürfen wir psychologische Richter werden, da wir so sehr partheiisch sind?“ Die Hauptursache für den andauernden Streit sieht er im Geschlechterverhältnis selbst.28 Es sind die Verhaltensweisen der Männer, von denen die abwertenden Urteile immer neu formuliert und die Situationen der Abgrenzung und Abwertung stabilisiert werden, auch hier, ohne dass Hippel sie akzeptiert: „und wahrlich, es gehören solche Schildknappen der Auctorität dazu, als wir sind, um jene Wahrheit abzuleugnen, dass Alles menschlich gleich sey, was menschlich vernünftig ist.“ (1801, S. 121) Für anders lautende Argumente hat Hippel wenig Verständnis: „Es ist das künstliche Spinnengewebe von Gründen, wodurch wir das weibliche Geschlecht zu einer ewigen Vormundschaft verurtheilen“, abgestützt in den religiösen und kirchlichen Ritualen und Normen. „selbst bei den feierlichsten Ehegelübden … verlangt das kirchliche Formular, dass, wenn gleich beide Theile gegenseitig sich zu ehren verheißen, doch die geehrte Männin dem Manne gehorchen und ihm als ihrem Herrn huldigen soll.“ (67 f.). Die Zukunft muss deshalb anders werden29: „Laßt beide Geschlechter zu ihrer Lauterkeit und Wahrheit heimkehren, und wir werden je länger je mehr finden, dass Mann und Weib auch in diesem Sinne ein Leib sind – aber auch eine Seele?“ (31) Ohne die Mitwirkung des Mannes erwartet er freilich keine Änderung: „Wir wissen, dass das weibliche Geschlecht … nie weder durch Unterhandlungen noch mit Gewalt sie zurück zu erringen gesucht, und sie noch bis auf den heutigen/Tag mit aller Selbstverleugnung von unserer Gerechtigkeit und Großmuth erwartet.“30
26An
anderer Stelle: „Daß Weib – ist wie der Mann; es giebt hier keinen Unterschied; sie sind allzumal Menschen und mangeln des Ruhmes, den sie haben sollten.“ (75). 27Allerdings: „Weiber haben Sitten, Männer Manieren.“ (158). 28„Das Verhältniß der Geschlechter gegen einander? Allerdings der Hauptpunkt …“ (75). 29Rhetorisch fragt er: „Und es sollte bis an den lieben jüngsten Tag von Weibern als Mitgliedern der Societät heißen: So weit und nicht weiter?“. 30Die Auslassung ist hier kursiv markiert: „Wir wissen, dass das weibliche Geschlecht ohne Schuld, und bloß durch den Schwung, den die menschlichen Angelegenheiten bei den Fortschritten zu ihrer Cultur nahmen, um seine Rechte kam, und dass es nie weder durch Unterhandlungen noch mit Gewalt sie zurück zu erringen gesucht, und sie noch bis auf den heutigen/ Tag mit aller Selbstverleugnung von unserer Gerechtigkeit und Großmuth erwartet.“ (61–62).
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4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
(61–62) Wirklich optimistisch ist Hippel allerdings nicht, dass auch für das „weibliche Geschlecht“ „die Menschenrechte“ bald gelten, „die man ihm so schnöde entrissen hat,“ oder dass ihm „die Bürgerrechte“ gewährt werden, „die ihm so ungebührlich vorenthalten werden“, dass sie auch „im Staat und für den Staat nie einen absoluten Werth/erhalten“. Er befürchtet eher, dass sich die Gesellschaften und Staaten „mit einer wohlweislichen Römischen Rechtsfiktion oder einem wohlhergebrachten Verjährungs- und Besitzrechte aushelfen können“, damit auch „unser männliches Gewissen beruhigen und diese Angelegenheit der Menschheit auf die lange Bank schieben können“, und vermutet, „dann ist freilich der schöne Morgen der Erlösung noch nicht nahe.“ (113/114) Sein Plädoyer für die Gleichheit begründet er deshalb erneut mit den starken anthropologischen Argumenten der Zeit, also über die Referenz auf „Natur und Freiheit“. Auch von da aus gilt die egalisierende Annahme, „sowohl zur Physik als zur Moral haben Weiber unverkennbare Anlagen. Will/man Natur und Freiheit sinnlich abbilden, so müssen beide in Gestalt eines Weibes dargestellt werden. Und was ist ihnen denn im Wege? Das positive Gesetz? … Gesetze erziehen Menschen, und müssen sich, wenn Menschen mündig werden, von Menschen erziehen lassen.“ (129–130). Das Gesetz und die neue Erziehung sollen das neue Geschlechterverhältnis absichern, denn „nicht im einzelnen Menschen, sondern im Geschlechte offenbaren sich die Ehre und der Zweck der Menschheit.“ (134) Deshalb seine Forderung. „Die Scheidewand höre auf! man erziehe Bürger für den Staat, ohne Rücksicht auf den Geschlechtsunterschied, und überlasse das, was Weiber als Mütter, als Hausfrauen, wissen müssen, den besonderen Unterricht; und alles wird zur Ordnung der Natur zurückkehren.“ (134) Für die öffentliche Erziehung sind solche Rücksichten nicht legitimierbar: „Erziehung, Unterricht, Zeitvertreib können für beide Geschlechter einerlei seyn, weil in diesem Zeitraume [um das zwölfte Jahr; H.-E. T] die Bildung sich mit dem Menschen beschäftigen und für die Entwickelung jener Anlagen sorgen soll, ohne Rücksicht auf anderweitige Bestimmungen, als auf die erste ehrwürdigste: einen Menschen nach der ursprünglichen Deutung der Natur darzustellen.“ (136). Hippels Wirkung ist bescheiden, zeitgenössisch wie dauerhaft kann sie wohl nur als „ein Beispiel trauriger Verdrängungsarbeit der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft“31 gedeutet werden. Kant habe noch seine Bedeutung gesehen, denn für ihn war Hippel ein „Centralkopf“, aber schon die Königsberger Meinung seiner Mitbürger war ansonsten eher kritisch. Man hielt Hippels Buch von 1792 für „seine schlechteste Arbeit“, bezweifelte gelegentlich sogar, dass „sie überhaupt von ihm stamme.“32 Für die Königsberger galten „die dort aufgestellten Behauptungen“ als „unbeweisbar.“ Der stärkste Stein des Anstoßes war aber die egalitäre Ausgangsprämisse. „Allein den Gedanken zu fassen, Frauen könnten
31Jacobi, 32Jacobi,
in: Hippel, ND, S. XXXIX. ebd., S. IX f., auch für die hier folgenden Zitate.
4 „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“
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zu Bürgerinnen bestimmt sein, setzte einen ernsthaften Mann fast der Lächerlichkeit aus.“ Die Aufmerksamkeit für seine Thesen und Analysen setzt deshalb auch erst spät im 20. Jahrhundert ein. Der bildungstheoretische Diskurs geht weiter über den „Menschen“ im Allgemeinen, ohne sich seine differenzerzeugenden Implikationen einzugestehen. Die pädagogische Praxis und die bildungspolitische Programmatik bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert an der Polarität der Geschlechtscharaktere orientiert. Es bedurfte eines selbstbewussten Feminismus, um diese Unterscheidungen aufzubrechen, aber es gelang wohl auch erst durch die Bildungsaktivitäten des „weiblichen Geschlechts“ selbst, wesentliche Benachteiligungen z. B. im Bildungswesen oder im Lebenslauf im Verlauf des 20. Jahrhunderts abzubauen. Im Wesentlichen ohne die Hilfe der Männer, die Hippel noch für notwendig gehalten hatte, vollzieht sich der Emanzipationsprozess der Frau, insofern dann doch als Bildungsprozess, in Selbsttätigkeit.
Kapitel 5
Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt, in der Einheit von Prozess und Produkt
Wenn auch nicht an erster Stelle in der emphatischen Rede über Bildung und die Bestimmung des Menschen, bereits im Ursprung des modernen Bildungsdiskurses wird auch schon gefragt, wie denn möglich werden kann, was hier wirklich werden soll – die Konstitution des Subjekts. Die Pädagogen der Aufklärung, die Philanthropen, vereint in der „Gesellschaft praktischer Erzieher“, diskutieren dabei früh und intensiv, welche Rolle der Erziehung und dem Lehrer und Erzieher im Prozess der Bildung zukommt. In der Bildungstheorie philosophischer Provenienz, also etwa bei Humboldt und Herder, Fichte oder Hegel, wird in diesem Zusammenhang zwar auch von Erziehung geredet, aber allenfalls „höhere Erziehung“, wie z. B. bei Fichte1, nicht jede Form der pädagogischen „Einwirkung“ auf das Kind, wird als legitim und förderlich für das angestrebte Ziel anerkannt. Im Mittelpunkt steht nicht Pädagogik, sondern die Selbsttätigkeit des Subjekts. Beide Milieus, Philanthropische Pädagogen und Bildungstheoretiker, bringen für deren Realität und Wirkungsweise einen Begriff ins Spiel, den der „Selbstbildung“2 oder des
1Bei
Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts. 2. Teil oder angewandtes Naturrecht. 1797, werden im Vierten Abschnitt, der das Verhältnis von Eltern und Kindern behandelt, zwei Begriffe von Erziehung unterschieden. Dabei steht Erziehung als „Sorge für seine Erhaltung“ auf der einen Seite dem „Begriff der höhern Erziehung“ (S. 234, dort kursiv) auf der anderen Seite gegenüber, als „auffordern zur freien Tätigkeit“ (S. 233), bei der es darum geht „Moralität im Kinde zu entwickeln“ (§ 44, S. 234). Während es im ersten Fall erlaubt sei, die „Freiheit zu beschränken, daß der Gebrauch derselben seine Erhaltung nicht in Gefahr bringt“ (§ 43, S. 234), duldet der höhere Begriff der Erziehung keine Beschränkung der Freiheit, und trägt der Theorie damit die Probleme ein, die sie mit der „Einwirkung“ auf das Kind hat. 2Für die historische Präsenz dieses Begriffs im Kontext der Bildungsrevolution insgesamt jetzt mit reichhaltigen Belegen Bosse 2012, bes. S. 105 ff. Für das damit verbundene, aber nicht identische Thema der Autodidaxe jetzt die historische Debatte und die autobiografischen Referenzen auch Böning/D’ Aprile/Schmitt/Siegert (Hrsg.): Selbstlesen – Selbstdenken – Selbstschreiben. Bremen 2015sowie, zur Diskussion des dort verwendeten Begriffs der Autodidaxe (der u. a. erfolgreiche Grundbildung in den Kulturtechniken schon voraussetzt) meine Rezension in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 92 (2016), 3, S. 471–477. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_5
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5 Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt
„Selbstlernens“, der für geeignet gehalten wird, jenseits der emphatischen Zielvorgaben auch die Form der Realisierung, Prozesse und Produkte von Bildung zu denken, sie als spezifisch human zu verstehen und von mechanischer Kausalität zu unterscheiden, präziser auch, als es in der Rede vom „Bildungstrieb“ naturphilosophisch formuliert war. Auch wenn es überraschend sein mag, damit wird die Ermöglichung von Bildung selbst im „Pädagogischen Jahrhundert“ nicht zuerst als Werk der Pädagogik gedacht, sondern als Leistung der historischen Subjekte selbst. Selbstbildung ist deshalb die zentrale Prämisse der Bildungsreflexion, wenn sie die Form des Bildungsprozesses thematisiert, aber auch dann, wenn sie die Kriterien wirklicher Bildung und legitimer Erziehung formuliert und die Bedingungen ihres Gelingens thematisiert. Diese Emphase für das Selbst, das seine eigene Bildung betreibt, verdankt sich den anthropologischen Prämissen der Freiheit und Autonomie des Subjekts als den zentralen Referenzen der Konstruktion und Bestimmung des Menschen. Aber diese Referenzen erzeugen auch die Probleme in der Beantwortung der Frage, wie denn Selbstbildung im Aufwachsen in einer Gesellschaft überhaupt möglich ist. Antworten dazu finden sich in unterschiedlichen Texten und Kontexten, philosophisch, ästhetisch, pädagogisch und literarisch. Für die Bildungsreflexion wird dieses Thema entscheidend und folgenreich, weil in der Klärung dieser Praxis der Individuen zum einen die anthropologischen Zuschreibungen über die Natur des Menschen detailliert ausgearbeitet und die Voraussetzungen benannt werden, in denen die zentrale Prämisse der Bildsamkeit sich prozessual sichtbar macht. Zum andern wird in der Diskussion des Verhältnisses von Mensch und Welt präzisiert, was hier „Welt“ bedeutet, und letztlich, wie sich Individualität in der Welt konstituiert – und zwar: in Selbsttätigkeit. Für die historische Präsenz des Themas „selbstbildung“ steht erneut das Grimmsche Wörterbuch. Als ersten Beleg nennt es nach einem Verweis auf die Präsenz des Begriffs im Wörterbuch des Philanthropen Joachim Heinrich Campe, eine Bemerkung Herders über das wünschenswerte Ziel von Bildungsarbeit: „ich wünschte, mein buch erreichte nur einige striche zu darstellung dieser groszen aussicht, die mich seit meiner frühesten selbstbildung erfaszt hat.“3 An anderer Stelle, in Goethes Beschreibung von Winckelmanns Bildungsgang, findet sich auch eine Detailerläuterung der dabei gemeinten Prozesse, samt Vermutungen über die Gründe ihrer Wirksamkeit. Hier ist es die Verbindung von Autodidaxe („dasz er beinahe in allem sein eigener lehrer gewesen“) mit früher Lehrertätigkeit („die
3Im Verweis auf „Herder 13, 25 Suphan (ideen 1, 4)“ in Grimm, s. v. Selbstbildung, Bd. 16, Sp. 436, und dort weiter: „bei ihm (Winckelmann) selbst lesen wir hier die äuszerung, dasz er beinahe in allem sein eigener lehrer gewesen. die allgemeinern vorkenntnisse in geschichte und alten sprachen mag er bald durch unterweisung jüngerer schüler erweitert … haben; zu welchem vorzüglichen hülfsmittel der selbstbildung ihn glücklicherweise seine umstände nöthigten. Göthe 37, 83; es ist gewöhnlich selbstbildung, entwicklung der innern kräfte durch die umstände. Klinger 11, 173; indem er (der gleichgewichtspunkt) gemeinhin nur ein zauberwerk der mit den idealen der menschen spielenden natur, und nur selten das resultat einer angestrengten und durchgeführten selbstbildung ist. Schleiermacher üb. d. rel. 9. s. auch Fichte unter selbstig 2.“.
5 Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt
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allgemeinern vorkenntnisse in geschichte und alten sprachen mag er bald durch unterweisung jüngerer schüler erweitert … haben“), die Selbstbildung ermöglicht hat. Die nachhaltige Wirkung solcher Lehrpraxis wiederum, die Goethe zum „vorzüglichen hülfsmittel der selbstbildung“ deklariert, kann sich für Winckelmann dadurch einstellen, weil ihn „glücklicherweise seine umstände nöthigten“. In den Kontext von Bildung ordnet der „Sturm- und Drang“-Dichter Friedrich Maximilian Klinger das Phänomen4 ein: „es ist gewöhnlich selbstbildung, entwicklung der innern kräfte durch die umstände“. Die „Umstände“, von denen Klinger hier spricht und denen Goethe zuschreibt, dass sie „glücklicherweise … [zur Selbstbildung] nöthigten“, kehren in der philosophischen Reflexion im Begriff der „Welt“ wieder, verbunden mit dem Versuch, Selbstbildung als „Wechselwirkung“ von Mensch und Welt präzise zu bestimmen. Diese Deutung von Prozess und Produkt der Bildung als Selbstbildung wird mit der größten Nachwirkung bei Wilhelm von Humboldt eingeführt. In Wilhelm von Humboldts Fragment zur Theorie der Bildung wird zunächst die Bestimmung des Menschen in der Welt noch einmal emphatisch gefasst, auch, um die erwartete Wirkung des Bildungsprozesses zu beschreiben: Für ihn geht es als „letzte Aufgabe unsres Daseyns“ darum, „dem Begrif [sic] der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt als möglich zu verschaffen“. Humboldt erläutert auch sogleich und knapp, wie eine solche Aufgabe zu bewältigen sei: „Diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“5 Das, „die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt“, scheint nun Humboldt selbst „auf den ersten Anblick nicht nur ein unverständlicher Ausdruck, sondern auch ein überspannter Gedanke“. Vor allem in der Präzisierung dessen, was „Welt“ bedeutet, gibt er dem „überspannten Gedanken“ eine klare und diskutierbare Bedeutung, und in der Klärung der „Aufgabe“, die er vom Menschen in der Welt erwartet, will und kann er zeigen, dass „man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann.“ (236). Die Aufgabe, um die es geht, ist für ihn so gut wie gar nicht begründungsbedürftig, weil alltäglich beobachtbar, denn der Mensch arbeite schon aus eigenem Drang an „seiner inneren Verbesserung und Veredlung“ (235). Auch die „Nation“ verlange, „dass Bildung, Weisheit und Tugend so mächtig und allgemein verbreitet, als möglich, … herrschen“ (236). Alltäglich sei auch, dass
4F.M. Klingers Schauspiel „Sturm und Drang“, das einer ganzen Epoche den Namen geben sollte, wurde am 1.April 1777 in Leipzig uraufgeführt. Klinger (1752–1831), im Übrigen später russischer Generalleutnant, soll auf Empfehlung auf den ursprünglichen Titel „Wirr-Warr“ verzichtet haben. 5Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: Humboldt Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, Darmstadt 31980, S. 234–240, zit. S. 235 f.; Zitate aus diesem Text nachfolgend in Klammern.
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5 Die Form der Bildung: Selbstkonstruktion … Prozeß … Produkt
der Mensch, „den Verfassungen, die er bildet, selbst der leblosen Natur, die ihn umgiebt, das Gepräge seines Werthes sichtbar aufdrücke, ja dass er seine Tugend und seine Kraft … noch der Nachkommenschaft einhauche, die er erzeugt.“ (236) Diese zivilisatorische Aufgabe wird für ihn dadurch bekräftigt, dass neben der Umwelt auch die „Natur“ des Menschen ihn „dringt … beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen“, freilich so, dass er „in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere.“ (237) Auch dafür gibt es eine Lösung, und Humboldt findet sie in den von Kant und Schiller bekannten Dualen von „Stoff“ und „Form“, in der Wechselwirkung von „Empfindsamkeit“ und „Selbsttätigkeit“, die den Gegenstand „in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne“ zeigt. Die Aufgabe des Menschen ist dann eindeutig und klar, „er (muss) die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, die diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlich machen.“. Dieses Ähnlichmachen – und ähnlich sein wollen, wie es später als Modus des Lernens generalisiert wird6 – ist auch nicht aussichtslos, denn „in ihm“, wie er für den Geist und damit für den Menschen unterstellt, „ist vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung“, „beide muss er also auch auf die Natur übertragen“, letztlich um „die eigene innewohnende Kraft zu stärken“, also sich zu bilden. Die dabei erreichte „Einheit und Allheit“, so unterstellt er letztlich für die Möglichkeit der Verknüpfung des Ichs mit der Welt, „bestimmt den Begriff der Welt.“ (237) Die ‚Welt‘ zeigt damit die Qualitäten, die Humboldt von einem „Gegenstand“ erwartet, den der Mensch für die Bildung „nothwendig braucht“, dass dieser Gegenstand nämlich „die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache.“ Das aber muss „der Gegenstand schlichthin, die Welt seyn, oder/doch (denn dies ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden.“ (237/238) Diese Welt präsentiert sich als Herausforderung der Selbsttätigkeit, für den Bildungsprozess also, und von ihr darf man dann auch die Bildungswirkung erwarten, weil sie angesichts der in ihr unausweichlich gegenwärtigen „harten Nothwendigkeit“ jetzt „dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt“. (237) Im Verweis auf diese Funktion von „Welt“, wie die an Rousseau erinnernde These7 über die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit hier erneuert wird, 6Die
Reflexionen über den Begriff und die Funktion von „Mimesis“ gehören in die weitere, als Anthropologie verstandene Geschichte dieser bildungstheoretischen Annahme, vgl. im Überblick jetzt Christoph Wulf: Mimetische Grundlagen kulturellen Lernens. In: Ders.: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004, S. 156–172, wo über das „anzuähneln“ (zit. 157) als Lernmodus gesprochen wird, der sich schon bei Säuglingen beobachten lässt. 7„Wenn die Freiheit darin bestünde, zu tun was man will, so wäre kein Mensch frei. Alle sind schwach, abhängig von den Dingen, von den harten Notwendigkeiten. Der, welcher am besten zu wollen versteht, was sie [die Notwendigkeit, H.-E.T.] befiehlt, ist der Freieste, denn er ist nie gezwungen etwas zu tun, was er nicht will.“ Vgl. Rousseau, Émile et Sophie, in: Ouevres complètes, Bd. IV, S. 917, zit. in der Übersetzung von Robert Spaemann: Rousseaus „Émile“: Traktat über Erziehung oder Träume eines Visionärs? Zum 200. Todestag von Jean-Jacques Rousseau. In: Zeitschrift für Pädagogik 24 (1978), S. 823–834, zit. S. 831.
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sieht Humboldt schließlich auch die Bedingung erfüllt, dass solche Art der Wechselwirkung mit ‚Welt‘ auch der Forderung der Freiheit genügt. Der Mensch unterwirft sich nicht einem fremden Willen oder hängt von der Willkür der Einwirkung eines Pädagogen ab, sondern nur der Einsicht in die Gesetze der Natur und der Widerständigkeit und dem Eigensinn der Dinge. Das „Streben, nicht in sich müssig zu bleiben“, die natürliche Bestrebung, „den Kreis seiner Erkenntnis und seiner Wirksamkeit zu erweitern“ (235), Bildung also, dieses „Vorstellen und Bearbeiten von etwas“ (235), erzwingt für den freien Menschen geradezu die Wechselwirkung mit der Welt, weil er nur darin seine Erfüllung findet. Das geht nicht ohne „Welt“, also „nur vermöge eines Dritten“, d. i. eines „Gegenstandes“, der als Welt betrachtet werden kann. Diese „Welt“ muss allerdings für Humboldt ein zentrales Merkmal aufweisen, das zunächst nicht selbstverständlich ist, denn „dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal ist es, NichtMensch, d. i. Welt zu sein“ (235) Nicht selbstverständlich ist diese Pointierung, weil in der zeitgenössischen Philosophie bei der Diskussion des Bildungsthemas auch die andere, scheinbar widerstreitende These für das Spezifikum der Bildungswelt vertreten wird: „Der Mensch … wird nur unter Menschen ein Mensch.“8 Das kann man bei Fichte lesen, wenn er im ersten Teil der „Grundlagen des Naturrechts“ 1796 das Problem der „Einwirkung“ (27), auch der pädagogischen Einwirkung, auf den Menschen klärt, für den als Gattungswesen „freie Selbsttätigkeit“ charakteristisch sei. Fichte klärt dieses Problem – der legitimen Form der Einwirkung angesichts der Freiheit des Menschen – einerseits, indem er den in diesem Kontext (also unterschieden von Erziehung im Kontext von „Sorge für die Erhaltung“ des Menschen) notwendigen Begriff der Erziehung präzisiert, und zwar als „Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit“ (32).9 Fichte erläutert mit dieser in sich paradoxen Bestimmung aber nicht nur sein Verständnis legitimer Erziehung eines freien Menschen, er tut das, indem er sein Problem der Differenz von Freiheit der Wechselwirkung hier, der pädagogischen Einwirkung dort im Rahmen einer weit ausgreifenden Theorie der sozialen Konstitution von Individualität und Subjektivität entfaltet. Diese Theorie muss hier nicht umfassend erläutert werden,10 denn für die Klärung der Möglichkeit von Selbstbildung und zum Beleg der Varianz der Erklärungen, die sich für dieses Phänomen im Ursprung der Bildungstheorie finden, ist es ausreichend und v. a. im Vergleich zu Humboldt auch signifikant,
8Johann Gottlieb Fichte: Grundlagen des Naturrechts. 1. Teil, 1796, zit. S. 31; weitere Zitate in Klammern im Text. 9Für die begriffliche Entfaltung und theoretische Nutzung dieser Paradoxie bis zur Gegenwart vgl. Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Weinheim/München 1987 (u. ö.). 10Das leistet, im Kontext aktueller Theorien, in denen die Identitätskonstruktion innerhalb des Symbolischen Interaktionismus erklärt wird, aber auch im Blick auf Hegel sehr aufschlussreich bereits Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, für Fichte bes. S. 179–289.
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zu sehen, wie Fichte diese Frage löst und die Möglichkeit von Selbstbildung bestimmt. Einerseits, das zeigt schon der Weltbegriff, konzentriert sich Fichte auf die Rolle von Sozialität, die für ihn allein die Menschwerdung erklärt, denn es bedarf dabei einer „Person ausser ihr“, die – als Person – Freiheit schon verkörpert, um die Selbstbildung im Aufwachsen anzustoßen und sie in Gesellschaft auf Dauer zu stellen. Denn für ihn gilt ja auch: „Der Begriff des Menschen ist sonach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung.“ (32) Die wiederum reproduziert sich über Erziehung, denn „alle Individuen müssen zu Menschen erzogen werden, ausserdem werden sie nicht Menschen.“ (32), aber natürlich nur in „freier Wechselwirkung“ (32). „Das Verhältnis freier Menschen zueinander“ und in der Differenz zu anderen Formen des Verhältnisses bestimmt Fichte seiner Möglichkeit nach mehrfach: Zunächst kriterial „dadurch, daß das andere [freie Wesen] es als ein freies behandle“, so dass er „das Verhältnis einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit“ erkennen kann, als Verhältnis der „Anerkennung“: „Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen“ und auch als solche „behandeln“ (38). Das gilt im Übrigen, wie Fichte an anderer Stelle sagt, auch in der Erziehung und in ihren Handlungsformen; denn auch wenn sich bei Kindern erst „allmählich Vernunft und Freiheit … zeigen“, sind sie, weil sie Menschen sind, so „zu behandeln, als ob sie welche hätten“,11 weil sie sonst auch nicht zu Vernunft und Freiheit kommen können. Neben dem Begriff der Anerkennung ist für die bildende Form der Wechselwirkung noch ein weiteres Merkmal von Bedeutung, das ebenfalls die Dimension der Sozialität bekräftigt, denn „das Kriterium der Wechselwirkung vernünftiger Wesen also solcher“ sei auch, so Fichte weiter, „daß der Gegenstand der Einwirkung einen Sinn habe“, dass die Einwirkung „nicht wie auf bloße Sachen“ geschehe (72, Herv. dort). Das sieht nach einem weiteren gravierenden Dissenspunkt gegenüber Humboldt aus, denn für den waren ja auch „bloße Sachen“ nicht suspendiert, wenn er über Bildungswelten sprach. Allerdings, bei der Erklärung der Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Einwirkung nähert sich Fichte den Argumenten Humboldts an, denn auch er verbindet dann Naturannahmen mit Prämissen der Interaktion. Für deren reale Möglichkeit, die ja noch nicht erklärt ist, wenn Standards („Anerkennung“) und Kriterien („Sinn“) vorgegeben werden, geht Fichte zurück auf die Leiblichkeit des Menschen und ihre Anschlussfähigkeit an Sozialität. Der „Leib“, so unterstellt er grundsätzlich, wird „durch eine Materie außer ihm modificiret“ (73), und er liest das insofern als Indiz für eine als frei qualifizierbare Veränderung, oder „gehemmt“, somit Indiz für eine unfreie Einwirkung. Die systematische Erwartung – „ich soll sonach wirken, ohne zu wirken, wirken ohne Thätigkeit“ (80) – lässt sich für Fichte schließlich durch die Wirkungsweise einer „subtilen Materie“ erklären, eine solche also, wie sie „Sinn“ repräsentiert. Dann werde
11Fichte,
Grundlagen des Naturrechts, 2. Teil, 1797, S. 233.
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der „Mensch innerlich genöthigt, jeden anderen für seinesgleichen zu halten“ (87), auch den, von dem die Aufforderung ausgeht, den er über den Leib und über den „Mund“ erfährt, der als „Organ der Mitteilung“ in der Sprache den Sinn aktualisiert, so dass sich der Mensch über die Wahrnehmung selbst modificiert. In der Sprache als der gemeinsamen Referenz treffen sich die unterschiedlichen Theorien bei der Klärung der Frage, wie denn Bildung möglich ist. Sprache erklärt zwar nicht allein die Möglichkeit und den Prozess der Bildung, aber sie ist ein Medium, in dem sich nicht allein Interaktion präsentiert, sondern auch Gesellschaft und Kultur tradieren, präsentieren und reflektieren. Insofern repräsentiert Sprache die Welt, in der die Menschen leben, aber sie kann auch als eine eigene Welt betrachtet werden, die als spezifische Bildungswelt ausgezeichnet werden kann, wie das bei Humboldt für das Griechische geschieht. Darüber, über die Bestimmung und Funktionsweise von „Bildungswelten“, ist noch eigens zu reden, jetzt kann man zunächst die Frage nach der Form der Bildung in der Logik von Selbstbildung resümieren: Sinnlichkeit und Kognition, so könnte man die These, die sich ja nicht nur bei Fichte findet,12 pointieren, kennzeichnen in ihrer Einheit den Modus der Erfahrung von Welt, der als „Selbstbildung“ bezeichnet wird und als Lernen identifizierbar ist. Die Emphase für dieses pädagogische Prinzip, die man um 1800 (und bis heute) findet, nimmt also – wenn man das zunächst so einfach festhalten darf – die ganz nüchterne Einsicht auf,13 dass Lernen nicht nur von Natur aus möglich, sondern in der Welt unvermeidbar ist – „glücklicherweise“, wie man ja auch lesen kann, weil die „Umstände dazu nöthigen“. Hinzu kommt, in der Abwehr einwirkender Pädagogik, dass Lernen durch Lehren nicht substituierbar ist, sondern allein geleistet werden muss. Selbstbildung ist nach Prozess und Produkt mithin eine eigene Praxis, Aneignung von Welt und Auseinandersetzung mit der Welt im alltäglichen Umgang mit der Welt und angesichts der Herausforderungen, die sie bereithält. Wechselwirkung mit der Welt ist daher die Form der Bildung der eigenen Identität, um einen modernen Begriff für Prozess wie Ergebnis einzuführen, sich selbst aufbauend und verstärkend, Selbstorganisation, um an den Kontext zu erinnern, den Blumenbachs Bildungstrieb thematisiert. Durch eine eigene Praxis angesichts konkreter „Umstände“ genötigt, ist man damit beschäftigt, sich selbst zu bilden. Die „Umstände“ wiederum, die solche Erfahrung möglich und unausweichlich machen, sind von Kindheit an präsent, schon im Medium familiärer Interaktion und dort in der Einheit von leiblicher
12Für
den weiteren Kontext vgl. Hans Rüdiger Müller: Ästhesiologie der Bildung. Bildungstheoretische Rückblicke auf die Anthropologie der Sinne im 18. Jahrhundert. Würzburg 1997. Müller erläutert den Zusammenhang von „Empfinden und Erkennen“ für die Reflexionen seit Locke (der so bekanntlich das „Lernen“ erläutert) und Shaftesbury sowie für die französischen Sensualisten, für Deutschland vor allem von Herder aus. 13Ihre erziehungstheoretische Fassung findet sich ausgearbeitet in Klaus Prange: Lernen als Erfahrungsprozess. 3 Bde. Stuttgart 1977/1978.
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Zuwendung und Kommunikation, v. a. in der Sprache, in der sich diese Interaktion vollzieht. Selbstbildung wiederum setzt zugleich Leiblichkeit als Medium der Erfahrung von „Welt“ voraus, sei es der Sozialwelt, die bei Fichte die Konstitution des Selbst in Freiheit ermöglicht, oder der Welt als „Nicht-Mensch“, die bei Humboldt erklärt, wie der „Eigensinn“ der „Gegenstände“ eine kulturelle Praxis – den Prozess der Bildung – provoziert, der nicht nur Individualität konstruiert, sondern sie auch in ihren Werken fortleben lässt. Das ist bei Humboldt ein Prozess, der lebenslang andauert, der aber auch bei Fichte als nicht abschließbar gedacht wird. Bei Humboldt wird aber deutlicher gesagt, dass die Welt nicht nur als Medium der Konstruktion des Individuums in ihrer Sozialität betrachtet wird, sondern auch in den ‚Geschäften‘ und ‚Gegenständen‘ und in deren Eigensinn, die als Herausforderung für die sich selbst bildende Praxis der Individuen fungieren, die sich wiederum in deren ‚Werken‘ objektiviert. In ihrer Dignität für Bildung umfassend, quasi grenzenlos präsent, kann diese ‚Welt‘ – jedenfalls bei Humboldt – auch nicht hierarchisch klassifiziert oder nach dem Wert von Tätigkeitsfeldern oder „Aufgaben“ bewertet werden: „Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung.“14 Aber auch bei Fichte sind die Aufgaben, die sich dem Menschen stellen, zunächst allein über Individualität zurechenbar,15 sieht man einmal davon ab, dass er in seinen politischen Schriften und im Blick auf die Gattung dann mit der rigiden Konstruktion von sehr spezifischen Welten operiert, wie sie sich im „Geschlossenen Handelsstaat“ oder in seinen „Reden an die Nation“ artikuliert. Fichtes „Bildungslehre (konnte deshalb) sowohl als Programm für eine demokratische Erziehung und politische Verwirklichung der Republik als auch als Vorläuferin einer in sich geschlossenen totalitären politischen Doktrin gelesen werden … und (sie hat) teilweise auch so gewirkt.“16 Das erwünschte Ergebnis dieser Praxis der Selbstbildung, auch als Kriterium für gelungene Bildungsprozesse formuliert, vereint dann Prozess und Produkt und wird bis heute nicht selten in Formeln gefasst, denen man eine eigene Tradition seit der Antike zuschreiben kann: „Werde, der Du bist“, das ist ja bereits Pindars (522–455 v. Chr.) Losung im antiken Bildungsdiskurs, der freilich noch von einem anderen Begriff von Mensch, Freiheit und Subjekt ausgeht und z. B. den Sklaven nicht als Menschen sieht. Aber die Bildungstheoretiker suchen die Kontinuität vor allem gegenüber dem pädagogischen Zugriff. Abgewehrt werde damit schon von Pindar die Formel „Werde, der du sein wirst, durch Lernen!“, propagiert werde dagegen: „Werde, der du bist, durch Lernen!“, also durch Selbsttätigkeit
14Humboldt,
Theorie der Bildung, hrsg. von Flitner/Giel, a. a. 0., S. 239. weist Düsing, Intersubjektivität, a. a. o., S. 271 mit einem Zitat aus der Wissenschaftslehre hin: „Diese Aufgabe [sich selbst zum Handeln zu entschließen] ist für jedes Individuum eine andere und dadurch eben wird bestimmt, wer dieses Individuum eigentlich sei.“ (Herv. dort). 16So scharf formulieren – zu Recht – in ihrem Fichte-Kapitel Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 2011, zit. S. 134. 15Darauf
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in der Ausarbeitung einer als existent unterstellten eigenen Natur.17 Pindar prägte damit eine Formel, die sich in der Moderne vielfach zitiert findet.18 Besonders prominent wird sie bei Schleiermacher formuliert, wenn er in den Monologen sagt: „Immer mehr zu werden was ich bin, das ist mein einziger Wille; jede Handlung ist eine besondere Entwicklung dieses Einen Willens.“19 Nicht ohne Grund können Beobachter aktuell darin auch eine exemplarische Artikulation von (systemtheoretischen) Autopoiesis-Annahmen entdecken, als Theorieausdruck für den Begriff des Individuums. Das Thema wird damit in „das erhabene Reich der Bildung und der Sittlichkeit“20 platziert, die in ihrer Wirklichkeit über die Selbstkonstruktion der Individuen in der Welt ermöglicht und erläutert werden, gegen alle Fremdbestimmung. Als autopoietisch kann man diese Konstruktion bezeichnen, weil Schleiermacher „ein System beschreibt, das jeden äußeren Einfluß in die Produktion neuer eigener Elemente übersetzt.“21 Bildung erzeugt damit, liest man Schleiermacher weiter, nicht allein ein isoliertes Individuum, sondern vermag „die Menschheit in mir zu bestimmen“.22 Allerdings, es gibt bei Schleiermacher auch eine nicht nur randständige, sondern systematisch bedeutsame Skepsis gegen die starken Annahmen über Selbstbildung und ihre Leistungsfähigkeit. Mag diese Skepsis in den frühen Texten auch eher selten sein, sie fügt der Rede über Bildung und den Annahmen
kann man in seiner zweiter pythischen Ode – „γένοι’ οĩος εσσì μαθών.“ (Pyt II, 72) – lesen. 18Die Formel findet sich z. B. auch als Leitbild und Schulmotto der reformpädagogischen Lietzschen Landerziehungsheime des frühen 20. Jahrhunderts – und macht hier sichtbar, dass zwischen Programm und Praxis durchaus Differenzen bestehen können. 19Friedrich D. E. Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe. (1800) In: Friedrich Schleiermacher über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. v. Christian Albrecht, Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 195–259, zit. S. 238; er fährt fort, das Verhältnis von Selbst, Natur und Welt präziser akzentuierend: „So lange ich alles auf diesen ganzen Zweck beziehe, und jedes äußere Verhältnis, jede äußere Gestalt des Lebens mich gleichgültig läßt, und alle mir gleich wert sind, wenn sie nur meines Wesens Natur ausdrücken, und zu seiner inneren Bildung, seinem Wachstum mir Stoff aneignen; so lange des Geistes Auge auf dies Ganze allgegenwärtig gerichtet ist, ich jedes Einzelne nur in diesem Ganzen, und in diesem alles Einzelne erblicke … so lange beherrscht mein Wille das Geschick, und wendet Alles, was es zu bringen mag zu seinen Zwecken mit Freiheit an.“ (ebd., S. 238). 20Schleiermacher, Monologen (1800), ebd., S. 232. 21So Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung: In: R. S.: Wissenschaft, Universität, Profession. Frankfurt a. M. 1984, S. 207– 227, zit. S. 219, Anm. 42. Stichweh zitiert aus den Monologen: „… das jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles, was aus ihrem Schosse hervorgehen kann.“ (in: Schleiermacher 2008, S. 212), und weiter (nicht mehr bei Stichweh): „Der Gedanke allein hat mich emporgehoben und gesondert von dem Gemeinen und Ungebildeten, das mich umgibt, zu einem Werk der Gottheit, das einer besondern Gestalt und Bildung sich zu erfreuen hat;“ (212). 22Schleiermacher (1800), zit. 2008, S. 204, vgl. auch S. 209: „Ein wahrhaft menschliches Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir“. 17Das
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über ihre Wirkungsweise eine Facette ein, die in der Reflexion bedeutsam bleibt. Schleiermacher hielt manche Ergebnisse, die man der höheren Erziehung und dem Mechanismus der Selbstbildung zuschreiben wollte, zumal im Prozess der Bildung zur Religion, nämlich eher für „ein zauberwerk der mit den idealen der menschen spielenden natur“, wie er in der Schrift über die „Religion“ formulierte, und er sah darin „nur selten das resultat einer angestrengten und durchgeführten selbstbildung“.23 Bei Schleiermacher wird damit ein Argument formuliert, das Stabilität gewinnt, dass Bildung (zumal religiöse) sich nämlich nicht immer vom Subjekt eindeutig zielbezogen konstruieren lässt, sondern Ereignis ist, vielleicht sogar Geschenk und Gabe, nicht planbar, aber auch nicht als intendierte Praxis des Selbstlernens zielbezogen präzise organisierbar. Auch Lernen, als moralisch noch nicht qualifizierbarer, aber allgegenwärtiger Modus der Weltaneignung, und Bildung werden damit unterscheidbar, zwar empirisch nicht voneinander getrennt oder präzise trennbar, sind sie im Prozess und im Ergebnis und ihrer Bewertung dennoch nicht identisch. Sie werden abhängig von den Referenzpunkten, die zur Beobachtung eingeführt werden: Freiheit, Selbstbestimmung, die Menschheit, Aufklärung – vielfältige Referenzen also, die schon im Ursprung keine konsensuale normative Qualifizierung von Bildung erlauben, sondern ihre eigene Historizität haben. Die Rede von Bildung gewinnt diese Disparatheit also schon im Ursprung, weil sie im gemeinsam genutzten Begriff tradierte Annahmen und philosophische Innovationen, theologische Denkformen und empirische Forschungsprobleme bündelt – ohne sie argumentativ schon hinreichend präzise zu unterscheiden oder gar in ihren Konsequenzen für die Beobachtung von Bildung oder die Zuschreibung an die Akteure, zwischen der Gattung und den Individuen, auszuarbeiten und ihre je eigene Praxis zu zeigen. Bildung gehört mit solchen Überlegungen offenbar zu den Praxen, die später als „unstetige Formen“ der Selbstkonstruktion des Subjekts bestimmt werden, wie das in der späteren Existenzphilosophie, z. B. bei Otto Friedrich Bollnow,24 geschieht. In der Aufnahme Schleiermacherscher Gedanken werden sie auch in einer geisteswissenschaftlich begründeten Pädagogik des Verstehens beansprucht, um die produktiven Ergebnisse einer solchen Praxis zu erklären und die Autonomie des Subjekts anzuerkennen. Der „fruchtbare Moment im Bildungsprozess“,25 der für Bildung vermeintlich besonders charakteristische, jedenfalls erwünschte Moment, kann – so die These in diesem Theoriekontext – durch Pädagogik zwar unterstützt, eröffnet und angestoßen, aber nicht bewirkt oder
23Schleiermacher:
Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1. Rede, 1799 wird schon so im Grimmschen Wörterbuch Bd. 16, S. 463 zitiert (für die Referenz vgl. jetzt F.D.E.: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. In: Friedrich Schleiermacher über Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. von Christian Albrecht. Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 13–193; hier: 1. Rede, Apologie, zit. S. 19). 24Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart 1959. 25Die Dissertation von Friedrich Copei: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. (1930) Heidelberg 1969 entstammt ebenfalls der geisteswissenschaftlichen Tradition.
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gezielt herbeigeführt werden, aber – und das erweitert die Argumentation mit Freiheit – auch nicht, jedenfalls nicht beliebig, vom lernenden Subjekt selbst. Bildung bleibt Gabe und Geschenk. Pädagogik, die sich in der Tradition eines solchen Bildungsdenkens versteht, bewahrt nicht nur ihr religiöses Erbe, sie kultiviert auch die Paradoxie der Planung des Nicht-Planbaren; „der echte geistige Prozeß“ (Copei) ist zwar Ziel und Thema unterrichtlicher Aktivität, aber dem Pädagogen nicht verfügbar. Er kann Bildung durch falsche Pädagogik erschweren, aber nicht zielsicher ermöglichen. Diese Überzeugung tradiert sich seit Schleiermacher in bestimmten, selbst als bildungstheoretisch definierten Pädagogiken, also in den organisierten Lernwelten. In dieser eigenen, fragilen Gestalt zwischen Konstruktion und Ereignis hat Bildung in den klassischen Reflexionen zu ihrer Form im Prozess gefunden und mit dieser Praxis wird auch die Möglichkeit seines Ergebnisses erklärt. Selbstlernen charakterisiert sowohl den Prozess als auch, habitualisiert, ein Ergebnis des Umgangs mit Welt, denn vor aller Eindeutigkeit des Verhaltens wird Bildung als Selbstlernen zum verinnerlichten Modus mit Welt umzugehen, aber weder immer erzwingbar noch frei verfügbar. Eine solche Praxis ist natürlich nicht sofort in Vollendung gegeben, schon gar nicht in den frühen Lebensaltern und angesichts einer Vielfalt gesellschaftlicher Erwartungen und Aufgaben. Es gilt auch in der freiheitlichen Gesellschaft als notwendig und legitim, die Formen der Selbstbildung zu kultivieren und über Praktiken und Bedingungen der Steigerung von Selbstbildung nachzudenken, das muss, kann und darf nicht naturwüchsig oder lebensweltlich bleiben. Pure Individualität wird nicht akzeptiert, die Gattung bleibt die Referenz. Die klassischen Texte diskutieren deshalb auch die Frage, wo und wie das möglich ist, welche Strategien es gibt, Selbstbildung zu provozieren und so zu befördern, dass „die Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“, so bekanntlich Kants Erwartung an öffentliche Erziehung, erreicht wird.
Kapitel 6
Ermöglichungsformen: Bildungswelten, Bildungsgüter, Bildungskanon
Auch in den frühen Bestimmungsversuchen wird neben der Klärung der philosophischen Prämissen schon die Frage aufgeworfen, wie denn Bildung auch historisch konkret möglich ist. Einerseits sind es im Verständnis der Zeit soziale Orte, die Bildung ermöglichen, „Welten“, um Humboldt zu zitieren, die zunächst auch in einer umfassend-radikalen Weise verstanden werden: Fichtes Verweis auf „bildungsstätte“ wurde oben schon nach dem Grimmschen Wörterbuch zitiert, als „die gegenwärtige welt“, die „für alle künftigen welten die bildungsstätte“ sei, vor allem als „bildungsstätte des willens.“1 Noch aktuell wird ja „das Leben bildet“2 als These für die Ermöglichungsform von Bildung formuliert, und erneut wird Bildung weder exklusiv noch primär von der Arbeit der Schule und der Pädagogen aus gedacht. Schon im Ursprung sind andere Referenzen bedeutsamer, wenn Welten als „Bildungswelten“ identifiziert oder „Gegenstände“ als Welt betrachtet werden, wie Humboldt als Bedingung für gelingende „Wechselwirkung“ gefordert hatte. In Theorie und Praxis der Bildung gibt es für diese Konstruktion von „Welt“ sehr unterschiedliche Angebote. Zuerst werden Sozialformen identifiziert. Das sind, historisch, gesellschaftlich und personal bestimmte, auch institutionalisierte Bildungswelten, die solches Lernen und damit die Praxis der Selbstbildung provozieren sollen und können. In peer groups geschieht das alltäglich, in Schulen mit dem Versprechen, das Lernen spezifisch zu organisieren und vielleicht sogar erleichtern zu können, weil sie in den von ihnen präsentierten Aufgaben diejenigen Herausforderungen formulieren, die eigene Anstrengung lohnen. An diesen Orten sind zugleich auch Akteure, „Bildner“, die in der Interaktion den Bildungsprozess inspirieren, strukturieren und gelegentlich auch in den Produkten bewerten und korrigieren. Aber gegen Personen als steuernde Umwelten ist nicht nur Rousseau
1Vgl. 2So
Grimm, Bd. 2, Sp. 24 sowie die Nachweise oben in Anm. 19 für Fichte. besonders nachdrücklich von Hentig: Bildung. 1996.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_6
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allergisch. Von den drei „Erziehern“, die er kennt, die Natur, die Menschen und die Dinge, favorisiert er bekanntlich die Natur und die Dinge, bleibt aber skeptisch gegenüber den menschlichen Akteuren, weil er fürchtet, dass ihre Aktion als Willkür und nicht als „Notwendigkeit“ erlebt wird, also doch Freiheit einschränkt. Pädagogen gelten auch nicht nur Rousseau oder den Diktatoren in Erziehungsstaaten als unzuverlässige und problematische Akteure, die Bildung in falsche Bahnen lenken oder das Selbstlernen erschweren, sondern auch den Bildungstheoretikern als Problem. Bildung der Lehrer wird deshalb gefordert oder sogar eine autonome Bildungswelt ohne herrschende Pädagogen, wie die Schulkritik zeigt, die früh mit der Bildungsreflexion parallel geht. Dort finden sich Hinweise auf eine offene Vielfalt von Bildungswelten oder auf die als förderlich beurteilten „Umstände“, wie Klinger sagt, generell also auf produktive Lern-Bedingungen. „Mannigfaltigkeit der Situationen“ hält Humboldt z. B. für produktiv, „Freiheit“ für höchst förderlich, ja sie gilt als „die erste, und unerlässliche Bedingung“.3 „Einsamkeit und Freiheit“ sollen z. B. innerhalb der Universität „die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien“ sein,4 in der je individuell ermöglichten Praxis des Studiums unbedingt notwendig, damit die Logik von Bildung durch Wissenschaft wirksam werden kann. Auch spezifische Bildungsgüter, als Formen der Repräsentation relevanter Welten, werden, vom Beginn an und bis heute, als produktiver oder sogar notwendiger Anlass sowie als bildungsaffine Herausforderung und als Strukturierungsform des Lernens benannt. Zuerst ist es die Sprache, der im Ursprung der modernen Bildungsidee grundlegende Leistungen für die Konstitution des Verhältnisses von Mensch und Welt zugeschrieben werden. Bei manchen Autoren, Humboldt wird dafür immer zitiert, nicht selten belächelt wegen seiner Vorliebe, ja Überschätzung des Griechischen, scheint Bildung gelegentlich identisch mit sprachlicher Bildung,5 als eine Praxis, in die eingeführt und in der und über die reflektiert wird. Aber Sprache, zumal das Griechische, ist nicht allein linguistisch relevant, sondern umfassende Repräsentation von Welt,6 historisch wie politisch und individuell. Nur deshalb empfiehlt er sie
3Wilhelm
von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 31980, Bd. I, S. 64. 4Humboldt: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, Stuttgart 1981, S. 255–266, zit. S. 255. 5Für die Rolle, die Humboldt dem Griechischen zuschreibt, wird das immer wieder belegt, gilt aber generell, vgl. knapp, aber sehr informativ z. B. Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975, bes. S. 38–45 – und dann die nahezu uferlose weitere Literatur. 6Für Humboldt gilt, dass Antike „Alte Sprachen“ die „Antike Welt“ umfassend repräsentieren, als „1. … Abdruk ihres Geistes und ihres Charakters“ für den „2. … Charakter einer Nation (in) Vielseitigkeit und Einheit“, weil sie „3. reich ist an Mannigfaltigkeit der verschiedenen Formen“ sowie „4. … von der Art.., daß er demjenigen Charakter des Menschen überhaupt am nächsten kommt.“ In: Wilhelm von Humboldt: Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere. (1793), In: Humboldt Werke Bd. II, S. 1–24, zit. S. 8 f.
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als Bildungswelt gleichermaßen dem Gelehrten wie dem Tischler7 (und dem Gelehrten das Tischlern!). Initiation und Reflexion, die basale Grundlage und die Steigerungsform von Bildung, werden nur deshalb bevorzugt am Medium der Sprache dargestellt. Für das Individuum bedeutet das Aufwachsen in der Gesellschaft ja auch unausweichlich das Aufwachsen in einer kommunikativen Struktur, schon in der Sprach-Gemeinschaft mit den Eltern, in der Muttersprache, in der zugleich die Tradition und Gewohnheit einer spezifischen Welt präsent sind und habitualisiert werden. Bei Herder heißt es denn auch entsprechend: „Unsre Muttersprache war ja zugleich die erste Welt, die wir sahen, die ersten Empfindungen, die wir fühlten, die erste Würksamkeit und Freude, die wir genossen!“.8 Das Kind erhält über das Aufwachsen in der Familie einen ersten Horizont und die erste Möglichkeit, seine Welt zu verstehen. Es erlangt eine Perspektive auf Welt, eine sprachlich geformte Anschauung von Welt, die aber Weltzugänge sowohl eröffnet als auch kanalisiert, ja versperren kann. Diese vermittelte Anschauung von Welt wird deshalb auch von Herder, wenn er beginnt, seine Bildung selbst zu reflektieren, im Blick auf seine eigene Erziehungs- und Lerngeschichte im Journal als pädagogisch zugerichtete Erfahrung energisch problematisiert. Es sei nur ein indirekter Zugang zur Welt gewesen, zumal er die Dinge nicht selbst gedacht habe: „Wann werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube!“9 Der 25-jährige Herder bricht deshalb alle bisherigen Sozialbeziehungen ab, verlässt Riga und begibt sich auf eine Seereise, um sich selbst zu bilden, seine erste Bildung zu reflektieren und seine pädagogischen Ambitionen zu konkretisieren. Der autobiografisch geprägte Text ist Teil seiner Bildungsgeschichte, Reflexion über die Formen der Initiation in eine Welt, die er selbst erlebt hat. Selbstkritik steht dabei am Beginn, vor allem das Bedauern, sich selbst nicht gerecht geworden zu sein: „Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts, die Unstetigkeit deiner Laufbahn hat dich eingeschränkt, dich so herabgesenkt, daß du dich nicht erkennest.“10 Neben der Sprache als universalem Medium der Bildung gibt es in der Welt der Bildungsgüter natürlich auch materiale „Kenntnisse“, sogar solche, die „schlechterdings allgemein“ sein müssen, wie Humboldt sagt. Im Ursprung der Bildung hatte der „Lehrplan des Abendlandes“ seine antike Gestalt, wie er in den septem artes liberales für die hohe Kultur galt, schon verloren. Schulen wie Hochschulen
7So bekanntlich im sog. Litauischen Schulplan von 1809: „Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ In: Werke, Bd., IV. S. 189. 8Herder (1772) 1966, S. 99; für die Interpretation danke ich erneut der Vorgabe von Nicole Welter. 9Herder 1989b, S. 15. 10Herder: Journal meiner Reise im Jahre 1769. In. Herder Werke, Bd. 9/2, Pädagogische Schriften, Frankfurt a. M. 1989, zit. S. 29.
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mussten ihre Lehrpläne und die Funktion der propädeutischen Artistenfakultät neu definieren, reformorientierte Pädagogen einen Lehrplan für die allgemeine Bildung des Volkes jenseits von Kulturtechniken und religiöser Indoktrination neu begründen. Lehrplantheoretiker arbeiten sich deshalb bis heute daran ab, wie man z. B. für die Schule einen „Kanon“ der Bildung inhaltlich konstruieren kann, der als Bildungswelt geeignet ist, also die Selbstkonstruktion von Kompetenz, Bildung als Einheit der notwendigen Modi im Zugang zur Welt, ermöglicht. Dieser schulbezogene Kanon der notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten steht neben dem kulturellen Kanon, in dem sich die alteuropäische Kultur selbst tradiert und erneuert. Noch dieser kulturelle Kanon wird gesamtgesellschaftlich oder milieuspezifisch gelegentlich weiter eingegrenzt, z. B. auf den Kanon derjenigen Literatur, die ein Gebildeter gelesen haben muss, und zwar nach Meinung der Gebildeten, wie sie sich – variabel zu historischen Zeitpunkten – artikulieren. Dann zeigt sich, dass der Kanon wie auch „das Klassische“ selbst noch ihre eigene Geschichte haben.11 Das gilt nicht nur für die Leselisten, als Schwundstufen des kulturellen Kanons, in denen Schulen und Bildungssysteme den Kanon der verbindlichen Schullektüre vorschreiben, oder für Texte, die dem Publikum die großen Werke der Kunst vorstellen, die man gesehen haben muss (usw.). Es gibt schon von Beginn an mehr als einen Kanon, und dieser Kanon ist nicht starr, sondern selbst lernfähig, jedenfalls kulturell konstruiert. Der „europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“12 beschreibt dagegen umfassender als der schulische Kanon die primär historisch und kulturell definierte und als ‚hohe‘ Kultur anerkannte Welt und die entstehenden (bildungs) bürgerlichen Lebensformen. Er repräsentiert sie als ein Gefüge von Bildungswelten, die unter spezifischen „Voraussetzungen“ – der Rezeption der Antike, das Gymnasium und die humanistische Bildung sowie der Fürstenhof – die „Sachbereiche“ ausgebildet haben, die diese Lebensform tragen: von der Literatur und spezifischen Gattungen zur Ordnung des Wissens, wie sie das Konversationslexikon darstellt, über Reflexionsdisziplinen wie die Philosophie, die Fragen der Geltung von Traditionen und Aussagen thematisiert, bis zu Formen der Definition der kulturellen und nationalen Identität, wie sie in der Geschichte vorliegen und von der Geschichtswissenschaft generiert werden. Zu diesem Kanon gehören auch spezifische kulturelle Einrichtungen, wie Theater, Konzertwesen, Museum, auch Praktiken wie die Bildungsreise oder eigene künstlerische Aktivität. Der Ort von Mathematik und Naturwissenschaften ist in diesem Kanon schon prekär. Bis
11Für
Beweis und Diskussion dieser Historizität vgl. Salvatore Settis: Die Zukunft des ‚Klassischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten. Berlin 2004. 12Eine lesenswerte Darstellung gibt Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M. 1999 sowie, mit der Nostalgie eines Betrachters, der die von ihm geliebte Welt untergehen sieht und in der Bildungspolitik die verstärkenden Ursachen dafür zu sehen meint, die 2. Aufl. 2004, in der das Vorwort und das Kapitel „Bildung im nachbürgerlichen Zeitalter“ diesen Abschiedsschmerz artikulieren. Nach Fuhrmann die hier folgende Darstellung.
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heute werden sie gelegentlich nicht genannt, wenn man definiert, „was man wissen muss“, aber sie werden auch als „die andere Seite der Bildung“ rehabilitiert und in ihrer Notwendigkeit für Bildungsprozesse stark betont, dann durchaus in Übereinstimmung z. B. mit Humboldt, für den „mathematische Kenntnisse“ eindeutig zum Kanon gehörten.13 Das belegt auch, dass die Definition des kulturellen Kanons und die Thematisierung von Voraussetzungen und Sachbereichen14 schon im Ursprung weder gesellschaftlich noch bei den Beobachtern im Konsens geschieht. Man wird vielleicht sogar, etwas überspitzt, sagen können, dass der Kanon, auch der literarische,15 eher insoweit wirklich lebt, wenn und soweit er kontrovers ist und explizit in Alternativen diskutiert wird. Das ist auch sehr verständlich, weil Prozesse der Kanonkonstruktion immer auch mit Zensur,16 d. h. mit Ausgrenzung und mit der Konstruktion kultureller Hegemonie17 parallel gehen. Diese Prozesse erzeugen „Denkbilder“18 und erklären sie zu kanonischen Formen, also zu kognitiv-normativen Regeln, in und mit denen wir nach der Meinung der Konstrukteure unsere Welt wahrnehmen sollen. Selbstverständlich sind aber auch andere als bürgerliche Welten – und nicht allein adlige – als Lebensformen interpretierbar, die Lernprozesse prägen und einen spezifischen Habitus erzeugen, der sich gelegentlich sogar in den Dimensionen alteuropäischer Erwartungen an Individualität diskutieren lässt. Diese Welten, die bäuerlichen z. B., sind aber im Ursprung der modernen Bildungsidee nicht als erste präsent, sondern werden meist sogar abgewertet, z. B. als „dumm“ in der Attribuierung des Bauern. Wenn Bildung als Form und Ideal der Lebensführung beobachtet, diskutiert und konstruiert wird, dann sind also auch die im traditionellen Bildungsbegriff fixierten Grenzen – der anerkannten
13Distanz
gegenüber den Naturwissenschaften und der Mathematik gibt es bis heute, auch z. B. bei Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a. M. 1999, das Plädoyer für diese Welten bei Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001. 14Maaser/Walther, Bildung 2011 sortieren die Bildungswelten anders (nach „Zweigen“, „Techniken“, „Medien“, „Epochen“, „Akteuren“, „Institutionen“ und „Nationalen Bildungssystemen“ – und reden auch über „Unbildung“ als eigene Praxis), sie sind auch weniger nostalgisch, aber der Grundgedanke bleibt der der Wechselwirkung von Mensch und Welt – und auch bei ihnen fehlt „Arbeit“ (es gibt immerhin „handwerkliche“, „technische“ und „praktische Bildung“) und der „Alltag“ oder andere als bürgerliche Sozialimilieus als Bildungswelten. Die finden sich in anderen Texten, die z. B. über die Bildungsbedeutsamkeit der Arbeiterkultur sprechen oder über altersspezifische Gesellungsformen, wie historisch z. B. Hülsens „Bund der freien Männer“ oder später z. B. die deutsche Jugendbewegung in ihren vielfachen Varianten (vgl. insgesamt Teil III, unten). 15Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart/Weimar 1998. 16Für dieses Begriffspaar Aleida Assmann/Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. München 1987. 17Die Arbeiten von Pierre Bourdieu lassen sich in diesem Kontext lesen. 18Susanne Knoche/Lennart Koch/Rolf Köhnen (Hrsg.): Lust am Kanon. Frankfurt a. M./Bern 2003.
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Wissenschaften, der Konzentration auf bürgerliche Lebensformen, der relativen Distanz gegenüber Arbeit, zumal gegenüber Lohn- und Handarbeit19 – in ihrer Problematik zu sehen, genauso wie die nationalen und kulturellen, etwa die eurozentrischen Selbstblockaden. Diese Relativierung der Geltung von Bildungswelten erweitert den Blick für die Möglichkeiten von Bildung, aber sie bestätigt zugleich auch, dass es spezifische Bildungswelten, kulturelle Herausforderungen und lebenszeitlich präsente Aufgaben sind, von denen aus die Konstruktion von Individualität bestimmt ist und dass sich das Subjekt nicht allein und in seiner Innerlichkeit, gar nur mit sich selbst konfrontiert, ohne Wechselwirkung mit der Welt konstituiert, wie auch die pädagogischen Klassiker schon festhalten.20 Bildungstheoretisch führt diese Öffnung des Blicks auf die Vielfalt und Offenheit, die Alterität und Varianz von Bildungswelten aber auch zu der Einsicht, dass sich Humboldts These nicht überholt hat, dass sich die Welt der Bildung erst in ihrer Funktionalität für die Selbstkonstruktion des Subjekts als Bildungswelt erweist – aber auch, dass sich nicht vorab Bildungswelten oder Bildungsgüter als allein legitime Bildungswelten ausweisen lassen: „Jedes Geschäft hat seine eigene Vollkommenheit“. Und wenn „Nicht-Mensch“ das Kriterium für die Anwartschaft auf eine Wirklichkeit als Bildungswelt ist, dann kann natürlich neben den kulturellen, vom Menschen erzeugten Dingen auch die „Natur“ diese Stelle übernehmen. Die Bildungstheorie der Romantik und die amerikanischen Transzendentalisten, Emerson zumal, werden diese Annahme präzisieren und ausarbeiten und Natur selbst in die Sozialwelt einholen. Für die Konstruktion des schulischen Bildungskanons, eines spezifischen Kanons, ist dies Offenheit der Bildungstheorie für die relevanten Bildungswelten höchst herausfordernd. Sie erweist Schule – wie die schulbezogenen Texte der Klassiker insgesamt, nicht nur Humboldts Schulpläne, belegen und erkennen lassen – als eine der gesellschaftlich definierten und individuell präsenten Bildungsmöglichkeiten. Das trägt ihr mit dieser Zuschreibung aber zugleich auch die Schwierigkeit ein, dass sie sich in ihrer institutionellen Gestalt und Geltung immer und unausweichlich auch als Ausdruck kultureller Willkür und als Welt der Konstruktion von Bildung zugleich darstellt und so auch diskutiert und bewertet sieht.21 Hier wird für alle Heranwachsenden ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Curriculums konstruiert, das individuelle Bildungsprozesse den Zwecken und Funktionen der Schule unterwirft, für die Vergesellschaftung und Individuation uno actu erledigt werden müssen, weil die Schule als Bildungswelt
19Erst
bei Hegel und Marx werden sie explizit Thema (vgl. dazu Teil III). notiert jedenfalls kurz und knapp. „Der Mensch ist Nichts ausser der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die Humanität ihm fehlen würde.“ In: Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. (1824/1825). Zit. In: SW VI, S. 20. 21Ich nehme für die Betonung der Kanonisierungsfunktion von Schule eigene ältere Überlegungen neu auf, vgl. u. a. jüngst und knapp als Resümee Heinz-Elmar Tenorth: Kanonisierung, die zentrale Funktion der Schule. In: U.Erdsiek-Rave/M.John-Ohnesorg (Hrsg.): Bildungskanon heute. Berlin 2012, S. 21–26. 20Herbart
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ganz spezifischen Konstruktionsbedingungen relativ zu Organisation und Gesellschaft unterliegt. In der Schule und für das Lernen zuerst in der grundlegenden Bildung einerseits, der gelehrten propädeutischen Bildung andererseits bleibt die Konstruktion von Lehrplänen unter dem Anspruch schulischer Kanonisierung eine eigene Aufgabe, vom kulturellen Kanon allein nicht zu lösen, aber ebenfalls kontrovers.22 Im Kontext der Ausarbeitung des modernen Bildungsbegriffs werden zu Lösung dieser Herausforderung sogleich auch bevorzugte Fächer oder Themenfelder schulischen Lernens genannt, allerdings nicht im Konsens. Das Griechische z. B., glaubten zumindest die frühen Bildungstheoretiker,23 aber auch noch Nietzsche, sei insofern multivalent produktiv, eröffne den Zugang zu Literatur, Natur und Kultur gleichermaßen, also zu mehr als einer Dimension von Welt,24 und könne deshalb als Modell fungieren, an dem sich der Mensch zum Menschen bilden könne. In seinen Schulplänen reduziert Humboldt die notwendigen Kenntnisse aber keineswegs auf das Griechische, sondern bestimmt das Curriculum einerseits formal, denn „das Lernen des Lernens“, wie er explizit sagt, müsse gelernt werden, andererseits material, in vier Dimensionen, die das Wissen und die im Umgang mit Wissen erwerbbaren Kompetenzen „philosophisch“ definieren: die linguistische, historische, mathematische und ästhetisch-expressive Dimension.25 Die Welt wird damit ihrer sprachlichen und zeitlich-sozial-normativen Dimension und Codierung, in mathematischer Symbolisierung der Analyse und in der in der individuellen Gestaltung der natürlichen und der je subjektiv-leiblichen Verfasstheit zum Thema, je einzeln und nicht substituierbar in ihrem Modus, relationiert im schulischen Lernprozess. Die Aufklärungspädagogen orientieren sich in der Konstruktion ihrer Lehrpläne ebenfalls an den großen Themen von Mensch und Welt, aber durchaus in eigener Systematik, wie das z. B. in Bayern der Wismayrsche Lehrplan von 1804 zeigt. Die Ordnung des Wissens in seiner
22Für die Geschichte der modernen Lehrplanentwicklung u. a. Heinz-Elmar Tenorth: Kanon: Prinzipien, Selektivität und Willkür – Differenz und Gleichheit in Lehrplänen. In: Jörg Schlömerkemper (Hrsg.): Differenzen. Weinheim/München 2000, S. 21–32; ders.: Kanonprobleme und Lehrplangestaltung. Über „das Ende des alteuropäischen Lehrplans“ und seine Ablösung durch den „Bildungsplan“. In: R. Keck/Ch. Ritzi (Hrsg.): Geschichte und Gegenwart des Lehrplans. Hohengehren 2000, S. 365–376. 23Humboldt trägt dafür die stärksten Argumente vor, wenn er die Erwartungen an allgemeine Bildung formuliert, nicht nur beim Plädoyer für Griechisch und das Tischlern, denn: „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am Feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll.“ Wilhelm von Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., IV. S. 189. 24Nähere Belege bei Heinz-Elmar Tenorth: Antike im Kanon. Vertraute Herkunft – verstörende Gegenwart. Erwartungen eines Erziehungswissenschaftlers an die Alten Sprachen. In: Gymnasium 106 (1999) 5, S. 385–404. 25Einzelheiten im Königsberger bzw. im Litauischen Schulplan von 1809 (hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV).
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Gesamtheit26 geschieht hier in den sechs Dimensionen von „Gott, Mensch, Natur, Kunst, Sprache, Zahl und Maaß“, also durchaus Humboldts Gefüge vergleichbar. Utilitarismus, wie man der Aufklärungspädagogik gern historisch wie aktuell vorwirft, ist dabei jedenfalls nicht das Konstruktionsprinzip, selbst das Griechische findet seinen Platz. Auch die Differenz – denn „Gott“ und damit Religion als eigener Modus des Weltzugangs findet sich nur bei den Aufklärern – ist signifikant. Humboldt macht diese Zuschreibung nämlich nicht, sondern rechnet Religion dem historischen Zugang zur Welt zu, fasst sie also bildungstheoretisch auf, d. h. als soziale Tatsache, nicht als Bekenntnis. Man erkennt in diesen Konzepten, sei es bei Humboldt oder Wismayr, wesentliche Dimensionen und Modi des Weltzugangs, in denen noch heute die Themen und inhaltlichen Vorgaben allgemeiner schulischer Bildung und ihres Kanons diskutiert werden. Sichtbar ist historisch aber bereits auch, dass das konkrete Gefüge der Schulfächer, wie sie in Stundentafeln repräsentiert sind, mit den kanonisierten Modi des Weltzugangs nicht identisch ist, sondern nur deren historisch wandelbare Operationalisierungen repräsentiert. Der Kanon als Einheit von Kenntnissen und Fertigkeiten, Wissen und Haltungen, der über die Schule als ‚notwendig allgemein‘, wie Humboldt formuliert, durchgesetzt werden soll, wird zwar in der Vielfalt und Varianz der Schulfächer realisiert, die einzelnen Fächer, zumal in ihrer zeitlichen Gewichtung, die sie in der Stundentafel finden, verdanken sich aber allein der Lehrplanpolitik der Nationen und Kulturen, ihren Ideologien und Wertorientierungen. Ob neben der jeweiligen Verkehrssprache als fremde Sprache dann Französisch, Latein oder Griechisch vorkommen, ist ebenso kontingent wie die Definition des Historischen, die ‚Geschichte‘ genauso umfassen kann wie – historisch gesehen – die Rhetorik oder die Politik (usw.).27 Curricula sind insofern paradoxe historische Formen, nach ihrer Genese und manifest Produkte kultureller Willkür und als Ausdruck politischer Ideologie diskutierbar, eröffnen sie über die Tiefenstruktur und d. h. latent im Umgang mit den Kenntnissen zugleich die Vielfalt der Möglichkeiten des Weltzugangs, die einen selbstständigen Bildungsprozess offenbar auch dann ermöglichen, wenn die politische Funktionalisierung primär scheint. Nicht zufällig ist den konservativen administrativ-politischen Beobachtern der Humboldtschen Schul- und Universitätspläne das ganze Unternehmen verdächtig, weil sie in der allgemeinen Bildung, die ja auch die Bildung des Volkes einschließt, ein Bedrohungspotential für die Stabilität der hergebrachten sozialen Ordnung
26Bei
Wismayr (1804) gelten diese Dimensionen als Strukturen des Wissens überhaupt, und zwar ohne Unterschied für niedere oder höhere Bildung – und Niethammers Kritik an diesem Lehrplanprinzip als Dokument des „Utilitarismus“ macht es sich offensichtlich zu leicht. 27Für das Kanon-Thema systematisch Heinz-Elmar Tenorth: „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt 1994 (vgl. auch weitere Hinweise unten in Kap. IV).
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v ermuten. Für Demokratien, so lautet der bekannte Einwand, mag das taugen, für den preußischen Staat um 1818/20 nicht.28 Als Steigerungsform, also nicht mehr nur als Initiation, sondern als bereits wissenschaftlich reflektierte Reflexion der „Kenntnisse“ und der Funktion des Bildungssystems, kann man die im Bildungsdiskurs sich verbreitende Formel von „Bildung durch Wissenschaft“ verstehen. Besonders prominent geworden im Kontext der Neugründung von Universitäten und der Reflexion über die Form und Methode des akademischen Studiums um 1800, wird diese Formel durchaus unterschiedlich ausgelegt. Das Programm war schon im Ursprung nicht eindeutig und ist in der Auslegung der Texte bis heute mehrdeutig geblieben.29 In der Tradition von Fichte oder Schelling, die meistzitierten (neben Schiller oder Humboldt), ist Teilhabe an der Philosophie, scharfe Distanz zum Brotstudium und vor allem Distanz gegenüber spezialistischer disziplinärer Arbeit das Kriterium. Die wünschenswerte Praxis, „Bildung durch Wissenschaft“, wird hier möglich durch Teilhabe am Allgemeinen, an der Philosophie, am Ethos, an den Grundfragen der Bestimmung von Mensch und Welt. Bei Schleiermacher dagegen ist eine Einführungsphase in die Philosophie für alle Studenten zwar intendiert (wenn auch historisch nie realisiert), die Vollendung finden die universitären Studien aber in der Teilhabe an sowie – anders als bei den anderen Theoretikern, die das fachgebundene Brotstudium verachten30 – in der Arbeit in den je spezialisierten Forschungsgebieten der fachlich zentrierten Ausbildung. Gemeinsam ist den frühen philosophischen Texten wiederum, dass sie von der Beschäftigung mit Wissenschaft uno actu und zugleich Moralisierung erwarten: „Denn wer in der Tat Wahrheit sucht, und andere sollten doch nicht sein Mitglieder dieser Anstalt, der ist auch in sich selbst sittlich und edel; bei ihm wird auch die Erkenntnis vorzüglich Eingang finden, die ihn das Niedrige als nichtseiend und leer verwerfen lehrt; 28Ludolph
von Beckedorff, Beamter im Kultusministerium, hat das 1819 formuliert, neben der Attacke auf Humboldt und seine Mitstreiter, Schleiermacher vor allem, die Demagogenverfolgung war eine der Konsequenzen (vgl. schon Hartmut Titze: Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt a. M. 1974). 29Die folgenden Hinweise und Überlegungen basieren auf Arbeiten zur Geschichte der Universität zu Berlin, zum Thema vor allem Heinz-Elmar Tenorth/Charles E. McClelland u. a.: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin, 1810–1918. Berlin 2012 (Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 1), für die systematische Frage auch der Abschnitt zum Thema Bildung durch Wissenschaft in H einz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Päderborn 2018, S. 203–218. Für den systematischen Zusammenhang von Bildung, Wissenschaft und Universität, für die Rolle der Philosophie angesichts der Struktur der modernen Wissenschaften aber unentbehrlich, schon weil sie jenseits aller Pädagogisierung argumentieren, sind die Arbeiten von Jürgen Mittelstraß. Man lese exemplarisch nur J.M.: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt a.M.1989. 30Schiller macht in seiner Antrittsvorlesung in Jena vom 26. und 27. Mai 1789 bekanntlich die Unterscheidung bei den Studenten, zwischen dem „philosophischen Kopf“ und dem „Brotstudenten“ (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 2, München 1966, S. 9–22) und sieht erst Gewinn, wenn der Student „aus dem engen Kerker einer Brotwissenschaft heraustritt und dem Ruf des Gottes folgt, der in ihm ist“, wie er in seiner Rede über das Theater formuliert (vgl. Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, zit. S. 719).
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und wenn ein solcher auch in mancherlei Verirrungen hin-/eingeworfen wird und so die Gewalt der Natur an sich selbst erfährt, so werden auch diese nicht an ihm verloren und noch weniger von solcher Art sein, daß man aufhören müßte, ihn zu achten und zu lieben.“ Schleiermacher, der diese Erwartungen 1808 formuliert, denkt aber nicht nur Wissenschaft als Voraussetzung für die Steigerung von Sittlichkeit, sondern wahre Sittlichkeit sogar als empirische Bedingung der Möglichkeit von richtiger Erkenntnis: „Die aber keiner anderen als einer von außen hervorgebrachten Sittlichkeit fähig sind, werden auch keiner wahren Erkenntnis fähig sein, ja auch nicht der Einsicht und Bildung, welche selbst in den mehr Untergeordneten auf der Universität soll hervorgebracht werden.“31 Im Selbstverständnis der Universität um die Wende zum 20. Jahrhundert, das belegen die Rektoratsreden deutscher Universitäten,32 ist „Bildung durch Wissenschaft“ dagegen immer veralltäglicht, ein Ergebnis der selbstverständlichen Praxis, dass alle Studierenden an einer Lehre teilhaben, die universitär und disziplinär, damit wissenschaftlich geprägt ist und durch das Ideal der Professoren bestimmt wird, Forschung zu betreiben. „Bildung durch Wissenschaft“ ist hier, zugespitzt, ein Programm für Studenten, eine Form der Sozialisation in Wissenschaft, Forschung und Lehre, in der sich geistige und sittliche Bildung vereinen sollen – damit sich die „Persönlichkeit“ der „Eliten“ bildet. Schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird aber fraglich, ob das in der Universität überhaupt möglich ist, vor allem angesichts der ungeordneten Lehrpraxis und der zunehmenden disziplinären Ausfächerung. Gegen Ende des Jahrhunderts wird schließlich unter dem Bildungsaspekt die Realität der Forschungsuniversität als „Spezialisierung“ kritisiert, fatal für die Universität wie die als ‚Vermassung‘ und „Überfüllung“ wahrgenommene Zunahme der Zahl der Studenten. In ihrer Summe bedeuten diese Bildungswelten also mehr, Anderes und Problematischeres, als nur die historische Entfaltung und Tradierung einer bestimmten, schon immer als bildungsaffin ausgezeichneten, später als ‚bildungsbürgerlich‘ etikettierten und anerkannten Lebensform. Solche Lebensformen stellen sie sicherlich auch dar, und ohne Zweifel lässt sich von hier aus auch ein traditionelles Verständnis von ‚hoher Kultur‘ und der „Bildungsgüter“ entwickeln, auch zeigen, wie sich bestimmte Auffassungen von Mensch und Welt, von Individualität und Schöpfertum darstellen und reproduzieren und damit den sachlichen Gehalt von „Bildung“ überliefern. Dieses Konglomerat von Welten und ihren Deutungen hat auch nicht nur rhetorisch-reflexive und heute verlorene Bedeutung, sondern im Aufwachsen innerhalb spezifischer Sozialmilieus – die bis in die organisierte Arbeiterschaft hineinreichen – historisch eine große Rolle
31Schleiermacher,
Gelegentliche Gedanken, 1808, hrsg. von Müller 1990, S. 224–225. den Ertrag dieser Quelle v. a. Dieter Langewiesche: Die ‚Humboldtsche Universität‘ als nationaler Mythos. Zum Selbstbild der deutschen Universität im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift 290 (2010), S. 53–91; ders.: Humboldt als Leitbild? Die deutsche Universität in den Berliner Rektoratsreden seit dem 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 14 (2011), S. 15–37.
32Für
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gespielt und sie in Nischen bildungsbürgerlicher Existenzen sicherlich auch bis heute bewahrt. Diese Bildungswelten waren und sind damit zugleich, einzeln oder im Gefüge ihrer biografischen oder lokalen Präsenz, auch als systematische Prämissen für die Ermöglichung von Bildungsprozessen zu lesen. Teilhabe an diesen Welten, leiblich, kognitiv, emotional, ermöglicht Bildung, insofern entspricht die unterliegende Wirkungsannahme den theoretischen Prämissen, die aktuell im Kontext von Sozialisationstheorien diskutiert werden. Die Bildungswelten und Bildungsgüter spiegeln in ihrer Gesamtheit deshalb Lebensformen, die mit guten Gründen als „Sachbereiche“ für den europäischen Bildungskanon beschrieben worden sind und denen man zuschreibt, dass sie Formen der Selbstbildung stimulieren. Allein, diese Bildungswelten sind weder exklusiv bürgerlich, noch allein klassisch, noch traditional oder einheitlich bildungstheoretisch fixierbar. Schon in Humboldts Deutung herrscht Offenheit für höchst variante Praxen des Umgangs mit Welt, ihr Bildungssinn entfaltet sich erst in der Wechselwirkung mit den je historischen Akteuren, er ist nicht vorab durch die Welt, der er begegnet, schon entschieden.
Kapitel 7
Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung
Das, die Anerkennung der Möglichkeit von Selbstbildung, ist historisch für die meisten dieser Bildungswelten auch unbestritten, allein für die Schulen nicht, jedenfalls nicht generell. Ob auch dort solche Lernprozesse, die als „Selbstbildung“ qualifizierbar sind, ermöglicht werden, dass Schule und pädagogische Praxis mithin als legitime Ermöglichungsform von Bildung konzipiert und verstanden werden können, das ist im Umkreis der Bildungsreflexion von Beginn an kontrovers, auch schon vor dem Zugriff des Staates und vor dem Siegeszug des Berechtigungswesens. Das mag erstaunen, denn die intensive Berufung auf Humboldts Schulpläne z. B., auf den Königsberger und den litauischen Schulplan, und das dort unterstellte Programm allgemeiner Bildung gehört ja zum festen Bestand des modernen Bildungs-Narrativs. Humboldt wird bis heute immer wieder als Gewährsmann für die Struktur einer modernen Schule genommen, ja selbst als Urahn von Gesamtschulplänen ist er interpretiert worden,1 sogar individualitätszentriert und quasi reformpädagogisch nach dem Muster des 20. Jahrhunderts. Man kann ihn allerdings nur dann in dieser präsentistischen Weise interpretieren, wenn man die moderne Schule allein individualitätszentriert denkt; aber genau das tut Humboldt nicht. Das wird deutlich, wenn man neben den bildungstheoretischen Prämissen und der individuellen Perspektive – der gleichen allgemeinen Bildung – auch die schulpädagogischen und gesellschaftstheoretischen Implikationen mit berücksichtigt, die Humboldt formuliert, und damit auch die gesellschaftspolitischen Implikationen seiner Schulpläne.2 Dann liefert er ein Modell liberaler Schulpolitik, in dem die staatsfunktional notwendige Konstruktion von Eliten und die Sicherung einer allgemeinen Grundbildung
1Der ehemalige Hessische Kultusminister und Bildungssoziologe Ludwig von Friedeburg hat mit dieser Prämisse die Geschichte der Schule und der Bildungspolitik als ein kontinuierliches Versagen vor Humboldts Anspruch beschrieben, vgl. L. v. F.: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. M. 1989. 2Vgl. dazu unten in Kap. I.10 den Abschnitt „Bildung der Nation“.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_7
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zugleich bedient werden, auch in Form eines republikanischen Elitismus legitimiert, der für die seit dem frühen 20. Jahrhundert dominierende deutsche Tradition der Reflexion von Bildungspolitik bis heute eher fremd ist. Humboldts Schulmodell, das macht seine fortdauernde Provokation aus, ist nämlich eindeutig in der Einheit von Egalität und Differenz konstruiert, individualisierend auch in der Leistungsdimension, mit starker Betonung des Prüfungswesens – um die Gesellschaft vor den ‚mittelmäßigen‘ Qualifikationen zu schützen – und ganz ohne Angst vor den Mustern der Vergesellschaftung, die der Schule als Institution innewohnen. Zu diesen Erwartungen an Vergesellschaftung zählt es, dass Humboldt als wesentliches Moment des Lernens zwar für alle erwartet, dass neben notwendigen „Kenntnissen“ eine grundlegende Kompetenz habitualisiert wird, „das Lernen des Lernens“, wie der Königsberger Schulplan sagt, dass sich ansonsten aber die Verteilung auf die unterschiedlichen Bildungsgänge, d. h. auch der Übergang in berufliche Arbeit oder in das Studium, nach individuellen Fähigkeiten und der Leistung richtet und dann Ungleichheit legitim ist. „Die Gränze des Unterrichts“, so hält er fest, „kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“3 Pädagogische Gleichheit in den Lernmöglichkeiten und insofern die Anerkennung der Schule als Ort legitimer Vergesellschaftung ist die Vorgabe, nicht etwa gesellschaftliche Egalisierung das Ziel. Selbstbildung, die Humboldt durchaus unterstellt, ist zugleich ein Mechanismus der Selbstselektion. Das Argument der Selbstbildung wird vor dem Hintergrund dieser Implikationen öffentlicher Erziehung zwischen Individualisierung und Vergesellschaftung bei anderen Autoren anders als bei Humboldt schon früh aber auch schulkritisch genutzt. Die frühe Bildungs-Debatte liefert engagierte Kritiken der Schule und formuliert Kriterien, um öffentlich organisierte Erziehung und schulisches Lernen in den Vorhof von Bildung zu verweisen, wenn nicht sogar in strikter Differenz zu Bildung zu beurteilen und zu beschreiben. Schon weil dieses Argument im pädagogischen Jahrhundert so überraschend ist, lohnt ein kurzer Blick auf die Formen von Schulkritik, die bildungstheoretisch früh erzeugt und stabilisiert werden. Dieser Blick lohnt sich auch, weil diese Art von Schulkritik in bildungstheoretischer Absicht bis in die Gegenwart tradiert wird, auch im kritischen Verdikt gegen die ‚Verstaatlichung‘ von Schule als ein unheilvoller Prozess, den Humboldt eingeleitet habe.4 In seinen pädagogischen Schriften beschäftigt sich Herder z. B. mit der Frage, ob Bildung in Schulen möglich sei und ob sich die Arbeit der Institution mit dem Gedanken der Selbstgestaltung verbinden lasse. Schule, so unterstellt Herder
3Litauischer 4Dieses
Schulplan, Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 190. humboldtkritische Argument formuliert Bosse, 2014, bes. S. 351 ff.
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in eindeutig schulkritischer Wendung, aber nicht nur er,5 vereinheitliche den Bildungsprozess, entindividualisiere das Lernen und verhindere, im schlimmsten Falle, sogar die Möglichkeiten und Gelegenheiten für einen selbst gestalteten Bildungsprozess. Herders Schulkritik klingt deshalb auch zunächst radikal: „Die Schulen sind die ersten Gefängnisse, mit denen man ihnen droht, und wo man ihnen das Sitzen, das Lernen, und weiß Gott! Welche ritterliche Übungen mehr beibringen werde.“6 Diese Prozesse der Entindividualisierung durch organisiertes Lernen stellt er in einen weiten biografischen Kontext: „Die Ammen haben unseren Kopf zum erstenmal geformt; der Schullehrer zum zweitenmal; wenn wir in die Welt träten, geschähe die 3te und notwendigste Bildung.“7 Dennoch wertet Herder die Schule nicht gänzlich als bildungsuntauglich ab, aber sie habe gewisse Bedingungen zu erfüllen, die er in seinem Schulreformprogramm beschreibt. Neben der Umstrukturierung des Unterrichtsablaufs sowie der Umstellung und inhaltlichen Neuordnung der Fächer hält Herder insbesondere den Lehrer für ausschlaggebend für erfolgreiches Lernen in der Schule und, im wünschenswerten Fall, zur Anregung von Bildungsprozessen, in denen das Individuum sich selbst bilden kann. Herder spricht von Passung zwischen Individuum und selbst gewählten und angeeigneten Bildungswelten. Der Lehrer muss jedoch über „Talente, Talente!“ verfügen, um zwischen den Schülern und den Bildungsstoffen vermitteln zu können.8 Er sollte didaktische Fähigkeiten ebenso besitzen wie echte Begeisterung für die von ihm unterrichteten Fächer. Weder Gelehrsamkeit noch Genie sollten den Lehrer auszeichnen, denn beides stehe dem Vermittlungsprozess an „Jünglinge“ eher im Weg. Aber „Grazie“ in der Vermittlung, sei die den Lehrer auszeichnende, entscheidende Qualität. Die Fähigkeit, Inhalte zu ordnen, zu strukturieren und zu systematisieren, komme ergänzend hinzu. Herder orientiert die Struktur und die Inhalte der Fächer deshalb auch ausdrücklich an den im 18. Jahrhundert bekannten entwicklungspsychologischen Kenntnissen über die Lebensalter des Kindes. Diese Perspektive ist historisch neu: Es geht nicht zuerst um das Fach, sondern um die Vermittlung des Faches an ein bestimmtes – hier ein in bestimmten Phasen der Entwicklung sich befindendes – Kind, entsprechend seiner je altersspezifischen Art, Welt zu entdecken und
5In der Interpretation Herders folge ich Nicole Welter, z. T. wörtlich. Eine vergleichbare These findet sich auch bei Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. (1810). 6Herder, Journal, 1989, S. 172, S. 173 für das folgende Zitat. 7Herder nimmt damit im Übrigen, modifizierend, eine seit der Antike bekannte Formel auf, die auch Rousseau im 1, Buch des Emile zitiert und auf Terentius Varro zurückführt: „Educit obstetrix, sagt Varronius; educat nutrix, instituit paedagogus, docet magister.“ Hartmut von Hentig (Bildung, 1996, S. 143 ff.) hat diese Sequenz – „die Hebamme entbindet, die Kinderfrau zieht auf, der Pädagoge stellt (das Kind in die gegebenen Lebensverhältnisse) ein, der Lehrer lehrt oder unterrichtet“ – als eine „grundsätzliche Einteilung des Erziehungsgeschäfts an dessen Personal“ und als Sequenz von „drei Schulen“ nach der Geburt interpretiert und in seiner Schultheorie weiter differenzierend ausgelegt. 8Zu Herders Schultheorie im Detail Welter 2003, S. 331 ff., der ich hier folge, z. T. wörtlich.
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Wissen zu erwerben. Das ist seit Rousseau natürlich als Argument nicht ganz unbekannt, neu ist es allerdings in der konsequenten gedanklichen Umsetzung für die ‚Lateinschulen‘. Ermöglicht Schule durch Struktur, Inhalt und vor allem ausgewählte Lehrer Selbstwirksamkeit in geordneten Schulstrukturen, dann kann Schule bilden, also Selbstbildung unterstützen. Herder löst das dann immer noch bleibende Paradoxon von schulisch organisierter Pädagogik und Selbstbildung letztlich über den Gedanken der durch Übung erzeugten Disziplin; denn auch Selbstbildung muss (sieht man vom Genie ab) gelernt werden. Gelingt der Bildungsprozess in der Schule ist das Ergebnis erfreulich: „Auf die Akademie geht, und siehe da! Eine Krone aller Philosophie, den Jüngling zu erheben, daß er sich selbst bestimme, seine Studien recht einzurichten wisse, gut lese, höre, betrachte, genieße, sehe, fühle, lebe, daß er wisse sein eigner Herr zu seyn.“9 Der größte Verlust, das höchste Risiko einer misslungenen Bildung, ob in der Schule oder ohne sie, wäre im Sinne Herders der Selbstverlust. Denn „Wer sich selbst verliert, hat alles verloren“.10 Die schulpädagogischen Debatten des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelten deshalb auch im Kern der Frage, wie sich die legitimen Ansprüche der Ausbildung von Individualität mit den egalisierenden Mechanismen schulischen Lernens vereinbaren lassen. Sie stellen sich mithin bereits früh dem Problem der bildungsund individualitätstheoretisch inspirierten Schulkritik, die bis in die Gegenwart andauert.11 Herder löst das Problem didaktisch und methodisch, über eine als pädagogisch legitim konzipierte Technologie schulischer Arbeit, bezeichnenderweise über die Klärung eines wesentlichen Instruments der ‚alten‘ Schule, die Übung. Deren Möglichkeiten diskutiert auch Schleiermacher, wenn er – ebenfalls in schulkritischer Intention – die Zeitdimension schulischer Arbeit betrachtet und die Frage aufwirft, ob es legitim sei, die Gegenwart schulischen Lernens, die dem an Spiel und Selbstverwirklichung interessierten Lernenden fremd sei, je aktuell „aufzuopfern“, dieses Opfer aber im Verweis auf ihre Bedeutung für die Zukunft zu rechtfertigen.12 Auch Schleiermacher löst das Problem durch den Verweis auf eine andere Form der Übung, die selbst als ‚Spiel‘ erscheinen, die Spannungen also praktisch auflösen soll. Vergleichbar haben die Erfindungen der philanthropischen Schulreformer, mit denen sie die alte Schule, zumal die Lateinschule, vor ihrem eigenen, neuen Bild des Kindes und dem Anspruch der Aufklärung und Bildung rechtfertigen wollen, ihren Kern in einer neuen Didaktik und Methodik, in der Neuerfindung der Schule als einer kindgerechten Lebensform. Selbst in den folgenreichen Gymnasialreformen, wie sie in reflexiven Texten
9Herder,
Journal (1769) 1989, zit. S. 55/56. Pädagogische Schriften, S. 826. 11Für eine systematische Diskussion des Themas und für die gegenwärtigen Möglichkeiten einer bildungstheoretischen Legitimation der Schule vgl. unten Teil III. 12Ausführliche Nachweise in Heinz-Elmar Tenorth: Zeit als Thema der Erziehungswissenschaft. Dissens der Codierungen, Desiderata der Thematisierung. In: J. Bellmann u. a. (Hrsg.): Perspektiven Allgemeiner Pädagogik. Weinheim/Basel 2006, S. 57–74. 10Herder,
7 Exkurs: Schulen – das Paradox institutionalisierter Selbstbildung
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z. B. den Consilia scholastica von Wolf propagiert und u. a. in Berlin von Schulmännern wie Gedike und Meierotto oder in Reformschulen wie bei Jachmann durchgesetzt werden, sind die Leitbilder von Aufklärung und Bildung in der Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Vergesellschaftung, zwischen den Ansprüchen des Staates und der Gebildeten leicht zu erkennen. Schon die Kritiker der Reformen, die den Modernismus dieser Programme kritisieren, zeigen die Zäsur, die auch schultheoretisch durch die Beanspruchung des Bildungsbegriffs markiert wird. Diese Debatten belegen auch, dass die pädagogische Lösung nicht in der Abkehr von der öffentlichen Schule oder im Einzelunterricht gesucht wird, sondern in der – dann natürlich selbst konflikthaft diskutierten – neuen Gestaltung von Schulen.13 Bildungswelten, das ist das systematische Ergebnis dieser Diskussionen über die Schule, gewinnen ihre Qualität nicht aus der bruchlosen Passung von Individualität und eigener Gestalt, sondern erst aus der Differenz, durch die auch die Wechselwirkung mit der jeweiligen ‚Welt‘ ihren produktiven Sinn für Selbstbildung überhaupt erst erreichen kann. Die anderen Bildungswelten, von der Literatur bis zum Theater, vom Museum bis zur Bildungsreise profitieren im Bildungsdiskurs zunächst von der tradierten Reputation, die sie in der vorbürgerlichen Welt gewonnen haben und bewahren können. Aber es bezeichnet die Zäsur, dass mit der Modernisierung des Bildungsbegriffs auch die Bildungsbedeutsamkeit und d. h. die Wirkungsweise dieser Bildungswelten angesichts großer Erwartungen der Moralisierung der Kultur und der Konstruktion der selbstverantwortlichen Person neu thematisiert und auf andere, weitere Welten ausgedehnt wird.
13Bei
Karl-Ernst Jeismann: Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. (1974) Vollständig überarb. Aufl., Bd. 1, Stuttgart 1996 wird dieser konflikthafte Prozess der Neuerfindung einer bildungstheoretisch legitimierten Schule intensiv analysiert.
Kapitel 8
Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion – „der Gebildete“
Wie kann man sich die Wirkung dieser Welten vorstellen, jenseits der puren Teilhabe durch Anwesenheit, die allein sicherlich noch nicht hinreichend Bildung sichert oder immer, unabhängig von Zeit, Kontext und Akteuren, die erwünschte Wirkung erklärt? Was kann „Wechselwirkung mit der Welt“ konkret bedeuten, was darf man an Wirkung im Prozess und als Produkt erwarten, wie funktioniert dieser Mechanismus? Die Vielfalt der Welten wirft zusätzlich die Frage auf, wie sie je spezifisch wirken. Für die Akteure im Ursprung der modernen Bildungsidee war vor allem die Frage vordringlich, ob und wie sich in der Teilhabe an Bildungswelten – auch in ihrer Anerkennung und Präsentation – Moralität sichern lässt, generell, wie sich die Person als moralisch handlungs- und zurechnungsfähiges Subjekt in der Interaktion mit der Welt konstituiert. Das könnte man ohne weitere Diskussion als Sozialisationseffekt einer Lebensform interpretieren. Aber angesichts der Spezifik der sehr unterschiedlichen Bildungswelten ist das eine zu allgemeine Erklärung, wenn man in dieser Weise das Gymnasium wie das Museum, das Theater wie die Literatur, die Bildungsreise wie die Oper nach dem gleichen Schema betrachtet (und dann hoffentlich Sozialisation zumindest als produktive Realitätsverarbeitung unterstellt). Mehr an bereichsspezifischer Erklärung wäre hilfreich, und zum Glück haben die Erfinder der Bildungsambitionen auch die je erwarteten Leistungen und Wirkungen ihrer „Sachbereiche“ nicht nur emphatisch betont, sondern auch nach der je spezifischen Wirkungsweise zu demonstrieren gesucht. Einige Exempel sollen das näher belegen, und auch das Problem verdeutlichen, das sich bei der Frage nach der Logik von Bildungsprozessen in der Konstitution des erwarteten Produkts bereits im Ursprung gestellt hat.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_8
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
8.1 … im Theater und in der Poesie Das Theater war früh ein erster und blieb bis heute ein dankbarer Kandidat für diese Fragen. Hier lagen wirkungsästhetisch gesehen klassische Argumente seit der Antike vor, die dem Theater höchste Effekte, Katharsis, die Reinigung von falschen Vorstellungen also, als Funktion zugeschrieben haben. Von Aristoteles bis in Lessings Hamburger Dramaturgie (der Schrecken und Schauer mit Mitleid und Furcht übersetzt1) und in den Erläuterungen zu seinen Trauerspielen wird die Wirkung durch die Identifikation des Zuschauers mit dem Schicksal der Akteure und letztlich durch die Stimulierung starker Emotionen ausgelöst, bei Lessing basierend auf dem Mitleid als der Quelle der Tugend (wie das auch schon Rousseau im Emile diskutiert). Der Prozess der Moralisierung hat seine Basis also in Emotionen und in der Fähigkeit des Menschen zum Mitleiden, d. h. in der Fähigkeit Empathie zu entwickeln. Das Theater zeigt eine Welt, die diese Emotionen offenbar erwartbar auslöst und ihnen eindeutige Richtung und Stärke gibt. Als der junge Schiller das Theater als „moralische Anstalt“ denkt,2 erwartet er ebenfalls die positivsten Wirkungen: Der „Philosoph und Gesetzgeber“ dürfe die „Beförderung allgemeiner Glückseligkeit“ erwarten, die Nation insgesamt die heilsamste Wirkung auf die „Menschen- und Volksbildung“ (720), denn er hofft, dass „die Bühne“ die „Bildung des Verstands und des Herzens mit der edelsten Unterhaltung vereinigt“ (721). Das Theater habe den Vorzug, dass es Moral demonstrieren könne, auch wenn die Wirklichkeit das nicht mehr leistet, und selbst dann „wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetz“ (723). Ihre Wirkung sei auch deswegen stärker und nachhaltiger, weil sie „die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand (kleidet)“, aber dennoch „malen sich die Laster in ihrem furchtbaren Spiegel ab“ (723). Mit den spezifischen Emotionen, aber auch wegen der Darstellungsformen, die es nutzt, vermag das Theater „durch Rührung und Schrecken, … durch Scherz und Satire“ (724) sogar zur „Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben“ (725) zu werden. Sie sei in den Wirkungen übertragbar in das a lltägliche Leben, weil sie
1Die Referenzstellen finden sich in Lessings „Hamburger Dramaturgie“, v. a. im 74. und 75. Stück (hier zit. nach der Hrsg. von Wölfel von Lessings Werken, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1967). Dort sagt er u. a. für seinen Übersetzungsvorschlag: „Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorsteht, ist ein mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen.“ (74. Stück, S. 418) Für die Interpretation des Mitleids als einer „vermischten Empfindung“ beruft sich Lessing auf Mendelssohn (74. Stück), andere Übersetzungen der Begriffe des Aristoteles erledigt Lessing kurz: „Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt.“ (75. Stück, S. 420). Die Einzelheiten der Diskussion, die diese Rezeption und die nicht ganz angemessene, zumindest problematisierbare Übersetzung des Aristoteles durch Lessing auslösten, können hier auf sich beruhen. 2Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, S. 719–729, Zitate aus diesem Text in Klammern.
8.1 … im Theater und in der Poesie
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auf die „Laster … vorbereitet“ (725) und schon damit3 insgesamt für „sittliche Bildung“ (726) sorgt, und zwar für alle Menschen, auch für die Regierenden, die sonst die Wahrheit und den Menschen nicht mehr sehen. Schiller erwartet nicht nur solche Wirkungen, er schreibt dem Theater seiner Zeit auch schon historisch, nicht nur programmatisch die positivsten Effekte zu, die man von Erziehung nicht nur im Blick auf Individuen, sondern auch kollektiv erwarten darf: die „Duldung der Religionen und Sekten“ (727) sei erstaunlich groß geworden, wie er unter Anspielung auf Lessings Nathan unterstellt, man dürfe von einer positiven Wirkung „auf den Geist der Nation“ (728) sprechen. Zusammenfassend und emphatisch behauptet er eine Wirkung des Theaters, die umfassend ist, Emotionen und Kognitionen umfasst, die Unterschiedlichkeit der Menschen, den „Weichling“ wie den „rohen Unmenschen“ (729) gleichermaßen, individuell und als Gattung in ihrer Gegenwärtigkeit dadurch erreicht, dass sie als eigene Welt präsent ist: „Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. … wenn uns Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seelen drücken und unsere Reizbarkeit/unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben, unsere Empfindung erwachte, heilsame Leidenschaften erschüttern unsere schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen. Der Unglückliche wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. …. Durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern … gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein.“ (728–729, Herv. dort)
Schiller lässt zugleich deutlich erkennen, dass diese Wirkung nicht unabhängig von der Qualität einer Aufführung zu erwarten ist, er kennt auch die Verfallsformen des Theaterbetriebs (S. 721), ist aber insgesamt in seinem Optimismus und im Vertrauen auf die positiven Wirkungen „dieser künstlichen Welt“ nicht zu erschüttern. Er sieht das Theater sogar als einen Ort, der die problematischen Folgen der Erfahrung anderer Bildungswelten zu kompensieren, die „Irrtümer der Erziehung (zu) bekämpfen“ und „die unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung“ zu rehabilitieren vermag. Äußerst kritisch argumentiert er in diesem Kontext gegen die Pädagogen, die in Reformanstalten „den zarten Schössling in Philanthropinen und Gewächshäusern systematisch zugrunde richten“.4 Erziehungskritik als Kritik der Erziehungsreform findet sich also auch schon.
3Das erzeugt auch überraschende Argumente, wie Sittlichkeit befördert wird: „Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? … Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen.“(725). 4Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u. d. T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, S. 719–729, zit. S. 727.
100
8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
Aber nicht allein dem Theater oder der Musik, die ebenfalls in ihren unterschiedlichen Gestalten als konstitutives Moment von Lebensform interpretierbar ist und analysiert wurde,5 auch für die Poesie werden die stärksten Wirkungen behauptet. Konzentriert formuliert finden sich solche Erwartungen an die Poesie z. B. bei Wilhelm von Humboldt, wenn er „Ueber das Verhältnis der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung“ schreibt.6 Ausgangspunkt ist seine poetologische Annahme, dass „die Poesie … gar keine hohe, oder tiefe, seyn (kann), wenn sie nicht immer in das Gebiet hinübergeht, in welchem auch die Religion weilt.“ Das ist, vice versa, begleitet von seiner Annahme über die Religion: „Aller Gottesdienst nimmt daher die Poesie, als etwas der Religion nahe Verwandtes, in sich auf.“ (564) Humboldt diskutiert den Zusammenhang dann auch explizit, benennt seine Wirkungshoffnungen und bezieht sich dabei nicht nur auf die Gattungsspezifik von Poesie oder Religion, sondern setzt auch – darin verwandt der Mitleidsthese bei Lessing – starke Wirkungsvoraussetzungen beim Menschen an, und zwar in mehrfacher Weise, moralisch und emotiv sowie kognitiv. Das heißt im Einzelnen: „1. Eine Grundlage der Gesinnung, die Anerkennung sittlicher Pflicht und der Nothwendigkeit, sich dieser zu unterwerfen; dazu religiöses Gefühl. Ueberzeugung von einem höchsten Wesen, Glaube und vertrauende Liebe, Zuversicht, dass mit dem irdischen Tode das wahre Daseyn des Menschen erst beginne./Wo diese Grundlage fehlt, kann keine Poesie wahrhaft moralisch wirken.“ Mit anderen Worten: Die Poesie hat moralisierende Qualitäten für den, der schon moralisch fühlt und denkt, sowie, wie er weiter ausführt, auch poetisch denkt. Humboldt setzt nämlich als zweite Prämisse voraus „2. eine Grundlage der Erkenntnis“, denn sonst, so begrenzt er seine Wirkungsannahme, „versteht“ der Mensch „den Dichter nur halb“ (564–565, Herv. dort). Bei derart starken Prämissen sind Wirkungsannahmen selbstverständlich leicht zu machen, wenngleich sie immer noch von Prozessmustern abhängen, nämlich der „Gewöhnung“ an eine eigene Welt: „Die Poesie … wirkt mit der Macht, die sie, gerade als Poesie, über den Menschen ausübt. Sie macht aber auch den ganzen Menschen für die moralische Bildung empfänglicher, indem sie ihn gewöhnt in Dingen, die ganz ausserhalb des Gebietes der Sittenlehre/und der Religion liegen, nur am Schönen, Edlen und Harmonischen Gefallen zu haben, und das Gegenteil überall von sich zu stossen.“ (565–566). Die Wirkung verdankt sich also letztlich nicht nur starken und die Wirkung begünstigenden Voraussetzungen auf der Adressatenseite, sondern auch einem Prozess der Gewöhnung, also der
5Umfassend
dazu Karl Heinrich Ehrenforth: Geschichte der musikalischen Bildung: Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Mainz 2004, der darstellt und unterstellt, wie und dass Musik Lebensformen prägt und dazu beiträgt, „ein ‚Bild‘ von Welt und Ich, vom Anderen und vom Selbst zu gewinnen“ (S. 522) und insofern als eigenständiges Medium von Bildung, als Bildungswelt interpretierbar ist. 6Wilhelm von Humboldt: Ueber das Verhältnis der Religion und der Poesie zu der sittlichen Bildung. In: Werke Bd. I, S. 562–566, Zitatnachweise in Klammern im Text.
8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“
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iederkehrenden Konfrontation mit der eigenlogischen Welt der Poesie, die durch w die Kraft ihrer eigenen Form nachhaltige Bedeutung auch in anderen Bereichen wie der Sittlichkeit und Religion gewinnt.
8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“ Angesichts solch starker Annahmen und Erwartungen ist schließlich die Frage interessant, was denn die Spezialisten für Bildungsprozesse, die Bildungstheoretiker und Pädagogen (neben den Dichtern7), zu dem Wirkungsproblem systematisch zu sagen haben. Schon bei Herbart wird man für diese Frage sehr problemnah fündig, denn er hat das „Hauptgeschäft der Erziehung“ in einer Weise diskutiert, dass die Nähe von Bildung als kultureller Praxis und Selbstkonstruktion des Subjekts besonders augenfällig wird. Herbart hat „die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung“ bezeichnet und damit eine These in die Welt gesetzt, die sich konstant zahlreicher Interpretationsversuche erfreut. Hier interessiert nicht so sehr die Rezeptionsgeschichte dieser These im Detail8 (oder gar die Geltung der zugrundeliegenden Transferannahme9 ästhetischer Erfahrung in den Bereich der Sittlichkeit), als ihr systematischer Ertrag in der Klärung der Annahmen des Wirkungsarguments. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Prange z. B. hat sich an Herbarts berühmtem Satz – „Das Gewissen geht mit in die Oper!,
7Am Beispiel Goethes erst jüngst intensiv und explizit im Ausgang von bildungstheoretischen Prämissen, zumal der ästhetischen Anschauung, diskutiert bei Jörg Soetebeer: Umbildende Erfahrung. Goethes Begriff von Selbstbildung, Köln/Weimar/Wien 2018. Dagegen enttäuscht die Studie von Martin J. Schäfer.: Das Theater der Erziehung. Goethes „pädagogische Provinz“ und die Vorgeschichten der Theatralisierung von Bildung. Bielefeld 2016, weil sie den methodischen Implikationen des Themas, zu schweigen von dem Wirkungsproblem der „Theatralisierung“ historiografisch wie analytisch überhaupt nicht gerecht wird. 8Dafür sehr hilfreich bereits Dietrich Benner: Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik. Weinheim/München 1986, bes. S. 58 ff. mit Betonung der „praktischen oder ästhetischen Kausalität“, abgegrenzt von der naturhaften, der „wissenschaftlich-theoretischen“, und „moralischen“ Kausalität (Benner hat das jüngst noch einmal systematisch aufgenommen und auf aktuelle Forschungsprobleme bezogen, vgl. D.B.: Über drei Arten von Kausalität in Erziehungs- und Bildungsprozessen und ihre Bedeutung für Didaktik, Unterrichtsforschung und empirische Bildungsforschung, In: ZfPäd 61(2018)1, S. 107–120. 9Zu den Schwierigkeiten, Transferannahmen methodisch distinkt aufzuweisen, Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen 2012. Rittelmeyer klammert aber die Frage weitgehend aus, ob sich Transfereffekte auch bei bloßer Teilhabe, jenseits aktiver künstlerischer Praxis erwarten lassen.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
wie sehr immer der Dichter protestiere.“10 – noch einmal systematisch gewagt, mit einigem Ertrag, wie seine Interpretation belegt. Er hat dabei zwar auch eine sozialhistorische Lesart der Dominanz einer milieuspezifischen Lebensform nicht abgewehrt, sondern als durchaus naheliegend eingeräumt, aber gleichzeitig den klassischen Satz und damit – wie ich generalisieren will – die Bedeutsamkeit der bildungsbürgerlichen Lebensformen als Bildungswelten nicht als Distinktionsmerkmal, sondern als Wirkungsweise, als Mechanismus einer Praxis noch einmal deutlich herausgearbeitet.11 Prange wehrt zunächst das vielleicht naheliegende und von manchen Vertretern ästhetischer Bildung noch immer gern genährte Verständnis als „naiv“ ab, als moralisiere die Oper – oder die Kunst insgesamt – schon per se durch „ihre mustergültigen Gestaltungen“ und den damit gegenwärtigen „Formimpuls“. Die „ästhetische Nötigung“, die Herbart diskutiert und mit der er das „Hauptgeschäft der Erziehung“, also deren spezifische Wirkungsweise zu erklären sucht, sei zwar „Nötigung durch die Form“, so Prange, aber sie sei erst angemessen verstanden, wenn man den „Formgedanken in der Erziehung“ (157) insgesamt sieht und die spezifische „Formkausalität“ des Ästhetischen analysiert: „Sie besteht in dem zwanglosen Zwang der guten, gelingenden Form und äußert sich in der Zustimmung der Lernenden zu dem, was sich ihnen darbietet, so dass sie nicht anders können, wenn sie sich nicht verleugnen wollen.“ (162) Es ist also auch hier Selbsttätigkeit, der sich die Wirkung verdankt, Anerkennung der Implikationen der Form, die man beobachten kann, Freiheit als Wirkungsmodus also, eine ganz spezifische Kausalität. Prange betont deshalb auch zugleich, „die ästhetische Wirksamkeit ist formal“, sie darf nicht „mit der Unvermeidlichkeit naturkausaler Wirkungen verwechselt“ werden (162), dennoch bleibt ihr Nötigungscharakter. Ja, wie ein ehernes Gesetz der Erziehung formuliert er: „Allein die gute Form ist erzieherisch.“ (163), d. h. auch im erwünschten Sinne moralisierend. Aber er weiß, einerseits, dass das Gesetz auch eine andere, allgemeine Form annehmen kann: „Form erzieht“.12 Das bestätigt die Nötigung, die mit einer Herausforderung verbunden ist, der man sich nicht entziehen kann. Andererseits ist ihm, nach langer Erfahrung mit pädagogischen Prozessen, natürlich ebenfalls bewusst, dass nicht nur eine gute, sondern eine jede Form zu eigenem Verhalten nötigt, wie man an der Praxis von peer groups lernen kann, und auch, dass die Nötigung der Form nicht immer diejenige spezifische Wirkung sichern, gar garantieren kann, die der
10Johann
Friedrich Herbart: Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung. (1804) In: Herbart Werke, hrsg. von Asmus, Bd. 1, Stuttgart 1964, S. 105–121, zit. S. 119, Herv. dort. 11Zuerst dazu Klaus Prange: Geht das Gewissen noch mit in die Oper? Zu Herbarts Lehre von der ästhetischen Nötigung. In: L. Koch u. a. (Hrsg.): Pädagogik und Ästhetik, Weinheim 1964; jetzt genereller ders.: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der operativen Pädagogik. Paderborn 2005, bes. im Abschnitt „6. Modus in rebus: die Moral des Zeigens.“, S. 137 ff. – von dort meine nachfolgenden Zitate im Text. 12Klaus Prange: Die Form erzieht. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim 2003, S. 23–34.
8.2 … „Das Gewissen geht mit in die Oper!“ – Wirkungsfragen
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Pädagoge mit den Implikationen der Form verbindet. Wahrscheinlich muss man doch die starken Annahmen über die Präsenz von und Sensibilität für Moralität auf der Adressatenseite machen, wie sie Humboldt in seinen Überlegungen zur Poesie einführt, mit der Konsequenz, dass auch die zwanglose Nötigung sich ihres Ergebnisses nicht sicher sein kann, sondern immer mit individueller Transformation oder sogar Negation rechnen muss. Die Wirkungsweise von Bildungswelten lässt sich deshalb nicht allein von den Bildungswelten aus zurechnen und diskutieren, sondern bleibt je individuell ein Produkt der Wechselwirkung von Mensch und Welt, insofern weder planbar noch berechenbar, gerade dann, wenn man auf ästhetische Kausalität abhebt und sie, wie Herbart, von naturwissenschaftlicher oder praktisch-moralischer Kausalität unterscheidet. Wie immer man die Logik dieser Bildungswelten in den basalen Mechanismen sowie in den Formen und Effekten ihrer Ermöglichung auch denkt, schon historisch wird demonstriert, dass sie tatsächlich eigene Wirkungen erzeugen, allerdings in großer Vielfalt: intendiert oder nicht-intendiert, erwünscht oder unerwünscht, pädagogisch kontrolliert oder im Selbstlernen autonom, als Niederschlag in literarischer Produktion oder in der Wirklichkeit. Es gibt jedenfalls nicht eine, und nur eine, Form, in der sich Bildung in ihrer Wirklichkeit zeigt. Texte, vor allem die neue Gattung der „Bildungsromane“13, belegen die gelingende oder scheiternde Bildungsprozesse (nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Autobiografien ihrer Autoren), auch Bildungsbiografien zählen hier genauso wie Praktiken des Selbstlernens oder schulische und reformpädagogische, z. B. früh philanthropische, Aktivitäten oder die Neuordnung der Gymnasien, wie sie moderne Schulmänner erfolgreich nach 1780 umsetzen.14 Bildung – als Thema, Erwartung und Begriff – stellt den regulativen und kriterialen Rahmen, von dem aus Wirklichkeiten als Bildungswelten betrachtet oder Veränderungen programmatisch gefordert werden. Basedow z. B., Gründer des Philanthropins in Dessau, schreibt seine „Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen, Studien und ihren Einfluss in die öffentliche Wohlfahrt“ (1768) und verspricht die größte Wirkung der neuen Erziehung. Friedrich Gedike, Gymnasialreformer im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts, versucht „Aufklärung und Bildung“15 mit seinen Schulreformen zugleich zu verwirklichen und nutzt beide Begriffe auch noch gemeinsam als Kriterien der Gestaltung von Schulen, ohne Angst vor
13Die Gattung hat ihre eigene Forschungsgeschichte, vgl. jüngst u. a. Holger Dainat: Vom Wilhelm Meister zu den wilhelminischen Schülern. Bildungs- und Schulromane im Kontext institutionalisierter Erziehung. In: Eva Geulen/Nicolas Pethes (Hrsg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg/Berlin/Wien 2007, S. 123–160 sowie, von Bourdieu inspiriert, Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein (Hrsg.). Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin/Boston 2016. 14Übersichten in Christian Ritzi/Frank Tosch (Hrsg.): Gymnasium im strukturellen Wandel. Befunde und Perspektiven von den preußischen Reformen bis zur Reform der gymnasialen Oberstufe. Bad Heilbrunn 2014. 15Vgl. seine Ausführungen in Berlinische Monatsschrift IV, 1784, S. 461–471.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
dem vermeintlichen aufklärerischen Utilitarismus, der spätere Bildungstheoretiker umtreibt (vgl. unten Kap. 13 zu Niethammer). Selbst als er über die Notwendigkeit einer Universität für Berlin denkt, verspricht er, dass sie natürlich beides und uno actu befördern kann, Aufklärung und Bildung, Wohlstand und Gelehrsamkeit, Nutzen für die Individuen genauso wie für Stadt, Staat und Nation.
8.3 …. „Gelehrte“ und „Gebildete“ Stellen sich die hier erwarteten Wirkungen aber auch tatsächlich ein? Systematisch generalisiert, gar im Status starker Gesetzesannahmen, kann man das kaum sagen, aber Exempel für die Wirkung solcher Welten und Praktiken lassen sich zeigen. Konzentriert man sich zunächst nur auf Wirkungen in der individuellen Dimension, ablesbar also im Blick auf die lernenden Subjekte, die sich selbst zur Individualität bilden und zeitgenössisch schon „Gebildete“ genannt und von anderen unterschieden werden, dann sieht man die historische Realität von Bildung vielleicht am deutlichsten, und auch schon früh in vielfältiger Gestalt. Der Gebildete findet sich in akademischen oder literarisch-intellektuellen Milieus, aber genauso im Alltag der unterschiedlichen Stände, von den Adligen bis zu den Bauern.16 Die Zuschreibung von „gebildet“ als eines Merkmals und Mediums der sozialen Distinktion betrifft sogleich auch unterschiedliche Dimensionen, in denen man Individuen beobachten kann, kognitive genauso wie moralische, Verhaltenspraktiken genauso wie habituelle Merkmale und Lebensformen, auch die Orientierung an bestimmten Normen und den Nachweis spezifischer Kompetenzen. In der Ursprungssituation wird Bildung noch nicht, jedenfalls nicht primär, über Sekundärmerkmale codiert, wie sie z. B. Abschlüsse des Bildungssystems oder akademische Titel später darstellen werden. Das machte, auch schon früher, vor der modernen Bildungsidee, eher den Gelehrten aus, der sich über den Titel und nach Stand und Amt aus dem Alltag der Nicht-Gelehrten herausheben konnte. Jetzt, in der Frühphase der Bildungsrevolution, kommt ein jeder, nicht etwa nur der Gelehrte, als Gebildeter in Betracht, wenn er nur den Merkmalen entspricht, an denen sich Gebildete zeigen. Das sind zunächst Dimensionen einer eigenen Praxis und der ihr zurechenbaren Kompetenzen, vor allem der Kompetenz im selbstständigen Umgang mit Kultur und Kulturtechniken. Lesen und Schreiben (das Rechnen jenseits der einfachen Zahlen bleibt eher den Spezialisten überlassen) sind dann basal, zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend. Erst die Teilhabe an gebildeter, also auch an verschriftlichter Kommunikation als Leser wie als Autor konstituiert die vollendete Praxis, die den neuen Status des
16Im
Folgenden nutze ich u. a. Unterscheidungen und Ergebnisse, die Bosse 2012, S. 120 ff. sowie S. 327 ff. ausführlich ausgebreitet hat, der die Bildungsgeschichte als „Diskursgeschichte des Lesens“ und Schreibens und der Kommunikation unter Gebildeten, wie man hinzufügen darf, erneuern will.
8.3 …. „Gelehrte“ und „Gebildete“
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Gebildeten als einer eigenständigen Sozialform sowohl vom Gelehrten alten Stils als auch von dem nur Alphabetisierten oder gar von der professionellen Rolle des Schreibers und Schriftkundigen unterscheidbar und bald so begehrt wie auch kritisch beobachtet macht – und neue soziale Differenzen erzeugen wird. Diese neue Praxis zeigt sich nicht universell und gesellschaftsweit, auch nicht zuerst in Schulen (denn die Durchsetzung nur des obligatorischen Schulbesuchs dauert noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu schweigen von der selbstständigen Teilhabe aller am bürgerlichen Bildungskanon, sei es schulisch oder kulturell, denn die ist heute noch nicht abgeschlossen), aber doch in literarischer, kultureller und pädagogisch-professioneller Praxis relativ breit. Nicht ohne Grund nennen die Zeitgenossen ihre Zeit das „pädagogische Jahrhundert“, auch schon leicht ironisch-distanziert und kritisch gegen überschwängliche pädagogische Reformer,17 aber unbezweifelbar, die Praxis der Bildung ist das kulturelle Medium der neuen Zeit. Konkretisiert wird es außer in pädagogischen Programmschriften unterschiedlicher Provenienz vor allem in literarischer Praxis und von Literaten, jungen Intellektuellen, die in und von dieser Praxis z. T. auch schon leben. „Autorschaft“18 wird deshalb auch zu einem wesentlichen Kriterium der Zugehörigkeit zu dieser neuen Sozialform, die sich, kollektiv, als „res publica litteraria“ bildet. Der Autorbegriff wird bald ausgeweitet, einerseits im Anspruch – „ursprünglich sind wir alle Genies“ –, andererseits in den Produkten. Dann werden nicht allein Gedichte, andere Texte oder musikalische Kompositionen, sondern das Leben der Gebildeten selbst als Ergebnis der eigenen Autorschaft gesehen und als Produkt von Bildung definiert. Das Subjekt wird hier zum Urheber seiner selbst und in seiner historisch neuen „Individualität“19 und ihrer Eigenart gefeiert, die im Anschluss an eine alte Tradition noch Hölderlin z. B. als „Blödigkeit“ beschreibt.20 Nicht zufällig können noch aktuelle Bildungstheorien in dieser Tradition die Forderung propagieren, dass sich wahre Bildung erst darin zeige, dass sich ein jeder Mensch in der „Autorschaft“ seines eigenen Lebens erfahren kann.21 Historisch können das zuerst die Literaten, eine „sozial freischwebende Intelligenz“,22 wie sie in Lessing oder Hölderlin verkörpert ist oder sich in freien
17Sehr
schön für diese selbstkritische Selbstbeobachtung Johann Gottlieb Schummel: Spitzbart. Eine tragikomische Geschichte für unser pädagogisches Jahrhundert. (1779) München 1983. 18Vgl. im Beitrag über die Bildungsrevolution den Abschnitt „Ausbildung und Autorschaft“ in Bosse 2012, S. 51 ff. sowie den Abschnitt „Ursprünglich sind wir alle Genies“, S. 71 ff. 19Fotis Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. Eine Komponenten- und Funktionsanalyse des Begriffs „Bildung“ am Beispiel von Goethes „Dichtung und Wahrheit“. Tübingen 1996. 20Georg Stanitzek: Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert. Tübingen 1989. 21Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung. 2013, u. a. S. 82 (u. ö.). 22Bosse 2012, S. 81 in Anspielung auf Karl Mannheim, gelegentlich in scharfer Abgrenzung gegen die ältere Analyse dieser neuen Gruppierung von Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. (Diss. Frankfurt 1935) Göttingen 1976, bei dem er die genuin bildungsgeschichtliche Perspektive vermisst.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
Zusammenschlüssen vom Göttinger Musenhain bis zu Hülsens Bund der freien Männer23 treffen und wechselseitig zu einer neuen Lebensform inspirieren, die sich über Selbstbildung definiert. Sozialkulturell konstituieren sie damit über Bildung eine neue Schicht, das „Neben-Oben“24 der Gesellschaft, neben den alten oberen Schichten des Adels oder der Beamtenschaft. Das ist noch nicht das „Bildungsbürgertum“, das sich später in der Einheit von Bildung und Besitz und primär über das Zertifikat konstituieren wird, in dem Bildung „als Besitz“ verkörpert ist, sondern noch eine ganz eigene Sozialformation. Auch „bei der ‚modern‘ gesonnenen Aristokratie“ findet sich nämlich eine vergleichbare Auffassung über die Funktion von Bildung und „Seelenpflege“,25 ohne dass damit schon um 1800 der Rückzug auf Innerlichkeit dominierte, wie er später kritisch konstatiert wird.26 Nicht identisch mit alten sozialen Unterschieden und Differenzen, ist Bildung im Anspruch zwar egalitär, erzeugt aber eine neue Differenz, „die ständische Unterscheidung von Gelehrten und Bürgern wird aufgehoben … in der Unterscheidung von gebildeten Menschen und ungebildeten Menschen.“27 Das Fundament für die später sich verschärfende, auf Bildung
23Die
Bildungspädagogik des 20. Jahrhunderts, von einer neuen bündischen Lebensform – der Jugendbewegung und ihrem Prinzip der „Selbsterziehung“ – aktuell stark beeinflusst, findet in solchen Gruppierungen des 18. Jahrhunderts ihre eigenen Vorbilder, vgl. die Dissertation von Willy (i. e. Wilhelm) Flitner: August Ludwig Hülsen und der Bund der freien Männer. Jena 1913. Über ein Mitglied jetzt auch die so gelehrsame wie monumentale Studie von Michael Wortmann: Der Freie Mann Friedrich August Eschen (1776–1800). Aus der Zeit ‚Großer Klassiker‘. Biografie Briefe Werke. Kontexte – Pädagogik – Rezeption. Schloss Hamborn 2017. 24Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. (Diss. Göttingen 1930) Bonn 1967. Weil argumentiert von der Frage aus, in welchen Sozialgruppen sich das Prinzip der Bildung zur Persönlichkeit um 1800 durchsetzte, und zeigt, dass es nur für eine „relativ kleine Gruppe der Geisteselite, der Akademiker, der Künstler und Schriftsteller (galt), für einen Teil der Gesellschaft, den ich früher einmal scherzhaft als das Neben-Oben bezeichnet habe“ (S. IX, Vorwort zur zweiten Auflage 1967), und das hieß auch als „apolitisch“. Bosse 2012 erwähnt die Arbeit von Weil nicht. 25Das betont zu Recht Weil (1930) 1967, in dieser Formulierung im Inhaltsverzeichnis S. XV und ausführlicher im Text für die „repräsentativen Adelskreise“ (236), ähnlich für die Zurechnung von Gruppen des Adels zu den Gebildeten Bosse, auch für die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch andere Bedeutung dessen, was Bürgertum heißt (vgl. Bosse: Gesittete Stände, gebildete Menschen, in: Bosse 2012, S. 120 ff., sowie ders.: Die gelehrte Republik, ebd., S. 305 ff. sowie ders.: Gelehrte und Gebildete, S. 327 ff., immer mit der Bekräftigung der gut begründeten These, dass die „Gebildeten“ um 1800 „weder Stand noch Schicht“ darstellen (so auch schon Weil 1967, S. 236 ff.). 261930, als er seine Arbeit einreichte, sah Weil zwischen „Resignation“ und Rückzug auf „Innerlichkeit“ einen starken Geltungsverlust für dieses Bildungsprinzip; für seine Argumente ist der Kontext des Davoser Gesprächs von 1931 zum Thema „Erziehung und Bildung“ ebenso relevant wie sein Streit mit Hans Freyer über die Rolle der Bildung (vgl. dazu den Abschnitt „Vor dem Gestern (II): Hans Freyer und Hans Weil in Davos 1931“ in Dieter Thomä (Hrsg.): Gibt es noch eine Universität? Zwist am Abgrund – eine Debatte in der Frankfurter Zeitung 1931–1932. Konstanz 2012, S. 112–124, bes. S. 119 ff.). 27Bosse, Gelehrte und Gebildete, 2012, S. 348.
8.4 … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher
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basierende Unterscheidung von Lebenswelten und sozialen Milieus wird im Ursprung also mit gelegt.
8.4 … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher Trotz der prominenten Sichtbarkeit im literarisch-wissenschaftlichen Diskurs sind die Praxis dieser Gebildeten und die Mechanismen der Selbstbildung keineswegs auf den Umgang mit den Wissenschaften oder die schöne Literatur beschränkt. Sie betreffen schon im Ursprung, erlebt und auch reflexiv, wirklich den „ganzen Menschen“,28 in seinem ganzen Verhalten, bis in die Dimension der Körperlichkeit. Auch diese Herausforderung nehmen die historischen Akteure wahr, als einen Anspruch, dem sich die eigenen Praxis der Selbstkonstruktion stellen muss, aber auch als Aufgabe, an der man scheitern kann. Lessing z. B., einer der jungen Gebildeten, liefert dafür ein Beispiel, leidend an der neuen Wirklichkeit, aber auch reflexiv, in der Beobachtung seiner Praxis. Ein Brief an seine „Hochzuehrende Frau Mutter“ belegt diese Bildungsbewegung und die Formen der Selbstbeobachtung, wenn er 1749 über seine Studien und den dabei ablaufenden Bildungsprozess schreibt.29 Lessing muss sich in diesem Brief dafür rechtfertigen, dass er gegen den Rat der besorgten Mutter nicht in Leipzig und an der Universität geblieben ist, sondern in Berlin lebt, und er muss gleichzeitig mitteilen, dass er nicht nach Hause zurückkehren will, sondern sich weiterhin in der Welt aufzuhalten gedenkt. In diesem Kontext berichtet er zunächst über das, was man erwartet, wenn man den Bildungsgang eines Intellektuellen wie Lessing beobachtet, der seinen „ganzen Lebenslauff auf Universitäten abmahlen darff“, überzeugt „Ich komme jung von Schulen, in der gewißen Überzeugung, dass mein ganzes Glück in den Büchern bestehe.“ (21) Allerdings, er entdeckt, kaum in Leipzig angekommen, die Problematik solcher Existenz in den Büchern, und d. h. die Differenz des Gelehrten und des Gebildeten, von der schon die Rede war: „Stets bei den Büchern, nur mit mir selbst beschäfftigt, dachte ich eben so selten an die übrigen Menschen, als vielleicht an Gott.“ (22).
28Für diesen Diskurs, der nicht zufällig v. a. zwischen Theologie und Ästhetik geführt wird, Stefan Borchers: Die Erzeugung des ‚ganzen Menschen‘. Zur Entstehung von Anthropologie und Ästhetik an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin/New York 2011. Zur Übersicht über das historisch virulente und in der Forschung theoretisch und methodisch ungelöste Problem D. Rössler: s. v. Mensch, ganzer. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 5, 1980, Sp. 1106–1111, vgl. auch unten in V. das Kap. 27.3. 29Lessing [1729–1781] an seine Mutter, 20.01.1749 aus Berlin, hier zit. nach Ludwig Fertig (Hrsg.): Bildungsgang und Lebensplan. Briefe über Erziehung von 1750 bis 1900. Darmstadt 1991, S. 21–25, Nachweise im Einzelnen in Klammern im Text.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
Lessing zieht Konsequenzen, er sucht den Umgang mit Welt: „Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen. Ich wagte mich von meiner Stube unter meinesgleichen.“ (22) – und Bildung des Selbst setzt ein, als Erschütterung der eigenen Erfahrung und als reflektierte Wahrnehmung von Welt: „Guter Gott! Was vor eine Ungleichheit wurde ich zwischen mir und andern gewahr.“ Die Ungleichheit, die Lessing sieht und erfährt, die definiert er nicht etwa über Stand und Besitz (Anlass wäre gewesen) oder über literarische Kenntnisse oder Produkte, sondern ganz vom Verhalten und Habitus aus: „Eine bäuersche Schichternheit,“ nimmt er an sich wahr; was er sieht, ist „ein verwilderter und ungebauter Körper, eine gänzliche Unwißenheit in Sitten und Umgange, verhaßte Minen, aus welchen jedermann seine Verachtung zu lesen glaubte, das waren die guten Eigenschafften, die mir, bey meiner eignen Beurtheilung übrig blieben.“ Diese Beobachtung erzeugt tiefe Wirkungen: „Ich empfand eine Scham, die ich niemals empfunden hatte. Und die Wirkung derselben war der feste Entschluß, mich hierinne zu beßern, es koste was es wolle.“ (22) Einerseits lernt er dann „tanzen, fechten, voltigiren“, die Kultivierung des Körpers also, so weit, dass er bald von allen in seinen neuen Fähigkeiten bewundert wird, „mein Körper war ein wenig geschickter worden“. Jetzt muss er neues Verhalten auch in und für „Gesellschaft“ lernen, „um nun auch leben zu lernen“ – und dafür liest er Komödien, lernt ihre Qualität unterscheiden, aber ihren „vornehmsten Nutzen“ haben sie in anderer Dimension: „ich lernte mich selbst kennen, und seit der Zeit habe ich gewiß über/niemanden mehr gelacht und gespottet als über mich selbst.“ (22–23) Schließlich versucht er, zu seiner eigenen Verwunderung, selbst Komödien zu schreiben und hat Erfolg und Anerkennung.30 Zufrieden ist er damit noch nicht, auch weil ihn das Lob nicht überzeugt, das er reichlich erhält. Jetzt setzt er sich große neue Ziele: „Ich sann dahero Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine Stärke zeigen möchte, in der, wie ich glaubte, sich noch kein Deutscher allzu sehr hervor gethan hatte.“ Er wird „gestöhret“ durch die Erwartung der Eltern, dass er nach Hause kommt. Ist dennoch dort, in Kamenz, für ein Vierteljahr, sucht die Eltern zufrieden zu stellen („Blos Ihnen zu Gefallen zu leben erklärte ich mich noch überdieses, dass ich mich nicht wenig auf Schulsachen legen wollte.“ – 23), verwirft den Plan, Medizin zu studieren, geht wieder nach Leipzig und, weil dort unzufrieden mit der Welt, weiter nach Berlin, ohne Glück, ohne Geld, ohne den richtigen Habitus (die Kleidung ist zu ärmlich). Weg von Berlin, auch weil die Eltern das wünschen, geht er jedenfalls
30Bis
1749 erschienen von Lessing u. a. Der junge Gelehrte (1747, Januar 1748 von Caroline Neuber in Leipzig uraufgeführt) und Der Misogyn (1748). Auch diese Praxis ist nicht ohne biografischen Kontext: „Ein junger Gelehrter war die einzige Art von Narren, die mir auch damals schon unmöglich unbekannt sein konnte. Unter diesem Ungeziefer aufgewachsen, war es ein Wunder, daß ich meine ersten satirischen Waffen wieder dasselbe wandte?“ (Lessing 1754, Vorrede zu „Schrifften. Dritter/Vierter Theil“, hier zit. nach Lessing Werke, hrsg. von Kurt Wölfel, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1967, S. 632).
8.4 … in der Praxis der jungen Gebildeten – z. B. Lessing und Schleiermacher
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nicht nach Hause, aber auch nicht „auf Universitäten“, schon wegen des fehlenden Geldes, sondern zieht „Wien, Hamburg oder Hannover“ in Erwägung (25). Seine Bildungsabsichten bleiben: „Wenn ich auf meiner Wanderschafft nichts lerne, so lerne ich mich doch in die Welt schicken. Nuzen genung [sic, H.-E. T.]! Ich werde doch wohl noch an einen Ort kommen, wo sie so einen Flickstein brauchen, wie mich.“ (25) Hamburg wie Wolfenbüttel, das Theater und die Bibliothek, werden solche Orte werden. Einen solchen Ort zu finden, das ist für einen auf seine Selbstbildung und Selbstachtung besorgten jungen Mann, der nicht aus privilegierten Schichten stammt, aber nicht einfach. Er muss die Voraussetzungen selbst schaffen und er kann sie durch Bildung verbessern. Nicht allein die feinen Sitten, das fehlende Geld und das erwartete Verhalten, auch die Standesdifferenzen machen Probleme. Emanzipation durch Bildung, hier durch den Nachweis der gelehrten Bildung in der Praxis, nicht durch ein Zertifikat, ist keine einfache Sache in einer Gesellschaft, die immer noch ständisch und damit durch Ungleichheit in jeder Dimension geprägt ist. Für einen akademisch gebildeten jungen Mann – von Kant bis Hölderlin – war z. B. eine Stelle als Hofmeister ein Schritt zur Emanzipation, zur Lösung vom Elternhaus,31 zur ökonomischen Verselbständigung und zur Entwicklung eines eigenen Bildungs- und Berufsweges, natürlich mit allen problematischen Umständen, die man dabei gewärtigen muss. Friedrich Schleiermacher z. B. berichtet in einem Brief an seinen Vater,32 welche Konfliktlagen noch 1793 mit solchen Arbeitsverhältnissen verbunden waren – und er demonstriert zugleich, wie man mit Konflikten unter Gebildeten umgeht. Schleiermacher ist als Hofmeister beim Grafen Dohna in Schlobitten tätig, nicht nur zum Vergnügen seines Vaters, der ihm einen Ortswechsel nahelegte. Diese Veränderung kommt dann von selbst, aus einem Streit mit dem Grafen: „Es war gestern Abend, als ich, bei Gelegenheit eines Widerspruchs, mit dem Grafen in einen Streit gerieht, worin er sehr heftig wurde und ein deutliches Wort von Abschied sprach.“ Wie geht man mit einem solchen Konflikt um, einem Konflikt, der sich ja in einer strukturell asymmetrischen Situation ereignet, asymmetrisch nach dem sozialen und ökonomischen Status der Akteure, asymmetrisch auch wegen des Beschäftigungsverhältnisses und der Handlungsoptionen. Schleiermacher kennt die Probleme, seine eigenen, aber auch die des Grafen Dohna, die er dem Vater gegenüber sogar zuerst nennt: „Natürlich nimmt sich ein adliges militairisches Wort nicht so leicht zurück als ein bürgerliches“, so erinnert er sich an eigene frühere Erfahrungen. Aber seine eigene Situation ist auch nicht einfach,
31Zur
Geschichte dieses Berufs bereits Ludwig Fertig: Der Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz. Stuttgart 1979; eine sehr aufschlussreiche Quelle für das Thema wurde jüngst publiziert: K.Löffler/N.Sobirai (Hrsg.): Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle und Nebenumstände, Bd. 2: Hofmeister in Pommern, 1746–1955. Leipzig 2013. 32Schleiermacher, 1768–1834, Brief vom 07.05.1793 an seinen Vater; in Fertig 1991, S. 154–155, Herv. dort.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
jedenfalls will er die Konsequenzen nicht tragen: „Für mich schickte es sich nicht es [das „Wort von Abschied“ – H-E. T.] zurück zu bitten und ich wäre dadurch unausbleiblich in eine sehr abhängige und unangenehme Lage gekommen, worin ich über vieles nichts hätte sagen können.“ Aber das Dilemma besteht auf beiden Seiten: „Hätte es der Graf zurücknehmen wollen, so hätte er ebenfalls befürchten müssen, meinem ihm so scheinenden Bestreben nach Unabhängigkeit und eigenmächtigem Verfahren zu viel Spielraum gegeben zu haben; so waren also beide Parteien in einer Lage, worin, nachdem das Wort einmal heraus war, das Zurücknehmen desselben nichts wünschenwürdiges gewesen wäre.“ (154). Die Sache klärt sich, ohne lange Besprechungen, nur durch das kluge Verhalten der Akteure, und vor allem, weil beide sich gebildet verhalten, d. h. erwartbar für den je anderen und mit Verständnis für die Position des je anderen, in „Offenheit und Feinheit“, wie Schleiermachers Brief seinem Vater berichtet: „Heut früh ließ er mich rufen und es war schon alles, was sich auf die Sache bezog, in Richtigkeit gebracht.“ Der Graf, erstaunlich genug, rechtfertigt sich und sein Verhalten,33 Schleiermacher repliziert angemessen, d. h. mit Verständnis für die Situation und für die unvermeidliche Konsequenz des Abschieds.34 Das alles geschieht, wie Schleiermacher seinem Vater erläutert, „mit einer den Umständen angemessenen Mischung von Offenheit und Feinheit“ und mit der beidseitig akzeptablen Konsequenz, dass beide Seiten „für künftige Fälle“ gelernt haben. Der Abschied aber bleibt, wird indes so geregelt, dass er hinnehmbar wird: „Das Finanzfach war … völlig arrangiert. Der Graf sagte mir, er hätte mir bis Ende September auszahlen lassen und Reisegeld.“ Schleiermacher weiß das zu würdigen, auch weil er die Alternativen kennt: „Es versteht sich, dass, wenn er mit mir hätte handeln wollen, mir niemals eingefallen wäre, das zu fordern, und daß ich es nicht einmal würde genommen haben, wenn irgend eine Spur von rancune bei ihm gewesen wäre, oder wenn er es de mauvaise grace gethan.“ Die gute Pointe ist deshalb auch, dass Schleiermacher das Geld mit Anstand nehmen kann: „So aber wollte ich es nicht ausschlagen, denn es wäre mit Recht für Groll und dummen Stolz ausgelegt worden“, allerdings behauptet er auch seine eigene Identität: „ebenso so wenig aber machte ich große Danksagungen, welches ich überhaupt nicht, und bei Geldsachen am wenigsten mag, sondern ich sagte nur lächelnd, er thäte sich großen Schaden, den ich ihm nicht würde anmuthen gewesen sein.“
33„Bei
vielen Versicherungen von Freundschaft und Achtung versicherte er mich mehrere male, daß ihm das gestern im Eifer gegen seinen Willen entfahren wäre.“ 34„Ich gab ihm denn, so fein ich konnte, zu verstehen, daß ich diesen Eifer gleich mit in Anschlag gebracht und deswegen nichts weiter erwiedert hätte, äußerte aber, daß schon lange keine rechte Harmonie gewesen wäre und er schon lange unzufrieden mit mir geschienen hätte.“ (154) – und gibt dem Grafen damit die Chance, die bis dato ungenannten „Beschwerden an den Tag“ zu bringen, „sehr gelassen, freundschaftlich von beiden Seiten und mit einer den Umständen angemessenen Mischung von Offenheit und Feinheit.“ (155) Sie können die kontroversen Punkte in Ruhe besprechen.
8.5 … Gebildet sein
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8.5 … Gebildet sein Jenseits der exemplarischen Situationen, Bildung als individuell erfahrbare neue Praxis des Aufwachsens und Handelns in der Welt wird gesellschaftsweit und eindeutig im Blick auf die Subjekte zu einem Medium, in dem sich Individualität konstituiert, und diese Praxis wird zugleich die Referenz, in der solche Prozesse beobachtet werden. Über den Menschen wird dabei zwischen Emphase und Nüchternheit gesprochen, als Teil der Gattung und insofern als Adressat „allgemeiner“ Bildung, oder nach seinem sozialen, ständischen und beruflichen Ort und insofern als Adressat spezieller Bildung. „Dem Begriff der Menschheit in unsrer Person … einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“,35 das erwartet Wilhelm von Humboldt in seinem Fragment über Bildung ganz generell, in Übereinstimmung mit anderen Bestimmungen des Allgemeinen der Bildung in seiner Zeit, die ebenfalls auf den ‚ganzen Menschen‘ zielen.36 Auch in der Staatsschrift wird von Bildung die Realisierung des Menschseins erwartet, Bildung selbst als dessen Form bezeichnet: „der wahre Zwek des Menschen … ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“37 Solche allgemeinen, den Menschen unterschiedslos adressierenden Erwartungen formuliert auch sein Bericht als Leiter der Sektion an den König vom Dezember 1809: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf.“ Explizit werden diese Erwartungen aber zugleich als Voraussetzung einer je spezifischen – beruflichen oder sozialen – Praxis eingeführt, sind nicht allein schon Ziel, sondern doch nur Etappe im Prozess der Bildung: „Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft
35Wilhelm
von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. In: H umboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. 1, S. 234–240, zit. S. 235. 36Die „allgemeine Emporbildung [der] inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit (ist) allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschheit“ sagt z. B. der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi in der „Abendstunde eines Einsiedlers“, der den ganzen Menschen dann in der Einheit von Herz, Geist und Hand stilisieren will. (und nur am Rande, die so gern für ihn zitierte Formel der Einheit von „Kopf, Herz und Hand“ ist bei Pestalozzi selbst nicht theoretisch distinkt geklärt, sondern nichts anderes als ein pietistischer „Erweckungsslogan“, vgl. Fritz Osterwalder: ‚Kopf Herz Hand‘ – Slogan oder Argument. In: H.Paschen/L.Wigger (Hrsg.): Pädagogisches Argumentieren. Weinheim 1992, S. 191–219. 37Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., I, S. 64.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
geschieht, von einem zum andern überzugehen.“38 Allgemeine Bildung wird zur Voraussetzung, auch in speziellen Rollen – in Stand oder Beruf – Handlungsfähigkeit zu bewahren und im Besonderen kompetent zu sein, damit der Mensch „die Geschicklichkeit und Freiheit (erlangt), die nothwendig ist, um auch in seinem Berufe allein nicht bloss mechanisch, was Andre vor ihm getan, nachzuahmen, sondern selbst Erweiterungen und Verbesserungen vorzunehmen.“ Das schließt sogar die Erwartung ein, dass Bildung auch hilft, gegen die Unbillen des Arbeitsmarktes gewappnet zu sein, wie Humboldt im Blick auf die Konjunkturen der Beschäftigung beim Staat ausführt.39 Sein Bild der Bildung des Menschen ist deshalb auch weder in der Qualifizierung als Bildung der „Innerlichkeit“ angemessen beschrieben noch als „zweckfrei“ oder gar als Abkehr oder Abwehr von beruflicher Bildung, sondern nur in der Relation von Innen und Außen, im Allgemeinen und im Besonderen, als Mensch und als Bürger: „Beschränken sich indess auch alle diese Forderungen nur auf das innere Wesen des Menschen, so drängt doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein Innres zurückstrahle.“40 Humboldt verbindet im Rückgriff auf das Dual von „Stoff“ und „Form“ in dieser Bestimmung von Bildung „vollkommene Einheit und durchgängige Wechselwirkung“ und erläutert noch einmal, was „proportionirlich“ im Blick auf die Kräfte des Menschen bedeuteten kann: „in ihm sind mehrere Fähigkeiten, ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen.“41 Der Beruf und die „specielle Bildung“, die „Berufsbildung“ werden in diese Bestimmungen integriert, ohne sie „mit der allgemeinen zu vermischen“.42 Gleichheit und Differenz, das Allgemeine und das Besondere, gleiche schulische und differente berufsbezogene Bildung werden also zugleich zur Markierung des je einzelnen Menschen genutzt, jede „Intellectualität“43 findet ihr 38Bericht
der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König, Dezember 1809. In: WvH, Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 210–238, zit. S. 218, auch für das folgende Zitat. 39So dass der Staat nicht, „wenn er einen Menschen gern von seinem Posten entfernte, immer den leidigen Gedanken haben müsste, ihn um sein Brod zu bringen, sondern sich darauf verlassen könnte, dass ihm bei seinem Abgange ein anderer Erwerbszweig nicht fehlen würde.“ (Bericht der Sektion … 1809, zit. 218). 40Bericht … 1809, ebd., Bd. IV, S. 219. 41Humboldt Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. 1, S. 237. 42Bericht … 1809, ebd., Bd. IV, S. 219. 43„Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, … jede Intellectualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen …“; „Die Gränze des Unterrichts … kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“
8.5 … Gebildet sein
113
Recht und in der je konkreten Arbeit ihre eigene Form der Verwirklichung ihrer Individualität. Das bedeutet „allgemeine“ Bildung, nicht nur bei Humboldt.44 Goethes Wilhelm Meister liegt jedenfalls diese Implikation der Integration, ja Versöhnung des Allgemeinen und des Besonderen, der gesellschaftlichen Erwartungen und der individuellen Form der Selbstkonstruktion ebenfalls zugrunde, sogar in noch stärkerer Akzentuierung des besonderen: „Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.“45 Humboldt formuliert durchaus parallel: „Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung.“46 „Zweckfrei“, wie man ihm und seinem Bildungsbegriff gelegentlich zuschreibt, ist auch das nicht. Für Bildung und Erziehung als Referenzbegriffe für den „Entwicklungsprozess des Einzelnen“47 ist diese Einheit des Allgemeinen und Besonderen die zentrale theoretische Referenz, um Individualität zu bestimmen und die Problematik der Gattung zugleich zu berücksichtigen, etwa in Schleiermachers Prämisse: „Daß jedes Einzelne ein Allgemeines und besonderes zugleich ist, ist allgemeines Gesetz aller Erscheinung. Auf den Menschen ohnerachtet der Einheit und Identität der Gattung auch anwendbar.“48 Individualität, die „Eigentümlichkeit“ des Menschen, entsteht und bildet sich erst in diesem Prozess der Verschränkung des Allgemeinen und des Besonderen, und dafür gilt: „Es ist aber die Herausbildung der Eigentümlichkeit und das Hineinbilden in den Komplex der menschlichen Verhältnisse, so daß der Einzelne wahrhaft individuell ist und korrektiv wirkt, eigentlich ein und dasselbe.“49 Dieses Thema und seine zentrale
In: W.v.Humboldt: Königsberger Schulplan, 1809, Werke Bd. IV, S. 175–176; Litauischer Schulplan, ebd., S. 190. 44Die biografische Sequenzierung der Etappen der Bildung wird später – und im Anschluss an Humboldt – deshalb auch anders geordnet: Eduard Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918) In: E.S.: Kultur und Erziehung. Leipzig 1925, S. 159–177, gegen die von ihm kritisierte Praxis, „daß alle Erziehung mit der Allgemeinbildung anfangen müsse“, für die Unterscheidung von schulischer Allgemeinbildung, als grundlegender Bildung, und für seine These „Der Weg zu der höheren Allgemeinbildung führt über den Beruf und nur über den Beruf.“ (ebd., S. 162). 45Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre. 2. Buch, 11. Kap., Hamburger Goethe Ausgabe, Bd. 8, S. 282. Für die Interpretation im Blick auf die gelingende Integration von gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen grundsätzlich für Goethe u. a. Jannidis: Das Individuum und sein Jahrhundert. 1996. 46Humboldt, Theorie der Bildung, a. a. O., zit. S. 239. 47Diese Referenz setzt Schleiermacher an den Anfang seiner Pädagogik-Vorlesung von 1813/1814, vgl. hrsg. von Weniger, Bd. I, Bonn 1957, zit. S. 371. 48Schleiermacher, ebd., zit. S. 373. Für die Relation der allgemeinen Bildung – „zum Menschen“ – und der Bildung, „welche.. auf das Specielle ausgeht“ vgl. S. 394 und ff. 49So Schleiermacher in der Pädagogik-Vorlesung von 1820/1821, hier zit. nach Anm. 43 der Herausgeber zur Vorlesung von 1828, hrsg. von Weniger, Bd. I, S. 430.
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8 Wirkungsweise und Wirkungen bildender Selbstkonstruktion …
Prämisse, die Schleiermacher in den „Monologen“50 noch intensiver als Problem der Konstitution von Individualität behandelt und als Bildungstheorie entfaltet, dienen zugleich zur Abwehr derjenigen zeitgenössischen Reflexionen, die das Problem von Mensch und Welt, des Allgemeinen und des Besonderen allein zu einer Seite hin auflösen, also vereinfachen. Fichte etwa versteht das Ich zwar als „Werk meiner selbst“, die Individuen als „unter sich verschieden“, aber er setzt als Ziel der Bildung, „dass alle die verschiedenen vernünftigen Wesen auch unter sich gleichförmig gebildet werden sollten“, so dass die „völlige Gleichheit aller ihrer Mitglieder“ erreicht werde.51 Individualität erscheint dabei als das „vernunftlose“, Bildung habe ihren Zweck „darin, dass das I.[ndividuum] in der Gattung sich vergesse’, sein Leben dem ‚Leben dem Ganzen … aufopfere.‘“52 Der Diskurs über Bildung im Ursprung seiner modernen Gestalt, das kann man vor diesem Hintergrund schon festhalten, ist insofern in seinem Bild des Gebildeten und der Individualität nicht einheitlich. Er kennt neben der Versöhnung der Ansprüche von Mensch und Welt in den Prozessen der Konstitution des Subjekts und seiner Individualität, auch die konflikthaften Vereinseitigungen, das Aufgehen von Individualität in der Gattung oder – wie in der rousseauistischen Tradition – die Überwältigung durch Gesellschaft und die Rettung des Menschen durch ein Aufwachsen außerhalb der Gesellschaft, eine Position, die nicht nur die Philanthropen problematisieren, sondern auch Herbart: „Der Mensch ist Nichts ausser der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, dass die Humanität ihm fehlen würde.“53 In diese Dimensionen einer internen Differenz der bildungstheoretischen Prämissen gehört auch die Relationierung von allgemeiner und specieller Bildung, wie sie zumal in der Beurteilung des Berufs artikuliert wird, auch hier in der Differenz der Positionen. Der Anerkennung des Berufs und aufgabenspezifischer Spezialisierung bei Humboldt oder Goethe steht dann die Abwehr des Brotstudenten gegenüber, wie man sie bei Schiller oder Schelling findet und wie sie in der amerikanischen Variante romantischer bildungstheoretischer Reflexion bei den Transzendentalisten erneuert wird: „Wer einen Beruf ergreift, ist verloren“,54 das lebt als Maxime 50Friedrich D. E. Schleiermacher: Monologen. Eine Neujahrsgabe. (1800) In: Friedrich Schleiermacher über die Religion. Schriften, Predigten, Briefe. Hrsg. v. Christian Albrecht, Frankfurt a. M./Leipzig 2008, S. 195–259. 51J.G. Fichte: System der Sittenlehre. Hier zit. nach Tilmann Borsche: Individuum, Individualität. Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. IV., Darmstadt 1976, Sp. 310–323, Zit. S. 313–314. 52Borsche, 1976, Sp. 314, der hier Fichtes Argumente nach dessen „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ zitiert. 53Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. (1824/1825). Zit. In: SW VI, S. 20. 54Das notierte der 23-jährige Thoreau in seinem Tagebuch, vgl. Fritz Güttinger: Nachwort, In: Henry D. Thoreau: Walden. Oder Hüttenleben im Walde. (1834) Zürich 1982, zit. S. 474. und in den Kontext gehört ja auch „… das schlimmste ist, selber sein eigener Sklaventreiber zu sein.“ (Thoreau, Walden, S. 12), also den Produktivitätsimperativ zu verinnerlichen, den die Praxisemphase von Bildung ja ebenfalls darstellt.
8.5 … Gebildet sein
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alternativen Lebens bis in die Gegenwart. Zum Zentrum der Argumentation der klassischen deutschen Bildungstheorie in ihrem Ursprung gehören solche Oppositionsformeln nicht, jedenfalls nicht konsensual. Einheit in solchen Formeln ist für die Charakterisierung des Gebildeten in diesen Texten so wenig zutreffend wie die Unterstellung, hier werde gesellschaftsfern oder zentriert auf Innerlichkeit argumentiert. Der Gebildete ist der individuell wie gesellschaftlich und ökonomisch handlungsfähige Akteur in der Gesellschaft, nicht ein Subjekt außerhalb. Andere zeitgenössische Referenzen gibt es natürlich, sie gehören, wie bei Schiller, in die ästhetische oder in die romantische Begleitmusik des Bildungsdiskurses: „Das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung“, das findet sich in Schlegels „Fragmenten“.55 Aber diese romantische Perspektive bestimmt nicht die dominierende Betrachtung von Bildung und der Rolle der Gebildeten. „Religion“ schließlich hat bei Schlegel auch ganz eigenen Status jenseits aller Kirchlichkeit. Die biografisch dokumentierte Praxis der jungen Gebildeten, von Schleiermacher oder Lessing, zeigt deshalb auch diese andere, öffentliche und berufliche Seite ihres Bildungsprozesses, die Einheit von Vergesellschaftung und Individuation.
55Schlegel,
Fragment 222. In den „Ideen“ findet man auch: „Die Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung, das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie, welches gleich dem Feuer, wo es gebunden ist, in der Stille allgegenwärtig wohltut und nur durch Gewalt und Reiz von außen in die furchtbare Zerstörung ausbricht.“ (Ideen, 4) Aber später, und dann ganz Bildungs-zentriert wieder: „Nur durch Bildung wird der Mensch, der es ganz ist, überall menschlich und von Menschheit durchdrungen.“ (Ideen, 659).
Kapitel 9
Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“
In Schleiermachers Verhalten, um das Exempel noch einmal zu bemühen, wie in dem des Grafen, aber auch in Schleiermachers Reflexion dieses Verhaltens, vertieft noch in einem nachgehenden Brief an den Vater1 wie in den Reflexionen über allgemeine und specielle Bildung wird Bildung gleichzeitig in ihrer elementaren gesellschaftlichen Form und Funktion sichtbar. Die Biografie der jungen Gebildeten dokumentiert, wie sie historisch neu definiert wird, zum Habitus des Gebildeten gehört, aber bald auch generell erwartet wird und das Bild von Individualität bestimmt. Der Gebildete, gleich auf welcher gesellschaftlichen Ebene er agiert, beherrscht zuerst den „Umgang mit Menschen“, wie der Titel des berühmten Buches des Freiherrn von Knigge lautet. Bildung im Alltag manifestiert sich primär als die Erwartung der gesellschaftlichen Akteure, dass eigenes Verhalten erwartbar wird für andere. Exakt das findet man bei „dem guten alten armen Knigge“,2 exemplarisch ausgearbeitet und reflektiert, so erstaunlich das zunächst klingen mag. Knigge – 1752 in Bredenbeck bei Hannover geboren, erst 44-jährig schon 1796 in Bremen gestorben – gilt vielfach als etwas problematische Gestalt, jedenfalls
1Brief vom 10.05.1793, ebd., S. 155–157: „Sie können leicht denken, bester Vater, daß ich den größten Theil dieser Tage nicht viel zu etwas anderem angewandt habe, als über das vorige nachzudenken und mich in meine jetzige Lage hineinzuversetzen.“ So fängt dieser Brief an, und das Ergebnis seiner Selbstbeobachtung berichtet er, so selbstkritisch wie selbstbewusst, auch mit viel Verständnis für den Grafen und die Hofmeistersituation. Die Suche nach Verbündeten z. B. sei bei Erziehungskonflikten schwierig: „Hatte ich mich in jedem solchen Fall hinter die Gräfin gesteckt, so hätte ich etwas mehr darin leisten könne, aber ich denke, zu einem solchen Mittel, was so an den Grenzen der Moralität steht, ist man nicht verbunden.“ (156). 2So Martin Rector: Knigge oder die Grenzen der Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.): Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge. Göttingen 1999, S. 9–20, zit. S. 9 – in diesem Abschnitt über Knigge nehme ich, z. T. wörtlich, Argumente aus einer früheren Veröffentlichung auf, vgl. H.-E. T.: Knigge, Pisa, Zollverein – Über den aktuellen Sinn allgemeiner Bildung. In: Die Deutsche Schule 101 (2009) 2, S. 181–193.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_9
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9 Die soziale Funktion: „Umgang mit Menschen“
mit einer unglücklichen Biografie, wie Paul Raabe resümiert,3 zudem mit einer katastrophalen Wirkungsgeschichte,4 in der sich sein Name von der Person längst abgelöst hat und zum Titel einer wenig reputierlichen Gattung der Ratgeber- und Benimmliteratur wurde – mit der er nichts zu tun hat. Hat man, so kann man durchaus fragen, Bildung im Ursprung hier richtig platziert, im Kontext überholter Etikette und gesellschaftlicher Konventionen? Ja, zuerst bei Knigge, das ist die These, weil man den für die Moderne typischen sozialen Sinn von Bildung und ihre historisch-gesellschaftliche Funktion seit der Aufklärung und auch noch in unserer Welt ansonsten nicht angemessen versteht. Bildung im Ursprung bedeutet in ihrem gesellschaftlichen und zugleich individuellen Sinn nichts anderes als die Konstruktion und Reflexion des „Umgangs mit Menschen“,5 der Status des Gebildeten erweist sich im „geselligen Verkehr“, der „Ungebildete“, hält Hegel fest,6 blamiert sich selbst im nicht gebildeten Umgang mit Menschen. Knigges zentrales Buch hat darin sein Thema, zugleich als Konstruktion eines Ideals und als Reflexion eines neuen schon empirisch anzutreffenden Modells der Lebensführung, die er den Menschen empfiehlt, die als Gebildete gelten wollen. Zu
3Paul
Raabe: Knigges Nachlaß – von der „alten Kiste“ zur neuen Ausgabe. Eine persönliche Rechenschaft. In: Rector a. a. O., S. 21–32, spricht vom „Unglücksfall Knigge“ (S. 22) und resümiert in dieser Perspektive die Biografie: „Adolph Freiherr Knigge wurde unter einem Unglücksstern geboren: der zehnjährige verlor seine Mutter, drei Jahre später starb der Vater und hinterließ Schulden in Höhe von 100.000 Gulden, die Gläubiger belegten deshalb die Güter mit Sequester [Fremdkontrolle des Vermögens zur Sicherung ihrer Ansprüche – H.-E.T.], zeitlebens kam Knigge nicht wieder in den Besitz seines Erbes. Seine Karriere am Kasseler Hof endete mit einem Fiasko, der Hof des Preußenkönigs blieb ihm verschlossen, in Weimar speiste man ihn mit dem Titel eines Kammerherrn ab. Der an das Gute Glaubende wurde durch seine Ordensbrüder betrogen, im Gegensatz zu ihnen hing ihm die Tätigkeit im Illuminatenorden wie ein Makel zeitlebens an. Seine Ehe war unglücklich, die Geldsorgen zehrten an seiner Gesundheit, in den letzten Lebensjahren in Bremen war er ans Bett gefesselt … aber er trug es mit der Gelassenheit eines Philosophen, der sein Schicksal durch die Kraft der Vernunft und die Bezähmung seiner Leidenschaft meisterte.“ (S. 21). 4Umfassend dokumentiert bei Michael Schlott (Hrsg.): Wirkungen und Wertungen. Adolph Freiherr Knigge im Urteil der Nachwelt (1796–1994). Eine Dokumentensammlung. Göttingen 1998. 5Adolph Freiherr Knigge: Über den Umgang mit Menschen. (1788) 3. Aufl. 1790. ND, Hrsg. von Gerd Ueding, mit Illustrationen von Chodowiecki und anderen. Frankfurt a. M. 1977. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 6Dann findet man diese Qualifizierung von Bildung immer wieder, vgl. z. B. Hegels Charakterisierung des „Ungebildeten“, die er aus seinem Verhalten gegenüber „den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes“ und „im Verhältnis zu anderen Menschen“ klärt. Ungebildet ist demnach, wer „sich nur gehen lässt, und keine Reflexionen für die Empfindungen der Anderen hat. Er will andere nicht verletzen, aber sein Betragen ist mit seinem Willen nicht in Einklang. Bildung ist also Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt. Die wahre Originalität verlangt, als die Sache hervorbringend, wahre Bildung, während die unwahre Abgeschmacktheiten annimmt, die nur Ungebildeten einfallen.“ In: Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts. hrsg. von Reichelt, Frankfurt (usw.), § 187, Zusatz, S. 173, Anm. 2.
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diesen Modi der Lebensführung zählen dann natürlich auch die „Manieren“7 und gesellschaftlichen Verhaltensstandards,8 aber sie gewinnen bei Knigge ihre Funktion und Legitimität nicht als tradierte Etikette, sondern als umfassende moralische Regulation des sozialen Verhaltens. 1788 erstmals erschienen, 1790 bereits in dritter Auflage, im 19. Jahrhundert zur Unkenntlichkeit überarbeitet, erst im späten 20., nicht zuletzt von Paul Raabe, auch in der Germanistik rehabilitiert, ist der Knigge deshalb eine Grundlektion über Bildung, ein Buch der „Weltklugheit“, wie er selbst sagt, weit entfernt von pedantisch normierender Etikette (obwohl Knigge der Pedanterie, also der Genauigkeit im Umgang, durchaus etwas abgewinnen konnte). Schon in der Vorrede zur dritten Auflage muss er sich selbst gegen den Vorwurf wehren, dass sein Buch zwar „nur Regeln des Umgangs ankündigte“, also scheinbar sich allein der Etikette widmen wolle, „hingegen das Buch selbst fast über alle Teile der Sittenlehre sich ausdehnte.“9 Knigge begründet diese Weite der Behandlung mit seinem zentralen Argument, das es zugleich rechtfertigt, ihn primär als Bildungstheoretiker zu lesen: „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.“ Knigge erläutert deshalb seine Absichten auch dadurch, dass er einen etwas ausführlicheren Titel nennt, den sein Werk auch hätte tragen können: „Vorschriften, wie der Mensch sich zu verhalten hat, um in dieser Welt und in Gesellschaft mit anderen Menschen glücklich und vergnügt zu leben und seine Nebenmenschen glücklich und froh zu machen.“ Er verzichtet aber auf diesen Titel, weil er „ebenso geschwätzig als prahlerisch“ sei. Es geht also darum, „sich für die Welt zu bilden“,10 d. h. die Menschen zu verstehen und für sie verständlich zu sein.
7In
Maaser/Walter, Hrsg., Bildung, 2011, werden deshalb auch unter „Tugenden, Werte, Ziele“ zu Recht „Benehmen, Manieren“ behandelt (Asfa-Wossen Asserate, S. 356–359), zusammen mit „Eleganz“ (Elisabeth Weymann, S. 359 ff.), und der Status der Manieren wird in Dimensionen erläutert, die erkennen lassen, in welchen Kontext Knigge wirklich gehört: „Das Vorbild für vollkommene Manieren ist Jesus Christus“, „gespeist von vollkommener Liebe“; denn „darum geht es: den anderen Menschen ins Zentrum stellen und nicht sich selbst.“ (zit. S. 358 f.). 8Ihre frühe Ausprägung hat – als Moment der Zivilisierung – Norbert Elias beschrieben, der schon deswegen in die Vorgeschichte der modernen Bildungswelten und ihre Reflexion gehört. In seiner Nachfolge und für die späteren Modi der Lebensführung, Knigges Analysen vergleichbar, u. a. Horst-Volker Krumrey: Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandards. Eine soziologische Prozeßanalyse auf der Grundlage deutscher Anstands- und Manierenbücher von 1870 bis 1970. Frankfurt a. M. 1984. 9Knigge 1790, Vorrede, S. 10, auch für das folgende Zitat. 10Knigge 1790, Vorrede S. 11, oder, später: „folglich ist es wichtig für jeden, der in der Welt mit Menschen leben will, die Kunst zu studieren, sich nach Sitten, Ton und Stimmung andrer zu fügen“ (S. 32) und „über diese Kunst will ich etwas sagen“.
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Entsprechend ist das Buch in seinen drei Teilen aufgebaut: Mit einleitenden Bemerkungen über den Umgang mit anderen Menschen (auch mit einem an Rousseau erinnernden Argument11: „Sei nicht zu sehr Sklave der Meinungen andrer! Enthülle nicht die Schwächen Deiner Nebenmenschen! Eigne Dir nicht das Verdienst andrer zu!“), aber auch „Über den Umgang mit sich selbst“ (z. B. „Gehe ebenso vorsichtig, fein, redlich und gerecht mit Dir selber um als mit andern. Respektiere Dich selber und habe Zuversicht zu Dir selber!“). Im zweiten Teil gibt es den ersten Schritt in der Differentialdiagnose des Verhaltens,12 d. h. für den Umgang mit Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts, im Kontext von „Freundschaft, Liebe, Dankbarkeit, Wohlwollen“ (z. B. „Über den Umgang mit und unter Verliebten“: „Sei verschwiegen in der Liebe“, aber auch: „nach dem Bruche mit der Geliebten soll man edel handeln“), oder „Über die Verhältnisse zwischen Herr und Diener“ oder das „Betragen gegen Hauswirte“, „Wirt und Gast“ oder „in Gesellschaft betrunkener Leute“. Offenkundig wird dabei, dass Umgangsformen immer auch Formen der klugen Vorsicht sind. Im dritten Teil kommen die Pflichten, und zwar im gesellschaftlichen Kontext, beim „Umgang mit den Großen dieser Erde“ (auch hier hauptsächlich „Vorsichtigkeitsregeln“, etwa: „Man baue nicht auf alle freundlichen Blicke der Großen und lasse sich dadurch nie bewegen, sich mit ihnen gemein zu machen!“), oder „mit Geringern“, mit „Hofleuten“, „Geistlichen“, „Gelehrten und Künstlern“ (auch hier: „Vorsicht“, z. B. „im Umgang mit Journalisten und Anekdotensammlern“, denn „… sie stehen gemeiniglich bei geringerm Vorrate an eigener Gelehrsamkeit im Solde irgendeiner herrschsüchtigen Partei … dann ziehen sie durchs Land, um Märchen zu sammeln, die sie nach Gelegenheit Dokumente nennen“13), schließlich mit „Leuten von allerlei Lebensart und Gewerbe“, bis hin zu „geheimen
11Dies,
das wahre Leben allein in der Wahrnehmung der anderen zu suchen, war für Rousseau ja Indikator verfehlter Existenz, vgl.: „Wozu sollen wir unser Glück in der Meinung eines anderen suchen, wenn wir es in uns selbst finden können?“, Rousseau, 1. Preisschrift, Abhandlung preisgekrönt von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 über die von der genannten Akademie gestellte Frage: Ob die Neubelebung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern? Oder, in der zweiten Preisschrift, „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“: „Jeder begann, die anderen zu betrachten und wollte selbst betrachtet werden, und die öffentliche Achtung bekam Wert … das war der erste Schritt zur Ungleichheit und gleichzeitig zum Laster …“ (91) sowie: „Darin liegt tatsächlich die wirkliche Ursache aller dieser Unterschiede: der Wilde lebt in sich selbst; der zivilisierte Mensch, der sich selbst immer fern ist, kann nur leben im Spiegel der Meinungen der anderen, und er leitet sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl für seine eigene Existenz ab. … Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück.“ (109–110). 12Knigge selbst beschreibt die Absicht dieses teils als „Bemerkungen über den Umgang mit Menschen von allerlei Art, ohne Rücksicht auf ihre besonderen Verhältnisse untereinander“, nur im Blick auf „die mannigfaltigen natürlichen, häuslichen und bürgerlichen Verbindungen“ (1790, S. 135). 13Knigge 1790, S. 345 – und da ist es schon mutig, wenn sein jüngster und sehr belehrender Biograf Knigge über die Rolle des Publizisten, als „der freie Herr Schriftsteller“, analysiert, vgl. Ingo Hermann: Knigge. Die Biografie. Berlin 2007.
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erbindungen“ (da hatte er selbst belastende Erfahrungen gesammelt). Aber es V fehlen auch nicht Bemerkungen „Über den Umgang mit Tieren“ und die „Torheit derer Leute, die mit Tieren wie mit Menschen umgehen“. Derart daran interessiert, unsere Bildung zu befördern, und damit unser Glück in der Welt, sucht er das Verhalten für uns selbst und für andere, und das Verhalten der anderen für uns begründbar und berechenbar zu machen. Das ist, wie er selbst sagt, Moralphilosophie, es gehört also aus guten Gründen in den Kontext der pragmatischen Anthropologie, in den auch Kant die Pädagogik, die Bildung und die Weltklugheit platziert, jedenfalls nicht in die transzendentalkritische Reflexion. Pragmatisch wird hier das Grundproblem der Pädagogik gelöst, und zwar handelnd, nicht philosophierend: dass Freiheit die Bestimmung des Menschen ist, er aber zugleich das Tier ist, das der Disziplin bedarf, so dass Zivilisierung und Moralisierung durch Erziehung notwendig sind, damit Bildung wird; denn, wie Kant sagt: „Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne.“ Seine unübertroffene Frage für das Zentralproblem der Pädagogik heißt deshalb auch: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“,14 und für ihn gilt gleich, „Denn Zwang ist nötig!“, und die Unterwerfung unter „den gesetzlichen Zwang“ so notwendig wie legitim. Bildung legitimiert sich für Kant durch die Erwartung, dass die selbst bestimmte und selbst kontrollierte Wahrnehmung der eigenen Rolle generalisiert werden muss, damit eine zivilisierte, auf einer Verfassung basierende Gesellschaft, jenseits der Gewalt oder der politisch-ständischen Willkür, in einer freien Zivilgesellschaft nicht nur ihre rechtliche Sicherung, sondern auch eine kollektive mentale Verankerung findet. Kant ist wie Knigge liberaler Demokrat und Freund der Republik.15 Knigge lehrt deshalb immer auch den Umgang mit Ungleichheit und Differenz in gesellschaftlicher Kommunikation. Er zeigt die Rolle von Bildung „als spannungsreiche Lebenskunst“,16 wie sie ganz alltäglich in modernen, sich funktional und sozial differenzierenden Gesellschaften notwendig wird. Bildung wird die Formel, in der man dieses Verhalten angesichts der feinen Unterschiede
14Immanuel
Kant: Über Pädagogik (1803). Kant-Werke, Edit. W.Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1964, S. 711, A 32. 15Knigges politische Schriften zeigen ihn als einen Theoretiker, der, wie Kant im „Ewigen Frieden“, den Sinn von Verfassungen als Basis moderner, demokratischer Staatsformen präzise versteht und auch die Französische Revolution gegen ihre Verächter verteidigt. 16Diese Rolle von Bildung betont im Verweis auf die Bedeutung von „Leiblichkeit“ in Bildungsprozessen und in der Nutzung von Plessners anthropologischem Begriff der „Exzentrizität“ Käte Meyer-Drawe: Die Not der Lebenskunst. Phänomenologische Überlegungen zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse. In: Cornelie Dietrich/Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München 2000, S. 147– 154. Damit wird, selten genug, „Bildung“ nicht nur „als Gestaltung einer unausweichlichen Fremdheit mit uns selbst“ (zit. S. 154) betont, sondern auch wieder zum Thema von „Lebenskunst“.
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thematisiert, und Knigge reflektiert sie deshalb auch rollen- und funktionsspezifisch.17 Erst in der Folgezeit, nach Knigge und Kant, werden in der Rede von Bildung die Modelle des Verhaltens nicht mehr so erfahrungsgesättigt und realitätsnah, kulturspezifisch und historisch identifizierbar diskutiert wie im Bildungsdiskurs um 1800. Sie werden auch nicht mehr in einer normativ grundierten Theorie der „Geselligkeit“, wie bei Schleiermacher,18 oder in der Praxis der „Kultur“, als dem „positiven Teil der physischen Erziehung“, wie bei Kant19, sondern in idealen Welten gesucht, bei den Griechen etwa, oder grundlagentheoretisch und als Begründungsproblem jenseits des Alltags, wie in der Philosophie, oder gesellschaftskritisch, wenn Bildung ihrer sozialen Funktion nach auf ein Distinktionsmerkmal reduziert wird. Aber damit verlieren die Praktiken und Reflexionen über Bildung auch in der theoretischen Wahrnehmung ihre primäre Funktion, dass es Verhaltensstandards sind, die wir selbst praktizieren, gerade dadurch verinnerlichen und ihnen Geltung verschaffen, und zwar im Allgemeinen, als Mensch und als Bürger, als Bauer oder Edelmann, Bergmann oder Hochschullehrer. Geht es deshalb auch gar nicht um Etikette oder die Tischmanieren? Aber sicher, denn die Erziehung und Bildung des Menschen, seine Zivilisierung, die Verinnerlichung des äußeren Zwanges als Selbstzwang, beginnt ganz alltäglich, schon seit der Renaissance, wie uns Norbert Elias20, gestützt u. a. auf den großen Humanisten Erasmus, gelehrt hat. Bildung setzt ein in Familien, beim gemeinsamen Essen, das die Einführung in Geselligkeit und Selbstkontrolle
17Wie
die ganze Pädagogik der Aufklärung kennt er lagespezifische Besonderungen und predigt keineswegs Bildung als protorevolutionäre Revolutionspropädeutik oder gar als Erziehung zum Widerstand gegen gesellschaftliche Verhältnisse: „Die beste Aufklärung des Verstandes ist die, welche uns lehrt, mit unserer Lage zufrieden und in unseren Verhältnissen brauchbar, nützlich und zweckmässig thätig zu seyn. Alle Übrige ist Thorheit und führte zum Verderben.“ (Knigge 1790, S. 311). 18Friedrich D. E. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. (1799) In: KGA Abt. I, Bd. 2, mit der zentralen These. „Freie, durch keinen äußern Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert.“ (hier zit. nach Andreas Arndt: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit. In: B. Holtz/W. Neugebauer (Hrsg.): Kennen Sie Preußen – wirklich? Berlin 2009, S. 163–168, zit. S. 164) Schleiermacher unterstellt für die „freie“ – im Unterschied zu der „gebundenen“ – Geselligkeit auch die vollständige Zweckfreiheit, ihr Sinn erweise sich nur in der interaktiven Wechselwirkung: „Der Zweck der Gesellschaft wird gar nicht als außer ihr liegend gedacht; die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Thätigkeit der übrigen, und die Thätigkeit eines Jeden soll seyn Einwirkung auf die andern.“ (zit. ebd., S. 165). 19Kant, Pädagogik, (1803), hrsg. von Weischedel, Bd. X, S. 724 (A 62). Die Vorschläge Kants münden in dem Knigge vergleichbaren Hinweis: „Wir dürfen uns nicht einander lästig werden; die Welt ist groß genug für uns alle.“ Und er ergänzt: „Und dies könnte jeder zu seinem Wahlspruch machen.“ Kant (ebd., S. 728, A 71) paraphrasiert im Übrigen dabei eine einschlägige Bemerkung des Toby in Sternes Tristram Shandy. 20Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. (1939) 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997 (Ges.Schr. Bd. 3.1/2).
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darstellt und damit den Beginn des Prozesses der Enkulturation markiert, und zwar bei allen Theoretikern der Zeit, von Knigge bis Schleiermacher.21 Auch die Höflichkeit bleibt nicht außen vor, aber es ist nicht formalisierte Etikette, die man unterstellt, im Gegenteil: „Höflichkeit nicht als Täuschung, sondern als Versuch, sich gegenseitig aus Irrtümern herauszuhelfen.“ Diese schöne, so angemessene Interpretation von Höflichkeit kann man heute bei dem großen Bildungstheoretiker Vicco von Bülow lesen,22 von dem wir mehr über den Umgang mit Menschen gelernt haben als von vielen anderen, jedenfalls mehr als von bildungskritischen Theoretikern. Bildung ist zu allererst Ausstattung zu einem zivilisierten Verhalten in der Welt23 – das ist Knigges Botschaft. Erst dann kommt die Schule, das Wissen, die beruflich verwertbaren Kompetenzen, der hochkulturell Gebildete und die große Moral, mithin alles, was nicht die alltägliche Praxis, sondern den hehren Titel der Bildung gelegentlich, und zu Unrecht, wie Knigge lehrt, für sich allein beansprucht. Aber natürlich, diese hehren Dimensionen der Bildung soll man nicht geringschätzen, wie man sieht, wenn man sich der politischen Dimension vergewissert, die der Bildung schon im Ursprung ebenfalls zugeschrieben wurde.
21Schleiermachers
Theorie der Geselligkeit lässt sich deshalb als Sozialisationstheorie lesen, wie die einschlägige Forschung früh gezeigt hat, vgl. Wolfgang Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim 1965. 22„Früher war mehr Lametta“, Interview mit Vicco von Bülow/Loriot. In: Die Zeit vom 23. Oktober 2008, S. 15–19, zit. S. 17 und er schließt an: „Das hat auch mit Trost zu tun.“. 23Hier schließe ich in der Formulierung an die bekannte Bestimmung von Bildung an, die sich bei Saul B. Robinsohn findet: „Bildung als Vorgang, in subjektiver Bedeutung, ist Ausstattung zum Verhalten in der Welt.“ in: S. B. Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum … Neuwied/Berlin 1969, zit. S. 13.
Kapitel 10
... und die politische: „Bildung der Nation“, Inklusion und Exklusion
Betrachtet man Knigges literarisch-publizistische Praxis im Kontext, dann zeigt sich rasch, dass er den Umgang mit Menschen nicht auf die gesellschaftliche, soziale und kulturelle Dimension allein bezieht, sondern auch auf grundlegende politische Fragen. Knigge publiziert einige für Deutschland in dieser Zeit durchaus seltene radikal-liberale Schriften1 und er kann auch die Französische Revolution in ihrem epochemachenden Charakter würdigen. Der Bildungsbegriff wiederum inspiriert die politische Debatte im ausgehenden 18. Jahrhundert insgesamt in ihrer Absicht, mit Hilfe von Nationalerziehungsplänen die noch nicht existente Nation oder den fehlenden Einheitsstaat zumindest als Kulturnation zu schaffen. Der Begriff der Bildung stiftet dabei die Differenz in der Artikulation des bürgerlichen und aufgeklärten politischen Selbstverständnisses gegenüber der ständischen Tradition, freilich mit eigenen signifikanten Ein- und Ausgrenzungen, nicht nur im Blick auf das „Volk“, sondern vor allem für den Status der Juden. Die Reflexion über „Bildung“ tritt also nicht zufällig ins öffentliche Bewusstsein zugleich mit der Debatte über die „Nation“ ein, und es sind jeweils Defizitdiagnosen, die diese Diskurse tragen: Bildung, der Individuen wie der Nation, habe noch nicht die Gestalt gewonnen, die dem Anspruch des Begriffs entspreche, die Nation sei noch nicht geboren, in der der Bürger seine Lebenswelt selbstbestimmt gestalten kann. Die Nationalerziehungspläne des späten 18. Jahrhunderts2
1Vgl. Knigges „Geschichte der Aufklärung in Abyssinien“ (1791), oder, umfassend, das Nachwort von Gerhard Steiner zu Adolph Freyherr Knigge: Joseph Wurmbrand … politisches Glaubensbekenntniß, mit Hinweis auf die französische Revolution und deren Folgen. (1792) Hrsg. von G.Steiner, Frankfurt a. M. 1968, S. 119–155. 2Eine frühe Darstellung liefert Helmut König: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1960 (Monumenta Paedagogica, Bd. 1) – natürlich im sozialistischen Ton; für die andere, westliche, Lesart jetzt u. a. Heinz Stübig: Nationalerziehung. Pädagogische Antworten auf die „deutsche Frage“ im 19. Jahrhundert. Schwalbach 2006.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_10
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geben deshalb dem Begriff der Bildung und dem der Nation zugleich ihre Kontur und die darüber geführten öffentlichen Debatten zeigen von Beginn an auch die Konflikte, die sich hier zwischen Nation und Bildung, Bürger und Staat eröffnen.3 Trotz mancher gemeinsamer Referenzen im Ursprung und in der Zielsetzung mit außerdeutschen Diskussionen,4 unverkennbar ist in dieser Dimension der Rede von Bildung aber, dass es tatsächlich spezifische deutsche Debatten sind,5 die man dabei verfolgen kann. In der Thematisierung der politischen Referenz ist die Tradition der Bildung deutlich unterschieden z. B. von der Reflexion der Demokratie, wie sie sich etwa für die einschlägige Geschichte der USA finden lassen.6 Die politisch-soziale Besonderheit im Zusammenhang von Bildung und Nation liegt selbstverständlich nicht allein in der Reflexionstradition, sondern vor allem in der Tatsache, dass Kultur und Nation einerseits, Staat und Herrschaft andererseits noch nicht zu einer gemeinsamen Form gefunden haben und so bald auch nicht finden werden.7
3Auch
dazu ist die Diskussion bis heute reichhaltig, vgl. nur für die pädagogische Reflexionstradition u. a. Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Französische Revolution und Pädagogik der Moderne. Aufklärung, Revolution und Menschenbildung im Übergang vom Ancien Regime zur bürgerlichen Gesellschaft. Weinheim/Basel 1990; Jürgen Oelkers (Hrsg.): Aufklärung und Moderne. Weinheim 1992, S. 117–134; Jürgen Oelkers/Daniel Tröhler (Hrsg.): Die Leidenschaft der Aufklärung. Weinheim/Basel 1999; Jürgen Oelkers/Fritz Osterwalder/Heinz Rhyn (Hrsg.): Bildung, Öffentlichkeit und Demokratie. Weinheim/Basel 1998 sowie zur Praxis der Aufklärungspädagogik Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2007. 4Die Gemeinsamkeiten betont – im Gedanken von „Formung“ und in der Differenz von Bildung und Schulbildung sowie, für die Differenzen, im Verweis auf die erst im 19. Jahrhundert hinzutretende „Innerlichkeit“ – Jürgen Oelkers: Das Konzept der Bildung in Deutschland im 18. Jahrhundert. In: Oelkers u. a. (1998), S. 45–70. 5Diese eher nationalpolitische Funktion belegt – in scharfer argumentativer Engführung, gegen Einwände nicht gefeit, die hier ignoriert werden können – Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Frankfurt a. M./New York 1993. 6Dazu, auch für die Tradition basisdemokratischer sozialer Bewegungen, jüngst noch einmal Jürgen Oelkers: Demokratisches Denken in der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010), S. 3–21. 7Für diese politik- und sozialgeschichtliche Frage Dieter Langewiesche: Staatsbildung und Nationsbildung in Deutschland – ein Sonderweg? Die deutsche Nation im europäischen Vergleich. (2001) In: D.L..: Reich, Nation, Föderation. Deutschland und Europa. München 2008, S. 145–160. Langewiesche zitiert (S. 137) – um sie dann zu problematisieren – für das Thema auch die alte Diagnose von Helmuth Plessner, dass durch die Verspätung in der Nationbildung „eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung des Nationalstaates in Deutschland verhindert“ wurde (cf. Helmut Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. (1930 u. d. T.: Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Mit dem neuen Titel seit der 2. Aufl. 1959) Frankfurt a. M. 1974, S. 14). Zur Historizität von Plessners Argumentation jetzt die luzide Interpretation bei Hermann Lübbe: „Verspätete Nation“. Überraschende Ergebnisse einer Pflichtlektüre. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 7 (2013), 2, S. 83–102.
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Ambition und Anspruch dieser frühen Reflexion von Bildung und Nation können exemplarisch8 an zwei Texten gezeigt werden, die dem Begriff der „Nation“ eindeutige Gestalt geben und zugleich mit „Bildung“ eine präzise Bestimmung und dezidierte Erwartungen in diesem Kontext verbinden: Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ von 1792, das ist gewissermaßen der klassische liberale Text in diesem Kontext.9 Die Überlegungen des preußischen Landadligen Eberhard von Rochow in seinem Text „Vom Nationalcharakter durch Volksschulen“ von 1779 können zugleich zeigen, dass sich zumindest für ihn die Nation nicht bilden kann, wenn sich nicht auch das Volk bildet, bezeichnenderweise „durch Volksschulen“.10 Rochow und Humboldt sehen diese Referenz in gleicher Weise, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung, aber ihre Überlegungen erlauben es, das Problem der Konstruktion der Nation durch Bildung in der Ursprungssituation nachzuzeichnen. Humboldts Schrift von 1792 – in Auszügen unter dem Titel „Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staates um das Wohl seiner Bürger erstrecken?“ zeitgenössisch in Schillers Neuer Thalia publiziert – gehört ebenso in diesen Kontext wie seine Abhandlung Über öffentliche Staatserziehung, die im Dezemberheft 1792 des Zentralorgans der Berliner Aufklärung, der Berlinischen Monatsschrift, erschien.11 Humboldts begriffliche Dispositionen sind dabei einfach und klar: Er unterscheidet „Staat“ und „Nation“, er ordnet „Gesinnungsbildung“ und Erziehung, zumindest die Absicht und wohl auch die Legitimation dazu, dem
8Die nachfolgenden Überlegungen nehmen z. T. wörtlich Argumente auf, die ich in Tenorth: Humboldt, Bildungspolitik und Universitätsreform, 2018, S. 143–155 bereits veröffentlicht habe. Die weitere Diskussion jenseits meiner Exempel, konzentriert auf die philosophischen Klassiker, behandelt schon Ursula Krautkrämer: Staat und Erziehung. Begründung öffentlicher Erziehung bei Humboldt, Kant, Fichte, Hegel und Schleiermacher. München 1979. 9Auch Humboldt lässt sich natürlich im Kontext lesen, z. B. biografisch, im Kontext seiner Erfahrungen in Paris z. Zt. der Revolution, oder theoretisch, dann im Kontext von Ideen der „politischen Gesellschaft“, wie sie z. B. bei Fichte oder analog bei Saint Juste in totalitärer Intention propagiert wurden, in scharfer Abgrenzung gegenüber einem die Individualität achtenden Konzept von Nation, wie es Kant, Condorcet oder Humboldt propagierten (dazu Stephanie Hellekamps: Die Gründung der Republik. Weinheim 1996, dies.: Bildung, Öffentlichkeit und politische Gesellschaft. In: D.Benner/J.Schriewer/H.-E.Tenorth (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Weinheim 1998, S. 55–71). 10Friedrich Eberhard von Rochow: Vom Nationalcharakter durch Volksschulen. (1889) In: Rochow Werke, hrsg. von Jonas/Wienecke, Berlin 1907, Bd. 1, S. 313–349; für den Kontext Holger Böning/Hanno Schmitt/Reinhart Siegert (Hrsg.): Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007. 11In: Thalia 2 (1792), S. 131–169. König 1960, S. 342–343 kommentiert Humboldt kritisch und moniert den „Klassencharakter“ (S. 343) des Humboldt-Textes von 1792, zeige er doch, wie durch dessen Schriften „dem Kampf der fortschrittlichen deutschen Pädagogen gegen den Feudalismus die revolutionäre Spitze genommen werden konnte“ (S. 342).
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Staat zu, „Bildung“ dagegen der Nation.12 Humboldt formuliert auch hier schon all die schönen Sätze, die für Bildung seither zitiert werden und den Zusammenhang von politischer Freiheit, Nationbildung und Bildung des Subjekts nicht nur politisch und subjekttheoretisch stiften, sondern auch im Blick auf die Formen des Umgangs mit Welt, die solche Bildung möglich machen, erläutern. Eindeutig ist damit auch, dass Humboldt mit „Nation“ die gemeinsame Kulturnation, auch Preußen, nur als „Kulturstaat“13 meint, nicht eine politische Körperschaft, und dass er vor allem das Problem diskutiert, wie diese Kulturnation sich in zentralen, sie betreffenden „allgemeinen“ Fragen verständigen und auf ein gemeinsames Fundament der Kommunikation beziehen kann. Weniger im Begriff der „Öffentlichkeit“14 als in dem der „Zivilgesellschaft“ würde ich deshalb das theoretische und historische Äquivalent dieses Nationbegriffs sehen. Am Anfang steht die Zielformel: „der wahre Zwek des Menschen … ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“ Es folgen die Hinweise auf die Voraussetzungen, die nicht nur sagen, was Bildung ist, sondern auch, wie Bildung möglich ist: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. … ausser der Freiheit … Mannigfaltigkeit der Situationen.“15 Schule, das muss man sehen, wird hier noch nicht genannt, denn der grundlegende Mechanismus, der Bildung möglich macht, liegt in der Aktivität des Subjekts selbst. Es ist die Praxis der Selbstbildung in Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Bildungswelten – wie bereits gezeigt – die für ihn ausschlaggebend ist. Der Gedanke der „Allgemeinen Bildung“,16 der jenseits der besonderen Zurechnung auf Stand und Amt, Herkunft oder Konfession die bildungspolitischen Überlegungen strukturiert, wird später, in seiner amtlichen Tätigkeit 1809/1810, auch zur theoretischen Leitlinie seiner Bildungspolitik und der Konstruktion der
12Dabei
ignoriere ich, dass der Nationbegriff bei ihm in einem empirischen Sinne auch für Teilsegmente der Menschheit gebraucht wird, als die „Verteilung der Menschheit in größere oder kleinere Haufen“ (so z. B. in Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, In: Werke, III, zit. S. 230). 13Für diesen Blick auf Preußen jetzt Wolfgang Neugebauer/Bärbel Holtz (Hrsg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen, Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2010. 14Andreas von Prondczynsky: Öffentlichkeit und Bildung in der pädagogischen Historiographie. In: Oelkers/Osterwalder/Rhyn 1998, S. 71–86 arbeitet in seiner Kritik der Aufklärungshistoriographie mit diesem Begriffspaar, besser: mit den Dualen von „Bildung und Öffentlichkeit“ vs. „Staat und Erziehung“, klärt aber nicht die Differenzen, die im Nationbegriff liegen. 15Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792) In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 31980, Bd., I, zit. S. 64. 16Allgemein nicht nur im Blick auf den Adressaten, sondern auch in den Implikationen, die Spranger mit den Begriffen der Universalität, Totalität und Individualität bezeichnet hat, vgl. E.S.: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910, bes. S. 133–145 sowie meine Hinweise zum Prinzip des „Allgemeinen“ in der gesellschaftlichen Organisation von Bildung unten in Teil IV.
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Schulorganisation und -verfassung: „Der Allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, … auf die Hauptfunktionen seines Wesens.“17 Soweit der Unterricht „allgemein“ ist, und das sollte er sein, d. h. auf den Menschen und insofern unterschiedslos auf alle Heranwachsenden zielt, hat er auch eine allgemeine und gleiche Struktur: „Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am Feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll.“18 Humboldt verbindet mit einem solchen Unterricht auch die größten Erwartungen, denn er sagt: „so muss eine ziemliche Gleichheit herauskommen“.19 Im Anspruch an das Bildungssystem regiert jedenfalls – für die Bildung des Menschen, nicht im Blick auf den Beruf oder die gesellschaftliche Funktion – eine starke Egalitätsannahme und -forderung: „Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschenbildung, … jede Intellectualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen (…20).“21 Individuelle Differenzen, die Humboldt nicht ignoriert oder gar systematisch ausschließt, erzeugt der Lernprozess selbst: „Die Gränze des Unterrichts …22 kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum anderen Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.“23 Es ist dieses Konzept von Bildung, das bei Humboldt das Fundament der Nation erzeugen soll. Sieht man als Teil dieses Konzepts, dass er für den – zeitlichen und sachlichen – Primat der Bildung des Menschen vor der Bildung für den Staat und vor der Ausbildung für den Beruf plädiert, dann gibt es auch
17Wilhelm
von Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd., IV. S. 188/9, verbunden mit Annahmen über die curriculare Struktur des Unterrichts: „und zwar als gymnastischer ästhetischer didaktischer und in dieser … Hinsicht als mathematischer philosophischer, der in dem Schulunterricht nur durch die Form der Sprache rein, sonst immer historisch-philosophisch ist, und historischer“. 18Humboldt: Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, Bd., IV. S. 189. 19Ebd. Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, Bd., IV. S. 189 – allerdings, bei kunstgerechtem Unterricht: „Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu bestimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er am meisten und besten auf das Gemüth zurückwirkt..“ (189); und dann kommt – zumindest in der theoretischen Antizipation – auch der bildende und egalisierende Wert des Griechischen zum Tragen (ebd.). 20Die Auslassung: „die meisten endlich hätten, auch indem sie die Schule verliessen, noch/einen Uebergang vom blossen Unterricht zu der Ausführung in den SpecialAnstalten.“ (175–76). 21Humboldt: Königsberger Schulplan, 1809, Werke Bd. IV, S. 175. 22Die Auslassung heißt: „da wo derselbe nicht seinen Endpunkt, die Universität, als die Emancipation vom eigentlichen Lehren (da der UniversitätsLehrer nur von fern das eigene Lernen leitet) erreicht …“. 23Litauischer Schulplan, ebd., S. 190.
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keinen Zweifel über den Primat der Bildung der Nation vor der Erziehung für die Erwartungen des Staates, ja Humboldt beschreibt den Nutzen dieser Reihung auch so, dass der verständige Staat ihr folgen wird: „Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation hoffen …“.24 Bildung wird zum Kriterium für die Qualität des Staates, nicht der Staat zur normierenden Instanz des Bildungsprozesses. An anderer Stelle klärt Humboldt auch den gesellschaftlichen Status, den Bildung dabei als historisch-soziale Tatsache gewinnt. Für ihn ist es die Differenz von „Bildung“ und „Civilisation“25, die eine solche Unterscheidung möglich macht und damit letztlich auch in ihrer je historischen Konkretion und Fügung – zusammen mit der konstitutiven Funktion der Sprache26 – erklären soll, was „das eigentliche Wesen einer Nation“27 ausmacht. Zivilisation, so Humboldt, sei „die Vermenschlichung der Völker in ihren äußeren Einrichtungen und Gebräuchen“, allerdings auch „und der darauf Bezug habenden innren Gesinnung“. Die „Cultur“, die nächste Referenz bei Humboldt, „fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu“. Die dritte Referenz schließlich ist „Bildung“. Sie sei eine „Sinnesart“, und zwar spezifischer Qualität: „Wenn wir aber in unserer Sprache ‚Bildung‘ sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühl des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.“28 Humboldt nimmt dieses Bildungskonzept und damit die Differenz von „Staat“ und „Nation“ nach 1808 wieder auf, als er in politischer Funktion als Chef der Sektion für Unterricht und Kultus für eine kurze Zeit von nur 16 Monaten die Bildungsreformpolitik in Preußen zu gestalten sucht. Die „moralische Cultur der Nation“, das ist der Referenzpunkt, auf den hin er seine Arbeit insgesamt
24Humboldt,
Gränzen …, 1792, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, S. 106. 1993, S. 25 nutzt Humboldts einschlägiges Zitat und diese Unterscheidung, um die dritte Dimension von Bildung – neben der „Historisierung und Nationalisierung“ der Kultur, die sie bei Herder gewinnt, – zu zeigen und d. i. für sie die Dimension der „Verinnerlichung der Kultur“. 26„Eine Nation in diesem Sinne ist eine durch eine bestimmte Sprache charakterisierte geistige Form der Menschheit, in Beziehung auf idealische Totalität individualisiert.“ (Humboldt VI, S. 125, zit. nach Jürgen Trabant: Traditionen Humboldts. Frankfurt a. M. 1990, S. 239). 27Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830–1835]. In: HumboldtWerke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. III, S. 368–756, zit. S. 383. 28Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues … In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. III, zit. S. 401, hier ohne die Kürzungen bei der Erläuterung von „Civilisation“, die Assmann macht. 25Assmann
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versteht und auch die Universität konstruiert,29 aber durchaus machtbewusst und zugleich immer bemüht, die Vielfalt der Referenzen zwischen Staat und Nation, individueller Bildung und Berufsarbeit institutionell und prozessual auszutarieren. Die Bildungspolitik kennt dabei – aller Ideen allgemeiner Bildung zum Trotz – relativ zur Differenz der Adressaten zwischen Nation und Volk, Gewerbe und höheren Ständen, auch sehr unterschiedliche Ziele und Strategien, begrifflich als Bildung, Erziehung, Unterricht und Verfeinerung präsent: „die sittliche Bildung der Nation, die Erziehung des Volks, den Unterricht, der zu den verschiedenen Gewerben des Landes geschickt macht, die Verfeinerung, welcher die höheren Stände bedürfen.“30 Allerdings kann man heute auch wissen, dass er mit dieser Zielsetzung insgesamt nicht erfolgreich war, so folgenreich auch die Weichenstellungen waren, die mit den frühen Bildungsreformen in Preußen gemacht wurden. Gleichzeitig sollte man nicht übersehen, dass der Begriff der „Nation“ – zwar weniger in Humboldts Konzept und in seiner eigenen Praxis und Bildungspolitik, aber doch deutlich in der gesamten Bildungspolitik in Preußen – nicht nur als Inklusionsformel fungierte, sondern auch eindeutige Mechanismen der Exklusion kannte.31 Zur Exklusion von Frauen als zentrale Denkfigur im modernen Begriff von Bildung habe ich schon berichtet, sie galt natürlich auch für die politischen Rechte und wurde gar nicht mehr eigens bei der Nationenbildung erörtert. Im Blick auf die Konstitution von „Nation“ muss man aber vor allem ergänzen, dass die Juden erst dann als vollwertige Mitglieder der Nation galten, wenn sie über Bildung in die Nation integriert wurden, zum Preis ihrer jüdischen Identität v. a. in der Taufe, wie das nicht allein die deutsche Debatte erwartet hat.32 Das wird
29„Der
Begriff der höheren wissenschaftlichen Anstalten, als des Gipfels, in dem alles, was unmittelbar für die moralische Cultur der Nation geschieht, zusammenkommt, beruht darauf, dass dieselben bestimmt sind, die Wissenschaft im tiefsten und weitesten Sinne des Wortes zu bearbeiten, und als einen nicht absichtlich, aber von selbst zweckmässig vorbereiteten Stoff der geistigen und sittlichen Bildung zu seiner Benutzung hinzugeben.“ Das findet sich in Humboldts klassischer, wenn auch erst im späten 19. Jahrhundert aufgefundener und im Planungsprozess 1809/1810 nicht relevanter Organisationsschrift: Ueber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. (1810), In: Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. IV, S. 255–266, zit. S. 255. 30Signifikant für sein Aufgabenverständnis ist der Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König vom Dezember 1809, in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV, S. 210– 238. Dort benennt er die Gesamtheit der Aufgaben: „der Wirkungskreis der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts ist von einem ungemein grossen Umfang: er umfasst zugleich die sittliche Bildung der Nation, die Erziehung des Volks, den Unterricht, der zu den verschiedenen Gewerben des Landes geschickt macht, die Verfeinerung, welcher die höheren Stände bedürfen, den Anbau der Gelehrsamkeit auf Universitäten und Akademien.“ (zit. S. 211). 31Für eine aktuelle Analyse dieser Probleme u. a. Ingrid Lohmann/Christine Mayer: Educating the Citizen: Two Case Studies on Inclusion and Exclusion in Prussia in the Early Nineteenth Century. In: Paedagogica Historica 43 (2007)1, S. 7–27. 32Für die internationale Dimension des Problems, dass Emanzipation der Juden mit der Aufgabe ihrer Identität verbunden wird u. a. Pierre Birnbaum/Ira Katznelson (Hrsg.): Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship. Princeton: Univ. Pr. 1995 (ND 2014/2016).
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im Kontext der preußischen Reformen und ihrer Bildungspolitik intensiv diskutiert und bleibt auch nach dem berühmten Edikt von 1812 bis hin zu einer aggressiven Prussifizierungspolitik auch gegenüber anderen Minderheiten in den östlichen Provinzen am Ende des 19. Jahrhunderts eine herrschende Praxis. Um 1810 und reflexiv wird dieses Thema allerdings in einer Weise aufgenommen, die man für die rechtlich-politische Praxis und die reflexive Handhabung des Duals von Inklusion und Exklusion auch im Detail studieren sollte, weil sie auch für das Bildungsdenken höchst aussagekräftig waren. Die politische Emanzipation der Juden war, zur Erinnerung, nicht erst mit den preußischen Reformen zum Thema geworden. Eine klassisch gewordene und zumindest diskursiv in Deutschland höchst folgenreiche Zäsur wird mit der Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von Christian Wilhelm Konrad Dohm 1781 markiert.33 Seine grundlegende These über die Lage der Juden ist, „daß die drückende Verfassung, in der sie noch ize in den meisten Staaten leben, nur ein Ueberbleibsel der unpolitischen und unmenschlichen Vorurtheile der finstersten Jahrhundert, also unwürdig sey in unsern Zeiten fortzudauern.“ Er nennt es dann sein Verdienst und seine Intention, dass „er aus der Geschichte gezeigt“ habe, „wie die Juden nur deßhalb als Menschen und Bürger, verderbt gewesen, weil man ihnen die Rechte beyder versagt habe“. Sein Programm zur Abhilfe in dieser Situation ist einfach und eindeutig, „die Zahl der guten/Bürger dadurch zu vermehren, daß sie die Juden nicht mehr veranlaßten schlechte zu seyn.“34 Dohms Schrift löst eine breite Debatte aus, sie belegt starke antijudaische Affekte in der Kritik an Dohm,35 aber sie zeigt auch Zustimmung. Zumal in Berlin und in dessen aufklärerischen Salons,36 in der innerjüdischen und in der aufklärerischen Öffentlichkeit macht die Auseinandersetzung mit Dohm auch die schon andauernden Debatten über Moses Mendelssohn und die Eigenständigkeit der jüdischen Kultur und Religion37 intensiv erneut zum Thema, dann auch im
33C.W.K.Dohm:
Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in 1 Bd. Berlin/Stettin 1781–1783. ND Hildesheim u. a. 1973. Eine Kritische und kommentierte Studienausgabe hat Wolf Christoph Seifert herausgegeben (Göttingen 2015). 34Dohm 1781, Vorerinnerung, S. 3/4. 35Vor allem die Stellungnahmen von Hißmann und Michaelis belegen das, vgl. für die Belege und die Einzelheiten der öffentlichen Debatte Gerda Heinrich: „… man sollte itzt beständig das Publikum über diese Materie en haleine halten“ In: Ursula Goldenbaum (Hrsg.): Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. 2 Bde. Berlin 2004, Bd. 2, S. 813–895. 36Für die Diskussion um 1780 in Berlin Hannah Lotte Lund: Die Berliner Juden und die Diskussion um die Verbesserung ihrer Lage. In: Diekmann, Irene A. (Hrsg.): Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“. Berlin 2013, S. 77–102. 37Für dieses Thema u. a. Christiane Frey: Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur (Herder, Dohm, Mendelssohn). In: Hansjörg Bay/Kai Merten (Hrsg.): Die Ordnung der Kulturen: Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750–1850 (Stiftung für Romantikforschung). Würzburg 2006, S. 149–171.
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Blick auf vergleichbare Debatten über den Status der Juden als citoyen im vorrevolutionären Frankreich. Noch in dieser Diskussion ist aber in Deutschland nur höchst selten eine Argumentation zu finden, die – anders als bei Dohm – die Befreiung der Juden auch ganz ohne pädagogisierende Kontrolle von Mentalitäten eröffnen will. Aber sie findet sich z. B. bei Heinrich Friedrich Diez, dessen Prämisse ist: „Jede Politur unter Menschen ist von Freiheit ausgegangen.“38 Das ist seine Bildungsprämisse, quasi-humboldtianisch im Pathos für „Freiheit“. Für die Juden folgert er deshalb auch ganz konsequent: „Man schenke sie [die Freiheit] den Juden, und sie wird ihnen bald dasjenige verjüngen, was der Druck von Jahrhunderten fast erstickt hatte.“ Diez generalisiert seine freiheitliche Prämisse sogar auf die Gattung insgesamt, indem er Formen der Geselligkeit zum zentralen Bildungsprinzip erhebt: „Der menschliche Geist in Gesellschaft bedarf zu seiner Pflege fast weiter nichts, als daß er nur nicht eingeschränkt werde. Um Menschen einander ähnlich zu machen, hat man nur nötig, ihnen Gelegenheit zu geben, ungestört aufeinander zu wirken, ohne Ungleichheit der allgemeinen Achtung einzuführen, welche Menschen von Menschen entfernt.“. Dohm argumentiert zwar auch bildungstheoretisch, aber er rekurriert auf die Naturannahme im Bildungsdenken, nicht auf die gesellschaftliche Seite der Lebensform. Seine Schrift ist für die theoretische Geltung und gesellschaftliche Brisanz der Grundprämissen des modernen Bildungsdenkens vor allem deswegen ein signifikantes Dokument, als er die universale Zuschreibung von Bildsamkeit – bei ihm „Verbesserlichkeit“ – ausdrücklich und eindeutig gegen seine Kritiker verteidigt und von hier aus Bildung und Selbstbildung der Juden als Medium ihrer Emanzipation propagiert. Den Gegnern seiner Thesen wirft er von dieser Prämisse aus systematisch vor, dass sie zwar „keinem ihrer Brüder“ – also den Christen – „die menschlichste aller Fähigkeiten – Verbesserlichkeit – absprechen“, aber, so wendet er ein, dass sie „glauben doch bey den Juden und in den durch ihre Religion bestimmten Verhältnissen ganz besondere Umstände und Gründe zu bemerken, welche sie auf immer unfähig machen, mit den übrigen Bürgern unserer Staaten völlig gleich, diesen vollkommen einverleibt zu werden, gleiche Lasten der Ge-/sellschaft zu tragen, und gleiche Pflichten zu erfüllen die nur allein zu gleichen Vortheilen berechtigen können.“ (153/154) Noch aktuell wird Dohm (im Übrigen im Anschluss an ein Humboldt-Zitat) dafür gewürdigt, dass er „die Frage einer universellen Erziehbarkeit des Menschen“39 zum Thema gemacht und damit belegt habe „daß die klassischen Konzepte der Staatsbürgerschaft
38H.F.
Diez: Über Juden. 1783, hier zit. nach Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 1975, S, 16, auch für das folgende Zitat. 39Ingrid Lohmann: Die Juden als Repräsentanten des Universellen. Zur gesellschaftspolitischen Ambivalenz klassischer Bildungstheorie. In: Ingrid Gogolin/Marianne Krüger-Potratz/Meinert A. Meyer (Hrsg.): Pluralität und Bildung. Opladen 1998; ich zitiere hier aber nach der von Ingrid Lohmann ins Netz gestellten Version: http://www.epb.uni-hamburg.de/erzwiss/lohmann/ilreprae. htm. Lohmann geht von einer Notiz Humboldts aus, der 1780 über die Juden und ihr Verhalten in Frankreich gesagt hat: „Sie verlieren eigentlich ihre Universalität, wenn sie aus Juden Franzosen werden.“.
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und der allgemeinen Menschenbildung durch die Auseinandersetzung mit der jüdischen Minderheit in den deutschen Ländern einen höheren Grad an Universalität erlangten, als es unter den damaligen historischen Bedingungen sonst der Fall gewesen wäre.“40 Lässt man jetzt einmal die Frage außer Acht, ob Universalität graduierbar ist, die Debatte im Anschluss an Dohm und ihre aktuelle Interpretation können aber eindeutig zeigen, dass die Verbindung von politischer, also staatsbürgerlicher Emanzipation und Bildung zwingend auch die Anerkennung der eigenen Religion im Bildungssystem voraussetzt, wenn wirklich von Emanzipation die Rede sein soll. Erst dann kann das Bildungswesen Ort der Nationenbildung jenseits solcher Exklusions- oder Kontrollpraktiken sein, wenn es nicht dem Konfessionsprinzip folgt und dann den Primat des Christentums durchsetzt, sondern allein einer universalen Vernunftreligion einen Platz im öffentlichen Bildungssystem einräumt. Historisch, bei den Philanthropen und ihren Reformen schon im 18. Jahrhundert oder in den Bildungsplänen von Benjamin Franklin, lassen sich durchaus Konzepte und Praxen eines solchen konfessionsneutralen und toleranten Bildungssystems finden.41 Aber das sind Ausnahmen, ansonsten dominieren für lange Zeit pädagogische Programme in deutschen Bildungssystemen, die doch wieder ausgrenzen, wie das in Preußen und mit dem konfessionell gebundenen Religionsunterricht nach 1810 ja auch politisch vorentschieden wurde, als die neue Phase der Bildungspolitik und die Frage der Judenemanzipation zugleich auf der Tagesordnung standen. Für die Situation um und nach 1809 ist dann signifikant,42 dass es selbst unter den Bildungsreformern keinen Konsens gibt. Selbst ein ansonsten so reflektierter Beobachter wie Schleiermacher propagiert im Blick auf die Konstitution der Nation für die öffentliche Erziehung den Primat, wenn nicht sogar das Monopol des Christentums, auch gegenüber den Juden.43 Humboldts Bildungspolitik ist hier zugleich offener, universalistischer und damit anders als die seines Mitstreiters – aber er ist letztlich nicht erfolgreich. In seiner ausführlichen Stellungnahme vom 17. Juli 1809 „Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden“44 steht sein Votum als staatstheoretisches Plädoyer ganz in der Tradition der GrenzenSchrift von 1792 und für eine vollständige Emanzipation der Juden.45 Seine 40Lohmann
1998 als einleitende These zum Abschnitt „V. Neubegründung von Universalität“. Overhoff hat in einem Forschungsprojekt diese gleichsinnige Praxis von Philanthropen und Benjamin Franklin untersucht, vgl. u. a. J.O.: Benjamin Franklin. Erfinder, Freigeist, Staatenlenker. Stuttgart 2006; ders.: „Franklin’s Philadelphia Academy and Basedow’s Dessau Philanthropine: Two Models of Non-denominational Schooling in Eighteenth-century America and Germany.“ Paedagogica Historica 43, 2007, 6, S. 801–818. 42Im folgenden Abschnitt greife ich z. T. wörtlich auch auf eine Passage aus Tenorth, Humboldt, 2018, S. 128–129 zurück. 43Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Köln/Weimar/Wien 2010. 44In: Humboldt-Werke, Bd. IV, S. 95–112. 45Auch Humboldt ist nicht ganz frei von Vorurteilen gegen die Juden und ihre Lebensweise, das zeigt Werner Treß: Liberale Politik im christlichen Staat? Wilhelm von Humboldt und das Bürgerrecht für die Juden. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 69(2017), 41Jürgen
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Stellungnahme belegt, dass Humboldt von einem „Rechtsinstitut“ (98), als den er den Staat Preußen und dann auch das Bildungssystem gestalten will, erwartet, das Christen und Juden rechtlich vollständig gleichgestellt werden: „denn es lässt sich kein möglicher Rechtsgrund denken, warum der Jude, der alle Pflichten des Christen erfüllen will, nicht auch der Rechte theilhaftig sein soll“ (96). Der Kontext ist auch bildungspolitisch von höchster Bedeutung, weil er noch einmal zeigt, dass Humboldt 1809 seine liberale Position nicht vergessen hat. Einerseits bekräftigt er, dass dieser Staat nur Rechtsstaat, aber nicht „Erziehungsinstitut“ ist, auch nicht gegenüber den Juden, wie Humboldt betont. Darin unterscheidet er sich im Übrigen deutlich von Schleiermacher, der in seinen antijudaischen Argumenten46 eindeutig auf die öffentliche Erziehungsfunktion abhebt und dabei den Primat der christlichen Religion ausdrücklich fordert. Humboldt dagegen markiert auch die Konsequenzen seiner Problemdefinition für die Bildungsorganisation, wenn er gegen das Verbot jüdischer Schulen im Entwurf der Konstitution (dort § 70) nur lapidar festhält: „Ist sehr gut. Auch besondere katholische und wenigstens besondre reformirte Schulen sollte es nicht geben.“ (110). „Die Juden haben sich“, wie es der von ihm begrüßte Entwurf der Konstitution sagt, „öffentlicher Schule oder Hauslehrer zu bedienen“ – also im Rahmen des Landrechts zu bewegen. Mit der Konstitution, deren Beratung bekanntlich – freilich nicht in Humboldts Sinn – in das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischem Staate“ vom 11.03.1812. mündet,47 wird deswegen auch nicht die bildungspolitische Gleichstellung, sondern eine ganz eigene Geschichte jüdischer Schulen und der Beteiligung von Juden am preußischen Bildungssystem eröffnet. Das ist eine andere Geschichte,48 sie gehört nicht zu Humboldts Bildungspolitik. In seinen Bemerkungen zu „neuen Konstitution für
S. 193–207. Treß dokumentiert aber auch intensiv, wie energisch Humboldt gegen seine stark antijudaisch argumentierende Frau Caroline die Propagierung solcher Vorurteile abwehrt. 46Dazu Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik. Köln/Weimar/Wien 2010 sowie Stephanie Bermges: Die Grenzen der Erziehung. Eine Untersuchung zur romantischen Bildungskonzeption Friedrich Schleiermachers. Frankfurt a. M. 2010. 47Zum historischen Ort und Status dieses Edikts insgesamt vgl. schon Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Göttingen 1975 und jüngst Irene A. Diekmann (Hrsg.): Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“. Berlin 2013. 48Für die Vorgeschichte und die Entwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts u. a. Ingrid Lohmann/Uta Lohmann u. a. (Hrsg.): Chevrat Chinuch in Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778–1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung. 2 Tle, Münster (usw.) 2001; Monika Richarz: Der Eintritt der Juden in die Akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974, für die Universität Berlin und den Antijudaismus der Berufungspolitik auch Werner Treß: Professoren – Der Lehrkörper und seine Praxis zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. In: Tenorth, Hg, Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin, S. 131–208, bes. 155–163.
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die Juden“ hat er seinen Standpunkt ebenfalls noch einmal betont, wenn er ausdrücklich alle Maßnahmen zur sozialen Kontrolle der Juden, ihrer Geschäfte und ihres Alltags oder des Zugangs zu Bildung, kritisiert, also durchaus weiß, wieweit „moralische Mittel“ des Staates gehen. Solche Praktiken seien der nicht legitimierbare Ausdruck eines Staates, der sich damit selbst, fälschlich, in seiner gesamten Politik als „Erziehungsinstitut“ verstehe. Auch der dort und im Edikt von 1812 zugestandene Zugang zu Lehrämtern findet nicht seine Zustimmung, mache er die gleichzeitige Begrenzung des Zugangs in andere Staatsämter49 nur noch offensichtlicher. Zugleich dokumentiere diese Regelung, und das ist für Humboldt noch problematischer, eine manifeste Abwertung der Lehrberufe, weil sie damit als minderwertig und weniger bedeutsam gegenüber anderen Staatsämtern behandelt würden. Dagegen muss sich Humboldt im Namen der „Section des öffentlichen Unterrichts auf das feierlichste verwahren.“50 „Sittenverbesserung durch den Staat“ blieb ihm also 1809/1810 eine Praxis, die er dem Staat nicht zubilligen wollte, und zwar bildungstheoretisch und mit seiner liberalen politischen Theorie begründet. Die Bildung der Nation ist bei ihm insofern nicht konfessionell grundiert, sondern freiheitlich und politisch – im Programm, anders als in der Politik nach 1810. Schließlich, der Begriff der Bildung wird bei Humboldt in der Debatte über die Nation und ihre Konstitution zwar auf die gesellschaftlichen Eliten hin expliziert, die „Erziehung des Volkes“ wird davon unterschieden,51 aber zugleich doch im Anspruch der „allgemeinen“ Bildung integriert. Hier werden, quasi ständisch, keine neuen Exklusionsregeln gerechtfertigt. Die übliche Schwerpunktsetzung und Unterscheidung, die sich von der Universität und den Regierenden und von der Differenz zum Volk aus nahelegt, ist sogar nicht nur bei ihm, sondern auch bei anderen bildungspolitisch folgenreich tätigen Akteuren nicht zwingend mit dem Begriff verbunden. Das kann man bei einem pädagogisch bis heute prominenten
49Hier
dürfe der Staat zwar den Zugang kontrollieren, aber gegenüber allen potentiellen Bewerbern, nicht allein von der Konfession aus: „Zu Staatsämtern kann an sich nicht jeder Berechtigte gelangen, sondern es bedarf einer eignen Berufung des Staats. Hier hat also der Staat die Sache beständig in seiner Hand.“ Wie er in den Anmerkungen zur Konstitution sagt, (S. 101/102). 50Denn: „Zu einem Lehrer gehört nicht bloss Talent und Wissen, sondern auch Moralität und Pflichtgefühl, und zum Wissen selbst, wen es nicht ein auswendig gelerntes sein soll, dessen Schule und Universität besser entrathen, wird die eine und das andere erfordert.“ (Werke IV, S. 106). 51Zum unterschiedlichen Status von Religion im Bildungssystem, als Thema der historischen Bildung der Eliten oder als Medium der Indoktrination des Volkes, schon Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. (1961) Düsseldorf 21971, bes. S. 87–90 zur „Zwei-Klassen-Theorie der Bildung“. Humboldt differenziert tatsächlich die Bildung der Nation, und zwar „nach Massgabe der Fassungskraft der verschiedenen Stände“, wie er 1809 schreibt (In: Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts an den König vom Dezember 1809, in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. IV, S. 211/212), sowie mit Bildungsprogrammen nach dem Lebensalter: „Wie also die Erziehung auf die Jugend, muss der Gottesdienst auf die Erwachsenen wirken…“ (zit. 212).
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Zeitgenossen Humboldts sehen, der ebenfalls über die Bildung der Nation nachdenkt und dabei aber von der Bildung des Volkes ausgeht. Eberhard von Rochow kann dafür vor allem beansprucht werden.52 Der „Erbherr auf Reckahn“ in Brandenburg, hat zwar nicht die Klassizität gewonnen, die Humboldts Texten zukommt, er war auch nicht Philosoph, gar von gleichem Rang wie Humboldt, sondern mehr mit ganz alltäglichen politischen, ökonomischen und pädagogischen Fragen seiner Herrschaft, Preußens und Brandenburgs befasst. Aber umso wichtiger ist, dass man diese Stimme nicht ignoriert. Rochow teilt mit Humboldt das Interesse an der Bildungspolitik, ohne – wie Humboldt – als einer ihrer modernen Vordenker weithin anerkannt zu werden. Das mag schon daran liegen, dass er sich mit Volksschulen und nicht mit den gymnasialen und akademischen Eliten beschäftigt hat. Das mag auch daran liegen, dass sein Verständnis von Bildung vor der dominierenden philosophischen Thematisierung blass, vielleicht sogar trivial erscheint und zu nah an den Protagonisten der aufklärerischen Bildungspolitik platziert ist, wie dem Minister von Zedlitz, dem Rochow seine Schrift widmet. Aber man darf angesichts einer solchen schwierigen Überlieferungsgeschichte53 nicht übersehen, dass Rochow politisch wie pädagogisch ein eigenes Thema gefunden hat, die Bildung des Volkes, und dass er dafür in seiner Landschulreform und den sie begleitenden Aktivitäten für die Schulbücher und die Bildung der Lehrer eine praktische Form der Realisierung begründete, die im ausgehenden 18. Jahrhundert für seine weltweite Bekanntheit sorgte. Auch für Rochow ist die Nation das zentrale Thema,54 aber er definiert nicht den Begriff der Nation zuerst, den setzt er als Kulturnation wie Humboldt ohne weitere Diskussion voraus, sondern den des „Nationalcharakters“. Das ist für ihn „die Richtung oder Stimmung der meisten Seelen eines Volkes, die durch Erziehung und Unterricht, d. i. durch geltende Grundsätze, Sprichwörter, herrschende Meinungen oder durch übliche Gewohnheiten entstanden ist und
52Zur
Person vgl. Hanno Schmitt: Der sanfte Modernisierer Friedrich Eberhard von Rochow. Eine Neuinterpretation. In: Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Hrsg. v. Hanno Schmitt und Frank Tosch. Berlin 2001, S. 11–33. 53Nach dem intensiven Bezug auf Rochow bei Achim Leschinsky/Peter Martin Roeder: Schule im historischen Prozess. Zum Wechselverhältnis von institutioneller Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung. Stuttgart 1976 ist Heinz Stübig einer der wenigen, der die politische Dimension in Rochows Arbeit würdigte, vgl. H. S.: Nationalerziehung: Zur politischen Dimension der Pädagogik Rochows. In: Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Hrsg. v. Hanno Schmitt und Frank Tosch. Berlin 2001, S. 145–153. 54Obwohl er offensichtlich dem Begriff keinen großen Wert beimisst. In einem Brief an den Schweizer Philanthropen Iselin schreibt er. „Bald hoffe ich auf Dero Urteil über einen Traum von Verbesserung des National-Charakters soll heißen: ‚Von Verbesserung des Volksunterrichts durch Volksschulen‘ – und es ist bloß um gewisser Leser, die ich mir wünschte, unter denen die Worte Nation etc. etc. besser tönen, so betitelt“ (In: Friedrich Eberhard von Rochow: Sämtliche pädagogische Schriften. Hrsg. von. Fritz Jonas und Friedrich Wienecke, Berlin 1907, Bd. 2, S. 265 f.).
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sich im Denken, Reden und Handeln unterscheidend äußert.“55 „Richtung“ oder „Stimmung“, d. i. nicht weit weg von Humboldts „Sinnesart“. Beide haben einen empirischen Begriff dessen, was sie thematisieren. Kollektive Identität könnte man das nennen, „Selbstbilder“56, die einem „Volk“ gemeinsam sind, auch wohl die „Bildung“, die ein Volk kollektiv auszeichnet. Der wesentlich neue Aspekt in Rochows Bestimmung liegt darin, dass er als einer der ersten und gleichgewichtig vom „Volk“ spricht, wenn er über Bildung reflektiert. Wesentlich für Rochows Bemühungen ist auch, dass er die Dimensionen bestimmt, in denen eine solche kollektive Identität ausgebildet werden soll: Politik, Wirtschaft und Religion werden dann genannt. Er nennt diese Bereiche, weil er den Nutzen des Nationalcharakters begründen will, und im Blick auf das Volk ist die Ausbildung dieses Charakters von eminenter Bedeutung: „in den Kindern des Volkes ein Geschlecht zu bilden, das da tüchtiger würde zu guten Werken.“57 Damit ist er bei den Schulen angekommen. Rochow schreibt nämlich dem schlechten Schulunterricht zu, dass das Volk noch immer altem Aberglauben anhängt: „Alles, was Volk heißt oder heißen kann in Städten und Dörfern, liegt an falschen Religionsbegriffen, an irrigen Vorstellungen von der Natur und dem Natürlichen, an Deraisonnement und Aberglauben, an Stupidität in Betreibung der meisten Gewerbe, denen mit Nachdenken gedient wäre, mehr oder minder krank.“58 Die „Stiftung guter Volksschulen“, Rochows zentrales Thema, soll dieser „Nationaldummheit“ (324) abhelfen. Dabei setzt er auf den „guten Lehrer“, die „gute Schulordnung“, „ein zweckmäßiges Schulhaus“ und „ein hinreichendes Gehalt für den Lehrer“, auf die Instrumente der Bildungsreform also, an denen es in Preußen fehlte und für die er, Rochow, in seinen Landschulen erfolgreich sorgte. „Aufklärung, Kultur, Veredlung, Besserung“ sind seine Ziele – unterschiedslos für alle im Volk (324). Der „Zweck oder die Absicht der Volksschulen“ wird von hier aus definiert: „Hilfeleistung dazu, daß allen Gliedern der Gesellschaft die Erkenntnis der für sie nützlichen Wahrheit früh genug möglich werde, oder kürzer: die zureichende Anweisung zum gemeinnützigen Gebrauch aller Seelenkräfte.“ (331, Herv. im Original, dort unterstrichen) Dann schreibt er, die Ziele bei der „Erreichung des Nationalschulzweckes“ zusammenfassend: „Verständig machen, zum Verstand verhelfen, aufklären, veredeln, Weisheit, rechte Erkenntnis, Wahrheitssinn und Wahrheitsliebe mehr gemein machen ist also der Nationalschulzweck.“ (333).
55Rochow
(1779), in: Rochow, Sämtliche pädagogische Schriften, hrsg. von Jonas/Wienecke, Bd. 1, S. 319. 56Langewiesche (2008, S. 154 f.) macht diesen Vorschlag, eingedenk der Tatsache, dass der Begriff der „kollektiven Identität“ durch Lutz Niethammer zwar stark problematisiert, aber nicht durch einen besseren Begriff ersetzt wurde. 57Rochow (1779), S. 320. 58Rochow (1779), S. 324, Nachweise aus diesem Text im Folgenden in Klammern im Text.
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Von den üblichen Texten der Volksaufklärung unterscheidet sich Rochow mit seinen Überlegungen vor allem dadurch, dass er auch explizit keine Differenzen zwischen dem Volk und den Gelehrten anerkennt: „Das Volk und der Gelehrte dürften ja wohl dreist eine Religion haben, eines Sinnes sein.“ (322) Differenzen setzt er auch dadurch, dass er keine Begrenzungsprogramme für das Volk akzeptiert und auch nicht am Rande den Gedanken vertritt, dass zu viel Bildung schädlich sein könnte. Anders als sein König sieht Rochow auch nicht irgendeinen Anlass für die Frage, ob „das Volk je zuviel von diesen berührten Dingen wissen (kann)?“, so dass die Sorge entstehen könne, „daß der Landmann (Cultivateur) seinen Stand verlasse und Handwerker, Künstler, Gelehrter würde?“ Rochow gibt da Entwarnung: „Lebt unbesorgt, skrupulierende Menschenfreunde! Er tauscht nicht, wenn er nur klug genug und die Regierungsform gut genug ist.“ (347) Die von höchster Stelle besorgt formulierte konservative Frage also, ob das Volk durch zu viel Bildung verzogen würde, so dass, wie Friedrich II. 1780 als Preisaufgabe der Akademie formulierte, man ernsthaft sogar die Frage stellen konnte: „Ob es nützlich sein kann, das Volk zu betrügen?“59 [exakt: „Kann irgendeine Art von Täuschung dem Volke zuträglich sein, sie bestehe nun darin, das man es zu neuen Irrtümern verleitet, oder die alte eingewurzelten fortdauern läßt?“]. Diese Frage findet Rochow nicht auf der Seite der Proponenten der Täuschung, bei denen also, für die zu viel Aufklärung eine Gefahr für den Bestand der Nation bedeutet. Rochow berichtet, ganz im Gegenteil und gegen die Vorurteile der Konservativen, an Nicolai, dass die Absolventen seiner Schule „wider das bey vielen noch waltende Vorurtheil, als ob die Aufklärung des Verstandes die Bauern widerspänstig, faul und unglücklich mache; denn sie sind gehorsam und fleißig.“ Deshalb weiß er auch, „… daß man an vielen Orten angefangen hat, an der Aufklärung des Bauernstandes mit gutem Erfolg zu arbeiten.“60 Über die basale Wirkung seiner Schulen sagt er schließlich: „Die Kinder werden gutartig, lernen hochdeutsch reden und verstehen, […] schreiben und rechnen.“61 Als Fazit hält er fest, dass „nach Vollkommenheit trachten oder immer besser werden kein ausschließliches Vorrecht des höheren Standes ist, so darf es ja auch der Bauer, Tagelöhner und Hirte auch in seinem Stande.“62 Konkret realisieren kann er dieses Programm allerdings nur lokal, in Reckahn und auf seinen Gütern. Aber auch das
59Vgl.:
Hans Adler (Hrsg.): Nützt es dem Volke, betrogen zu werden? Die Preisfrage der Preußischen Akademie für 1780. Zwei Teilbände. Stuttgart-Bad Cannstadt 2007. 60Zitiert in: Friedrich Nicolai: Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlichen Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend. Dritte völlig umgearbeitete Auflage. In: Friedrich Nicolai. Sämtliche Werke – Briefe – Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. P. M. Mitchell, H ans-Gert Roloff und Erhard Weidl, Bd. 8, Teil II, bearbeitet von Ingeborg Spriewald. Berlin u. a. 1995, S. 650–703. Hier: S. 665 f. 61Rochow an Nicolai, o. D. o. O., angekommen 16. Dezember 1776. In: Rochow, Pädagogische Schriften, hrsg. von Jonas/Wienecke, Bd. 4, S. 180. 62Rochow (1779), S. 348.
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ist signifikant für die Bildungsverhältnisse der Zeit; denn die Bildung des Volkes hängt in den elementarsten Formen bis zum ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert ganz stark von den lokalen Initiativen der Grundherren ab.63 Vor diesem Hintergrund der frühen (preußischen) Ambitionen einer Bildung der Nation und der Bildung des Nationalcharakters des Volkes wird schließlich auch sichtbar, wie wenig Bildung zumal in diesem Sinne ein deutsches Thema ist. Im Blick nach Schottland und auf Adam Ferguson z. B., oder auf Adam Smith und selbst auf Shaftesbury kann man eher behaupten, dass zentrale Themen – die Bildung der Moralität und der Sitten, Bildung der Nation, die Annahme der Bildsamkeit und der Selbstbildung64 – eher dort erfunden und z. T. sogar früher reflektiert wurden als in Deutschland,65 auch kontinuierlich über das 18. Jahrhundert hinaus.66 Die Zeitgenossen in Deutschland sehen und kennen auch diese Texte, lesen sie z. T. als Vorbilder, zeigen jedenfalls bereits in den Übersetzungen, dass sie die Zugehörigkeit zum Bildungsdiskurs erkennen und anerkennen. Wenn z. B. „on the History of Civil Society“, der Essay von Ferguson, 1768 in Leipzig in Übersetzung erscheint,67 dann kommt der Bildungsbegriff schon von Beginn an zur Geltung: Ferguson spricht „Of the General Characteristics of Human Nature“, befindet sich also in dem Themenfeld, das mit der ‚Bestimmung des Menschen‘ angesprochen ist. Er formuliert aber eine sozialphilosophische und politische Antwort, die im deutschen Bildungsdiskurs zwar nicht dominierte, den dieser Diskurs aber in seine eigene Begrifflichkeit übersetzen kann: „Natural productions are generally formed by degrees.“ heißt dann: „… werden meist stufenweise gebildet.“ Auch für den Prozess, seinen Ausgangspunkt in der Natur und sein Ergebnis kommt der Bildungsbegriff in der Übersetzung ebenfalls zu seinem Recht: „Vegetables grow from a tender shoot, and animals from an infant state. The latter being destined to act, extend their operations as their powers increase: they exhibit a progress, in what they perform, as well as in the faculties they acquire.
63Dazu
umfassend Wolfgang Neugebauer: Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen. Berlin/New York 1985. 64Schon bei Hans Bayer: Zur Soziologie des bürgerlichen Bildungsbegriffs. In: Paedagogica Historica 15 (1975)2, S. 321–355 werden die angelsächsischen Texte parallel zur Diskussion über „Selbstvervollkommnung“ des 18. Jahrhunderts in Deutschland, zumal zu Herder, gelesen; Bayer diskutiert sein Thema im Übrigen sehr stark in der Kontinuität der Diskussion seit der Renaissance. 65Gegen solche nationzentrierte Deutung neben Horlacher: „Bildung“, 2006 oder Horlacher 2011 jetzt auch Daniel Tröhler: Languages of Education. Protestant Legacies, National Identities, and Global Aspirations. New York/London 2011, bes. S. 80 ff., 148 ff. 66Vgl. den Artikel „Zivilisation“ (1836) in John Stuart Mill, Ausgewählte Werke, Bd. II, Hamburg 2013, S. 393 ff. 67Adam Ferguson: An Essay on the History of Civil Society. 1767; dt.: A.F. [Professor der Sittenlehre auf der Universität zu Edenburg]: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Leipzig (Junius) 1768, hier Auszüge aus Section I. Of the question relating to the State of Nature, auch für die folgenden Zitate.
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This progress in the case of man is continued to a greater extent than in that of any other animal. Not only the individual advances from infancy to manhood, but the species itself from rudeness to civilization.“ Diese Bemerkungen Fergusons lesen sich an der entscheidenden Passage in der deutschen Übersetzung ganz bildungstheoretisch, aber sachlich durchaus angemessen: So „geht … auch die ganze Gattung selbst von dem rohen Zustande zu einer sittlichen Bildung fort.“ „Zivilisation“ wird also mit „Bildung“ übersetzt, durchaus analog zur Zuordnung von Zivilisierung als Prozessbegriff zu Bildung, wie man es bei Kant sehen kann. Immer ist es auch hier der „rohe“, naturhafte, unkultivierte Ausgangszustand, der der Bildung bedarf. Nicht zufällig sprechen die Aufklärer von „Politur“, wenn sie die Arbeit an der inneren und äußereren Natur in ihrer Wirkung beschreiben, denken also in den Dimensionen, in den auch „politeness“ von Shaftesbury verortet wird.68 Ferguson konstruiert auch das gesamte Thema in seiner Zeitlichkeit dem Bildungsdiskurs analog: Zivilisierung ist für ihn ein Prozess, der von der Natur ausgeht, für ihre Kultivierung Kriterien und Maßstäbe entwickelt, die dann auch bei ihm kontrovers diskutiert werden. Zu diesem Zeitpunkt, auch das muss man festhalten, wird auch in der deutschen Diskussion (noch) kein Gegensatz von „Bildung und „Zivilisierung“ konstruiert, wie er dann im 20. Jahrhundert zwischen „Bildung“ und „Zivilisation“ in scharfer Form fixiert und nationalistisch als Freund-Feind-Schema z. B. zwischen Deutschland und Frankreich kommuniziert wird.69 Die Redeweise, die sich aus der Differenz von „roh“ und „gebildet“ speist, wird dagegen in der Rede von Bildung bis ins 20. Jahrhundert auch analytisch bewahrt. Noch in seiner Immatrikulationsrede zum Winter-Semester 1952/1953 führt z. B. Max Horkheimer den Begriff der Bildung von hier aus ein: „Ungebildet nennen wir gewöhnlich einen Menschen, wenn er uns als ungeschliffen erscheint, wenn er Natur darstellt, die nicht gesellschaftlich gestaltet, nicht gesellschaftlich vermittelt ist.“70 Horkheimer erinnert an „das lateinische eruditio, der altüberlieferte
68Moses Mendelssohn: Was heißt aufklären? In: Berlinische Monatsschrift (1784)2, S. 193–200: „Kultur im Äußerlichen heißt Politur“, aber er kann sich auch eine „Politur“ von „Aufklärung und Kultur“ zugleich vorstellen, z. B. für eine „Nation“. Sein Zeitgenosse Christian Garve spricht sogar von einer „Politur des Geistes“, wenn er die „Bildung“ Friedrichs II. schildert (vgl. C. G.: Fragmente zur Schilderung des Geistes, des Charakters, und der Regierung Friederichs des Zweyten, Bd. 1, Breslau 1798, S. 327). 69Für dieses Thema – nicht zufällig von einem Romanisten und kritisch bearbeitet – begriffsgeschichtlich knapp Franz Rauhut: Die Herkunft der Worte „Kultur“, „civilisation“ und „Bildung“. In: Klafki (Hrsg.), 1965, S. 11–25 sowie, ausführlich im ersten Kapitel („Zur Soziogenese des Gegensatzes von ‚Kultur‘ und ‚Zivilisation‘ in Deutschland“) bei Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. (1939) 2 Bde. Frankfurt a. M. 1997, Bd. 1, S. 89–153; ein Zentralbeleg für die pejorativ-abwertende, Frankreich-kritische Verwendung des Begriffs ist das Buch des Berliner Romanisten Eduard Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen, Bielefeld/Leipzig 1927. 70Max Horkheimer: Begriff der Bildung. (1952) In: M.H.: Sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. 1972, S. 163–172, zit. S. 164 f.
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Ausdruck gerade für die gelehrte Bildung, daß ein Mensch aus dem Zustand der Roheit herausgenommen sei“. Horkheimer diagnostiziert dann eine „Krise der Bildung“71 angesichts der Tatsache der „Ausmerzung der Natur, ihre Vernichtung zu bloßem Material“, mit der Konsequenz, dass „… dem Begriff der Bildung … im wörtlichsten Sinne seine Substanz dadurch entzogen worden (wäre), daß es nichts Ungebildetes, keine unbeherrschte Natur im menschlichen Bereich überhaupt mehr gibt“. „Unbildung“ sei die Konsequenz in diesem „Prozeß der universalen Vergesellschaftung“. Diese zeitdiagnostische Kritik der Situation von Bildung, die er auch nicht auf Deutschland beschränkt, verbindet er, 1952, doch noch mit kulturspezifischen kritischen Warnungen, die er durch die deutschen Fixierungen der Bildungsidee veranlasst sieht. Sie distanziere sich von der gesellschaftlichen, zivilisatorischen Dimension der Bildung und gehe primär auf Individualität zurück. Horkheimer warnt vor den binären Codierungen von Zivilisation vs. Individualität sowie vor der Platzierung der Bildung in der Welt der „Innerlichkeit“, und sagt scharf: „Gebildet wird man nicht durch das, was man ‚aus sich selbst‘ macht, sondern einzig in der Hingabe an die Sache, in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewußten Praxis.“ Solche Praxis finde man in der eigenen Arbeit vor, zugleich muss man sie suchen als „die vernünftige und menschliche Einrichtung, die Verbesserung und Durchbildung des gesellschaftlichen Ganzen.“72 Spätestens jetzt wird damit wieder bewusst, dass die historische Rede über das, was Bildung bedeutet, zwar eine Fülle an Themen und Referenzen tradiert, dass sie gleichzeitig aber in sich Kontroversen und Konflikte birgt, die nicht erst seit Horkheimers Diktum (das die Ursprungslage oder auch nur Humboldts Intention ja gar nicht trifft) auch immer erweitert und neu diskutiert werden. Die daraus entstehenden Kontroversen müssen deshalb auch hier zum Thema werden, nachdem ein erstes Fazit die Dimensionen der Rede von Bildung im Ursprung festhält und damit zeigt, was Bildung im modernen Verstande bedeutet.
71Horkheimer: 72Horkheimer:
Begriff der Bildung. (1952), ebd., zit. S. 166 f. Begriff der Bildung. (1952), ebd., zit. S. 169.
Kapitel 11
Die Rede von Bildung im Ursprung Selbstkonstruktion des Menschen in seinen Welten. Ein Zwischenergebnis
Die Rede von „Bildung“, das ist der erste Befund, zeigt sich bereits im Ursprung im späten 18. Jahrhundert, nicht erst in der aktuellen Praxis als bunt und vielfältig. Eine Bildungstheorie jedenfalls, die einen distinkten Grad an Systematizität oder gar Einheitlichkeit mit sich führt, dass sie zu Recht als Theorie beschrieben werden könnte, liegt hier noch nicht vor. Das gilt schon für die Vielfalt der Gattungen, in denen die Rede präsent ist: Sie sind philosophisch und ästhetisch, alltagssprachlich-reflexiv und theoretisierend, politisch, literarisch und programmatisch, ernst und ironisch gebrochen, in konkreten Annahmen über die Mechanismen der Wirkung gelegentlich sogar naturwissenschaftlich. Unter dem Titel der Bildung werden emphatische Beschreibungen für die erwarteten Zukünfte des Menschen und der Gattung ebenso gegeben wie pädagogische Annahmen oder philosophische und anthropologische Ideen über die Bestimmung des Menschen und die Selbstkonstruktion der Individuen, wie sie im Modus des „Selbstlernens“ oder in Formen der Vergesellschaftung und Erziehung für möglich und wünschenswert gehalten werden. Dabei wird auch erörtert, wie das gegebene und das erwünschte Verhalten der Individuen zu sehen und zu beurteilen ist, rhetorisch immer im Blick auf ‚den Menschen‘, in der Regel aber geschlechterspezifisch differenziert. Immer geht es um den „ganzen Menschen“, d. h. um kognitive und um moralische Aspekte, um das, was man wissen muss, und um die Frage, welche Prinzipien Moralität und Sittlichkeit definieren. Zur Rede stehen alle Dimensionen des sozialen und des politischen Verhaltens und die allgemeinen Kriterien der Kommunikation in der Interaktion, also auch der Erwartbarkeit von Verhalten im Alltag, aber auch der Erwartungen im Blick auf die in der ökonomischen Reproduktion zu nutzenden Fähigkeiten und Kompetenzen. Bildungsideale und Konstrukte der Lebensführung werden zugleich mit Aussagen über die Gattung und ihre Natur präsentiert und Individualität wird selbst als Gattungsmerkmal thematisiert. Auch wenn der Rede von Bildung im Ursprung noch kein Theoriestatus zugeschrieben werden kann, in der Breite der Themen macht sie bewusst, was die © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_11
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Theoretisierung bedeuten würde. Die Rede von Bildung zeigt nämlich zugleich schon, mit welchen Problemen und Fragen sich die neu entstehenden Humanwissenschaften nach dem Abschied von der Theologie beschäftigen müssen; sie zeigt auch, dass erst in der beginnenden Empirisierung die Frage nach der Bestimmung des Menschen angemessen diskutierbar werden kann. In der sich anbahnenden Verselbständigung gegenüber einer nur philosophierenden Beobachtung ihres Themas deuten sich auch die Herausforderungen an, die auf den Beobachter zukommen, wenn er ‚Mensch und Welt‘ in ihrer Wechselwirkung zum Thema macht – denn was kann die Humanwissenschaften dann aussparen, wenn sie umfassend auch zu fragen beginnt, wie diese Wechselwirkung möglich ist? In der Rede von Bildung wird die Gesamtheit dieser Fragen nämlich ebenfalls schon früh nicht nur als ethisch-normatives, sondern auch schon als theoretisches Problem sichtbar. Aber unverkennbar ist auch, dass die Teilnehmer am Gespräch über Bildung sich zuerst nur tastend an den Lösungen abarbeiten. Nicht zufällig kann einer der meistzitierten Texte für die vermeintlich um 1800 ausgebildete „Theorie der Bildung“ nur als „Bruchstück“ publiziert werden und seinem Autor, Wilhelm von Humboldt, wird immer wieder bescheinigt, dass seine Reflektionen über Bildung, anders als seine Sprachphilosophie oder seine sozialphilosophischen Schriften, sicherlich nicht den Status eines geschlossenen Stücks philosophischer Theorie haben. Mag insofern das Thema der Reflektionen über Bildung, d. i. – emphatisch – die Menschwerdung des Menschen oder – nüchtern – die Wechselwirkung von Mensch und Welt und ganz konkret das Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft sein, also das Totum der Probleme einer Humanwissenschaft, eine einzige, ausgearbeitete, systematisch und konsistent alle Themen erfassende Theorie des Themas gibt es im Ursprung nicht. In den zeitlichen, sachlichen und sozialen Sinndimensionen mag Bildung als Referenz des Diskurses allen Beteiligten gemeinsam sein, nicht nur die Form der Thematisierung ist offen und vielgestaltig, wie es bereits die Gattungen der einschlägigen Texte belegen, auch die Modi und Referenzen der Theoretisierung sind weder einheitlich noch in sich in den genutzten Bestimmungsstücken immer konsistent und miteinander verträglich. Am deutlichsten ist das für den Begriff der ‚Welt‘ zu sehen, der das Wechselverhältnis fundiert, aber sowohl in der Sozialität als auch als „Nicht-Mensch“ begründet wird. Zugleich ist Welt aus der Distanz präsent, in der Offenheit der Zukünfte, die sie in der Moderne neu auszeichnet, deshalb auch immer als „Freiheit“ emphatisch codiert, aber zugleich als Problem der Gestaltung von Zukünften präsent, die nicht mehr historisch-traditional oder sozial oder sachlich determiniert sind, sondern im Prinzip als gestaltbar und als Herausforderung der Praxis der Akteure erlebt werden. Kulturelle Fixierungen sind selbstverständlich nicht zu verkennen, zumal in der politischen Dimension, unbeschadet der Tatsache, dass die historischen Konstrukteure der Rede von Bildung sich, national wie international, wechselseitig wahrnehmen und auch aufeinander beziehen. Aber dadurch entsteht kein einheitlicher Diskursraum, denn die interne, national-kulturelle Segmentierung kann man schwerlich bestreiten.
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Gibt es Gemeinsamkeiten in dieser Rede, kann man, nachgehend, schon für die Frühphase einen Kernbestand an Aussagen identifizieren, vielleicht zumindest ein Minimum an gemeinsam geteilten Referenzen, wie sie von nachgehenden Interpreten ja schon vorgeschlagen wurden, wenn sie auch die theoretischen Markierungen schon im Ursprung nachzeichnen wollten? Eduard Spranger z. B. hatte als solche Elemente für eine jede Theorie oder Philosophie der Bildung fünf Referenzen benannt, die sie zur Einheit fügen muss: Bildungsprozess, Bildungsideal, Bildsamkeit, Bildner und das Bildungswesen.1 Das lässt sich für die Rede im Ursprung nicht bestreiten, aber die theoretische Pointierung, die solche Referenzen zur Einheit bündeln könnte, findet sich hier historisch nicht und auch nicht bei Spranger. Schon der historisch zentrale, geradezu revolutionäre Begriff der Selbstbildung ist für Spranger nicht zentral, er referiert eher auf Strukturen und normativ ausgezeichnete Ergebnisse als auf Prozesse und Wirkungsweisen, auf Universalität und Totalität, Humanität und Individualität, um die Bildungsphilosophie Humboldts in ihrer Systematik zu zeigen. Die Frage nach der Möglichkeit von Bildung hat er dabei nicht umfassend diskutiert2 oder einfach ins Bildungssystem verlagert. Aktuell werden als thematisch-theoretische „Grundstruktur“ einer jeden Theorie der Bildung wiederum sechs andere Merkmale genannt: Wechselspiel, Selbstreferentialität, Dynamik, Emergenz, Offenheit und Ungewissheit sowie Nichtplanbarkeit und Nichtsteuerbarkeit.3 Erkennbar folgt die historische Semantik eher diesen aktuellen Referenzen als Sprangers Ordnungsvorschlag, aber man kann beide Vorgaben in der historischen Reflexion erkennen, freilich nicht bei jedem Autor, nie alle zugleich oder gar in einer explizit theoretisierten Gestalt und nicht ohne je explizite Differenzen zu aktuellen Systematisierungsversuchen. Der „Bildner“ z. B., der für Spranger zentral ist, gar der Pädagoge als einer seiner Verkörperungen, ist in den pädagogikkritischen Texten schon im Ursprung eher ausdrücklich abgewehrt worden, und er ist ja auch mit der starken Betonung des „Selbstlernens“ nicht verträglich. Das „Bildungswesen“ wiederum, zentral für Spranger, fehlt in modernen Bildungstheorien oder wird als Hindernis für wahre Bildung interpretiert. Auch die historisch starke
1Das wird an verschiedenen Stellen diskutiert, früh in E.S.: Das Problem der Bildsamkeit. (1916/1917), jetzt in Spranger, Ges. Schr, Bd. 2, dort allerdings auch nicht mit Blumenbach. 2In einer späteren knappen Notiz, die ohne systematische Ausarbeitung geblieben ist, hat Spranger allerdings auf Uexkuells Modell biologischer Selbstregulation zurückgegriffen, um die „Wie“-Frage der Bildungstheorie zu lösen, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Sprangers Erziehungsphilosophie – ihre Bedeutung für Pädagogik und Erziehungswissenschaft. In: Gerhard MeyerWillner (Hrsg.): Eduard Spranger. Aspekte seines Werks aus heutiger Sicht mit einer unveröffentlichten autobiographischen Skizze von Eduard Spranger. Bad Heilbrunn 2001, S. 16–29, bes. S. 28 f. 3Thomas Rucker: Komplexität der Bildung: Beobachtungen zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn 2014, bes. S. 149 ff. Rucker zählt die Naturprämisse, Bildsamkeit, die gesellschaftstheoretische Referenz und die Wertorientierung, für ihn: „Würde des Menschen“, zu den „Haltepunkten“ (vgl. ebd., S. 217 ff.), die unthematisierte, aber selbstverständliche Ausgangspunkte der Theorie sind.
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Diskussion der „Bildungswelten“ findet sich aktuell allenfalls transformiert, Sprangers Betonung der „Bildungsgüter“ und „Bildungswerte“ hat angesichts der doch eher dominierenden Distanz gegenüber Kanon-Fragen nicht gerade Konjunktur, allein in der normativen Konstruktionsabsicht besteht Kontinuität – dann bis heute zu Lasten der Erklärungsleistung in theoretisch angeleiteter empirischer Forschung. Mit anderen Worten, die historische Semantik der Bildung fügt sich nicht umstandslos aktuellen Klassifizierungen und Strukturanalysen. Sie liefert eher Indizien dafür, dass die Reflexion über Bildung die theoretische Form noch finden muss, und dass diese Form jedenfalls mit der Gründungsphase noch nicht gegeben war, jedenfalls nicht einheitlich. Kein Zweifel besteht allerdings schon historisch an dem übergreifenden Befund einer säkularen Zäsur, die sich mit der Rede von Bildung gegenüber älteren Thematisierungen von Mensch und Welt vollzieht. Die Verzeitlichung, Verweltlichung und Empirisierung des Denkens über den Menschen in dieser „Sattelzeit“4 der europäischen Geschichte ist insgesamt offenkundig, aber in den konkreten Elementen und Argumenten variantenreich entfaltet. Die gemeinsame Ausgangsprämisse ist aber eindeutig: Weil jetzt, in der beginnenden Moderne, die Sicherheiten im Gegebenen geschwunden sind, wird „Bildung“ schon im Ursprung zur Antwort auf diese Situation, als ein Modell des Lernens und Handelns für unsichere, offene, der Gestaltung bedürftige Zeiten, individuell und kollektiv, politisch, ökonomisch und kulturell. Die Ermöglichung von Handlungsbereitschaft und -fähigkeit ist dafür die regulative Prämisse, und zwar als allgemeine Prämisse, realisierungsbedürftig zumindest in der Form, die im Kampf gegen den „Fatalismus“ die Grundprämisse der allgemeinen Volksbildung prägt; denn auch das Volk soll sich als Akteur erleben. Angesichts der Tatsache, dass wir unsere Zukunft nicht kennen (können), verspricht die in Bildungsprozessen zu konstruierende Handlungsfähigkeit der Individuen das Medium zu sein, im Wechsel der Generationen Stabilität und Verlässlichkeit, zumindest aber Erwartbarkeit des Verhaltens zu erzeugen. Dabei gehört es zu den Paradoxa dieser Situation, dass der Bildungsdiskurs zugleich zu den Ursachen des Problems gerechnet werden muss, das er jetzt bearbeiten soll. Signifikant für die anthropologische Dimension der klassischen Reflexionstradition ist ja auch die Kritik und Ablösung von religiösen Vorstellungen. Religion bleibt zwar eine Referenz in der Rede von Bildung, aber doch nur in einigen spezifischen Thematisierungsweisen, z. B. im Bildungsdiskurs der
4Den
Begriff hat bekanntlich Reinhart Koselleck vorgeschlagen, vgl. für seine Einordnung des Bildungsdenkens in diesen Erfahrungs- und Erwartungsraum R.K.: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung. In: Ders. (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 11–46 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II). Koselleck nennt in seinem „Umriß“ der Bildung als Dimensionen dann „personale Selbstbestimmung“, „Lebensführung“ und als „allgemeine Grundzüge“ weiter „Religiosität“ als „Bildungsreligiosität“ (24 f.), „politische und soziale Offenheit“, auch, mit Hegel, die „Kontamination mit Arbeit“ (32). Dann diskutiert er, im Vorgriff auf den gesamten Band, zu dem er dies einleitend schreibt, „Bildungsgüter und Bildungswissen“.
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frühen Romantik: „Die Religion ist die allbelebende Weltseele der Bildung, das vierte unsichtbare Element zur Philosophie, Moral und Poesie“ kann man bei Friedrich Schlegel in den „Ideen“ lesen.5 Aber das ist natürlich nicht tradierte Konfessionalität oder Kirchlichkeit, denn „Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.“6 So tragen die „Fragmente“ weiter dazu bei, dass man den Zusammenhang von Menschwerdung und Religion nicht zu einfach deutet. Für Schlegel gilt ja auch: „Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar ein Surrogat der Bildung, und nichts ist religiös in strengem Sinne, was nicht Produkt der Freiheit ist. Man kann also sagen: Je freier, je religiöser; und je mehr Bildung, je weniger Religion.“ Spätestens dann erinnert man sich, dass auch für Bildung in diesen Texten Ironie, also „die Form des Paradoxen“,7 den Status der Rede bezeichnet, die von Autoren im Umkreis der frühen Romantik gewählt wird – und die man im Übrigen nicht schon deswegen zu Bildungstheoretikern deklarieren kann, weil sie hier und da auch von Bildung reden. Gibt es weitere Möglichkeiten einer immanenten Systematisierung der ursprünglichen Rede von Bildung? Aus der Sicht des Subjekts, so könnte man ganz abstrakt die Basisannahme dieser Reflexionen charakterisieren, geht es in Gesellschaften wie unseren, die auf Kommunikation basieren, bei der Diskussion und Konstruktion von Bildung grundsätzlich um die Habitualisierung der gesellschaftlich erwünschten und je als universal beurteilten Kompetenzen für die selbstständige Teilhabe an Kommunikation, und zwar in und für Bildungswelten. Diese Bildungswelten werden sehr weit und offen thematisiert und bestimmt. Es sind einerseits Sozialwelten, die bedeutsam werden, dann vor allem in der Interaktionsdimension und in ihrer Bedeutung für die Konstitution der individuellen Person. Auf der anderen Seite gelten auch die sachliche Welt der Dinge und die dort präsenten Aufgaben sowie die tradierten kulturell-ästhetischen Praxen, Sprache zumal, als Bildungswelten, zusammengefasst – von Humboldt – durch das Merkmal ‚Nicht-Mensch‘ zu sein. Die sich mit der Konstitution der Moderne zugleich ausdifferenzierenden Sozialsysteme von Arbeit und Beruf werden allerdings nicht immer in der gleichen Weise wie die hohe Kultur thematisiert und geachtet, aber bei zentralen Autoren von Humboldt bis Hegel ebenfalls als Bildungswelten anerkannt, unentbehrlich schon für die ‚specielle Bildung‘, wie vor allem am System der Wissenschaften intensiv diskutiert wird. Bildung wird schließlich im Kontext von Gesellschaft und Staat und als Medium der sich bildenden Nation erörtert.
5Friedrich Schlegel: Ideen. In: F.S.: Werke in zwei Bänden. Berlin/Weimar Bd. 1, 1988, S. 261 ff., zit. (4) S. 263. An anderer Stelle wird das noch bekräftigt: „Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.“ (ebd., (13), S. 264). 6Schlegel, Fragmente (262), ebd., S. 225. 7Schlegel, Kritische Fragmente (48), ebd., S. 172, und an dieser Stelle geht es weiter: „Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.“.
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Die individuelle Seite des Themas ist also mit der gesellschaftlichen schon im Ursprung verbunden, das Aufwachsen und Handeln geschieht in der Welt, nicht außerhalb. Für dieses Wechselverhältnis wird dagegen keineswegs immer die Art von „Harmonie“ unterstellt, die in Humboldts Texten nicht zuletzt in der Berufung auf das griechische antike Vorbild impliziert ist. Ein „Bewusstsein der inneren Entzweiung“ und damit die explizite Abgrenzung von diesem „griechischen Ideal der Menschheit“ findet sich bereits in der romantischen Bildungsreflexion.8 Selbst der Begriff der Individualität, als Einheitsform relevant, zeigt diese Spannung zwischen Harmonieunterstellung, selbst bei Goethe, und den gesellschaftlich sich andeutenden Merkmalen der „Entfremdung“. Gleichwie, in Wechselwirkung mit der konkret gegebenen Welt wird nicht allein der Gebildete, sondern auch der Staatsbürger, ja die Nation selbst gebildet. Die Gattung ist gleichgewichtig neben dem Individuum die Referenz, wobei ein skeptischer Beobachter wie Kant, anders als manche aktuellen Diskurse, die Emphase der Höherbildung allein mit der Gattung verbindet. Bildung des Volkes wie der Regierenden gilt als Struktur, in der die Nation möglich wird. Bildung vollzieht sich deshalb immer auch in der gesellschaftlich unterstellten und individuell realisierten Absicht, das Verhalten der Individuen für einander erwartbar zu machen, und zwar so, dass sie auf Probleme kognitiv und im Modus des Lernens und nicht gewaltförmig reagieren, gebildet eben, so dass sie die Welt selbst als je individuell zu leistende Aufgabe wahrnehmen. Dabei gilt als selbstverständlich, dass solches Verhalten in der Welt im Vollzug, wie auch immer, steigerbar ist, besser oder schlechter zu realisieren. Der Bildungsbegriff trägt deshalb von früh an den Bezug auf „Höherbildung“ mit sich, auf eine andere Zukunft, individuell wie gesellschaftlich, für das Individuum und für die Gattung, aber er ist nicht darauf reduzierbar. Im Blick auf das Individuum werden auch die Wirkungsfragen und -probleme sichtbar, die hier erzeugt werden und mit denen sich die Rede von Bildung zugleich aufklärt und belastet. Das anthropologische Argument ist dabei den Autoren historisch wiederum gemeinsam, dass nämlich Bildsamkeit und Bildung aufeinander bezogen sind, dass die Naturprämisse („perfectibilité“) einerseits, der gesellschaftliche Zwang zur Konstruktion der „zweiten Natur“ in der Gleichzeitigkeit von „Vergesellschaftung und Individualisierung“ andererseits den Prozess des Aufwachsens regieren. Theoretisch wird im Begriff der Selbstorganisation und im Mechanismus des Selbstlernens deshalb auch die Humboldtsche „Kraft“-Metaphorik diskutierbar oder der „SelbstActus“, in dem seine Zeitgenossen Bildung generell verstanden. Historisch findet man also schon, und nicht allein im Bildungsdiskurs, was ganz modernistisch, die sozialwissenschaftliche Debatte über Autopoiesis (im Gegensatz zur Allopoiese) in anderer Sprache thematisiert, auch jetzt noch zwischen Teleologie, N aturkausalität
8So
August Wilhelm Schlegel: Über dramatische Kunst und Literatur. Vorlesungen. Heidelberg 1809, zit. S. 25 f.
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und Selbstorganisation als Wirkungsmechanismus eigener Art, wie es schon am Gespräch zwischen Kant und Blumenbach Thema war. Dennoch werden die konkreten Mechanismen, die den Prozess der Selbstbildung regieren, meist nur in sehr allgemeinen Annahmen vorausgesetzt, eindeutig abgegrenzt gegenüber allen, zumal stark pädagogisierenden Formen der „Einwirkung“, die man als Form und in ihren Praktiken der (schlechten, noch nicht bildungstheoretisch aufgeklärten) Erziehung zuschreibt. Bildung wird dagegen in der paradoxen Form der zwanglos-zwingenden Nötigung verstanden, ein Wirkungsmodus, für den Philosophen wie Pädagogen und Literaten die ästhetische Erfahrung der Welt als Modell präsentieren – ohne im Detail diese spezifischen Erfahrungsmöglichkeiten schon geklärt oder gar kritisch in ihrer Möglichkeit geprüft zu haben. Eine theoretisch klare und methodisch befriedigend bearbeitbare Antwort auf die Frage, wie Bildung möglich ist, bleibt als Schwierigkeit für die Folgezeit erhalten. Deshalb gilt auch der historische Befund, dass der Begriff der Bildung bei aller Gemeinsamkeit in diesen Referenzen noch keine eindeutige theoretische, ja nicht einmal thematisch einheitliche Bedeutung gewonnen hat. Systematisch wird das bewusst, wenn man die Ursprungsphase des modernen Bildungsbegriffs mit Hegels Schriften abgeschlossen sieht, wie das bis heute immer wieder nahegelegt wird.9 Hegel signalisiert mit seinen Überlegungen nämlich zuerst und viel stärker, jedenfalls in signifikanter Weise das Theorie- und Begriffsproblem, das die Rede von Bildung seit dem Ursprung mit sich führt. In der jüngeren erziehungsphilosophischen Hegel-Diskussion wurde auf diese verschiedenen, je für sich selbstständigen „theoretischen Kontexte“ aufmerksam gemacht, die man in der übergreifenden Verwendung des Begriffs der Bildung bei Hegel unterscheiden sollte, wenn man ihm gerecht werden will.10 Die Vielfalt der Bedeutungen in seinen Argumenten demonstriert dann aber auch nachdrücklich, dass der Begriff der Bildung in der historischen Situation seiner Entstehung noch keineswegs distinkte, präzise definierte Bedeutung gewonnen hat, sondern eher noch in vielfachen Referenzen nutzbar war und mehr als nur eine Dimension von Praxis oder Theorie bezeichnet hat und bis heute bezeichnet.
9Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015 sieht erst jüngst noch einmal eine solche Vollendung der Bildungsphilosophie in Hegel. Er habe den „Gang der theoretischen Entwicklung“ (seit Thomas Hobbes!) bis zu dem Punkt getrieben, dass „die notwendigen Momente der Subjektivität und der Sozialität miteinander in Einklang zu bringen“ (243) sind, der Mensch als „intrinsisch sozial“ konzipiert ist und die „Einheit der Individualität und Sozialität“ theoretisch dargestellt wird, und zwar in der „Moralität als Vollendung der Persönlichkeitsbildung“, sogar verbunden mit der Prämisse, dass man sie „unmittelbar im Handlungsvollzug“ der gebildeten Person identifizieren kann. 10Ein knapper, aber sehr informativer Überblick findet sich bei Lothar Wigger: Bildung als Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: Tenorth, Hrsg., Form der Bildung …, 2003, S. 69–88, danach die hier folgenden Unterscheidungen und Zitate (S. 71 f.); vgl. aber ergänzend auch die unten in Teil II folgenden ausführlichen Bemerkungen zu Hegel.
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Für Hegel jedenfalls kann man den mehrfachen, in sich heterogenen, nicht auf eine Bedeutung reduzierbaren Sinn der Rede von Bildung sehr gut demonstrieren und damit zugleich zusammenfassen, welche Vielfalt an Referenzen in der Rede von Bildung selbst in den theoretisch hoch ambitionierten Segmenten dieses Diskurses historisch und im Ursprung bereits präsent sind. Hegel spricht von Bildung i) für die „Rechtfertigung seines philosophischen Standpunkts“. Vor allem im Blick auf das absolute Wissen und die Geschichte des „Geistes“ wird der Begriff der Bildung in der Phänomenologie des Geistes (1807) benutzt. Wie immer man diesen Text liest,11 als Referenz auf Fragen, die Herder z. B. im Kontext der Schule oder konkret-historischer Bildungsprozesse von Individuen aufwirft, ist dieser Text nicht geschrieben, aber gelegentlich wird er dennoch so interpretiert,12 sogar als einen „Bildungsroman“ könne man ihn lesen, sagt ein aktueller Autor (allerdings aus der Erziehungswissenschaft).13 Aber für die Frage nach der Logik der Rede über die Bestimmung des Menschen bzw. des Geistes ist er, philosophisch und argumentationstheoretisch, durchaus einschlägig. Hegel nutzt ii) Bildung in einem historisch wie sozialisationstheoretisch auch empirischen Sinn. In einem auf die Gattung wie auf die Person zurechenbaren und interpretierbaren Sinn wird der Begriff im Kontext der „Sozial- und Staatsphilosophie“, wie sie u. a. in der Rechtsphilosophie von 1821 vorliegt, verwendet. Sie lässt sich als ein
11Die
Dimensionen einer philosophisch angemessenen Lektüre verdeutlicht der in jeder Hinsicht beeindruckende Kommentar von Pirmin Stekeler: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar, Bd. 1: Gewissheit und Vernunft; Bd. 2: Geist und Religion. Hamburg 2014. Im Vorwort zu Band 1 resümiert Stekeler auch die Forschungslage zu Hegel zwischen „Geschwätztradition“ und ernstzunehmender „Textinterpretation“ (zit. S. 15) – ohne die Schwierigkeiten zu leugnen, die Hegels Text aufwirft und auch seine Phänomenologie „als allgemeine Logik unseres wirklichen Weltbezugs“ (16), wie er seine Lesart der Phänomenologie schon von der Logik des Aristoteles aus einführt; denn, so „der zentrale Punkt Hegels: Metaphysik und Ontologie sind nur als Logik möglich.“ (16), d. h. als „Logik des Argumentierens“ (17), die in eine „Analyse der Realität des Wissens in seiner kollektiven Entwicklung“ (20) mündet. Das ist vor dem Hintergrund von Stekelers Verständnis von Philosophie zu verstehen, das er explizit z. B. gegen die Habermas- oder Apel-Tradition abgrenzt. „Philosophie ist aber mehr und anderes als sich unter Predigten des Guten zu versammeln. Philosophische wie religiöse Erkenntnisse verdecken in ihrer Erbaulichkeit sogar die in ihnen noch lange nicht aufgehobenen Spannungen ethischen Urteilens.“ (21). 12Das findet sich bei J. C. Horn: Hegels Individuationstheorie oder eine von Hegel entdeckte Methode wie die Ausbildung mit der Bildung zu verstehen sei. In: W. R. Beyer (Hrsg.): Die Logik des Wissens und das Problem der Erziehung. Nürnberger Hegel-Tage 1981. Hamburg 1982, S. 210–217, bes. S. 212, wenn für die Phänomenologie des Geistes gesagt wird, „sie (enthalte) die Stufen der historischen Entwicklung der abendländischen Menschheit, beginnend mit der Antike, ineins mit der ontogenetischen Entwicklung des Individuums als systematisch-kategoriale Erfahrung und Erkenntnis.. Jede Stufe wird als synchrone Bewußtseinsgestalt entwickelt …“ (Herv. dort). 13Unter Verweis auf G.A.Kelly empfiehlt diese Lesart Christian Rittelmeyer: Bildung. Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart 2012, weil die Phänomenologie des Geistes nicht nur die „Grundidee einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes“ biete, sondern „ebenso den individuellen Weg der Bewußtseinsentwicklung charakterisieren kann“ (zit. S. 89).
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Text lesen, in dem die historisch-gesellschaftlichen „Konstitutionsbedingungen moderner Subjektivität“ entfaltet und die Frage gestellt werden kann, ob es so etwas wie eine Pädagogik bei Hegel gibt.14 Nicht zufällig werden von Hegel selbst auch in diesen Texten die gesellschaftstheoretischen Themen der Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung, die bürgerliche Öffentlichkeit, Familie und Kindheit, auch das Bildungswesen, Fürsorge- und Armenwesen behandelt. Bildung wird dabei die übergreifende Formel, mit der sich das Aufwachsen in der bürgerlichen Gesellschaft thematisieren lässt. Für Hegel wird iii) Bildung aber auch, geschichtsphilosophisch und in der Analyse der „Weltgeschichte als Bildung des Geistes und als Fortschritt der Menschheit im Bewußtsein der Freiheit“, wieder gattungsgeschichtlich und kategorial verstanden. Das belegen u. a. die Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, die ja nicht Historiografie, sondern Metatheorie der Geschichte der Gattung darstellen. Hegel verwendet den Begriff der Bildung ferner, iv), in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“. Hier wiederum thematisiert Hegel „den Geist als solchen ‚selbst nach seinem Begriffe sich bildend und erziehend‘ [Hegel] …, d. h. in der selbsttätigen Ausdifferenzierung und Integration seiner Formen und Äußerungen“. Wer von Bildung spricht und sich auf Hegel beruft, nicht zuletzt, um den Begriff selbst zu präzisieren, tut also gut daran, sich angesichts dieser unterschiedlichen thematischen Referenzen präzise zu verorten, um nicht erneut Anlass für Kategorienfehler und Belege für problematische oder vereinfachende Verwendung zu geben.15 Hegel ist zwar ohne Zweifel Teil der vielfältigen Rede von Bildung, wie sie sich im Ursprung präsentiert, aber er formuliert keinen Konsens der Zeitgenossen oder gar die Lösung aller Probleme, die Bildung schon im Ursprung aufwirft. Aber das ist das Schicksal der Klassiker, wie schon die Zeitgenossen, sogar
14Erwartbar
sind die Antworten auf diese Frage nicht eindeutig, je nach dem Status, den man dem Thema „Pädagogik“ zwischen Praxis und Reflexion, Wissenschaft und Handeln zuschreibt und dadurch auch von Philosophie unterscheidbar macht, vgl. u. a. Wolf-Dietrich SchmiedKowarzik: Hegel und die Pädagogik. In: Beyer 1982, S. 183–194, der von „der impliziten Bildungstheorie der Hegelschen Philosophie“ ausgeht, aber daneben ein eigenes Wissens- und Handlungssystem Pädagogik ausweist (zit. S. 183). Anders z. B. Livio Sichirollo: Zur Pädagogik Hegels, ebd., S. 243–253, der theoretisch nur die Philosophie kennt („Pädagogik [als] eine allgemeine Theorie der Erziehung und also de jure und/oder de facto ein und dasselbe mit Philosophie“) sowie (selbstreflexive) Institutionen, die von zahlreichen Wissenschaften erforscht werden. (zit. S. 243). 15Peter Vogel: Bemerkungen zum empirischen Gehalt von Hegels Bildungstheorie. Kommentar zu Lothar Wigger. In: Tenorth, H.-E., Hrsg., Form der Bildung …, 2003, S. 89–92 verdeutlicht das Dilemma daran, dass es „eines der vielen irritierenden Phänomene in Hegels Bildungstheorie“ sei, „daß er den Prozeß der Formierung des Individuums mit dem gleichen Begriff faßt wie den Prozeß der Selbsterfahrung des Geistes – nämlich mit dem Begriff ‚Bildung‘.“ (zit. S. 89) – oder, und verkürzt: Für eine sozialwissenschaftliche, pädagogische und historische Nutzung des Begriffs und d. h. zur empirischen Analyse der Selbstkonstruktion des Subjekts taugt am ehesten die Rechtsphilosophie, während die „Phänomenologie des Geistes“ gerade diese Referenz auf das empirische Subjekt nicht hat.
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am Beispiel Kants, klagten,16 dass ihre Unterscheidungen alles ordnen, aber nicht alles klären. Bildung ist schließlich von Beginn an nicht allein in einer eigene Rede, als gesellschaftliches Programm und als Bildungsideal gegenwärtig, sondern auch als je individuelle Praxis der Lebensführung, dann immer auch begleitet von alternativen Bildern besserer Welten oder in Kontroversen über die normativen Implikationen von Lebensformen und die vom Prozess erwarteten Ergebnisse. Zur Rede von Bildung gehört, mit anderen Worten, immer schon der Dissens über die möglichen, wirklichen oder erwünschten Ergebnisse und Mechanismen, historischen Welten und über die individuellen oder kollektiven Praktiken der Selbstkonstruktion, wie man sie in den Formen des Aufwachsens von der Familie bis zum Bildungssystem, in Arbeit und Lebenswelt identifizieren kann. Anfangs zwar mit starker Wirkung eher philosophisch und prinzipientheoretisch bestimmt, wird dieser Diskurs über Bildung dadurch nicht nur weiter historisiert, sondern auch explizit empirisiert, an Forschung orientiert, zumal in der jungen empirischen Psychologie, aber insgesamt doch noch nicht breit empirisch beobachtet. Die historisch selbst innovative humanwissenschaftliche Maxime von Karl-Philipp Moritz, dass es in der „Erfahrungsseelenkunde“ auf methodisch organisierte Beobachtung ankomme, dass „Fakta, kein moralisches Geschwätz“17 erwartet werden dürfen, löst er für einige Zeit in seiner eigenen Zeitschrift ein, aber darin folgt ihm der frühe Bildungsdiskurs in seiner Gesamtheit nicht. Erfahrungsgesättigt sind eher die Bildungsromane, die als „Lehrjahre der Lebenskunst“18 gelesen und als „Stufengang“ der Selbstkonstruktion von Individualität gedeutet werden. Sie klären damit in der Form der Literatur und in ihren Erkenntnisbahnen zwar die zweite hier interessierende Frage, „wie Bildung möglich ist“, sind aber kaum als Forschungsliteratur einer empirischen Anthropologie zu lesen. Insgesamt dominieren neben der literarischen die politische und philosophische, auch eine spezifisch prinzipientheoretische Dimension und Programmatik die Reflexion von Bildung in ihrer modernen Ursprungssituation. Diese Redeformen erzeugen schon historisch Argumentformen, die den Diskurs über Bildung und seine theoretische Ambition bis in die Gegenwart zugleich bestimmen und belasten; denn die Rede von Bildung ist insgesamt im Ursprung
16In
Schlegels Fragmenten (345) gibt es jedenfalls folgenden Wunsch: „Es wäre zu wünschen, daß ein transzendentaler Linné die verschiedenen Ichs klassifizierte und eine recht genaue Beschreibung derselben allenfalls mit illuminierten Kupfern herausgäbe, damit das philosophierende Ich nicht mehr so oft mit dem philosophierten Ich verwechselt würde.“. 17Für das humanwissenschaftliche Forschungsprogramm s. Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungsseelenkunde. In: Deutsches Museum 1(1782), S. 485–503. Seine Zeitschrift – ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde – erschien von 1783 bis 1792, mit dem Versprechen der Forschung, nämlich „daß ich Fakta, und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman, keine Komödie, liefere, auch keine anderen Bücher ausschreibe“ (Bd. 1(1783), S. 2). 18So charakterisiert Friedrich Schlegel in seiner Besprechung von „Goethes Meister“ diesen Text, vgl. Schlegel, a. a. O., S. 150.
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eher spekulativ und programmatisch, weniger erfahrungsbezogen oder an Geltungsfragen interessiert. In ihrem gesamten Erscheinungsbild erscheint diese Rede als Denkform in der Entfaltung, über den Entwurf hinaus der eigenen argumentativen und empirischen Implikationen noch nicht insgesamt bewusst, angesichts der Realität des Mensch-Welt-Verhältnisse daher eher als eine große, vom Pathos der Freiheit und Selbsttätigkeit inspirierte Hypothese einer noch zu konstruierenden umfassenden Wissenschaft vom Menschen denn als eine bereits entfaltete Theorie zu lesen. Dazu muss sie erst werden, im Kontakt mit der Realität und in der Konfrontation mit anderen Entwürfen von Mensch und Welt, also in der Wirklichkeit der Reflexion von Bildung, in die sie jetzt eintritt und die sie selbst dynamisiert und strukturiert. Die dabei sichtbaren Ergebnisse der Rede von Bildung, ihre spezifischen Argumentformen müssen deshalb auch im Detail behandelt werden, um neben den historisch so vielfältig präsenten Bedeutungen von Bildung und der Thematik ihres Diskurses auch die spezifische Form dieser Rede in ihrer eigenen Wirklichkeit zu sehen und von da aus auch ihren theoretischen Status weiter diskutieren zu können.
Teil II
Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
In der historischen wie aktuellen Praxis der Rede von Bildung wird natürlich nicht allein die Reflexionstradition der klassischen Epoche wiederholt und ausgelegt, obwohl das kontinuierlich und intensiv praktiziert wird, sondern über Bildung auch in eigener Form geredet. Die klassischen Texte bleiben dabei zwar eine wesentliche Referenz, denn sie prägen, auch wenn das nicht immer sogleich sichtbar sein mag, die generelle Wahrnehmung des Themas und seiner Dimensionen. Aber die aktuelle Rede ist zugleich geformt durch die Erfahrungen, die man in den letzten zwei Jahrhunderten mit der Idee der Bildung, mit der Bildungspraxis, dem Bildungssystem und seiner öffentlichen Rolle und nicht zuletzt mit der Rede von Bildung selbst gemacht hat. Sie vor allem gewinnt dabei eine eigene Form und prägt zugleich die Gestalt, in der argumentativ das Thema in der Gesellschaft dominant präsent ist. Bereits sehr früh, fast noch in der klassischen Ursprungsphase selbst, wird dann allerdings, und nicht nur von Außenbeobachtern, die Charakteristik der Rede über Bildung selbst zum Thema, in der Betonung der Bedeutung von Bildung, aber auch in einer konstant scharfen Kritik am theoretisch-methodischen Status des Bildungsdiskurses. Die kritische Diagnose der Rede von Bildung, die z. B. 1847 ein protestantischer Schulmann vorträgt, nimmt im Duktus vorweg, was dann Kontinuität gewinnt und sich bis heute nahezu unverändert als Kritik finden lässt. Einerseits, der Beobachter sieht den Anspruch im pädagogischen Milieu, mit dem Bildungsbegriff „einen der Fundamentalbegriffe in der Pädagogik vorstellig zu machen“, aber zugleich irritiert ihn die dramatisch disparate Realität des Sprachgebrauchs: „Merkwürdig, welche Masse von Gedanken und Strebungen daran sich zu knüpfen pflegen und nach wie verschiedenen Richtungen hin der Begriff auseinandergezogen wird, gleichsam eine Ironie auf das Wort, das er sich auswählte.“ Der Beobachter selbst verbindet nämlich, 1847, mit dem Begriff der Bildung nicht eine disparate „Masse von Gedanken“, sondern viel eher „Ebenmaß, Ruhe, Abrundung, eine künstlerische Gehaltenheit und einleuchtende Formen“. Tatsächlich sieht er aber nicht nur „eine Fülle von Idealen, die das Gefäß des Wortes sprengen zu müssen scheinen“, sondern notiert auch irritiert „Fremdartiges nestelt sich demselben an!“, und das erzeugt ein eigentümliches Gebilde: „ein Rocken, aus dessen krausem Werg die Fäden für manches Hirngespinst gezogen werden, ein Nest, darein verstiegene Einbildung ihre Wind- oder politische Berechnung ihre
156
Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
Kukukseier zu legen suchen.“ Angesichts dieser Diagnose wird sein Problem sehr verständlich: „also wird es besonders schwer, gerade von dem Begriffe ‚Bildung‘ sich ein klares Bild zu gewinnen“.1 Auch argumentative methodische Eigenarten werden hier schon gesehen und problematisiert: „Man versteht darunter bald den Bildungsproceß, bald das Resultat dieses Processes, ein Werdendes oder Gewordenes“, problematisch sei auch, dass „Bildung … unterschiedlich activ und passiv gebraucht (wird)“. Die Konsequenzen solcher Eigenarten der Rede werden in ihren Folgen nicht zufällig als großes Problem gezeichnet: „eine Ursache zur Verwirrung für die Unklaren und eine Gelegenheit zum Versteckspielen für die Schlauen.“ „Ein klares Bild“ des Begriffs kann er jedenfalls nicht sehen und müht sich dennoch an sinnvollen Unterscheidungen ab. Das führt zu einem Bildungsbegriff, der Bildung als specimen humanum charakterisiert,2 aber nebenher auch schon erinnert, dass in der Literatur bereits Verfallsformen identifiziert werden.3 Hier interessiert zunächst nur die Kontinuität der kritischen Beobachtung.4 Mehr als 100 Jahre später werden die Elemente von Haubers Diagnose in einer 1A. Hauber: Bildung. In: C. Schmid (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Gotha: Besser, Bd. 1, 1859, S. 657–685 [und „Zusatz der Redaction“, S. 685–686], zit. S. 658, auch für die folgenden Zitate. Die Redaktion betont im Nachgang zu der Begriffsexplikation nicht zufällig, dass es hier um einen „schwierigen Begriff“ gehe (zit. S. 685). 2Sein „Begriff von Bildung“ und seine Bestimmung des Bildungsprozesses lauten dann, durchaus in der klassischen Tradition: „sie ist die Ausgestaltung des innern Menschen zu einer in sich harmonischen Lebenserscheinung; und sie geht vor sich durch eine das natürliche Wesen, unter ausscheidender Bekämpfung der sündhaften Elemente, aus dem an sich rohen Zustand herausarbeitenden Thätigkeit, in welcher die Persönlichkeit mittelst Aneignung, Sichtung und Assimilirung der vorhandenen Bildungselemente, mittelst Selbstentwicklung und Selbstbeschränkung sich im Leben orientirt und mit dem Ganzen als Glied in die Wechselbeziehung des Empfangens und Wirkens tritt.“ (S. 665). 3In einem Hinweis auf einschlägige Bemühungen des hessischen Schulmannes Curtmann erwähnt er, dass von ihm bei der Bestimmung des Begriffs von Bildung auch „niedere, oberflächliche, gesellschaftliche, halbe u.s.f. Bildung“ unterschieden werden (zit. S. 665, *Anm.). Unter „Bildung“ wird 1843 (in Hergangs Pädagogischer Real-Encyklopädie) bereits neben einer systematischen Begriffserläuterung, die nahezu identisch ist mit der von Hauber (1859), auch „das gefällige Beiwerk der Bildung“ kritisiert und von „Unbildung und Verbildung“ geredet, zusammen mit der „Aftercultur der höheren Stände“, die auch das Volk verdorben habe (S. 324). 4Einige Nachweise für die Zeit seit dem frühen 19. Jahrhundert mögen das belegen: Meyers Konversations-Lexikon nennt im 2. Bd., 61890, S. 947 Bildung „ein bevorzugtes Schlagwort des Zeitalters, eines der „Lieblingswörter“, aber „sein Gepräge“ sei „verwischt“, der Begriff sei „vieldeutig“. Otto Willmann erläutert „Bildung“ im Lexikon der Pädagogik Bd. 1, 1913, Sp. 524–526 nur sehr knapp, wie bei Hauber (1859) über Prozess und Produkt, dann stark von Schule und der „Ausdehnung des B[ildung]sbetriebes“ aus (Sp. 525), verweist aber im Übrigen auf sein eigenes Konzept von Didaktik als Bildungslehre. Der Psychologe Erich Stern hebt 1927 vor aller Begriffsbestimmung die „Mehrdeutigkeit des Begriffes“ hervor (in Religion in Geschichte und Gegenwart, 1. Bd, 1927, Sp. 1108 f.) und die „Krisis“ (1117) der Bildungswelt, trennt die pädagogische von der theologischen Bedeutung und konzentriert sich dann, pädagogisch, auf „geistige Bildung“, für die er „Zustand“, „Geschehen“ und „Wert“ diskutiert. Der Komplex „Bildung und Religion“ wird dort selbstständig behandelt, und zwar mit deutlichem und kritischem Bezug auf die veränderte Weltlage und die damit einhergehenden Veränderungen der Bildungserfahrung seit dem Weltkrieg, die insgesamt als Bedeutungsverlust von Religion und Kirchlichkeit interpretiert werden, vgl.: R.Paulus: „Bildung: II. Bildung und Religion. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 1. Bd, 1927, Sp. 1113–1117 mit den Unterthemen „1. Urwerte und Bildungswerte; 2. Religion und religiöse Bildung; 3. Religion und Weltbildung“.
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nahezu identischen Kritik wiederholt. Als Grundbegriff der Pädagogik wird „Bildung“ 1972 immer noch beansprucht, aber ein sprachkritisch sensibler Beobachter wie Wolfgang Brezinka spricht ihm wegen seiner „Mehrdeutigkeit und Vagheit“ dafür alle Qualitäten ab und schlägt stattdessen den Begriff der „Erziehung“ vor.5 Diese Kritik an fehlender begrifflicher Präzision und, daraus folgend, die Untauglichkeit des Bildungsbegriffs für thematisch relevante Forschungsprozesse wird auch noch 2016 erneuert, ausgehend von Humboldt und erweitert auf die nachfolgende Theoriearbeit von Herbart und Dilthey bis ins 20. Jahrhundert zu Kerschensteiner und Husserl.6 Als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft gilt er als ungeeignet, der Autor sieht allein die Kontinuität einer „idealistischen Theorie des Individuums“, die aber allein in einer Psychologie angemessen bearbeitbar sei. Dieter Lenzen wiederum bleibt zwar in der Erziehungswissenschaft, analysiert aber die Dimensionen der Rede von Bildung als mehrfache „Paradoxie“7 und betont kritisch die Eigentümlichkeiten erneut, die Hauber schon 1847 benannt hat: Bildung, insofern paradox, bezeichne gleichzeitig und zugleich den Prozess und das Resultat eines Prozesses, diesen Prozess wiederum, so Lenzen, als abgeschlossen, z. B. in der Zuschreibung von „Reife“, und als unabgeschlossen, indem sie z. B. immer neue „Selbstüberwindung“ oder lebenslanges Lernen fordere, dann wiederum zugleich zielorientiert, als „Vollendung“, oder zieloffen, basierend auf „Freiheit“, aber zugleich auch als determiniert, über die „innere Natur“ reguliert, oder indeterminiert, als ein „Sichselbstschaffen“, in der paradoxen Erwartung, dass das Individuum zu etwas werden soll, was es seiner Möglichkeit nach schon ist, dennoch ziel- und prozessbezogen nicht nur seine eigene, sondern auch die Höherbildung der Gattung befördere, so dass alle Ergebnisse zugleich Produkt des Individuums und der Sozialität seien, sogar ohne Abschluss, weil auf Dauer gestellt. Mehr als 150 Jahre Kritik, unverkennbar, aber dennoch ist die Attraktivität des Begriffs ungebrochen. Auch die Alternativen, die im Prozess angeboten wurden, haben den Begriff nicht ersetzt, weder der Begriff der Erziehung, den Brezinka der Erziehungswissenschaft empfahl (wie vorher schon Wilhelm Dilthey8) noch der von Lenzen propagierte, systemtheoretisch inspirierte Begriff der Autopoiesis oder die favorisierten psychologischen Theorien konnten ihn ablösen. Die Eigenart der Rede von Bildung, das kann man ebenfalls nicht übersehen, ist allein in
5Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel: Reinhardt 1974, bes. S. 23 f. 6Jürgen Grzesik: Das deutsche Bildungssyndrom. Eine kritische Diagnose der Brauchbarkeit des Bildungsbegriffs. Hamburg 2016. 7Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik 43(1997), S. 949–968, zit. S. 956 f. 8Wilhelm Dilthey: Pädagogik, Geschichte und Grundlinien des Systems. (1894) Göttingen 1960 (Ges. Schr. IX), S. 190 ff., wo er den Erziehungsbegriff als Grundbegriff empfiehlt, und zwar gut soziologisch: „Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft“ (192); „Bildung“ dagegen wird allein als Ausdruck für die „Vollkommenheit einer Seele“ (191) beansprucht.
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Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
der wissenschaftslogischen Kritik nicht umfassend verstanden. Man stößt allenfalls auf die Kontinuität einer Argumentation, vielleicht auch nur auf die Stabilität eines Fehlers im Prozess, aber das zu konstatieren ist für die Analyse der Rede von Bildung nicht hinreichend. Die leitende These der folgenden Überlegungen ist dagegen, dass sich die Eigenart der Rede von Bildung primär den theoretischen und methodischen, historischen und normativen Implikationen des Themas selbst verdankt, das sie bearbeitet. Ihr leitender Imperativ scheint dabei zu werden, dass sie gegen alle Probleme, die mit diesen thematischen Implikationen seit dem Ursprung der Bildungsreflexion verbunden sind, an der zugleich beobachtenden und normierenden, distanzierenden und engagierten Einheit ihrer Argumentation festhalten will – auch und z. T. bewusst gegen die einzelwissenschaftliche Forschung, die sich zu diesen Themen von Bildung seit dem frühen 19. Jahrhundert, also über die Beobachtung der Selbstkonstruktion von Menschen in der Gesellschaft, entfaltet. Hier, in Abgrenzung und Zuordnung der ansonsten existierenden Beobachtung des Prozesses der Selbstkonstruktion der Individuen, findet man also erst die Praxis der Reflexion von Bildung. Der wesentliche Schritt, in dem die Rede von Bildung – systematisch gesehen – die Eigenarten ihrer historischen Praxis ausbildet, besteht daher in der argumentativen Arbeit an den ihr eigenen Themen und den damit gegebenen Referenzen und Problemen. Dabei kann man seit den Klassikern, ungeachtet sonstiger Differenzen, drei für sich selbstständige und unterscheidbare, aber im Blick auf die Bestimmung und Möglichkeit von Bildung systematisch zu relationierende und historisch auch relationierte Themen und Herausforderungen der Argumentation erwarten und für ihre Praxis in der Rede von Bildung auch identifizieren: Das (i) erste ist das ‚anthropologische‘ Argument. Jede Rede von Bildung geht von einer (wie immer begründeten) ‚Bestimmung des Menschen‘ aus und sucht von da aus Bildung nach Form und Inhalt, Anspruch und Ziel, Wirkungsweise und Ergebnissen als ein Medium zu bestimmen, in dem der Mensch seine ‚Menschlichkeit‘ realisieren und steigern kann. Bildung wird, mit anderen Worten, zuerst und in der Regel zentral als specimen humanum interpretiert. Das (ii) zweite argumentativ unausweichliche Thema ist die „Welt“, zuerst unter der Frage, ob die gegebene Welt als Bildungswelt ausweisbar ist und anerkannt werden kann, aber auch unter der zweiten, wie sie durch und mit Bildung gestaltet wird. Das impliziert zumindest zwei Konkretionen, zeitdiagnostisch und wirkungsbezogen. Schon im Ursprung wird „Welt“ umfassend zum Thema, politisch wie sozial, ökonomisch wie kulturell, in allen Praktiken und Institutionen, die den „Umgang mit Menschen“ prägen. Kulturen, Staaten und Nationen, auch die „Sachen“ in ihrer Materialität werden als Bildungswelten analysierbar, d. h. letztlich als Raum der Ermöglichung oder Erschwerung von je individueller Selbstkonstruktion. Eine zentrale Frage ist zugleich, ob und wie die Selbstkonstruktion des Menschen auch die Welt gestalten kann, zwar nicht allein, aber als Bildung doch allgegenwärtig, quasi als universale Spezialfunktion gesellschaftlicher Ordnung. Bildungstheorie wird damit zugleich eine Instanz, in der nach Wirkungen der Praxis und den Gründen von Erfolg und Scheitern von Bildungsprogrammen gefragt wird.
Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
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Das (iii) dritte Argument betrifft die operative Dimension in der Rede von Bildung, die Frage, wie sich zeitlich, sachlich und sozial die Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt zur Einheit fügt bzw. fügen lässt. Das operative Argument setzt bei der Erfahrung an, dass zwischen Plan und Wirklichkeit immer neu Differenzen zu beobachten sind: Man trifft auf vergangene Gegenwarten und nicht erfüllte Zukünfte der Bildung, auch auf kontraintentionale oder suboptimale Wirkungen von Strukturen und Handlungen, und natürlich auch auf Zustände, die man nicht hinnehmen will, die vielmehr neue Anstrengungen provozieren. Die operative Argumentation hat schon deshalb einen dezidierten Zukunftsbezug, in der Antizipation einer Welt, die gebildete Individuen gestalten sollen. Diese drei Argumentformen bezeichnen die durch das Thema erzwungenen, die unausweichlichen und insofern konstanten Dimensionen in der Rede von Bildung in der Moderne. Betrachtet man die historische Praxis dieser Rede, dann gibt es, erwartbar, ganz unterschiedliche Wege, diese Argumente zu gebrauchen und zur Einheit des Bildungsdiskurses zu fügen. Man kann sich auf die Auslegung der Klassiker konzentrieren, muss dann aber mit der – so starken wie erstaunlichen – Hypothese arbeiten, dass Humboldt oder Hegel (oder welcher Klassiker immer) nicht nur von uns schon wussten,9 sondern auch die Bestimmung des Menschen oder die erwünschte Form von Gesellschaft in aktuell noch gültiger Weise vorgegeben haben und deshalb bis heute als geeignete Referenz für die Diagnose und Gestaltung unserer Welt gelesen werden können, ja sogar eine Möglichkeit anbieten, mit offenen Zukünften reflektiert umzugehen. Man kann, als Gegenpol zur Exegese der Klassiker und gegen deren scheinbare Evidenz, spezialistische Forschung bemühen, um sich über das unerschöpfliche Thema von Mensch und Welt belehren zu lassen. Alle Human- und Sozialwissenschaften sind dann einschlägig und die Reduktion von Wissen wird zum zentralen Problem. Man kann schließlich auch die Wissenschaft meiden und sich über Mensch und Welt aus der schönen Literatur oder in esoterischen Quellen, wie z. B. der Anthroposophie, belehren lassen. Die Geschichte der Bildungsreflexion belegt in großer Breite ja auch, aus welchen gelegentlich dunklen, mystischen, vermeintlich nur exklusiven Zirkeln zugänglichen Quellen die anthropologische Argumentation, die Analyse der Welt und die operativ-zukunftsbezogene Reflexion geschöpft haben. Diese Vielfalt der Rede von Bildung legt deshalb zugleich die Frage nahe, ob die ja durchaus gängige Qualifizierung als B ildungs-Theorie zu Recht erfolgt und welche Konsequenzen sich mit den Antworten auf diese Frage verbinden. Kontinuität in der Thematik ist insofern verbunden mit der Historizität der Erfahrung, die der Prozess der Bildung und die Rede von Bildung zugleich aufbewahren und erzeugen.
9Ernst Bloch hat immerhin die Frage gestellt: „Woher weiß Hegel von uns?“ Die Antworten, die es kaum im Konsens gibt, führen früher oder später zu der großen Frage von Herbert Schnädelbach: Was Philosophen wissen und was, man von ihnen lernen kann. München 2012. Unbestreitbare Zeitdiagnosen, allseits anerkannte Menschenbilder oder stark beglaubigte Zukunftskonstruktionen gehören dann eher nicht dazu.
160
Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
Beobachtet man die Rede von Bildung in diesen Dimensionen, erkennt man ihre Eigenarten besser als in der wissenschaftslogischen Kritik oder in positionsspezifischer Beobachtung. Das macht die Befunde nicht weniger problematisch, denn das Ergebnis solcher Beobachtung ist – wie im Folgenden belegt werden soll –, dass sich die Rede von Bildung im historischen Prozess innerhalb der Wissenschaften vom Menschen zwar eindeutig in ihrer argumentativen Eigenart spezifiziert, dass sie diese Spezifikation aber im Wesentlichen in der Separation von den forschenden Humanwissenschaften entwickelt, nicht selten sogar in bewusster Opposition gegenüber der forschenden Betrachtung der Themen, die für die Bildungsreflexion schon im Ursprung typisch waren und bis heute geblieben sind. Ihre eigentümliche Stellung in den Humanwissenschaften ist also, das gehört zur leitenden These der folgenden Überlegungen, selbst gewählt und bewusst konstruiert. Ihre Position im Totum der „Menschenwissenschaften“, wie man mit Norbert Elias sagen könnte,10 und gegenüber den grundlegenden Referenzen ihrer Argumentation ist dabei auch zunehmend eindeutig geworden. Sie hat sich unter den Optionen, die Elias nennt, also zwischen „Engagement und Distanzierung“,11 für das „Engagement“ entschieden, d. h. eine Option gewählt, die nicht zwingend gewählt werden muss, denn Elias betrachtet diese Referenzen ja nicht als disjunkte Klassen von Argumenten. Für ihn geht es um „wechselnde Balancen“, nicht um „zwei unabhängige Tendenzen“ oder getrennte methodische Prämissen, wenn diese Begriffe als „Denkwerkzeuge“12 fungieren. Auch die theoretische und empirisch forschende Menschenwissenschaft hat für ihn Orientierungsfunktion und „Engagement“ ist ihr insofern nicht fremd. Aber ihre spezifische Leistung als Wissenschaft erfüllt sie erst, wenn sie zugleich die „Distanzierung“ gegenüber ihrem Thema stärkt und einen eigenen menschenwissenschaftlichen „Denkstil“13 aufbaut. Das wird einerseits dadurch möglich, dass sie sich von gesellschaftlichen Ideologien, Vorurteilen und politisch-praktischen Orientierungsmustern
10Diesen
Namen für die umfassende wissenschaftliche Praxis der Reflexion und Forschung über den Menschen lieferte Norbert Elias: „Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. Sie bestehen und bewegen sich in Wirklichkeit nicht dermaßen getrennt voneinander, wie es beim heutigen Forschungsbetrieb erscheint. Sie bilden zusammen mit anderen Strukturen den Gegenstand der einen Menschenwissenschaft.“ (Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a. M. 1987, Zit. S. 60). 11Norbert Elias: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a. M. 1983. Elias ordnet hier die „Menschenwissenschaften“ in die „theoretisch-empirischen Wissenschaften“ ein und stellt sie neben die „physikalisch-chemischen“ und die „biologischen“ Wissenschaften (in: N.E.: Gedanken über die große Evolution. Zwei Fragmente. Fragment I. In: N.E.: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a. M. 1983, S. 187–213, zit. S. 187). 12Elias, 1983, zit. S. 10, und bes. S. 25 ff. für die Schwierigkeiten der frühen Sozialwissenschaften, sich von der „Parteinahme in den Konflikten und Kämpfen ihrer eigenen Zeit“ zu einer distanzierten Perspektive zu emanzipieren. 13Für die Verwendung dieses Begriffs zur Charakterisierung der unterschiedlichen Disziplingruppen vgl. Elias 1983, u. a. S. 51 f. u. ö.
Teil II Die Praxis der Rede von Bildung – Argumente und ihre Spezifikation
161
abgrenzen kann, andererseits dadurch, dass sie ein Repertoire an Theorien und Methoden entwickelt, mit dem sie von den Naturwissenschaften als dem vermeintlich einzigen Modell von Wissenschaft und Forschung unterscheidbar – und ihrem Thema angemessen – wird. Die Menschenwissenschaften nehmen also ihre Welt in einem eigenen Modus der Forschung war, realitätsorientiert, nicht philosophisch, forschend, aber ohne einem Einheitsmodell zu erliegen, jedenfalls ohne auf Forschung zu verzichten und „wirklichkeitsblind“14 zu werden. Das Denken und Reden über Bildung, das ist die These, entwickelt in seiner Praxis dagegen eine Argumentation, die letztlich die Distanz gegenüber Forschung kultiviert und darin seine reflexive Eigenart ausbildet, und zwar in allen Themen die mit der Frage nach Bildung verbunden sind. Spezifikation durch Abgrenzung, das ist der Modus, in dem ihre Reflexionspraxis im Blick auf den Menschen das anthropologische Argument entfaltet, mit der eigentümlichen Konsequenz, dass in der Klärung der Bestimmung des Menschen sich Bildungsreflexion zugleich retraditionalisiert, quasi zu einer säkularen Theologie wird, also eine Denkform wählt und im Blick auf den Menschen präferiert, von der sie sich im Ursprung doch ablösen wollte. Gegenüber der Welt sucht Bildungsreflexion dann im Wesentlichen die Beobachtung in binären Codes, indem sie Bildungswelten und andere Realitäten scharf einander gegenüberstellt. Operativ, also im Blick auf die Möglichkeit von Bildung, ist die Rede von Bildung vor allem durch triadische Formen charakterisiert, die in unterschiedlicher Weise die Formen der Selbstkonstruktion des Subjekts ausweisen, in der Welt, aber auch in der Separation von Welt. In diesen Modalitäten lebt die Rede von Bildung in ihrer Praxis, wie im Folgenden gezeigt wird.
14Diesen
Vorwurf erhebt er gegen das bei Karl Popper unterstellte einheitswissenschaftliche, am Modell der Physik konstruierte Bild von Wissenschaft, vgl. N.E.: Wissenschaft oder Wissenschaften? Beitrag zu einer Diskussion mit wirklichkeitsblinden Philosophen. In: Zeitschrift für Soziologie 14(1985), S. 268–281. Hans Albert: Mißverständnisse eines Kommentars. Ebd., S. 265–267 weist diesen Vorwurf zurück. Elias’ zentrales Argument für eine disziplinäre, theoretisch und methodisch besonderte Analyse der Wirklichkeit durch Wissenschaft und nicht durch Philosophie oder gar Wissenschaftstheorie bleibt davon aber unberührt.
Kapitel 12
Das anthropologische Argument Separierung und Retraditionalisierung
12.1 Bildung, „Bildsamkeit“ und „Bestimmung“ – ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung Im Blick auf die „Natur“ hat die klassische Bildungstheorie in der Idee der „Bildsamkeit“ eine gewichtige, systematisch innovative und themenbezogen eigenständige theoretische Prämisse formuliert. Eingebunden in die historische Debatte der Möglichkeit von Selbstorganisation, inspiriert von naturphilosophischen Überlegungen zum „Bildungstrieb“, war das ein Ausgangspunkt, von dem aus das anthropologische Argument sich intensiv an die humanwissenschaftliche Forschung, auch in den Lebenswissenschaften, hätte anschließen können. Schon im Ursprung zeigen sich allerdings Indizien, wie naheliegend eine andere, z. B. philosophische, Option war und damit aber auch die folgenreiche Weichenstellung, mit der das Thema der Bildung in der Folgezeit in Distanz zu Forschung gestellt wird. Das ist zum einen die Moralisierung des Problems, d. h. ihre Verlagerung in die praktische Philosophie statt in die empirisch orientierte „pragmatische Anthropologie“, in der noch Kant das Thema platziert hatte; es ist zum anderen die Pädagogisierung und Politisierung des Problems, d. h. ihre Verlagerung in eine praktische Kunstlehre und in die Technologie der öffentlichen Erziehung statt in eigenständige Forschung, die solche Effekte der Distanzierung gegenüber eigenständiger Forschung eröffnen könnte. Herbart signalisiert das erste Problem, wenn er den Begriff der Bildsamkeit als „Grundbegriff“ der Pädagogik einführt und damit Schule macht.1 Dabei nennt
1Johann
Friedrich Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen. Göttingen 1835, § 1, S. 1 ff.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_12
163
164
12 Das anthropologische Argument
er zwar dessen umfassende Referenzen,2 konzentriert sich in seinen folgenden Arbeiten aber sogleich auf eine engere Perspektive auf Bildsamkeit: „Aber Bildsamkeit des Willens zur Sittlichkeit kennen wir nur beim Menschen.“ Damit verlagert Herbart die Reflexion von Bildung vorrangig in das Reflexionsfeld der praktischen Philosophie, in die prinzipentheoretische Klärung von „Sittlichkeit“ und in das Handlungsfeld der Pädagogik. Die Frage wiederum, wie denn solche Bildung zur Sittlichkeit möglich ist, wird in seinem Referenzraum nicht von der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft untersucht, sondern von der Psychologie. Die Arbeitsfelder der Menschenwissenschaft werden also früh separiert, sobald Bildung ihr Thema wird. Forschung über den Menschen wandert in andere Disziplinen ab (neben der Psychologie in Soziologie, Geschichte oder Ethnologie), Bildsamkeit als Forschungsproblem wird primär in der Psychologie zum Thema, später auch in der Genetik. Die anderen bildungstheoretisch engagierten Disziplinen, zumal Pädagogik und Erziehungsphilosophie, widmen sich der moralischen und praktischen Bestimmung des Menschen – um eine Unterscheidung aufzunehmen, mit der noch im 20. Jahrhundert die Referenzen einer Pädagogischen Anthropologie sortiert wurden.3 Im bildungstheoretischen Kontext wird damit aber die alte t heologischphilosophische Frage nach der Bestimmung des Menschen erneut prominent. Bildungsreflexionen und Erziehungsfragen werden dadurch offenbar zwangsläufig und immer neu z. B. mit Fragen nach und der Konstruktion von Menschenbildern verbunden,4 und zwar mit ganz divergenten Menschenbildern. Sie mögen zwar alle auf „Humanität“ als Referenz rekurrieren, wie man das vom christlichen bis zum humanistischen, laizistischen bis sozialistischen oder liberalen „Humanismen“ kennt,5 aber es bleibt doch immer positionelle Konstruktion, nur schwer von den Ideologien der sozialen Lager zu unterscheiden. Die Arbeit an solchen Bildern wird trotz dieser bekannten Begründungsfragen und der Probleme der Universalisierbarkeit solcher Bilder bis heute fortgesetzt, ungeachtet der Tatsache, dass die Frage nach dem ‚Wesen‘ des Menschen selbst in manchen erziehungsphilosophischen Kontexten
2„Der
Begriff der Bildsamkeit hat einen viel weiteren Umfang. Er erstreckt sich sogar auf die Elemente der Materie. Erfahrungsmässig lässt er sich verfolgen bis zu denjenigen Elementen, die in den Stoffwechsel der organischen Leiber eingehen. Von der Bildsamkeit des Willens zeigen sich Spuren in den Seelen der edlen Tiere.“, Herbart, ebd. (vgl. auch oben Teil I). 3Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung. (1966) 3. Aufl. 1971. 4Für die bildungsphilosophische Tradition exemplarisch: Eckard Meinberg: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft. Darmstadt 1988; Günther Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt 1985. 5Am Beispiel von „Humanismus“ als Referenz habe ich die Probleme dieser Argumentation exemplarisch diskutiert, vgl. H.-E.T.: H einz-Elmar Tenorth: Humanismus: Tradition eines Begriffs, Referenzhorizont von Bildung. In: Hessische Blätter für Volksbildung 68 (2018) 1, S. 5–16.
12.1 ein Naturkonzept zwischen Selbstorganisation und Moralisierung
165
längst mit Skepsis betrachtet wird und unter Metaphysikverdacht6 gestellt worden ist. Auch die mit solchen Konstrukten verbundene Fixierung auf das Subjekt und seine Autonomie ist schon erziehungsphilosophisch, z. B. in Anschluss an Heidegger bereits in der Bildungstheorie Theodor Ballauffs und seiner Schüler7 oder unter Aufnahme der jüngeren französischen Philosophie, z. B. bei Käte Meyer-Drawe,8 bewusst aus dem Kreis der theoretisch sinnvollen Fragen verbannt worden. Die Vorliebe für Menschenbildkonstruktionen ist unter dem Titel der „missbrauchten Götter“ selbst von einem Theologen jüngst scharf kritisiert worden,9 obwohl man vielleicht vermuten könnte, dass allenfalls die Theologie noch die Disziplin sein könnte, die solches überhaupt noch vermöchte oder sich begründbar zutraut. In dieser Distanz spiegelt sich auch, dass die Geltung des „anthropologischen“ Arguments,10 ja der Status von Anthropologie selbst höchst problematisch geworden ist,11 und nicht allein
6Für
die Kritik an solchen, als Metaphysik beurteilten Positionen u. a. Wolfgang Fischer: Die skeptische Methode kann pädagogisch nicht entbehrt werden. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 58(1982), S. 311–326, sowie für die Rezeption Dieter Jürgen Löwisch/ Jörg Ruhloff/Peter Vogel (Hrsg.): Pädagogische Skepsis. Wolfgang Fischer zum einundsechzigsten Geburtstag. St. Augustin 1988. 7Bereits Theodor Ballauff: Die Grundstruktur der Bildung. Weinheim/Bergstraße 1953; zur Rezeption schon die Arbeiten von Klaus Schaller, systematisch: Christiane Thompson: Selbständigkeit im Denken. Der philosophische Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs. Opladen 2003 und als Einführung in die Diskussion Rudolf M. Kühn: Theodor Ballauff – Revolutionär pädagogischer Denkungsart. Ein Porträt. Frankfurt a.M. 2007. 8Von den zahlreichen Schriften nenne ich nur Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990. 9Friedrich Wilhelm Graf: Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne. München 2009, mit der Pointe: „Aber die Würde des Menschen liegt gerade darin, dass allein Gott selbst ein angemessenes Bild jedes Einzelnen seiner vornehmsten Geschöpfe zu erzeugen vermag.“ (zit. S. 202). 10Julian N ida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013, bes. S. 21 ff. ist deshalb auch skeptisch gegenüber der Anthropologie, allerdings ohne sie vollständig zu meiden. Zu ihrer Historisierung schon Odo Marquard: Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. (1973) In: Ders.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 1982, S. 122–144. 11Die Kritik ihrer Theoriegestalt seit der Aufklärung durch die generalisierte Zuschreibung von „Rassismus“, wie jüngst bei Marc Rölli: Das anthropologische Erbe. Die Verstrickung der Philosophie in die Vorgeschichte des Nationalsozialismus. In: Merkur 762, 66 (2012), S. 1067–1075 sowie ders: Kritik der anthropologischen Vernunft. Berlin 2011, ist allerdings überzogen. Seine Generalthese, Anthropologie sei „die letzte Verirrung der Philosophie“ (2012, S. 1068) ist eine scharfe Diagnose und zugleich eine mutige Prognose, die versuchte Exemplifizierung für die beanspruchten Begriffsstücke seit Kant bleibt aber unhistorisch und in der Belegstrategie zu selektiv, um zu beweisen, dass „eine genaue Rekonstruktion der philosophischen Teilhabe an der Konstitution einer anthropologischen Vernunft, die vererbungsbiologische, rassenhygienische und degenerationstheoretische Ansätze verbindet – und in der NS-Ideologie zuletzt kulminiert“ (2012, S. 1069).
166
12 Das anthropologische Argument
als Lehre von Menschenbildern oder nur im pädagogischen Kontext.12 Die philosophische Anthropologie, deutsche Besonderheit der Reflexion über den Menschen, steht seit langem in Konkurrenz zu kultur- und naturwissenschaftlichen Denkformen. Die scheinbar eindeutige Opposition von Natur und Kultur ist manchen Beobachtern bereits obsolet geworden,13 mehr als eine historische Anthropologie kann man kaum mehr erwarten, trotz aller Renaissancen,14 die das Argument über „den Menschen“ erlebt hat. Die Rede von Bildung, die sich bald selbst als Bildungstheorie bezeichnet, scheint sich trotz dieser geballten Skepsis in ihrer anthropologischen Argumentation der Frage nach dem Menschen und nach gültigen Menschenbildern immer noch verpflichtet zu fühlen. Sie rechtfertigt sich damit, dass sie ihre Argumentation bis heute mehrheitlich als ‚philosophisch‘ versteht, jedenfalls fern der empirischen Bildungsforschung jedweder Couleur, für die sie allenfalls als moralische Instanz fungieren will.15 Sie bleibt damit aber auf die 12Für
einen Überblick: Bernhard Rathmayr: Die Frage nach dem Menschen. Eine Historische Anthropologie der Anthropologien. Opladen/Berlin/Toronto 2013 sowie – für seine Position einer „historischen Anthropologie“ – Christoph Wulf: Pädagogische Anthropologie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18(2015), S. 5–26 und schließlich für die Varianten im internationalen Verständnis Kathryn M. Anderson-Levitt: Educational anthropology and allied approaches in global perspectives. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18(2015), S. 89–100; für meine eigene Position vgl. Heinz-Elmar Tenorth/Ulrike Mietzner: Anthropologie als Thema und Problem in der Erziehungswissenschaft. Vielfalt der Methoden, Desiderat des Pädagogischen. In: U. Mietzner/H.-E. Tenorth/N. Welter (Hrsg.): Pädagogische Anthropologie – Mechanismus einer Praxis. Weinheim/Basel 2007, S. 7–19. 13Eine provozierend-inspirierende Kritik dieses Duals findet sich z. B. bei Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur. (2005) Frankfurt a.M. 2011; eine synthetisierende Betrachtung des Themas liefert Michael Tommasello, vgl. jüngst als Zwischen-Fazit seiner eigenen Arbeiten M.T.: Das ultra-soziale Tier. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau H. 69/2014, S, 97–111, 14Knappe, aber sehr klare Übersichten zum aktuellen Status der nicht allein philosophischen, sondern interdisziplinären Rede vom Menschen geben Richard Saage: Was ist der Mensch? Anmerkungen zum Stand der Anthropologie-Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland. [anlässlich von D. Ganten u. a. Was ist der Mensch? 2008, mit der Frage, ob sich der „anthropologische Spiritualismus, i.e. Plessner et. al – vs. „biologischen Naturalismus“ durchgesetzt hat oder ob es eine dritte Position gibt: „den ganzen Menschen“ zu thematisieren? Saage argumentiert pro Plessner und gegen Gumbrechts These vom Menschen als „Fehlentwicklung der Evolution“ – in Ganten, 2008, S. 237] In: Denkströme, Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 7(2011), S. 213–237; Birgit Recki: Der großgeschriebene Mensch. In: Merkur 768, 67(2013), S. 444–451 und Christoph Menke: Die Lücke in der Natur. Die Lehre der Anthropologie. In: Merkur 787, 68(2014), S. 1091–1095. 15Aktuell und systematisch dokumentieren sich diese Differenzen in den Konflikten über den Status der „empirischen Bildungsforschung“, vgl. für Abgrenzungen und Relationierungen u. a. Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006 (und einer der Autoren bezeichnet das Dilemma: „Denen die Daten – uns die Spekulation“) sowie Dietrich Benner: Bildungstheorie und Bildungsforschung. Grundlagenreflexion und Anwendungsfelder. Paderborn 2008; für die disziplinpolitischen Konsequenzen und die theoriepolitischen Kontroversen auch die Beiträge zum Panel „Bildungsforschung zwischen wissenschaftlichem Anspruch und gesellschaftlichen Herausforderungen – Eine Perspektive für das Jahr 2020“ In: BMBF (Hrsg.): Bildungsforschung 2020 – Herausforderungen und Perspektiven. Dokumentation der Tagung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 29.–30. März 2012. Bonn/Berlin 2014, S. 368–386.
12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften
167
Frage konzentriert, ob sich gegen alle Problematisierung des anthropologischen Arguments nicht doch vom Wesen des Menschen reden lässt, um Ziel und Aufgabe von Bildungsprozessen zu markieren. Dieses Selbstverständnis der ersten und zentralen Aufgabe der eigenen Denkform hat dann allerdings innerhalb der Bildungstheorie, wie sie bis heute gepflegt wird, zu einer so erstaunlichen wie folgenreichen Engführung im Blick auf die Thematisierung der Menschwerdung des Menschen geführt, in der expliziten Abgrenzung von Forschung über den Menschen einerseits, in einer Re-Traditionalisierung der Rede vom Menschen andererseits, die sich in den Konstruktionen des Gebildeten oder wünschenswerter Lebensformen von Bildung nicht nur primär kontrafaktisch und normativ artikuliert, sondern in der Beschreibung wünschenswerter Menschen und Welten die Sprache von Theologie und Kirche annimmt, immun gegen die Realität, allein dem Guten verpflichtet.
12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz gegenüber der Realität von Bildungsprozessen Die Separierung von den forschenden Humanwissenschaften, die Konflikte über deren leitende Begriffe und theoretische Referenzen und die scharfe Abgrenzung der eigenen argumentativen Ansprüche belegen das nachdrücklich. Bildungstheoretiker sperren sich z. B. nachdrücklich, die Wirklichkeit des Aufwachsens und die dafür leitenden Begriffe ihrer Erforschung als Prozess der Bildung zu interpretieren. Die Wirklichkeit des Aufwachsens wird vielmehr abwehrend beschrieben, nicht als Teil der Realität, die den Bildungstheoretiker interessiert, sondern als eine andere, ihnen fremde Wirklichkeit: „jene neutralisierte, mit großen Händen empirisch beim Schopf gepackte oder auch feinsinnig biografie-hermeneutisch ertastete Bildung qua Lernen, Entwicklung, Veränderung, Erfahrung und (soziologisch gedeuteter) ‚Reflexivität‘ in sozial-generativer und identitätsaufbauender Funktion“.16 Das möge die Disziplinen interessieren, deren Leitbegriffe ‚Lernen, Entwicklung, Veränderung, Erfahrung‘ heißen, das habe „jedoch wenig oder gar nichts zu tun“ mit Bildung. „Bildung“ nämlich, „im Sinn einer pädagogisch begründeten und gedanklich umrissenen Aufgabe“, wird aus einer Tradition der Konstitution von kritischer Reflexivität philosophisch bestimmt, gegen die Realität, nicht empirisch, also als historisch-gesellschaftlich gegebene Aufgabe und Herausforderung. Damit negieren solche Theoretiker aber nicht nur die Wirklichkeit des Aufwachsens und Handelns, ihnen fehlt in der Distanz gegenüber einer „soziologisch
16So
Jörg Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 44(1998), S. 411–423, zit. S. 413.
168
12 Das anthropologische Argument
gedeuteten ‚Reflexivität‘“ auch der Blick für die Leistungen der Subjekte angesichts der Wechselwirkung mit der Welt. Im Ergebnis wird sogar – paradox genug angesichts der sonst in der kritischen Bildungstheorie dominierenden Abneigung gegen Pädagogik – wahre Bildung ausgerechnet zur einer „pädagogisch begründeten … Aufgabe“, gegen die basale Prämisse der Bildung als Selbstkonstitution des Subjekts und gegen die Distanz gegenüber der Pädagogik, die im Ursprung der modernen Bildungstheorie mit dem Gedanken der Selbstbildung verbunden war. Auch eine andere bildungstheoretische Selbstblockade gegen die Wahrnehmung der Wirklichkeit der Menschwerdung findet sich immer neu, dann, wenn Theoretiker von Bildung sich zu Prozessen der Aneignung von Welt äußern und dabei begrifflich von ‚Sozialisation‘ abgrenzen. Von Bildung wollen sie nur sprechen, wenn „sich das Individuum ‚möglichst viel Welt‘ aneignet“, freilich so, dass „es die faktisch gegebene Umwelt stets im Zuge der Befassung mit ideellen Objekten mit universalem Geltungsanspruch wie Begriffen, Argumenten und Prinzipien überschreitet.“17 Lässt man noch ganz die immanente Konfusion der Kriterien außer Acht, dass quantitative („viel Welt“) und qualitative Kriterien („überschreitet“) undiskutiert-gleichzeitig zur Geltung gebracht werden, bei solchen Vorgaben wäre allein der theoretische – und irgendwie auch „kritische“, nämlich die gegebene Umwelt überschreitende – Zugang zur Welt als Bildung qualifizierbar. Verständlich wird diese Engführung letztlich aus einem ganz eigentümlichen Begriff von Sozialisation und der Praxis der Wechselwirkung mit Welt. In einem hoch ambitionierten, in der Realisierung aber wenig überzeugenden Versuch über Bildung18 konnte man jüngst sogar lesen, dass Bildung als Form des Umgangs mit Welt sich von „Sozialisation“ so unterscheide wie Selbstbestimmung von Fremdbestimmung im Umgang mit Welt. Bildung ereigne sich erst „als Überschreitung des unmittelbar Gegebenen und des unmittelbar ‚Ansozialisierten‘“. Nicht nur innerhalb der Sozialisationstheorie,19 sondern auch vor dem Hintergrund Humboldtscher Texte über die Form der Wechselwirkung von Mensch und Welt wird man allerdings Mühe haben, das Subjekt als willenloses Objekt des ‚Ansozialisierens‘ zu verstehen oder sich gar etwas „unmittelbar Ansozialisiertes“ vorzustellen – und dennoch am Gedanken der unvermeidlichen Wechselwirkung festzuhalten, wie das die klassische Bildungstheorie für das Mensch-Welt-Verhältnis systematisch unterstellt.
17So
Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umfassenden Begriffs. Opladen, 2011, S. 82, Anm. 11. 18Das war Erneut Krassimir Stojanov: Bildung. Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In: Erwägen Wissen Ethik 25 (2014), 2, S. 203–212; dort habe ich auch explizit und ausführlicher Stellung genommen, vgl. H.-E.T.: Wie sich Bildungsphilosophie die Arbeit leicht macht. In: Erwägen Wissen Ethik 25 (2014), 2, S. 336–338. In seiner „Replik“ (ebd., S. 347–365) ignoriert Stojanov diese und andere theorie- und methodenkritische Einwände gegen seinen Vorschlag. 19Dort wird das Subjekt von Kindheit an als „produktiver Realitätsverarbeiter“ gesehen, vgl. dazu die Arbeiten von Klaus Hurrelmann und die systematischen Hinweise in Teil III und V unten.
12.2 Separierung von den forschenden Humanwissenschaften – Distanz …
169
Solche Interpretationen der Wechselwirkung von Mensch und Welt verweisen auf eine weitere Problemlage in der auf den Menschen bezogenen Begrifflichkeit in der Rede von Bildung, und die liegt in der Verwendung des Begriffs des Subjekts und der Subjektivität.20 Auch diese Begriffe werden in Abgrenzung zu Begriffen wie Lernen oder Sozialisation verwendet, und natürlich im emphatischen Verstande gegen jede als postmodern verurteilte Skepsis gegen emphatische Subjektbegriffe21 verteidigt. An den „Fundamentierungsdebatten“ der Pädagogik wird allerdings immer neu bestätigt, dass die Warnung von Niklas Luhmann – „Das Subjekt ist kein Objekt, was soll es also in der Theorie?“22 – besser beherzigt worden wäre, jedenfalls, wenn der Subjektbegriff Klarheit gewinnen soll. Ulrich Binder kann z. B. für „das Subjekttheorem im argumentativen Einsatz“ nachdrücklich demonstrieren, dass kein Thema – von der „Antipädagogik“ und dem „Mut zur Erziehung“ bis zu den Debatten über die „Postmoderne“ und die „Neurowissenschaften“ oder „Bildung“ – theoretisch zufriedenstellend behandelt wird. In der „praktischen Anwendung“ dominieren die großen Pathosformeln,23 „Mündigkeit“, „Handlungsorientiertheit“, „Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung“, aber schon nicht mehr die selbstkritische Beobachtung des eigenen Scheiterns. Das Subjekt lebt als „Großparadigma“ der Pädagogik (562), in bildungstheoretischen Reflexionen offenbar unvermeidlich als „Standard“ für Theorie und Praxis, als eine „stabile Denkform“, „die konstitutive … und regulative Idee für pädagogische Überlegungen“ zugleich (572). Aber dieser Subjektbegriff regiert in problematischer
20Im
Folgenden nutze ich intensiv die Ergebnisse der Studie von Ulrich Binder: Das Subjekt der Pädagogik – Die Pädagogik des Subjekts. Das Subjektdenken der theoretischen und der praktischen Pädagogik im Spiegel ihrer Zeitschriften. Bern/Stuttgart/Wien 2009 (Nachweise daraus in Klammern im Text), samt der kritischen Hinweise, die ich meiner Rezension dieser Arbeit vorgetragen habe, vor allem im Hinweis auf die Tatsache, dass Binder nicht die Pädagogik insgesamt trifft, sondern nur deren bildungstheoretisches Segment. Aber gerade deshalb ist er einschlägig für meine hier folgende Analyse (vgl. auch meine Rezension in ZfPäd 57, 2011), S. 443–445). 21Als ein Rettungsversuch von vielen – jetzt gegen Foucault – Hermann J. Forneck: Moderne und Bildung. Modernitätstheoretische Studien zur sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung. Weinheim 1992 (vgl. zu Foucault auch II.13.2 unten). 22Niklas Luhmann: Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Über die Kategorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie. (1973) In: N.L.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S. 72–102, zit. S. 72. 23Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002. Bereits 2016 wird das aus den 1960er/70er Jahre stammende Verständnis von „Mündigkeit“ sogar schon als „antiquiert“ bezeichnet: Ioanna Menhard: „Mündigkeit“ – ein zeitgemäßer Begriff? Implikationen und Konsequenzen für den pädagogischen Mündigkeitsbegriff vor dem Hintergrund seines Entstehungskontextes. In: SLR H. 72, 39(2016), 1, S. 73–84, zit. S. 73. Menhard schlägt vor, Mündigkeit „als grenzsensiblen Gedächtnisort“ aufzufassen (83 f.) – als „Gedächtnisort für soziale Fragen, Konflikte, Errungenschaften und Herrschaftsverhältnisse“ – also, anders als bei Kant, abgelöst vom Individuum und seiner Praxis selbst, nur noch systemisch zugeschrieben, vor dem Hintergrund von Heydorn et. al. als „Widerspruch“ in der „neoliberal“ deformierten gegenwärtigen Gesellschaft.
170
12 Das anthropologische Argument
Funktion, als eine „resistente und hermetische“ Denkform, „selbstimmunisierend“, nur „im Spekulativen“ begründet, in „fundamentalistischer Vorausgesetztheit“ eingeführt (245), nicht theoretisch distanziert gehandhabt. Zugleich werden mit dem Subjektbegriff semantische „Fiktionen“ wie „Identität, Autonomie, Emanzipation“ (246, Anm. 198) verbunden, deren theoretischer Status zweifelhaft ist, die aber Karriere machen, wenn sie, wie bei manchen Varianten des Begriffs der Identität,24 mit den eigenen normativen Prämissen übereinstimmen. Das „Subjekt“ ist in der Pädagogik insofern zwar stark präsent, wird aber zuerst doch als Mechanismus der Abgrenzung von den forschenden Sozialwissenschaften genutzt; weder klärt es die Probleme, die Erziehung und ihre Theorie mit dem Menschen haben, noch fundiert es wirklich die Argumentation über Bildung, die es zu begründen beansprucht.
12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte von Individualität und Subjektivität In der Konsequenz leben in der Rede von Bildung auch weiterhin eher alltagssprachliche Zuschreibungen an das Subjekt und an seine spezifischen Qualitäten fort, der Titel der „Persönlichkeit“ etwa oder die Rede vom „Gebildeten“. Auch hier wird, ein weiteres Indiz für Separierung, fachwissenschaftlich verfügbare Theorie – z. B. in der Psychologie der Persönlichkeit25 – in der Bildungstheorie in der Regel eher ignoriert. Dabei sind z. B. die theoretisch explizierten fünf Hauptfaktoren von Persönlichkeitsunterschieden, die big five (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit), nicht nur empirisch gut erforscht, sie erlauben auch den Anschluss an normativ grundierte Debatten. Aber die Bildungstheorie und die philosophische Anthropologie der Pädagogik nutzen sie bis heute nicht, wenn sie Bilder der Person konstruieren wollen. Sie haben sich auch schon früher und mit allen Zeichen der Entrüstung gegen den expliziten Vorschlag für eine „pädagogische Persönlichkeitslehre“ vehement gewehrt, als Heinrich Roth in seiner „Pädagogischen Anthropologie“ die Persönlichkeitspsychologie vorgeschlagen hat, um „das Bild
24So
wird z. B. die vielbeachtete Arbeit von Lothar Krappmann. Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 1969 in ihrer These normativ reduziert und als Appell für die Ermöglichung von Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz rezipiert. Für die Probleme in der Nutzung des Begriffs der Identität vgl. schon Annette M. Stroß: Ich-Identität. Zwischen Fiktion und Konstruktion, Berlin 1991. 25Ein klassisches Lehrbuch ist Jens B. Asendorpf: Psychologie der Persönlichkeit. 4. Aufl. Heidelberg 2007.
12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische Konstrukte…
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des reifen Menschen“ auch als „Erziehungsziel“ zu nutzen und die Rede von den Bildungsidealen zu präzisieren.26 Das ist als Vorschlag in der Erziehungsphilosophie so gut wie nicht akzeptiert worden. Die bildungstheoretische Geschichte des Begriffs der „Persönlichkeit“ ist indes kaum als die bessere Lösung ausgewiesen, sondern eher politischer Slogan geblieben. Nicht erst seit in der Bildungspolitik der DDR die „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ zum Ideal der „sozialistischen Allgemeinbildung“ und zum Leitbild der polytechnischen Oberschule wurde, haben solche Zielvorgaben in der öffentlichen Rede ihre Unschuld verloren. Der Begriff wird zwar immer wieder neu belebt, aktuell u. a. in Programmreflexionen christlicher Parteien,27 ist dort für sich auch durchaus geklärt, hat dadurch aber nicht an begrifflicher Schärfe gewonnen, im Gegenteil seine Parteilichkeit offengelegt. Der Begriff der „Persönlichkeit“28 ist jedenfalls außerhalb der fachspezifischen Forschung nicht eindeutig. Art. 2 unseres Grundgesetzes sichert zwar einem jeden „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ zu, freilich mit der Einschränkung „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Aber wenn der Anspruch in der Verfassung auch ein festes Fundament hat, bedarf es zur Konkretion ja noch der Gerichte. Verfänglich bleibt die Rede also, auch trotz allfällig verfügbarer Goethe-Zitate für den Hausgebrauch der Gebildeten („Höchstes Glück der Erdenkinder, Sei nur die Persönlichkeit“). Der Begriff der Persönlichkeit ist im philosophischen Gebrauch letztlich nicht klar und eindeutig bestimmt. Es gibt viel Kritik (für Adorno: „Der Begriff Persönlichkeit ist nicht mehr zu retten“), aber nur wenig Zustimmung und nur wenig distanzierte Analyse, am besten ist immer noch Arnold Gehlen: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.“29 Aber das versteht nur noch der Experte für
26Heinrich
Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung. (1966) 3. Aufl. 1971, dort (im Vorwort zur dritten Auflage, unpaginiert) auch seine Verteidigung gegen die Kritiker und die etwas resignative Erläuterung, warum er solche „kritische, integrierende und konstruktive Funktionsmodelle“ der Persönlichkeit für sinnvoll und nützlich hielt und hält, als „etwas zugleich Bescheideneres, aber vielleicht pädagogisch Ergiebigeres“ als die große Philosophie. 27Jörg-Dieter Gauger (Hrsg.). Bildung der Persönlichkeit. Hrsg. i.A. der Konrad-AdenauerStiftung. Freiburg/Basel/Wien 2006. 28Einen historisch sehr informativen und theoretisch reflektierten Überblick geben Ulrich Dierse/ Rudolf Lassahn: Persönlichkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 345–352, dort auch die im Einzelnen hier nicht nachgewiesenen Zitate. 29Gehlen kommt zu dieser Bestimmung in A.G.: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek 1957, zit. S. 118, Herv. dort – und als letztes Kapitel, nachdem er unter dem Titel „Spezialisierung und Bildung“ (S. 109–113) dargestellt hatte, wie das technische Zeitalter die alten Formen von „Kultur und Bildung“ unmöglich gemacht hat, weil „Vereinseitigung und Spezialisierung“ regieren, und damit „das Individuum … in einer Teilansicht von sich selbst (verschwindet)“ (112).
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12 Das anthropologische Argument
Gehlen, Bildungsprogramme entstehen dabei nicht.30 Man kann schließlich über Bildung reden, ohne den Begriff zu benutzen, aber wenn man ihn benutzt, bleiben alle Schwierigkeiten erhalten, die auch der emphatische Begriff von Subjekt – oder von Individualität und Identität oder von „Persönlichkeit cum emphasi“31 – heute mit sich führt. Vom Ende der großen Erzählungen sind die Ideal-Begriffe für Personen und wünschenswerte Gestalten des Menschen offenbar am stärksten betroffen und in der Rede von Bildung kann man das allenfalls ironisch nehmen und z. B. im Begriff des Dilettanten32 das Subjekt distanziert beschreiben. Die Normerwartung ist damit unerfüllt. In der Reflexion über die Bildung des Menschen bleiben die Grundbegriffe der praktischen Philosophie, Freiheit, Selbstbestimmung, Autonomie, eindeutig dominant und fundieren die wiederkehrenden Versuche, ein Bild des „Gebildeten“ und damit das Modell der wahren, richtigen und anerkennenswerten Person und ihrer Bildung zu zeichnen. Der Gebildete ist dabei ein Mensch, der in Harmonie mit sich und der Welt lebt, sich selbst, die Menschheit und die Kultur pflegt und höher entwickelt, und zwar kritisch und autonom, der im Einklang mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Handlungsmöglichkeiten seine Identität gefunden
30Gehlens
Bemerkungen zur „Persönlichkeit“ beschließen seine kritische Diagnose der sozialpsychologischen Probleme, ohne den kulturkritischen Pessimismus kritischer Theoretiker Frankfurter Provenienz, denn die von ihm gemeinte „‘Persönlichkeit‘ cum emphasi“ (118, dort) findet bei ihm eine Realität nicht gegen die Gesellschaft, sondern in den „Apparaturen“ selbst, seiner These folgend: „Die Kultur kann daher nicht neben der Apparatur konserviert, sie kann nur in sie hinein gerettet werden.“ (117) Persönlichkeit, so resümiert er, „findet sich … in unserer Zeit vielleicht gar nicht so sehr im abgesonderten Kulturellen, im Literarischen oder Artistischen, sondern da, wo es einer unternimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat selbst zur Geltung zu bringen, sich also gerade nicht von ihm zu ‚distanzieren‘.“ (118).
31Diese,
Gehlens „Persönlichkeit“ (118), grenzt er vom „Über-Routinier“ (115) ab und zeichnet deren Eigenschaften „in dem schwer beschreibbaren Sinne der Geltung des qualitativ Ungewöhnlichen“ (115), in einer Weise, die klassische Bilder des Gebildeten nicht schöner zeichnen könnten, einerseits „subjektiv“, und dann „hat Kultur, wer den Tatsachen gegenüber eine auswählenden und distanzierenden Instinkt behält, wer die Alleinherrschaft von Affekten im Herzen ebenso scheut wie die Abstraktionen im Kopfe; wer einen Sinn hat für die Vielheit der inneren Bedeutungen einer Situation, für das Unausgesagte, Potentielle, Unerprobte, Verletzbare darin … und vor allem, eine intakte Idealität im Menschlichen …“ zeigt (117), sowie, auf der institutionellen Seite, als eine Persönlichkeit, der „die übermäßige Befangenheit und Betörung fehlt, … dem also die Übersicht über sich und die Situation nicht verloren geht und der diese Übersicht handelnd beweist. … In erster Linie ist es heute die Fähigkeit, aus sich selbst heraus in seinem Handeln mehr Motive auszudrücken als notwendig wäre, als erwartet wird, als die anderen tun. Gerade das ‚Auswerten‘ der Situationen des Alltags ist der einzige denkbare Ersatz für ein Verhalten, das besiegelt, und zu dem uns die Zweckapparaturen des gesellschaftlichen Alltags die Gelegenheit versagen.“ Und dann folgt: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.“ – und er singt ihr Lob, weil für ihn die Institution, vor allem das Recht, „den Idealen wie Freiheit oder Gerechtigkeit eine Chance .. geben, sich zu materialisieren.“ (117) – und mehr kann man von einer Persönlichkeit kaum erwarten. 32Roland Reichenbach: Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne. Münster 2001.
12.3 „Persönlichkeit“ werden, „gebildet sein“ – Bildungstheoretische …
173
hat, ein wohlgebildeter Mensch eben. Theorie ist das noch nicht, allenfalls Wiederbelebung der Tradition, obwohl seit Paulsens Unterscheidungen33 und bis zu Bourdieus Analysen die soziologischen Implikationen in der Konstruktion der feinen Unterschiede präsent sind, denn Sekundärattribute und Zuschreibungen über Zertifikate oder Insignien des Besuchs von Bildungseinrichtungen verdecken nur die Verlegenheiten, die in den Bildern des Gebildeten tradiert werden. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, die Sozialfigur des Gebildeten zu bestimmen und – ganz ohne Ironie – die alte Frage neu zu beantworten: „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ Dann wird Bildungstheorie zur Lehre vom guten Menschen, säkulare Religion schon in der Sprache. Für den Philosophen Peter Bieri, der sich jüngst an dieser Frage versucht hat, ist Bildung natürlich Selbstbildung, etwas, „das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein. Wie kann man sie beschreiben?“34 Letztlich weiß er schon vorher, gebildet wie er ist, welche Beschreibungen er unter dem Titel des Gebildeten akzeptieren will, die petitio ist unverkennbar. Es geht, darauf läuft seine Konstruktion der Dimensionen35 des erwünschten Verhaltens hinaus, um das Wahre, Gute, Schöne, in allen Dimensionen, und zwar in der höchst möglichen Form des menschlichen Verhaltens, die man sich nur wünschen kann36: „Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische
33Vgl.
unten Kap. 13 (4). Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? (2005) – nicht zufällig als Semestereröffnungsrede an einer Universität gehalten. Ich zitiere Bieri nach der Paraphrase in http://diepaideia.blogspot. de/2014/05/peter-bieri-und-die-bildung-teil-1./teil-2.html (zuletzt eingesehen 04.03.2015), vor allem auch, um zu zeigen, wo und wie er rezipiert wird. 35Für die Dimensionierung auch der nahezu textidentische Essay – „Wie wäre es gebildet zu sein?“ – in NZZ 06.11.2005: Dort wird Bildung in den folgenden neun Dimensionen bestimmt: als Weltorientierung, als Aufklärung, als historisches Bewusstsein, als Artikuliertheit, als Selbsterkenntnis, als Selbstbestimmung, als moralische Sensibilität, als poetische Erfahrung und als leidenschaftliche Bildung. Und auch: „Der Gebildete ist an seinen heftigen Reaktionen auf alles zu erkennen, was Bildung verhindert. Die Reaktionen sind heftig, denn es geht um alles: um Orientierung, Aufklärung und Selbsterkenntnis, um Phantasie, Selbstbestimmung und moralische Sensibilität, um Kunst und Glück. … Der Gebildete sieht jede Kleinigkeit als Beispiel für ein großes Übel, und seine Heftigkeit steigert sich bei jedem Versuch der Verharmlosung. Denn wie gesagt: Es geht um alles.“ 36Ausführlich paraphrasiert der blog – mit Namen paideia, also Bildung – was Bieri sagt und meint. Das muss hier nicht wiederholt werden, schon weil man die Referenzen im klassischen Bildungsdenken leicht erkennt, bis hin zur neuen Dualisierung im alten Schema von Bildung vs. Ausbildung. Die Topik solcher Bestimmungen ergibt sich auch, wenn man Paralleltexte studiert, vgl. z. B. Hans-Ulrich Musolff: Bildung. Der klassische Begriff und sein Wandel in der Bildungsreform der sechziger Jahre. Weinheim1989, S. 324–327. 34Peter
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12 Das anthropologische Argument
ensibilität, um Kunst und Glück. Gegenüber absichtlich errichteten HinderS nissen und zynischer Vernachlässigung kann es keine Nachsicht geben und keine Gelassenheit.“ Kurz: „Es geht um alles.“ Und wer wagte da zu widersprechen? Erinnerungen werden damit ja auch geweckt, an Bilder des Gebildeten, wie sie z. B. aus der Romantik vorliegen. Für Friedrich Schlegel war die souveräne Disposition über die eigene Artikulation von Individualität das bedeutsame Unterscheidungsmerkmal: „Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man sein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.“37 Aber wer kann das schon, „nach Belieben“ und „zu jeder Zeit“? Wer ist wirklich, „Autor“38 seiner selbst, wie man den Gebildeten ja auch bezeichnet? Marx war wenigstens nüchtern genug, so etwas wie die freie Disposition über die eigenen Handlungsmöglichkeiten erst nach der vollendeten Revolution zu erwarten, wenn ein „Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann … heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“39 Aber das wird schon in einem Kontext formuliert, der nicht primär oder gar allein von der Rhetorik des Wünschenswerten geprägt ist, wenn über den Menschen geredet wird, sondern von einer nüchternen historischen Anthropologie, die auf Wissenschaft und Forschung setzt, nicht auf philosophische Spekulation und die Rhetorik der Programme – davon wird noch die Rede sein. Trotz solcher Einwände, das Bild des Gebildeten lebt, nicht zuletzt von der intuitiven Überzeugungskraft der negativen Gegenbilder. Verfallsformen der ungebildeten Person haben nicht zufällig eine genauso lange Geschichte wie die emphatisch besetzten Beschreibungen, nicht erst in der Kritik der „Bildungsphilister“ im ausgehenden 19. Jahrhundert.40 An Hegels Charakterisierung des „Ungebildeten“ kann man erinnern. Er wird zweifach, aus dem Verhalten gegenüber „den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes“ und „im Verhältnis zu anderen Menschen“ geklärt. Ungebildet ist demnach, man meint Knigge zu lesen, wer „sich nur gehen lässt, und keine Reflexionen für die Empfindungen der Anderen hat. Er will andere nicht verletzen, aber sein Betragen ist mit seinem Willen nicht in Einklang. Bildung ist also Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt. Die wahre Originalität verlangt, als die 37Friedrich
Schlegel: Kritische Fragmente. (55) In: F.S.: Werke in zwei Bänden. Berlin/Weimar Bd. 1, 1988, S. 173. 38Diese Ambition der Tradition erneuert als Bestimmung von Bildung Nida-Rümelin, 2013, u. a. S. 246. 39Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. (1846/1932), 1971, S. 33; für den Kontext bei Marx und in der Marx-Rezeption vgl. die ausführliche Diskussion unten, II. 14. 40Für die Geschichte und Konstruktion dieses Bildes Remigius Bunia/Till Dembeck/Georg Stanitzek (Hrsg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin: Akademie 2011 (und näher die Hinweise unten in IV.23, bes. Anm. 37).
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …
175
Sache hervorbringend, wahre Bildung, während die unwahre Abgeschmacktheiten annimmt, die nur Ungebildeten einfallen.“41 Damit kann man auch wieder Bieri verbinden, freilich nur in der Kurzversion des Gebildeten: „Man lernt die Welt kennen, und man lernt das Lernen kennen“. Das wird wenig Widerspruch finden, aber man sieht auch, dass sich die Kurzversion auch jenseits der emphatischen Beschreibungen, die Bieri sonst gibt, vertreten und erläutern lässt, z. B. im Kontext gesellschaftlicher Erwartungen, wie sie z. B. Hegel formuliert. Aber angesichts solcher emphatischen Versionen von Bildung und Gebildeten kann man für die Argumentationstypik der Bildungsreflexion im Blick auf den Menschen zuerst festhalten: Es sind primär Konstruktionen des Wünschenswerten, auf die man hier trifft, Ideale des Menschen und Bilder idealer Menschen, fern der Realität des Aufwachsens und Handelns werden sie konstruiert, in allen modernen Gesellschaften, von allen Ideologien, allen Parteien, in einer Sprache, die aus dem schlichten Argument pro bono, contra malum lebt, in der Überzeugungskraft, die dem Guten immer innewohnt, weil das Böse nicht rechtfertigungsfähig ist. Die Versuche zur Bestimmung des Menschen kehren damit zu den Formeln von Religion und Kirche zurück, zu einem Vergewisserungsmodus, der dem Glauben innewohnt, und zu einer Sprache, die in der Gemeinde der Gläubigen akzeptiert wird, den Ungläubigen aber bekehren und nicht überzeugen will. So schön sich diese Bilder lesen, ihr Makel ist ihre Idealität und ihr ungelöstes Problem ist die zugleich abgewiesene Frage, in welcher Beziehung die historisch-gesellschaftliche Realität zu solchen Konstruktionen steht. Denn die zentrale Frage wird ja nicht beantwortet: Wo gibt es diesen Gebildeten jenseits seiner liebevollen Beschwörung und der Bekräftigung, die man ihr natürlich geben will? Zunächst lernt man doch nur, dass man sich kaum zu den Gebildeten zählen kann, und vor allem entsteht die Frage, welche Welten sich als Bildungswelten auszeichnen lassen? Fragt man nach Bildung als (idealer) Lebensform, nach aktuellen Bildern der Welt, die „Freiheit“ und die „Mannigfaltigkeit der Situationen“ verbinden, dann zeigt sich die nächste Eigenart, die mit dieser Art von Bildungsreflexion verbunden ist: Es sind Bilder des guten Lebens und der Befähigung zum guten Leben, die dem Bild des Gebildeten korrespondieren, eine tautologische Duplikation des guten und gebildeten Subjekts auf der Ebene der Sozialität.
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“ Bildungsreflexion hat schon in ihrer Ursprungsphase intensiv – und letztlich ohne Konsens – darüber diskutiert, ob sich spezifische Bildungsgüter und Bildungswelten auszeichnen lasen, die Gewähr dafür bieten, dass der Gebildete möglich
41Hegel,
In: Grundlinien der Philosophie des Rechts. hrsg. von Reichelt, Frankfurt (usw.), § 187, Zusatz, S. 173, Anm. 2.
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12 Das anthropologische Argument
wird. Bis heute sind immer neue Versuche zu beobachten, diese Frage zu klären und z. B. auf dem Weg der Auszeichnung von Traditionen, Bildungsgütern und Kulturen Bildungswelten zu zeigen, deren Geltung unbestritten ist und deren Leistung den erwarteten Zielen entsprechen kann. Hier schlägt immer neu die Stunde der Klassiker und einer nachgehenden philosophischen Interpretation, die Traditionen als Verpflichtung oder doch zumindest als Orientierungsmuster meint auszeichnen zu können. Die Geisteswissenschaften haben hier, traditionell, eine ihrer wesentlichen Aufgaben gesehen. Für Hans-Georg Gadamer z. B., den Nestor der deutschen Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts, ist „Bildung“ einer der vier wesentlichen „humanistischen Leitbegriffe“42 und in der Auslegung einer nach wie vor als gültig betrachteten Tradition auch eindeutig bestimmbar. Gadamer sucht diese Bestimmungen in der Zeit nach Goethe, bei Hegel und anderen Philosophen, durchaus in deren Bahnen.43 Bildung (neben sensus communis, Urteilskraft und Geschmack) wird dabei zum Titel für eine Haltung zur Wirklichkeit, die mit einem Geltungsanspruch eigener Art auftritt und den Gebildeten charakterisiert. Für Gadamer ist es bei der Frage nach den relevanten Bildungsgütern und -welten sogar „im Grunde eine Selbstverständlichkeit, daß nicht die Mathematik, sondern die humanistischen Studien hier bestimmend sind.“44 Ein ebenfalls der Hegel-Tradition nahestehender Philosoph wie Theodor Litt würde diese Abwertung der Mathematik und damit auch der Naturwissenschaften aber durchaus bezweifeln und „Naturwissenschaft und Menschenbildung“45 nicht als Widerspruch, sondern als notwendige, wenn auch spezifisch modellierte Koppelung verstehen. Die „zwei Kulturen“ leben also nicht notwendig im Streit.46
42Hans-Georg
Gadamer: Wahrheit und Methode. (1960) 7. Aufl. Tübingen 2010, zit. S. 15 ff. kann man z. B. lesen. „Bildung als Erhebung zur Allgemeinheit ist also eine menschliche Aufgabe. Sie verlangt Aufopferung der Besonderheit für das Allgemeine“ (Gadamer, zit. S. 18) – und die Rede von Bildung und Entfremdung wird entfaltet, wie sie bei Hegel zu finden ist (vgl. dazu meine Erläuterungen, unten Kap. 14.2.). 44Gadamer, ebd., S. 24. 45Theodor Litt: Naturwissenschaft und Menschenbildung. (1952) 2. Aufl. Heidelberg 1954. Für Litt sind die Naturwissenschaften „eine geistige Großmacht geworden, die an den Seelen des Menschen auch da modelt, wo man sich ihren Problemen und Methoden denkbar ferngerückt glaubt.“ (Vorwort 1952). Aber natürlich polemisiert er gegen „den imperialistischen Drang der rechnenden Naturwissenschaft“ und sieht deren spezifische Möglichkeiten und „Grenzen“. Die Diskussion war mit Litts frühen Texten nicht beendet, vgl. zu Litts Bildungsphilosophie insgesamt und zu Bildung „im Spannungsfeld von ‚Sache‘, ‚Prozess‘ und ‚Mensch‘“ jetzt Holger Burckhart: Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Darmstadt 2003, bes. S. 136 ff. 46Die Tradition dieses Streits (der schon vor Snow existierte) schildert Werner Kutschmann: Naturwissenschaft und Bildung. Der Streit der „Zwei Kulturen“. Stuttgart 1999 – im Fazit mit einem pädagogisch-fachdidaktischen Plädoyer für den „Bildungswert der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer“. 43Dann
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, Zivilisation, das „gute Leben“
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Die „andere Bildung“,47 die bis heute gegen die Dominanz der „humanistischen Studien“ verteidigt werden muss, um auch die Naturwissenschaften und die Mathematik als legitime „Bildungsgüter“ zu rechtfertigen und das Schisma der „zwei Kulturen“ aufzuheben, bekommt also schon in der geisteswissenschaftlichen Reflexion ihr Recht. Aber diese Tatsache belegt zugleich, dass die Geisteswissenschaften – und schon gar nicht im Konsens – oder die Berufung auf die abendländische Tradition keine hinreichenden Formen der Auszeichnung von Bildungswelten angesichts der Pluralität der Bildungskonzepte und Ziele darstellen. Auch für den „Humanismus“ als Lebensform wird man das eher bezweifeln, ungeachtet der Tatsache, dass er intensiv und vielfach beansprucht wird – aber aus konkurrierenden, unversöhnbaren Positionen. In der deutschen Tradition war der Begriff der „Kultur“ – neben dem der „Nation“ – einer der Platzhalter für die einzig wünschbare Bildungswelt. Als hohe Kultur konzipiert und in der ihr eigenen Klassizität weitgehend unbefragt tradiert, wurde „Kultur“ zu einer dominierenden Referenz im Komplex der idealistisch verstandenen Bildung.48 Im Rückblick auf die politisch fatalen Konsequenzen dieser Orientierung zeigt sich indes besonders stark, dass sich wegen dieser Referenz die Kritik an Bildung als einem deutschen Syndrom auch besonders intensiv bestätigt sieht. Das haben im Übrigen schon deutsche Beobachter im 20. Jahrhundert selbst gesehen, auch nicht zufällig angesichts des Nationalsozialismus, aber mit selbst noch irritierend-changierenden Urteilen. Thomas Mann z. B. formulierte 1939 kritisch gegen den „idealistischen Bildungsidealismus“,49 dass er zugunsten von „Kultur“ „das politische Element geringschätzig“ ignoriert habe, und betonte, selbstkritisch auch gegen seine eigenen früheren Überlegungen in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918), „wie sehr die Unglückseligkeit der deutschen Geschichte und ihr Weg in die Kulturkatastrophe des Nationalsozialismus mit der Politiklosigkeit des bürgerlichen Geistes in Deutschland zusammenhängt, seinem gegen-demokratischen Herabblicken auf die politische und soziale Sphäre von der Höhe des Spirituellen und der ‚Bildung‘“.
47Deren
Legitimität muss aber offenbar bis heute im apologetischen Duktus immer neu begründet werden, vgl. z. B. Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001 – der explizit ein Buch attackieren und ergänzen will (Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a.M. 1999, u.ö.), das die Naturwissenschaften im Wesentlichen wieder aus dem Kanon dessen, „was man wissen muss“, ausgeschlossen hat – und insofern ein verengtes Menschen- und kulturelles Leitbild wieder belebt. 48Für die problematische Tradition der Koppelung von Bildung und Kultur als dominierendes deutsches „Deutungsmuster“ Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Frankfurt a.M. 1994; für die von dieser Koppelung affizierten deutschen Gelehrten und Intellektuellen Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins. Cambridge 1969 (dt.: Die Gelehrten. Stuttgart 1983). 49Thomas Mann: Kultur und Politik. (1939) In: T. M.: Politische Schriften und Reden, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1960. Taschenbuchausgabe 1968, S. 59–65, zit. S. 59, S. 60 für das folgende Zitat.
178
12 Das anthropologische Argument
Vor allem die Unterscheidung von „Kultur“ und „Zivilisation“ lieferte im deutschen Bildungsdiskurs wahrscheinlich das stärkste und folgenreichste Exempel für diese mit der Rede von Bildung verbundenen Praktiken. Bei Thomas Mann selbst sind die widersprüchlichen Implikationen solcher Unterscheidungen in ihrer ganzen Ambivalenz und Historizität aufzufinden. „Kultur“, positiv und werthaft besetzt, wird in der deutschen Tradition bis ins 20. Jahrhundert im Allgemeinen als hohe und bewahrenswerte Kultur in einer kämpferischen Codierung scharf abgesetzt von „Zivilisation“. Besonders in der von Freund-Feind-Denken bestimmten Situation des Ersten Weltkriegs und danach dominiert diese Codierung zur Stilisierung der Vorzüge des nationalen Geistes und zur Stabilisierung der nationalen Identität. Aber es gab auch Gegenstimmen, ganz früh und selbst innerhalb der hohen Kultur. Sogar bei Thomas Mann kann man im November 1914 so überraschende wie provokante Thesen über diese Unterscheidung lesen. 1914 konstruiert er zwar auch binär, aber eher in der Tradition der Aufklärung und von Kant, d. h. im Lob von Zivilisation, Zivilisierung und Zivilität. Der Anfang formuliert zunächst nur eine Unterscheidung: „Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur.“50
Aber dann überrascht er doch. Nicht nur, dass Thomas Mann die scheinbar unbezweifelbaren Gegensätze selbst dementiert, er problematisiert auch die der Kultur meist unbefragt unterstellte und positiv bewertete Normativität: „Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei es das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar, Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen.“
Davon hebt er Zivilisation umso schärfer positiv ab: „Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, – Geist. Ja, der Geist ist zivil, ist bürgerlich: er ist der geschworene Feind der Triebe, der Leidenschaften, er ist antidämonisch, antiheroisch, und es ist nur ein scheinbarer Widersinn, wenn man sagt, daß er auch antigenial ist.“
Diese im zeitgenössischen deutschen Kontext eindeutig positive Besetzung von Zivilisation hat noch nichts von den binären Feindbildkonstruktionen, die später im Namen des Gegensatzes von Kultur, gleich deutsch und gut, und Zivilisation, gleich westlich und verderblich, formuliert wurden. Diese Analysen zeigen auch
50Thomas
Mann: Gedanken im Kriege. (1914) In: T.M.: Politische Schriften und Reden. (1960) tb-Ausgabe, Bd. 2, Frankfurt a.M./Hamburg 1968, S. 7–20, zit. S. 7, auch für die nachfolgenden Zitate. Der Text wurde zuerst im November 1914 in der Neuen Rundschau publiziert.
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …
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nicht die stereotype Konstruktion, die ebenfalls von Thomas Mann, 1918,51 formuliert und akademisch verbreitet wurde.52 Aber, Wahrnehmungsmuster haben offenbar auch personal ihre eigene Historizität, der Thomas Mann von 1939 war eher stilbildend. Anders als in solchem Rekurs auf die problematische nationale Tradition hat die jüngere, auch internationale Diskussion, in der Referenz auf das „gute Leben“ und die je individuelle Ermöglichung eines solchen „guten Lebens“ einen Ausweg aus den offensichtlichen Begründungsdilemmata der traditionalen Rede von Bildungswelten gesucht. Die Kategorie des „guten Lebens“, die in der internationalen Debatte über Bildungsprozesse inzwischen eine große Rolle spielt,53 wird sogar aktuell im Nationalen Bildungsbericht der Bundesrepublik zur kriterialen Klärung der normativen Dimensionen von Teilhabe beansprucht und u. a. innerhalb der deutschen Sozialpädagogik als Aufforderung verstanden, die zur Teilhabe am guten Leben notwendigen Fähigkeiten zu klären. Unverkennbar ist trotz so heterogener Aufmerksamkeit für das Konzept des guten Lebens dennoch, dass in den dominant außerdeutsch geführten Debatten über das gute Leben und im Kontext des sog. capability-approaches und bei den bisher beteiligten Theoretikern je nach dem eigenen Theoriekonzept keineswegs
51Denn
die frühen Einsichten haben ja nicht verhindert, dass Thomas Mann in seinem antidemokratischen Pamphlet der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ 1918 nicht nur sagt, dass „Demokratie, daß Politik dem deutschen Wesen fremd und giftig sei“ (22), sondern auch die frühere Codierung jetzt wertthematisch anders besetzt: „und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ (23, Herv. dort). Im Begriff des „Zivilisationsliteraten“ (S. 39–50) kritisierte er den „Anhänger der literarischen Zivilisation“, den Liebhaber Frankreichs (denn er „gehört mit Leib und Seele zur Entente, zum Imperium der Zivilisation“ – 42, er ist „national französisch“ – 45), kritikbedürftig „in seiner bedingungslosen Vereinigung mit der Welt der Zivilisation, der Literatur, der herzerhebend und menschenwürdig rhetorischen Demokratie“ (41) (als Prototypen in diesen Beschreibungen darf man durchaus seinen Bruder Heinrich unterstellen). Hier sah er nur noch die „Politisierung, Literarisierung, Intellektualisierung, Radikalisierung Deutschlands“, deren Ziel er insgesamt so charakterisierte: „es gilt, um das Lieblingswort, den Kriegs- und Jubelruf des Zivilisationsliteraten zu brauchen, die Demokratisierung Deutschlands, oder, um alles zusammenzufassend und auf den Generalnenner zu bringen: es gilt seine Entdeutschung … „– und dann folgt die rhetorische Frage: „Und an all diesem Unfug soll ich teilhaben?“ (T.M: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: T.M.: Politische Schriften und Reden, Bd. 1, tb-Ausgabe, Frankfurt a.M. 1968, zit. S. 50. Herv. dort). 52Das bekannteste Pamphlet liefert die „Wesenskunde“ des Berliner Romanisten Eduard Wechßler: Esprit und Geist. Versuch einer Wesenskunde des Deutschen und des Franzosen. Bielefeld/Leipzig 1927. Aber es gab auch schon 1927 scharfe Kritik an solchen Phantasmen, vgl. die Rezension von Viktor Klemperer in Deutsche Literaturzeitung 48(1927), Sp. 2241–2250 sowie im Kontext der Debatte über Kulturkunde ders.: Immer wieder ‚Kulturkunde‘. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 2(1928), S. 264–280. Dort kritisiert Klemperer erneut die „Trug- und Zerrbilder“ von Wechßler als „krasse Karikaturen“ (277) und betont, dass man das Thema des „Volkscharakters“ nicht „national“ interpretieren dürfe. 53Für das Thema u. a. Kirsten Meyer: Bildung. Berlin/Boston 2011, bes. S. 81 ff.; vgl. auch Teil IV unten für die ausführliche Debatte im Kontext von „Bildungsgerechtigkeit“.
180
12 Das anthropologische Argument
Konsens besteht. Die politische Hintergrundphilosophie ist zwischen Utilitarismus, Liberalismus und Argumenten aus dem Kontext des Kommunitarismus höchst kontrovers. Dissens gibt es auch für die Frage, was denn das „gute Leben“ bedeuten kann, an dem teilhaben zu können wünschenswert sei. Auch in der Diskussion der Fähigkeiten, die dafür notwendig sind und Ziel öffentlich organisierter individueller Bildungsprozesse sein sollten, sieht man eher Dissens. Intensiviert durch die Rezeption des Capability-Ansatzes (in den diversen Varianten von Martha Nussbaum bis zu Amarthya Sen), zeigt diese Diskussion inzwischen eher alle Eigentümlichkeiten, die auch für die tradierte westeuropäische und deutsche Rede von Bildung typisch sind: Sie ist einschlägig für das Thema der Bildung, weil – mit Humboldt zu reden – auch hier nach den Totum der „Kräfte“ gefragt wird, die zu einem Ganzen zu bilden sind, und weil zugleich nach den Voraussetzungen gefragt wird, die zur Bildung dieser Kräfte notwendig sind. Nur, „Freiheit“ und „Mannigfaltigkeit der Situationen“ reicht heute als Antwort offenbar nicht mehr aus, ja bestimmte Konzepte von Freiheit werden als „neoliberal“ stark problematisiert. Auf Eigenarten der bildungstheoretischen Debatte stößt man aber auch in der Form der Kommunikation, d. h. auf lagerhafte Abschottung, deutliche Politisierung und theorieinterne Fraktionierung, und zwar für alle Fragen, nach dem guten Leben wie nach den individuellen Fähigkeiten. Eine relativ gelassene, philosophisch im Anschluss an Aristoteles formulierte Interpretation, wie sie für die Frage des guten Lebens z. B. Julian Nida-Rümelin gibt, hat jedenfalls die Pädagogen noch nicht überzeugt. Auch er kennt selbstverständlich die Fraktionen, die in der Bestimmung des „guten Lebens“ eine Rolle spielen, er versucht aber die Konfrontation liberalistischer, utilitaristischer und kommunitaristischer Konzepte bildungstheoretisch aufzulösen. Bildung, seine „kulturelle Leitidee“,54 begründet er sozialphilosophisch mit dem aktuellen Selbstverständnis von Staat, Gesellschaft und Kultur, also mit Demokratie, Verantwortung, Freiheit, Rationalität, Risikoethik und der Prämisse der „Gleichwürdigkeit aller Menschen“ (244).55 Sein Programm einer humanen Bildung orientiert sich dann, triadisch, an den damit gegebenen Leitbegriffen: Rationalität, Freiheit, Verantwortung für die „Grundlagen“ der Bildung, an Lebensform, Wissen und Wissenschaft in ihrer Relation, um die „humane Vernunft“ zu klären, an Einheit der Person, des Wissens und der Gesellschaft, um die Prinzipien einer „humanen Bildungspraxis“ aufzuzeigen. Bildung wird – wie im ausgehenden 18. Jahrhundert – als „Autorschaft des eigenen Lebens“ bestimmt, beim Bildungsziel gehe es um die „philosophische Klärung der Bedingungen eines gelingenden Lebens“ (117).
54Julian
Nida-Rümelin: Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg 2013, Zitate daraus im Folgenden in Klammern im Text. 55In seinen weiteren sozialphilosophischen Vorarbeiten erkennt man insgesamt den Themenkreis der Bildungsreflexion, dem er sich philosophisch einordnet, u. a. in eigenen Büchern zu den Themen Strukturelle Rationalität (2001), Über menschliche Freiheit (2006), Verantwortung (2011) – und „Risikoethik“ (2012), sowie als Philosophie einer humanen Ökonomie „Die Optimierungsfalle“ (2009) und „Philosophie und Lebensform“, 2006 „Demokratie und Wahrheit“ sowie „Humanismus als Leitkultur“ (2006).
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …
181
Die Referenz dafür ist die „eudaimonia“-Argumentation (Nida-Rümelin S. 167) seit Aristoteles. In dieser Interpretation sind gebildete Menschen „Wesen, die sich von Gründen leiten“ lassen, „Verständigung“ suchen und auf ein „Orientierungswissen“, d. h. auf kanonisches kollektives Wissen, angewiesen sind. Das ergibt insgesamt das Plädoyer für eine Lebensform, die von Wissen und Wissenschaft regiert wird, denn hier regiert „epistemische Rationalität“56 sowie – durchaus abgrenzend gegenüber dem Alltagsduktus der Bildungsrede – ein „unaufgeregter Realismus“ (133). Die „humane Bildungspraxis“ und die Ermöglichung eines guten Lebens wird von „Tugenden“ aus entworfen: „dianoetisch“, also erkennend und urteilend, „ethisch“, im Blick auf die moralischen Fragen, sowie „emotional“. Tugenden sind für ihn „nichts anderes als Wertungen, Einstellungen und Entscheidungen, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringen“ (169). Auch ihre Lehrbarkeit gilt nicht als problematisch: Sie gelingt – für die ethischen Tugenden, – in der menschlichen Praxis, in Schulen für die kognitive Seite, ohne dass diese Dimension alle anderen schulischen Erwartungen überlagern dürfte (noch sieht er in Schulen „eine kognitive Schlagseite“ [178]), und der Ort der emotionalen Bildung bleibt noch zu finden. Natürlich geht es nicht nur um „Zivilisationstechniken“ (S. 11), aber auch nicht um eine Abwertung bestimmter Praxen und Fähigkeiten, z. B. der beruflichen zugunsten der allgemeinen Bildung, sondern gegen Selektion und Separation und für Egalität und eine Kultur der „Anerkennung“ auch in den Dimensionen der Arbeit; selbst in der Bezahlung sollten z. B. geistige und körperliche Arbeit gleichgestellt werden. Das ist ein klassisches Bild des guten, von anerkannten Tugenden regierten Lebens. Gegenüber anderen Philosophen zeichnet Nida-Rümelin sich dadurch aus, dass er konkrete Vorschläge für die Praxis, jetzt: des Bildungssystems, erst aus einem interdisziplinären Gespräch mit den beteiligten Wissenschaften und anderen Akteure erwartet. Philosophie, auch Bildungsphilosophie, und Bildung selbst gelten jedenfalls nicht als „Lösungsinstanz aller gesellschaftlichen Probleme“, hier findet man einen „Beitrag zur Humanisierung“ (244), nicht mehr. In der sozialpädagogischen Rezeption des capabality-Ansatzes dominiert dagegen eine sehr viel stärker gesellschaftskritische und politische Perspektive, bei der Aristoteles57 allerdings im Hintergrund begründungstheoretisch virulent bleibt.
56So
auch Nida-Rümelin, Akademisierungswahn, 2014. Nussbaum orientiert sich an dieser Tradition, in Abgrenzung von liberalen und sich als links verstehenden kommunitaristischen Positionen zugleich, vgl. u. a.M.N.: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: M.Brumlik/H. Brunkhorst: Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1993, S. 323–361; dies.: Aristotelian Social Democracy: Defending Universal Values in a Pluralistic World. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2003), S. 115–129, ein Text im Übrigen, den sie am 01.02.2001 zuerst beim Kulturforum der SPD als Vortrag gehalten hat; für ihr Plädoyer für critical thinking, im Anschluss auch an R. Tagore und unter Berufung auf Sokrates, schließlich M.N.: Education and Democratic Citizenship: Capabilities and Quality Education. In: Journal of Human Development 7(2006), 3, S. 385–395, bes. S. 388 ff. für das Programm einer Education for Freedom. 57Martha
182
12 Das anthropologische Argument
Jetzt wird dafür plädiert,58 die Frage nach dem guten Leben, die immer „eine projektive Antizipation eines guten Lebens“ darstelle, nach präzisen „Kriterien“ zu beantworten. Die Erwartung ist, dass gegen „utilitaristische Irrtümer“ und rein subjektive Projektionen „eine ‚objektive‘ bzw. ‚objektivierbare‘ Bestimmung des guten Lebens“ und damit auch der dafür notwendigen Fähigkeiten durchaus möglich sein kann. Orientiert an den „adaptiven Präferenzen“, mit denen geklärt werden soll, wie die „Anpassung“ an die „eigenen objektiven Lebenssituationen“ möglich ist, und zwar so, dass auch ihre Gestaltung eröffnet wird, kann der Capabilities-Ansatz deshalb auch explizit als Bildungstheorie59 interpretiert werden. Die gesuchten „Fähigkeiten“ werden „als Teil einer objektiven praktischen Lebensführung“ verstanden. Damit ist zunächst eine Konzentration auf „tatsächlich realisierbare ‚Funktionsweisen‘“ statt auf „Ressourcen – als Mittel zur Zielerreichung –“ angezielt, d. h. auf „die Kombinationen von Tätigkeiten und Zuständen einer Person“ (137), vor allem im Blick auf „Konvertierungsfaktoren“ (Sen), d. h. auf „personelle, sozial-kulturelle und politisch-institutionelle Einflüsse und Machtverhältnisse …, die es unterschiedlichen AkteurInnen in selektiver Weise erlauben, Ressourcen, Güter und Dienste in eigene spezifische Praktiken und Zustände zu überführen“. Die konzeptionelle „Verbindung“ dieser Annahmen zum Rahmenproblem des „guten Lebens“ soll die „Unterscheidung zwischen Funktionsweisen und Befähigungen bzw. Entfaltungsmöglichkeiten (capabilities)“ herstellen. Für eine sich „emanzipatorisch“ verstehende Bildungstheorie, so wird weiter unterstellt, ist damit zugleich die Unterscheidung von „tatsächlich realisierten Zuständen und Handlungen“ hier und „realen Freiheiten“ dort, als „Freiheiten … der Subjekte“, sich autonom für oder gegen tatsächlich gegebene Funktionsweisen entscheiden zu können. Mit dem Bezug auf die capabilities ist also erst diese „Befähigungsperspektive“ angesprochen, und zwar sowohl „objektiv“ wie „subjektiv“. Die „objektive“ Dimension bezeichnet „die (sozialen) Bedingungen, die das autonomiekonstitutive gute menschliche Leben betreffen“, die „subjektive“ Dimension dagegen, das ist „der konkrete Inhalt des je individuell guten Lebens“, und insofern nicht nur allein „Sache der Individuen“, sondern auch „vor äußeren Eingriffen zu schützen“ (138, Herv. dort.).
58Dafür
soll hier exemplarisch nur die in der deutschen Diskussion signifikante Position aus Bielefeld stehen, also Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler: Kritische Bildungstheorie und das gute Leben – Die Capabilities-Perspektive im Kontext emanzipatorischer Sozialwissenschaft. In: Rita Braches-Chyrek u. a. (Hrsg.). Bildung, Gesellschaftstheorie und Soziale Arbeit. Opladen/Berlin/ Toronto 2013, S. 133–141, daraus, vor allem aus dem Abschnitt „Der Capabilities-Ansatz als Bildungstheorie“ (S. 137 f.) auch die folgenden Zitate. 59Ausführlicher zu dieser Interpretation Sabine Andresen/Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler: Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach. In: Dies. (Hrsg.). Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2008, S. 165–197.
12.4 Bildungsgüter, Bildungswelten, Kultur, …
183
Das ist eine bildungstheoretisch bedeutsame Eingrenzung und Unterscheidung,60 die theoretisch und empirisch offene Frage stellt sich mit der Bestimmung der capabilities; denn der Rückfall in Metaphysik droht hier genauso wie die Fallstricke der Naturalisierung. Die Diskussion hat sich an den listenhaften Aufzählungen dieser „Central Human Functional Capabilities“ von Martha Nussbaum entzündet, die sie – in unterschiedlichen Versionen61 – mit universalistischem Anspruch, insofern als „essentialistisch“ interpretiert, vorgelegt und diskutiert hat. Gegen naheliegende kritische Interpretationen und Missverständnisse solcher Listen wird in der deutschen Rezeption jetzt betont, dass damit natürlich „demokratische Deliberation und individuelle Entscheidungen“ (139) nicht dispensiert sind, sondern notwendig bleiben. Die Liste biete insofern „allgemeine Voraussetzungen für ein gutes menschliches Leben“, sie bezeichne einen „Möglichkeitsraum für verschiedenste individuelle Lebensentwürfe … keine wertbezogene, verbindliche Definition eines individuell guten Lebens“, oder, zusammenfassend: „Es geht … darum, den realen Macht- und Autonomiespielraum der Betroffenen zu erweitern und nicht darum, die Akteure zu inhaltlich fixierten Daseins- und Handlungsweisen zu befähigen.“ Solche Relativierungen der eigenen Ansprüche lesen sich wie eine explizite, bildungstheoretisch vom Subjekt aus begründete Abgrenzung von Programmen, die anders, ausgreifender und im Grunde aus dem Misstrauen gegenüber den Individuen und ihren Handlungsentwürfen geboren sind und sich selbst – und allein – zuschreiben, über das richtige, kritische Bewusstsein zu verfügen. Die solchem Denken entsprechende Kritik fehlt auch nicht, die schon moniert, dass nicht das „gute“, sondern das „richtige“ oder „bessere“ Leben das Thema sein müsse und damit kritisch gegen die Rezeption von „Nussbaum&Co“62 an andere Entwürfe von Bildung und Gesellschaft erinnert, die bei Nietzsche, Adorno
60In
diesem Kontext muss man daran erinnern, dass auch Nussbaum nicht durchgehend essentialistisch-aristotelisch argumentiert, sondern – mit Rawls – die liberale Position stark macht, vgl. M.C.N.: Perfectionist Liberalism and Political Liberalism. In: Philosophy & Public Afffairs 39 (2011), S. 3–45 und für die Analyse der gelegentlich übersehenen Differenzen in ihrer Argumentation Christoph Henning: Vom Essentialismus zum Overlapping Consensus – und zurück? Anthropologie und Ethik bei Martha C. Nussbaum und Alasdair MacIntyre. In: Studia Philosophica 72 (2013), S. 247–255. 61Nussbaum 2003, S. 120 f. dokumentiert z. B. solche „Central Human Functional Capabilities“, und zwar insgesamt 10, beginnend mit „Life“ und dann „Bodily Health“, „Bodily Integrity“, „Senses, Imagination, and Thoughts“, „Emotions“, „Practical Reason”, „Affiliation”, unterschieden nach „(A) being able to live with and towards others …“ sowie „(B) having the social bases of selfrespect and non-humiliation …“, „Other Species“, „Play” und „Control over one’s Environment“, hier unterschieden nach „(A) political“ und „(B) material“. 62Exemplarisch dafür Christian Niemeyer: Nietzsche & Co vs. Nussbaum & Co. Oder: warum die Rede vom ‚guten‘ Leben nicht ausreicht und kritische Sozialpädagogik sich besser als Wissenschaft vom ‚richtigen‘ (Adorno) resp. ‚besseren‘ (Bloch) Leben neu aufstellte. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik 13(2015), 1, S. 62–84.
184
12 Das anthropologische Argument
oder Bloch vorliegen, aber wohl in der Programmatik der „Höherbildung“ des Menschen und der Gattung auch schon klassische Vorläufer haben. Aber hier geht es dann insgesamt nicht mehr um aktuelle Bildungswelten, sondern um utopische Konstruktionen anderer Menschen und Welten, um die bessere Zukunft der Menschengattung und Bildung als Form der Ermöglichung neuer und besserer Welten. Das schließt die Abwertung des Gegebenen ein, Plädoyers für „Dilettantismus“, wie man sie heute findet, oder für einen Primat realistischer „Laienbildung“, wie sie aus dem frühen 20. Jahrhundert z. B. von Wilhelm Flitner vorliegen, haben hier keinen Kredit mehr.63 Auch die Moralerziehung orientiert sich an den höchsten Erwartungen eines prinzipienorientierten Urteils, wie man es in der Kohlberg-Tradition formuliert findet und wie es dort gegen den skeptischen Blick und gegen die immer neue Erfahrung über die geringe Erreichbarkeit solcher Erwartungen als einzig legitimes Ziel immer neu verteidigt wird.64
12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als Praxis von Bildung Die Programme der „Höherbildung der Menschheit“, klassische Formel der Bildungsreflexion um 1800, dort aber, wie bei Kant, realistischerweise nur auf die Gattung, nicht auf den einzelnen Menschen bezogen, bleiben also beliebt, selbst als Vorgabe an die individuelle Praxis historischer Akteure. In der Folgezeit, nach der Kantischen Skepsis, muss wiederkehrend die explizite Konstruktion einer „neuen Gesellschaft“ und des „Neuen Menschen“ dieses Ziel bewahren und als möglich behaupten. Diese Erwartungen sind ihrem Ursprung nach ja auch älter als die moderne Bildungsreflexion, bereits in den Gesellschaftsutopien der Vormoderne präsent.65 Sie sind auch als das paradoxe Konzept der „säkularen
63Für die Apologie des Dilettanten vgl. den Hinweis auf Roland Reichenbach (oben in Anm. 32), für die Laienbildung Wilhelm Flitner: Laienbildung. Jena 1921; jetzt in ders.: Erwachsenenbildung. Paderborn/München/Wien/Zürich 1982, S. 29–80 (Gesammelte Schriften, Bd. 1); für die Abwehr des Alltäglichen Heinz-Elmar Tenorth: Basiskompetenzen – Über die Ignoranz gegenüber dem Selbstverständlichen in der Bildungstheorie. In: K.F. Wessel (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung und die Bildung für die Zukunft. Bielefeld 2007, S. 32–41. 64Bezeichnend für dieses Problem ist immer noch die schon etwas ältere Kontroverse zwischen Fritz Oser und Roland Reichenbach über die Brauchbarkeit der Kohlbergschen Stufen des moralischen Bewusstseins für die Orientierung der Moralerziehung, vgl. Roland Reichenbach: Preis und Plausibilität der Höherentwicklungsidee. sowie Fritz Oser: Chimäre oder Person: Eine Antwort auf Roland Reichenbachs „Preis und Plausibilität der Höherentwicklung“. Beide in Zeitschrift für Pädagogik 44 (1998)2, S. 205–222 bzw. 223–231. 65Einen schönen Überblick geben Richard van Dülmen (Hrsg.). Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien (usw.) 1998 sowie Nicola Lepp/Martin Roth/Klaus Vogel (Hrsg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern-Ruit 1999.
12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“
185
Religionsgeschichte der Moderne“66 schon breit in ihren Eigenarten und Schwächen analysiert worden. Dennoch, im Kontext der sozialistischen Entwürfe erleben solche Erwartungen seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre eigentliche Blüte, gleichermaßen in Utopien wie Dystopien präsent.67 Die schwarze Seite der Gattung wie des Denkens, das sie propagierte, wird in der Geschichte der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts offenbar. Deren politische und gesellschaftliche Praxis und die Realisierungsformen der Erziehungsutopien können deshalb zu Recht unter dem Titel „Von der Welt des Èmile zur Erziehungsdiktatur“ resümiert68 und als Unterwerfung der Subjekte durch kommunistische oder nationalsozialistische und faschistische „Erziehungsstaaten“ analysiert werden, als inhaltlich differente, aber funktional äquivalente Formen der Unterwerfung des Menschen unter eine umfassende Doktrin.69 Nicht nur die pädagogischen Utopien, sondern politische Utopien insgesamt haben angesichts diese historischen Erfahrungen heute ihre Unschuld verloren, auch nicht nur in Deutschland, sondern angesichts massenhafter Morde im Namen der Konstruktion des neuen und besseren Menschen genauso in der Sowjetunion oder in China, in Kambodscha oder im Mittleren Osten. Man hätte deshalb annehmen können, zumal nach 1989, globalgeschichtlich und im Allgemeinen sowie nach den Erfahrungen mit sozialutopisch begründeten Erziehungswelten in Deutschland im Besonderen,70 dass sich dieser Begründungsmodus für die Konstruktion neuer Menschen und Welten im Bildungsdenken definitiv erledigt hätte. Das ist offenkundig nicht so. Im Kontext von Befreiungsbewegungen in der sog. ‚Dritten Welt‘ hat sich ein Denken über Erziehung entwickelt, in dem ihre Funktion für die Befreiung der Unterdrückten71 als nahezu
66So die aufschlussreiche Analyse von Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994. Er analysiert die „Realgeschichte des neuen Menschen“ u. a. an der russischen Intelligenzija, der deutschen Jugendbewegung, der Studentenbewegung und der Psychoanalyse und diskutiert als „geistige Wegebereiter“ Condorcet, Marx und Nietzsche. 67Für diese Gattung im Kontext bildungstheoretischer Fragen Hans-Christian Harten: Utopie. In: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/ Basel 2004, S. 1071–1090; für die aktuelle, eher utopieskeptische Debatte über Utopie und Dystopie vgl. Wilhelm Voßkamp/Gunther Blamberger/Martin Roussel (Hrsg.): Möglichkeitsdenken. Utopie und Dystopie in der Gegenwart. München 2013. 68So Jürgen Oelkers in Lepp u. a., 1999, S. 37–47. 69Dazu Dietrich Benner/Jürgen Schriewer/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Geschichte und nationaler Gestalten. Weinheim 1998 sowie für den Kontext Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. München 2003. 70Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim/ Basel 2011 sowie Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen 2013. 71Die Anspielung gilt natürlich Paulo Freire, vgl. P.F.: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek 1971; ders.: Education for Critical Consciousness. New York 1973; ders.: Pädagogy of Hope. New York 1994.
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12 Das anthropologische Argument
einzige, jedenfalls zentrale revolutionäre Hoffnung der Menschen erscheint. Im Kontext der critical pedagogy der USA werden solche Texte bis heute kapitalismuskritisch zustimmend rezipiert72 und eine gegenüber den westlichen Staaten und Gesellschaften und ihrem liberalen Selbstverständnis „kritische“ Bildungstheorie hat sich trotz der historischen Erfahrungen bis heute erhalten, auch nicht allein in Deutschland. Solche Texte gehören insofern immer noch in die Rede von Bildung, mit ihren Bildern des Menschen oder von Gesellschaften und Welten und mit ihren Erwartungen an die Möglichkeiten der Konstruktion neuer Menschen, als kritischer cantus firmus umfassender Bildungsprogramme. Diskutiert man für dieses Segment der Rede von Bildung exemplarisch und allein die deutsche Debatte in ihren jüngeren Ausprägungen und ignoriert man einmal die in der Nachfolge Adornos geschriebenen Programme und Analysen,73 sind es vor allem Texte in der Nachfolge des Frankfurter Bildungstheoretikers, Lehrerbildners und Erziehungswissenschaftlers Heinz-Joachim Heydorn, in denen diese spezifische Variante der Rede von Bildung fortlebt. Neben Heydorns Schriften, vor allem dem für die Argumentation bis heute stilprägenden Text „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“,74 gehört dazu inzwischen auch eine umfangreiche Rezeption seiner Schriften, sowohl bei seinen eigenen Schülern75 als auch, wenn auch im Umfang deutlich weniger, in der distanzierten Rezeption.76 Für die Spezifik der Denkweise „kritischer Bildungstheorie“ sind dabei die aktuellen Formen der Neuaneignung des Heydornschen Denkens besonders signifikant, müssen sie doch nicht allein ihre eigene Tradition auslegen, sondern sie zugleich gegenüber der historischen Erfahrung mit marxistisch begründeten Utopien von Bildung und Erziehung neu rechtfertigen. Kontinuität und Neuorientierung,
72Vgl.
dafür Peter McLaren/Noah de Lissovoy: Paulo Freire. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 2: Von John Dewey bis Paulo Freire. München 2.Aufl. 2010. S. 217–226 sowie Peter McLaren: Che Guevara, Paulo Freire, and the Pedagogy of Revolution. Oxford 2000. 73Das verlangte dann eine ausführliche Diskussion der Arbeiten von Andreas Gruschka und seines Kreises, auf die ich hier verzichte, da im Folgenden, hier in Kap. 13.5, die Auseinandersetzung mit Adornos „Theorie der Halbbildung“ noch folgen wird; vgl. zu Gruschkas Position und deren theoretischem Umfeld aber jüngst die Selbstdarstellung in Christoph Leser u. a. (Hrsg.): Zueignung. Pädagogik und Widerspruch. Opladen (usw.) 2014. 74Heinz Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979 (Bildungstheoretische Schriften 2). 75Dafür nur exemplarisch die Beiträge in Peter Euler/Ludwig A.Pongratz (Hrsg.): Kritische Bildungstheorie. Zur Aktualität Heinz-Joachim Heydorns. Weinheim 1995 und Carsten Bünger u. a. (Hrsg.): Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie. Paderborn 2009 sowie natürlich Arbeiten von Gernot Koneffke (vgl. unten) und Heinz Sünker. 76Dafür z. B. früh Hans-Wolf Butterhof/Thorn Prikker: Aspekte und Probleme der ‚negativen Bildungstheorie‘ Heinz-Joachim Heydorns. In: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 695–708; dann Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen/Karl-Franz Göstemeyer: Heydorns Bildungstheorie. In: Zeitschrift für Pädagogik 28(1992), S. 73–92, vor allem aber Ewald Titz: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns. Weinheim 1999.
12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als …
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stabile Denkmuster und historische Lernprozesse innerhalb dieser kritischen bildungstheoretischen Tradition stehen deshalb im Folgenden im Zentrum der Diskussion, konzentriert auf eine jüngst erschienene „Einführung“.77 Armin Bernhard hat die hier zu diskutierende Interpretation der Heydornschen Bildungstheorie vorgelegt. Sie stellt für ihn die „Vision“ dar, der nicht nur die aktuelle Bildungspolitik, sondern auch die Gesellschaft bedarf. Bildung interpretiert er dabei als „Projekt“, und zwar als das „Projekt einer emanzipativen Subjektwerdung im Kontext einer Widersprüche erzeugenden Gesellschaft“ (15). Den Titel des „Projekts“ darf man dabei als Charakteristik des Vorhabens verstehen; denn es versteht sich als bisher uneingelöstes Programm, so, wie Jürgen Habermas die „Moderne“ als Projekt versteht, aber auch so, wie schon im Ursprung der Moderne ein Projekt definiert wurde, als der „subjektive Keim eines werdenden Objekts“.78 Ein „vollkommenes Projekt“ entspricht dabei schon bei Schlegel Kriterien, denen auch die Heydorn-Bernhard Vision zu entsprechen sucht: Es „müßte zugleich ganz subjektiv und ganz objektiv“ sein, „ein unteilbares und lebendiges Individuum“, seiner Natur nach qualifizierbar als „Fragmente aus der Zukunft“, mit einem zentralen Kriterium: „das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich zu idealisieren und zu realisieren, zu ergänzen und teilweise in sich auszuführen.“ Schlegel resümiert – „Da nun transzendental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung des Idealen und des Realen Bezug hat, so könnte man wohl sagen, der Sinn für Fragmente und Projekte sei der transzendentale Bestandteil des historischen Geistes.“ An anderer Stelle nennt er ein Projekt das, „was lebendig und ganz aus unserem Innersten entspringt, es ist auch heilig und eine Art von Gott.“ Bildungstheoretisch kann man das Projekt nicht höher platzieren, denn: „Alle Tätigkeit, die nicht von den Göttern ausgeht, ist des Menschen unwürdig.“79 Ein solches Projekt entwirft Bernhard, freilich in der Sprache und in den theoretischen Referenzen nicht romantisch, sondern „materialistisch“, wie er selbst sagt, deshalb auch mit weniger Sinn für die „Fragmente“ oder die Subjekte. Bernhard ist, mit Heydorn, seinem Gewährsmann, an Marx orientiert und an den Diagnosen, die aus der kritischen Erziehungswissenschaft der 1970er Jahre und dem Pathos der damaligen Gesellschaftskritik vertraut sind. Er erneuert sie im Kontext der Programme und der Rhetorik aktueller sozialer Bewegungen, d. h. auch aus der in diesem Lager zum Topos gewordenen Kritik an N eo-Liberalismus,
77Armin
Bernhard, unter Mitarbeit von Sandra Schillings: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns. Hohengehren 2014, daraus die Zitate im Text in Klammern. Ich nutze dabei auch Argumente aus meiner Rezension dieses Titels in der Zeitschrift für Pädagogik 61(2015)5, S. 761–769. 78So Friedrich Schlegel: Fragmente. (22) In: Schlegel, Werke, Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, Bd. 1, S. 191, dort auch die folgenden Zitate. 79Friedrich Schlegel: Über die Philosophie. An Dorothea. (1799) In: Werke Bd. 1, S. 101– 129, zit. S. 129; vgl. dazu systematisch Petra Korte: Projekt Mensch – „Ein Fragment aus der Zukunft“. Friedrich Schlegels Bildungstheorie. Münster 1995.
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12 Das anthropologische Argument
Kapitalismus und Globalisierung sowie an einer allein an „Ökonomisierung“ orientierten und durch eine messende empirische Bildungsforschung unkritisch unterstützten Bildungspolitik. Er sucht aber vorrangig diese neuen Bewegungen auch, um damit die marxistische Tradition von der Last des Stalinismus und der Erfahrung des Scheiterns der Staaten des real existierenden Sozialismus zu entlasten und erneut die westlichen Gesellschaften scharf kritisieren zu können. Sogar der Heydornsche Begriff des „Industriefaschismus“ (209) als Ausdruck für die westlichen Staaten wird aufgewärmt. Bildung könne und müsse in dieser welthistorisch kritischen Situation erneut zu einem „Projekt“ werden, das Programm kritischer „Bewusstseinsbildung“ erneuern und möglich machen. Solche Erwartungen bürden natürlich der Bildungsreflexion wie der Bildungspraxis große Lasten auf, in der Begründung des Ziels wie in der Diskussion der Realisierungsformen. Das Ziel wird mit dem bekannten Begriff der „Mündigkeit“ eingeführt, aber in spezifischer Weise konkretisiert. Dem kritischen Bildungstheoretiker ist sie erst angemessen ausgebildet, wenn ihr Träger Gesellschaft so wahrnimmt, wie er sie darstellt. Das „Bewusstsein“ der historischen Akteure kann sich insofern in unterschiedlichen Formen artikulieren, als problematisch, wenn nicht als Fehlform, wenn es dem Gegebenen erliegt, es „lediglich … erleiden und hinnehmen kann“ (16), „grundlegend unmündig“ (88), ein Bewusstsein, das im Alltag funktional sein mag, aber nicht mehr darstellt als „habituelle Verhaltensweisen“, die „dem Bewusstsein entzogen sind“ (67). Das richtige Bewusstsein dagegen „ist prinzipiell nicht affirmativer Natur“ (67), „zwar von den jeweiligen gesellschaftlichen Lebensbedingungen … bestimmt, aber keineswegs determiniert“ (66 f.), sondern „wo immer es entsteht … bereits in einem zweifelnden Verhältnis zur Wirklichkeit … per se gegen Fremdverfügung gerichtet“ (67), ausgezeichnet durch „Klarheit über die Bedingungen seiner Existenz“ (68), individuell wie für die Gesellschaft insgesamt. Dieses Bewusstsein erwächst aus dem „Widerspruch“ gegen die „technologische Gesellschaft“, „bewaffnet mit dem Erkenntnisverfahren des Historischen Materialismus“ (17), das er an Heydorn rühmt, und es wird konkret im „praktischen Experiment“ (180) einer pädagogisch zu errichtenden „Gegengesellschaft“ (178 ff.). Sie sei als „konkrete Utopie“ (181) in der „Entwicklung eines ‚öffentlichen Gegenbewusstseins‘“, wie er Heydorn zitiert (113), so notwendig wie pädagogisch realisierbar, aber auch die einzige Chance für die Menschheit. Bildung werde zum „Antriebsmotor“ und „Widerstandsinstrument“ (139) der Befreiung, wenn man nur eine „pädagogische Gegengesellschaft“ installiert sowie „befreiungspädagogisch“ und zusammen mit den richtigen „sozialen Bewegungen“ das kritische „Bewusstsein“ ausbildet und die „neue Geburt des Menschen“ (140) ermöglicht. In der Tradition der Bildungsreflexion sind solche großen Erwartungen nicht neu, für die Denkform, die Heydorn vorgibt und Bernhard adaptiert, ist aber die religiös übersteigerte Zuschreibung an Bildung und Welt in besonderer Weise charakteristisch. Kritische Bildungstheorie dieser Provenienz beschreibt den
12.5 Befreiung in der Zukunft – „Utopien“ und „Projekte“ als …
189
gattungsgeschichtlichen Prozess als innerweltliche Erlösung80 und sie sieht als deren Hauptakteur den Lehrer. Er soll und kann – wie Moses oder die Propheten das jüdische Volk – die Lernenden als „Führer durch das verdorrte Land“ führen.81 Seine Rolle besteht darin, dass er für die Lernenden als Zeuge und „Zeugnis“ der besseren anderen Welt agiert und als „personale Repräsentation der geschichtlichen Verheißung“82 die Befreiung des Menschen ermöglicht. Das schließlich ist ein Argument, das man ebenfalls theologisch kennt, allerdings auf Christus bezogen.83 Heydorn säkularisiert solche Zuschreibungen, nicht nur dadurch, dass er den Lehrer „zum universellen Proletariat“84 rechnet und daraus seine „revolutionäre“ Rolle ableitet, sondern auch durch die befreiungspädagogischen Zuschreibungen. Dabei wird – jetzt wieder in der Heydorn durchaus angemessenen Interpretation durch Bernhard – der Lehrer als „archimedischer Punkt“ des angestrebten radikalen Wandels stilisiert. Er gehöre zur „Avantgarde“, die den Kampf anleitet, seine Arbeit werde zur „Partisanentätigkeit“ (113), mit der die „gegenhegemoniale Nutzung“ der aktuellen Bildungspolitik aktiv vorangetrieben werde. Ganz gegen die Tradition der Selbstbildung wird damit Bildung letztlich und ausdrücklich zu einem Objekt „pädagogischer Herstellung“ (259), legitimiert durch die Überzeugung, das richtige Bewusstsein zu vertreten. Damit wird in den Formen der Begründung die Denkform kritischer Bildungstheorie in den ihr eigenen Risiken sichtbar. Ihre spezifische Rationalität gewinnt sie einerseits durch immer neue Dualisierungen, in denen die gute und wahre von der schlechten und sowohl deformierten wie deformierenden Bildung – oder
80Diese
Dimension der nachwirkenden Exodus-Erzählung und den damit explizierten „Bund“ zwischen Gott und den Menschen als Denkmodell der Heydornschen Bildungsphilosophie hat Titz, Bilderverbot, 1999 überzeugend aufgewiesen, u. a. im Anschluß an Michael Walzer und frühe Arbeiten von Jan Assmann. In seiner Replik auf dieses Buch hat Gernot Koneffke die Denkform und ihre quasi-religiösen Implikate bestätigt, nur die Referenz auf die gegebene Gesellschaft als den historischen Grund benannt, dass Erlösung notwendig sei, vgl. G.K.: Der Grund für die mögliche Befreiung von Herrschaft liegt im Diesseits. Gegen die Theologisierung der kritischen Bildungstheorie. In: Pädagogische Korrespondenz H. 33, 2004/05, S. 15–41. Koneffke verfehlt damit die Pointe der Analyse von Titz. Der wiederum hätte eine erneute Bestätigung seiner Interpretation sicherlich jetzt bei Jan Assmann und dessen Konzentration auf die Bundestheologie gefunden, vgl. J.A.: Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015. Aber auch Heydorn könnte sich hier bestätigt finden, denn Assmann sieht in der ExodusErzählung ja die Gründungserzählung der modernen Welt. 81Für diese Argumente vor allem Heydorn, 1970, S. 318. 82So charakterisiert Titz, Bilderverbot, 1999, S. 372 die bei Heydorn intendierte Lehrerrolle. 83Für die Nachweise zu diesem Argument im Einzelnen Titz, Bilderverbot, 1999, S. 369 ff., der gleichzeitig zeigen kann, dass Heydorn hier auch Argumente von Martin Buber und Ernst Bloch verarbeitet. Buber wird u. a. mit der These zitiert. „Es ist das ‚Sein‘ des Lehrers, das über die Zukunft entscheidet.“ und die bei Bloch für den Lehrer entliehene „Metapher vom ‚Weichensteller … im Weltprozeß“ (zit. Titz S. 370). 84Heinz-Joachim
S. 127.
Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt a.M. 1972,
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12 Das anthropologische Argument
Gesellschaft, Demokratie, Politik, Rationalität, Vernunft (usw.) – abgehoben wird. Sie lebt andererseits von einer geradezu unbekümmerten und radikalen Pädagogisierung, in der die Rolle des Lehrers zum Propheten und Erlöser überhöht und ihm die Entscheidung über den Weg zur wahren Bildung ebenso überantwortet wird wie die Qualifizierung des Bewusstseins als richtig oder falsch. Die für die klassische Bildungstheorie charakteristische und in der modernen Bildungsforschung systematisch entwickelte Distanz gegenüber dem Pädagogen und die Abwehr von der Pädagogisierung und ihren Paradoxien85 geht dabei verloren, das Subjekt wird – in bester Absicht – zum Objekt umfassender Erziehungsphantasien. Bildungstheorie dementiert sich damit am Ende selbst, indem sie allmächtige Konstruktionsphantasien an die Stelle der Selbstbildung des Subjekts setzt. Dergestalt ausgearbeitet zählt es offenbar zum größten Risiko der Rede von Bildung, dass sie eine Denkform entwickelt, die sich in konstruktiver Absicht selbst zerstört und zur Ideologie deformiert. Das ist auch kein Zufall; denn es hat offenbar mit dem Bild der Welt zu tun, von dem sich solche Rettungs- und Erlösungsphantasien in ihrem Erlösungsanspruch bestimmen lassen. Diese Haltungen gegenüber der Wirklichkeit und einer empirisch und historisch gestützten distanzierten Wahrnehmung von Welt verdienen deshalb ebenfalls Aufmerksamkeit, wenn man die Denkform der Rede von Bildung verstehen will. Eine umfassende Prüfung wird zeigen, dass solche Eigenarten der Weltwahrnehmung auch nicht allein für die kritische Rede von Bildung gelten, sondern in diesem Feld breiter benutzt werden und über alle Lager hinweg Geltung gewinnen. Diese Form der Weltwahrnehmung gehört deshalb auch generell auf den Prüfstand, und dabei wird eine weitere Eigenart der Rede von Bildung sichtbar werden, nicht mehr nur als Risiko, sondern als systematische, selbst auferlegte und lange tradierte Selbstblockade, sichtbar im Umgang mit „Welt“.
85Systematisch
dazu Marc Depaepe/Frank Simon/Angelo van Gorp (Hrsg.): Paradoxen van Pedagogisering. Handboek pedagogische historiografie. Leuven 22006, begrifflich und jetzt im angelsächsischen Kontext auch breiter als Problem der „Educationalization“ analysiert. Für die subjektbezogen dramatischen Konsequenzen der damit implizierten Konstruktionsphantasien auch Thomas S. Popkewitz: Cosmopolitanism and the Age of School Reform. Science, Education, and Making Society by Making the Child. New York/London 2008.
Kapitel 13
Bildungswelten: Die diskursive Konstruktion disjunkter Welten
Mit ‚Welt‘ in ihrer umfassenden Bedeutung muss sich die Rede von Bildung aus vielen Gründen auseinandersetzen, zuerst und vor allem natürlich, um sie als Bildungswelt und damit als Ermöglichungsraum ihrer Ambitionen verstehen zu können. Welt wird damit zugleich eine wesentliche Referenz, Erfolg und Misserfolg der Bildungspraxis zu diskutieren, wenigstens dann, wenn Erfolg und Misserfolg nicht allein auf die Individuen oder gar auf die Programme und die gestaltenden Akteure, z. B. die Pädagogen, zugerechnet werden sollen. Diese Formen der Selbstattribuierung hat die Bildungsreflexion freilich so wenig wie die Pädagogik primär praktiziert (trotz einschlägiger Empfehlungen aus der Aufklärungspädagogik1), sie hat vor allem bei Misserfolg von Beginn an auf Welt externalisiert. Im Zentrum der Ursachenerklärung von Erfolg und Misserfolg steht die Zurechnung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Sie wird binär codiert, als Bildungswelt gelobt oder als Hindernis wahrer Bildung kritisiert. Solche Formen der Zuschreibung waren historisch eine bekannte Praxis. Dualisierung als externalisierendes Argument findet sich um 1800 nicht nur im Bildungsdenken, sondern als antikes Erbe auch in der zeitgenössischen Philosophie und selbst bei Kant (und die Argumentation mit solchen Dualisierungen ist bis ildungsdenken heute auch außerhalb der Rede von Bildung beliebt2). Aber für das B
1Von Salzmann gibt es bekanntlich als „Symbolum“, also als Glaubensbekenntnis, die Empfehlung an die Pädagogen: „Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muss der Erzieher den Grund in sich selbst suchen.“ So: Christian Gotthilf Salzmann: Ameisenbüchlein oder Anweisung zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher. (1806) Berlin/Leipzig 1948, S. 9. 2Niklas Luhmann hat ausführlich die Funktion binärer Codierungen in ausdifferenzierten Sozialsystemen beschrieben und u. a. im Dual von Code vs. Programm, d. h. von Selektion vs. Bildung, auch das Bildungssystem analysiert, vgl. N.L: Codierung und Programmierung. Bildung und Selektion im Erziehungssystem. In: Tenorth, Hrsg., Allgemeine Bildung 1986, S. 154–182; das Fortleben solcher Begriffspraxis u. a. im Kontext der Kunstgeschichte belegt aktuell Wolfgang Kemp: Gegenbegriffe gegengelesen. In. Zeitschrift für Ideengeschichte 13(2019)1, S. 65–84.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_13
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13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
ist diese Denkform nicht nur langfristig wirksam, sondern als prägendes Element geradezu klassisch geworden und deshalb werden solche Dualisierungen hier diskutiert, exemplarisch solche, die Tradition bis in die Gegenwart gebildet haben. Als Konflikt wird dabei vor allem das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft beurteilt, wie es seit der Rousseau-Rezeption in Deutschland das Dual von Mensch vs. Bürger festhält, ferner die Vereinbarkeit von Bildung und Beruf, die aufklärungskritisch als Vorwurf des Utilitarismus thematisiert wird, sowie die Differenz von Ideal und alltäglicher Praxis des Aufwachsens und Lernens in Gesellschaften, eine Differenz, die vor allem mit der Durchsetzung öffentlicher Beschulung verbunden wird. Diese Dualisierung von Welten, guter Welten, die bildungstheoretisch als legitim vorgestellt, und schlechter Welten, denen die unverkennbaren Differenzen in der Wirklichkeit als Makel zugeschrieben werden, belegen schließlich auch, dass kulturkritische Klagen die bildungstheoretische Reflexion von Beginn an begleiten, gelegentlich sogar mit ihr identisch werden.
13.1 Bildung in der Gesellschaft – Bildung im Staat: „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation? Neue pädagogische Welten, die den Ansprüchen von Bildung zu entsprechen suchen, existieren zunächst und erwartbar fast nur in hochfliegenden philosophischen oder pädagogischen Plänen. Für eine andere Praxis sorgen z. B. die sog. Philanthropen. Sie gründen, beginnend mit Basedows Dessauer Reformschule, Erziehungsanstalten, die versprechen, dem Geist der Aufklärung und der wahren Natur des Menschen zu entsprechen.3 Diese neue Praxis wird von Beginn an zum Thema kritischer Beobachtung der Zeitgenossen, aber auch noch in der späteren ideengeschichtlichen Überlieferung. Theorie und Praxis der Philanthropen und die Thesen, die sie über Natur und Erziehung oder über Pädagogik und Staat entwickeln, gelten schon zeitgenössisch als anstößig. Sie werden vor allem aber in der retrospektiven Zuschreibung zu einem Konflikt von „Aufklärung“ und „Bildung“ gezeichnet, als scharf und unversöhnlich, gar zu „Widersprüchen“ stilisiert, die für „die Moderne“ und ihre Bildungssituation typisch seien, aber in der pädagogischen und philosophischen Reflexion „der Aufklärung“, wie generalisierend behauptet wird, nicht gesehen würden. Solche Attribuierungen gehören schon ihrer Form nach in die Konstruktion binärer Codes und in den Kontext der polemischen Zuschreibungen; denn die Pädagogen der Aufklärung haben die Schwierigkeiten durchaus gesehen,
3Eine
sehr informative Übersicht über Ideen und Programme, Realisierungsprobleme und Nachwirkungen bei Hanno Schmitt: Vernunft und Menschlichkeit. Studien zur philanthropischen Erziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 2007.
13.1 ... „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?
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in die Bildung und Erziehung in der modernen Welt geraten. Sie haben aber im reflexiven und praktischen Umgang mit solchen Problemen, die sie nicht als Widersprüche, sondern als „Paradoxien“ codiert haben,4 ihre genuine pädagogische Aufgabe und auch eine Lösung der scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten gesehen. Den Philanthropen wird also zu Unrecht als Problem zugerechnet, was sich erst als unlösbar stellt, wenn man die Bildungsrealität in der Konstruktion von Widersprüchen und disjunkten Klassen von Wirklichkeiten argumentativ codiert. Aber eine historisch präzise Zurechnung von Argumenten mag für eine Diskussion unter strikten Theorieerwartungen ein Problem sein, sie ist für die Fortexistenz von Kontroversen belanglos. Die leben von starken Behauptungen und einfachen Stilisierungen, auch in der Kritik an der Pädagogik der Aufklärung. Im Kontext der Rede von Bildung hat insofern die starke Behauptung überlebt, dass Bildung in der modernen Gesellschaft anders als die Philanthropen denken, überhaupt nicht möglich sei. Diese These, als Kern eines als „kritisch“ qualifizierten Bildungsbegriffs bis heute behauptet, wird den Schriften Rousseaus zugeschrieben und bis in unsere Gegenwart tradiert, als Titel für den anscheinend ewigen Konflikt von Individuum und Gesellschaft. Rousseau habe, zumal in den Preisschriften, aber auch im Èmile, das zentrale Thema und Problem formuliert, das mit dem Aufwachsen in Gesellschaft verbunden sei, nicht nur den Konflikt von Mensch und Bürger, sondern den von Individuum und Gesellschaft. Klaus Mollenhauer vor allem, einer der Begründer kritischer Erziehungswissenschaft, spitzt 1964, wenn er den kritischen Begriff der Bildung gegen die vermeintlich gegenüber der Gesellschaft affirmative und nur „funktional“ denkende geisteswissenschaftliche Tradition im Rückgriff auf Rousseau wiederbelebt, diese These besonderes pointiert zu. Ihre radikalste Version findet sie in der oft zitierten Behauptung, „daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der Möglichkeiten des Menschen ist“, und zwar deswegen, weil „die gesellschaftlichen Implikationen des Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte.“5 Bei Mollenhauer und weiteren Autoren werden für diese starke These Bemerkungen von Rousseau beansprucht, in denen er – z. B. in den Anfangspassagen des Emile6 – für das Aufwachsen in Gesellschaft behauptet, dass
4Ich nehme Argumente auf aus Heinz-Elmar Tenorth: Paradoxa, Widersprüche und die Aufklärungspädagogik. Versuch, die pädagogische Denkform vor ihren Kritikern zu bewahren. In: J. Oelkers (Hrsg.): Aufklärung und Moderne. Weinheim 1992, S. 117–134. 5Klaus Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. (1964) In: K.M.: Erziehung und Emanzipation. München 1968, S. 55–74, zit. S. 65, wo auch die Ausführungen zu „Rationalität und Bildung“ mit einem Rekurs auf die k lassisch-idealistische deutsche Tradition beginnen und mit der These: „Das kritische Moment hat – innerhalb der Geschichte des pädagogischen Denkens – seinen Ursprung bei Rousseau.“ (Herv. dort). 6Im Detail: Jean Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung. (1762). Stuttgart 1963 (u.ö.), bes. im 1. Buch.
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13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
man entweder zum „Menschen“ oder zum „Bürger“ bilden könne, die Gesellschaft aktuell aber nur die Bildung zum Bürger erlaube. Emile müsse deshalb außerhalb der Gesellschaft erzogen werden, damit er zum Menschen werden und seine Identität in der Harmonie von Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Realisierung ausbilden kann, eine Möglichkeit, die ihm die Gesellschaft verwehrt. Nicht zufällig wird diese Lesart Rousseaus innerhalb der kritischen bildungstheoretischen Reflexion bis heute wiederholt. Sie bleibt auch im Blick auf denkbare Erziehungswelten an der kulturkritisch grundierten Einheitsfiktion orientiert, als ließe sich die z. B. für die Antike unterstellte7 Identität von Mensch und Bürger gegen die Dynamik der modernen Gesellschaft wieder herstellen, Identität jenseits der Differenz von Rollen harmonisierend neu erzeugen und damit Rousseaus Programm einlösen.8 Die Philanthropen, um die Kontroverse im Ursprung zu zeigen, haben solchen Konstruktionen wenig Kredit gegeben und sie sind Rousseau, als dessen „Adepten“ sie sich dennoch verstehen, auch an anderer Stelle nicht gefolgt, wenn sie bei ihm solche paradoxierenden Zuspitzungen der Argumente gefunden haben. Wenn Rousseau z. B., einleitend im Emile, schreibt, „alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen“, kommentieren die Philanthropen lapidar, dass man es auch durchaus anders, sogar umgekehrt sehen könne.9 Schaut man genau hin, dann findet man die in kritischer Absicht genutzten Thesen in dieser Pointierung aber gar nicht bei Rousseau, vor allem, wenn man nicht nur den Emile liest. Weder im Contrat social noch in anderen Erziehungsschriften – mit Ausnahme des Emile – denkt er die Erziehung außerhalb der Welt, damit sie legitim und erfolgreich sein kann. Selbst im Emile geschieht Erziehung nicht in der Autonomie des Subjekts, sondern nur in einer vollständig pädagogisch inszenierten Erfahrung in einer durch den Pädagogen kontrollierten Welt. Erziehung ist bei Rousseau als Kollektiverziehung ansonsten immer eng eingebunden in einen Staat und seine Vorgaben. Die wesentliche Bedingung und Rechtfertigung dieser Form von Erziehung ist allerdings, dass dieser Staat sich als Republik mit eigener Legitimation entfaltet hat und organisiert ist. Nicht die moderne Gesellschaft und ihre Staatsverfassung also erzeugen den vermeintlich unlösbaren Konflikt von Mensch und Bürger in der Erziehung, sondern allenfalls vormoderne Herrschaftsformen, z. B. die Monarchie. Ein republikanischer Staat
7Dietrich
Benner/Friedhelm Brüggen: Geschichte der Pädagogik. Stuttgart 2011, S. 94. Überblick über diese Rousseau-Rezeption und ihre Argumente – denen nur Hentig nicht zurechenbar ist – gebe ich in Heinz-Elmar Tenorth: [Rezension von] Hansmann, Otto (Hrsg.): Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Hohengehren 2002; Hentig, Hartmut von: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit. München 2003; Schäfer, Alfred: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim/Basel 2002. In: Zeitschrift für Pädagogik 51 (2005), S. 291–300. 9Aus der Emile-Übersetzung im Revisionswerk, Bd. 12, 1789, S. 27, u. a. der Kommentar von Heusinger zu diesem ersten Satz: „Man könnte eben so richtig im Gegensatze behaupten, daß so vieles ausarte, wenn es der Natur allein überlassen bleibt, und menschlicher Fleiß ihm nicht zur Hülfe kommt.“ 8Einen
13.1 ... „Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ als Deformation?
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ermöglicht dagegen legitime Erziehung und die Einheit von Mensch und Bürger. In der kritischen dualen, als Widerstreit inszenierten Codierung von Mensch und Bürger wird aber entweder Gesellschaftlichkeit insgesamt zum Hindernis von Bildung oder die ökonomische Verfassung, unabhängig von der Staatsform, zur systematischen Barriere für legitime Erziehung – gegen Rousseau, anders als bei den Philanthropen. Sie codieren nicht in dieser Ausweglosigkeit und auch nicht prinzipientheo retisch, sondern in der Regel noch pädagogisch, d. h. mit der pragmatischen Unterstellung, dass sich die Spannungen von Individualität und Gesellschaft durch die pädagogische Form des Aufwachsens versöhnen ließen. Sie können insofern das Verhältnis von Bildung und Staat durchaus distanziert sehen, vor dem Hintergrund konkreter Verfassungen der jeweiligen Staaten analysieren und als Aufgabe der pädagogischen Organisation des Aufwachsens bestimmen. Das geschieht auch nicht naiv. Während sie vor der Revolution optimistisch waren, sehen sie später, 1792 z. B., durchaus, dass der obrigkeitliche Staat der Bildung die Freiheit nicht lässt, die er vorher selbst – z. B. im Plädoyer für Selbstdenken – noch eingeräumt hatte.10 Die preußischen Bildungsreformer können, analog, nach 1806 in der Hochphase der preußischen Reformen neue Möglichkeiten der Bildung für alle erkennen. Sie müssen erst in der beginnenden und sich verschärfenden Restauration nach Humboldts Weggang 1810 und Schuckmanns Amtsantritt sowie in der nach 1819 einsetzenden Demagogenverfolgung erfahren, dass der Staat erneut Begrenzungsprogramme aus Angst vor der Bildung des Volkes propagiert und die Freiheit und Eigenlogik der Bildung nicht anerkennen will. Auch hier sind aber distinkte Referenzen auf das politische System von Bedeutung. Noch Ludolph von Beckedorff z. B. und die anderen scharfen Kritiker der als gefährlich eingestuften neuhumanistischen Bildungsideen, als deren Urheber sie Humboldt oder Schleiermacher anprangern, wissen gleichwohl, dass solche Ideen und Erwartungen gleicher Bildung für „Demokratien“ durchaus angemessen sind.11 Erziehung und Staat leben insofern nicht in unauflöslichen Widersprüchen, sondern in den Spannungen, die mit konkreten Verfassungen verbunden sind.
10Im
letzten, dem 16. Band des Revisionswerks argumentiert Trapp 1792 in dieser Weise, wenn auch schon anonym: Von der Notwendigkeit öffentlicher Schulen und von ihrem Verhältnisse zu Staat und Kirche. S. 1–43, mit der für berechtigt gehaltenen Diagnose: „Die Staaten haben von jeher, von ihren herrschenden Kirchen und ihren eigenen Bedürfnissen angetrieben, die Religionslehre und die Staatsphilosofie vorgeschrieben und tun es noch.“ Und im Blick auf das Potential einer modernen Pädagogik behauptet er „… denn das Vernunftwidrige, das manche Kirchen- und Staatslehren enthalten, kann sich eine gute Lehrart nicht erlauben, als wahr und wohlgegründet, kurz als Lehre vorzutragen, wenngleich als Thatsache zu erzählen.“ (S. 42); für den gesamten Kontext auch Dietrich Benner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 1: Die pädagogische Bewegung von der Aufklärung bis zum Neuhumanismus. Weinheim/Basel 22003, bes. S. 243–245. 11Der preußische Ministerialbeamte Ludolph von Beckedorff gilt dafür als typisch, für den gesamten Komplex schon Hartmut Titze: Die Politisierung der Erziehung. Frankfurt a.M. 1972.
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„Vergesellschaftung“ und „Verstaatlichung“ von Bildung prinzipiell und unausweichlich als Ursache ihrer Deformation zu sehen, ignoriert deshalb die Spannweite der Strukturen und Effekte, die mit Staat und Gesellschaft verbunden sind und vereinfacht die Möglichkeiten und Aufgaben der öffentlichen Erziehung. Während heute z. B. die vom Staat getragene, durch ihn – und zwar bereits in Gestalt der preußischen Bildungsreformer – früh und mit Absicht eingeführte Zertifizierung von Schulleistungen als unerwünschter Effekt von „Verstaatlichung“ und als Deformation von Bildung angesehen wird,12 hielten die Urheber solcher Prüfungen, z. B. des Abiturs oder des staatlichen Lehramtsexamens oder anderer Staatsprüfungen, sie für einen Ausdruck moderner und legitimer Staatlichkeit. Die Prüfungen waren ein notwendiges Instrument, Vorrechte des Standes oder der Herkunft abzubauen, das Leistungsprinzip durchzusetzen und die Gleichheit der Zugangschancen zu sichern. Der zertifizierte Gebildete ist deshalb im Ursprung eine der Modernität des Bildungsgedankens durchaus entsprechende Sozialfigur. Erst als sich die Folgen und Kontexte solcher Zertifizierung ausbreiten und verselbständigen, wird der Mechanismus zum Problem, in manchen seiner Wirkungen als nichtintendiert oder – auch von den Erfindern – als nicht erwünscht dargestellt. Aus dem Gebildeten wird der „Bildungsphilister“13, der „Fachmensch“ und schließlich – polemisch – der „Fachidiot“. Bildungsprozesse, im Ursprung der modernen Bildungsorganisation eng und wohl begründet mit Statuserwerb verbunden und vom Staat selbst als wesentliche Ressource seiner eigenen ökonomischen Entwicklung gefördert, werden erst dann in einen scharfen Gegensatz zu Karriere und Tauschwert gebracht. Bildung und Brauchbarkeit, Bildung und Beruf, die von den Aufklärungspädagogen und den preußischen Reformern durchaus noch als zwei legitime und auch nicht unvereinbare Prinzipien der Gestaltung von Bildungsgängen gedacht werden konnten,14 geraten jetzt in einen historischgesellschaftlich scheinbar unversöhnlichen Gegensatz. Die systematischen Schwierigkeiten solcher binären Codierung kann man deshalb auch an der zweiten Konfliktlinie erkennen, die mit dem Ursprung der Bildungsreflexion klassisch wird, am Konflikt von „Bildung“ und „Nützlichkeit“, „Geist“ und „Brauchbarkeit“. Davon wird noch zu reden sein, vorab muss man eine spezifische neue und vermeintlich die Tradition bestätigende Variante alter Konfliktlinien betrachten, Michel Foucaults Analysen des Zusammenhangs von Macht und Bildung.
12Als
jüngster Kritiker der Verstaatlichung versteht sich Bosse: Verstaatlichung, in: Bosse 2012, S. 351 ff. 13Die Figur hat selbst schon eine ältere und dann auch verzweigte Geschichte, bis er als Gegenbegriff zum Genie um 1800 neu auftaucht, vgl. Remigius Bunia/Till Dembeck/Georg Stanitzek (Hrsg.): Bildungsphilister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011. 14Vgl. Peter Villaume: Ob und in wie fern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey? In: Allgemeine Revision …. Bd. III, 1785, 435 ff.
13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der …
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13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht und die Struktur der Disziplinargesellschaft Im Blick auf diese historische, von Rousseau und einer bestimmten R ousseauRezeption geprägte Situation erscheinen einige der aktuell unter Berufung auf Michel Foucault vorgetragene Diagnosen über die Situation des Menschen in der Welt in vielen Dimensionen einerseits wie die Wiederaufnahme eines alten Arguments in einer neuen, aktuelleren Theoriesprache: Vergesellschaftung als Unterwerfung und Zerstörung des Subjekts, Sozialphilosophie als Destruktion der Subjektillusion. Andererseits zeigt auch die Foucault-Rezeption in der Erziehungswissenschaft und in der bildungstheoretischen Diskussion15 insgesamt sowie ihre spezifische Modalität zumal bei einigen kritischen Bildungstheoretikern16 nicht nur die bekannte Vorliebe für disjunkte Konstruktionen von Welt, sondern gelegentlich auch die Modi der selektiven Verarbeitung eines Autors, die man auch bei der Rousseau-Rezeption kritischer Pädagogen schon beobachten konnte. Insofern lernt man in den Texten, in denen Pädagogen Foucault-inspiriert über Bildung schreiben und die scheinbar unbegrenzte Macht der Disziplinargesellschaft kritisieren, gelegentlich mehr über manche Pädagogen und deren Verständnis von Zeitdiagnose und Kritik als über Foucault. Nicht zufällig wird solche Rezeption in der jüngeren Foucault-Rezeption deshalb auch schon kritisiert,17 nachdem die frühe Rezeption dem selbst Vorschub geleistet hatte. Aber selbstverständlich, Bildung im Kontext von Macht zu sehen, stellt eine Perspektive dar, die man nicht ignorieren kann. Zunächst aber zu dem Argument, das Foucault für das Bildungsdenken relevant macht. Seine zentralen Texte und Themen, Thesen und Begriffe,18
15Lohnend
vor allem Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006 sowie Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002, bes. S. 359 ff. 16Für die frühe Rezeption in der pädagogischen und bildungstheoretischen Kommunikation in Deutschland, allerdings nur theoretisch, nicht historiografisch relevant, Ludwig A. Pongratz: Pädagogikgeschichte als Dekonstruktion – Zur Entwicklung der pädagogischen Historiographie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 65(1989), S. 1–14, ders.: Bildungstheorie im Prozess der Moderne – Perspektiven einer theoriegeschichtlichen Dekonstruktion in: Bildungsforschung und Bildungspraxis, 9(1987), S. 244–262, aktuell u. a. ders.: Sackgassen der Bildung. Paderborn 2010. Als Übersicht zur Rezeption Norbert Ricken/Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004. 17Umfassend, klar und breit in den Literaturgrundlagen findet sich diese Kritik einseitiger Rezeption bei Nicole Balzer: Von der Schwierigkeit, nicht oppositionell zu denken. Linien der Foucault-Rezeption in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft. In: Ricken/Rieger-Ladich (Hrsg.), Foucault: Pädagogische Lektüren, 2004, S. 15–33. 18Eine Übersicht über die aktuell diskutierten Themen liefern jetzt Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart, Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M. 2000 – allerdings in der Theorierezeption und -diskussion deutlich stärker als in der empirischen Einlösung der starken Behauptungen über die gesellschaftliche Wirklichkeit.
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13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
in denen er das Funktionieren von Gesellschaften beschreibt, gehören einerseits in den Themenkreis von Politik und den Modi der Genealogie und der Geltungsmodi des Wissens; sie sind, andererseits, auch für die Praxis und Analyse von Erziehung und Sozialisation von Bedeutung, zumal im Verweis auf die historisch-gesellschaftliche Funktion von Pastoralmacht als Technik der „Regierung“ der Seelen und ihre moderne Transformation, auch wenn das nicht die primäre Intention und Thematik der Texte darstellt. Das sind Themen, etwa das Schicksal des Individuums in der Gesellschaft, die auch Rousseaus Denken bestimmt haben, die aber hier eine neue und originäre Sprache und Form der Thematisierung finden. Foucaults frühe sozialphilosophische Thesen (die er neben den erkenntniskritischen Schriften publiziert) – von „Überwachen und Strafen“ bis zur „Geburt der Klinik“, – werden von ihm selbst immer auch an Exempeln für das Aufwachsen in Gesellschaften oder über die Struktur und Funktion von Schule erläutert. Der jüngere Leitbegriff, „Biopolitik“ als zentraler Mechanismus der Generationsordnung, kann auch plausibel an der Geschichte der Schule, sogar an ihren Reformen diskutiert werden.19 Das gesellschaftliche Regime der Macht schließlich, „Gouvernementalität“ in Praktiken und Mentalitäten, schließt neben den politischen Praktiken immer auch die Macht ein, die über Erziehung produziert wird. Es wundert deshalb nicht, dass zumal im Umkreis kritischer Erziehungswissenschaft und Bildungstheorie Foucaults Thesen intensiv und früh wahrgenommen wurden, schienen sie doch frei vom Traditionalismusverdacht alter Pädagogik und vor allem frei von dem Vorwurf, Machtfragen würden hier, wie man auch der Systemtheorie vorwarf, ausgeblendet. Aber Foucault schien auch fern von dem politischen Ideologieverdacht,20 den sich vergleichbare Thesen der kritischen Theorie zugezogen hatten. Seine kritischen zeitdiagnostischen Thesen werden deshalb auch nicht zufällig im pädagogischen Milieu rezipiert, scheinen sie doch radikale Kritik zu rechtfertigen ohne in die Marxismus-/Sozialismusfalle zu stolpern, die aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts für kritische Theorien bereitsteht. Sie rekurrieren zudem auf „Aufklärung“21 in einer Weise, dass die Kritik an der Transzendentalphilosophie oder der Verdacht aus der „Dialektik der Aufklärung“ nicht erneut provoziert werden. Die Rezeption Foucaults geschieht freilich auch mit der Zuschreibung radikaler theoretischer Innovation, die
19Sehr
quellennah und überzeugend demonstriert das Marcelo Caruso: Biopolitik im Klassenzimmer. Zur Ordnung der Führungspraktiken in den Bayerischen Volksschulen (1869–1918). Weinheim/Basel/Berlin 2003. 20Als Person war er indes selbst Objekt von Ideologiekritik, vgl. Jörg Lau: Der Meisterdenker der Ajatolllahs. Michel Foucaults iranisches Abenteuer. In: Merkur 671, 59(2005), S. 207–218. Lau wundert sich angesichts seines Exempels jedenfalls über „diese sonderbare Verklärung – Michel Foucault als der gute Mensch von Poitiers“ (zit.S. 208). 21Dazu u. a. Christine Thompson: Foucaults Zuschnitt von Kritik und Aufklärung. In: Ludwig A. Pongratz u. a. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 30–49, schon skeptisch gegen „Freiheits-Romantik“ (S. 45).
13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht …
199
etwas überrascht, weil dabei so kontext- und traditionsfrei attribuiert wird. Im Begriff des „Dispositivs“ z. B., mit dem Foucault Praktiken und ihre Reflexion und Legitimation zur Einheit einer sozialen Form bündelt, die den Menschen beherrscht, wird eine Erfahrung transportiert und eine Annahme begrifflich gefasst, die den Geisteswissenschaften so wenig fremd war wie der Systemtheorie. Auch diese sozialphilosophischen Reflexionstraditionen gingen oder gehen von der Annahme aus, dass sich z. B. das Erziehungssystem in Praktiken konstituiert, gegenüber seinen Adressaten verselbständigt und in prozessbegleitender und sie prägender Reflexion reflexiv und operativ zur Einheit fügt, selbst beobachtet und legitimiert. Obwohl insofern unverkennbar ist, dass zentrale Elemente von Foucaults Denkform selbst der geisteswissenschaftlichen Tradition nicht fremd sind, scheint doch die starke Betonung des Aspekts der „Macht“ im Kontext von Bildung die Zäsur gegenüber der bildungstheoretischen und pädagogischen Tradition zu markieren. Auch diese Unterstellung hat aber ihre eigenen Probleme in der Würdigung der vorliegenden Theoriebestände, vor allem wenn man die erziehungstheoretische Reflexion der geisteswissenschaftlichen Tradition und ihre pädagogischen Vorläufer betrachtet.22 Sie waren sich nämlich der Tatsache der Macht durchaus bewusst: „Erziehung bedeutet die Ausübung von Macht über Menschen“, das findet sich bei Wilhelm Flitner, mit einer eigenen Reflexion von Macht in der Erziehung.23 Für ihn war, zeitdiagnostisch und gesellschaftstheoretisch, völlig unstrittig, dass die „Unterwerfung“ der Heranwachsenden „unter die erziehenden und lehrenden Gewalten“24 zu den Strukturtatsachen moderner Gesellschaften gehört und dass sie notwendig und für die Humanontogenese unausweichlich ist – allerdings der Legitimation bedarf. In der pädagogischen Tradition, schon vor Flitner, war auch bereits präsent, dass bereichsspezifische (und in der Pädagogik von religiös-kirchlichen schon unterscheidbare) Praktiken der „Regierung“ am Anfang aller Erziehung stehen. Sie wurden als Formen der Herstellung von „Ordnung“ verstanden, um Erziehung und Bildung überhaupt erst zu ermöglichen, also von „guter“ Ordnung, wie die pädagogische Tradition annahm, als „wohlgestaltete Freiheit“, wie man bei Rousseau lesen kann. Aber es war und blieb doch eine Ordnungsform und sie ist als asymmetrische Form erkennbar,25 vielleicht auch als „positiv asymmetrische“
22Hier
schließe ich, z. T. wörtlich, dann aber auch erweiternd, an ein Argument an, das ich an anderer Stelle eingeführt habe: H.-E.T.: Macht und Regierung – oder die asymmetrische Ordnung der Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), S. 36–42. 23Alfred Schäfer: Macht – ein pädagogischer Grundbegriff? Überlegungen im Anschluss an die genealogischen Betrachtungen Foucaults. In: Ricken/Rieger-Ladich (Hrsg.), Foucault: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden 2004, S. 145–164 rekapituliert erneut eher Foucault als die eigenständigen pädagogischen Theorieangebote. Flitner wird deshalb auch wohl nicht zufällig nicht erwähnt. 24Wilhelm Flitner: Die Macht in der Erziehung. In: W.F.: Grundlegende Geistesbildung. Heidelberg 1965, S. 166–175, zit. S. 166. 25Hier folge ich nicht nur Rousseau, sondern auch der Analyse von Jürgen Markowitz: Bildung und Ordnung. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim/Basel/Berlin 2003, S. 171–200.
200
13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
Form,26 mit der prozessbezogenen Eigenart, dass sie der Funktionslogik nach auf Symmetrisierung drängt. Das gilt zunächst in Teilbereichen, etwa in der Kompetenzdifferenz, und schließlich insgesamt; denn die Ablösung von den erziehenden Gewalten ist die gesellschaftliche Funktion von Bildung und Erziehung. In ihr wird unterstellt, dass Macht und Kontrolle verinnerlicht sind, in einem wohlgebildeten Subjekt, das sich selbst kontrolliert. Nicht zufällig kann die allgemeine Pädagogik die Prozessform pädagogischen Handelns als „sich selbst negierendes Gewaltverhältnis“27 beschreiben. Was trägt die Theoriesprache Foucaults diesem Bildungsdenken zusätzlich ein? Ist seine Perspektive mehr als eine neben anderen,28 lässt sie sich problemlos zuordnen und nutzen, der zunächst fremden Sprache ungeachtet?29 Zunächst muss man festhalten, dass in und mit der Lektüre von Foucault die im deutschen pädagogischen und bildungstheoretischen Diskurs gemachte und für zentral gehaltene Unterscheidung von Bildung und Erziehung, von Emanzipation hier, Unterwerfung dort, sich nicht fortsetzen lässt; denn im Prozess des Aufwachsens hat der Prozess seine Einheit. Das macht Foucault nicht etwa zu einem affirmativen Denker, sondern stellt die wirkliche Provokation dar, zumal für die Bildungsphilosophie in der Heydorn-Nachfolge, glaubte sie doch schon begrifflich in der Unterscheidung von Bildung und Erziehung auch disjunkte Welten konstruiert zu haben. Foucault wirft aber die Frage auf, wie die Selbstkonstruktion des Subjekts, deren Funktionslogik pädagogisch-emphatisch als Emanzipation gedeutet wird, sich so vollzieht, dass nicht nur Vergesellschaftung, gar ‚von oben‘ und ohne Rettung für das Subjekt, wie man französische Bildungssoziologen gerne liest,30 sondern auch Individualisierung möglich wird. Mit seinen Antworten ist Foucault dann tatsächlich fremd gegenüber klassischer Bildungsreflexion: In gewisser Weise stellt er (insofern anderen
26So
etikettiert Hans-Peter Müller: Bildung. Idee, Funktion und Folgen eines positiv asymmetrischen Grundbegriffs. In: Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn (usw.) Schöningh 2012, S. 213–236 – „asymmetrisch“, weil es keinen sinnvoll formulierbaren Gegenbegriff gäbe. 27Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. (1988) 4. Aufl. Weinheim/Basel/Berlin 2001, zit. S. 28Ricken (2006) könnte man so lesen. 29Einen solchen Versuch unternimmt z. B. Jenny Lüders: Bildung im Diskurs. Bildungstheoretische Anschlüsse an Michel Foucault. In: Ludwig A. Pongratz u. a. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 50–69. Sie bezieht sich freilich nicht auf eine distinkte Bildungstheorie, sondern auf Referenzthemen, die man eher locker auch mit dem Thema Bildung assoziieren kann, ohne schon eine eigene Theorie ausgearbeitet zu haben: Bildungsinstanz, Gesellschaftsbezug, ethisch-normative Implikation, prozessuale Bestimmung. Das erlaubt Zuordnungen, aber keine scharfe theoretische Distinktion. 30Die Rezeption der Texte von Louis Althusser bis zu Pierre Bourdieu kennt diese Zuschreibung, vgl., schon aus der Distanz gegen solche Zuschreibungen, Eckart Liebau: Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In: Barbara Friebertshäuser/Markus Rieger Ladich/ Lothar Wigger (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden 2006, S. 41–58.
13.2 Exkurs: Bildung als Dispositiv der Macht …
201
sozialwissenschaftlichen praxeologischen Theorien vergleichbar31) das bildungstheoretisch dominierende Denken vom Kopf auf die soziale und materielle Basis, verankert Bildungsprozesse nicht mehr im „Geist“ (und sei es der „objektive“), sondern in der „Materialität der Praktiken“, die Bildungsprozesse konstituieren und den Adressaten formen, auch nicht nur seinen Geist oder Normen und Mentalitäten, sondern bis in die Körperlichkeit hinein prägen. Diese Thesen werden zudem vor dem Hintergrund eines Subjektbegriffs formuliert, der fern ist aller Individualitätsemphase oder der Überhöhung von Universalität und Totalität der Bildung. Die individuenzentrierte Zuschreibung der Selbstkonstruktion als Standarderwartung moderner Gesellschaften, operationalisiert und veralltäglicht in den Forderungen des Lebenslangen Lernens, auch in Erwartungen wie Reflexivität oder Kreativität (usw.), erscheint eher wie eine unausweichliche Zumutung moderner Gesellschaften an die Subjekte, der sie in den „Technologien des Selbst“ auch eher kontingent zu entsprechen suchen.32 Vor dem Hintergrund solcher Thesen mag es, in paradoxer Weise, vielleicht auch nur ein Indiz für eine eigentümliche pädagogische Form der Rezeption eines großen Theoretikers sein, dass man ihn in seinen empirischen Befunden kritisch umdeutet. Aber seine kritischen Analysen münden schon früh (und immer wieder) in die These, dass die Genese von Subjektivität in der Moderne sich erst den Bedingungen verdankt, die bildungstheoretisch als so fern und kritisch gelesen und bewertet werden: als eine kontingente Praxis der Selbstkonstruktion. Schleppt man die (offenbar unvermeidlichen) normativen Konnotationen der Rede von Bildung aber nicht so stark mit, dass man sie sogar als den Kern der Bildungsreflexion unterstellt, dann sieht man viel eher, wie nah Foucault an klassischen bildungstheoretischen Annahmen platziert ist, gerade wenn man seine Überlegungen zu den „Technologien des Selbst“ ernstnimmt, die er aktuell diskutiert. In kritischer bildungstheoretischer Wendung häufig nur als endgültiges Indiz für die Deformation subjektbestimmter Bildungsprozesse gelesen, bestätigen sie nur, was in der Gleichzeitigkeit von Vergesellschaftung und Individualisierung dem bildungstheoretischen Diskurs schon immer angehörte.33 Hier wird doch schon immer konstatiert und analysiert, dass das Subjekt selbst in Wechselwirkung mit der Welt sich und seine Welt konstruiert, kritisch und affirmativ zugleich, und dass sich seine Praktiken im Umgang mit Welt ab und an auch
31Für
diese Zuordnung und weitere Details der Argumente, die ich hier selektiv aufnehme, Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32(2003), S. 282–301. 32Otto Hansmann: Die Bildung des Menschen und des Menschengeschlechtes. Eine herausfordernde Synopse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014 hat in seiner großrahmigen Synopse diese Themen Foucaults zustimmend aufgenommen, aber sie, gut pädagogisch, im Wesentlichen dann doch wieder programmatisch und normativ konstruierend genutzt. 33Einen schönen Titel für die Dynamik solcher Praktiken gibt Jenny Lüders: Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld 2007 – und man darf hinzufügen, dass diese Zuschreibung nicht nur für die Praxis von weblogs gilt.
202
13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
„als Formen des Widerstands“34 lesen lassen – ohne das es gelänge, diese Qualifizierung im Konsens akzeptiert zu finden. Zu diesen schon alten Prämissen gehört auch, dass dabei wirklich Individualität regiert und allenfalls ein Bewusstsein der Differenzen, nicht aber das Ergebnis universal unterstellt werden kann. Insofern war in der Bildungsreflexion schon immer präsent, was sich als These schon früh bei Foucault findet, wenn er diejenigen Theoretiker kritisiert, die geneigt sind, „die Wirkungen der Macht immer negativ zu besetzen, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen!“. Foucaults eigene These gegen solche Konstruktionen ist dagegen radikal anders, aber sie lässt sich im Kontext einer theoretisch ansetzenden und empirisch arbeitenden Bildungsreflexion, die nicht allein disjunkte Welten konstruiert, durchaus verstehen und akzeptieren. „In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“35 Wenn jetzt in der nüchtern-distanzierten Foucault-Rezeption in der Charakterisierung der Leistung der Subjekte gegenüber solchen gesellschaftlichen Zumutungen ein Begriff wie der der „Haltung“ benutzt wird, der seiner Herkunft nach aus der pädagogischen und bildungstheoretischen Tradition z. B. der Neukantianer stammt, wird auch die Erinnerung an eine andere Gesellschaftstheorie geweckt, die über diesen Begriff und die Bestimmung von Bildung als Form der „Lebensführung“ die Position des Subjekts in der modernen Gesellschaft bestimmt. Max Weber hatte ja in den Strukturen der modernen Gesellschaft und ihren Institutionen „Gehäuse der Hörigkeit“ gesehen, die eine eindeutig-einfache normative Auszeichnung der Welt oder eine sinnhaft universal gesetzte Empfehlung für das Verhalten in der Welt ausschließen und auch nur noch „Haltung“ als Fluchtpunkt alltäglicher Lebensführung empfehlen. Solche Lebensstile, deren Träger Milieus und kleine Gruppen sind, bezeichnen „innerhalb der sittlichen Gesamtökonomie der Lebensführung“36 für ihn den Ort, an dem die Individuen die Rationalität ihres Handelns definieren, Beruf und Arbeit ebenso übergreifend wie das private Leben. Die aktuell identitätsprägenden Instanzen haben aber weder die Kraft noch können sie den universalistischen Anspruch erheben, die den alten Sozialordnungen innewohnten. Milieus definieren jetzt in ihrer Vielfalt Biografien und Identitäten. Sie sind zu den Welten geworden, in denen sich Bildung manifestiert, je gegenwärtig in der Selbstkonstruktion der Subjekte, in aller Ambivalenz und in der Differenz, die Individualitätsmustern heute eigen ist. Foucault gehört deshalb, wie Weber, nicht in denjenigen Kreis der
34Rieger-Ladich,
Mündigkeit 2002, zit. 410 und passim (u. a. 436 f.). Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1975, zit. S. 250. 36Max Weber: Politik als Beruf. (1919). In: Schriften zur Politik. Tübingen 1971, 505–560, zit. S. 536; zum Konzept der Lebensführung Hans-Peter Müller: Gesellschaftliche Moral und individuelle Lebensführung – Ein Vergleich von Emile Durkheim und Max Weber. In: Zeitschrift für Soziologie 21(1992), 49–60. 35Michel
13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus
203
Bildungsreflexion, der in der Konstruktion disjunkter Welten sein Thema definiert. Ihre Analysen sind offen für die Leistungen der Subjekte selbst, ohne sie in ihrer Ambivalenz zu überhöhen oder nur zu destruieren.
13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus Die dominierende Tradition der Rede von Bildung beschreibt allerdings weiterhin disjunkte Welten und scheinbar unauflösliche Konstellationen, nicht nur im Blick auf Macht und Staat, auch für die Relation von Beruf und Individualität. Es ist eine bis heute klassische Schrift, die für diese zum unauflöslichen Widerspruch stilisierte Beziehung immer wieder neu zitiert, ja als definitive Fassung eines systematisch schwierigen, wenn nicht sogar unlösbaren Problems gehandelt wird.37 In der Ursprungsphase der Bildungsreflexion und zugleich im Kontext der Bildungspolitik wird dieses Thema, dualisierend, von Friedrich Immanuel Niethammer 1808 in seiner Schrift „Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit“38 eingeführt und Niethammer damit zum Zeugen für den Widerstreit von Bildung und Utilitarismus. Der Autor, in Jena im Fichte-Hegel-Umfeld sozialisiert, dann als Bildungsreformer in Bayern aktiv, publizierte 1808 den anstoßgebenden Text, der in seinen zentralen Thesen und noch stärker in der Rezeption die Unversöhnlichkeit von Bildung und Beruf, Bildung und gesellschaftlichen Erwartungen wie der Nützlichkeit und Brauchbarkeit zur klassischen These verdichtet und bis heute – meist in Niethammers Sinn und insofern zustimmend – rezipiert wird. Niethammer steht mit der begrifflich-dualisierenden und zugleich kritischen Zuspitzung von Urteilen über das Bildungswesen und die Schulpolitik der Aufklärung und ihre Theorie auch nicht allein. Der Schweizer Schulmann Evers wird ebenfalls immer wieder zitiert, der für seine Zeit und als Konsequenz der Aufklärer schon 1807 die „Schulbildung zur Bestialität“39 diagnostizierte und eine
37Für
den historischen Kontext und die Diskussionslage insgesamt vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Allgemeines Normativ von 1808. Niethammer als Schulreformer. In: G. Wenz (Hrsg.): Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Beiträge zu Biographie und Werkgeschichte. München 2009, S. 65–81 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen. Neue Folge, H. 133) – daraus auch, z. T. wörtlich, einige der Überlegungen im Folgenden. 38Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit. Jena 1808, vgl. den Neudruck in Werner Hillebrecht (Bearb.): Friedrich Immanuel Niethammer: Philanthropinismus – Humanismus. Texte zur Schulreform. Weinheim/Berlin/Basel 1968. Nach diesem Text, und zwar nach der dort reprografisch dokumentierten Erstausgabe, die Seitenzahlen hier im Text in Klammern. 39Ernst August Evers: Über die Schulbildung zur Bestialität. Aarau 1807 – der sich im Übrigen, genau gelesen, nicht als Stütze für Niethammer funktionalisieren lässt, sondern auf eine ganz andere, Schweizer Situation hin argumentiert.
204
13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
entsprechende Kritik publizierte. Aber schon wegen der Nachwirkung bis heute kann man das Thema allein von Niethammer aus einführen und diskutieren. Niethammer baut in seiner Streitschrift von 1808 seine gesamte Argumentation auf der strikten Gegenüberstellung von „Philanthropinismus“ und „Humanismus“ auf. Im dritten Abschnitt werden sogar, „um desto leichter die Verschiedenheit beider Systeme übersehen zu können“, die binär codierten Abgrenzungen in einer tabellarischen Gegenüberstellung präsentiert (s. Auszug in der Abb. 13.1) Unter Ziffer „A“ findet sich der „Humanismus“, unter „B“ der „Philanthropinismus“. Zunächst werden diese Gegenüberstellungen für den „Zweck“ und die „Mittel des Erziehungsunterrichts“ gegeben, in zweiter Hinsicht noch intern unterschieden, und zwar „a. die Unterrichtsgegenstände betreffend“, „b. die Unterrichtsmethode betreffend.“ Niethammer definiert die beiden Formen des Erziehungsunterrichts jeweils über einander ausschließende Bestimmungen: Beim „Zweck“ über den Gegensatz von „allgemeine Bildung“ vs. „Bildung des Menschen für seine künftige Bestimmung in der Welt“, ferner über den Gegensatz von „Geist“ vs. „Masse brauchbarer Kenntnisse“. Hier, im Humanismus, ist
Abb. 13.1 Philanthropinismus vs. Humanismus – „die Hauptgrundsätze beider nebeneinander gestellt“. (Niethammer 1808, S. 76.)
13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus
205
„Bildung des Geistes an und für sich selbst Zweck“, dort, im Philanthropinismus, wird „der Geist zu bestimmten Geschäften geschickt gemacht“; hier geht es darum, „den Lehrling … für die höhere Welt des Geistes … zu bilden“, dort um „die Bildung für diese Welt“. Analog werden die Differenzen der „Unterrichtsgegenstände“ konstruiert: wenige Gegenstände hier, im ausgezeichneten Unterricht, in denen der Lernende „bis zur höchsten Stufe der Kenntniß und der Fertigkeiten fortgeführt“ wird, auch um das „gründliche … Lernen“ zu ermöglichen, „möglichst“ erweitert dort – und die Suggestion ist, dass das auf Kosten der Gründlichkeit geht. „Ideen“ gelten hier als geeignet „für die Uebung des Geistes“, also „geistige Gegenstände“, „damit er nicht in dem folgenden thätigen Leben sich in die Region gemeiner Brodkenntniß ganz verliere“, ein Schicksal, das natürlich dort droht, denn auf der anderen Seite geht es nur um „materielle (Gegenstände)“, damit „der Geist“ nicht „für das thätige Leben ganz untauglich werde“ (79). Vergleichbar gilt für die Methode (81 f.), dass „das Lernen … als ernstes Geschäft“ behandelt wird, während man es – der klassisch werdende Vorwurf gegen alle Aufklärungs- und Reformpädagogik – dort „auf jede mögliche Weise erleichtern und versüßen“ will, mit der Konsequenz, dass nicht nur der Anfangsunterricht („nicht alle Unterrichtsgegenstände mit Einemmal“ vs. „alle … mit Einemmal“), sondern auch die „Kreise des Wissens“ begrenzt werden. Damit, so Niethammer, werde auch systematische Ordnung gelernt, während das Wissen dort „enzyklopädisch“ behandelt wird (83), damit auf diese Weise das Ziel des Unterrichts, das der Natur des Lernenden gemäß ist, bedient wird, demgegenüber regiert hier „das Gedächtniß“, dort – und „möglichst früh“ – „die Urtheilskraft“ (84). An dieser Stelle kommt es nicht darauf an, Niethammers Gegenüberstellung auf ihre (damalige oder aktuelle) sachliche, der Logik des Lernens entsprechende oder widersprechende Begründung zu prüfen. Auch die historische Angemessenheit der Gegenüberstellung kann auf sich beruhen (wir wissen inzwischen, dass er eher eine Karikatur als ein angemessenes Bild der Aufklärungspädagogik und ihrer Theorie zeichnet und ohne Not auch einen Gegensatz von Beruf und Bildung konstruiert40). Man kann natürlich den „Streit“ und sein Fortwirken wie seine Rezeption auch im Geiste Foucaults machttheoretisch interpretieren41 und von daher die fortdauernde Konfliktstruktur in der Wirkungsgeschichte analysieren. Man kann schließlich auch versuchen, den Sinn der Kontrastierung nicht so sehr
40Wie
seine These sagt: dass „die … Freistätten allgemeiner Bildung durch Verwandlung in bloße Berufsschulen für immer zu zerstören … daß Bildung zum Beruf nicht Bildung der Vernunft, sondern Bildung bloß des Kunstverstandes sey“, so Niethammer, 1808, zit. S. 25, 63; zur bildungstheoretischen Kritik schon Herwig Blankertz: Berufsbildung und Utilitarismus. Düsseldorf 1963. Blankertz kritisiert zunächst ausführlich Evers‘ Schrift (S. 72 ff.), zu Niethammer dann bes. S. 76 ff. 41Das geschieht sehr luzide, im Wesentlichen auf der Basis der Blankertzschen Interpretation, aber ganz ohne den Blick auf die soziologischen Schlussfolgerungen und Unterstellungen, die ich im Folgenden bei Niethammer hervorhebe, bei Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006, S. 285–292.
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als Bildungspraxis historisch, sondern als Konstruktion denkbarer Lernwelten systematisch zu verstehen und die Pädagogik des „Geistes“ einer Pädagogik der „Nützlichkeit“ vorordnen42 (auch wenn das starke Lob des Gedächtnisses etwas überraschend klingt, würde man heute doch eher für die Urteilskraft plädieren). Gleichwie, angesichts der nahezu unbefragten Vorliebe aller Vertreter des „Humanismus“ für die Bildung des Geistes, sollte man Unterscheidungen ergänzen, die in der Regel vergessen werden,43 wenn man Niethammer schulkritisch nutzt. Diese Unterscheidungen betreffen die Adressaten des Unterrichts, und es sind Unterscheidungen, die nicht nur pädagogische Differenzen erzeugen, sondern scharfe Praktiken von Inklusion und Exklusion nach gesellschaftlichen Kriterien zu rechtfertigen suchen. Niethammer unterscheidet nämlich die Adressaten der Bildung ebenfalls dualisierend, nach „Classen“, und er meint damit sowohl gesellschaftlich als auch pädagogisch definierte „Classen“. Dabei akzentuiert er ganz unterschiedliche Differenzen bei den Adressaten seiner Überlegungen, d. h. „Artverschiedenheiten der Lehrlinge“ (337), die das Bildungssystem berücksichtigen muss. Die sind für Niethammer in mehrfacher Weise gegeben und in der Gestaltung der Bildungsorganisation und für die Teilhabe an Bildungsprozessen in scharfer Trennung zu berücksichtigen: nach dem Geschlecht (322 ff.) und für die weibliche Natur (328 ff.), auch nach den Berufsarten, auf die Bildung zielt (398 ff.), und schließlich nach den „individuellen Anlagen“ (337 ff.). Konzentriert auf den letzten, für die Organisationsstruktur folgenreichsten Aspekt kennt Niethammer nur solche Adressaten höherer Bildung, denen er „ausgezeichnete Geistesfähigkeit“ zuschreibt – und das kann man noch als ein auf Natur und Lernfähigkeit zielendes bildungstheoretisches und pädagogisches Argument verstehen. Aber gleichzeitig kennt und akzeptiert er auch solche jungen Männer als Adressaten höherer Bildung, die „zwar von der Natur nicht gerade durch eminente Geistesgaben begünstigt, dafür aber von dem Schicksal mit Glücksgütern bereichert, frei von der Noth und dem Druck äußerer Verhältnisse, zu einer ausgebreiteteren Geistesbildung Zeit und Mittel zu verwenden haben.“ (337). Die Anerkennung bzw. Einbeziehung dieser zweiten Gruppe von „Ausgezeichneten“44, rein nach dem Besitz und materiellen Vermögen, erscheint ihm in seinem von Individuen ausgehenden Konzept schon deswegen kein Widerspruch oder eine Privilegierung der Reichen, sondern legitim, weil, so sagt er tatsächlich 42Otto
Hansmann hat jüngst – ohne dass ich meine Einwände entkräftet sehe – diesen Versuch unternommen, vgl. O. H.: Humanismus und Philanthropismus. Zum Streit um Logiken von Bildungswelten um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Mitteilungsblatt des Förderkreises Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung 21 (2010) 2, S. 11–27. 43Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979, S. 110–113, diskutiert auch einige der Argumente bei Niethammer an, die ich hier nachzeichne. 44In der aktuellen amerikanischen bildungspolitischen Diskussion werden die derart Privilegierten als „the stupid sons of the rich“ eingeführt; zur Reichweite des Problems und der damit verbundenen Privilegierungspraxis Jerome Karabel: The Chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton. Boston/New York 2005.
13.3 Bildung und Geist vs. Erziehung und Utilitarismus
207
explizit, „auch solche äußeren Verhältnisse des Individuums, wie seine inneren, nicht als bloßer Zufall, sondern vielmehr beide auf gleiche Weise als Bestimmungen einer höheren Ordnung zu betrachten sind, die zur Bestimmung der Individualität unabänderlich gehören und berechnet werden müssen.“ (338) So konstituiert sich für ihn in der Einheit von Lernfähigkeit und Besitz „die wichtigste Classe“ (S. 356), die, die primär der Bildung teilhaftig werden soll, der „Gelehrten-Stand“. Aber dieser Stand umfasst nicht allein die Gelehrten, sondern alle „Staatsbeamten und Geschäftsmänner“ (356 f.), solche also, die in zweifacher Weise definiert sind: über intellektuelle Begabung und über Besitz. Für beide gemeinsam gilt, dass niemandem „Zugang“ in die bedeutsamen Ämter und Funktionen „gestattet werden [dürfe], der sich nicht durch Bildung in dem Gebiete der Geistesideen hinreichend dazu legitimirt hätte.“ (Streit S. 357). Er muss „eingeweiht“ sein in das „Heiligtum des höchsten geistigen Lebens“ (S. 358), wie Niethammer hinzufügt, ausgezeichnet durch geistige oder materielle Gaben. Dem Volk dagegen, der „anderen Classe“, fehlen in Niethammers Theorie beide Vorzüge. Sie ist „weder innerlich noch äußerlich vorzüglich begünstigt“ und insofern kann man sie auf die untere Stufe der Bildung, die „notwendige Menschenbildung oder Vernunftbildung beschränken“ (338). Ja, Niethammer nimmt an, dass auch die Humanitätsbildung durchaus „verschiedene Grade“ kennt. „In der gewöhnlichen Schulbildung muß man sich meistens schon damit begnügen, den Geist nur einigermaßen von den Fesseln der Animalität frei zu machen, um ihn vor dem Untergehen in der Thierheit zu bewahren.“ (105) Weil damit allein die Vernunft nicht überlebt, deshalb muss es die andere Bildung, die „höhere Humanitätsbildung“, für die andere „Classe“ geben, für die „gebildete Classe“, für die „Priester der Vernunft“ (105), den „Kern einer Nation“ (356). Niethammers scheinbar allein pädagogisch und bildungstheoretisch begründete Argumentation entpuppt sich also letztlich als ein altes Programm der Trennung gesellschaftlicher „Classen“ durch Bildung – im Übrigen: ganz anders, als es die Intention des Humboldtschen Neuhumanismus war. Aber unbeschadet solcher Implikationen wird Niethammer bis heute immer neu gesucht, um „Bildung“ gegen „Utilitarismus“ in Stellung zu bringen; ohne dass der wirkliche Prüfstein einer allgemeinen Bildung, der Status der Volksbildung, mit zum Thema gemacht wird. Die problematischen Folgen solcher Ausgrenzung kann man schon erkennen, wenn man Sprangers Lesart der zentralen bildungspolitischen Intention Humboldts folgt: „Was sich über die Volksbildung erhebt, tritt damit aus dem Bereich der Nation heraus in den des Individuellen. Beides aber darf nie von einander absolut getrennt werden.“45 Humboldt sagt an anderer Stelle noch deutlicher und schärfer: „In die höheren Stände bringt man aber das Volksmäßige nicht, wenn man nicht den Volksunterricht so anordnet, dass er eine allgemeine Grundlage wird, die niemand verschmähen kann, ohne sich selbst verachten zu müssen, und auf der nachher jedes andere aufgebaut werden kann. Es muß
45Wilhelm
von Humboldt 1814, Briefe an Caroline, Bd. IV, S. 380 f., hier zit. nach Eduard Spranger: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Berlin 1910, S. 135 f., Anm. 2.
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daher gar keinen doppelten, sondern nur einen in beschränkterem Raume stehen bleibenden und einen weitergehenden Unterricht für die Geringsten und Vornehmsten geben, und die Erziehung leidet kaum nur noch diesen Unterschied. Ebenso ist es da, wo in der Nation die zweite Trennung angeht, die des Gelehrten und des Geschäftslebens.“ Humboldt vertritt, anders als Niethammer, auch im Blick auf die Differenz von Tätigkeiten eine egalitäre Position: „Da man nie den Menschen abrichten darf, und ein bloß abgerichteter auch immer ein unnützer und gefährlicher wäre, sondern immer bilden muß, so muß auch zwischen diesen beiden Ständen der Weg derselbe sein, und nur ein Punkt eintreten, wo die einen stehen bleiben, die anderen weitergehen.“46 Nicht die Tätigkeiten, der Bildungsgang in seinem individuellen Vollzug, erzeugt für ihn die folgenreichen Differenzen. Allerdings, ungeachtet solcher schon historisch vorliegenden Kritik wird die scheinbar von Niethammer in immer noch gültiger Weise eingeführte Unterscheidung bis heute wiederholt. Bildungswelten hier und die Welten der auf Beruf und gesellschaftliche Verwertung zielenden Ausbildung dort werden wie disjunkte, unversöhnliche Welten einander gegenübergestellt. Im Namen der vermeintlich bildungstheoretisch begründeten „Zweckfreiheit“ wird das als gültige Wahrheit des Neuhumanismus ausgegeben, wo doch schon Humboldt selbst den Niethammerschen Mustern der „Classen“-Trennung nicht folgt und die specielle Bildung, die über den Beruf, durchaus als Bildung anerkennt. Es bleibt deshalb nur der kritische Affekt gegen alle Formen von Ausbildung, zum Schaden der Frage, welche Bildungsbedeutsamkeit Beruf und Arbeit haben.
13.4 Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“ Aber selbstverständlich, die Ordnung von Bildung und Gesellschaft orientierte sich schon seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht an bildungstheoretischen Modellen. Zu den frühen Kontroversen über Bildung gehört es deshalb auch, dass man die Differenz von Ideal und Realität der Bildung auch angesichts eines etablierten Bildungssystems kritisch notiert. Friedrich Nietzsche markiert insofern 1872 in seinen bis heute beanspruchten Basler Vorträgen „Ueber die Zukunft unsrer Bildungsanstalten“47 die Differenz der institutionalisierten zu der von ihm
46Ebd., Wilhelm von Humboldt 1814, Briefe an Caroline, Bd. IV, S. 380 f., zit. nach Spranger, 1910, S. 135 f., Anm. 2. 47Jetzt in Nietzsche Werke, KSA, hrsg. von Colli/Montinari, Bd. 1, 1967 (tb-Ausgabe 1980), S. 641–752, Zitate von dort und Nachweise hier im Klammern im Text. Auch für diese Reden ist wahrscheinlich die Rezeptionsgeschichte der Texte signifikanter als die Ursprungsintention ihres Urhebers, wie, auch in diesem Fall, Christian Niemeyer argumentiert, wenn er seinen Autor gegen sich selbst zu retten sucht, vgl. C. N.: Nietzsche verstehen. Eine Gebrauchsanweisung. Darmstadt 2011, bes. S. 90–95.
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als legitim erachteten Bildung, übrigens im gleichen Jahr, in dem Wilhelm Liebknecht über „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ spricht.48 Liebknecht wiederholt damit nicht nur die seit Francis Bacon bekannte Formel,49 sondern bekräftigt sie, unter der emphatischen Losung „Bildung macht frei!“ Präzisiert allerdings in der alternativen Losung – „Durch Freiheit zur Bildung!“ – wird Bildungspolitik damit als zentrales Thema der Sozialdemokratie propagiert. Liebknecht kritisiert vor allem scharf die vom Ideal der Bildung abweichende Realität der bürgerlichen Gesellschaft („O diese Bourgeoislüge von Bildung!“) und fordert, im strikten Gegensatz zu Nietzsche, die gleiche Teilhabe an Wissen und Macht, erklärt also ihre Demokratisierung zum Ziel, wobei freilich erst ein anderer Staat und eine andere Gesellschaft solche Ziele realisieren könnten. Nietzsche diagnostiziert in seinen Reden (die er als Form eines Gesprächs zwischen einem Philosophen und seinen jugendlichen Adepten stilisiert) anders, bildungstheoretisch (und sehr kritisch gegen die Pädagogik50), wenn auch durchaus mit politischen Implikationen. 1872 kann er dann – in Deutschland, nicht etwa in Basel – nur noch „Institutionen zur Überwindung der Lebensnot“ (715) erkennen, d. h. Schulen, die allein „versprechen Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirthe oder Ärzte oder Techniker zu bilden“. Das sind für ihn zwar „Bildungsanstalten“, aber keine Stätten der „Bildung“ mehr, sondern nur „Abirrungen von den ursprünglichen erhabenen Tendenzen ihrer Gründung“ (645). Der „wahre Gegensatz“ bestehe jetzt zwischen den „Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth“ (717). Allein wegen der „nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart“ (667) und wegen des volkswirtschaftlichen Bedarfs werde eine Expansion der Bildung betrieben, der jede Rechtfertigung fehle; denn es gehe nur um „den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn“ (667). Die höheren Schulen verdienten den Titel nicht, den sie beanspruchen. Der Unterricht, zumal im Deutschen und in der klassischen Bildung, erreiche die Ziele nicht, die er zu erreichen vorgebe und, aus der Perspektive der (ebenfalls scharf kritisierten 738 ff.) Universitäten, auch erreichen müsse. Nietzsche kontrastiert die für ihn dominierenden Tendenzen, den „Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung“ einerseits, den „Trieb nach Verminderung und Abschwächung (andererseits)“ (647), als Tendenzen, die wahre Bildung – d. h. „die rechte und strenge Bildung,
48Wilhelm
Liebknecht: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Festrede gehalten zu Stiftungsfest des Dresdener Bildungs-Vereins am 5. Februar 1872. Neue Auflage, Berlin 1919, Teildruck in: Peter von Rüden/Kurt Koszyk (Hrsg.): Dokumente und Materialien zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1848–1918,. Frankfurt a.M./Wien/Zürich 1979, S. 23–34, dort S. 31 auch das Zitat. 49Francis Bacon formuliert so, früh 1597 in den Meditationes sacrae („Nam et ipsa scientia potestas est“), ausführlicher 1620 im Novum Organum. 50„Man mache sich nur einmal mit der pädagogischen Literatur dieser Gegenwart vertraut, an dem ist nichts mehr zu verderben, der bei diesem Studium nicht über die allerhöchste Geistesarmut und über einen wahrhaft täppischen Zirkeltanz erschrickt.“ Nietzsche, Vortrag II, S. 673, dort gesperrt (vgl. auch 685 u.ö.).
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die vor allem Gehorsam und Gewöhnung ist“ (685)51 – zu vernichten. Seine Diagnosen, eingeschlossen die Kritik an den Lehrern, haben entsprechend den Charakter und die Konsequenz einer elitären Begrenzung der Teilhabe an Bildung und sie finden in dieser Tendenz bis heute Nachahmer (wenn auch nicht immer im offenen Plädoyer für „Gehorsam und Gewöhnung“), die in der Demokratisierung und Expansion höherer Bildung die Wurzel des Übels sehen, die den „entarteten Bildungsmenschen“ (746) erzeugen. Aber das sind weniger präzise Systemdiagnosen als kulturkritische Urteile. Präzise Beschreibungen der Wirklichkeit, der gesellschaftlichen Kontexte und der Notwendigkeit der Bildungsexpansion fehlen dagegen, bei Nietzsche wie bei seinen geistesverwandten Nachfolgern. Dennoch, in diesem kulturkritischen Duktus ist Nietzsche schon früh charakteristisch für eine Tradition, die sich im Bildungsdiskurs bis heute behauptet hat, in ihrer theoretischen und politischen Geltung freilich immer belastet durch die freimütig propagierte Begrenzungsabsicht, die sich offenbar seit Niethammer und seit 1808 stabil erhält. Es gibt aber, selbst von Philosophen um 1900, auch andere Analysen, offener für den gesellschaftlichen Wandel, freilich schließlich doch dualisierend. Die Diagnose der Bildung von Friedrich Paulsen52 z. B., Philosoph und Pädagoge an der Berliner Universität (und schon mit Niethammer nicht sehr zufrieden53), ist nicht belastet durch solche Begrenzungsabsichten. Paulsen sah vielmehr in der Ausbreitung und Demokratisierung von Bildung eine notwendige, irreversible und nicht aufzuhaltende historische Entwicklung. Paulsen plädierte auch dafür, die alten Privilegien der klassischen, d. h. der altsprachlichen Gymnasien, die für Nietzsche selbstverständlich waren, beim Hochschulzugang oder in der Konstruktion der Lehrpläne radikal abzubauen. Aber seine Diskussion der Situation von Bildung ist dennoch nicht weniger kritisch und scharf. Paulsen nimmt sich 1903 der Aufgabe an, die Rede von Bildung aus der Distanz zu betrachten, die historische Dynamik des Phänomens zu erkennen und die
51Eine
Schule, die den Titel der „Bildungsanstalt“ wirklich verdient, wird denn auch als ein Ort elitärer zweckfreier Bildung erläutert (S. 729 ff.), für „jene kleine Schaar einer fast sektiererisch zu nennenden Bildung“ (731). Zugespitzt wird das erneut in binärer Kontrastierung, zumal gegen alle Fiktionen von „Selbstständigkeit“ (vgl. 739 f.), die in der Universität geistern: „alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit.“ (750). 52Zu Paulsen insgesamt jetzt die Beiträge in Thomas Steensen (Hrsg.): Friedrich Paulsen. Weg, Werk und Wirkung eines Gelehrten aus Nordfriesland. Husum 2010. 53Ungnädig formuliert er über Niethammer: „Es wäre wohl endlich an der Zeit, über solche Lukubrationen [nächtliche Ergüsse, könnte man übersetzen, H.-E. T.] zur Tagesordnung überzugehen und nicht für ein Werk, das so rücksichtslos nach eigengemachten, schiefen Begriffen die Tatsachen verdreht, eine sehr ‚ehrenvolle Stellung in der Geschichte der Pädagogik‘ zu fordern“ so F.Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht. 3., erw. Aufl., Bd. 2, Berlin/Leipzig 1921, zit. S. 233 f.
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begriffliche Präzision zugleich zu fördern.54 Paulsen zeigt dabei, dass er nicht nur als Historiker des gelehrten Schulwesens und als Kommentator der aktuellen Bildungspolitik die gesellschaftliche Dimension der Bildung kennt, er gibt auch einen souveränen Überblick über die philosophische Diskussion zum Begriff der Bildung im ausgehenden 19., frühen 20. Jahrhundert. Im Ergebnis skizziert er eine Formierung des Diskurses, die sich in der Dualisierung eines gesellschaftlich und empirisch übersetzbaren Begriffs hier und eines quasi wesenhaften Gebrauchs des Begriffs der Bildung dort bis heute erhält. Den ersten Teil seiner Analyse kann man historisch und soziologisch nennen. Ausgehend vom alltäglichen Sprachgebrauch, beginnend mit dem frühen und bis heute aktuellen Hinweis, dass es „wenig Wörter gibt, die dem gegenwärtig lebenden Geschlecht so geläufig wären, wie das Wort der Bildung“ (58), betrachtet Paulsen die gesellschaftliche Realität, in der man Bildung und ihre Funktion beobachten kann. Schon die Allgegenwärtigkeit erklärt er soziologisch, denn sie verdanke sich der Bildung als Mechanismus der sozialen Distinktion: „Wo immer von einem Menschen die Rede ist, da wird alsbald darüber gehandelt, ob er gebildet sei oder nicht.“ Ganz nüchtern stellt Paulsen fest: „Gebildete und Ungebildete, das sind die beiden Hälften, in die gegenwärtig die Gesellschaft geteilt wird.“ Er meint auch, und wohl nur z. T. mit Recht, dass „ältere Einteilungen … in Vergessenheit“ geraten sind, z. B. Unterscheidungen in „Adlige und Bürgerliche, in Gläubige und Ungläubige, in Protestanten und Katholiken, in Christen und Juden.“ (658) Bildung erzeugt die neuen sozialen Unterschiede, solche, die wirklich alltäglich als folgenreiche Differenzen erlebt und genutzt werden. Paulsen sagt sogleich auch, wodurch diese Differenzen markiert werden, und auch das liest sich wie eine gegenwärtig noch durchaus brauchbare Beschreibung der „feinen Unterschiede“,55 die über Bildung konstituiert werden: Zuerst, ‚Kleider machen Leute‘,56 könnte man sagen, denn man erkennt, so Paulsen, die Herkunft aus den gebildeten Ständen „am Rock, vielleicht auch an den Handschuhen, die wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der Bildung sind“, präziser aber noch, ja „zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel“, denn „sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift“. Paulsen resümiert diesen sozialen Sinn von Bildung also von der zentralen sozialen Tatsache aus, der Differenz von Hand- und Kopfarbeit: „Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in
54Friedrich
Paulsen: Bildung. In: Wilhelm Rein (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 1, Langensalza 2. Aufl. 1903, S. 658–670 – die Nachweise aus diesem Beitrag im Folgenden in Klammern im Text. 55Das ist bekanntlich der Begriff, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu wählt, vgl. P. B.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (1979) Frankfurt a. M. 1982. 56Gottfried Keller: Kleider machen Leute. (1873), dem wir diese These verdanken, spricht – wie Bourdieu – auch schon vom „Habitus“, um zu markieren, was die Unterschiede macht (vgl. Keller: „Solcher Habitus war ihm zum Bedürfnis geworden, …“).
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der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann.“ (658) „Auch der Gebrauch von Fremdwörtern“ fällt ihm noch ein, „das heißt der richtige“, weiter, „wenn er fremde Sprachen kann“, denn „wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung“. Aber „das letzte und entscheidende Merkmal“ ist institutionell definiert: „gebildet ist, wer eine ‚höhere‘ Schule durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich ‚mit Erfolg‘“, und dieser Erfolg muss auch testiert sein, mit der „Bescheinigung“ über eine Prüfung. Paulsen spielt auf das im Kaiserreich hoch begehrte sog. „Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis“ an, dass mit der erfolgreichen Versetzung in die Obersekunda erworben wurde und das als Privileg galt, weil es den einjährig-freiwilligen Militärdienst eröffnete und damit „einen Rechtsanspruch …, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu werden“ (658), vorausgesetzt, man hatte auch noch zusätzlich das Geld, die Ausrüstung selbst zu bezahlen. Paulsen erklärt die starke Nachfrage nach diesen Zertifikaten und „diese erstaunliche Geltung“ (659) der Bildung also soziologisch, mit der Tatsache, dass sich alte Mechanismen der Konstitution von Herrschaft und sozialer Ungleichheit aufgelöst hätten und Bildung zu einem selbstständigen Kriterium der Zurechnung zu den besseren Schichten geworden sei, funktional äquivalent dem Besitz und der sozialen Herkunft. Bildung „macht“, so resümiert er, „gesellschaftsfähig“, und „in Deutschland auch ohne Vermögen“, auch wenn in der Regel Bildung und Besitz zusammen auftreten. (659). Diese präzise soziologische Analyse umfasst für Paulsen der Begriff der Bildung „wie er heutzutage im Sprachgebrauch umgeht“, erst danach kommt der Philosoph zur Geltung: Diesem Begriff „stellen wir nun den Begriff, wie er sich aus der Natur der Sache ergibt, gegenüber.“ (659) Die „Natur der Sache Bildung“ erläutert er einerseits aus der Etymologie und Geschichte, auch er mit Anspielung auf Grimms Wörterbuch, sieht ihn als „technischen Ausdruck in der Pädagogik“ (659) und bei den Erziehungsphilosophen, von denen er Herder und Pestalozzi ausgiebig zu Worte kommen lässt, um das „Ideal freier, allgemeiner menschlicher Bildung“ zu erläutern und die dem griechischen entlehnte kalokagathia einzuführen, das Wahre, Schöne, Gute (661). Natürlich fehlt hier, wenn auch deutlich knapper, die Bildungspolitik nicht. Wilhelm von Humboldt z. B. wird nahezu allein in seiner Bedeutung für die höhere Schule und in seiner Emphase für das Griechentum erwähnt. Der Dispens vom Griechischen seit 1900 belegt für Paulsen aber nachdrücklich, wie wenig folgenreich Humboldt noch ist. Paulsen diskutiert vor diesem Hintergrund ausführlich das „Wesen“ der Bildung, also „den Begriff der Bildung aus der Natur der Sache“, d. h. für ihn philosophisch (661 ff.), schon um sich von den historisch-gesellschaftlichen Konnotationen vollends zu lösen, die ihm der Sprachgebrauch alltäglich und die Geschichte des Gymnasiums institutionell eingetragen haben. Es ist – wenig überraschend – dann auch für Paulsen das „Wesen des Menschen“, von dem aus sich Bildung der „Sache“ nach erläutern und sich zeigen lässt, wer „ein gebildeter Mensch“ ist (661). Das führt zu mehreren Definitionen, u. a.: „gebildet ist ein Mensch, in dem durch Erziehung und Unterricht die menschliche Anlage zu einer das menschlich-geistige Wesen rein und voll darstellenden individuellen Gestalt entwickelt ist.“ (661) Die entscheidende Instanz
13.4 Bildung im Alltag vs. Bildung nach ihrem „Wesen“
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für die Qualifizierung der damit geäußerten Erwartungen an das „Wesen“ des Menschen sieht Paulsen in der Ethik, entsprechend dominieren in der weiteren Bestimmungsarbeit „Tugenden oder Tüchtigkeiten“ (662), etwa „der Weisheit, der Tapferkeit und der Besonnenheit“, um den Menschen zu beschreiben, bei Paulsen jetzt in einer zunehmend als Idealbild codierten und als „allgemeingültig“ beurteilten Form: „Ein ‚gebildeter‘, ein rechtschaffen gestalteter Mann ist der, in dem die Vernunft ihre Aufgabe erfüllt, die großen göttlichen Gedanken der Wirklichkeit nachzudenken und das Leben aus seiner Idee zu bestimmen; in dem ferner die edlern Affekte, Mut und Ehrliebe, Pietät und Scheu vor dem Gemeinen, zu kräftigen Bestimmtheiten eines tapferen Willens entwickelt sind; in dem endlich das sinnliche Triebleben so gebändigt und erzogen ist, daß es fern davon das höhere Leben zu stören oder gar sich dienstbar zu machen, ihm vielmehr als Werkzeug und Darstellung dient.“ (662). Paulsen weiß natürlich selbst, dass „dieses allgemeine Schema“ ganz unterschiedlich konkretisieren lässt, denn „der Mensch existiert in Wirklichkeit nur als besonderes, geschichtlich bestimmtes Wesen.“ (662) Insofern kann Paulsen eine historische Realisierung dieser Gestalt der Bildung auch nur in kultureller Varianz erkennen, im Kern „als die durch Erziehung und Unterricht erworbene Fähigkeit zu voller Teilnahme an dem geistig-geschichtlichen Leben seines Volkes und seiner Zeit“ (662).57 Das trifft auch nicht allein bei Akademikern zu, wie es der Sprachgebrauch des Alltags nahelegt, sondern gilt unabhängig von Beruf und Stand, in der Vielgestaltigkeit von Lebensformen einer Gesellschaft: „nicht Einförmigkeit, sondern Mannigfaltigkeit ist die Forderung.“ (663). Die wesentliche Pointe ist: „Wahre, rechtschaffene Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich von dem Punkt aus, auf den er durch Natur und Schicksal gestellt ist, in der Wirklichkeit zurechtzufinden und sich eine eigene, in sich zusammenstimmende geistige Welt zu bauen, sie mag groß oder klein sein.“ Immerhin, „eine geistige Welt“ ist der grundlegende Referenzpunkt, aber weder Zertifikate noch Wissen sind entscheidend, „nicht der Stoff …, sondern die Form.“ (663) Der „Widerspruch“ zum „herrschenden Sprachgebrauch“, und damit zu einem über Status und Zertifikat, Wissen und Kenntnissen bestimmten Begriff von Bildung ist für Paulsen entscheidend. Allerdings, auch er kennt graduelle Differenzen, einen „engen“ und einen „weiten“ Begriff der Bildung, der dann doch abhängig gemacht wird vom „Umkreis der Wirklichkeit, mit dem der Geist in Berührung tritt“ (664). Stadt und Land, Beruf und Tätigkeit, Schicht und Klasse, auch „die Berührung mit dem allgemeinen Geist“, mit Wissenschaft und höherer Kultur, wie man übersetzen darf, erzeugen Differenzen. Paulsen selbst nennt exemplarisch „Literatur und Kunst, Philosophie und Poesie“ als die besonders bildungsträchtigen Formen der Kultur, in denen sich eher als in „Naturwissenschaft und Technik, Politik und Wirtschaftsleben“, so Paulsen in Übereinstimmung mit den dominierenden Unterscheidungen seiner
57Dann
ist dann ganz nah an der Bestimmung von Bildung über Teilhabechancen und -möglichkeiten, wie sie heute der Nationale Bildungsbericht zugrunde legt.
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Zeit, „das geistige Leben eines Volkes am freiesten und eigentümlichsten“ darstelle (664). Am Ende holt ihn doch der dominierende – binär codierende – Sprachgebrauch ein, und es ist der Sprachgebrauch der Bildungsphilosophen seiner Zeit. Sie kennen bevorzugte und in ihrer Wirkung ausgezeichnete Bildungsgüter, die klassischen Sprachen, die literarisch-ästhetische Kultur, und sie werten andere, wie die Naturwissenschaften oder Politik und Ökonomie, dagegen ab.58 Paulsen wie seine Gewährsmänner können „Kultur“ nur in diesen engen Bahnen, nicht in den Themen der „Zivilisation“, der abgewehrten, weil als westlich verderbt geltenden Form der Kultur, erkennen. Theoretiker in der Nachfolge des Berliner Philosophen, nach 1918 z. B. bildungspolitisch wie pädagogisch so überaus folgenreich tätige Erziehungsphilosophen wie Herman Nohl und Eduard Spranger, bekräftigen solche Interpretationen von Bildung. Im Allgemeinen ist für sie Bildung die Kultur in ihrer subjektiven Seinsweise, aber sie meinen die hohe Kultur.59 Konkret bildet das „Klassische“ der deutschen idealistischen Tradition und Philosophie den Inhalt dessen, was für sie als Kultur in seiner eigenen Objektivität und Legitimität anerkannt werden kann. Nicht zufällig wird von solchen Prämissen aus eine „kulturpädagogisch“ inspirierte Reform des Bildungswesens geplant und durch den preußischen Ministerialbeamten Hans Richert auch realisiert.60 „Kultur“, hier jetzt eingegrenzt auf „Deutschheit“, wird zum curricularen Zentrum des Bildungswesens und in der „Deutschen Oberschule“ soll sie ihre eigene Repräsentation finden. Es liegt in der Konsequenz solcher Begriffsbestimmungen und Unterscheidungsstrategien, dass sie abhängig werden von ihrem eigenen Verständnis von Kultur, sowohl national wie ethnisch zentriert denken und andere Formen der Kultur abwehren und abwerten. Es liegt auch in der Logik solcher Denkformen, dass sie sich zwar eng an organisierte öffentliche Erziehung binden, aber nicht an Selbstbildung. Zumal für die moralische Entwicklung der Individuen gilt für sie, dass Bildung „nur durch die erziehende Einwirkung der elterlichen Generation zu voller Entwicklung kommt“ (Paulsen, 661). Bildung wird generell als „das pädagogische Werk“ (Nohl) gedacht, aber Milieu und Herkunft prägen früh ihre Möglichkeiten. Die andere Frage, ob Bildung tatsächlich als Leistung der Pädagogik und der Pädagogen im Bildungssystem gedacht werden kann oder nicht doch als Selbstbildung zu sehen ist, die stellen die reformorientierten Pädagogen
58Bernd
Rusinek: „Bildung“ als Kampfplatz. Zur Auseinandersetzung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 11(2005), S. 315–350. 59Vgl. etwa: „Bildung ist die subjektive Seinsweise der Kultur, die innere Form und geistige Haltung der Seele, die alles, was von draußen an sie herankommt, mit eigenen Kräften zu einheitlichem Leben in sich aufzunehmen und jede Äußerung und Handlung aus diesem einheitlichen Leben zu / gestalten vermag.“, so Herman Nohl: Theorie der Bildung. (1933) in: H.N.: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. (1933) Frankfurt a. M., 8. Aufl. 1978, S. 140–141. 60Für diesen Kontext Sebastian F. Müller: Die höhere Schule Preußens in der Weimarer Republik. Köln/Wien 1977.
13.5 Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose …
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und die künstlerische Avantgarde, von den traditionellen Erziehungsphilosophen dann als subjektivistisch oder gar als revolutionär verurteilt. Paulsen diskutiert am Ende seiner Überlegungen nicht zufällig Verfallsformen der Bildung und konstatiert die allmählich sich ausbreitende Herrschaft von „Halbbildung“. Er versteht darunter zunächst „die falschen Bildungsbestrebungen der guten Gesellschaft“ (669), also das, „was der Sprachgebrauch Bildung nennt“. Das ist für ihn im Blick auf das Subjekt mehr als nur soziale Tatsache, nämlich ein Wertproblem: „innerlich unvollendete Bildung“, im Ergebnis für ihren Träger und in den gesellschaftlichen Konsequenzen „ein Unglück“, wie Paulsen für Prozess wie Produkt solcher Bildungspraxis sagt: „Ist ihre Erwerbung eine Plage, so ist ihr Besitz ein Unsegen … Bildungsflitter“, mit den schlimmsten Folgen: Sie „macht hochmütig und herrisch … unduldsam und brutal … unzufrieden und unglücklich“. Und natürlich: „Wahre Bildung ist von dem allen das Gegenteil. … innerlich bescheiden … duldsam gegen das Andersartige … sie macht reich, zufrieden und glücklich, sie ist ein Schatz, der, einmal erworben, nicht verloren geht, denn er hat keinen Marktwert.“ (669) Schon Paulsen führt also in die Rede von Bildung das Dual von ‚wahrer Bildung‘ vs. ‚Bildung als Ware‘ ein, das in gesellschaftskritischer Wendung bis heute wiederholt wird. Aber anders als manche aktuellen Kritiker kann er in der Beobachtung von Bildung nicht nur die empirisch fundierten Redeformen von den essentialistischen, am ‚Wesen der Bildung‘ orientierten unterscheiden, er kennt auch in der Konstruktion wünschenswerter Bildungswelten und anzustrebender Sozialfiguren des Gebildeten mehr als nur eine legitime Welt und mehr als nur eine anerkennenswerte Form der Konstruktion je individueller Mensch-Welt-Verhältnisse. Auch wenn er letztlich selbst im Blick auf seine eigene Praxis den „weiten“, also irgendwie doch zu bevorzugenden Begriff der Bildung erkennt, er eröffnete auch einen realistischen, im Kern sozialwissenschaftlichen Blick auf Bildungsverhältnisse – freilich ohne dafür Nachahmer selbst bei seinen eigenen Schülern zu finden. Sie monopolisieren und tradieren den philosophisch-wertthematischen Blick.
13.5 Bildungsphilosophie als Kulturkritik und Diagnose von Verfallsformen: Halbbildung vs. wahre Bildung Bildungsreflexion mündet trotz einiger historisch präsenter Optionen einer empirischen Betrachtung ihres Themas offenbar nicht erst bei Paulsen selbst immer neu in normativ besetzte binäre Unterscheidungen. Das sieht man bei Paulsen bereits, wenn der alltägliche „Sprachgebrauch“ von Bildung von der philosophischen Rede über die „Natur der Sache“ unterschieden wird. Gleitend gehen solche Betrachtungen in eine normative Rede von der Natur der Sache über, die zugleich eine Kritik der Kultur fundieren soll, in der sich der alltägliche Sprachgebrauch und die soziale Tatsache Bildung zugleich zu ihrem Nachteil deformierend entfalten. „Kritik“ und „Kulturkritik“ sind die Konsequenz,
216
13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
d. h. eine Rede, die sich der Geltung der Unterscheidungen, die sie trifft, immer schon sicher ist, an sich selbst jedenfalls nicht zweifelt. Dabei kann schon die historische Tradition in der Diagnose solcher Verfallsformen davor warnen, sich der Implikationen solcher Kulturkritik enthoben zu sehen. Bildungsreflexion, von Beginn an Teil solcher Argumentation, teilt deshalb auch die Schwächen der Kulturkritik, die man heute nicht mehr übersehen kann. Ein Blick auf die Tradition der hier immer neu auftretenden Verfallsdiagnosen, ihrer Referenzen und Begründungsmuster, belegt jetzt, welche Argumente in ihrer Geltung sowohl historisch wie theoretisch höchst belastet sind. Wenige Beispiele, beginnend im 19. Jahrhundert, reichen schon, um die prominenteste Verfallsdiagnose, die Diagnose der Halbbildung, nicht erst für Paulsens – oder gar Adornos – Erfindung zu halten und die problematische Geltung solcher Verfallsdiagnosen zu zeigen, auch den Status dieser Rede als Fortsetzung von Dualisierungen. Das bis heute prominenteste und eminent wertbesetzte Dual im alltäglichen Sprachgebrauch und in den Verfallsdiagnosen ist das von „Bildung“, als wahre Bildung, im Gegensatz zu „Ausbildung“, als Verfallsform der Bildung und allein gesellschaftlich, z. B. für Beruf und Arbeit, geforderte „Qualifikation“ (ein Begriff, der selbst bildungstheoretisch meist abgewertet wird). Die Klassiker, im Übrigen, codieren nicht so, schon gar nicht abwertend, wie manchmal suggeriert wird. Bei Humboldt wird zwar „allgemeine“ von „specieller“ Bildung unterschieden, wobei die „specielle“ die berufliche Bildung meint, aber diese Unterscheidung wird primär für Etappen im Lebenslauf und im Blick auf die Adressaten gebraucht. Allgemeine Bildung wird als Name für die erste Etappe der Bildung, die schulische Bildung definiert, d. h. für die Bildung, die für alle gleich sein soll, die jedenfalls der beruflichen vorausgeht. Gelegentlich wird sie deshalb auch als „grundlegende“ Bildung bezeichnet,61 die das Fundament für alle weitere Bildung legen und absolviert sein soll, bevor die „specielle“, also die berufliche Bildung einsetzt – die Humboldt im Übrigen sehr hoch schätzte und für unentbehrlich hielt. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird „Ausbildung“ als notwendige Entwicklung der einzelnen Fähigkeiten des Menschen der „Bildung“ positiv zugeordnet und nicht etwa kritisch abgewertet.62 „Die pathologischen Grundformen“ von Bildung und Ausbildung werden hier anders, nämlich als „Halbbildung“ oder „Verbildung“ benannt.
61Dann
gibt es auch eine andere biografische Sequenzierung: Grundlegende Bildung (in Schulen), Berufsbildung, Allgemeinbildung (im gesamten Lebenslauf) – so bei Eduard Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918) In: E.S.: Kultur und Erziehung. Leipzig 1925, S. 159–177. 62A. Wagenmann: „Ausbildung“. In: Karl A. Schmid (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens, Bd. 1, Gotha 1859, S. 357–361, dort auch die hier folgenden Zitate. Andere Verfallfsormen, z. B. „niedere, oberflächliche, gesellschaftliche, halbe u.s.f. Bildung“ schon 1847 bei Hauber (s. o. Anm. 3).
13.5 ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung
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Das wertbesetzte Dual von Bildung vs. Ausbildung oder, in den Reformen des 20. Jahrhunderts als Abwehrdual beliebt, von „Person“ vs. „Funktion“63, fungiert dagegen erst seit den ideologiepolitischen Kämpfen der – guten – Geisteswissenschaften gegen die – bedrohlichen – Natur- und Technikwissenschaften um 1900 oder gegen die Sozialwissenschaften nach 1950 zur Codierung der bildungstheoretisch-bildungspolitischen Fronten. Jetzt werden die wahre Bildung und der gebildete Mensch hier, Ausbildung und Beruf dort scharf unterschieden, ihnen werden auch unterschiedliche „Bildungsgüter“64 und wissenschaftliche Disziplinen zugeordnet. Bildung wird, in der Diskussion allmählich dominierend, nur noch vom Kern der klassischen, literarisch-ästhetischen Disziplinen und Praktiken – etwa in Oper, Theater und Museum – aus erwartet. Naturwissenschaften werden dagegen ebenso abgewertet wie das reine „Fachmenschentum“65, wie schon Max Weber notiert hat. Die aktuelle Opposition gegen „Ökonomisierung“, „Merkantilisierung“, „Funktionalisierung“ und „technokratische Überwältigung“ gibt den Feinden, die der wahren Bildung drohen, nur andere Namen, der Kontext der Abwehr bleibt gleich: „Ausbildung“ ist vom Übel, zweckbezogene Bildung auch, zumal als „Verschulung“, weil Pädagogisierung und damit Entmündigung droht. Bei Nietzsche war das Argument schon zu erkennen, die Diagnose der „Halbbildung“ als Kritikbegriff nimmt Paulsen wieder auf, mit der Analyse der Form und Bedeutung von „Halbbildung“ bei Theodor W. Adorno erhält diese dualisierend-abwertende Unterscheidung der wahren von der falschen Bildung ihr epochemachende und zugleich schulebildende66 Beschreibung, jedenfalls für alle Adorno folgenden kritischen Beobachter von Bildung und Gesellschaft. Adorno, das muss man erwarten, wenn man seine Auffassungen von der Kultur auch nur flüchtig wahrgenommen hat, radikalisiert die Kritik an der Situation der
63Für
die stark normative besetzte Rede von „Person“ vgl. die Mehrzahl der Beiträge in Walter Eykmann/Winfried Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006, für eine analytisch distanzierte Nutzung des Personbegriffs dagegen Niklas Luhmann/Karl Eberhard Schorr (Hrsg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a.M. 1992. 64Eine Übersicht zu dieser Diskussion geben die Beiträge in Reinhard Koselleck (Hrsg.): Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990 (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. II). 65Vgl. v. a. in den Ausführungen zur „Bürokratischen Herrschaft“ und ihrer „Wirkung auf die Art der Erziehung und Bildung“ (576), die Durchsetzung von Fachprüfungen, mit denen das „Ziel der Erziehung“ sich verändert, weil früher „nicht der ‚Fachmensch‘, sondern … der ‚kultivierte Mensch‘“ (578) gefordert wurde, jetzt der „in alle intimsten Kulturfragen eingehende Kampf des ‚Fachmenschen‘-Typus gegen das alte ‚Kulturmenschentum‘“ (578) dominiere, so: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl., Studienausgabe, bes. von J. Winckelmann. Tübingen 1976, zit. S. 576–579. 66In der sog. „Kritischen Erziehungswissenschaft“ wurde und wird der Begriff wie eine politische Losung und mit unbestrittener Geltung transportiert, systematisch Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar 1988.
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13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
Bildung. In seinem Essay „Theorie der Halbbildung“67 geht auch er von einer „Bildungskrise“ aus (168, erster Satz), diagnostiziert also erneut, wie die Beobachter zu Paulsens Zeiten oder wie Bildungsphilosophen am Ende der Weimarer Republik, den Verfall dessen, was wahre Bildung ausmache, die sich aktuell nur noch „als eine Art negativen objektiven Geistes, keineswegs bloß in Deutschland, … sedimentiert.“ Bildung „ist zu sozialisierter Halbbildung geworden, der Allgegenwart des entfremdeten Geistes.“ (168) Diese Situation sei am Schicksal der Klassiker ablesbar, auch am unübersehbaren Ende der bürgerlichen oder sozialdemokratischen Illusionen, mit Bildung und der breiteren Teilnahme an Bildung Gesellschaft neu gestalten zu können,68 vor allem aber sei die Lage aus der Dynamik von Kultur und Bildung selbst zu erklären. Adorno hält es deshalb auch für notwendig, die Krise der Bildung „aus gesellschaftlichen Bewegungsgesetzen, ja aus dem Begriff von Bildung abzuleiten.“ (168) Neben Krisen- und Verfallsdiagnosen kehren bei Adorno auch die binären Codierungen wieder, die in der Bildungsreflexion für das Verhältnis von Mensch und Welt Tradition haben, aber sie sind selbst noch Indiz der Bildungskrise, die er diagnostiziert. Adorno selbst geht in seinem Erklärungsversuch für die Krise vom „Doppelcharakter der Kultur“ aus: Er „entspringt im unversöhnten gesellschaftlichen Antagonismus, den Kultur heilen möchte und als bloße Kultur nicht heilen kann.“ (170) Für das Schicksal des „Geistes“ habe das eigene Konsequenzen: „Geist veraltet angesichts der fortschreitenden Naturbeherrschung und wird vom Makel der Magie ereilt … Sein eigenes Wesen, die Objektivität von Wahrheit, geht in Unwahrheit über. Anpassung aber kommt, in der nun einmal blind fortwesenden Gesellschaft, über diese nicht hinaus. Die Gestaltung der Verhältnisse stößt auf die Grenze von Macht … als das Prinzip, welches die Versöhnung verwehrt.“ (171) Das Verhältnis des Menschen zur Welt sei nicht mehr als „Bildung“, sondern nur noch als „Anpassung“ beschreibbar, mit fatalen Konsequenzen: „Anpassung … errichtet ein Glashaus, das sich als Freiheit verkennt, und solches falsche Bewußtsein amalgamiert sich dem ebenso falschen, aufgeblähten des Geistes von selber.“ Bildung verliert damit ihren eigenen Wert, denn „diese Dynamik [der Anpassung, H.-E. T.] ist eines mit der Bildung.“ Während Bildung früher „stillschweigend als Bedingung einer autonomen Gesellschaft (galt)“ (171), hat sie heute diesen Status verloren. Man mag an einem emphatischen Begriff festhalten – „Fraglos ist in der Idee der Bildung notwendig die eines Zustands der Menschheit ohne Status und Übervorteilung postuliert“, – allein solches Tradieren einer Idee reicht nicht hin; denn die alte Idee der Bildung „wird nicht minder schuldig
67Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. In: Sociologica II. Frankfurt a. M. 1962, S. 168– 192; Nachweise in Klammern im Text. 68Man vgl. nur: „Nicht darf an die Wunde gerührt werden, daß Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert.“ (172). „Alle sogenannte Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch bloße Bildung revozieren zu können.“ (173).
13.5 ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung
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durch ihre Reinheit; diese zur Ideologie.“ (172) Im Ergebnis sei „der Widerspruch zwischen Bildung und Gesellschaft“ (173) nicht zu übersehen, jedenfalls nicht, wenn man die Diagnose so begründet, wie Adorno selbst das tut. Indes, er weiß, dass zwischen der kulturkritischen Diagnose und der Realität des Aufwachsens und Handelns in Gesellschaften Differenzen bestehen und räumt ein: „Wohl wären der These vom Absterben der Bildung ebenso wie von der Sozialisierung der Halbbildung, ihrem Übergreifen auf die Massen, triftige empirische Befunde entgegenzuhalten. … Gemessen am Zustand jetzt und hier ist die Behauptung von der Universalität der Halbbildung undifferenziert und übertrieben.“ (175) Adorno deklariert deshalb auch seine eigene Absicht um. Es gehe nicht um einen Analyse der Bildungswirklichkeit, sondern nur darum, „eine Tendenz [zu] konstruieren“ (175), und er nimmt auch die Kritik an der retrospektiven Bekräftigung der alten Idee der Bildung „in ihrer Reinheit“ als „Ideologie“ nicht nur zurück, sondern sieht in dieser Vergegenwärtigung der Tradition sogar einen Modus der Bewahrung der richtigen Idee, von der auch die Analyse profitiert. „Aber was jetzt im Bereich von Bildung sich zuträgt, läßt nirgends anders sich ablesen, als an deren wie immer auch ideologischer älterer Gestalt.“ (176), wenn auch in deformierter Form. Für die „Idee der Bildung“ hat das eigenartige Konsequenzen. Sie sei „in sich antinomischen Wesens. Sie hat als ihre Bedingung Autonomie und Freiheit, verweist jedoch zugleich, bis heute, auf Strukturen einer dem je Einzelnen gegenüber vorgegebenen, in gewissem Sinn heteronomen und darum hinfälligen Ordnung, an der allein er sich zu bilden vermag.“ Für ihre Existenzform gilt deshalb auch eine eigenartige Zeitlichkeit, in Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit zugleich präsent und doch nicht dauerhaft: „Daher gibt es in dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, sie eigentlich schon nicht mehr. In ihrem Ursprung ist ihr Zerfall teleologisch bereits gesetzt.“ (177). Aktuell existiere Bildung nur noch als „ein Surrogat“ (181), als „Halbbildung“, d. h. als „der vom Fetischcharakter der Ware ergriffene Geist.“ Für Adorno haben „die ehrwürdigen Profitmotive der Bildung wie Schimmelpilze die gesamte Kultur überzogen.“ Vor dem Hintergrund seiner Kulturtheorie artikuliert Adorno sogar – ohne den „Verdacht des Reaktionären“ zu scheuen, – „Zweifel an dem unbedingt aufklärenden Wert der Popularisierung von Bildung“ (183), der „mit dem immanenten Anspruch der Demokratisierung von Bildung selbst in Widerspruch gerät.“ Bildung habe ihre eigene Qualität verloren, ja „die kollektivistischen Wahnsysteme der Halbbildung“ (189) würde nicht einmal mehr angemessen gesehen und kritisiert. Er warnt allerdings auch nachdrücklich vor der Illusion, der Kritiker sei gegen solche Verblendung immun: „Eitel aber wäre auch die Einbildung, irgend jemand – und damit meint man immer sich selber – wäre von der Tendenz zur sozialisierten Halbbildung ausgenommen.“ (191) Das Ergebnis ist hier, wie schon oft in bildungskritischen Texten, nur noch Resignation, Rückzug der Bildung auf „jene Sphäre, auf welche der Begriff der Bildung primär zielt, Philosophie und Kunst“ (191). Auch ihm bleibt nur das paradoxe Plädoyer, „der Anachronismus an der Zeit“, „an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog“. Realisiert ist diese Bildung indes nur noch in einer Wirklichkeitsform, die Adorno „kritische Selbstreflexion“ nennt, die aber nicht leicht verallgemeinerbar ist,
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13 Bildungswelten ... disjunkte Welten
denn „sie“, die Bildung also, „hat keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.“ (192) Bildungsphilosophie endet als Kulturkritik, als resignative und anachronistische Erinnerung an eine Idee und ihren Anspruch, der einmal formuliert war, aber keine Wirklichkeit mehr finden kann, „notwendig“ nicht. In dieser deutschen Tradition,69 als „Kulturkritik in einem spezifisch deutschen Sinne“,70 lebt die kritische Reflexion auf Bildung, die sich selbst Theoriestatus zuschreibt, bis heute bevorzugt fort. Das ist eine Denkform, die durch einen „engen, normativen Kulturbegriff“ bestimmt ist, „der als kontrastiver Bezugspunkt das Krisenbewusstsein lenkt“, eine Denkform, die eine „Herabstufung der Aufklärung“ einschließt, und zwar – Niethammer kehrt wieder – „mit dem erfolgreichen Klischee vom geschichtsfremden Rationalismus und Utilitarismus“ (14), und die mit der „reservatio mentalis gegenüber der westlichen Zivilisation und dem Kapitalismus eine besondere Schärfe und Resonanz (erhält)“ (S. 15). Allerdings, und das macht dem Bildungsdenken zu schaffen, aus dem Bündnis mit Kulturkritik speist sich zugleich ein „Teil der Erfolgsgeschichte des neuhumanistischen Bildungsideals“. Denn diese Reflexionstradition ist selbst eng verbunden mit Kulturkritik, beginnend mit Rousseau und Schiller, fortgesetzt mit den Denkern des 19. Jahrhunderts und deren „unbeirrbaren Fortschrittsglauben“ bei Hegel, Marx und Engels, skeptisch modifiziert bei Nietzsche und in der „entzauberten Moderne“, wie bei Max Weber und Georg Simmel, bei denen sich endgültig um und seit 1900 „die Erosion der motivierenden Ausgangslage“ abzeichnet. Retrospektiv und aus der Distanz betrachtet sieht man, dass die kulturkritische Argumentation in dieser Tradition für sich selbst die Position beansprucht, „eine Kritik“ zu sein, „die sich als Inhaberin des überlegenen Standpunktes wähnte – eines Standpunktes, der sich klassischerweise auf Mastersubjekte wie die Wahrheit, die Vernunft und die Geschichte berief.“71 Heute kann man allerdings, sagen die aktuellen Kritiker dieser Denkform, schon sehen: „Mit dieser Art der Kritik und dem Gestus der starken Behauptung, der Einschüchterung und der Unterwerfung ist es nun vorbei.“ Kulturkritik, wie man sie in der Diagnose von Verfallsformen der Bildung bis heute antrifft, sei demgegenüber rückständig; denn Kritik und Kulturkritik haben sich „längst umgestellt und erfolgreich nach neuen Positionen und Ausdrucksformen Ausschau gehalten“. Die alte, vor allem die bildungstheoretisch Variante der Kritik erlebe deshalb auch gegenwärtig den „Augenblick ihres Entschwindens“.
69Ich
nehme im Folgenden Argumente auf, die sich in zwei jüngeren Studien finden: Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders. München 2007 sowie Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008. 70Hier nach Bollenbeck, Kulturkritik, 2007 – Zitatnachweise in Klammern im Text. 71So Konersmann, Kulturkritik, 2008, zit. S. 7 f., auch für die folgenden Zitate.
13.5 ... Kulturkritik ... Halbbildung vs. wahre Bildung
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Die bedeutsame Anschlussfrage heißt sicherlich, ob damit Bildung zugleich zu einem Thema geworden ist, das man auch deskriptiv und analytisch behandeln kann. Das ist eine Frage, die man jenseits traditioneller oder kritischer Kulturkritik diskutieren muss. Das wiederum ist erst angemessen möglich, wenn man auch eine weitere, in der Tradition der Bildungsreflexion ebenfalls kontinuierende und zentrale Argumentform diskutiert hat, die triadische Form. Sie kommt offenbar zur Geltung, wenn das dritte Thema der Bildungsreflexion, die Frage nach ihrer Realisierbarkeit und damit die operative Dimension nicht nur kritisch behandelt wird, sondern im Aufweis der Möglichkeit von Bildung selbst auch historisch und empirisch belegt werden soll. Eine triadische Schematisierung der Themen ist den Dualisierungen zwar im Ausgangspunkt verwandt und nahe, z. B. in den kulturund verfallskritischen Diagnosen, aber in den triadischen Figuren finden sich auch Formeln der Rettung, ja „Versöhnung“ von Mensch und Welt oder dialektische Figuren, die nicht „negativ“ enden, sondern den Sinn und die Notwendigkeit von Vergesellschaftung erkennen können, als Weg, der überhaupt erst Individualität möglich macht – und jetzt auch innerhalb der Welt, nicht allein in der kontrafaktischen Form der normativen Rede.
Kapitel 14
Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung Die triadische Konstruktion von Bildungsprozessen
Auch die triadischen Figuren in der reflexiv oder theoretisch ambitionierten Rede über Bildung haben klassische Vorbilder und exemplarische Formen der Ausarbeitung gefunden und damit eigene Traditionen begründet. Vollständigkeit in der Darstellung kann selbstverständlich auch hier nicht erreicht werden, es kommt erneut allein darauf an, die spezifische Denkweise zu zeigen, in der Lösungen für die vermeintlich unversöhnten Welten von Bildung, Mensch und Gesellschaft gefunden werden. Es sind einerseits die Kunst und die ästhetische Erziehung und Bildung, die solche Offerten machen bzw. denen man solche Leistungen zutraut – Schillers „Briefe über die ästhetische Erziehung“ verstehen sich so.1 Es sind andererseits dialektische Denkfiguren, die den vermeintlich unversöhnlichen Gegensatz, den Widerstreit von Individualisierung und Vergesellschaftung ‚aufzuheben‘ erlauben, also z. B. die Reflexion von Bildung in der Tradition von Hegel und Marx.
14.1 Die rettende Welt des Spiels und die Versöhnung im schönen Schein: Schillers „ästhetische Erziehung“ Im Ursprung zeigt die Rede von Bildung ihre umfassende Bedeutung schon darin, dass die an ihr Beteiligten vorgeben, die „Nation“ selbst zu repräsentieren, also die Gemeinschaft derer, die über zentrale Fragen der moralischen Kultur von Staat und Gesellschaft schreiben und denken, Politiker und Wissenschaftler, Literaten
1Aber selbstverständlich kann man z. B. auch Friedrich Schlegel so lesen (oder Jean Paul u. a.), wie jüngst noch einmal Olaf Sanders: Romantik. Zerstörung, Pop. Studien zu einer Theorie der Selbstbildung. Opladen 2000, zu Schlegel S. 105 ff. – freilich ohne z. B. das Thema der Ironie gebührend bildungstheoretisch aufzunehmen.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_14
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224
14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
und Pädagogen, Beamte und Philosophen. Es charakterisiert deshalb auch dieses offene Gespräch über Bildung, dass ein bis heute prominenter Text – die Thesen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“2 – von Friedrich Schiller stammt. Er hat sie in einer Phase geschrieben, in der er sich entschlossen hatte, trotz einer erfolgreichen Antrittsvorlesung in Jena nicht Historiker zu werden, und in der er gleichzeitig auch die philosophische Auseinandersetzung mit Kant und die Aneignung von Ideen Fichtes zur Lösung seiner eigenen Fragen über die Natur des Schönen weiter vorantrieb. Schillers Briefe können als frühes und bis heute prominentes Exempel für die Struktur der triadisch organisierten bildungstheoretischen Argumentation gelesen werden, und zwar methodisch wie thematisch. Er argumentiert nicht allein in ästhetischer Referenz, sondern macht auch von – erst kantianischen, dann von Fichte entlehnten – anthropologischen Bestimmungen Gebrauch und reflektiert zugleich die Situation seiner Zeit gesellschaftstheoretisch und d. h. hier zeitdiagnostisch. Schiller ist auch darin so singulär wie folgenreich, dass er schließlich sogar eine Lösung für die zahlreichen „Antagonism“ – so sein Begriff in Anlehnung an Kant – der Welt und der Philosophie vorschlägt, und zwar in einer bis heute die Bildungstheorie beflügelnden Weise, nämlich im Rückgriff auf die Ästhetik als Argument und auf das Schöne und das Spiel als eine daraus gerechtfertigte, autonome Praxis. Dabei kann (und soll) an dieser Stelle, keine umfassende Interpretation dieser Abhandlung (oder gar die Wirkungsgeschichte der Ästhetik als Argument in der Bildungsreflexion3) gegeben werden, denn weder literaturhistorisch4 noch philosophisch und ästhetisch oder bildungstheoretisch5
2Friedrich
Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. (1794/1801). 3Aktuell besonders prominent Karl- Josef Pazzini, u. a. jüngst noch einmal im Kontext der Debatte über Bildung und Wissenschaft bzw. Universität K.-J.P.: Die Universität als Schutz für den Wahn. In: Andrea Liesner/Olaf Sanders (Hrsg.): Bildung der Universität. Beiträge zum Reformdiskurs. Bielefeld 2005, S. 137–158; für das Argument auch Sanders: Romantik, Zerstörung, Pop, 2000. 4Hier findet sich eine konstante Linie der Diskussion, vgl. für eine erste Übersicht zu den inzwischen zahllosen Interpretationen u. a. Jürgen Bolten (Hrsg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung Frankfurt a.M. 1984; Rolf-Peter Janz: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 610–625 oder Wilfried Noetzel: Friedrich Schillers Philosophie der Lebenskunst. Zur Ästhetischen Erziehung als einem Projekt der Moderne. London 2006 sowie auch Text und Kommentar in Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Kommentar von Stefan Matuschek. Frankfurt a.M. 2009. 5Auch hier, nur aus der jüngsten Zeit, u. a: Christian Rittelmeyer: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Eine Einführung in Friedrich Schillers pädagogische Anthropologie. Weinheim/München 2005; Birgitta Fuchs/Lutz Koch (Hrsg.): Schillers ästhetisch-politischer Humanismus. Die ästhetische Erziehung des Menschen. Würzburg 2006 sowie die eingehende Interpretation bei Alfred Schäfer: Die Erfindung des Pädagogischen. Paderborn (usw.) 2009, S. 264 ff.
14.1 Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“
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erschöpft sich Schillers Text in seinem Beitrag zur Reflexion der Denkformen von Bildung. Hier kommt es nur darauf an, die Konstruktion zu zeigen, die Besonderheiten, in denen Bildung thematisiert wird, und die Lösungen, die Schiller vorschlägt, die traditionsstiftend bis heute werden. Liest man den Text in dieser Absicht, fallen neben zahlreichen Dualisierungen zuerst die scharfen zeitdiagnostischen Urteile ins Auge, mit denen Schiller operiert, wenn er den „Charakter“ analysiert, „den uns das jetzige Zeitalter, den die gegenwärtigen Ereignisse zeigen“ (5/S. 452).6 Die neue Welt, sozial wie politisch, ökonomisch, gesellschaftlich und in den Konsequenzen für die Individuen, die Umwälzungen, die er an der französischen Revolution zunächst emphatisch begrüßt, dann mit Entsetzen beobachtet, und die Veränderung der Lebensweise beunruhigen und irritieren ihn. In Paris sieht er mit der Herrschaft der Jakobiner und dem ausbrechenden Terror nur noch den „Barbar“ (4/452) in Aktion, von einem „moralischen Staat“ (4/449 f.) könne keine Rede mehr sein. Den Alltag und die Situation des Menschen charakterisiert er mit dem Begriff der „Entfremdung“. Schon hier zeigt sich, dass Schiller zwar die Lage in Dualisierungen beschreibt, z. B. in seinen gesellschaftspolitischen Analysen das Verhalten der „niedern und zahlreichen Klassen“ mit dem der „zivilisierten Klassen“ (5/453) vergleicht, aber keine der beiden Seiten, anders als Niethammer, noch als potentiell legitime Option auszeichnet, sondern beide verurteilt. Während „in den niedern und zahlreichen Klassen … sich uns rohe gesetzlose Triebe dar(stellen), die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen“ (5/452), bieten auch „die zivilisierten Klassen“ kein Bild gebildeten Verhaltens, ja, der Verfall der Bildung ist hier Ausdruck des Verfalls der Kultur selbst. Diese vermeintlich „zivilisierten Klassen“ zeigen für ihn deshalb nur „den noch widrigern Anblick der Schlaffheit und einer Deprivation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist.“ Denn man wisse, so bemerkt Schiller, „daß das Edlere in seiner Zerstörung das Abscheulichere“ ist. Und von solcher „Zerstörung“ müsse man hier reden: „Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnung, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt.“ (5/453) Moralität gilt nicht, „mitten im Schoße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet … erfahren wir alle Ansteckungen und alle Drangsale der Gesellschaft“. Das Ergebnis ist niederschmetternd: „so sieht man den Geist zwischen der Verkehrtheit und Rohigkeit, zwischen Unnatur und bloßer Natur, zwischen Superstition und moralischem Unglauben schwanken, und es ist bloß das Gleichgewicht des Schlimmen, was ihm zuweilen noch Grenzen setzt.“ (5/453). Seine kritische Zeitdiagnose wird aber nicht allein durch die moralischpolitische Situation entzündet, sondern auch durch die neuen Formen von Arbeit
6Zitate im Folgenden mit Briefnummer und Seitenzahl nach der Edition von Herbert G. Göpfert in Bd. 2 von Schillers Werken, München 1966, S. 445–520.
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
und Arbeitsteilung, die Wahrnehmung von Beruf und „Amt“. Im Kontrast zu der von Schiller als harmonisch beschriebenen Situation von „Kunst und Gelehrsamkeit“ in der Antike7 kann er für seine Zeit nur noch Verfall diagnostizieren, „Zerrüttung … in dem innern Menschen“, Zerfall der Gesellschaft „zu einer gemeinen und groben Mechanik“, „zu einem kunstreichen Uhrwerke .., wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet.“ (6/455). Dieser Prozess des Zerfalls alter Ordnungen betrifft alle Wirklichkeitsbereiche: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.“ Für das Individuum bleibt kein angemessener Ort, eine ihm angemessene Bildung wird unmöglich: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.“ (ebd.). Andererseits, auch auf der Suche nach der Rettung markiert eine Fülle von Dualisierungen die Situation, die sich zwar binär fügen, aber nicht nach negativ oder positiv, verderblich oder rettend codieren lassen, sondern in der Gemeinsamkeit der nicht wünschbaren Optionen erst das ganze Elend bezeichnen. Schillers Dualisierungen beschreiben den umfassenden Charakter der zunächst als ausweglos charakterisierten Situation noch einmal, im Blick auf den Menschen und im Blick auf die Menschheit, im Blick auf Natur oder Gesellschaft, Staat und Politik, Moral und Bildung. Er unterscheidet nämlich (erst von Kant, dann von Fichte inspiriert) mit einem umfassenden Anspruch die Totalität von Mensch und Welt, die intelligible und die empirische Welt (und er ordnet dieser die Notwendigkeit und jener die Freiheit zu), Sinnlichkeit und Vernunft, sinnlich und geistig, Einbildungskraft und Erkenntnisvermögen, Willkür und Gesetz, Natur und Kultur, Leben und Ideal, Natürlichkeit und Sittlichkeit, Form und Materie, Formtrieb und Stofftrieb, den natürlichen und den moralischen Staat, die subjektive und die objektive Menschheit (usw.) – alles in der Absicht, die Situation des Menschen in der Welt und die Möglichkeiten seiner Bildung zu verstehen. Die offenkundigen Paradoxa oder „Antagonism“, auf die er dabei stößt, liest er als Indizien für die „Entfremdung“ des Menschen, der sich in einer Welt findet, die selbst in der Option für eine Seite des Duals, die der Vernunft und Moral, Kultur oder Bildung, anders als man erwarten würde, zur eigenen humanen Gestalt nicht mehr finden kann. Im Kontrast zu den Dualisierungen, die man aus den Bildungsdiskursen der Zeit und bei aktuellen Kritikern sonst kennt, anders auch als in seiner
7Dafür
findet er dieses idyllische Bild: „Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophierend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.“ (6/454).
14.1 Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“
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Antrittsvorlesung,8 findet Schiller keine Lösung durch Entscheidung für eine der Optionen; denn so, wie sich die „niedern“ oder die „zivilisierten Klassen“ allein durch die je spezifische Form der Verderbnis unterscheiden, bieten Natur und Kultur, Vernunft oder Sittlichkeit, auch der Staat in ihrer herrschenden Gestalt keine rettende Option mehr an. Deshalb bedarf, so Schillers Option, „die nachteilige Richtung des Zeitcharakters“ (6/457) eines Dritten, um sich „von seiner tiefen Entwürdigung … aufrichten“ (7/460) zu können. Auch das Dritte sucht er zwar in der Natur des Menschen, bietet aber Optionen jenseits der Duale an, denn seine Lösung „für unser Zeitalter“ heißt: „Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden.“ (10/465) „Schönheit“ stellt er als Einheit von Sinnlichem und Sittlichem vor, es ist die „Schönheit … durch welche man zu der Freiheit wandelt“ (2/447), dafür will Schiller mit seinen Briefen den „Beweis“ (ebd.) antreten.9 Dieser Beweis wird im Wesentlichen doch wieder anthropologisch geführt, mit einer erneuten Annahme über das Wesen des Menschen,10 und mit Hinweisen auf den Prozess, in dem sich dieses Wesen onto- wie phylogenetisch bildet, im Einzelnen wie in der Gattung. Es ist, das charakterisiert die nachwirkende Form dieser Lösung, die triadische „Erweiterung“ (15/480) der Annahmen über die Natur des Menschen, mit der Schiller zuerst operiert, und die er im Wesentlichen über das „Spiel“ und den „Spieltrieb“ (15/479) einführt. Der Mensch ist für ihn „weder ausschließlich Materie, noch ist er ausschließend Geist“, weder nur Form noch nur Materie, weder nur Formtrieb noch nur Stofftrieb, sondern auch dem Trieb nach ein Drittes. Erst im Spieltrieb, dem dritten Trieb, „vollendet“ sich „die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit,
8In seiner Antrittsvorlesung in Jena, unter dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ (26. Und 27. Mai 1789), stellte er zwei Bilder des Studenten einander gegenüber, den „philosophischen Kopf“ und den „Brotgelehrten“, für Ersteren will er reden, letzteren verweist er im Grunde von der Universität (vgl. den Text in Werke, Ed Göpfert Bd. 2, S. 9–22, bes. S. 9–12). 9Schiller nimmt dabei das Thema der Einheit von Schönheit und Sittlichkeit wieder auf, das er bereits 1793 in der Abhandlung „Über Anmut und Würde“ behandelt hat, auch dort mit der These, dass die Einheit von Moralität und Schönheit Konsequenzen für die „Bildung“ definiert, jetzt als „Anforderung“, die „die Vernunft an die Menschenbildung (macht)“, konkret: „So streng also auch immer die Vernunft einen Ausdruck der Sittlichkeit fordert, so unnachlaßlich fordert das Auge Schönheit.“ – und bekanntlich mündet diese Erwartung in die These, „Mit anderen Worten: seine sittliche Fertigkeit muß sich durch Grazie offenbaren.“ (in: Über Anmut und Würde. In: Schiller Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 2, München 1966, S. 382–424, zit. S. 401). Die Frage, wie „Grazie“ möglich ist, muss ich hier leider aussparen (ja die bildungstheoretische Diskussion der gesamten Abhandlung), schon Schiller selbst sieht die „Schwierigkeit“ (ebd.), auf die er sich mit dieser These eingelassen hat. Letztlich vertraut er auch hier auf die zwanglos-zwingende Wirkung des Kunstwerks, damit der Mensch „einig mit sich selbst“ (403), sinnlich und sittlich werden kann, und auch „der Gehorsam gegen die Vernunft einen Grund des Vergnügens abgeben“ kann (404). Die „schöne Seele“ (408) zeigt, dass das möglich sein kann, „und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung“ (409). 10„die allgemeine Idee der Schönheit aus dem Begriffe der menschlichen Natur abzuleiten“(17/484) – so charakterisiert er die eine Seite seiner methodischen Operation.
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
des Leidens mit dem Begriff der Freiheit der Menschheit.“ (15/479) Vor diesem Hintergrund folgt die neue, die ästhetisch begründete Bestimmung des Menschen: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (15/481, Herv. dort) So löst das triadische Argument, das „vielleicht paradox erscheint“ (ebd.), die Aporien der Dualisierungen auf, gegen die „Prosa der entfremdeten Wirklichkeit“ obsiegt „die Poesie der ästhetischen Versöhnung“.11 Dieser „Satz“ über das Spiel als specimen humanum, soll „das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen“ (ebd.), also auch zeigen, was Bildung bedeutet. Erneut werden die Griechen zum Beweis bemüht, Götterwelt und Menschenwelt erscheinen vereint. „Beweise“, sogar „mit strenger Notwendigkeit“ (16/482), jedenfalls Indizien für diese These findet Schiller schon in der Gattungsgeschichte des Menschen. Die Trias von physischer, moralischer und ästhetischer Bildung sei hier unverkennbar (16/483, auch 24/502). Zugleich sieht er das Werk der Versöhnung, „das Schöne“, aus der „Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Triebe und aus der Verbindung zweier entgegengesetzter Prinzipien“ hervorgehen (16/482), mit dem erwünschten Ergebnis der Versöhnung von Einseitigkeiten, denn „durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; … der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben“ (18/486). Die offene „Bestimmbarkeit“ des Menschen (19/488) macht solche Einheit möglich, und zwar ohne gegen seine Freiheit zu verstoßen, die ja jede „Einwirkung“ verbietet (20/492): „der Übergang von dem leidenden Zustande des Empfindens zu dem tätigen des Denkens und Wollens geschieht also nicht anders als durch einen Zustand ästhetischer Freiheit“ (23/499). „Selbsttätigkeit“ (23/500) ist der Modus dieser Entwicklung, die damit als Bildungsprozess erkennbar wird, allerdings auch als „Geschenk der Natur“ (26/510) ermöglicht durch den „ästhetischen Bildungstrieb“ (27/518). Denn schon auf den frühen Stufen der Gattungsgeschichte kann man die Natur des Menschen als notwendige Basis sehen, sie zeigt sich als „die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.“ (26/510, Herv. dort) Insgesamt aber ist der Ort der Versöhnung gefunden, die „Welt des Scheines“ (26/512), in der „Kunst des Scheins“, die auch die „Wahrheit der Sitten“ (26/513) ermöglicht und das Schöne mit dem Moralischen zur Einheit bringt, abgesichert in einer Trias der Staatsformen. Sie findet ihre Vollendung in einem „ästhetischen Staat“, der die Möglichkeiten des „dynamischen Staats“ und des „ethischen Staats“ vereint und überbietet: „der dynamische Staat kann die Gesellschaft bloß möglich machen, indem er die Natur durch Natur bezähmt; der ethische Staat kann sie bloß (moralisch) notwendig machen, in dem er den einzelnen Willen dem allgemeinen unterwirft, der ästhetische Staat allein kann sie wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht.“ (27/519).
11So
liest das Gadamer: Wahrheit und Methode. 7. Aufl. Tübingen 2010, zit. S. 89 (1960, S. 79) – und die kritische Würdigung dieser Lösung, die Gadamer gibt, wird noch zu erwähnen sein.
14.1 Die rettende Welt des Spiels ... „ästhetische Erziehung“
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Der Ort der Versöhnung und der Grund ihrer Ermöglichung, ästhetische Bildung also, sind damit bezeichnet, theoretisch abgeleitet und anthropologisch begründet. Ist auch der „Beweis“ erbracht, überzeugt die Lösung? Man kann über seine Deutung der Naturgeschichte des Menschen und der Rolle des Spiels streiten, homo ludens ist hier nur eine Option neben der Rolle der Arbeit. Sicherlich ruht auch seine anthropologische Argumentation auf den Schwächen der petitio principii auf, die all diesen Argumenten eigen ist. Gleichwie, um die Möglichkeit der Versöhnung zu zeigen, kann man auch hier einräumen, dass eine hypothetische Anthropologie, wie sie seit Rousseau dominiert, ein Argument eigener Geltung ist. Die wirklich offene Frage ist die nach den historisch-gesellschaftlichen Realisierungschancen. Schiller selbst räumt skeptisch ein, dass der von ihm gewünschte ästhetische Staat noch nicht existiert, allenfalls „dem Bedürfnis nach … in jeder eingestimmten Seele“ und vielleicht „der Tat nach … in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln .., wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigne schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.“ (27/520) Es bleibt also ein Verweis auf zukünftige Welten, schon in ihrer Beschreibung als utopische erkennbar. Die Kritik liegt natürlich nahe, dass solche Rettung im schönen Schein „lediglich eine partikulare Versöhnung“12 darstellt, Fiktion ohne Realität.13 Kunst wird dennoch von Schillers Zeitgenossen ebenfalls als höchster Ausdruck menschlicher Bildung gefeiert;14 sie wird auch bis heute als wahres Arkanum der Bildung gesehen und gegen die Bildungspolitik kritisch in Stellung gebracht.15 Diese Lösung wird aber auch problematisiert, weil der Ort der Versöhnung, die Kunst, die vermeintlich die Menschlichkeit eröffnet, doch nur Fluchtraum sei, scheinbare Befreiung im schönen Schein. Schiller, so der Generaleinwand, mache bei aller rhetorischen Überzeugungskraft und politischen Intention (hier anders als Hölderlin16) doch nur das Grundproblem ästhetischer
12Gadamer,
Wahrheit und Methode (1960), 2010, S. 88. Erfindung des Pädagogischen, 2009, erkennt im schönen Schein nur einen „sakralisierten Bezugspunkt“ der Versöhnung, den „notwendig affirmativen Charakter“ betont Bolten und sieht „das politisch subversive Potential des Schönen eliminiert“, 1984, S. 25 f. 14Für Wilhelm von Humboldt gilt das, auch in seiner Darstellung „Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“ (1830), in: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel Bd. II, S. 357– 394, zu den „Briefen“ u. a. S. 372 f. 15So z. B. bei Marian Heitger: Schiller als Pädagoge. In: Fuchs/Koch, 2006, S. 21–32. 16Diesen Kontrast markiert zumindest Lars Meier: Konzepte ästhetischer Erziehung bei Schiller und Hölderlin. Bielefeld 2015. Er liest die Ästhetischen Briefe als „Bekenntnisse eines Unpolitischen“ (58 ff.), in denen Schiller „die Tragik der eigenen Zeit absolut setzt“ und „die Widersprüche der eigenen Zeit ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft“ darstellt (375), während Hölderlin „in seinem etwa zur gleichen Zeit entstehenden Empedokles-Drama [die Tragik der Zeit] (versucht) als notwendiges Moment eines historischen Prozesses lesbar zu machen“ (376). Das mögen jetzt die Germanisten unter sich ausmachen. 13Schäfer,
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
Bildung sichtbar, dass sie nicht „Erziehung durch die Kunst“, sondern nur „eine Erziehung zur Kunst“17 sei, partikular wie andere Bereiche menschlicher Praxis und des Lernens auch. Einheit bleibe auch in der Kunst unerfüllte, werde nicht „vollendete“ Sehnsucht.
14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm Schiller war nicht der einzige Theoretiker in der Ursprungsphase des modernen Bildungsdenkens, der den Versuch unternahm, den Dualisierungen zu entkommen und eine Versöhnung von Natur und Gesellschaft, Mensch und Welt als möglich aufzuweisen. In den bildungstheoretischen Texten, die vor allem Hegel in ganz unterschiedlicher Referenz hinterlassen hat, wird das Thema ebenfalls aufgenommen, auch hier in der Absicht, den Dualen nicht zu erliegen, sondern zu ihrer Aufhebung zu kommen. Es ist die Methode des dialektischen Argumentierens, von der solche Leistungen erwartet werden, in der Logik wie in der Philosophie des Geistes, aber auch in der Rechtsphilosophie und in den Schulreden praktiziert. Als philosophische Methode ist „Dialektik“, wenn sie denn überhaupt eine Methode darstellt, heute höchst strittig und wird in ihrem Status seit langem kontrovers diskutiert.18 Das kann als Grundsatzfrage hier auf sich beruhen, weil es in der Hegel-Gemeinde und bei ihren Opponenten19 intensiv genug diskutiert wird. Man sollte auch die Differenz zur „Dialektik“ bei Schleiermacher sehen,20 die sich der Hegelschen nicht gleichsetzen lässt und ja auch eine andere Bildungsphilosophie und Pädagogik21 inspiriert. Für die Würdigung seiner
17So wieder Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 2010, S. 88; zum ungelösten Problem der ästhetischen Bildung zwischen Autonomie und Partikularität, menschheitsgeschichtlichem Pathos der Versöhnung und einer „bescheidenen Perspektive“ (493) der pädagogisch verstandenen ästhetischen Bildung Klaus Mollenhauer: Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 36(1990), S. 481–494. 18Die schärfste Kritik und die lehrreichste, weil im polemischen Duktus geschrieben, stammt wohl von Karl Popper: Was ist Dialektik? (1940) In: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln/Berlin1970, S. 262–290. 19Dazu findet sich eine Übersicht bei Herbert Schnädelbach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung. 3. Aufl. Hamburg 2007. 20Schleiermacher entwickelt die „Dialektik nach Platonischem Vorbild: als ‚Darlegung der Grundsätze (sic!) für die kunstmäßige Gesprächsführung im Bereich des reinen Denkens‘“, als „‚Kunstlehre‘ des Wissens, eine Methodik des ‚Findens‘ der Wissenschaft“, so Herbert Schnädelbach: Philosophie auf dem Weg von der System- zur Forschungswissenschaft. In: Tenorth (Hrsg.): Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität. Berlin 2010 (Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 4), S. 151–196, zit. S. 162. 21Ihr gilt entsprechend, anders als Hegel, auch ein Kapitel in Wolfdietrich S chmied-Kowarzik: Dialektische Pädagogik. Vom Bezug der Erziehungswissenschaft zur Praxis. München 1974, bes. S. 29 ff., 138 ff.
14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm
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bildungstheoretischen Reflexion darf man jedenfalls nicht unterstellen, Hegels Form der Reflexion sei wie ein Schematismus praktiziert worden oder heute in dieser Weise zu lesen, gar als Technik des klassischen Dreischritts,22 wie die ihm naheliegenden Denker die naheliegende Kritik zu entkräften suchen. Sie selbst sehen bei Hegel „ein Denken, das alle Wirklichkeit erkennt und der notwendigen Bewegung seiner23 Unterschiede und Zusammenhänge folgt“, und zwar mit einem eindeutigen Ergebnis, wie behauptet wird: „In diesem Sinne stellt Hegel die kategorialen Grundlagen der Wirklichkeit als einen notwendigen und systematischen Zusammenhang dar (in der ‚Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‘), denn ‚ein Philosophieren ohne System kann nichts Wissenschaftliches sein‘ (Enz § 14 A).“24 Lässt man außer Acht, ob Hegels Denken hier schon angemessen beschrieben ist und ob es Hegel wirklich gelungen ist,25 das zu leisten, was man ihm zuschreibt, so hat man für die Bildungsphilosophie zu zeigen, welchen theoretischen Begriffen Hegel folgt, um die „kategorialen Grundlagen“ zu explizieren, und welches Problem er „in seinen Bewegungen und Unterschieden“ bearbeitet. Dann, wie man im Vorgriff sagen kann, erkennt man durchaus triadische Figuren, etwa in der Unterscheidung von natürlichem Staat, bürgerlicher Gesellschaft und moralischem Staat. Gleichzeitig ist in der Denkform Hegels unverkennbar, dass er insofern triadischen Figuren folgt, als er bildungstheoretisch einen Prozess beschreibt, in dem sich z. B. aus „Entfremdung“ und „Entzweiung“ über Widersprüche und „Gegensätze“ eine Individualität als „Person“ konstituiert,26 in der die Widersprüche aufgehoben sind. Solches Denken, in dem „das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten“ demonstriert wird, bestimmt er ja auch selbst als „das dialektische Moment“ in der „Form“ des „Logischen“, wie er die Operation der Dialektik in Abgrenzung gegenüber der „abstrakten oder verständigen“ sowie der „spekulativen oder
22Davor
warnen in ihrem Hegel-Kapitel gleich einleitend Andreas Dörpinghaus/Andreas Poenitsch/Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt 2006, S. 83. Aber wenn sie dabei auch bestreiten, dass Dialektik „für Hegel keine Methode des Denkens“ sei, dann habe ich doch Zweifel, denn was anderes als Operationen des Denkens, also als „Methode“ rekonstruierbare Praktiken, beschreiben sie selbst, wenn sie Hegel vor dem „Dialektik“Schematismus retten wollen? 23Ich, H.-E. T., würde hier eher „ihrer“ erwarten und auch vorziehen, denn der nächste und naheliegende Bezug ist doch „Wirklichkeit“ und um deren Bewegungen, nicht allein um die des Denkens geht es doch. 24Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger: Einführung … 2006, S. 83. 25Schnädelbach, z. B. 2010, S. 170 ff., resümiert gut begründet seine Zweifel. Selbstverständlich sollte man jetzt Stekeler ergänzend lesen – aber insgesamt kann das hier als Problem und Thema den Hegel-Freunden überlassen werden. 26Diese Lesart seiner Bildungsphilosophie gibt Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015, bes. S. 311–385 (vgl. zu Osterloh auch meine Rezension in Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)6, S. 908–912).
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
p ositiv-vernünftigen“ „Form“ des „Logischen“ charakterisiert.27 Das wiederum kann zugleich als der „Weg (griech. Méthodos)“ beschrieben werden, „den diese Bewegung im Denken selbst zurücklegt“, also als „Trias“ von „Phasen“, die für Hegels Denkform charakteristisch sind.28 An dieser Stelle kommt es jenseits solcher Kontroversen aber allein darauf an zu zeigen, wie sich mit und seit Hegel die Bildungsreflexion in dieser Denkform entfaltet, nicht in einer schematischen Nutzung der „dialektischen Triade“ von „Thesis, Antithesis und Synthesis“,29 aber doch in seiner spezifischen triadischen Denkform. Duale, die seit Kant dominieren, sind dafür der Ausgangspunkt, vor allem das Dual von erster, biologischer, und zweiter, moralischer Natur, das Hegel aufnimmt, um die Aufgabe von Bildung und Erziehung zu beschreiben. Der Pädagoge hat es zwar mit der im Wesentlichen zunächst biologisch gegebenen ersten Natur als Ausgangsdatum zu tun, seine wesentliche Orientierungsmarke ist aber die „zweite Natur“.30 Das ist im Kontext der subjektbezogenen Bildungsreflexion31 zuerst die moralische Natur, die über Erziehung erst konstruiert werden muss, über einen Prozess, der der Tatsache Rechnung trägt, dass der Mensch „das einzige Tier“ ist, „das diszipliniert werden muss“.32 Hegel bleibt in dieser Ausgangslage, wenn er in der Rechtsphilosophie sagt,33 dass durch Erziehung die Existenzform des Sittlichen hervorgebracht werden müsse, und zwar „als Sitte,“ und das bedeutet, als „die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt“ wird. Bildung erscheint insofern auch als „Glättung der Besonderheit“ (§ 187, A) auf dem Weg zur Allgemeinheit. Seine Reflexion über Bildung gewinnt ihre Pointe schließlich darin, dass er – anders als die aus anderen Bildungstheorien bekannten Dualisierungen – die 27Aus
der „Enzyklopädie“, hier zit. nach Schnädelbach 2010, zit. S. 173, Herv. dort. pointiert Schnädelbach 2010, S. 173 Hegels Denkform – und erkennt bei Hegel auch die Probleme, die Popper dann aufspießt. 29Diese Charakteristik von Dialektik als basale Ausgangsbeschreibung noch bei Popper 1970, S. 263, bevor er ihre methodische Leistung und den Erkenntnisertrag kritisch diskutiert. 30Für die Begriffsgeschichte Norbert Rath: Natur, zweite. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt/Basel 1984, Sp. 484–494; ders.: Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um 1800. Münster (usw.) 1996, sowie jüngst ders: Historische Prozesse als Prozesse der Bildung von „zweiter Natur“. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Entwicklungen der Menschheit. Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration. Lengerich 2014, S. 57–65, wo er den Begriff der Bildung nutzt, um „subjektive Anteile an der Etablierung und am Funktionieren von Bildungsinstitutionen, Rechtssystemen, ästhetischen und kulturellen Normen in den Blick zu nehmen und zugleich auf Prägungen des Subjekts durch Sozialisations- und Erziehungseinflüsse hinzuweisen“ (zit. S. 57). Allerdings nutzt Rath nicht nur den etwas problematischen Begriff der „Prägungen“, sondern ordnet für die Kennzeichnung solcher Prozesse auch „‚Gewohnheit‘, ‚Konvention‘, ‚Bildung als zweite Natur‘“ im Grunde ungeschieden und unthematisiert gleich. 31In der Tradition des Begriffs wird ferner „Kultur“ als die objektivierte zweite, vom Menschen hervorgebrachte Natur verstanden (vgl. Rath 1984; 1996; 2014). 32So in entschiedener Eindeutigkeit Immanuel Kant, Anthropologie. Akademie-Ausgabe, Bd. XXV, II, erste Hälfte, S. 283. 33Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. (1821) § 151, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972, S. 149. 28So
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Welt selbst und das Aufwachsen in der Welt als eine soziale Form beschreiben kann, die nicht allein das Individuum zu seinen Möglichkeiten, sondern auch die Sittlichkeit selbst zur Geltung bringt, individuelle und gesellschaftliche Existenz also zugleich möglich macht. Hegel kann die „bürgerliche Gesellschaft“ insofern als eine „Sphäre der Bildung“ (Hegel) verstehen, gerade wegen der Gegensätze, die für sie konstitutiv sind und von denen die Tätigkeit des Subjekts in besonderer Weise herausgefordert wird.34 Bevor dieser Prozess in seiner eigenen Stufung und in den basierenden philosophischen Annahmen und sozialphilosophischen Prämissen näher beleuchtet wird, muss man zunächst den vielfältigen Gebrauch von „Bildung“ erinnern, den man bei Hegel für Bildung findet (vgl. Kap. 11). Das zwingt vor allem dazu, die Bildung eines empirischen Subjekts zum Individuum von der Bildung des Geistes zu unterscheiden, um nicht leichtfertige Gleichsetzungen zu erzeugen. „Bildung“, so Hegel in der Phänomenologie des Geistes, kann zunächst ganz allgemein und in einem zugleich als pädagogisch erkennbaren, gesellschaftlich alltäglichen Sinne als ein Prozess erläutert werden, in dem Individuen sich aneignen, was in der Gesellschaft an Kenntnissen schon vorliegt: „Die Bildung in dieser Rücksicht besteht, von der Seite des Individuums aus betrachtet darin, daß es das Vorhandne erwerbe, seine unorganische Natur in sich zehre und für sich in Besitz nehme.“35 Die Bildung des „Geistes“ über die „Stufe des sich entfremdeten Geistes“ aber, für die ebenfalls der Begriff der „Bildung“ beansprucht wird, bis zur Stufe des „seiner selbst gewissen Geistes“ dagegen, die das Thema der Phänomenologie darstellt, betrifft das wahre und absolute Wissen, nicht etwa ein konkretes Individuum. Man kann allerdings erkennen, wie Hegel die dafür genutzten Annahmen über die Mechanik der Bildung und den Fortschritt des Wissens auch an anderer Stelle benutzt, etwa wenn er in der Rechtsphilosophie die Funktion und Dynamik von Bildung und Erziehung in der Gesellschaft behandelt. In der Referenz auf Gesellschaft oder Wissen, Individuum oder Geist bleiben die Differenzen im Prozess wie im Ergebnis aber unverkennbar. Der Begriff der Bildung, der hier erläutert werden soll, ist nicht der der Phänomenologie des Geistes, sondern der erziehungs- und bildungsphilosophisch relevante Begriff.36 Dabei geht es Hegel um den ebenfalls bedeutsamen, so 34Diese
Akzentuierung hier im Anschluss an Lothar Wigger: Bildung als Formierung. Über Bildung, Schule und Arbeit in Hegels Philosophie. In: Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung, 2003, S. 68–88, S. 80. 35Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. (1807) Hamburg 6. Aufl. 1952, S. 27; vgl. zur Differenz der Begriffe auch die Hinweise oben in Teil I.11. 36Für die Diskussion der Gesamtheit der Thematik der Bildung bei Hegel u. a. die Texte und Interpretationen bei Jürgen Eckard Pleines (Hrsg.): Hegels Theorie der Bildung. 2 Bde. Hildesheim (usw.) 1983/1986, sowie, leider meist ignoriert, aber schon wegen der paradoxierenden Zuspitzung der Funktion von Bildung im Titel und wegen der Abwehr aller rousseauistischen Interpretationen beachtenswert Siegfried Reuss: Die Verwirklichung der Vernunft. Hegels emanzipatorisch-affirmative Bildungstheorie. Berlin (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung) 1982. Eher einleitend Wigger, Bildung als Formierung, 2003; Dörpinghaus/Poenitsch/ Wigger, Einführung 2006; Christian Rittelmeyer: Bildung: Ein pädagogischer Grundbegriff. Stuttgart 2012, bes. S. 85 ff. und jetzt Osterloh 2015.
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riskanten wie mutigen Versuch, Bildung in und für die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst als eine Auflösung des Konflikts von biologischer und wahrer Natur des Menschen zu zeigen. Im ganz alltäglichen Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft werde erreicht, was andere Bildungstheoretiker entweder als historisch-gesellschaftliche Möglichkeit ausschließen oder nur im schönen Schein erwarten. Der Aufweis dieser Möglichkeit wird von Hegel vor allem in der Rechtsphilosophie geführt, dann auch in den Schulreden für eine konkrete, so notwendige wie geeignete Bildungswelt exemplifiziert. Auch hier beginnt die Argumentation zunächst damit, dass Hegel dualisierende Unterscheidungen trifft, vor allem die zwischen „Privatheit“, „Subjektivität“ und „unmittelbarer Einzelheit“ einerseits, „substantieller Allgemeinheit“ andererseits.37 Hegel unterscheidet für den Weg der Bildung drei Etappen in der Erziehung, zuerst das Kindesalter und die Familie, dann die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft im Jugendalter mit der zentralen Funktion der Schule, die über Unterricht und Wissen sowie über Moralerziehung als verallgemeinernde öffentliche Erziehungseinrichtung fungiert, und schließlich das Erwachsenenalter, in dem die Arbeit und die Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft sozialisiert. In diesem Prozess streift der Heranwachsende allmählich die Merkmale der „Subjektivität“ ab und wird zum handlungsfähigen und moralisch zurechnungsfähigen Individuum. Er unterwirft sich und erwirbt zugleich Moralität und Sittlichkeit, also das (gesellschaftlich) Allgemeine. Bildung kann insofern als „Sich-allgemein-Machen“38 beschrieben werden. Das gelingt weder immer harmonisch noch einfach: Bildung ist „harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und der Willkür des Beliebens.“ (RhP § 187 A) Im Kindesalter lebt der Mensch noch „im Frieden des Subjekts mit sich und der Welt“, aber schon die familiäre Erziehung, die auf dem „Recht des Kindes“ basiert, „erzogen zu werden“, ist „Zucht“, mit dem legitimen Zweck, „den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde.“ (RhP § 174/1), damit die Kinder sich „aus der natürlichen Unmittelbarkeit … zur Selbstständigkeit und freien Persönlichkeit … erheben.“ (§ 175). Der Jüngling wiederum wird durch die Schule geprägt; er artikuliert gegenüber der Welt schon „Allgemeinheit“, aber es ist „eine selbst noch subjektive Allgemeinheit“, noch auf der Stufe der „Ideale, Einbildungen, Sollen, Hoffnungen usf.“. Aber die Schule baut auch diese Form des Weltverhältnisses ab
37Georg
Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. (1821), hrsg. von Reichelt, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1972. Zitate aus der Rechtsphilosophie im Folgenden in Klammern im Text mit Nennung des § bzw. mit §/Ziffer des Zusatzes. Meine Interpretation folgt hier z. T. der Darstellung aus Georg Jäger/Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken 1800–1870. In: K. E. Jeismann/P. Lundgreen (Hrsg.): Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. 1800 bis 1870. München 1987, S. 250–270 (Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. III), 1987, S. 71–103. 38So das erste Thema bei Dörpinghaus/Poenitsch/Wigger, Einführung …, S. 83 ff.
14.2 Individuation durch Vergesellschaftung – Hegels Bildungsprogramm
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und generalisiert die Einsicht in „die Welt als das Substantielle, das Individuum hingegen nur als ein Akzidens“.39 Die Durchsetzung der Schulpflicht, auch gegen die Eltern, ist für Hegel von hier aus gerechtfertigt, mögen die Eltern auch „über Lehrer und Anstalten schreien und reden, weil sich ihr Belieben gegen dieselben setzt“ (§ 238/3). Zum Mann ist der Heranwachsende geworden, wenn er die „Anerkennung der objektiven Notwendigkeit und Vernünftigkeit der bereits vorhandenen, fertigen Welt“ verinnerlicht hat. Wesentlich verantwortlich für diesen Wandel, für die Realisierung des Ziels der Bildung, sind „Beruf“ und Arbeit, mit ihnen tritt er in die bürgerliche Gesellschaft ein. Sie zeigen dem Menschen, dass er in der „erhaltenden Hervorbringung und Weiterführung der Welt“ seine ihm eigene, moralisch gerechtfertigte Rolle gefunden hat, zur Individualität geworden ist und d. h. die Privatheit abgestreift hat. Aber noch ist der Zielpunkt nicht erreicht, der Status des „Staatsbürgers“, die wirkliche „Befreiung“ (§ 187), in der sich die Bildung in „ihrer absoluten Bestimmung“ erfüllt als „der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit“ (§ 187). Damit ist auch die „bürgerliche Gesellschaft“ überwunden, aller Leistungen ungeachtet, die sie ökonomisch erbringt, und zwar durch die Logik des Wettbewerbs.40 Dennoch ist sie nicht der Endpunkt. Zwar als eine „Schöpfung … der modernen Welt“ notwendig für den Fortschritt der Gattung, repräsentiert sie nur „die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt“ (§ 182/1). Das gelingt erst im Staat, als dem Repräsentanten des Vernünftigen in der Wirklichkeit, denn er ist „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257 vgl. auch § 258/1), allerdings nur, wenn seine „Verfassung“ das auch sichert, also nicht in historisch beliebiger Gestalt41 (§ 272). Sein genuiner „Zweck“ ist „das allgemeine Interesse als solches“ (§ 270), hier kommt das Individuum zu sich selbst, hier ist der Prozess der Vergesellschaftung zugleich mit dem der Individuation, „als unendlich fürsichseiende freie Subjektivität“ (§ 187) vollendet.
39Eine
instruktive Darstellung der Argumente aus Hegels Schulreden geben jetzt Benner/ Brüggen: Geschichte der Pädagogik. 2011, S. 144–152. 40Hegel argumentiert hier wie ein moderner Ökonom über den gesellschaftlichen Nutzen der Arbeitsteilung, die sich den nur privaten Motiven der Gewinnsteigerung verdankt: „In dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die subjektive Selbstsucht in den Beitrag zur Befriedigung der Bedürfnisse aller andern um … als dialektische Bewegung, so daß, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der übrigen produziert und erwirbt.“ (§ 199, Herv. dort). 41Die komplizierten Relationen von „Volk“, „Geist eines Volkes“ und Verfassung kann ich hier nicht diskutieren, so wenig wie den Begriff der „Freiheit“, der hier in einem durchaus modernen Verstande regiert (dafür Zusatz zu § 260 oder § 316 ff.), oder die Thesen Hegels, dass die Verfassung „eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung seines Selbstbewußtseins“ abhängt, so dass auch gilt: „Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört.“ (§ 274).
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
Im Blick auf den Prozess zeigt Hegel, nicht nur in den Schulreden, dass er für die Logik der Entwicklung, also für die Ermöglichung eines solchen Sozialisationsprozesses, in dem sich Vergesellschaftung mit Individuation verbindet, mit großer Sensibilität argumentieren und zeigen kann, wie diese Entwicklung möglich ist. Während Schule, Beruf und Arbeit als so gnadenlose wie unvermeidliche, jedenfalls in den Aufgaben, die sie präsentieren, höchst wirksame, weil zur je eigenen Auseinandersetzung nötigende Mechanismen der Durchsetzung des Allgemeinen erscheinen, bleibt die Funktion der Familie als so sanfte wie Privatheit ermöglichende Instanz immer im Blick. Einerseits: Hier werde der Heranwachsende nicht den harten Erwartungen der öffentlichen Institutionen ausgeliefert, sondern „geliebt“, auch in seinen Schwächen und Schwierigkeiten anerkannt: „Als Kind muß der Mensch im Kreise der Liebe und des Zutrauens bei den Eltern gewesen sein, und das Vernünftige muß als seine eigene Subjektivität in ihm erscheinen.“ (§ 175/1). Andererseits: Die Familie hat ihre Funktion und Legitimation verloren, wenn die Kinder zur Mündigkeit gekommen sind, das bedeutet „die sittliche Auflösung der Familie“ (§ 177). Man erkennt die Differenzen im Stil dieser Einrichtungen, die auch in der jüngeren Bildungssoziologie betont werden,42 nicht nur zur Klärung der unterschiedlichen Praktiken und Leistungen, sondern auch zur Erklärung der Durchsetzbarkeit allgemein geltender Normen und Erwartungen der Gesellschaft. Privatheit und Subjektivität verschwinden nicht, sie bleiben aber nur in Symbiose mit dem vergesellschafteten Charakter des Menschen erhalten. Der zweite wesentliche Mechanismus, der solche Bildung des Subjekts möglich macht, ist ebenfalls von nachhaltender Erklärungskraft, nicht zufällig geeignet in aktuellen Sozialisationstheorien reformuliert zu werden. Es ist, in der Phänomenologie des Geistes wesentlich entfaltet, der Mechanismus der Anerkennung,43 der bildungsbiografisch im Widerstreit von Kind und Familie bzw. Schule einerseits, der Erfahrung des Selbst im Andern als Voraussetzung der Konstitution von Identität in der gesellschaftlichen Situation andererseits
42Für
den klassischen Text über die moralische Bedeutsamkeit der Differenz des Sozialisationsstils von Familie und Schule vgl. Talcott Parsons: Die Schulklasse als soziales System (1959) In: Ders.: Sozialstruktur und Persönlichkeit. Frankfurt a.M. 1968, S. 161–193; für die allmähliche Verwischung der Systemgrenzen und -differenzen in der Verschulung der Familie und Familiarisierung der Schule schon Hartmann Tyrell: Die ‚Anpassung‘ der Familie an die Schule In: J.Oelkers/H.-E.Tenorth (Hrsg.). Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Systemtheorie. Weinheim/Basel 1987, S. 102–124, systematisch jetzt, systemtheoretisch und durchaus anschlussfähig an Hegel, David Klett: Die Form des Kindes. Kind, Familie, Gesellschaftsstruktur. Mit einem Vorwort von Dirk Baecker. Weilerswist 2013. 43Vor der aktuellen Inflationierung des Themas in Sozialphilosophie und Erziehungswissenschaft wird Anerkennung in systematischer Analyse bereits diskutiert bei Edith Düsing: Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel. Köln 1986, zu Hegel bes. S. 291 ff.; für die schultheoretisch und didaktisch im Kontext von Gerechtigkeitsfragen relevante Diskussion des Themas der Anerkennung vgl. unten Teil IV.
14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie …
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vorausgesetzt ist und wirksam wird. Anerkennung liegt insofern den sozialphilosophischen, auf die Familie bezogenen, und den schultheoretischen Überlegungen als philosophische Prämissen gleichermaßen zugrunde: „Die Anerkennung des Anderen und die Selbsterfahrung an der anerkannten Andersheit des Anderen ist die Bedingung, um überhaupt zu einem Bewusstsein seiner selbst kommen zu können.“44 Aufwachsen in Gesellschaft wird zur Bedingung, eine Identität zu gewinnen, in der der je Einzelne sein individuelles und sein gesellschaftliches Sein zu einer neuen, eigenen Identität verbindet – sich zum Selbst also selbst bildet, indem er sich mit Anderen in Negation und Anerkennung auseinandersetzt. In der Wirkungsgeschichte mag Hegel insgesamt nicht unproblematisch sein, wenn man ihn, wie kritische Bildungstheoretiker, nicht nur als einen Philosophen betrachtet, der unkritisch zur Verherrlichung des preußischen Militarismus beigetragen hat oder gar behaupten will, dass seine einschlägigen Äußerungen „von Servilität (triefen)“.45 Es mag auch sein, dass der Neo-Hegelianismus einen „strukturellen Konservatismus“46 befördert hat und dass die Anhänger seiner Bildungsphilosophie sich historisch wie aktuell nicht durch revolutionäre Emphase ausgezeichnet haben. Für die Würdigung seiner Reflexionen über Bildung sind seine eigenen Texte sicherlich bedeutsamer als solche Referenzen oder als die erziehungsphilosophische Aneignung, die mit dem Königsberger Philosophen Rosenkranz zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzt. Allerdings, bevor man die Lösung Hegels als definitive und nicht zu überbietende Leistung triadisierenden Denkens preist,47 kann ein Blick auf andere Schüler Hegels helfen. Bedeutsam für die weitere bildungstheoretische Diskussion sind freilich nur wenige geworden, im Grunde nur einer seiner scharfen Kritiker, der aber mit langfristiger Wirkung – und deshalb lohnt für die Analyse triadischer Formen ein Blick auf Marx. Er ist in der Denkform vergleichbar, aber kritisch gegen den Meister, weniger Philosoph als Historiker, dennoch lehrreich im Blick auf den Menschen und seine Bildung, auch wenn er sich selbst zur Wirklichkeit und Möglichkeit von Bildung eher nebenher geäußert hat.
14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie und die Möglichkeit der Emanzipation Schon die häufig genutzte Formel für die Marxsche Denkform platziert ihn in den Kern bildungstheoretischer Reflexion, denn sie wird selbst anthropologisch, im Blick auf den Menschen, formuliert: Er habe die Dialektik ‚vom Kopf auf
44Rittelmeyer,
Bildung, 2012, S. 89. meint aber Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. (1970) Frankfurt a.M. 1979, S. 50. 46Schnädelbach 2010, S. 178. 47Osterloh 2015 vertritt energisch diese These. 45Das
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
die Füße‘ gestellt, sowie, sagen er und die Protagonisten seiner Doktrin, an die Stelle des Geistes die Arbeit als Movens der Weltgeschichte gesetzt (neben den Klassenkämpfen). Wie immer das auch im Allgemeinen zu beurteilen ist (ob sich z. B. eine Denkbewegung mit Füßen mobilisieren lässt), zumindest der Begriff der Arbeit spielt auch schon in Hegels Rechtsphilosophie eine große Rolle, ausgelegt als „theoretische“ und „praktische Bildung“ (RhP § 196 ff.), so dass der bildungstheoretische Fortschritt oder eine gravierende Differenz nicht unmittelbar erkennbar sind. Sehr zum Leidwesen seiner Anhänger, die ihm langmütig-exegetisch gefolgt sind, um den Pädagogen Marx zu finden48 oder seine Philosophie zu retten,49 hat Marx sich zu Fragen der Bildung nämlich allenfalls nebenher geäußert. Hier und da gibt es Bemerkungen, auch im „Kapital“, die zwar sorgfältig zusammengestellt wurden,50 aber kaum als systematisch entfaltete Bildungstheorie durchgehen können. Das mag schon eher für die „Frühschriften“51 gelten, in denen sich Marx als Anthropologe lesen lässt, wenn man Siegfried Landshut und einer im Westen lange Zeit dominierenden Lesart folgt. Allerdings, wenn man ihn nicht in dieser biografischen Spaltung liest (als seien die späteren Texte frei von Anthropologie) oder ihn nur zur Legitimation staatssozialistischer Bildungspolitik deformiert, ist Marx für die Reflexionstradition von Bildung im Ursprung ihrer modernen Geschichte historisch wie theoretisch auch mit seinen wenigen Bemerkungen von eminenter Bedeutung, schon weil er den philosophisch dominierten mainstream herausfordert. Diese Bedeutung kann man im Übrigen auch explizieren, ohne sich in den endlosen, unübersichtlichen und politisch wie theoretisch so brisanten wie ausweglosen Debatten über Marx und den Marxismus insgesamt zu verlieren. Diese Debatten werden im Folgenden im Wesentlichen auch ignoriert, jedenfalls so weit, wie sie abseits der bildungstheoretischen Fragestellung liegen. Marx interessiert hier nur im Kontext der Bildungstheorie. Seine Bedeutung für die Rede von Bildung, auch das sei vorab eingeräumt, wird hier nur sehr selektiv, in thematischer Engführung behandelt, und zwar in einem dreifachen Sinne: i) Im Blick auf die bisher diskutierten
48Das
dominierte in der DDR, früh und ganz lesbar, wenn auch mit einem etwas weiten Begriff des Humanismus, z. B. im Marx-Kapitel bei Rosemarie Ahrbeck: Die allseitig entwickelte Persönlichkeit. Studien zur Geschichte des humanistischen Bildungsideals. Berlin 1979, S. 205– 240. Die von ihr genutzten Quellen finden sich im Wesentlichen, samt einer umfangreichen Einleitung der Herausgeber, auch in Karl Marx/Friedrich Engels: Über Pädagogik und Bildungspolitik. Ausgewählt und eingeleitet von Heinz Schuffenhauer u. a., 2 Bde. Berlin (DDR) 1976. 49Dafür v. a. Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik: Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der Marxschen Theorie. Freiburg/München 1981. Hier überlagert noch die Absicht, den Marxismus als Philosophie insgesamt zu retten, die spezifische bildungstheoretische Thematik, wie ich sie hier aufzunehmen suche. Nach Abschluss meines Ms. erschien W.-D.Schmied-Kowarzik: Kritische Theorie einer emanzipativen Praxis. Konzepte marxistischer Erziehungs- und Bildungstheorien. Weinheim/Basel 2019 – das Buch verdiente eine eigene Auseinandersetzung, die ich aber an dieser Stelle nicht leisten kann. 50Heinz Karras: Die Grundgedanken der sozialistischen Pädagogik in Marx‘ Hauptwerk „Das Kapital“. (1956) Frankfurt a.M. 1972. 51Siegfried Landshut (Hrsg.): Karl Marx. Die Frühschriften. Stuttgart 1971.
14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie …
239
anthropologischen und zeitdiagnostischen Reflexionen des Bildungsdenkens in seiner Ursprungsphase; ii) in der Frage nach den Spezifika im Begriff der Bildung, die Marx explizit in die Diskussion einführt, sowie iii) für das Problem, ob Bildung und Erziehung sich im Kontext seiner Überlegungen als Faktoren der utopischen Konstruktion anderer, besserer Welten interpretieren lassen und sich „Emanzipation“ von hier aus erläutern lässt. Die Generalthese für die hier versuchte Marx-Rezeption lautet, dass er in gewisser Weise als erster Bildungsreflexion als eine zwar theoretisch hoch ambitionierte, aber zugleich eminent empirisch fundierte Theorie konzipiert hat, so dass es gerechtfertigt erscheint, in Marx ein frühes Exempel einer historischen Anthropologie zu sehen, in der sich Bildungsfragen in ihrer eigenen Logik und Zeitdimension systematisch und empirisch zugleich verankern lassen. Diese Zuschreibung, Marx für die historische Anthropologie zu vereinnahmen (natürlich ohne ihn auf diese Dimension in seiner gesamten Arbeit zu reduzieren, aber Klassiker müssen sich damit abfinden, selektiv ausgebeutet zu werden), verlangt natürlich zuerst eine systematische Rechtfertigung, schon weil die aktuelle historische Anthropologie52 ihn nicht zu ihren prominenten Ahnen zählt. Zunächst findet man eine Rechtfertigung für diese Zuschreibung schon in der methodischen Qualifizierung selbst, die Marx seiner wissenschaftlichen Arbeit gegeben hat: „Wir Kommunisten kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet werden, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.“53 Von Philosophie, das muss man zuerst festhalten, ist hier nicht die Rede, Geschichte ist wirklich radikal als methodische Referenz gemeint und sie wird mit großen Erwartungen belastet: Es sei „die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“54
52Das
ist jedenfalls der Eindruck, wenn man das Kapitel und die Literatur zum Thema „Historische Anthropologie“ liest, das sich bei Christoph Wulf findet, vgl. C. W.: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004, bes. S. 320 f., wo man Marx, wie auch im Text, vergeblich sucht. Dagegen wird in Christoph Wulf (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, Marx allerdings, und bildungstheoretisch natürlich völlig zu Recht, beim Thema „Natur“ (bes. S. 106–107) behandelt (ausdrücklich eingegrenzt auf seine Frühschriften als Ort des anthropologischen Interesses), auch bei „Erziehung und Bildung“ knapp als Gesellschaftstheoretiker erwähnt (S. 778), überraschender Weise nicht bei „Arbeit“. 53Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. (1845/46) In: Die Deutsche Ideologie. (Raubdruck von MEGA Bd. 5 bzw. MEW Bd. 3) Frankfurt a.M. 1971. In: MEW Bd. 3, Berlin 1969, in Anm. 2, zu S. 18 findet sich vor allem am Anfang eine leicht andere Textgestalt, so auch in: Siegfried Landshut (Hrsg.): Die Frühschriften. Stuttgart 1971, zit. S. 346: „1. Die Ideologie überhaupt, speziell die deutsche Philosophie“. 54Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Landshut, Frühschriften, S. 207– 224, zit. S. 208/09.
240
14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
Erst „beim wirklichen Leben“, so sagt Marx, „da, wo die Spekulation aufhört … beginnt also die wirkliche positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.“55 In expliziter Abgrenzung gegen Hegel und seine idealistischen Erben fügt er ausdrücklich hinzu: „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf, wirkliches Wissen muß an ihre Stelle treten.“ Philosophie wird damit zwar nicht vollständig überflüssig, aber doch bestenfalls randständig: „Die selbstständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.“ Historisch, also von der „positiven Wissenschaft“ aus, wird auch nicht die Gattung betrachtet, sondern „der wirkliche Mensch“. In der scharfen Kritik an den Hegel-Erben, die sich in der „Deutschen Ideologie“ findet, ist diese Kritik an der zeitgenössisch dominierenden Praxis auch ganz eindeutig, im Blick auf die „Gattung“ oder den „abstrakten“ Menschen bevorzugt philosophisch zu reden und von da aus eine philosophische Anthropologie zu begründen. Gleich ob vom Menschen als vergesellschaftetem Individuum modo Hegel oder als subjektivierte, „isolierte“ Individualität56 modo Stirner die Rede ist, Marx wehrt solche gattungsfixierten „Hirngespinste“ scharf und eindeutig ab, mögen sie „‚der Gottmensch‘, ‚der Mensch‘ etc.“57 heißen. Für die weitere Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart des späten 20. Jahrhunderts wird dieses Thema, in pointierter Thesenhaftigkeit und in besonders nachdrücklich wirkender Problematik zugespitzt, in den „Thesen über Feuerbach“ behandelt. Zumal die dritte und die sechste These werden kontinuierlich bis heute als gesellschaftstheoretische, pädagogische und bildungstheoretische Herausforderung zugleich gelesen und immer noch intensiv diskutiert.58 Hier, in der Feuerbachkritik, wird in der sechsten These, zum Leidwesen der individualitätsfixierten klassischen Bildungsphilosophie bis heute, in der scharfen Kritik an Feuerbach dessen Lehre destruiert, den Menschen über eine „Wesens“-Zuschreibung zu bestimmen und damit als ein „dem einzelnen
55Karl
Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. (1845/46), Frankfurt a.M. 1971 [d.i. der Raubdruck der Einzelausgabe Berlin 1953, die den Nachdruck von Bd. 5 MEGA darstellte], S. 23, auch für die beiden folgenden Zitate, Herv. H.-E. T. 56Die ganze Polemik gegen „Sankt Max“ (Die deutsche Ideologie, 1971, S. 107–476), diese „in ihrer Langatmigkeit und akrobatischen Klopffechterei unerquickliche Kritik“ (Landshut, Frühschriften, S. XLVII), d. h. also gegen Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. (1845), gilt nur dem als falsch unterstellten Individualitäts- bzw. Subjektbegriff. 57Marx, Deutsche Ideologie, 1971, S. 38. 58Deren Text, zur Erinnerung, lautet: „3. Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei
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241
Individuum innewohnendes Abstraktum“. Marx dagegen sieht den Menschen „in seiner Wirklichkeit“, weder nach seiner „Idee“ noch als „Wesen“ oder Begriff des Menschen. Ganz unemphatisch-nüchtern charakterisiert er ihn als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Das wird bis heute als normative Provokation, narzisstische Kränkung und theoretische Herausforderung zugleich codiert. Auch die begleitende Erläuterung in These 3, „dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung“ sind, wird wenig trösten, bekräftigt sie doch nicht nur die verpönte (französische) „materialistische Lehre“, sondern erinnert auch an den ansonsten ausgeblendeten historisch eindeutig bezeichneten gesellschaftlichen Kontext. Keine generelle Gattungsthese, sondern die historischen Analysen über die bürgerliche Gesellschaft, das Schicksal des Proletariats als Klasse und die historische Form der Arbeit, der Arbeitsteilung, der Lohnarbeit und der Ausbeutung dienen zugleich als Beleg, um zeitdiagnostisch schärfer und eindeutiger als die Klage über den „Menschen“ im Allgemeinen, die man z. B. bei Schiller findet, die Situation des „wirklichen Menschen“ zu beschreiben: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seiten der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“59 Eine Versöhnung solcher Probleme oder die „Aufhebung“ der Gegensätze erwartet Marx denn auch nicht im ästhetisch schönen Schein oder in der wohlsozialisierten Person, sondern über Klassenkampf und Revolution. Für die an der Höherentwicklung der Menschheit durch Bildung orientierten Theoretiker ist es zusätzlich ernüchternd, dass sich die Emanzipation des Menschen im Wesentlichen von politischer Revolution und der Umwälzung der Produktivkräfte erwarten lässt, nicht von der Erziehung. Wer primär auf „geänderte Erziehung“ setzt – Marx kennt die Pädagogen, um diese Mahnung nicht zu versäumen –, der „vergißt, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muß.“ Die 6. Feuerbachthese kritisiert deshalb auch die utopischen Sozialisten, in Sonderheit Robert Owen, die das in ihren philanthropischen pädagogischen Programmen ignoriert haben, mit der Konsequenz
Teile zu sondern, von denen der eine über die Gesellschaft erhaben ist. (z. B. bei Robert Owen). Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ „6. Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gefühl für sich zu fixieren und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. kann bei ihm daher das menschliche Wesen nur als „Gattung“, als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.“ (hier zit. nach: Karl Marx [Thesen über Feuerbach – 1845]. In: Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, 1971, S. 583–585, zit. S. 583 f. 59Marx, Kapital, Bd. 1, S. 675.
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„die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über die Gesellschaft erhaben ist.“ Für Marx dagegen steht fest: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ In der späteren Marx-Rezeption hat solche Eindeutigkeit gesellschaftstheoretischer und politischer Analysen dennoch nicht daran gehindert, über Utopie und Erziehung nachzudenken und über die These, utopische Welten über Erziehung zu ermöglichen, auch, weil Marx hier und da der öffentlichen Erziehung durchaus die Rolle zuschreibt, ein „Umwälzungsferment“ zu sein – davon wird noch zu reden sein. Bildungstheoretisch aufschlussreicher ist zunächst die Tatsache, dass trotz, oder wegen, der 6. Feuerbachthese innerhalb des Marxismus intensiv über die Möglichkeiten einer „Theorie der Persönlichkeit“60 nachgedacht wurde, auch nicht ohne Ergebnisse, jedenfalls solche, die für eine historische Anthropologie modo Marx höchst aufschlussreich sind. Die hier angesprochenen Arbeiten werden erst im 20. Jahrhundert elaborierter entfaltet, weil sie einen theoretischen Kontext voraussetzen, in dem auch einige der bei Marx und innerhalb des Marxismus eher vernachlässigte Fragen, zumal der Kultur61 oder intrapsychischer Vorgänge, positiv aufgenommen werden. Dafür musste die marxistische Diskussion u. a. psychoanalytisch und jedenfalls psychologisch sensibilisiert werden, auch die Dimension der sozialen Interaktion, nicht nur Fragen der gesellschaftlichen Organisation und Arbeit intensiver berücksichtigen. In den philosophisch-pädagogischen Debatten der DDR z. B. wird eine marxistische Anthropologie entwickelt, die den Menschen als „bio-psycho-soziale Einheit“62 jenseits physiologischer Verengung fasst, wie sie Pawlows Lehre eingetragen hatte. Die dabei entwickelte „humanontogenetische Perspektive“ soll Philosophie, Pädagogik und alle Humanwissenschaften mit einer Theorie der Persönlichkeit grundlagentheoretisch inspirieren – eher ohne großen politischen oder wissenschaftlichen Erfolg. Theoretisch für die Frage nach der Persönlichkeit weitaus folgenreicher und auch kontroverser, deshalb auch aussagekräftig für die internen Differenzen der Marx-Rezeption, waren die französischen Debatten. Lucien Sèves (einstmals) viel beachtete „Theorie der Persönlichkeit“ z. B. zeigt in den unterschiedlichen Stadien ihrer Entwicklung und in der öffentlichen Rezeption und kritischen Diskussion,
60Lucien
Sève: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt a.M. 1973 ist ein prominentes Exempel, übrigens in den Theoriedebatten der DDR hier und da rezipiert (Nachweise in Tenorth: „Die Erziehung gebildeter Kommunisten“ …, ZfPäd 2017); einschlägig in der Orientierung am Begriff der Persönlichkeit auch Karl-Friedrich Wessel: Pädagogik in Philosophie und Praxis. Berlin (DDR) 1975. 61Das findet sich z. B. bei Bogdan Suchodolski: Einführung in die marxistische Erziehungstheorie. (1961) Köln 1972. 62Das ist die Hintergrundtheorie bei Karl Friedrich Wessel, vgl. ders./u. a./Humboldt-Universität zu Berlin, Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik: Humanontogenetische Forschung – der Mensch als biopsychosoziale Einheit. Berlin 1991 sowie meine Diskussion unten in V. 27.
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welche Folgeprobleme die Marxsche These vom Menschen als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ in den Humanwissenschaften und im Marxismus selbst erzeugen kann. Sève muss nämlich seine eigene Theorie nicht nur gegenüber der Psychologie seiner Zeit entfalten und in diesem Kontext der Marxschen These eine Deutung geben, die den empirischen Prozessen der Vergesellschaftung und Individuierung in Gesellschaften wie unseren in ihrem Zusammenhang und in ihrer Gleichzeitigkeit eine akzeptable Erklärung gibt, sondern sich auch gegen zwei prominente Gegner aus dem eigenen französischen marxistischen Lager wehren. Der eine ist Roger Garaudy, vom Kommunismus zum Christentum konvertiert (und noch später zum Islam und scharfer Israel-Kritiker),63 der andere der Soziologe, unkonventionelle Marx-Interpret und Professor an der Ècole Normale Superieur Louis Althusser, ein bedeutender Lehrer der französischen Philosophie und Sozialwissenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.64 Sève kritisiert seine Gegner in intensiver, aber eindeutiger Weise.65 Garaudys Lesart wehrt er einerseits dadurch ab, dass er ihm, gut philologisch, eine falsche Explikation und Übersetzung der 6. Feuerbach-These nachweist,66 andererseits dadurch, dass er die Konsequenzen dieser Lesart in ihren theoretischen Implikationen als nicht mehr materialistisch, sondern „spiritualistisch“ zurückweist. Die Marx-Lektüre von Althusser und dessen Koautoren, die mit ihm gemeinsam das Bild eines epistemischen Bruchs zwischen dem frühen und dem späten Marx entworfen und zugleich das Subjekt als Akteur der Geschichte zugunsten des „Kapitals“ zurückgewiesen haben, diskutiert Sève sowohl werkgeschichtlich und textexegetisch als auch theoretisch. Den Hintergrund ihrer „antihumanistischen“ Lesart von Marx kritisiert er vor allem als werkgeschichtlich falsch67 und versucht nachzuweisen, dass die „anthropologische“ Fragestellung
63Von
Garaudy diskutiert er unterschiedliche Abhandlungen, in der internationalen Diskussion hat Garaudy vor allem mit dem Buch R. G.: Le grand tournant du socialisme/dt.: Die große Wende des Sozialismus, (1969) Aufsehen erregt. 64Sève bezieht sich vor allem auf die folgenden Arbeiten von Althusser: Pour Marx (1965; dt.: Für Marx. Frankfurt a.M. 1968), sowie Lire le Capital. (1965, zusammen mit E. Balibar; dt. Das Kapital lesen. Hamburg 1972). 65In Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972 kann man diese Auseinandersetzung in höchst extensiven, aber so scharfsinnigen wie in ihrer Kritik und polemischen Qualität ebenso unterhaltsamen wie belehrenden Fußnoten nachvollziehen und beobachten. 66Vgl. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, zu Garaudy bes. die Anm. 6, die sich über die Seiten 66–70 hinzieht. Die abgewehrte Übersetzung von Garaudy zitiert er als „das Individuum ist das Ensemble seiner sozialen Relationen“ (zit. S. 68), der S piritualismus-Vorwurf bezieht sich auf Garaudys-These, dass sich ‚der Mensch‘ „nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn bedingen, ‚reduzieren‘ (lasse) …, er sei transzendent in bezug auf ‚die Gesellschaft und seine eigene Geschichte‘ … die ‚spezifisch menschliche Aktivität‘ sei ‚die wertschaffende Tat‘ .., ‚der Mensch‘ aber ‚ein Schöpfer nach dem Ebenbild Gottes‘“ (zit. S. 69). 67Vgl. Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, bes. die Anm. 23, die sich über die Seiten 75–83 hinzieht; daraus die Zitate hier im Text.
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das ganze Werk von Marx durchzieht. Von daher lehnt er konsequenter Weise auch die These ab, dass die Systemlogik des „Kapitals“ allein die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimme, der Mensch aber ignoriert werden könne. Sève bekräftigt dabei seine eigene Interpretation der Feuerbach-These, indem er vor allem betont, dass Struktur und Dynamik der Gesellschaft nicht angemessen verstanden sind, wenn man nicht in der Analyse von Arbeit und im System der Bedürfnisse das Zusammenspiel von objektiven und subjektiven Faktoren und d. h. den Menschen in seiner Wirksamkeit erkenne. In einer aus der Ethnologie bekannten und auch bildungstheoretisch sehr gut übersetzbaren Denkfigur erscheint hier der Mensch als Akteur, der eine kulturelle und gesellschaftliche Praxis dadurch tradiert und stabilisiert, dass er sie selbst und sich in ihr erzeugt und tradiert. Eher nebenher verkündet er abschließend auch noch „Tod und Verwandlung der Anthropologie“. In Auseinandersetzung v. a. mit Sartre, Lévi-Strauss und Foucault versucht er den Marxismus als die wesentliche Grundlagentheorie68 neu ins Recht zu setzen. Das kann hier auf sich beruhen, methodisch ist es aber in einem bildungstheoretischen Kontext durchaus lehrreich, wie er dabei die Quellen einer Theorie der Persönlichkeit bestimmt. Die Philosophie und eine philosophische Argumentation über den Menschen, ‚Anthropologie‘, wenn man so will, sind einerseits, wie bei Marx, Zusammenfassung des bisher in der Forschung Gedachten über den Menschen, sie fungieren, könnte man sagen, als Gedächtnis der Humanwissenschaften und der Reflexion über den Menschen in der Gesellschaft. Philosophie ist andererseits, wie Sève selbst ausführlich in einer Kritik der Psychologie und Sozialpsychologie entfaltet hat, als Repertoire von Kategorien präsent und kritisch zu nutzen, aus denen sich angesichts des Forschungsstandes der beteiligten Wissenschaften neue „Hypothesen für eine wissenschaftliche Theorie der Persönlichkeit“69 entwickeln lassen. Deren Erforschung, Entfaltung wie Prüfung, das fügt er ausdrücklich hinzu, sei aber Aufgabe der Gesamtheit der interdisziplinär an der empirischen Erforschung des Menschen und seiner Geschichte in der Gesellschaft beteiligten Disziplinen. Die historische Anthropologie, die man bei Marx in nuce sehen konnte, wird hier (und nicht nur bei Sève oder in der Rezeption seiner Texte70) also als eine interdisziplinäre, theoretisch orientierte, empirisch forschende und historisch argumentierende Sozialwissenschaft begründet, fern jeder politischen Doktrin, aber auch fern der sich empirisch nicht kontrollierenden, vermeintlich sich selbst genügenden philosophischen
68Vgl.
Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, 1972, S. 397 ff. 1972, S. 301 ff. 70Für die deutschsprachige Diskussion wurde auch die Alltagstheorie von Henri Lefebrve relevant, vgl. die Überlegungen bei Heinz Sünker: Gesellschaftstheorie, Alltagstheorie und Subjektkonstitution. In: Ders.: Bildung, Alltag und Subjektivität. Weinheim 1989, S. 34–56; Ders.: Politik. Bildung und soziale Gerechtigkeit. Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft. Frankfurt a.M. (usw.) 2003 sowie, in der Nutzung für eine empirisch forschende Sozialisationstheorie Ders./D. Timmermann/F.-U. Kolbe (Hrsg.): Bildung, Gesellschaft, Soziale Ungleichheit. Frankfurt a.M. 1994. 69Sève,
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Spekulation. Im Ergebnis liefert deshalb die Betrachtung der ersten, der systematisch interessierten Marxschen Reflexionstradition der Reflexion über Bildung auch eine Offerte, sich methodisch jenseits der Exegese der immer gleichen Klassiker neu und als forschende Denkform interdisziplinär zu verstehen. Die Frage nach der Natur des Menschen, das ist die Botschaft, ist einer Antwort jenseits der positionsspezifischen Metaphysik oder der prinzipientheoretischen Reflexion zugänglich, z. B. im Bündnis von historischer und empirisch-psychologischer Forschung, also als historische Anthropologie. Fragt man, zweitens, nach dem spezifischen Begriff der Bildung, wie er bei Marx genutzt wird, verdanken wir ihm zunächst eine neue triadische Figur. An einer der wenigen Stellen, an denen vom Thema der Bildung explizit die Rede ist, unterscheidet er – allerdings mit dem Begriff der „Erziehung“ – neben der „körperlichen“ und „geistigen“ die „polytechnische Erziehung“,71 die meist doch als „Polytechnische Bildung“ rezipiert (und in der DDR ja auch in spezifischer Form und mit eigener Problematik realisiert) worden ist. Marx führt hier die „Polytechnische Ausbildung“ (sic, ohne Scheu vor dem heute so kritischen Begriff) neben der „Geistigen Erziehung“ und der „Körperlichen Erziehung“ als dritte Dimension der schulischen Arbeit ein, „die die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige.“ Schon die nicht eindeutig-gleichsinnige Überlieferung dieses Textes72 deutet an, dass Marxens Absicht nicht ganz einfach einzulösen oder zu verstehen war, die Spezifik der Bildung für die entwickelte Form des Kapitalismus vorzustellen und in ihrer eigenen Praxis zu klären. Was ist gemeint, wenn man angesichts der langen und kontroversen Debatte über polytechnische Bildung noch einmal so einfach fragen darf? Die Quellen geben zumindest einigen Aufschluss. „Im englischen Urtext der Resolution“, das erfährt man an anderer Stelle,73 sei zuerst nur von „technological training“ die Rede gewesen, was u. a. im ersten Band des Kapitals von Marx selbst als „technologischer Unterricht“ übersetzt worden sei. Hier wird auch die erste deutsche
71So Marx in den „Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats [der Internationalen Arbeiterassoziation] zu den einzelnen Fragen“, die er für eine Sitzung, 1866 in Genf, formulierte, in: Marx/Engels, Über Pädagogik, d. 2, 1976, S. 166–168. 72Oskar Anweiler (Hrsg.): Polytechnische Bildung und technische Elementarerziehung. Bad Heilbrunn 1969, S. 14–15 präsentiert nicht diesen Text, also die von Marx formulierte „Instruktion“, sondern die „Genfer Resolution“ des Generalrates (nach einem deutschen Abdruck in „Der Vorbote“ vom Oktober 1866). Anders als in der Instruktion findet sich dort, S. 15, unter Ziff. 3 statt – wie bei Marx – „Polytechnische Ausbildung“ jetzt „Polytechnische Erziehung“ sowie dann statt „in .. die Handhabung der elementaren Instrumente aller Arbeitszweige“ die etwas kryptische Formulierung: „in die Handhabung der elementaren Instrumente aller Geschäfte“. In seinem Kommentar zur Textwiedergabe verweist Anweiler auf weitere zeitgenössisch, deutsch oder englisch, kursierende Varianten. 73So Anm. 316 zur Einleitung der Herausgeber in Marx/Engels, Über Pädagogik, Bd. 1, 1976, S. 13–132, zit. S. 118/119, auch für die folgenden Zitate.
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Fassung noch einmal anders zitiert, jetzt in der Aufnahme des Begriffs der Technologie, und mit dem Gegensatzpaar von „polytechnische Erziehung“ – als Übersetzung für „polytechnical training“ – und „polytechnische Abrichtung“ – als Übersetzung für „technological training“. Gleichzeitig wird in dieser Fassung die polytechnische Bildung mit dem zweiten wesentlichen Prinzip verbunden, das neben der Technologie für polytechnische Bildung typisch sein sollte, war und ist, nämlich die Verbindung des Unterrichts mit produktiver, und zwar „bezahlter produktiver Arbeit“.74 Marx, wie seine Erben, sehen in der Verbindung von Unterricht mit neuen Inhalten, der Technologie als der umfassenden neuen Wissenschaft für die neuen Produktionsverhältnisse und produktiver Arbeit, die für die moderne Welt notwendige Erweiterung der allgemeinen Bildung. Arbeit, für Marx auch Kinderarbeit, war dafür eine wesentliche didaktische Voraussetzung, aber es muss eine neue Bildung und Erziehung schon geben, damit sich die innere Dynamik der kapitalistischen Produktion ungehemmt entfalten kann. Bildungstheoretische Hoffnungen auf die emanzipatorische Kraft des Lernens, damit deutet sich der dritte hier zu diskutierende Aspekt von Marxens Bildungsreflexion an, wurden von solchen Erweiterungen und Modernisierungen auch genährt, und zwar in zweifacher Weise. Für Marx sind zunächst die durch die Produktionsweise des Kapitals, die zunehmende Arbeitsteilung und die wachsende Bedeutung der modernen Technologie, immanent erzwungene curriculare Erweiterung des schulischen Lernangebots sowie seine Ausdehnung auf möglichst alle Lernenden für den weiteren Prozess der Dynamisierung der Produktion bedeutsam, vielleicht sogar unersetzlich. Die neuen Formen und Inhalte der Bildung und Ausbildung erweisen sich in dieser Perspektive als „Umwälzungsfermente“,75 mit freilich langfristig auch nichtintendierten, aber unvermeidlichen Wirkungen; denn es „unterliegt ebensowenig einem Zweifel, daß die kapitalistische Form der Produktion und die ihr entsprechenden ökonomischen Arbeitsverhältnisse im diametralen Widerspruch stehen mit solchen Umwälzungsfermenten und ihrem Ziel, der Aufhebung der alten Teilung der Arbeit.“ Zu ihrem vollen Recht kommt polytechnische Bildung als neue Allgemeinbildung deshalb auch erst in einer zukünftigen Welt, der kommunistischen Gesellschaft, weil auch erst dann alle an ihr teilhaben. Aber dieser Zustand ist allein über die Ausweitung und Modernisierung allgemeiner Bildung nicht zu erreichen. Das kann allenfalls in pädagogischen Autonomieillusionen fingiert werden, z. B. in bildungstheoretischen Erwartungen,
74Bei
Anweiler heißt das: „Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit, geistiger Bildung, körperlicher Uebung und polytechnischer Abrichtung wird die Arbeiterklasse weit über die höhern und mittlern Klassen heben.“ (zit. S. 15); bei Marx/Engels, Über Pädagogik, Bd. II, S. 168 dagegen: „Die Verbindung von bezahlter produktiver Arbeit, geistiger Erziehung, körperlicher Uebung und polytechnischer Ausbildung wird die Arbeiterklasse weit über das Niveau der Aristokratie und Bourgeoisie erheben.“ (Kursivierte Hervorhebung der Differenzen von mir, H.-E.T.). 75So Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1 (1867) Berlin 1975 (MEW Bd. 23), S. 512, auch für das folgende Zitat.
14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie …
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dass die Höherbildung der Menschheit ein pädagogisches Projekt sei. Für solche Ernüchterung der bildungstheoretischen Autonomie- und Subjektemphase sorgt Marx schon in den Feuerbachthesen, aber auch später: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“76 Marx schaut zwar selbst auf Bildung und Erziehung, wenn er die Ermöglichung radikaler Umwälzung diskutiert, aber „das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.“ Der Modus der hier gemeinten Veränderung ist nicht Erziehung, sondern die radikale Umwälzung der gesellschaftlichen Strukturen, Revolution also. Deren Möglichkeit hängt durchaus von Lernprozessen ab, z. B. von den kollektiven Lernprozessen innerhalb der Arbeiterbewegung,77 von den ermöglichten oder versäumten Lernprozessen der Arbeiter und des Kapitals, mit denen sich die Produktion erneuert und ihre eigenen Krisen erzeugt. Bildungspolitik innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist deshalb neben der Organisation der Arbeiterbewegung für Marx eine durchaus sinnvolle politische Strategie. Die Ausweitung der Beschulung ist für ihn ökonomisch so notwendig wie langfristig politisch folgenreich. Das Lernen in diesen Kontexten von Arbeit und Schule beschreibt er auch in bildungstheoretisch bekannten Begriffen, als „Selbsttätigkeit“ und „freie Selbstentfaltung“.78 Zu ihren eigenen Möglichkeiten kommt eine solche Praxis aber erst in der kommunistischen Gesellschaft, nach der bürgerlich-kapitalistischen Phase, die ihrerseits die Feudalgesellschaft überwunden hatte. Hier kehrt auch die „Freude“ in die Arbeit zurück, die Schiller schon ausgezogen fand. Marx beschreibt, selten genug, den ersehnten neuen Zustand auch in Bildern, in denen sich die bildungstheoretischen Visionen in der Beschreibung alternativer Zukünfte der Versöhnung des Menschen mit sich selbst und der Gesellschaft ausdrücken, erwartbar von Arbeit aus, wenn der alte, entfremdete und der neue Zustand jenseits von Rollenzwängen und fixierten Zuschreibungen konfrontiert werden, wie das der so schöne und viel zitierte Text sagt: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige
76Karl
Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. (1852) In: Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1971, S. 222–316, zit. S. 226. 77Sozialhistoriker haben solche Lernprozesse analysiert, vgl. u. a. Michael Vester: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß. Die Entstehung antikapitalistischer Theorie und Praxis in England 1792–1848. Frankfurt a.M 1970 – und zahllose andere Arbeiten haben dann, für Bildungshistoriker nicht überraschend, zur Ernüchterung über zu große Erwartungen an die Ausbildung des richtigen Klassenbewusstseins durch solche Lernprozesse beigetragen. 78Marx, hier zit. nach Ahrbeck, S. 226.
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14 Versöhnung, Synthese, Selbstbefreiung
ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“79 Bildungsreflexion, die erwünschte Zukünfte in Utopien zeichnet, lebt von der Vision solcher Welten, die Versöhnung eingeschlossen, die eingetreten sein soll. Dann wird auch die Frage, ob Mensch und Bürger in einer neuen Lebensform vielleicht doch harmonisch zusammenkommen können, positiv beantwortet. Marx hat die dafür notwendige Welt, sogar von Rousseaus Problemstellung aus, für durchaus möglich, jedenfalls für denkbar gehalten, wenn er den Zustand beschreibt, in dem „die menschliche Emanzipation vollbracht“80 ist. Das war für ihn bekanntlich der Zustand der „Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.“ Die allein „politische Emanzipation“ reichte ihm dafür nicht aus, er forderte mehr. „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ‚forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“ Erziehung oder Bildung sind nicht die Kräfte, die eine solche Transformation des gesellschaftlichen Lebens ermöglichen, aber die Bildung des Selbst findet ihre Welt. An der Herbeiführung eines solchen Zustandes zu arbeiten, hat sich als Thema und Programm kritischer Bildungsreflexion bis heute erhalten. Das spiegelt sich in den Formulierungen, mit denen z. B. die ‚kritische Erziehungswissenschaft‘ die zentrale „Aufgabe“81 der Pädagogik bestimmt hat. Es gehe darum, „in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen“, weil „Bildung“ das Potential enthält, „im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit“ zu wirken. Man kennt solche Zitate, man kennt das Schicksal solcher Programme, man kann solche Ansprüche an eine „objektiv geltende Vernünftigkeit“ bis heute in der Rede von Bildung hören. Bisher ist es allerdings nicht gelungen, den eigenen Begriff von „Vernünftigkeit“ gegen die Einrede der Beobachter zu sichern oder den dafür notwendigen „Neuen Menschen“ pädagogisch zu erzeugen, auch nicht in den sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts. Die Subjekte erwiesen sich, wohl zur Enttäuschung vieler, als relativ resistent gegen solche Versprechen und die damit einhergehende Indoktrination. Selbst sozialistische Pädagogen mussten schließlich einräumen,
79Karl
Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. (1846/1932), 1971, S. 33. Marx: Zur Judenfrage. I. Bruno Bauer: Die Judenfrage, Braunschweig 1843. In: K.M.: Die Frühschriften, 1971, S. 171–199, zit. S. 199, daraus auch die folgenden Zitate, Herv. bei Marx. 81Mollenhauer, Rationalität der Pädagogik, (1964) in: Klaus Mollenhauer. Erziehung und Emanzipation. München 1968, zit. S. 66, S. 67 für das kommende Zitat, Herv. dort. 80Karl
14.3 Marx – Bildung, historische Anthropologie …
249
dass das Lernen der Subjekte auch relativ resistent ist gegen politisch zudringliche öffentliche Erziehung, wie emphatisch sie sich auch begründet. Die „allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit“ wurde jedenfalls nicht als Normalitätsform durchgesetzt, Individualisierung behielt ihre Macht.82
82Über
die Besonderheiten von Erziehung unter den Bedingungen der Diktatur und ihre für das Bildungsproblem erhellende Wirklichkeit vgl. die Analysen in IV.17.3.
Kapitel 15
Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung und die Probleme ihrer Theoretisierung
Der Durchgang durch die philosophischen oder historischen, ästhetischen oder pädagogischen Traditionen der Reflexion des Bildungsbegriffs hat nicht nur eine Vielfalt von Zugängen zum Thema gezeigt, er hat auch Konflikte und Widersprüche, Kontroversen und Unvereinbarkeiten innerhalb dieser Tradition bewusst gemacht. Diese Eigenarten, die sich durchaus als Schwächen der Rede von Bildung beschreiben lassen, verdanken sich wesentlich der Logik ihres Themas und den dadurch bevorzugt entwickelten Formen der Argumentation: Die Referenz auf den Menschen, das ist die erste problematische Implikation der Rede von Bildung, verführt zu einer als Anthropologie verstandenen Argumentation, die mit vorgefassten Annahmen über dessen Natur operiert und auf der Basis solcher petitio die Bilder der wünschenswerten Gestalt ihres Adressaten konstruiert. Die dabei drohenden Risiken werden manifest in der vermeintlich notwendigen Konstruktion von „Menschenbildern“, die sich in ihrer Vielfalt selbst in ihrer Geltung problematisieren und gegen die drohende Beliebigkeit immer neue Programme und Visionen des guten, gebildeten Menschen in einer neuen Welt setzen. Der programmatisch-konstruierend-normative Duktus der Rede gewinnt seine Stabilität aus der Verbindung von Anthropologie und Zeitdiagnose, wie sie wiederum aus dem Thema der Bildung selbst unvermeidlich ist, denn die impliziert als zentrales Problem der Reflexion die Wechselwirkung von Mensch und Welt. Zeitdiagnose wird wiederum nicht in einem historisch oder empirisch diskutierbaren Sinne praktiziert, sondern schematisierend, in dualen Codierungen der Welt, die von Widersprüchen ausgeht und von der Unversöhnbarkeit von Mensch-/Weltbeziehungen. Die Auflösung solcher Widersprüche beherrscht die konstruktive Dimension, die – bezogen auf Zeit und als Temporalisierung der Konflikte – in triadischen Modellen von Zeiten und Welten zum Entwurf versöhnender und der Bildung entsprechender Welten führt, sei es in der Kunst, in der vollendeten bürgerlichen Gesellschaft oder nach der revolutionären Befreiung von Mensch und Welt.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_15
251
252
15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …
Von einer „Theorie der Bildung“, gar in einem systematisch verstanden Singular, wie gelegentlich attribuiert wird, kann vor diesem historisch präsenten Hintergrund jedenfalls keine Rede sein. Die grundlegenden Methodenfragen sind genauso ungeklärt wie die Bedeutung der theoretischen Referenzen in der Philosophie, in der Kunst oder in einer historisch-anthropologischen, wissenschaftlichen und damit auch der Kritik zugänglichen Form der Argumentation. An dieser Stelle – und wohl überhaupt – kann es allerdings nicht darauf ankommen, diesen Befund allein als Defizit zu codieren und sich an der Konstruktion einer weiteren, neuen, der möglichst einzigen, alle anderen umfassenden oder sie aufhebenden Theorie der Bildung zu versuchen. Was angesichts der Vielfalt aber doch so notwendig wie möglich ist, das ist eine Rückbesinnung auf die beschriebene Situation und die Frage danach, was es für den Status der Reflexion über Bildung in ihrer konkreten Vielfalt sagt, dass sie sich in einem durchaus eigentümlichen historischen Traditionsverbund entfaltet und ja auch im Wesentlichen von diesem, seit dem Ursprung nur geringfügig erweiterten und in dieser Erweiterung meist selbst dem Ursprung noch verpflichteten Traditionsbestand bis heute nährt. Es sind neben den impliziten Risiken ihrer eigenen Argumentationsform zumindest die folgenden drei Probleme, die unter der Frage nach dem Theoriestatus der Bildungstheorie mit diesem Befund einer relativ eindeutigen Menge an Texten und Argumenttraditionen sichtbar werden: i) die Begrenzung auf einen als klassisch eingegrenzten Textbestand, ii) die Konzentration auf primär exegetische oder kulturkritische Methoden in der Diskussion bildungstheoretischer Probleme und damit verbunden die Abschottung gegenüber Erfahrung, sowie iii) die daraus resultierende Schwächung der eigenen Argumentation, die sich nicht einmal der problematischen Implikationen der eigenen Tradition vergewissert. Im Einzelnen bedeutet das:
15.1 Klassizität – ein Programm der Selbstbegrenzung Die Rede von Bildung bewahrt mit der Ambition des Ursprungs zugleich die Last einer national-kulturell definierten Tradition. Sichtbar zuerst in den Quellen und in den Referenzen auf Autoren und ihre Rezeption und Diskussion auch bis in die aktuelle bildungstheoretische Debatte, wie die kontinuierenden Kontroversen belegen, existiert die als Bildungstheorie etikettierte historische Semantik innerhalb der deutschen Diskussion in einem relativ engen, als klassisch definierten Textbestand. Gegenüber dem Ursprung kaum erweitert, weil sich auch spätere Varianten diesem Thema in der Auseinandersetzung mit den immer gleichen Klassikern nähern, sorgt diese Überlieferungsgeschichte auch für den dominierenden, letztlich engen Bestand an Themen und Diskussionsanlässen. Es sind Bilder des Subjekts und des Menschen, meist im Konflikt mit der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, wie sie in der deutschen Philosophie um 1800 erzeugt und debattiert werden, die man hier kontinuierlich findet. Es sind weiter Annahmen über die Mechanismen, Voraussetzungen und Formen
15.2 Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung
253
seiner Selbstkonstruktion, die diesen Bildern die Prozessdimension geben, und es sind Bilder erwünschter Menschen und erhoffter Welten, Bildungsideale und die mit ihnen verbundenen Modi des individuellen und kollektiven Verhaltens, die man von sich selbst und anderen erwartet, aber auch als alternative Welten für notwendig hält, die in diesem Textbestand überliefert und erweiternd tradiert werden. In den Annahmen über „Selbsttätigkeit“, „Selbsterziehung“ oder „Selbstlernen“, basierend auf eine dem Menschen als naturhafte Ausstattung zugeschriebene Kompetenz, die „Bildsamkeit“ oder eine spezifische „Kraft“ (usw.), oder in der als „Wechselwirkung“ von Mensch und Welt beschriebene Praxis, werden Bildungsprozesse biografisch konzipiert, auch selbst noch in überformenden, pädagogisch organisierten Lernprozessen kultiviert. „Pädagogik“, d. h. organisierte, schulförmige Erziehung, ist aber immer nur einer der Mechanismen, die solche Wechselwirkung stimulieren und kultivieren. Bildungsgüter, denen man die Qualität der Welt zuschreibt, an der sich die Wechselwirkung bevorzugt entwickeln kann, z. B. die Sprache, Kultur insgesamt, auch einzelne Praktiken oder Medien, seltener schon „Arbeit“, kaum die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Konflikthaftigkeit insgesamt, bestimmen diesen Prozess. Ein n üchtern-distanzierter, empirisch orientierter Blick, wie der von Marx, ist so selten wie Hegels Annahme, dass Vergesellschaftung und Individuation uno actu im Prozess des Aufwachsens erzeugt und harmonisiert werden.
15.2 Verengung im Methodenrepertoire – Abkoppelung von Erfahrung Ein derart tradierter und kaum variierter Bestand an Texten, Themen und Problemen befördert offenbar eine eigene Methode in der Rede von Bildung, ja er lebt selbst als Bestand an Argumenten von der Dominanz der Exegese im Umgang mit diesen zu kanonischen Texten definierten Tradition. Von hier aus erklärt sich der Vorrang der immer neuen Diskussion von kategorial ansetzenden Mustern der Definition des Themas, denn der ‚richtige‘, ja der ‚wahre‘ Begriff der Bildung soll gefunden werden, wenn nicht übergreifend, wenigstens für den jeweils zur Rede stehenden Autor. Die Diskussion ist deshalb in sich auch autorspezifisch segmentiert, nach Verehrern des einen oder anderen Klassikers stabil und wohl geordnet. Übergreifende Fragen, z. B. worin, wie und warum sich denn Gemeinsamkeiten und Differenzen im Diskurs über Bildung zeigen, ziehen weniger Interesse und Anstrengung auf sich, als autor- oder sektorspezifische Klärungen. Von daher ist es vielleicht auch zu erklären, dass die geschilderten Eigenarten der Denkform, in der die Rede von Bildung auftritt, nur wenig und noch weniger distanziert behandelt werden. Typisch für die Rede von Bildung bleibt es vielmehr, dass die Kritik der Wirklichkeit, Kultur- und Gesellschaftskritik zusammen mit Defizitdiagnosen für das Schicksal des Menschen oder der Individualität als Modus des Umgangs mit Wirklichkeit dominieren. Befunde über die Differenz von Annahmen über die
254
15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …
Wirklichkeit und der als tatsächlich wahrgenommen Realität, in der Regel als Tendenzbehauptung formuliert, aber kaum im Detail und methodisch präzise erforscht oder nachgewiesen, solche Befunde werden zu Defizitzuschreibungen umgedeutet und kritisch gewertet. In der Regel ist es aber nur die Abkoppelung von Erfahrung, die hier dominiert. Nur selten findet sich, selbst bei Marx ja auch nur als Programm, nicht – für die bildungstheoretische Thematik – als wissenschaftliche Praxis, eine empirische, historische oder auch nur im Detail z. B. soziologisch oder psychologisch oder historisch fundierte Analyse der Bildungswirklichkeit oder von Bildungsprozessen. Dagegen wird eine Anthropologie konzipiert, die sich nicht als Hypothese über den Menschen und seine Bildungsprozesse versteht, sondern mit dem Gestus prinzipientheoretischer Gewissheit auftritt, die gegenüber Erfahrung immun ist. Noch die einschlägigen, bis ins 20. Jahrhundert tradierten Kontroversen erweisen sich meist als Kämpfe innerhalb der bekannten und überlieferten Theorie und über Grundannahmen innerhalb der alten Fronten, ohne sie in ihrem empirischen Gehalt noch selbst an der Wirklichkeit geprüft zu haben. Selbst die Erfahrung, die aus literarischen Quellen, aus Biografie, Autobiografie und Bildungsroman, in der Arbeit am Selbst im Lebenslauf, auch unter paradoxen Bedingungen vorliegt, wird innerhalb des pädagogischen Milieus bevorzugt als Bestätigungsliteratur gelesen, so dass erst Literaturwissenschaftler auf eine kulturwissenschaftlich zu erhellende Wirklichkeit „Jenseits von Utopie und Entlarvung“1 meinen aufmerksam machen müssen.
15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes, Primat der Erwartung des Guten Solche Befunde, vor allem die dominierende Theoriekonfrontation statt der Prüfung an der Erfahrung erlauben es daher durchaus, von einer systematischen Belastetheit der Rede von Bildung zu sprechen, und zwar auch in der präzisen Zurechnung zu den unterschiedlichen Dimensionen, in denen sie ihre Annahmen über Bildung als Prozess und Produkt menschlicher Praxis formuliert: Annahmen über die Mechanismen dieses Prozesses, Wirkungsannahmen über das Ergebnis, generell oder in der Zuschreibung für unterschiedliche, als besonders wirksam a usgewiesene
1Eva
Geulen/Nicolas Pethes (Hrsg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg/Berlin/Wien 2007 – und die Herausgeber beginnen ihre Einleitung mit der durchaus disziplinpolitisch grundierten These: „Theorie und Praxis der Erziehung haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht eben an Renommee gewonnen.“. Sie wollen der dominierenden Bildungsreflexion deshalb auch zeigen, warum „die fachpädagogische und erziehungstheoretische Debatte aus kultur- und geisteswissenschaftlicher Perspektive zu ergänzen ist.“ (S. 7) Den Ertrag dieser Bemühungen muss ich hier jenseits des Lobs für den pointierten Titel nicht diskutieren, aber gelegentlich hätte einigen Autoren die Lektüre von Texten aus dem kritisierten Milieu doch gut getan, um die eigenen Thesen zu prüfen oder besser abzusichern.
15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes …
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Bildungsgüter oder Prozessformen, haben bestenfalls hypothetischen Status. Aber das wird in der dominierenden Rede von Bildung nicht als Problem sichtbar, weil der hier herrschende Duktus der einer Normativierung und Moralisierung der Argumentation selbst ist, nicht nur im Blick auf den Menschen und das von ihm erwünschte Verhalten. Das erwünschte gute Leben dominiert als Bild der gesellschaftlich erwünschten Wirklichkeit, daneben lebt auch die hohe Kultur weiter, die ausgezeichneten Bildungsgüter, die richtige und wahre Bildung, jetzt oder künftig zu erreichen. Nicht zufällig bleibt die Konstruktion von Bildungsidealen die Alltagserwartung, mit der sich Bildungsreflexion bis heute konfrontiert sieht. Ausweislich ihrer eigenen Praxis muss man aber sagen, dass die Rede von Bildung meist zu spät oder nur im Ton der Klage bemerkt, dass die unterstellte alte Welt nicht mehr existiert, dass Bildungsideale schon um 1800 ihre Probleme hatten, und dass nicht zufällig die Diagnosen im Vergleich von Schiller oder Marx nicht mehr zu vereinheitlichen waren. Angesichts der Pluralität von Welten, Normen und Verhaltensstandards ist die gesuchte Eindeutigkeit der Orientierung nicht mehr oder nur um den Preis metaphysischer Konstruktionen zu erreichen, die in den tradierten Bildern von Mensch und Welt oder des Gebildeten als Ideal dennoch fortlebt und das Bildungsdenken bestimmt. Solche immanente, aber nicht eingestandene Problematik wohnt auch dem zentralen Mechanismus inne, auf den sich Rede von Bildung seit ihrem Ursprung verlässt, der Selbstkonstruktion des Menschen und dem Selbstlernen als Kern, aus dem die Logik des Bildungsprozesses erklärt wird. Das ist ein Mechanismus, den man schwerlich bestreiten kann, aber zugleich ein Mechanismus, der anarchischer, auch in den Konsequenzen pluraler, vielleicht sogar unerwünscht-gefährlicher ist, als es sich selbst die im Anspruch „kritischen“ Theorien der Bildung eingestehen. An so gut wie keiner Stelle gibt es systematisch ernsthaft die Frage, ob sich nicht auch die „Bildung zum Bösen“2 oder die Konstruktion des Schurken genauso einem Prozess der Selbstkonstruktion und den gleichen Mechanismen verdankt wie die des guten Bürgers oder des vollendet moralisierten Menschen? „A better educated criminal class“ war das erste Ergebnis der Alphabetisierung in Canada, belehren uns die Bildungshistoriker; vor den Bauernfängern zu bewahren, die mit den Mitteln der modernen Welt das arme Landvolk zu betrügen suchten, war das erste Ziel allgemeiner Bildung in Preußen; Kant kannte zumindest das krumme Holz, wenn er an die historischen Individuen dachte. Gibt es das als Thema der Bildungsreflexion auch oder entzieht sie sich auch hier der Realitätsvergewisserung? Reicht es aus, dass sie „Fehlformen“ oder „Irrtümer“ von Bildung und Erziehung klassifizierend zu unterscheiden vorschlägt, aber nach deren Genese nicht fragt oder sie allenfalls in der Natur von Mensch und Welt sucht? Kann man, mit anderen Worten, die Implikation aufrecht erhalten, dass Selbstkonstruktion immer die Konstruktion zum Guten ist, oder muss man, auf der Ebene der Mechanismen des Prozesses, vielleicht doch mit der ärgerlichen Tatsache leben,
2Nicole Welter geht aber unter dieser These der Frage in einer Analyse autobiografischer Dokumente von NS-Aktivisten nach.
256
15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …
dass der Mechanismus sich durch moralische Indifferenz auszeichnet, dass aber auch Theoretizität und Normativität mit der Rede von Bildung nicht zwingend verbunden sind so wenig wie starke Wirkungsannahmen, harmoniezentrierte Prozesse und ‚gute‘ Ergebnisse? Kann, horribile dictu, nicht sogar „Unbildung“ als Bildung decodiert werden? Die Fallstricke der Normativierung werden in historischer Perspektive auch noch an anderer Stelle sichtbar: Nicht selten ist es nämlich nur die Differenz zu dem für unbestreitbar gehaltenen Weltbild der Pädagogen oder Philosophen, auf die man als fundierendes Argument in den kritischen Diagnosen trifft, auf die Vorliebe für Verhaltensstandards, die für allgemein gültig gehalten oder ausgegeben werden, die sich aber nur subkultureller oder professioneller Idiosynkrasie verdanken. Für plurale Welten sind diese Bildungsreflexionen so wenig gerüstet wie für die eigene Realitätsprüfung, und zwar nach den Prämissen ihrer Denkform, nicht etwa wegen der je subjektiven Nachlässigkeit ihrer Protagonisten. Die systematische Schwierigkeit der Rede von Bildung besteht offenbar in der Paradoxie, dass sie in der Konstruktion und Reflexion der Wechselwirkung von Mensch und Welt zwar ihr eindeutiges Thema hat, dass sie aber angesichts der Offenheit der gesellschaftlichen Situation neue Schließung oder eindeutig definierte Zukünfte nicht vorgeben, sondern nur je individuell als Angebot entwerfen kann. Als Zukunftsentwurf notwendig, bedarf die Bildungsreflexion als Theorie wie in der alltäglichen Rede deshalb der kritischen Beobachtung aus der Distanz, also der Bildungsforschung in einem umfassenden Sinne. Die Rede von Bildung sucht diesen Kontakt nicht intensiv, er könnte sie aber davor bewahren, den ihr eigenen Verführungen zur Ideologie zu erliegen, und ihr ermöglichen, sich an der Differenz von wünschbaren und realisierbaren Welten trotz der ihr eigenen Emphase selbst noch zu kontrollieren und auch die Selbsterschwerungen nicht unkritisch-emphatisch zu ignorieren, die sie sich mit ihren Argumentformen einträgt. Die kantische Losung – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“3 – muss sich deshalb auch in der kritischen Selbstreflexion der Rede von Bildung und ihrer Deformation bewähren, bildungstheoretisch also, vor dem Anspruch von Selbstbildung und Selbstdenken. Dabei wird man zugleich der Erfahrung konfrontiert, dass die leitende Annahme – Bildung befähige den Menschen so, dass er die Veränderung zum Besseren geradezu sicher erwartbar einleiten wird, – sich historisch nicht bestätigen lässt. Der Zusammenhang von Befähigung der Subjekte und der Verbesserung der Welt ist in der Moderne irreversibel zerstört.4 Die überlieferte
3Immanuel
Kant: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 1784, Dezember-Heft, S. 481–494. 4Das wird auch nicht erst mit Foucaults Diskussion von Kants Begriff der Aufklärung bewusst (vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung? in: Eva Erdmann u. a. (Hrsg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M. u. a. 1990. S. 35–54) und in dem dort entfalteten „Paradox von Freiheit und Fähigkeit“, sondern ist bereits in Kants Unterscheidung von Gattung und Individuen präsent und in den damit verbundenen Annahmen über die „Höherbildung“, die ja auf die Menschheit, nicht unbedingt auf den Menschen und seine Fähigkeiten zielen.
15.3 Problematische Implikationen des tradierten Erbes …
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Prämisse ist entweder gar nicht mehr erwartbar oder erkennbar anders zu konzeptualisieren, so, dass sie auch die Distanz gegenüber der (revolutionären) Veränderung mit in ihr Erklärungsproblem einbeziehen muss. Zusammenfassend, retrospektiv und distanziert gegenüber den bis heute dominierenden Formen der Rede von Bildung, muss man deshalb auch wohl fragen: Erschöpft sich der systematische Sinn der reflexiven Arbeit am Bildungsbegriff in den beliebten Formen der Moralisierung, in Konfrontationsstrategien und Versöhnungsrhetorik? Ist die Situation nicht zugleich auch so, dass die Rede von Bildung vor diesem Hintergrund vor allem auch als ‚politische‘ Rede qualifizierbar ist,5 einem Schema von F reund-vs-Feind-Zuschreibungen unterworfen, und zwar in mehrfacher Referenz: Theoriepolitisch zuerst, als Konflikt der Theoretiker z. B. in der jeweiligen anthropologischen oder metaphysischen oder programmatischen Positionierung, politisch aber, zweitens, auch in der Politisierung des Bildungsthemas selbst, im Anspruch auf autonome Gestaltung der Wirklichkeit durch Bildung, ungestört von der Logik anderer Praktiken, ökonomischer z. B. oder machtpolitischer Praxis. Politisch ist sie, drittens, auch in den Konsequenzen, in der lagerspezifischen Zuordnung von Argumenten, in der binären Codierung von Freund und Feind, von Revolutionären oder Reaktionären, Reformern oder Konservativen. In der Rede von Bildung findet man sich nicht in kommunikativ offenen Gemeinschaften, sondern in diskursiv verfestigten Dissenszonen. Dieser Dissens bestätigt sich auch darin, dass der Status der Rede nicht konsensual diskutiert werden kann, schon gar nicht in der Differenz von Ideologie und Utopie, weil dafür das Kriterium der Realisierbarkeit der eigenen Konstrukte und der Prüfbarkeit der eigenen Annahmen über wünschenswerte Zukünfte nicht allseitig akzeptiert wird. Das Plädoyer für die „Höherbildung der Menschheit“ als Arbeit am „zukünftig besseren Zustand der Gesellschaft“ scheint mit der Tradition seit Kant meist schon hinreichend begründet: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: Der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“6 Bildungsprogramme, zumal kritischer Provenienz, bekräftigen in der Regel diesen utopischen Grundzug in mehr oder minder großer Radikalität. Sie beanspruchen die Konstruktion einer Gesellschaft ohne Herrschaft, Ungleichheit und Übervorteilung, allein durch Bildung zu erreichen oder im Bündnis von Bildung, Erziehung und Politik. Sie stellen diese Welt als erreichbar dar, wenn nur die Macht der Bildung zur Geltung kommt und sich Bildung nicht Macht und Herrschaft unterwerfen muss. Die alltäglich dominierende Praxis der Bildung wird
5Norbert Ricken qualifiziert den Bildungsbegriff als „Streitbegriff“, aber das wäre mir noch zu sanft für die Konstruktion unversöhnlicher Fronten, die mit dem Begriff einhergehen, vgl. N. R:. Das Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Streit um Bildung. In: C. Palentien u. a. (Hrsg.): Perspektiven der Bildung … 2007, u. a. S. 17. 6Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 10, S. 704 (A 17).
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15 Fazit: Reflexionstraditionen von Bildung …
deshalb vor diesem Hintergrund meist auch abgewertet und als „Halbbildung“ oder „Unbildung“7 oder als „Erziehung“ und damit als „Überwältigung des Menschen“ kritisiert. Skepsis gegen die Realisierbarkeit von alternativen Welten oder Zweifel wegen ihrer unerwünschten Nebenwirkungen gelten als Rückfall hinter den normativen Anspruch der Moderne, widerstreitende Erfahrungen als nicht relevant. Solche Codierungen der Wirklichkeit, auch die Abwertung der je historischen Bildungswelt sind nicht erst ein Kennzeichnen unserer Gegenwart. Alternative, gegenüber dem Gegebenen kritische Vorstellungen über das, was das Aufwachsen und Handeln in der Welt bedeuten kann und soll, stehen bereits am Beginn des Bildungsdiskurses, ja sie sind ein zentrales Motiv, von dem aus sich eine bildungstheoretisch eigenständige Reflexion überhaupt ausbildet. Diese Form der Argumentation gehört untrennbar in die öffentliche wie in die als philosophisch oder pädagogisch geltende Rede über Bildung und über die Formen und Wirkungen des Aufwachsens der jungen Generation, auch nicht allein in Deutschland, sondern international. Auch Ideologieanfälligkeit ist kein deutsches Privileg der Rede über Bildung. Kann man diese positionellen Fixierungen und abgrenzenden Konstruktionen aber wirklich schon als hinreichende Arbeit an einer „Theorie der Bildung“ interpretieren? Wohl kaum, und deshalb ist auch die Prüfung solcher Urteile und Zuschreibungen nicht nur notwendig, sondern zum Glück auch möglich. Das soll im folgenden Kapitel daher auch in einem ersten Schritt geschehen, im Blick auf das hier als wesentlich behauptete Defizit der Rede von Bildung, dass sie sich zugunsten einer Kritik der Welt der Vergewisserung an der Realität von Bildungsprozessen verweigert. Ist Bildung möglich, das ist für eine solche Realitätsprüfung die zentrale Frage. Wie vollziehen sich Bildungsprozesse unter historisch konkreten Bedingungen? Können sie vielleicht sogar gelingen oder sind sie dort unmöglich, wie kritische Bildungsreflexion, spätestens seit Schiller, immer neu behauptet?
7„Verbilden“
und die Qualifizierung als „Mißbildung“ wird schon früh konstatiert, wenn die richtige Bildung, die von Kopf, Herz und Geschmack, also „intellectuelle“, „moralische“ und „ästhetische Cultur“ in ihrer Einheit versäumt und Kompetenzen nur als „einseitige Bildung“ ausgeprägt werden, „für einen besondern Stand und Lebenslauf“ (so in: Hergang, Realencyklopädie, Bd. 2, 1847, S. 871–872, s. v. „verbilden“) – zugleich gegen „die paradoxe Behauptung Rousseau’s und anderer Sonderlinge“ (872), die ein Opposition von Bildung und Natur unterstellen. Aber das sei „Unbildung oder Uncultur“. Die aktuelle Polemik gegen Unbildung, z. B. Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014, ist also nicht einmal in der Begriffswahl originell.
Teil III
Bildung in der Erziehungsgesellschaft
Das herrschende Denken über Bildung, zumal in der Philosophie und in der pädagogisch dominierten kritischen Bildungstheorie, hat, wie die Rekonstruktion seiner historischen Praxis gezeigt hat, offenkundig Schwierigkeiten, sich der Realität von Bildung zu vergewissern und die Wirklichkeit des Aufwachsens und Handelns in modernen Gesellschaften im Lichte des Bildungsbegriffs zu sehen, in seinem Wandel zu verstehen und zu interpretieren. Die Befunde der historischen oder empirischen Bildungsforschung werden zwar gesehen, in ihrer Perspektive aber als dem Thema nicht angemessen oder ‚positivistisch‘ zurückgewiesen. Stattdessen regiert, nicht erst jüngst, sondern relativ konstant, in der Rede von Bildung die Konstruktion idealer Menschen und schöner Welten, in der anthropologischen Argumentation eine normative Retraditionalisierung und in der Beobachtung der Bildungsrealität die Erzeugung disjunkter Klassen von Welten oder die Flucht in Reviere des schönen Scheins und der Versöhnung in utopischen Szenarien. Wie Bildung in Gesellschaft möglich ist, gerät dabei aus dem Blick, und ob den kritisierten Bildungswelten, zumal dem Bildungssystem, nicht doch Legitimität zukommen kann, wird angesichts der Prävalenz von Kritik kaum noch ernsthaft geprüft. Eine besondere Zuspitzung erfährt die binäre Konstruktion von Bildungswelten auch begrifflich, indem in der kritischen Bildungsphilosophie, exemplarisch in den Texten Heinz-Joachim Heydorns, „Bildung“ hier und „Erziehung“ dort einander scharf, wie ausschließende Dimensionen von individueller und kollektiver Praxis gegenübergestellt werden1 – kategorial zugespitzt und ganz ohne jede ironische
1Heydorns
These lautet pointiert: „Erziehung ist das uralte Geschäft des Menschen, Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft für ihn bestimmt hat, fensterloser Gang. … Mit der Erziehung geht der Mensch seinen Weg durch das Zuchthaus der Geschichte. … Einfügung, Unterwerfung, Herrschaft des Menschen über den Menschen eingeschlossen, bewußtloses Erleiden.“ Dagegen steht: „Mit dem Begriff der Bildung wir die Antithese zum Erziehungsprozeß entworfen … mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber … Bildung ist eine neue geistige Geburt, kein naturalistischer Akt“ (etc.) in: Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt a. M. 1970, S. 9/10. Zur Diskussion, s. o. Kap. 10 (5).
260
Teil III Bildung in der Erziehungsgesellschaft
Distanz.2 Das ist auch kein deutsches Problem allein, wie man angesichts der Dominanz des Bildungsbegriffs als Fundament der Kritik vielleicht vermuten könnte. Vergleichbar kritische Diagnosen liefert auch der internationalen Kontext, wenn die zunehmende „Pädagogisierung“3 von Staat und Gesellschaft in der Moderne beklagt wird und ein vermeintlich gefährlich-folgenreicher Prozess der „Educationalization“ wenn nicht schon als Realität, so doch als Trend der gesellschaftlichen Entwicklung behauptet wird, meist verbunden mit Diagnosen über die „Ökonomisierung“ der Erziehung.4 Auch von „Erziehungsgesellschaften“ wird schon seit langem kritisch gesprochen,5 und damit werden nicht allein die Erziehungsdiktaturen faschistischer, staatssozialistischer oder anderer autoritärer Systeme bezeichnet, sondern auch Erziehungsverhältnisse in demokratischen Staaten, selbst für die USA.6 Schon die Tatsache, dass Erziehung z. B. in Texten von Planungsgremien wie der OECD als allzuständige Ressource für die Lösung gesellschaftlicher Probleme betrachtet wird, bestärkt aktuell Diagnosen, die den Verlust der spezifischen Autonomie beklagen, der mit der Moderne für das ausdifferenzierte System der öffentlichen Erziehung im Ursprung verbunden und die zentrale normative Implikation von „Bildung“ im klassischen Sinne war.7 Die Gegenbilder wünschbarer Welten, die dann gezeichnet werden, tragen in ihren Konstruktionselementen freilich wieder alle Züge alternativer Wirklichkeiten, die aus der Tradition der Bildungsreflexion nur zu bekannt, aber aus der Geschichte nicht als realistische Bilder beglaubigt sind.
2Die
findet man auch: „Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ist ein Angebot“ setzen Dieter Lenzen und Niklas Luhmann auf die Rückseite des covers ihres Sammelbandes „Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem“ (Frankfurt a. M. 1997), und auch sie beschäftigen sich mit „Lebenslauf und Humanontogenese“. 3Kritische Diagnosen der Professionalisierung der Erziehung und der Pädagogisierung gesellschaftlicher Probleme finden sich seit dem frühen 20. Jahrhundert, den Neueinsatz in der deutschen Diskussion markiert u. a. Guido Pollak: Modernisierung und Pädagogisierung individueller Lebensführung: Teilergebnisse des DFG-Projekts Industrialisierung und Lebensführung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 87 (1991), S. 621–636, international jetzt u. a. Paul Smeyers/Marc Depaepe: Educational Research: The educationalization of social problems. Dordrecht (2009) oder David F. Labaree: When is school an answer to what social problems? Lessons from the early American republic. In: D.Tröhler/R. Barbu (Hrsg.): Educational systems in historical, cultural and sociological perspectives. Rotterdam 2011, S. 77–90. 4Für den problematischen Status dieser These die Debatte über „Die Validität der Kritik einer zunehmenden Ökonomisierung der Pädagogik“ in H. 2/2016 von Bildungsgeschichte. International Journal for the Historiography of Education. 5Jan Peter Kob: Die Rollenproblematik des Lehrerberufs. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. SH 4, 1960, S. 91–107, zit. S. 91; als begriffliche Attribuierung für die DDR u. a. Horst Siebert: Erwachsenenbildung in der Erziehungsgesellschaft der DDR. Düsseldorf 1970. 6Zur Tradition solcher Zuschreibungen Heinz-Elmar Tenorth: „Erziehungsstaaten“. Pädagogik des Staates und Etatismus der Erziehung. In: Benner/Schriewer/Tenorth, Hrsg., Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Geschichte und nationaler Gestalten. Weinheim 1998, S. 13–53, für die entsprechende Attribuierung der USA als „Educational State“ die Hinweise S. 25, 30. 7Richard
Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim/Basel 2018.
Teil III Bildung in der Erziehungsgesellschaft
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Diese Argumentationsform, das muss man doch in Erinnerung bringen, ist schon historisch nicht zwingend mit dem Thema der Bildung verbunden. Bei Marx deutete sich eine Alternative an, wenn er kritisch gegen den dominant philosophischen Blick auf die Menschwerdung des Menschen die Perspektive einer historischen Anthropologie entwickelte, die der Selbstkonstruktion des Subjekts empirisch nachgehen sollte. Auch Adornos Zugeständnis, dass seine Trendbefunde über die Allgegenwart von Halbbildung auch anders als kritisch interpretiert werden könnten, stützen die Vermutung, dass über Bildung nicht nur kontrafaktisch, im Modus von Kritik und Normativierung gesprochen werden könnte. Die empirischen Humanwissenschaften thematisieren ja schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Beziehungen von Mensch und Welt und die Formen der Konstruktion des Subjekts durchaus in empirischer Beobachtung, bezeichnenderweise ohne dabei den Bildungsbegriff als Leitbegriff zu nutzen. Aber selbst innerhalb der Erziehungswissenschaft wird inzwischen bei der Beobachtung von Bildungsprozessen auch empirisch argumentiert, dann vor allem biografiebezogen, freilich wieder mit einem Bildungsbegriff, der sich selbst normativ belastet. Die folgenden Analysen gehen vor diesem Hintergrund zwei Fragen nach, der ersten, in Teil III. und gestützt auf historische und empirische Bildungsforschung, wie sich die Realität von Bildungsprozessen darstellt, wenn man nicht vorab schon weiß, dass z. B. öffentlichen Schulen nicht als legitime Bildungswelten verstanden werden können oder Lebensläufe nur als Prozesse der Deformation von Subjekten, und der zweiten, in Teil IV. und jetzt nicht, wie bisher, in distanzierter Beobachtung, sondern in einer begründungsorientierten Argumentation, ob es für die gesellschaftliche Organisation von Bildungsprozessen, auch für die Organisation der öffentlichen Pflichtschule, gegen die dominierende Kritik nicht auch Kriterien geben kann, die der ethischen Rechtfertigung zugänglich sind und zugleich den normativen Anspruch und die systematischen Referenzen der Tradition der Bildungsreflexion aufnehmen können. Eine knappe Diskussion der theoretischen und methodischen Optionen solcher Realitätsvergewisserung steht am Beginn, bevor – an Exempeln – der Lebenslauf als Bildungsgang beschrieben werden soll, vorzüglich für solche Etappen des Lebenslaufs, die in der Regel eher nicht als Bildungsprozesse beschrieben oder beurteilt werden. Die Rede von Bildung, das ist das systematische Argument in den beiden folgenden Kapiteln, verdient deshalb auch nicht allein Kritik, sie bewahrt, freilich empirisch eher latent und normativ nur selten expliziert, auch Möglichkeiten der Beobachtung und Rechtfertigung von Bildung, die sie zu Recht öffentlich relevant macht.
Kapitel 16
Die Empirie von Bildungsprozessen
Die Empirie von Bildungsprozessen ist Thema in ganz unterschiedlichen Disziplinen, mit ganz unterschiedlichen theoretischen und begrifflichen Traditionen, auch mit differenten methodischen Optionen und Praktiken. Im Grunde existiert eine sehr unübersichtliche Lage, wenn man nach Bildung als Thema empirischer Forschung sucht. Es gibt zwar den vermeintlich unmittelbar einschlägigen Titel der „empirischen Bildungsforschung“, aber zu deren Eigenarten zählt es, dass sie den Bildungsbegriff selbst so gut wie gar nicht nutzt,1 ihn eher explizit abwehrt, und ihre theoretischen Modelle und methodischen Vorbilder zuerst in der Pädagogischen Psychologie und dann auch in der Soziologie sucht und meist über schulische Lernprozesse redet. Deren Realität wird, bezogen auf das Bildungssystem, in den dominierenden Angebots-NutzungsModellen primär outcome-orientiert gemessen und als Leistung aber zuerst den in sich ausdifferenzierten Strukturen des Bildungssystems und den pädagogischdidaktischen Praktiken der pädagogischen Profession zugerechnet, für die Lernenden allenfalls nach Merkmalen sozialer Disparität dekomponiert. Zugleich wird in der theoretischen Diskussion des Modells ausdrücklich eingeräumt, dass in der damit gewählten Perspektive für die Erklärung der dem Bildungssystem zugerechneten und als Testleistungen der Lernenden gemessenen Ergebnisse zum einen die Tatsache der Ko-Konstruktion systematisch nicht berücksichtigt wird, in der in der Praxis von Lehrenden und Lernenden die Kompetenzen erworben und die gemessenen Leistungen überhaupt erst erbracht werden, und dass zum anderen auch die grundlegende Frage ausgeblendet wird, worin denn die „Natur
1Zu dieser Grundlagenkontroverse und Problemlage vgl. die Beiträge in Jürgen Baumert/KlausJürgen Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Wiesbaden 2016 (Sonderheft 19 Zeitschrift für Erziehungswissenschaft).
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_16
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v erständnisvollen Lernens“ eigentlich besteht.2 Das Modell steht also in striktem Gegensatz zu der Grundprämisse aller Bildungsreflexion, dass Prozesse der Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt ihr Thema ausmachen. Andererseits gibt es in der Erziehungswissenschaft zwar reiche Traditionen, die in ihren Arbeiten nicht den Begriff der „Erziehung“, sondern den der „Bildung“ als „Grundbegriff“ zugrunde legen, allein oder in Verbindung mit „Erziehung“, aber dabei Begriffe verwenden, die selbst wiederum höchst unterschiedlich definiert und als Modelle für empirische Forschung weder ausgelegt noch wegen ihres normativen Überhangs geeignet sind. Relativ klare Bestimmungen des Begriffs der Erziehung dagegen, wie sie in distinkter Abgrenzung zum Begriff der Bildung ausgearbeitet wurden, z. B. von Wolfgang Brezinka und dann handlungstheoretisch3 oder, schon früher, von Siegfried Bernfeld, der Erziehung kurz und knapp als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“4 bestimmte, haben keine allgemeine Anerkennung gefunden. Der Erziehungsbegriff ist bis heute so kontrovers wie systematisch relativ wenig diskutiert geblieben.5 Dafür mag auch verantwortlich sein, dass Bernfeld wie Brezinka das Normproblem als gesellschaftliche Tatsache behandelt haben und ihr Thema beobachtend und nicht kritisierend analysieren, die Abwehr ihrer Begriffsoptionen bleibt dennoch erstaunlich. Die forschende Erziehungswissenschaft wählt einen Grundbegriff, Bildung, der ihr die Beobachtung der Realität versperrt, und ignoriert einen Begriff, Erziehung, der zwar der ganzen Disziplin den Namen gibt, aber ihre Forschungsprozesse weder systematisch organisiert noch den Anschluss an die anderen Humanwissenschaften stiftet.
2Ich
folge in meiner Kritik einem Überblick zur Forschungslage, den Jürgen Baumert auf einem Fachgespräch der KMK am 10.02.2016 gegeben hat, vgl. J.B.: Was wissen wir über Unterricht und welche Fragen können wir nicht beantworten? Dort räumt er für das Angebots-NutzungsModell „Zwei Kontingenzen“ ein, und zwar als selbst gewählte Begrenzungen, die mit dem Modell systematisch verbunden sind, d. h. Themen, die es nicht thematisieren kann: „Die idiosynkratische Natur verständnisvollen Lernens“ sowie „Das „Angebot“ als Ko-Konstruktion von Lehrendem und Lernern.“ 3Seine Bestimmung lautet: „Unter Erziehung werden Soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.“ Oder kürzer: „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.“ (Wolfgang Brezinka: Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. München/Basel 1974, S. 95, dort kursiv). 4Siegried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Wien 1925, S. 49 (oder: Frankfurt a. M. 1967, S. 51). 5Für eine systematische Diskussion ist hier nicht der Ort, aber es gibt sie, u. a. bei Michael Winkler: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart 2006, schon weil er die Frage nach der Eigenstruktur der Erziehung theoretisch ernstnimmt. Vom Begriff des Paternalismus aus und im Blick auf die internationale erziehungsphilosophische Diskussion findet sich dazu ein systematisch höchst ernstzunehmender Versuch bei Johannes Drerup: Paternalismus, Perfektionismus und die Grenzen der Freiheit. Paderborn (usw.) 2013.
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Für die im Folgenden versuchte Analyse der Realität von Bildungsprozessen ist es aber schon angesichts der Diffusität des Bildungsbegriffs sinnvoll, nicht nur den Begriff der Erziehung und den der Bildung zu unterscheiden, sondern auch die eigene Begriffswahl eindeutig offenzulegen. Für den Begriff der Erziehung beziehe ich mich nicht auf die handlungstheoretisch und akteurbezogen so klare Definition Brezinkas, sondern folge Bernfelds Vorschlag. Das geschieht vor allem deswegen, weil er nahelegt, Erziehung in der Einheit von pädagogisch interessierten Akteuren und systemisch präsenten Strukturen zu verstehen, und weil er zugleich neben der Gesellschaft oder den Akteuren als zielsetzender Referenz auch die Natur und Entwicklung des Adressaten berücksichtigt. Sein Begriff wird damit nicht nur an die soziologische oder psychologische, sondern auch an die weitere humanwissenschaftliche Forschung und an die internationale Debatte über Erziehung anschlussfähig.6 Gleichzeitig bleibt im Blick auf die „Reaktionen der Gesellschaft“ die Differenz zur grundlegenden Bestimmung von Bildung als Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt erhalten, ohne vorab eine Praxis normativ oder im Blick auf ihre Möglichkeiten in der Menschwerdung des Menschen auszuzeichnen. Eröffnet wird deshalb auch der Anschluss an erziehungswissenschaftliche Theorien, die als theoretisches Problem ihrer Forschungen über Erziehung nach einer distinkten Relationierung von Erziehungspraktiken und -systemen mit Bildungsprozessen suchen, dann allerdings nicht die Gesamtheit der „Reaktionen auf die Entwicklungstatsache“ in den Blick nehmen, sondern nur die sehr spezifische Frage nach der „Ermöglichung von Bildung“ durch Erziehung7 und auch die von Erziehungspraktiken unabhängigen Prozesse der Selbstkonstruktion der Subjekte ausgrenzen. Trotz der differenten begrifflichen Optionen, das ist die weitere Annahme, haben diese Forschungen ein vergleichbares Thema und eine relationierbare empirische Referenz: Es geht, noch ohne strikte theoretische Modellierung des Phänomens, um die historisch varianten Prämissen, Normen und Formen und um die individuell wie kollektiv zu beobachtenden Folgen des Aufwachsens und Verhaltens und Handelns in Gesellschaft, in welchen Welten auch immer. Das eröffnet die Anschlussfähigkeit an die weitere sozial- und humanwissenschaftliche Forschung und eine Relationierung mit deren Forschungen über die Menschwerdung des Menschen.
6In der Kontinuität zu Bernfelds Vorschlag steht auch, sozialwissenschaftlich aktualisiert, die leider viel zu wenig gewürdigte Arbeit von Klaus Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozeß. München 1972. Er bestimmt zwar auch „Erziehung als kommunikatives Handeln“, baut aber im Begriff des „pädagogischen Feldes“ und im Blick auf die „Lebenswelt“ auch soziologische Kategorien in seine Theorie ein und betont gegen eine – damals – noch präsente Gleichsetzung von Politik und Pädagogik ausdrücklich, und mit Bernfeld, die Generationsdifferenz als „Konstante“ der Form und als „‚Naturrest‘“ aller Erziehung (zit. S. 14). 7Elmar Anhalt/Thomas Rucker/Gaudenz Welti: Erziehung als Ermöglichung von Bildung. Über die originäre Problemstellung der Erziehungswissenschaft im Kontext der Bildungsforschung. In: Erziehungswissenschaft H. 56, 29 (2018), S. 19–25.
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Mit dieser begrifflichen Option gewinnt die im Folgenden zentrale Frage ihren Referenzraum, ob und wie sich in diesen Prozessen des Aufwachsens und der gesellschaftlichen Organisation von Erziehung unter Bedingungen extensiver Pädagogisierung auch noch und vielleicht sogar systematisch Prozesse der Selbstkonstruktion des Subjekts identifizieren lassen. Mit dieser begrifflichen Orientierung lassen sich schließlich auch, das ist die Erwartung, die Selbstblockaden überwinden, die sich mit den kritischen Bildern von Bildungswelten verbinden, und zwar so stark, dass die Beobachter ‚wahre Bildung‘ im Prozess des Aufwachsens gar nicht mehr erkennen können. Das ist aber eine Botschaft, wie jetzt zuerst gezeigt werden soll, die sich die Kritiker selbst erzeugen, weil sie sich gegenüber den empirisch forschenden Humanwissenschaften nur abwehrend verhalten, aber die Anschlussmöglichkeiten für ihr eigenes Thema nicht mehr sehen können.
16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen zwischen Bildungsreflexion und Humanwissenschaften Die humanwissenschaftliche Forschung hat selbstverständlich seit ihrer Verselbständigung gegenüber der Philosophie, die theoretisch wie methodisch im 18. Jahrhundert eigene Dynamik gewinnt,8 die Fragen und Probleme nicht ignoriert, die in der Rede von Bildung thematisch werden. Man muss vielmehr betonen, dass die Rede von Bildung selbst Teil dieses Prozesses ist, ja dass sie in der Gleichzeitigkeit von theoretisch innovativen Akteuren, man denke an Karl-Philipp Moritz und seine Erfahrungswissenschaft vom Menschen, und von konstant philosophischen, normativen und quasitheologischen Beiträgen das in sich personal und kommunikativ so vielfältige wie theoretisch und methodisch disparate Feld
8Die
Erfahrungswissenschaften vom Menschen sind selbst Thema umfassender Forschungen und die Literatur zur Orientierung über ihren Ursprung und ihre Dynamik ist uferlos. Ich nenne deshalb nur wenige, inzwischen selbst schon klassische Titel: Sergio Moravia: Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung. (1970) Frankfurt a. M. 1989; Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976; für die Nähe zu Pädagogik und Bildungsreflexion Christa Kersting: (1992): Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Weinheim 1992; für die Methodenfragen, v. a. für die Geltungskriterien der Praxis von „Beobachtung“, Lorraine Daston/Peter Galison: Objectivity. New York 2007.
16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …
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exemplarisch verdeutlicht, aus dem sich die Humanwissenschaften entwickeln. Die Menschwerdung des Menschen ist das zentrale Thema der Humanwissenschaften, im Ursprung und bis heute. In der Bearbeitung dieses Themas haben sich die Humanwissenschaften entwickelt, reichhaltig ausdifferenziert und auch je eigene, disziplinär oder bestimmten Forschungstraditionen zurechenbare begriffliche und methodische Optionen ihrer Praxis erzeugt. In Psychologie und Soziologie, in der Ethnologie oder in der historischen Anthropologie spricht man ganz selbstverständlich von der Onto- und Phylogenese des Menschen. Dabei werden Begriffe wie Lernen und Verhalten, Interaktion und Sozialisation, Enkulturation oder Psychogenese verwendet und in empirischen Forschungsprozessen – in ganz unterschiedlicher Methodik, sogar experimentell, wie sehr früh in der Psychologie – ausgearbeitet und geprüft. Zwar theoretisch transformiert und im Forschungsprozess spezifiziert, aber dennoch unverkennbar werden damit Themen aufgenommen, die seit ihrem Ursprung auch in der klassischen Bildungsphilosophie in Referenz auf die Menschengattung und die Konstitution von Individualität intensiv behandelt wurden. Aber, diese Forschung meidet in ihren theoretischen Konstrukten den Begriff der Bildung und die Tradition ihrer Reflexion. Obwohl thematisch also den Fragen relationiert, oder zumindest doch relationierbar, die auch in der Bildungsreflexion immer neu aufgeworfen werden, dominieren andere Begriffe. Wenn die erste und die zweite Natur des Menschen zum Gegenstand von Forschung wird, wenn Mechanismen der Selbstkonstruktion des Menschen angesichts von Natur und Gesellschaft behandelt werden, dann sind, je disziplinär, andere Begriffe leitend, Psychologen nutzten eine Zeit lang z. B. das Dual von Assimilation oder Akkomodation, Soziologen empfahlen Autopoeisis, Selbstorganisation oder Wechselwirkung, die Begriffe der Identität und des Selbst wurden gesucht (und problematisiert), wenn auf Ergebnisse dieses Prozesses abgehoben wird – auf „Bildung“ hat man ganz eindeutig verzichtet. Vor allem hier, im Kontext der humanwissenschaftlichen Forschung, erweist sich die nationale und kulturelle Begrenzung in der Geltung und Nutzung des Bildungsbegriffs, den man als bildungsphilosophische Kategorie, aber nicht als leitendes Konstrukt der empirischen Forschung nutzt. Die explizite Abwehr der empirischen Humanwissenschaften im Kontext der Bildungsreflexion, die zum Standard ihres argumentativen Repertoires gehört, entzündet sich deshalb auch schon an diesem Punkt, an der Differenz der Bilder von Mensch und Welt, die sie in der eigenen Tradition im Gegensatz zu den Humanwissenschaften markieren. Die Abwehrkämpfe gelten bis heute der Frage, welche Begriffe für die empirische Forschung über das Aufwachsen und Handeln in Gesellschaft tragfähig und akzeptabel sein können. Unbestritten in der humanwissenschaftlichen Forschung verwendete Begriffe, etwa des Lernens, vor allem aber der der Sozialisation oder der Integration werden bis in die Lehrbuchliteratur
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hinein9 auch systematisch konstant zum Problem.10 Die Realität des Aufwachsens, die in diesen Begriffen forschend sichtbar und analysiert wird, wird bildungstheoretisch als unerwünschte Anpassung, auch als Gewöhnung, als Überwältigung oder als Fremdbestimmung oder Normalisierung gelesen. Die Wirkungen solcher Prozesse werden erneut auch binär codiert und z. B. im Gegensatzpaar von Integration und Subversion11 interpretiert, jedenfalls nicht als Höherbildung der Menschheit und d. h. nicht als Form von Emanzipation, so dass Widerstand notwendig wird, um Befreiung oder Individualisierung zu ermöglichen, die man in der emphatischen Rede von der Bildung des Subjekts erwartet.12 Das überrascht im Grunde, denn die Tradition der Bildungsreflexion hatte, bis ins frühe 20. Jahrhundert, die Gleichzeitigkeit von Initiation und Erneuerung, Tradierung und Veränderung durchaus noch gesehen und sogar als Aufgabe der Erziehung formuliert.13 Erst eine kritische Pädagogik der 1960er Jahre gab diesem
9Man
vgl. nur die differente disziplinäre Zurechnung auf „Soziologie, Psychologie und Pädagogik“ bei Matthias Grundmann: Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung. In. In: Rolf Becker R. (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie. Wiesbaden 2009, S. 61–83 mit der Zurechnung auf „Erziehungswissenschaft“ bei Wolfgang Hörner/ Barbara Drinck/Solvejg Jobst: Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Opladen/Farmington Hills 2010. In Norbert M. Seel/Ulrike Hanke: Erziehungswissenschaft. Lehrbuch für Bachelor-, Master- und Lehramtsstudierende. Heidelberg 2015, sind wiederum nur Erziehung und Bildung die „Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft“ (S. 9 ff.), aber beim Thema „Erziehung und Gesellschaft“ (S. 481 ff.) kann man nicht ohne den Begriff der Sozialisation argumentieren, wählt dann aber die Übersetzungen „Sozialmachung und Sozialwerdung“. 10Für die systematische Literatur verweise ich nur auf die Diskussion von „Sozialisation“, weil damit pro- und contra-Argumente in ihrer Kontinuität sichtbar werden, vgl. dann Peter Vogel: Scheinprobleme in der Erziehungswissenschaft: Das Verhältnis von „Erziehung“ und „Sozialisation“. In: Zeitschrift für Pädagogik 42 (1996), S. 481–490. 11Das Dual hatte im Umkreis der kritischen Bildungstheorie Heydorns angesichts der Bildungsreform am Ende der 1960er Jahre Konjunktur, stilbildend Gernot Koneffke: Integration und Subversion. Zur Funktion des Bildungswesens in der spätkapitalistischen Gesellschaft. In: Das Argument 11(1969), H. 5/6, S. 389–430. 12Die Selbstverständlichkeit, mit der z. B. ein so großes Wort wie „Widerstand“ als genuine Form von Bildung betrachtet wird, spiegelt sich bis in aktuelle Veröffentlichungen, auch in der Inflationierung des Begriffs, z. B. in Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hrsg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld 2008, v. a. aber in der Verbreitung über die Erben der kritischen Theorie hinaus bis in das katholische Milieu hinein, vgl. u. a. Ursula Frost: Bildung ist auch Widerstand! Vortrag bei der GEW Hessen am 17.04.2013 (http://www.gew-hessen.de/fileadmin/user_upload/themen/ marburger_bildungsaufruf/K_Frost_Ursula_Bildung_ist_auch_Widerstand.pdf) sowie die Festschrift für Ursula Frost: Matthias Burchardt/Rita Molzberger (Hrsg.): Bildung im Widerstand. Würzburg 2017. 13Für Schleiermacher gilt z. B.: „Die Erziehung soll so eingerichtet werden, daß beides in möglichster Zusammenstimmung sei, daß die Jugend tüchtig werde einzutreten, in das, was sie vorfindet, aber auch tüchtig in die sich darbietenden Verbesserungen mit Kraft einzugehen.“ (Schleiermacher, Vorlesungen von 1826, hrsg. von Weniger, Bd. I, zit. S. 31.
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Standardmodell eine in sich widersprüchliche Interpretation und schrieb in übersteigerter Erwartung den Prozessen des Aufwachsens in Gesellschaft, damit der Erziehung, abgestützt in einem „kritischen Bildungsbegriff“ sehr viel weitergehende Aufgaben zu. Zu „der zentralen Aufgabe“14 der Pädagogik wurde es, „in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen“. Das sei realisierbar, so die weitere Annahme, weil „Bildung“ das Potential enthält, „im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit“ zu verfahren. Man kennt das Zitat, man kennt das Schicksal solcher Programme, man kann solche Ansprüche an eine „objektiv geltende Vernünftigkeit“ und die Modi ihrer Realisierung bis heute von Bildungstheoretikern hören, wenn sie bestimmen wollen, was allein „das Allgemeine der Bildung“ legitim ausmacht.15 Aber die 3. oder die 6. Feuerbachthese16 wären eine bessere Grundlage der Bildungstheorie als die in solcher Kritik regierenden Rousseau-Lesarten. Betrachtet man jenseits der programmatischen normativen Kontroversen aber die attackierten Begriffe, exemplarisch nur „Anpassung“ oder „Sozialisation“ (aber „Kompetenz“ wäre gegen die beliebte Kritik auch rechtfertigungsfähig17), dann ist ihre kritisch-abwehrende Lesart im bildungstheoretischem Lager durch die aktuelle Forschung gar nicht mehr gedeckt. Auch wer gelegentlich Lernprozesse und Lernzielvorgaben noch meint als behavioristisch analysieren und zugleich abwerten zu können, hat die konstruktivistischen Wendungen der Lerntheorie schlicht ignoriert. Für „Anpassung“, um den wiederkehrenden Vorwurf zuerst zu diskutieren, kann man eine Lesart im Sinne von kritikloser Unterwerfung schon lange nicht mehr vertreten, wie Klaus Mollenhauer selbst schon
14Mollenhauer,
Rationalität der Pädagogik, (1964) in: K.M. 1968, zit. S. 66, S. 67 für das kommende Zitat, Herv. dort. 15Exemplarisch die Beiträge in Jürgen-Eckard Pleines (Hrsg.): Das Problem des Allgemeinen in der Bildungstheorie. Würzburg 1987. In seiner Einleitung geht Dietrich Benner von der Frage nach der „Bestimmung des Menschen“ aus und klärt das „philosophische Problem des Allgemeinen“ und den ihr entsprechenden „Begriff allgemeiner Menschenbildung“ in der „Frage nach dem Ordnungszusammenhang alles Seienden“ (S. 3) – und findet sie „von der Idee einer menschlichen Vernunft aus, die aus eigener Kraft in einem aufgeklärten Sinne sowohl ordnungsals sinnstiftend ist.“ (ebd.). Nicht zufällig analysiert Wolfgang Fischer im selben Band die Probleme solcher Erwartungen an Allgemeinbildung als Konsequenz der ihr angesonnenen, aber heute nicht mehr einlösbaren „Metaphysikfunktion“ (S. 12 und ff.). 16Vgl. dazu vorne Kap. 14.3. 17In den Kontroversen über Bildungsstandards, PISA und die Folgen wird aktuell der Begriff der Kompetenz in einen strikten Gegensatz zu Bildung gebracht, ja in seinem theoretischen Wert überhaupt diskreditiert. Man vgl. nur die einschlägigen Passagen bei Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014 und dazu meine Rezension in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91 (2015), S. 151–156, die belegt, dass Liessmann nicht einmal die Texte richtig zitiert, die er zu kritisieren meint. In anderen Kontexten, z. B. in der Kommunikation zwischen Philosophie und Psychologie werden Bildung und Kompetenz dagegen noch aus guten Gründen produktiv genutzt, vgl. Christian Hubig/Heiner Rindermann: Bildung und Kompetenz. Göttingen 2012.
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früh gezeigt hatte. Ohne eine aktive Rolle der Akteure, ohne je subjektiv zurechenbare Leistungen und Anstrengungen kann weder Lernen selbst noch solche „Anpassung“ gelingen, die man kritisch allein als Überwältigung durch die herrschende Kultur stilisiert.18 Hier und da kehren solche Einsichten auch in der Kritik der Bildungsrealität wieder,19 aber sie haben die Beliebtheit solcher binären Codierungen nicht aufheben können. Für „Sozialisation“, kritisch nicht selten immer noch als Determination durch Gesellschaft und als Propagierung eines übersozialisierten Konzepts vom Menschen20 beansprucht, gilt Vergleichbares. Die scharfe und eindeutige – im Grunde auch schon alte, aber, wenn notwendig, selbst gegen einen bei Bourdieu identifizierten Determinismus erneuerte21 – Kritik an solchen Sozialisationskonzepten wird aber ignoriert. Das aktuelle Theorieverständnis, das den Menschen als einen „produktiven Realitätsverarbeiter“22 versteht, wird ebenfalls nicht angemessen in seiner Nähe zu bildungstheoretischen Grundannahmen gewürdigt. Aber diese Nähe ist unverkennbar, wenn „das interaktive Verständnis von Sozialisation“ betont wird, „bei dem sich durch das gemeinsame Handeln von individuellen Akteuren soziale Strukturen und Umwelten formieren, die dann als soziale Kontexte die Genese der Persönlichkeit durch subjektive Erfahrungsverarbeitung bestimmen und auf diese Weise Personen befähigen, sich aktiv an der Gestaltung der eigenen Persönlichkeit und der sie umgebenden Umwelt zu
18Klaus
Mollenhauer: Anpassung. In: Zeitschrift für Pädagogik 7(1961), S. 347–362; gestützt u. a. auf sozialpsychologische, psychoanalytische, ethnologische oder soziologische Literatur bekräftigt er gegen die pseudokritischen Annahmen der Pädagogik hier noch solche Selbstverständlichkeiten, die man heute wieder in Erinnerung rufen muss, nur theoretisch z. T. anders begründen kann. 19Gernot Koneffke z. B. kennt durchaus die Dialektik gesellschaftlicher Erwartungen: „Gerade Integration mithin, Anpassung nachwachsender Generationen an ein gesellschaftlich Vorgegebenes, das nur dem interessierten Gedanken sich erschließt, treibt, indem sie Bestehendes kritisieren lehren muß [! – Herv. H.-E.T], auch über bürgerlich Bestehendes hinaus; kritisches Denken hat letzten Endes nur die von ihm selber geschichtlich hervorgebrachten Inhalte zum Maß.“ (Koneffke 1969, S. 390 f.) Aber er beklagt dann im Weiteren doch nur Integration, untersucht nicht das subversive oder autonomisierende Potential von Anpassungsprozessen. 20Aber die Kritik an solchen Vorstellungen ist selbst schon historisch, vgl. Dennis H. Wrong: The Oversocialized Conception of Man in Modern Sociology. In: American Journal of Sociology 26(1961)2, S. 184–193. 21Frithjof Nungesser kritisiert noch jüngst und sehr scharf das „mechanistische“ und „passivistische“ Bild von Sozialisation, das Bourdieu in der Theorie der symbolischen Gewalt entwickele, weil er Thesen formuliere, die letztlich „einer Anthropologie der Konditionierung und Dressur anhängen“ (im Fazit) in: Frithjof Nungesser: Ein pleonastisches Oxymoron. Konstruktionsprobleme von Pierre Bourdieus Schlüsselkonzept der symbolischen Gewalt. In: Berliner Journal für Soziologie 27 (2017), S. 7–33, Abschn. 6, passim. 22Klaus Hurrrelmann hat den Begriff eingeführt, das von ihm begründete Handbuch gibt die Details, vgl. aktuell Klaus Hurrelmann/Ullrich Bauer/Matthias Grundmann/Sabine Walper (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel 8. Aufl. 2016.
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beteiligen.“23 Es mag kontrovers beurteilt werden, ob es sinnvoll ist, die Praktiken der Sozialisation auch als Selbstvergesellschaftung24 nahezu idealisierend zu untersuchen,25 dass Praktiken der Selbstkonstruktion unabdingbar zum Konzept und Prozess der Sozialisation gehören, das kann man auch dann behaupten, wenn man die Subjektposition nicht radikal überhöht.26 Allerdings, die Platzierung der Sozialisationstheorie in den großen Modellen der Humanwissenschaften kann auch zu anderen, z. B. evolutionstheoretischen Erklärungsmustern führen. Hier wird für die Erklärung des Aufwachsens in Gesellschaft stärker die Seite der „Natur“ und die Prozesslogik von Evolution zur Geltung gebracht, ohne sie etwa der „Kultur“ oder der „Praxis“ strikt entgegenzusetzen. Empirisch ist das noch nicht ausgearbeitet oder in der Gewichtung der Faktoren entschieden, aktuell wird eher theorievergleichend (und wenig überraschend) die Bedeutung der impliziten „Menschenbilder“ betont.27 In normativer Recodierung solcher Theorie- und Begriffsoptionen, bis hin zu der kritisch gemeinten Behauptung, dass es so etwas gäbe wie das „unmittelbar ‚Ansozialisierte“28 oder überhaupt irgendetwas „unmittelbar Gegebenes“
23So
die Herausgeber der 8. Auflage, wenn sie in ihrem „Vorwort: Die Entwicklung der Sozialisationsforschung“ darstellen (2016, S. 9–13) und „Bildungsforschung“ explizit als eine eng relationierte Forschungspraxis benennen. 24Jürgen Zinnecker: Selbstsozialisation. Essay über ein aktuelles Konzept. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation (ZSE) 20 (2000) 3, S. 272–290; jüngst auch, evolutionstheoretisch, Scheunpflug (vgl. Anm. 27). 25Zur Diskussion von Zinneckers These Ullrich Bauer: Selbst- und/oder Fremdsozialisation: Zur Theoriedebatte in der Sozialisationsforschung. Eine Entgegnung auf Jürgen Zinnecker. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 22 (2002) 2, S. 118–142. Er betont die „Erkenntnisgrenzen“ (S. 120) von Zinneckers „Radikalisierung der Subjektperspektive“ (121) und plädiert für die „Vermittlung einer struktur- und subjekttheoretischen Perspektive auf der Grundlage der Habitustheorie Pierre Bourdieus“ (ebd. – und ohne schon Nungesssers Einwand von 2017 zu kennen). 26In H. 2/2002 von ZSE wird Zinneckers These über die Kritik von Bauer hinaus weiter diskutiert und u. a. von Hurrelmann in ihrem Recht herausgearbeitet. Die Diskussionslage resümiert vielleicht am besten Dieter Geulen: Subjekt, Sozialisation, „Selbstsozialisation“. Einige kritische und einige versöhnliche Bemerkungen. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 22 (2002) 2, S. 186–196. 27Das versucht Annette Scheunpflug: Die Natur der Sozialisation – zur Anthropologie eines erziehungswissenschaftlichen Begriffs. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 18 (2015), 1, S. 69–88 – und handelt sich natürlich die Rückfragen derjenigen ein, die Evolutionstheorie und biologistische Erklärungen nicht als geeignete Referenz für bildungstheoretische Fragen verstehen. Vielleicht plädiert sie deshalb für das Nebeneinander der Theorieansätze und kompensiert damit auch die Tatsache, dass für ihr Verständnis von Sozialisation noch kaum Empirie verfügbar ist, die zeigen könnte, dass hier gezeigt wird, was andere Theorien nicht sehen. 28Krassimir Stojanov: Bildung. Zur Bestimmung und Abgrenzung eines Grundbegriffs der Humanwissenschaften. In. Erwägen Wissen Ethik 25(2014)2, S. 203–212, zit. S. 207, Ziff. (17), womit er eine Differenz zu Bildung stiften will: „Bildung ist ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung, der zur Überschreitung des unmittelbar Gegebenen (und des unmittelbar ‚Ansozialisierten‘) und zur individuellen Autonomie durch einen sinnstiftenden Erwerb von wissenschaftlichem, literarischem und künstlerischem Wissen führt.“
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im Prozess des Aufwachsens, das erst durch Bildung überschritten werde, kehrt in der bildungstheoretischen Begriffskritik dennoch die alte binäre Codierung wieder, jetzt nicht als dualisierende Konstruktion von Welten, sondern als binäre Schematisierung von Begriffen für Prozesse und ihre Ergebnisse. Schon eine andere, dritte, Option, dass sich die Akteure selbst der scheinbar unvermeidlichen Wahl zwischen Anpassung und Widerstand verweigern und anders wählen, z. B. mit guten Gründen aus dem Felde gehen, die kommt nicht vor. Damit fehlt auch die Einsicht oder doch zumindest die offene Frage, dass auch bei dieser Option die Rationalität des Handelns bei den Akteuren liegen kann, weil sie ihre Entscheidung mit eigenen, guten Gründen treffen, aber nicht aus Resignation angesichts der zu hoch hängenden ‚sauren Trauben‘29 oder wegen mangelnder Fähigkeit zur Analyse der Problemlage in ‚allgemeinen‘ Begriffen, sondern mit rechtfertigungsfähigen Gründen. In dieser Codierung wird letztlich auch sichtbar, dass sich der Beobachter dem Akteur deutlich überlegen fühlt und beansprucht, die an sich ‚richtige‘, dem Problem oder dem Thema oder der Lage des Akteurs angemessene Form des Verhaltens und Handelns zu kennen. Aber was in der Marxschen Verachtung gegenüber dem Lumpenproletariat schon nicht einfach begründbar war, ist sozialisationstheoretisch nicht leichter geworden. Selbst kritische Beobachter des „Elends der Welt“, wie Pierre Bourdieu, betonen, dass die Wahrheit z. B. über die Lebenssituation der Bewohner der Vorstädte französischer Metropolen weder dem beobachtenden Forscher noch dem Akteur exklusiv und allein zugänglich ist.30 Viele gegenüber der Realität des Aufwachsens kritische Bildungstheoretiker haben ihre Klugheit bisher indes auch nicht anders als durch normative Vorentscheidungen und durch kritische, aber unbegründete Aversionen gegen sozialwissenschaftliche Analysekonzepte ausweisen können. Das ist vor allem deswegen so erstaunlich wie unproduktiv, weil diese Konzepte, zumal Anpassung oder Sozialisation oder Lernen, sich in ihren eigenen theoretischen Veränderungsprozessen, lernbereit, den klassischen bildungstheoretischen Modellvorstellungen zunehmend angenähert haben. Das geschieht zwar eher implizit als unter explizitem Bezug auf die bildungstheoretische Tradition, aber unverkennbar, wenn jetzt z. B. die Akteurrolle in Bildern der Selbstkonstruktion modelliert
29Für
dieses Problem der „sauren Trauben“, der Tatsache also, dass die Subjekte selbst definieren, dann auch in Selbstelimination, wie sie mit Erwartungen und Möglichkeiten umgehen, vgl. Jon Elster: Subversion der Rationalität. Frankfurt a. M./New York 1987. Er diskutiert ausführlich das Problem, wie und aus welchen Gründen Subjekte sich im Alltag durch „adaptive Präferenzbildung“ einrichten und dann z. B. auch die unerreichbaren Früchte zu sauren Trauben deklarieren, also begründet nicht mehr begehren (zu Elsters Lesart von Lafontaines Fabel bes. S. 211 ff.).
30Dazu
besonders aufschlussreich die methodenkritische Selbstreflexion in Pierre Bourdieu: Verstehen. In: Ders. u. a.: Das Elend der Welt. (1993) Frankfurt a. M. 2010, S. 393–410, vgl. für die weitere Diskussion des Problems auch unten den Abschn. 17.6: „Wir sind gelebt worden“.
16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …
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wird oder die seit Humboldt tradierte Annahme der Wechselwirkung mit der Welt in Theorien der Interaktion das Denken über Sozialisationsprozesse bestimmt. Das wird zwar nicht in subjektbezogener Emphase formuliert, sondern in einer forschungsfähigen Interpretation, die aber Strukturen und Prozesse, individuelles Handeln und die Funktion von Organisationen, Muster der Institutionalisierung und die Wirkung von gesellschaftlichen Normen in ihrer notwendigen Relation so aufeinander bezieht, dass sich auch Hegel, Simmel oder Litt daran erfreut hätten,31 und ferner so, dass auch mit der sozialphilosophischen Tradition seit George H. Mead produktive Diskussionen entstehen konnten.32 Pointiert gesagt: Sozialisationsprozesse werden in den Sozialwissenschaften zunehmend bildungstheoretisch modelliert, auch wenn der Begriff selbst gemieden wird, um bei der Beobachtung der Wirklichkeit nicht dem normativen Überschwang zu erliegen. Die aktuellen sozialwissenschaftlich dominierenden Begriffe, das ist die systematische Lektion der Theorieangebote der Humanwissenschaften, ruhen, gerade wenn sie empirisch erklärungskräftig sein wollen, auf theoretischen Annahmen und Hypothesen auf, die in der klassischen Bildungstheorie und auf die in ihrem Ursprungsfeld um 1800 entstehende neue Sicht auf den Menschen ihre Wurzeln haben, also auf Annahmen über Selbstkonstruktion als dem basalen Mechanismus in der Prozesslogik des Aufwachsens in Gesellschaften wie unseren. Aber, das ist auch unverkennbar, der Begriff der Bildung selbst spielt dabei keine Rolle (mehr), er ist im Grunde durch den philosophischen Gebrauch kontaminiert, aber wohl auch, weil sich seine Protagonisten der Operationalisierung des Begriffs für Forschungsprozesse verweigern. Selbst in deutschsprachigen Unternehmungen, die eine „integrative Humanwissenschaft“ zum Thema und ehrgeizigen Ziel ihrer Arbeit machen, wird nicht auf den Bildungsbegriff zurückgegriffen, wie das Pädagogen bei gleicher Intention vorschlagen. Eine in diesem Disziplinkontext jüngst erschienene „Theorie der Bildung“ z. B. greift auf alle Disziplinen aus, die sich nur irgendwie mit dem Menschen beschäftigen, um den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung“ zu bahnen und „im Horizont des ganzen Wissens über den
31Diese
‚soziologische‘ Tradition innerhalb der Bildungstheorie und der bildungstheoretischen Tradition in der Soziologie habe ich anderer Stelle (auch inspiriert durch Jürgen Markowitz) ausführlicher rekonstruiert, vgl. H.-E. Tenorth: Soziologie als Bildungstheorie. In: J. Aderhold/O. Kranz (Hrsg.): Intention und Funktion. Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. Festschrift für Jürgen Markowitz. Wiesbaden 2007, S. 175–187. 32Der symbolische Interaktionismus konnte nicht zufällig als szientifische Version von Bildungstheorie rezipiert werden, z. B. im Kreis um Klaus Mollenhauer und bei Micha Brumlik, und das hat die erwartbaren Kontroversen über die Angemessenheit der Rezeption ausgelöst, vgl. u. a. Daniel Tröhler/Gert Biesta: Einleitung. George Herbert Mead und die Entwicklung einer sozialen Erziehungskonzeption. In: George Herbert Mead: Philosophie der Erziehung. Bad Heilbrunn 2008, S. 7–26.
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Menschen“ jetzt „Bildung im weitesten Sinne“ als den gemeinsamen Referenzpunkt einer neu zu konstruierenden „Bildungswissenschaft“ theoretisch zu bestimmen.33 Diese „integrative Persönlichkeits- und Bildungstheorie“34 habe in einer Theorie der Konstitution des Menschen als „Person“ ihre zentrale Aufgabe, begrifflich bezogen auf die zentralen Fragen aller Humanwissenschaften, wie der Gang der Argumentation belegt, der von der Anthropogenese über Entwicklung, Personalisation, Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation, Kulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation, Erziehung und Pädagogik alle einschlägigen Themen behandelt. Das geschieht auch zu Recht, denn selbst die Naturwissenschaften – von der Biologie bis zu den Neurowissenschaften – haben in der Geschichte der Reflexion von Bildung (mit mehr oder weniger nachhaltigem Erfolg, wie man wohl einräumen muss) ebenso zu den Analysen des Bildungsprozesses beigetragen wie die Medizin oder die historischen oder empirischen Kultur- und Sozialwissenschaften, eingeschlossen die Ökonomie (deren auf das Bildungssystem bezogene Fragen klammert Wiersing indes ebenso aus wie die kritische Bildungsphilosophie) – aber mit ihren je eigenen Begriffen, ohne den Bildungsbegriff. Allerdings, Erhard Wiersing blendet, wie schon erwähnt, in seinem eigenen Programm sogar einen sehr verwandten Versuch der Konstruktion der „Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration“35 vollständig aus. Das mag, arbeitspragmatisch, den nah bei einander liegenden Veröffentlichungszeitpunkten geschuldet sein, die theoretischen Differenzen bleiben signifikant. In dem hier gemeinten alternativen Versuch der Konstruktion einer integrativen Humanwissenschaft regiert nämlich nicht der Begriff der Person, hier soll die Kategorie der „Psychogenese“ die verbindende Kategorie stiften.36 Vor allem signifikant für die Differenz ist aber, dass die bisherige Ausarbeitung dieses Programms (zahlreiche Bände liegen vor) vollständig ohne explizit bildungstheoretische oder gar erziehungswissenschaftliche Referenzen auskommt und der Begriff der Bildung
33Erhard
Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn 2015, bes. S. 30–43 für die grundlegenden theoretischen Ansprüche. 34Wiersing: Theorie der Bildung, 2015, S. 84 und ff., für die Theorie der Person v. a. 244–248. 35Gerd Jüttemann (Hrsg.): Entwicklungen der Menschheit – Humanwissenschaften in der Perspektive der Integration. Lengerich 2014; liest man die Einleitung, dann lassen sich deren Themen zwanglos in eine theoretisch argumentierende Bildungstheorie übersetzen lassen, vgl. zur weiteren Bestätigung der These von thematisch großer Nähe und begrifflicher Distanz auch G. Jüttemann: Wie der Mensch die Welt verändert und zugleich sich selbst: Prozesse und Prinzipien der Psychogenese. In: G. Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich 2013, S. 14–37. 36Jüttemann 2014, Vorwort, zit. S. 10.
16.1 Bildung als Thema der Forschung: Differenzen und Kontroversen …
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nicht auch nur einmal theoriestrategisch relevant wird.37 Zum anderen mag die Distanz zum Begriff der Bildung und seiner integrativen Kraft auch daher rühren, dass hier die Möglichkeiten überhaupt skeptisch eingeschätzt werden, „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“ (Wiersing) die Humanwissenschaften zu integrieren. Jüttemann betont vielmehr ausdrücklich, dass er nicht die Absicht habe „eventuell eine fächerübergreifende Disziplin aufzubauen“, und auch nicht „das Ziel“ verfolge, „zu einer umfassenden Theorie der menschlichen Entwicklung vorzudringen. Eine derartige Aufgabenstellung wäre zu weit gegriffen.“38 Die nähere Abgrenzung belegt dann, implizit, aber deutlich, dass Jüttemann die überlieferten Idiosynkrasien der Bildungsreflexion kennt, denn er grenzt sich mit dem die Arbeit leitenden „offenen Entwicklungsbegriff“ ausdrücklich von allen teleologischen oder normativen Traditionen ab: „Im Gegensatz zur geschichtsphilosophischen Tradition wird für den Menschen kein gattungstypisches Ausgerichtetsein auf bestimmte höhere Ziele angenommen. Die Offenheit bezieht sich, jenseits aller Gesellschaftskritik, prinzipiell auch auf die denkbare Möglichkeit, dass es uns gelungen sein und darüber hinaus weiterhin gelingen könnte, unsere Lage nicht nur subjektiv und vermeintlich, sondern vielleicht sogar in einer objektivierbaren Weise und letzten Endes überall auf der Welt zu verbessern und das Leben unseren Bedürfnissen angemessener zu gestalten.“ Ungeachtet solcher Hoffnungen, forschungsleitend werden die gesellschaftlichen Ideologien nicht. Deshalb muss sich Jüttemann auch nicht von den normativen Implikationen abgrenzen, die z. B. der Personbegriff mit sich führt, wie Wiersing weiß, wenn er für seine eigene Begründung ausdrücklich die katholisch-theologischen Varianten des Personbegriffs (die nicht nur philosophisch, sondern bis zu Papst Woytila ja an prominenter Stelle auch theologisch bearbeitet wurden) abweist, die den Personbegriff im pädagogischen Kontext prominent gemacht haben.39 Die normative Referenz bleibt aber unverkennbar als Hypothek der Forschung, wenn man die Bildungstradition für sich reklamiert.
37Als Vorband
zur Reihe: Gerd Jüttemann (Hrsg.): Die Entwicklung der Psyche in der Geschichte der Menschheit. Lengerich/Berlin (usw.) 2013 sowie die weiteren Bände der Reihe und ihre Themen – Bildung kommt jedenfalls nicht vor, aber die Themen ihrer Reflexionstradition sind ohne Zweifel präsent: Bd. I Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Die menschliche Psyche zwischen Natur und Kultur. 2015; Bd. II: Rolf Oerter: Kultur als Freund, Feind und Herr der Evolution. 2016; Bd. III: Christine Hennighausen/Benjamin P. Lange/Frank Schwab (Hrsg.): Evolution des Sozialen. 2016; Bd. IV Gerd Jüttemann (Hrsg.): Psychogenese Das zentrale Erkenntnisobjekt einer integrativen Humanwissenschaft. 2016; Bd. V: Clemens Schwender, Benjamin P. Lange/Sascha Schwarz (Hrsg.): Evolutionäre Ästhetik. Zwar findet man hier weder Pädagogik noch Schule, dafür z. B. einen so singulären kulturwissenschaftlichen Beitrag wie den von Hartmut Böhme: Evolution und historische Psychologie des Mundraums und der Zähne. (In Bd. V). 38Jüttemann 2014, Vorwort, zit. S. 10. 39Dafür steht, explizit in der katholischen Tradition verankert, Winfried Böhm, für Wiersing zugleich abgrenzend und relationierend von Bedeutung; vgl. zur Begründung und Diskussion dieses Konzepts W. Eykmann/W. Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006.
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16 Die Empirie von Bildungsprozessen
Das wird auch jüngst erst wieder im Kontext der psychologischen Bindungsforschung explizit so gesagt, und erneut in einem Kontext, der gleichzeitig die Nähe zu Bildungsprozessen nicht leugnen kann. Die klassische Bildungsreflexion, obwohl mit der Interaktion im frühen Kindesalter auch befasst, denke, so wird hier abgrenzend argumentiert, wesentlich von Zielbegriffen aus, z. B. von der „Vorstellung vom ‚vollendeten‘ Menschen“,40 und sei damit im Forschungskontext eher hinderlich. Die Prozessdimension nämlich und die wesentlichen Mechanismen der je individuellen Selbstkonstruktion, also die Realität nicht nur frühkindlicher Bildungsprozesse, würden damit ignoriert und schon begrifflich und methodisch versperrt. Es gehört freilich zur nichteingestandenen Ironie dieses Abgrenzungsarguments, dass dieselbe Autorin dann – in einer geradezu klassischen Formulierung der Bildungstradition – empfiehlt, den „Menschen als aktiven Gestalter seiner eigenen Entwicklung“ zu verstehen, um „Bildungsprozesse“ analysieren zu können. Aber diese klassische konzeptuelle Orientierung bezeichnet sie selbst als „ein erweitertes Entwicklungskonzept“, ohne die einschlägige Tradition des Bildungsdenkens zu sehen oder gar explizit einzugestehen.41 Aber das überrascht in diesem Kontext nicht, sieht doch der Herausgeber dieses „Handbuchs der Bildungsforschung“ die Spezifik der Bildungsforschung, als deren „zentrale Bezugsdisziplin … die Erziehungswissenschaft“42 genannt wird, der pädagogischpraktischen Tradition entsprechend nicht im Forschungsprimat, sondern darin, „wissenschaftliche Informationen auszuarbeiten, die eine rationale Begründung bildungspraktischer und bildungspolitischer Entscheidungen ermöglichen.“ Diese Bindung der Forschung an gesellschaftliche Erwartungen ist für die Erziehungswissenschaft vielleicht typisch,43 aber für das Gesamtspektrum der beteiligten Disziplinen eher untypisch. Das wird man behaupten dürfen, auch wenn es ein als „Bildungspsychologie“ auftretendes Arbeitsprogramm gibt, das ganz zentral der Frage nachgehen will, wie die „gesellschaftlich wünschenswerten Persönlichkeitsausprägungen“ von Individuen konstruiert werden können44 – insofern also
40Gabriele
Gloger-Tippelt: Bildung in der frühen Kindheit. In: R.Tippelt/B.Schmidt: (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. 3. Aufl. 2010, S. 627–640, S. 629 (textgleich 4. Aufl. 2018, Bd. 2, S. 785 f.). 41Gabriele Gloger-Tippelt: Bildung in der frühen Kindheit. In: Tippelt/Schmidt: (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. 2010, zit. S. 630 (Herv. H.-E.T.). 42Rudolf Tippelt/Bernhard Schmidt: Einleitung der Herausgeber. In: Dies. (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 2010, zit. S. 10, S. 9 für das folgende Zitat. 43Peter Zedler: Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung. In: Tippelt/Schmidt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, 4. Aufl. 2018, S. 19–46 sieht den Platz dieser Forschung, ihre Spezifik und auch die Ursache ihrer Probleme in der Verortung „zwischen Reformdiskurs und Grundlagenforschung“ (S. 27 ff.). 44Meine Anspielung gilt Christiane Spiel u. a.: Bildungspsychologie. Göttingen 2010, zit. S. 11; für eine knappe Einführung in das Programm und das leitende Forschungsmodell Christiane Spiel/Barbara Schober/Petra Wagner/Ralph Reimann/Dagmar Strohmeier: Die Konzeption der Bildungspsychologie und das Potential ihres Strukturmodells. In. Die Deutsche Schule 103 (2011), 4, S. 381–392.
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
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ernfelds Erziehungsthema aufnimmt. Da irritiert schon die Selbstattribuierung B über Bildung und es überrascht nicht mehr, dass neben Forschung dann „Beratung, Prävention, Intervention und Monitoring“ zu den mit hoher Präferenz selbst gewählten Aufgaben gerechnet werden, also klassische Praxisambitionen, gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen. Mit dem empirischen und analytischen Anspruch der modernen Humanwissenschaften, das ist trotz solcher irritierender Einzelbefunde der überwältigende Eindruck, kann die Tradition der Bildungsreflexion offenbar kein Bündnis eingehen, weil sie primär an normativen Prämissen und kontrafaktischen Normierungen interessiert ist und den Ballast der Geschichtsphilosophie so wenig ablegen kann wie die Nähe zu den variierend-vielfältigen Ideologien der gesellschaftlichen Lager und ihren historisch je genutzten Weltanschauungen. Die differentia specifica der Bildungstheorie innerhalb der Humanwissenschaften wird, in der Selbst- wie Fremdwahrnehmung, primär immer noch über die Konstruktion von Bildungsidealen und die kontrafaktische Argumentation gestiftet. Aktuell gibt es allerdings selbst innerhalb von Bildungsphilosophie und traditional orientierter Erziehungswissenschaft deutliche Anzeichen für Veränderung. Die Realität von Bildung wird in jüngerer Zeit bildungstheoretisch und empirisch zugleich zum Thema, und dann nicht allein, wie schon länger, bildungshistorisch. Selbst innerhalb der allgemeinen Erziehungswissenschaft hat man jenseits der methodologischen Grundsatzfragen die Empirie entdeckt, sogar in der Nähe zu kritischer Theorie. Die dem Bildungsbegriff verpflichtete Erziehungswissenschaft argumentiert inzwischen auch realitätsbezogen, z. B. kasuistisch, und dann z. B. im Anschluss an die Theorie und Methodik von Ulrich Oevermanns „objektiver Hermeneutik“, sowie, und vor allem, biografiebezogen. Damit nimmt sie auch die These der pädagogischen Tradition auf, dass der Lebenslauf als Probe auf die Anstrengungen des Subjekts wie der Erzieher gelesen werden kann. Die Absicht geht also auch erziehungswissenschaftlich nicht mehr ins Leere, die Realität von Bildungsprozessen in unserer Gesellschaft daraufhin zu befragen, wie Bildung geschieht und ob sich die kritischen Bilder über die problematischen Effekte der Bildungswelten auch bei einem empirisch prüfenden Zugang zur Realität bestätigen. Ein knapper Blick auf die methodisch-theoretischen Implikate dieser biografischen Orientierung in der Forschung über Bildung ist allerdings schon deswegen notwendig, weil sich auch unverkennbar ambivalente Annahmen und Konzepte in der Praxis dieser Arbeit zeigen.
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten Die Hinwendung zur Biografieforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft erscheint vor diesem Hintergrund zunächst als eine zwar spät vollzogene, aber notwendige und produktive Anerkennung der Tatsache, dass auch Bildungsreflexion, zumal wenn sie sich als Bildungstheorie versteht, ihrer eigenen Realitätsvergewisserung bedarf. Die Klassiker, das darf man erinnern, hatten schon
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immer die Biografie als Probe auf die Erwartungen und Zuschreibungen der Erziehung interpretiert, die mit dem Prozess des Aufwachsens in Gesellschaften wie unseren verbunden werden.45 Jetzt nimmt man diese These wieder auf, allerdings bildungstheoretisch neu modelliert.46 Betrachtet man die Realität dieser Forschungspraxis aber insgesamt, dann bietet sie – erwartbar, wie man versucht ist zu sagen – zugleich wieder ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite findet sich, auch interdisziplinär, eine Gruppe von Forschern, inzwischen auch handbuchförmig identifizierbar,47 die mit subtilen Konzepten und Theorien, forschungsleitenden Annahmen und Praktiken und gestützt auf ein breites, ja sich erweiterndes Spektrum sehr differenter Quellen und Daten der Realität individueller und kollektiver Bildungsprozesse nachgehen. Auf der anderen Seite stehen die Bildungsphilosophen, die solche Empirisierung ihres Themas mit großer Distanz betrachten. Man gewinnt bei einem Blick auf dieses Feld deshalb den Eindruck, dass gegenwärtig zuerst ein Streit über die angemessenen Fragen, Theorien und Konzepte im Vordergrund der Arbeit steht, nicht so sehr die Forschung selbst, wenn Bildungstheorie und Bildungsforschung aufeinander treffen.48 Gleichzeitig entwickelt sich aus dieser Konfrontation auch eine spezifische theoretische und methodische Focussierung der Biografieforschung innerhalb der Erziehungswissenschaft. In diesen Kontroversen spielt die Frage der Normativität von Bildung wieder eine zentrale Rolle, an der sich die bekannten Fraktionen erneut scheiden. Die kritischen Traditionalisten erzeugen die bekannten Selbstblockaden, jetzt gegenüber der Realität von Biografien, weil sie von „Bildung“ angesichts der Wirklichkeit von Lebensläufen nur sprechen wollen, wenn „sich das Individuum
45Herbart
wie Dilthey z. B. diskutieren das, auch im Verweis auf die spezifischen Schwierigkeiten der Forschung in der kausalen Zurechnung von Effekten der Erziehung, Schleiermacher verwendet bereits den Begriff der „Generation“, um die soziale Funktion und die zeitliche Ordnung von Erziehungsverhältnissen zu analysieren (etc.). 46Eine markante Zäsur in diesen Forschungen wird in Hamburg mit den Arbeiten von Rainer Kokemohr und Wilfried Marotzki gesetzt, vgl. für den systematischen Einsatz Wilfried Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Weinheim 1990. 47Für die Erziehungswissenschaft z. B. H.-H. Krüger/W. Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Opladen 1999, interdisziplinär z. B. Helma Lutz/Martina Schiebel/Elisabeth Tuider (Hrsg.): Handbuch Biografieforschung. Wiesbaden 2018. 48Hans-Christoph Koller/Gereon Wulftange: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? Perspektiven bildungstheoretischer Biografieforschung. Bielefeld 2014, S. 1–18 setzen nicht nur ein Fragezeichen in ihren Titel, außer nach den ja immer erwartbaren Forschungsproblemen, u. a. der angemessenen Berücksichtigung der „gesellschaftlichen und diskursiven Rahmenbedingungen individueller Bildungsprozesse“ und der engeren Verbindung von „Theorie und Empirie“, fragen sie auch gleich, wie „die normativen Implikationen des Bildungsprozesses im Rahmen solcher Forschung angemessen berücksichtigt werden“ können, damit auch „wünschenswerte Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses … qualifiziert werden“ (zit. S. 9).
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
279
‚möglichst viel Welt‘ aneignet“.49 Aber es zählt nicht allein die Menge (ohne dass Messprobleme diskutiert würden), sondern auch der Modus des Umgangs mit Welt. „Bildung“ nämlich sei nur dann präsent, wenn das Individuum „die faktisch gegebene Umwelt stets im Zuge der Befassung mit ideellen Objekten mit universalem Geltungsanspruch wie Begriffen, Argumenten und Prinzipien überschreitet.“ Die Realität des Aufwachsens und Handelns wird damit allerdings nur sehr begrenzt wahrgenommen, denn welche andere als die Praxen eines Wissenschaftlers oder kritischen Intellektuellen kann man nennen, die solchen Erwartungen „stets“ entsprechen? Weder das Aufwachsen generell noch das alltägliche Leben gelten anscheinend als eine Realität, die den Bildungstheoretiker interessiert, sondern erscheinen als eine andere, ihm fremde Wirklichkeit, relevant nur für die anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, das habe „jedoch wenig oder gar nichts zu tun“ mit Bildung.50 Vor diesen Erwartungen ist tatsächlich die biografietheoretische Annahme, dass sich im Aufwachsen eine „Flexibilitätssteigerung“51 beobachten lässt, nicht nur eine relativ nüchterne Prämisse, so trivial wie kaum bestreitbar, sie ist auch an der Realität beobachtbar und nicht vor ab moralisch normiert. Aber „Bildung“, z. B. als Erwartung von „Transformation“, bleibt auch hier das kontrovers diskutierte und immer neu gesuchte, keineswegs alltägliche Phänomen des hier und jetzt präsenten Umgangs mit Welt.52 Prüft man solche Unterscheidungen und Abgrenzungen, erinnert man sich freilich auch einer schon klassisch gewordenen These von Schleiermacher über das „Allgemeine“. Er ging keineswegs von der Disjunktion von nicht-legitimierbarer historisch gegebener, besonderer, partikularer Wirklichkeit und der legitimierbaren, weil als ‚allgemein‘ allein rechtfertigungsfähigen alternativen Bildungswelt aus (und man kann Hegel wie Humboldt durchaus auch so lesen), sondern für ihn galt: „Dass ein jedes Einzelne ein Allgemeines und Besonderes zugleich ist, ist das allgemeine Gesetz aller Erscheinungen.“53 Bildungswelten müssen deshalb nicht erst gesucht oder konstruiert werden, damit Selbstkonstruktion auch in Wechselwirkung mit einer als ‚allgemein‘ qualifizierten Herausforderung geschieht und insofern auch ihre Legitimation gewinnt, das ‚Allgemeine‘ ist
49Krassimir
Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umfassenden Begriffs. Opladen, 2011, S. 82, Anm. 11. 50Vgl. oben S. 167–170, Anm. 16–23 meinen Hinweis auf Ruhloff: Versuch über das Neue in der Bildungstheorie. 1998, sowie auf verwandte Argumente. 51So als Kriterium erneut bekräftigt in Winfried Marotzki: Qualitative Bildungsforschung – Methodologie und Methodik erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung. In: Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006, S. 125–137, zit. S 128. 52Übersicht zum Problem und seiner über Humboldt hinaus jetzt aktuell auch z. B. rassismuskritisch zu diskutierenden Dimensionen bei Minna-Kristiina Ruukonen-Engler: Biografie und Bildung. In: Helma Lutz/Martina Schiebel/Elisabeth Tuider (Hrsg.): Handbuch Biografieforschung. Wiesbaden 2018, S. 439–448. 53F.D.E. Schleiermacher: Vorlesung über Pädagogik. 1813, hrsg. von Weniger/Schultze, Bd. I, S. 373.
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16 Die Empirie von Bildungsprozessen
immer schon und unausweichlich präsent, alltäglich, im ‚Leben‘ selbst. Die damit zugleich implizierte These, dass „das Leben bildet“, hat die geisteswissenschaftliche Tradition geprägt und sich auch in anderen Theoriekontexten erhalten.54 Damit wird auch das scheinbar so schwierige Problem der Normativität entschärft; denn die These schließt ein, dass die in einer Gesellschaft regierenden normativen Prämissen des Handelns ihren Ort im „Konkreten“ besitzen, dass also die „Allgemeinheit der geistigen Grundnormen“, so formulierte z. B. schon Theodor Litt, „ihr Leben … nicht anders als in der Fülle des Konkreten“55 hat. Litts hegelianischer Hintergrund warnt auch schon genügend vor dem Missverständnis, hier würde einem Kult der Unmittelbarkeit oder der Apologie des Gegebenen das Wort geredet; denn ohne die je historisch individuelle Spezifik der Aneignung von Welt und die spezifischen Modalitäten der Wechselwirkung von Welt und Subjekt kann über die Verallgemeinerung des Subjekts und damit über das Normproblem gar nicht gesprochen werden. Entscheidend ist, dass gegen die These der nur metaphysisch oder präskriptiv oder allein kontrafaktisch präsenten Realität des „Allgemeinen“ oder der „Grundnormen“ ihre historische Realität behauptet wird, dass sie alltäglich und historisch im Leben präsent sind, als Herausforderung und Aufgabe. Wenn Bildungstheoretiker sich deshalb dagegen sperren, die Wirklichkeit des Aufwachsens als Prozess der Bildung zu interpretieren, negieren sie nicht nur Wirklichkeit, ihnen fehlt auch der Blick für die Leistungen der Subjekte, zu schweigen, dass sie hinter der Tradition zurückbleiben. Im Lichte solcher Referenzen erscheinen die ausufernden Kontroversen zwischen den empirischen Biografieforschern und den Bildungstheoretikern in einem anderen Licht. Biografische Analysen, so kann man die einschlägige Forschung zunächst nur lesen, rekonstruieren primär die Rationalität der Akteure, liefern nicht das Bild eines Lebens, das sich, gemessen an der Realisierung des „Allgemeinen“, dem Akteur als Fehler und Versagen vorrechnen lässt. Auch dann gibt es, wie die aktuelle Diskussion zeigt, selbst innerhalb der Biografieforschung noch genügend konzeptionelle und methodische Probleme und Varianten der Interpretation, die sich nicht einfach auf eine Lesart reduzieren lassen56 – „Individuum est ineffabile“ war ja auch eine
54Auch
für diese These gibt es verschiedene Varianten: Hartmut von Hentig: Bildung. Ein Essay. Stuttgart 1996, der Lerngelegenheiten im Lebenslauf studiert und z. B. Schulen nur als einen „Lernanlasss“ neben anderen – wie der Oper, der Bildungsreise, dem Theater – sieht; Hans Thiersch: Bildung. In: H.-U.Otto/H.Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. München 4. Aufl. 2011, S. 162–173, geht vom Begriff des ‚Alltags‘ aus, der jetzt auch, anders als früher, nicht mehr emphatisch überhöht wird; „lebensgeschichtliche Bildungsprozesse“ nimmt auch Günther Bittner, „ins Visier“ (S. 70), wenn er tiefenpsychologisch die Subjektkonstitution untersucht, vgl. G.B.: Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen. Eine Einführung in die pädagogische Aufgabe Stuttgart (usw.) 1996. 55Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen. (1927) Stuttgart 12. Aufl. 1965, S. 78. 56Koller/Wulftange (Hrsg.): Lebensgeschichte als Bildungsprozess? 2014 lassen ein autobiografisches Zeugnis, das Interview mit einem türkischen Migranten, aus insgesamt 12 Perspektiven interpretieren – und belegen neben der Kreativität der beteiligten Forscher und der legitimen Pluralität der Zugänge auch, dass sich für die je different normativ inspirierte bewertende Betrachtung dieser Biografie erwartbar kein Konsens finden lässt.
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
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klassische Einsicht. Aktuell werden hier erneut disziplinäre Differenzen angesichts eines gemeinsamen Themas sichtbar. Einerseits, orientiert an der „Biografizität“ des Lebenslaufs von historisch konkreten Subjekten wird, mit sehr vielfältigen Begriffen und theoretischen Referenzen, empirisch gleichermaßen in der Erziehungswissenschaft57 wie in der empirisch orientierten Bildungstheorie gearbeitet,58 intensiv und z. T. sehr viel früher bei Historikern,59 Sozialpsychologen oder Soziologen,60 selbst bei Theologen.61 Sie alle wollen, wie die Soziologen mit der „biografischen
57Dort
u. a.: Jutta Ecarius: Generation und Bildung. In: R. Tippelt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen 3. Aufl. 2010, S. 693–711; Peter Alheit/Bettina Dausien: Bildungsprozesse über die Lebensspanne, Zur Politik und Theorie lebenslangen Lernens. ebd., S. 713–734; HeinzHermann Krüger. Erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. In: B. Friebertshäuser/A. Langer/A. Prengel (Hrsg.). Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 3. vollst. überarb. Aufl. 2010, S. 43–55. 58Winfried Marotzki/Sandra Tiefel: Bildung. In: Fachlexikon Soziale Arbeit. Baden-Baden 72011, S. 117–120, zit. S. 118; vgl. auch die erweiterte Darstellung der Methode und die exemplarischen Analysen in Wilfried Marotzki: Bildungstheorie und allgemeine Biografieforschung. In: H.-H. Krüger/W. Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Opladen 1999, S. 57–68 (das ist auch der Titel auf den Marotzki/Tiefel 2011 verweisen, den das Literaturverzeichnis aber nicht nennt) oder die knappe Übersicht bei Winfried Marotzki: Qualitative Bildungsforschung – Methodologie und Methodik erziehungswissenschaftlicher Biografieforschung. In: Ludwig Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hrsg.). Bildungsphilosophie und Bildungsforschung. Bielefeld 2006, S. 125–137. Zur Nähe von philosophischer Bildungsreflexion und qualitativer empirischer Forschung auch die Beiträge in Ingrid Miethe/Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Opladen 2012. 59Vor allem im Kontext der zeithistorischen Forschung und der Nutzung von Methoden der oral history, erzählter Geschichte also, sind diese biografische Perspektive und die als „EgoDokumente“ bezeichneten Quellen intensiv genutzt worden, vgl. früh Lutz Niethammer (Hrsg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral History‘. Frankfurt a. M. 1980, eine Diskussion des Zugangs – auch zu Ehren von Alexander von Plato – im Sonderheft von BIOS 20(2007) sowie die retrospektiv angelegte Übersicht bei Thomas Etzemüller: Biografien. Lesen – erforschen – erzählen. Frankfurt a. M. 2012 (sowie dazu die weiterführende Rezension von Benedikt Brunner, H-Soz-U-Kult vom 29.09.2013), für die bildungstheoretische Rezeption und Diskussion von oral history und von Ego-Dokumenten u. a. Sonja Häder (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Weinheim/Basel 2004. 60Prominent v. a. Peter Alheit, dann aus der Fülle seiner Schriften u. a. P.A.: Biografizität als Projekt. Der „biografische Ansatz“ in der Erwachsenenbildung. Bremen 1990 (Forschungsschwerpunkt Arbeit und Bildung); sowie zu einer spezifischen Perspektive der Ästhetisierung der Lebenserfahrung auf der Basis autobiografischer Zeugnisse von Karl Philipp Moritz über Goethe bis zur Gegenwart ders./Morton Brandt: Autobiografie und ästhetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne. Frankfurt a. M./New York 2006. 61Katharina Karl: Biografieforschung als Weg der Theologie. In: Münchener Theologische Zeitschrift 64 (2013) 291–301. Die Autorin will damit der Theologie zeigen, „was der Einzelne der Forschung zu sagen hat“, und zwar vor allen „Modellen, Stereotypen oder ästhetischen Figuren“. Die Methode ist dann freilich auch wohl nur theologisch identifizierbar, wenn die „mystagogische Lesart den hermeneutischen Schlüssel zur Erschließung von Biografien darstellt.“ (zit. S. 291).
282
16 Die Empirie von Bildungsprozessen
Methode“ schon in der Zwischenkriegszeit,62 ihre Disziplin im Zugang zur Lebenswirklichkeit und für das Verständnis der Akteure verbessern. Die forschenden Beobachter kennen auch die Probleme der Bildungsreflexion und wählen z. B. nicht den historisch so problematischen Begriff des „Gebildeten“ als Formel für das Ergebnis von Bildungsprozessen, sondern gehen von der Konstruktion von „Identität“ aus – und müssen dann diese Begriffswahl rechtfertigen,63 schon weil Identität längst als „Fiktion“ destruiert wird.64 Andererseits zeigen sie damit zugleich, dass die Option für die „Biografie“ und das Subjekt im Forschungsprozess neben den Variationen im Zugang auch Schwierigkeiten bereithält, die für die Empirie der Rede von Bildung ebenfalls bedeutsam sind. Mit der Orientierung an Biografie, das spricht trotz aller Schwierigkeiten zuerst und am stärksten für diese Forschungsoption, wird ja systematisch versucht, der historischen Situation der Moderne gerecht zu werden, dass heute nicht mehr tradierte und fest gefügte Lebensformen – soziale Schichten und Klassen etwa – den Lebenslauf strukturieren und dabei auch die Form der Bildung hinreichend sichern und prägen, sondern „dass alle elementaren Lebensentscheidungen reflexiv an die Biografie rückgebunden werden und nur noch bedingt durch soziale Kontexte und Gemeinschaften aufgefangen und getragen werden.“65 Die Soziologie hat für diese neue Situation mit den Begriffen der „Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile“66 oder, aktuell, der „Singularitäten“67, auch schon zeitdiagnostisch bemühte Analysekonzepte vorgeschlagen, um die Strukturen zu verstehen, die jetzt „jenseits von Stand und Klasse“ die soziale Welt organisieren, das Leben der Individuen bestimmen und sie im Alltag herausfordern. Bildung wird damit zwar nicht als Begriff disziplinübergreifend bedeutsam, aber man erkennt in der Fülle der Analysen über die gesellschaftlich ermöglichte und je
62Die Arbeiten
der polnischen (dann in den USA arbeitenden) Soziologen William I. Thomas und Florian Znaniecki wären zu nennen. Einen knappen instruktiven Überblick zum „Paradigma“ und seinen Wandlungen gibt Bettina Dausien: „Biografieforschung“ – Reflexionen zu Anspruch und Wirkung eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas. In. BIOS 26 (2013), S. 163–176 sowie als Einführung in den Thementeil „Konzeptualisierungen des Biografischen“ dies./Andreas Hanses: Konzeptualisierungen des Biografischen – zur Aktualität biografiewissenschaftlicher Perspektiven in der Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)2, S. 159–171. 63Subtil und ertragreich diskutiert bei Peter Alheit: Identität oder „Biografizität“? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung. In: Birgit Griese (Hrsg.): Subjekt – Identität – Person? Wiesbaden. 2010, S. 219–249. 64So z. B. schon Annette M. Stross: Ich-Identität zwischen Fiktion und Konstruktion. Berlin 1991, für die weitere Diskussion Dorle Klika: Identität – ein überholtes Konzept? Kritische Anmerkungen zu aktuellen Diskursen außerhalb und innerhalb der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3 (2000)2, S. 285–304. 65Marotzki/Tiefel:
Bildung, 2011, zit. S. 118, auch für das folgende Zitat. Beck: Risikogesellschaft. Frankfurt a. M. 1986. 67Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. 66Ulrich
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
283
subjektiv erzeugte Form der Lebensführung die Breite der Themen wieder, die der Begriff im Ursprung seit dem späten 18. Jahrhundert bezeichnet hat. Orientiert am Begriff der Biografie wird zugleich eine Unterscheidung zur Praxis von Lebens(ver)laufsanalysen möglich, die in den Sozialwissenschaften inzwischen ebenfalls breit etabliert sind.68 Während diese sich an sozialen Strukturen orientieren, in der Regel auch Kollektivdaten, z. B. für Alterskohorten oder Generationen, generieren und nutzen, ist die Biografieforschung in den Methoden eher qualitativ, nicht selten narrativ, an Individuen und deren Praxis orientiert. Gemeinsam ist diesen Forschungsperspektiven aber, dass sie die Lebensspanne als einen Zeitraum interpretieren, der sich, wie in den Annahmen der Bildungstheorie, als eine Zeit verstehen lässt, in der sich Individuen gesellschaftlich und historisch unausweichlichen Herausforderungen, Krisen und Veränderungen konfrontiert sehen. Dominierend ist auch die Annahme, dass Biografien als sich selbst aufbauende Sequenzen verstanden werden können, also als „Prozesse“, von denen z. B. Norbert Elias spricht, wenn er „langfristigen und ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten und gerichteten Trends in der Entwicklung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen“ zu erklären versucht, und zwar jenseits von Geschichtsphilosophie und aller Teleologie.69 Als „Karrieren“ werden solche Phänomene innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie bezeichnet. Er will damit die Biografie samt aller „Diskontinuitäten synchroner und diachroner Art im Lebensweg des Menschen“ analytisch fassen, und zwar als die besondere „Sequenz“, die „zahlreichen systemspezifischen Karrieren“, z. B. im Beruf, zur Einheit bündelt und nicht per se, sondern in der Zuschreibung von Personen „mit positiven oder negativen Attributen“ z. B. im Blick auf Erfolg oder Mißerfolg verbunden werden.70 Der Gedanke der Selbstkonstruktion in Interaktion mit gesellschaftlichen Welten und in spezifischen Zeiten, so könnte man bildungstheoretisch anschließen, findet hier seine spezifische zeitliche Form. Die Gesamtheit dieser Erwartungen werden nicht zufällig als das gesellschaftlich erzeugte und alltäglich präsente Curriculum verstanden,71 das je individuell
68Zur Übersicht und für die Differenzen vgl. u. a. Simone Scherger: Lebensalter und Lebenslauf. In: Sabine Andresen u. a. (Hrsg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 2009, S. 532–546. 69Norbert Elias: Zur Grundlegung einer Theorie sozialer Prozesse. In: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977) 2, S. 127–149. 70Das wird u. a. diskutiert in Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979, S. 277–282, Zitate S. 277 f., 282. 71Die Annahme ist: „es gibt ein gesellschaftliches ‚Curriculum‘ für das individuelle Leben von der Geburt bis zum Tod, das in Gesetzen und Sanktionen, in Normen und Erwartungsstrukturen mehr oder weniger festgelegt ist, immer wieder neu ausgehandelt wird, sozial differenziert ist und sich historisch verändert.“ So Peter Alheit/Bettina Dausien: Bildungsprozesse über die Lebenspanne: Zur Politik und Theorie lebenslangen Lernens. In: R.Tippelt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. (2002) Opladen 3. Aufl. 2010, S. 713–734, zit. S. 723; vergleichbar wird der „Lebenslauf“ an anderer Stelle bestimmt als „Abfolge typischer, sozial definierter Zustände und Übergänge, die jeweils mit bestimmten Handlungserwartungen (Rollen) verknüpft“ sind, so Scherger, Lebensalter und Lebenslauf, 2009, S. 532).
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16 Die Empirie von Bildungsprozessen
und kontextabhängig72 bewältigt werden muss, in welcher Form und mit welchen Ergebnissen immer. Solche Herausforderungen werden in den Humanwissenschaften schon seit längerem theoretisch und empirisch bestimmt, in der Entwicklungspsychologie z. B., wenn „Entwicklungsaufgaben“ als eine Sequenz von Aufgaben diskutiert werden, „die in oder zumindest ungefähr zu einem bestimmten Lebensabschnitt des Individuums entstehen, deren erfolgreiche Bewältigung zu dessen Glück und Erfolg bei späteren Aufgaben führt, während ein Misslingen zu Unglücklichsein, zu Missbilligung durch die Gesellschaft und zu Schwierigkeiten mit einer späteren Aufgabe führt.“ Auch die „Entwicklungsaufgaben einer bestimmten Gruppe“ werden dabei in ihrer konkreten Gestalt nur historisch und aus der Wechselwirkung von Mensch und Welt erklärt, denn sie „haben ihren Ursprung in drei Quellen: (1) körperliche Entwicklung, (2) kultureller Druck (die Erwartungen der Gesellschaft), und (3) individuelle Wünsche und Werte.“73 – und man erkennt in diesem Resümee die fortdauernde Geltung der aus der Tradition der Bildungsreflexion und mit Pestalozzi bekannten systematischen Prämisse wieder, dass der Mensch angemessen nur als Produkt seiner ‚Natur‘, seines ‚Geschlechts‘ [das meint hier der Gesellschaft] und ‚seiner selbst‘ verstanden werden kann. Die je individuell konstruierte Biografie lässt sich daher als Form lesen, in der die Individuen diese Situation und die verschiedenen Erwartungen und Aufgaben bewältigen, ihre Rolle in der Welt bestimmen und zur eigenen Form von Identität konstruieren. Biografisch orientierte Bildungsforscher wiederum haben vor diesem Hintergrund die These formuliert, dass für diese Situation auch neue Kompetenzen gefordert sind, vor allem die „Kompetenz zur Biografizität“, die jetzt im Prozess erworben werden müsse und zum notwendigen Bestandteil von Bildung aller werden soll: „B.[ildung] integriert in diesem Sinne die Kompetenz zur Biografizität, welche es Menschen ermöglicht, ihr Leben flexibel an neue Gegebenheiten anzupassen, ohne sich selbst fremd zu werden.“ Das habe, so wird gleichzeitig behauptet, mit der „Wissensgesellschaft“ zu tun, in der wir gegenwärtig leben; denn „die Steigerung von Reflexivität und Biografizität“ sowie die „Flexibilitätssteigerung“ seien „Kernmerkmale“ einer Gesellschaft diesen
72Jochen
Kade/Sigrid Nolda: 1984/2009 – Bildungsbiografische Gegenwarten im Wandel von Kontextkonstellationen. In: Zeitschrift für Pädagogik 60(2014), S. 588–606 demonstrieren überzeugend die mit solchen Kontextkonstellationen erzeugte Varianz der Biografie wie der Narration. 73Meine Argumentation folgt dem prominenten Konzept, das Robert Havighurst früh präsentiert hat, hier zit. in der Übersetzung von E.Dreher/M.Dreher: Wahrnehmung und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: Fragen, Ergebnisse und Hypothesen zum Konzept einer Entwicklungs- und Pädagogischen Psychologie des Jugendalters. In: R. Oerter (Hrsg.): Lebensbewältigung im Jugendalter. Weinheim 1985, S. 30–61. Vergleichbar ansetzende Analysen finden sich bei Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Weinheim32003; als „Entwicklungsaufgaben“ für das Jugendalter nennt er u. a. „den Körper bewohnen, Umgang mit Sexualität lernen, Umbau der sozialen Beziehungen, Umgang mit Schule – Umbau der Leistungsbereitschaft im Jugendalter, Berufswahl, Bildung sowie Identitätsarbeit.“
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
285
Musters, „der Moderne“, mit dem – wie immer zu bewertenden – Effekt, „dass Menschen nicht mehr auf eine Selbst- und Welthaltung festgelegt sind, sondern ihre Teilidentitäten relativ unabhängig voneinander agieren können.“74 Es gehört zu dieser Form des Umgangs mit Welt, dass sie in der Moderne selbst beobachtet und erzählt, ja verschriftlicht wird, von den Akteuren und von den Beobachtern etwa in den Humanwissenschaften. Dabei werden auch nicht nur die Wissenschaften inspiriert, sondern eigene Gattungen von Erzählungen generiert, z. B. der Bildungsroman,75 und lebensweltlich wie wissenschaftlich Quellen eigener Art erzeugt, „Ego“-Dokumente, die sich in breiter Varianz76 und aus unterschiedlichen sozialen Kontexten als erzählte Geschichte erheben und finden lassen. Ja, es gibt sogar die These, dass Narration die Form ist, in der sich menschliche Identität am deutlichsten artikuliert. Denn „in Geschichten verstrickt“,77 so diese These in einer frühen Formulierung, leben, deuten und gestalten wir unser Leben. Nicht zufällig werden deshalb Theorien, auch der Erziehung, konstruiert, die schon vor der Konjunktur biografischer Forschung in der Bildungstheorie und in den Sozialwissenschaften von „Geschichten“ und der Erforschung von Biografien und zumal von Autobiografien aus argumentieren.78 Dabei wurden und werden in subtiler Methodik Prozesse des Aufwachsens in Gesellschaften
74Marotzki/Tiefel:
Bildung, 2011, zit. S. 118. konstantes Thema, aktuell und mit einem einleitenden Rückblick auf die lange Forschungsgeschichte der Gattung im Kontext der Feldtheorie von Pierre Bourdieu neu interpretiert in: Elisabeth Böhm/Katrin Dennerlein (Hrsg.): Der Bildungsroman im literarischen Feld. Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin/Boston 2016. 76Über die Vielfalt solcher Ego-Dokumente seit der Frühen Neuzeit vgl. für die ältere, literarische Tradition im Modus des „erinnernden Schreibens“ – und jetzt nicht etwa nur in Deutschland – als Form „der Selbstkonstruktion“ schon Jürgen Schlaeger: Das Ich als beschriebenes Blatt. Selbstverschriftlichung und Erinnerungsarbeit. In: Anselm Haverkamp/ Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993, S. 315–337 (Poetik und Hermeneutik XV), aus einem anderen Forschungskontext Kaspar von Greyerz/ Hans Medick/Patrice Veit (Hrsg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1859). Köln/Weimer/Wien 2001 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 9); für bildungstheoretische und quellenkritische Analysen von EgoDokumenten auch die Beiträge in Häder (Hrsg.), Bildungsgang, 2004. 77Formulierung und These stammen von Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (1950). Frankfurt a. M. 1953; zu Schapp, nach den frühen und immer noch lehrreichen Interpretationen von Hermann Lübbe, jetzt Karen Joisten (Hrsg.): Das Denken Wilhelm Schapps – Perspektive für unsere Zeit. Freiburg/München 2010. 78An Wilhelm Diltheys und Georg Mischs Beschäftigung mit der Autobiografie muss man erinnern, im pädagogischen Kontext früh Theodor Schulze: Autobiografie und Lebensgeschichte. In: Dieter Baacke/Theodor Schulze (Hrsg.): Aus Geschichten Lernen. Weinheim/München 1993, S. 126–173.; ders.: Das Allgemeine im Besonderen und das besondere Allgemeine. In: Inge Hansen-Schaberg (Hrsg.): „Etwas erzählen“. Die lebensgeschichtliche Dimension in der Pädagogik. Hohengehren 1997, S. 176–188. 75Ein
286
16 Die Empirie von Bildungsprozessen
rekonstruiert,79 die einzelnen Lebensalter bzw. Phasen80 in ihrer Charakteristik untersucht und selbst innerhalb der Erziehungswissenschaft ganz unterschiedlich interpretiert, als Bildungsprozess des Subjekts emphatisch, aber auch als Lebenslauf ganz alltäglich und selbst als Prozess, der auch „sein Mißlingen aushält“,81 schon weil die großen Erwartungen zu oft enttäuscht werden. Eine solche biografisch und narrativ orientierte Sichtweise findet auch lebensweltlich starke Stützen. In der jüngeren Vergangenheit wurde das noch einmal deutlich bewusst, als nach der Zäsur von 1989/1990 im Prozess der deutschen Einigung vor allem die Bewohner der damals sog. „neuen Bundesländer“ nicht allein ihren sozialen Ort neu definieren mussten, sondern auch gezwungen waren, ihren eigenen Lebenslauf über die Brüche der Gesellschaftssysteme hinweg so zu verstehen, dass sie ihre Identität sowohl thematisch konsistent als auch in eigener Zeitlichkeit zwischen Brüchen und Kontinuitäten bewahren konnten. „Ich will meine Biografie nicht verleugnen“,82 wurde dabei zu einem zentralen Topos der Selbstwahrnehmung und Selbstbehauptung, zumal gegenüber westdeutschen Beobachtern, die ohne Verständnis für die Realität der DDR waren. „Ich will doch nicht mein Leben wegwerfen“,83 so lautete eine der häufig gehörten trotzig-selbstbewussten Reaktionen. Sie wurden, aus der je individuellen Perspektive, auch aus guten Gründen vorgetragen, ging es doch darum, „den Ostdeutschen ihre Würde, ihr Selbstwertgefühl und ihre Biografie“84 zu erhalten. Die erzählte Biografie wird dabei offenkundig als die Form interpretiert, in der die personale Identität,
79Für
die Methodenfragen Charlotte Heinritz: Autobiografien als erziehungswissenschaftliche Quellentexte. In: Barbara Friebertshäuser/Antje Langer/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 3. vollst. überarb. Aufl. 2010, S. 397–411. 80Lebensalter und ihre Sequenz werden seit langem unterschieden und sind auch ikonografisch, z. B. als auf- und absteigende Treppe, sehr gut präsent. Für eine biografische Erziehungstheorie und die – extensive! – Unterscheidung von insgesamt 22 [! – H.-E.T.] Stufen bis zum Tode vgl. Werner Loch: Lebenslauf und Erziehung. Essen 1979 sowie als Übersicht zu Lochs Theorie Marc Fabian Buck: Werner Loch – ein später Nachruf. In: Mitteilungsblatt des Förderkreises BBF e. V., Berlin 23(2012/13)1, S. 16–32 sowie ausführlich ders: Einführung in die biografische Erziehungstheorie Werner Lochs. Norderstedt 2012. 81Das findet sich bei einem der Schüler von Werner Loch, bei Klaus Prange: Pädagogik als Erfahrungsprozeß. III. Die Pathologie der Erfahrung Stuttgart 1981. Prange bezieht das an dieser Stelle zwar zuerst auf die unvermeidbaren Erfahrungen des Pädagogen, aber die Analysen in Bd. II seines Werkes – K.P.: Die Epochen der Erfahrung. Stuttgart 1979 – erlauben die Generalisierung, dass die Erfahrung der Grenze und des Misslingens zu den alltäglichen Erfahrungen im Lebenslauf gehört. 82So wird die in Befragungen artikulierte Position Berliner Künstlerinnen und Künstler resümiert bei Gerlinde Förster: Ich will meine Biografie nicht verleugnen. In: Berliner Journal für Soziologie 2 (1992)1, S. 113–118. 83Das findet sich bei dem Schriftsteller Stefan Heym in Die Zeit, 06.12.1991. 84Das Diktum stammt von Gregor Gysi: Letzte Ausfahrt Sozialismus. Wenn ich 1985 das Steuer in die Hand bekommen hätte. In: Kursbuch 111, Berlin 1993, S. 149–155, zit. S. 154.
16.2 Biografien – Lebensläufe – Bildungsgeschichten
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„Würde“ und „Selbstwertgefühl“, zur Einheit gebracht werden und Anerkennung verlangen. Aber, auch das zeigt die jüngste Vergangenheit, das ist eine prekäre Einheitsform, auf die man hier zurückgreift. Sie findet nicht immer die geforderte Anerkennung bei allen Beteiligten und kann sie schon angesichts der Differenz der Biografien vor und nach 1989/1990 auch nicht ganz einfach und konsistent finden.85 1989 z. B. reklamierten solche Anerkennung für ihre Biografie ehemalige Stasi-Mitarbeiter genauso wie die Opfer der SED-Diktatur. Legitimationsprobleme sind deshalb auch eng mit dem biografischen Argument verbunden und sie werden z. B. in Situationen der Belastetheit, wie beim Stasi-Informanten, mit dem Verweis auf historische Zwänge bearbeitet oder mit dem schwierigen, weil im Stasi-Kontext kaum zu plausibilisierenden86 Argument gerechtfertigt, dass man ja ‚niemandem geschadet‘ hätte. Lebensläufe haben also ihre eigene Ambivalenz, biografische Konstruktionen nicht selten ihre eigenen Schwächen, ja sie gründen sich gelegentlich nur auf Lebenslügen bzw. tradieren sie und überliefern nichts als (individuell vielleicht notwendige und erklärbare) Täuschungen und Selbsttäuschungen. So selbstverständlich es deshalb sein mag, dass man die eigene Identität in der biografischen Konstruktion erzeugt und bewahrt und so eindeutig der Lebenslauf „das natürliche Gefäß“ sein mag, „in dem wir unsere Erfahrungen machen“, so selbstverständlich muss auch bewusst bleiben: „Das Gefäß ist zerbrechlich.“87 Alexander Kluge, der immer neu „Lebensläufe“ erzählt, erzählt deshalb auch immer neu Lebensläufe als „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“. Gleichzeitig beginnt er seine „Chronik der Gefühle“ mit „Basisgeschichten“ und die erste gilt dem Thema der Lebenszeit, mit „Geschichten über das Eigentum, das jeder Mensch besitzt“. Es sind dann „seine Lebenszeit“ und „sein Eigensinn“,88 die 85Die
Erinnerung, die stark variierenden Erzählstrategien eingeschlossen, wird selbst zum Thema der Beobachtung vgl. Martin Sabrow u. a. (Hrsg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte. Bonn 2007 sowie, für ein spezifisches Exempel, Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiografie. Berlin 2002. 86Zur Kritik dieses Arguments für einen konkreten Kontext u. a. Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Humboldt-Universität zu Berlin und das Ministerium für Staatssicherheit. In: Konrad H. Jarausch u. a. Sozialistisches Experiment und Erneuerung in der Demokratie – die Humboldt-Universität zu Berlin 1945–2010. Berlin 2012, S. 437–553, bes. S. 506 ff. (Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810 bis 2010, Bd. 3). 87Alexander Kluge: Chronik der Gefühle, Bd. II, Frankfurt a. M. 2000 in seiner Ankündigung zu den Texten über „Lebensläufe“ (zit. S. 5); nicht zufällig folgen sogleich Geschichten über „Lernprozesse mit tödlichem Ausgang“. Kluge nimmt zugleich ältere Analysen über „Geschichte und Eigensinn“ (mit O. Negt) auf. 88Diese Perspektive der Betrachtung hat über Negt und Kluge hinaus Karriere gemacht, vgl. jüngst, auch zur Rehabilitierung des Phänomens gegen eine vermeintlich aus poststrukturalistischer Subjektkritik naheliegende Kritik von Annahmen über die Widerständigkeit des Subjekts, jetzt Christine Thon: Biografischer Eigensinn – wiederständige Subjekte? Subjekttheoretische Perspektiven in der Biografieforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 62(2016)2, S. 185–198.
288
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jeder Mensch zuerst besitzt. Aber Kluge weiß und sagt auch, als der realistische Bildungstheoretiker, der er ist: „Die Zeit ist nicht gutmütig.“89 Wenn man also Lebensläufe und Biografien als Bildungsgeschichten rekonstruiert, nicht nur literarisch, sondern mit systematischem Anspruch, wie das im Folgenden an Exempla geschehen soll, ist es ratsam, sich dieser Referenzen und Probleme zu erinnern, die von der „Biografizität“ der je individuellen Lebensgeschichten aufgeworfen werden.
16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik – Zur Auswahl der Exempel Die im Folgenden präsentierten und diskutierten Exempel für Bildungsprozesse im Lebenslauf sollen im Blick auf historische Formen von Selbstkonstruktionen nicht etwa die „biografische Illusion“90 nähren oder Bilder einer vermeintlich zu findenden Autarkie des Subjekts in der Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte suggerieren. Leitend ist zwar die Absicht, Formen der individuellen oder kollektiven Selbstkonstruktion – also genuine Bildungsprozesse – zu entdecken, und sie vor allem dort zu zeigen, wo sie gemäß der herrschenden Kritik des Aufwachsens in der Erziehungsgesellschaft nicht mehr identifizierbar sind, aber Illusionen von Selbstbestimmung sollen damit nicht genährt werden. Von Autarkie wird deshalb auch nicht die Rede sein, von Autonomie vielleicht schon, wenn man sie, wie es allein angemessen ist und auch in der Tradition des pädagogischen Autonomiebegriffs lange regierte,91 als Selbständigkeit in der Abhängigkeit versteht, d. h. als Bildung des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt. „Illusionen von Autonomie“92 werden heute selbst im reformpädagogischen Milieu nicht mehr propagiert, zu schweigen davon, dass die Erziehungsphilosophie längst ein sehr differenziertes Verständnis von Autonomie entwickelt hat.93 Die Welten jedenfalls, aus denen die Exempla stammen, repräsentieren
89Kluge,
Chronik, Bd. I, S. 5, S. 10 ff., S. 125 für das hier abschließende Zitat. kritisiert bekanntlich Pierre Bourdieu: Die biografische Illusion. In: Bios 1 (1990)1, S. 75–86 und dort auch die Kommentare: zustimmend Eckard Liebau: Laufbahn oder Biografie. (S. 83–89), abwehrend: Lutz Niethammer: Kommentar (S. 91–93). 91Heinz-Elmar Tenorth: Autonomie, pädagogische. In: D. Benner/J. Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, S. 106–125. 92Käte Meyer-Drawe: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990. 93Einen exzellenten Überblick über die Phasen und Ergebnisse der internationalen philosophischen Thematisierung des Begriffs gibt jetzt Johannes Giesinger: Autonomie. In: G.Weiß/J. Zirfas (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Wiesbaden 2020, S. 235–244. 90Die
16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik …
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bewusst das alltäglich erwartbare gesellschaftliche Curriculum, deshalb auch Orte und Phasen im Lebenslauf, die meist als Exempla für Pädagogisierung und Entsubjektivierung gelesen werden, kaum als empirische Bestätigung für Prozesse, die den Subjekten als eigene Konstruktion ihrer historischen Form von Identität zurechenbar sind. Bildungsprozesse werden daher auch nicht dort gesucht, wo die historischen Akteure den Gehalten, Themen oder Werten der „hohen Kultur“ oder der klassischen „Bildungsgüter“ folgen, die in bestimmten Theorien als einzig legitimer Ausdruck von Bildung gesehen werden. Die hier zu diskutierenden Orte und Phasen im Lebenslauf können deshalb aber als Prüfstein für die Frage dienen, welche alltäglich erwartbare Wirklichkeit den Annahmen über Bildung als Selbstkonstruktion im Lebenslauf heute zukommt. Das ist keine Konstruktion in ungezügelter Freiheit, aber doch ein Handeln, das den Individuen und Kollektiven zurechenbar ist, auch wenn es nicht immer oder gar vollständig aus freien Stücken geschieht (um an Marx‘ historische Anthropologie zu erinnern). Auch „Individualisierung“ als Signatur der Moderne beschreibt ja keine Privilegierung des Subjekts, sondern eine soziale Struktur, die sich als Herausforderung jenseits alter Freiheiten oder Gewissheiten präsentiert. Gleichzeitig soll gegen (die mit Marx) naheliegende ideologiekritische Perspektive auch nicht die Fiktion genährt werden, es gäbe die Möglichkeit einer historisch wahren Biografie und eine einzig legitime Form der Konstruktion von Identität. Zu den leitenden Annahmen der Interpretation zählt vielmehr die Differenz und auch die Konkurrenz von Selbstwahrnehmung und Fremdbeschreibung, auch die Annahme der Pluralität von Lebensgeschichten und der nicht per se illegitimen Vielfalt von Entwürfen der je eigenen Konstruktion von Identität, eingeschlossen eine Vielfalt von Perspektiven der nachgehenden Beobachter solcher Bildungsgeschichten. Schon Pädagogen sehen Anderes und anders als Soziologen oder Historiker. Auch wenn die Qualifizierung der dominierenden Methode als „praxeologisch“ heute einen disziplinübergreifenden Konsens signalisieren mag, sorgt sie im Ergebnis doch eher für eine offene Vielfalt von Geschichten, in denen die Bildung des Selbst erzählt wird.94 Weder der Bildungshistoriker noch der in systematischer Absicht beobachtende Bildungstheoretiker können angesichts der Historisierung der Modi der Subjektivierung heute noch die Rolle eines Zensors einnehmen, der das Verhalten der historischen Subjekte an einem vermeintlich überzeitlich
94Disziplinübergreifend
z. B. die Beiträge in Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hrsg.). Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013; dort erläutert einer der Herausgeber das Methodenproblem, vgl. Thomas Alkemeyer: Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik. Ebd., S. 33–68, aber es gibt auch die geschichtswissenschaftliche Komplementärstudie: Nikolaus Buschmann: Persönlichkeit und geschichtliche Welt. Zur praxeologischen Konzeptualisierung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft. S. 125–150.
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gültigen und situationstranszendenten Maßstab misst und dann die Individuen verurteilt, wenn sie sich anders verhalten.95 Die leitende Annahme ist vielmehr, dass es historisch und gesellschaftlich zu einer Aufgabe der Individuen wird, ihren Lebenslauf und seine Herausforderungen zu bewältigen, auch kriterial orientiert, an historisch und gesellschaftlich präsenten sowie eigenen, biografisch entwickelten und begründbaren Maßstäben. Mit solchen sparsamen Prämissen sind die Exempel ausgewählt worden. Sie sollen wesentliche Etappen des Lebenslaufs markieren, Bildungswelten, in denen vermeintlich Selbstkonstruktion am wenigsten erwartbar ist, weil der pädagogisierende Zugriff auf die Realität des Aufwachsens und die Kritik der Lebensformen der Heranwachsenden noch dominiert und gerechtfertigt erscheint, oder solche Lebensformen, die vermeintlich eindeutig als Praxis von Entfremdung gelten, wie das Aufwachsen in Armut oder in Erfahrungswelten, die als Orte der Unbildung beschrieben werden, wie das für die Schule aktuell geschieht. Die durchgehende Frage ist, ob diese bekannten Muster der Beschreibung und Kritik zutreffen. Die zu belegende These sowohl für den Prozess als auch für das Ergebnis der hier zu diskutierenden Exempla der Selbstkonstruktion der Individuen in modernen Gesellschaften ist, dass sie als Bildungsprozesse verstanden werden können, ja, schärfer noch, dass sie als Prozesse der Selbstkonstruktion überhaupt erst angemessen verständlich werden. Das vermeintlich Selbstverständliche und Triviale, die alltägliche Tatsache des Aufwachsens in Gesellschaften, erweist sich als das an sich Unerwartete, Staunenswerte, Überraschende, als eine Leistung der immer neu in die Welt eintretenden kleinen „Barbaren“ (Parsons), sich in dieser Welt zu behaupten. Diese Leistung kann man nur angemessen erklären, wenn man diesen Prozess nicht aus der Perspektive einer von außen – pädagogisch, milieuhaft, systemisch – gesteuerten Konstruktion betrachtet, sondern zuerst und primär als Prozess der Selbstkonstruktion beobachtet und im Ergebnis verständlich macht, freilich nur in Wechselwirkung mit der Welt, nicht als autarke Konstruktion neben der Welt. Die Forschung über den Menschen, das hat die Diskussion der Kontroversen in den Humanwissenschaften schon nahegelegt, hat sich in ihren leitenden Untersuchungskonzepten diesem Gedanken zunehmend verpflichtet, ohne die inspirierenden Wurzeln dieser Idee im modernen Bildungsdenken noch zu sehen. In der Präsentation der Exempel kommt es mir darauf an, diese systematische These empirisch zu plausibilisieren, gerade dort, wo man
95In frühen Analysen von autobiografischen Texten zur NS-Zeit wurde so verfahren, z. B. bei Martin Klaus: Mädchenerziehung zur Zeit der faschistischen Herrschaft in Deutschland – Der Bund deutscher Mädel. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1983. Er konnte in der Analyse von BDMErfahrungen und Wirkungen nur „Scheinidentitäten“ identifizieren, brachte sich mit dieser vorab normativ fixierten Analyse aber um die Erkenntnis der komplexen Modalitäten von Selbstkonstruktion unter Bedingungen der Diktatur; vgl. die Hinweise zur aktuellen Forschung in Heinz-Elmar Tenorth: Widerstand und Opportunismus, Normative Distanzierung und analytische Ratlosigkeit. Erziehungswissenschaft angesichts von Bildung und Erziehung in Diktaturen. In: C. Crotti/P. Gonon/W. Herzog (Hrsg.): Pädagogik und Politik. Historische und aktuelle Perspektiven. Bern/Stuttgart/Wien 2007, S. 131–149.
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ihre Plausibilität nicht vermutet oder, wie bei zahlreichen pädagogischen Interventionen, nicht eingestehen will. Die systematische Prämisse heißt deshalb auch: Bildung, als Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, ist zunächst ein so unausweichlicher wie alltäglicher Prozess, empirisch fassbar in den Praktiken, in denen sich die Individuen Welt aneignen und Welt gestalten. Stark individualisiert, wie man die Bildungstheoretiker erinnern muss, sind diese Praktiken und Prozesse auch in den Produkten weder vollständig antizipierbar noch steuerbar, sondern relativ ergebnisoffen. Das heißt zugleich, dass sie auch zu irritierenden Ergebnissen führen können, ameliorierend wie demeliorierend, zum Guten wie zum Bösen, auch zu unerwarteten Ergebnissen, wie man jüngst noch, zugespitzt, lesen konnte: „Mit ironischer Pünktlichkeit führt jede neue Bildungsanstrengung dazu, das bestehende Denk- und Wertesystem zu verwirren, aufzusprengen, und in ungeahnte Richtungen zu erweitern. Insofern ist Bildung anarchisch – wie die Liebe und wie die Freiheit.“96 Anarchisch, das klingt gut, aber man muss nicht die Prämissen vorab teilen, die mit dieser Diagnose verbunden werden. Denn man kann weder vorab sicher sein, dass „eben dieser Prozess … echte Werte nicht (schädigt)“, noch, weil die alte Annahme immer noch gelte (die die Autoren etwas mutig Humboldt zuschreiben), „dass der so Gebildete seine Autonomie aus eigenstem Antrieb in den Dienst des Guten stellen werde.“97 Historisch belehrt, nicht zuletzt durch das politische Verhalten der akademisch gebildeten deutschen Eliten z. B. um 1933, wird im Folgenden jedenfalls nicht die These von der Einheit des Wahren, Guten und Schönen zugrunde gelegt. Die Analysen sind eher von Kant inspiriert und seiner Prämisse, dass allein die Gattung, und die auch nur im glücklichen Fall, nicht aber die Individuen die Bestimmung des Menschen in Vollkommenheit realisieren. Kant formulierte zwar als „Prinzip der Erziehungskunst“ in seiner Pädagogik „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich bessern Zustande des menschlichen Geschlechts, das ist: Der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen, erzogen werden.“98 Allerdings vermutete er – in seinen „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ – auch schon, dass nur die „Menschheit“ die Erfüllung solcher Erwartungen sichern kann: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in
96Michael
Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure. Stuttgart/Weimar 2011, Einleitung der Herausgeber zum Abschnitt „VII. Tugenden, Werte, Ziele“, zit. S. 343, auch für das folgende Zitat, und sie fahren fort: „Sie reizt dazu, Autoritäten zu hinterfragen, zu vergleichen, zu bezweifeln, der Kritik auszusetzen, sich vorzustellen, wie die Welt ohne sie aussähe, kurz: das zu tun, was der Doktrinär zutiefst fürchtet und verabscheut.“ – und auch das kann man leider nicht immer als Ergebnis der Selbstkonstruktion erwarten. 97Maaser/Walther, ebd., Einleitung, S. XI–XV, zit. S. XIII. 98Immanuel Kant: Über Pädagogik. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 10, S. 704 (A 17).
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der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“99 Das Individuum dagegen bleibt für ihn „aus krummem Holz“100 geschnitzt. Kant sieht zugleich, paradox genug und für die auf Individualität und ihre Autonomie zentrierten Denker vielleicht unerwartet, aber als Nahrung gegen die Verzweiflung dennoch brauchbar, in der „ungeselligen Geselligkeit“, d. h. in der „Neigung, sich zu vergesellschaften“, „das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen“.101 Dabei unterscheidet er aber immer sorgfältig die „Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat“, von der „Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie“. Letztere will er keineswegs „verdrängen“, erwartet vielmehr, dass auch „ein philosophischer Kopf“, der in weltbürgerlicher Absicht denkt, „sehr geschichtskundig sein müßte“.102 Empirie zählt also auch hier, nicht allein die Prinzipienlehre. Exemplarische Bildungsprozesse zeigen erst, wie Individuen sich bilden und ob es dafür Anerkennung gibt. Diese Ereignisse, zwingende Anlässe für Bildung, das wird allerdings unterstellt, haben ihre eigene Qualität, eine vielgestaltige, ambivalente, in sich widersprüchliche und gerade deshalb als Herausforderung für die Selbstkonstruktion geeignete Gestalt, weil sie zur immer neuen Überprüfung der bereits erworbenen Muster der Konstruktion des Selbst nötigen. Sie zwingen das Subjekt zu eigenem Verhalten und Handeln, gleich ob als Änderung oder Bestätigung der eigenen Verhaltensmuster, herausgefordert durch die Vielfalt der Erfahrungen, die sich nicht systematisch vorab nach Positivität oder Negativität sortieren lassen, wie es die Pädagogen gelegentlich versuchen,103 wenn sie Erfahrungen qualifizieren,
99Kant,
Ideen, Zweiter Satz, hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 9, S. 31–50 (A 385– 411). 100Kant, Ideen, 6. Satz: „aus so krummem Holze, woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts gerades gezimmert werden“, S. 41 (A 397). 101Kant, ebd., 4. Satz, S. 37 (A 392). 102Kant, ebd., S. 49 f. (A 411). 103Über die „Negativität“ und ihre Rolle in Bildungsprozessen gibt es eine lange, m. E. im Ergebnis wenig produktive Diskussion, schon weil die „Negation“ der Welt nicht von der enttäuschenden, ‚negativen‘ Erfahrung im Umgang mit Welt präzise unterschieden wird und auch das Gegenbild, gar „Positivität“, nur normativ bestimmt bleibt, vgl. nur Lutz Koch: Bildung und Negativität. Grundzüge einer negativen Bildungstheorie. Weinheim 1995; Dietrich Benner (Hrsg.). Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim/Basel 2005. Zur Kritik schon Patrick Bühler: Negativität und Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 54(2008), S. 740–756, der nicht zufällig in einer Rekonstruktion des Gedankens seit Sokrates die immanente Widersprüchlichkeit dieser Kategorie zeigen kann. Arnd-Michael Nohl/Florian von Rosenberg/Sarah Thomsen: Bildung, Negation und Lernen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 91(2015), S. 1–13 erläutern die Spannweite dieser begrifflich-theoretischen Optionen noch einmal eher affirmativ als Einleitung zu einer Diskussion der „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“, die innerhalb der Görres-Gesellschaft 2014 stattgefunden hat – und die im Ergebnis die Vielfalt erweitert, ohne sie theoretisch stringent zu ordnen. Schließlich, es gibt offenbar auch Verfallsformen von Negativität, die sich zumindest kategorial erzeugen lassen, vgl. u. a. Alfred Schäfer: Domestizierte Negativität. Anmerkungen zur Bildungstheorie Günther Bucks. In: Sabrina Schenk/Torben Pauls (Hrsg.): Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014, S. 55–72.
16.3 Bildungsprozesse und Bildungswelten in ihrer Eigenlogik …
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die Individuen machen (sollen), damit Bildungsprozesse in spezifischer Qualität möglich werden,104 oder Welten qualifizieren, die als neu oder anders oder problematisch oder belastend erlebt werden, um „Transformation“ zu ermöglichen, wie es vermeintlich erst Bildungsprozesse ausmacht.105 Meine Ausgangsthese ist dagegen, dass zumindest Lernprozesse, und d. h. Verhaltensänderungen, immer stattfinden, weil man ja auch lernt, wenn man scheinbar nicht lernt.106 Bildung als Umgang mit Welt im Lebenslauf bedeutet je subjektiv also unausweichlich und notwendig einen Transformationsprozess, Wandlung, Veränderung,107 wahrscheinlich oft auch als „‚unordentliche‘ Wandlungsprozesse“108 erfahrbar oder beobachtbar, gleich ob spontan
104In phänomenologisch orientierten Theorien wird viel Sorgfalt auf die Entfaltung eines Begriffs der „Erfahrung“ und ihrer nicht allein kognitiven Modalitäten verwendet, der als geeignet erscheint, die spezifisch gewünschten Ergebnisse im Umgang mit Welt zuverlässig zu erzeugen und zu erklären, vgl. als reflektiertes Muster solcher Anstrengungen z. B. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. München 2. Aufl. 2012. Daran überzeugt aber eher der begriffstechnische Aufwand als die Bereitschaft, diese Konstruktionen der Bewährung in einer empirischen Forschung auch jenseits kluger Kasuistik auszusetzen. 105Hans-Christoph Koller diskutiert am Exempel des „Neuen“ die Differenzen in der Qualifizierung der Vielfalt von Erfahrung, mit der man offenkundig zu rechnen hat, vgl. H.C.-K.: Zur Entstehung des Neuen in Bildungsprozessen. Bemerkungen zur hermeneutischen Bildungstheorie Günther Bucks. In: Sabrina Schenk/Torben Pauls (Hrsg.): Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014, S. 75–90 – und hält zu Recht als Ergebnis fest, dass eine Theorie, die solche Phänomene „der Negativität, Differenz, Bruch und Andersheit“ angemessen konzeptualisiert, „ein Desiderat bildungstheoretischer Reflexion“ darstellt (S. 90). Seine eigene Theorie der „transformatorischen Bildungsprozesse“ bietet er erstaunlicher Weise nicht als eine Lösung an. 106Das gilt auch schulbezogen, vgl. Jürgen Diederich: Was lernt man, wenn man nicht lernt? Etwas Didaktik „jenseits von Gut und Böse“ (Nietzsche). Berlin Humboldt-Universität, 1996, dort S. 8 f. die Kritik an der Bildungstheorie, die das Umlernen emphatisch stilisiert und das alltägliche Lernen in seiner basalen Bedeutung und Leistung verkennt. 107Vgl. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, 1990; Koller: Bildung in der (Post-)Moderne, 2000, ders.: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart 2012; ders.: Bildung und Biografie. Probleme und Perspektiven bildungstheoretisch orientierter Biografieforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 62 (2016) 2, S. 184. 108An diese Schmuddeligkeit des Alltags und die Strategien der Akteure im Umgang mit ihrer Wirklichkeit erinnert – gegen hohe Erwartungen mancher Pädagogen höchst ernüchternd-nützlich – Fritz Schütze: Hintergrundkonstruktionen, „unordentliche“ Wandlungsprozesse und innovatorische Gestaltungen in der transnational-politischen Pädagogik. In: Anne Schippling/ Cathleen Grunert/Nicolle Pfaff (Hrsg.): Kritische Bildungsforschung. Standortbestimmungen und Gegenstandsfelder. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich 2016, S. 399–424.
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veranlasst109 oder institutionell und dann regelhaft provoziert, erwartbar oder nicht, dauerhaft oder temporär, als Krise erfahren oder nicht, schon weil Ereignisse ohne Zuschreibung nicht per se Krisencharakter haben. Man muss also nicht erst verzweifelt nach Ereignissen oder Welten mit ‚transformatorischer‘ Qualität suchen, wie das in der biografieorientierten Bildungsforschung z. T. geschieht, um sich über den Aufweis der auch als erwünscht gut qualifizierbaren ‚Transformationen‘ gegenüber normativ fixierten Theoretikern zu rechtfertigen und wahre Bildung von Nicht-Bildung unterscheiden zu können. Aber diesen Beweis- und Unterscheidungszwang muss man nicht teilen. Bildungspraxis, das ist im Folgenden vielmehr die leitende Annahme, hat auch heute noch, ganz alltäglich und unausweichlich, eine Qualität, wie sie schon Platon im Höhlengleichnis beschrieben hat.110 Sie ereignet sich als Zumutung und Herausforderung durch die Welt und sie wird, oft genug, als Leiden an der Welt erfahren. Eine weitere, erwartbare Dimension der Selbstkonstruktion hat schon Goethe in „Dichtung und Wahrheit“, nach dem Vorwort und als Motto zum ersten Teil dieser Selbst-Biografie, als erwartbare Form des alltäglichen Umgangs mit Welt präzise beschrieben: „der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen“.111 Allein Bilder schöner Welten sind biografisch nicht zu erwarten.
109Für
diese Qualifizierung von Bildungsanlässen Arnd-Michael Nohl: Bildung und Spontaneität: Phasen biografischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen 2006 – allerdings (und wohl eher unfreiwillig) auch als Beleg für die Schwierigkeit, „spontan“ entstehende Bildungsprozesse präzise von anderen, anlassbezogenen und extern initiierten oder informellen, zu unterscheiden. Allein ein Kriterium ist scharf, das freilich für alle Bildungsprozesse gilt: „Die Spontaneität der Bildungsprozesse entzieht sich jedoch der pädagogischen Initiierung und Intervention.“ – (hier zit. nach der Selbstbeschreibung des Autors in: http://www.hsu-hh.de/systpaed/index_69E31Myy8VgYz0fJ. html – 24.09.2013), vgl. auch ders.: Die Bildsamkeit spontanen Handelns. Phasen biografischer Wandlungsprozesse in unterschiedlichen Lernaltern. In: Zeitschrift für Pädagogik 52(2006), S. 91–107. 110Vgl. Platon, Höhlengleichnis (Politeia, 514 ff.), u. a. 515c für die „Schmerzen“ des Höhlenbewohners angesichts des Lichts [der Erkenntnis], das er plötzlich sieht, für die Fluchtreaktion, die wahrscheinlich ist, und für Bildung, paideia, als „Kunst der Umlenkung“ (518d) und als eine „Umlenkung der Seele“ (521 c), in: Platon, Werke, hrsg. von Eigler, Darmstadt 1971, Bd. 4, in der Übersetzung von Schleiermacher. 111Dort natürlich griechisch: „ό μή δαρείς άνθρωπος ού παιδεύεται“.
Kapitel 17
Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang
17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling: Bildsamkeit als Naturprämisse Die Bedeutung und Geltung der Zuschreibungen, die sich für Bildungsprozesse bei Goethe wie Platon gleichermaßen finden, bewahrheiten sich schon in und mit der Geburt, sicht- und hörbar u. a. in der eigenartigen, durchaus interpretationsfähigen Artikulation des Neugeborenen: „Das Geschrei, welches ein kaum geborenes Kind hören läßt, hat nicht den Ton des Jammerns, sondern der Entrüstung und aufgebrachten Zorns an sich; nicht weil ihm etwas schmerzt, sondern weil ihm etwas verdrießt: vermutlich darum, weil es sich bewegen will und sein Unvermögen dazu gleich als eine Fesselung fühlt, wodurch ihm die Freiheit genommen wird.“1 Kants hier aus der pragmatischen Anthropologie (und dem Kapitel zum „Charakter des Geschlechts“) zitierte Beobachtungen und Vermutungen werden bei ihm durch Tier-Mensch-Vergleiche weitergeführt (und in ihren teleologischen Spekulationen kann man das hier auf sich beruhen lassen). Aber Kant öffnet den Blick auf ein „kaum geborenes Kind“, dem er selbst schon Gefühle zuschreibt und spezifische, offenbar dem Alter und der Situation angemessene Formen der Kommunikation, z. B. „Geschrei“. Kant sieht auch Muster der Selbstwahrnehmung, zwischen „Fesselung“ und „Freiheit“, die höchst überraschend sind. Standardbilder des hilflosen, von den Eltern nur abhängigen, zur Kommunikation unfähigen kleinen Kindes werden jedenfalls von Kant nicht bestätigt oder gar erzeugt. Ist das ein Indiz für falsche philosophische Spekulationen des kinderlosen Philosophen, der fern der Realität Beschreibungsbegriffe für das Kind benutzt, die ihm noch gar nicht angemessen sind, oder ein
1Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. (1798). hrsg. von R. Brandt, Hamburg 2000, S. 265, Anm. 1.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_17
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17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang
früher und bedeutungsvoller Anstoß, das Kind von Geburt an anders zu sehen, nämlich als selbstständigen Akteur in den Grenzen der Natur? Unser Bild vom Kind und seinen Möglichkeiten, das ist selbstverständlich auch hier die erste Botschaft, ist offenbar selbst historisch. Kindheit existiert nur in ihrer Geschichte und auch unser Bild des Kindes speist sich aus tradierten Annahmen der medizinischen und anthropologischen Forschung, aber auch aus Alltagserfahrungen. Diese Bilder unterliegen nun gerade in jüngerer Zeit einem radikalen Wandel.2 Während vor 30/40 Jahren noch das Bild des hilflosabhängigen Säuglings dominierte, noch vor 40 Jahren selbst kluge Bildungsphilosophen vom ‚dummen ersten halben Jahr‘ sprachen, ist das Bild heute vollständig anders. Es stützt jetzt sowohl die klassischen bildungstheoretischen Annahmen über die Selbstkonstruktion als den für den Menschen spezifischen Modus des Zugangs zur Welt und es bestätigt, nicht zu vergessen, auch die immer neuen und ganz alltäglichen Überraschungen und Entdeckungen, die junge Eltern angesichts ihrer kleinen Kinder und deren erstaunlichen Leistungen machen und die in der Forschung nicht immer ernst genommen wurden. Ging man zuvor davon aus, insbesondere in den psychoanalytischen Theoriekonzepten, z. B. in der These vom primärer Narzissmus bei Freud oder vom infantilen Autismus bei Mahler, dass der Säugling (zumal in den ersten drei Monaten bis zu einem halben Jahr) ein passives, gänzlich abhängiges, symbiotisch mit der ersten Bezugsperson verschmolzenes, sich selbst nicht als abgegrenzt erlebendes und mit seiner Umwelt nicht interagierendes und kommunizierendes Wesen ist, so hat sich die Sicht auf den Säugling aufgrund systematischer Säuglingsbeobachtungen und qualifizierter Experimente radikal gewandelt. „Der Säugling erscheint nun als aktiv, differenziert und beziehungsfähig, als Wesen mit Fähigkeiten und Gefühlen, die weit über das hinausgehen, was die Psychoanalyse bis vor kurzem für möglich und wichtig gehalten hat. Als Kurzcharakterisierung hat sich die Rede vom ‚kompetenten Säugling‘ … eingebürgert.“3 Nicht nur die Psychoanalyse hat dabei theoretisch und methodisch gelernt, auch die
2Die
folgenden Passagen zur Säuglingsforschung hätten ohne Nicole Welters Hilfe bei der Erschließung der Literatur und ohne ihre textlichen Vorgaben, die ich nutzen durfte, nicht geschrieben werden können – ohne dass ich sie jetzt mit meiner Lesart dieser Texte und meinen Fehlern belasten will. Aber das Vertrauen in diese Literatur wäre auch nicht so stark gewesen, hätte mich das Erlebnis unserer Enkel in den letzten Jahren (und die schon ältere Erinnerung an unsere Töchter) nicht davon überzeugt, dass die Theorie endlich sieht, was die Kinder immer schon konnten und Eltern staunend wahrgenommen haben. 3Martin Dornes: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M. 1993/2001, S. 21; er beruft sich dabei intensiv auf die Arbeiten von L. Stone (et al.), vgl. u. a.: Stone, L. J./Smith, H. T./Murphy, L. B. (Hrsg.).: The competent infant. Research and Commentary. London: Tavistock 1974 sowie Stone, L.J./Church, L.: Kindheit und Jugend. Einführung in die Entwicklungspsychologie. Stuttgart 1978.
17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …
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ntwicklungspsychologie – und es sind Modelle der Wechselwirkung des E Menschen mit seiner ganz konkreten, nahen Welt,4 die dabei bekräftigt werden. Diese bildungstheoretischen Denkformen, jetzt vor allem die Annahme der Bildsamkeit des Menschen, helfen gleichzeitig auch, ein deutliches Verständnis der Kompetenzzuschreibung zu gewinnen, die der Psychoanalytiker macht. „Kompetent“, im Sinne der bereits gelungenen Beherrschung aller Fähigkeiten zum Umgang mit Welt, ist der Säugling ja noch nicht. Aber er ist mit dem Eintritt in die Welt offenbar fähig, den Prozess der eigenen Entwicklung aktiv mit zu gestalten, denn er besitzt Kompetenzkompetenz, die Fähigkeiten, Kompetenzen auszubilden, wie es die Tradition im Bildsamkeitsbegriff erwartet und unterstellt hat. Das Bild des „kompetenten Säuglings“ beschreibt tatsächlich ein selbstaktives, sich in Wechselwirkung mit der Welt konstruierendes Wesen: „Viele Interaktionen werden vom Säugling eingeleitet, ihr Verlauf wird von ihm kontrolliert und reguliert, und auch die Beendigung wird von beiden Partnern in äußerst subtiler Weise ausgehandelt.“5 Man kann dafür durchaus Vorstellungen von der Konstruktion des ‚Selbst‘ verwenden, in Phasen, die durch die dabei erworbenen je differenten Kompetenzdimensionen unterscheidbar sind. Innerhalb der psychoanalytisch orientierten Kindheitsforschung sind die Annahmen und Befunde dieser Forschungen auch so resümiert worden, dass der Anschluss an die Tradition der Reflexion über Bildung unmittelbar einsichtig wird. Im engen Anschluss an die die einschlägigen Arbeiten von Martin Dornes und Marianne Leuzinger-Bohleber können deshalb auch im Folgenden die Phasen der kindlichen Entwicklung und ihr Ergebnis, der Aufbau eines „Selbst“, als Bildungsprozess beschrieben werden. Gestützt auf die Kindheitsforschung und aufgrund von Untersuchungen der Entwicklung des Selbstempfindens und des Objektempfindens werden dabei vier Stadien unterschieden.6 Diese vier Stadien beschreiben die Selbstentwicklung in der Zeit von der Geburt bis ca. zum achtzehnten Monat.7 Das Selbstempfinden ist von großer Bedeutung, denn es „ist der zentrale Bezugspunkt und das organisierende Prinzip, aus dem heraus der Säugling sich selbst und die Welt erfährt und ordnet.“8 Diese Selbstentwicklung ist ein komplexer Prozess, bei dem biologische Reifungsprozesse und Beziehungs- sowie
4Ute Ziegenhain/Gabriele Gloger-Tippelt: Bindung und Handlungssteuerung als frühe emotionale und kognitive Voraussetzungen von Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 59(2013), S. 793–02, bes. S. 795 für die Bedeutung von Interaktion. 5Ingrid Seiffge-Krenke: Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Beziehungen: Herausforderungen Ressourcen Risiken. Berlin/Heidelberg 2004, S. 23. 6Dornes, Der kompetente Säugling, 1993/2001, S. 7. 7Die Darstellung der Phasen folgt, in großen Teilen auch wörtlich, weil ich im Grunde auch nur paraphrasieren kann, den folgenden Arbeiten: Dornes 1993/2001, S. 80–81; ders: Die emotionale Welt des Kindes, Frankfurt a. M. 22011, S. 180 ff. sowie Marianne Leuzinger-Bohleber: Frühe Kindheit als Schicksal? Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration. Psychoanalytische Perspektiven. Stuttgart 2009, S. 102–108. 8Dornes 1993/2001, S. 79.
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Umwelterfahrungen sich wechselseitig beeinflussen, erkennbar in eindeutigen Stadien: 1. Stadium des auftauchenden Selbst und emergentes Selbst- und Objektempfinden9 Säuglinge stellen durch angeborene Fähigkeiten und durch Lernen Verbindungen von verschiedenen Ereignissen her. Ein erstes Gefühl von Regelmäßigkeit und Geordnetheit entsteht. Es besteht kein Reizchaos, diese Phase ist wesentlich für die Ordnung von Empfindungen und Wahrnehmungen. „Die Welt und das Selbstempfinden sind deshalb nicht undifferenziert oder durcheinander. Sie sind von besonderer Ordnung.“ Für die Interaktionen mit dem Säugling sind die Fähigkeiten der Bezugspersonen, vor allem die mütterliche Feinfühligkeit, den Säugling als Anderen wahrzunehmen, von entscheidender Bedeutung. 2. Stadium des Kern-Selbst Der „sense of a core-self“ entwickelt sich im Alter von zwei bis neun Monaten. Erste Erfahrung von Selbstwirkung bzw. -wirksamkeit, von Selbstkohärenz, von Selbst-Affektivität und Selbst-Erinnerung und Geschichte werden möglich. Entscheidend ist, dass sich der Säugling als „separates Individuum“ erlebt. „Dieses Gefühl der primären Separation/Individuation“ nennt Stern „Self-versus-other“. Das Gefühl des Miteinanders nennt er „self-with-other“. „Verschmelzungserfahrungen“ scheinen demnach über die episodischen Erinnerungen konstruiert zu werden und das Produkt von aktiven, kreativen inneren Prozessen des Säuglings zu sein. In dieser Phase entsteht ein basales Selbstgefühl, bei dem sich die Vorstellung eines kohärenten Körpers und des Gefühls eigener Handlungen auch manifestiert in Differenz und Abgrenzung zu den Handlungen anderer, die am Kind durchgeführt werden. Die Selbstwirkung erlebt der Säugling einerseits über die Erfahrung, dass er zunehmend seinen Körper willentlich bewegen kann und andererseits v. a. in den Interaktionen und im Spiel, in denen er merkt, dass er aufgrund seines Handelns Reaktionen hervorrufen kann. Selbstkohärenz bedeutet dabei, dass der Säugling sich „als Einheit mit Grenzen und einem Ort mit integrierten Handlungen erlebt. Er kann sich selbst und den anderen als getrennte, eigenständige Einheiten wahrnehmen. Der Säugling hat ein Gefühl von Kontinuität der Geschichte seines Selbst.“ Und weiter: „Er kann sich verändern, während er sich selbst als gleichbleibend erlebt.“10 Leuzinger-Bohleber weist darauf hin, dass die Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, Kohärenz, Affektivität und Kontinuität im episodischen Gedächtnis eingeprägt werden. Sie enthalten affektive und sensomotorische Elemente, auch als erwartbare Abläufe. Diese Erfahrungen werden generalisiert und prägen die
9Vgl. „sense of emergent self“ Dornes 1993/2001, S. 80 und ff., danach auch insgesamt die hier in meiner Paraphrase folgenden Hinweise, S. 87 für das folgende Zitat. 10Leuzinger-Bohleber 2009, S. 104.
17.1 Selbstkonstruktion im Ursprung – der kompetente Säugling …
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Erwartungen an das Selbst und die Anderen. Sie spielen auch eine große Rolle bei der kognitiven Entwicklung und insbesondere bei der Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses.11 Insbesondere die Entwicklung eines KernSelbst in den ersten neun Monaten verweist auf verblüffende Kompetenzen, auf präreflexive Autonomie und auf die Aktivität des Säuglings. 3. Stadium des subjektiven Selbst Der „sense of a subjective self“ entsteht zwischen dem siebten bis neunten Lebensmonat und dem fünfzehnten und achtzehnten Lebensmonat. „Der Säugling entdeckt, dass seine subjektiven Erfahrungen mit anderen geteilt werden können und entwickelt dadurch die Fähigkeit zur „ Inter-Affektivität“.“12 Diese Phase markiert den Beginn der Intersubjektivität in einem engeren Sinne. Diese setzt auch voraus, dass das Kind merkt, dass es andere `Psychen` mit Meinungen, Affekten usw. gibt, die anders sind als es selbst. Diese Phase wird von LeuzingerBohleber als Prozess „von der Interaktion zur Beziehung“ bezeichnet. Für die Entwicklung dieser Fähigkeiten sind bestimmte emotionale Handlungen der Bezugspersonen, wie das Spiegeln („mirroring“), die Resonanz, das „affect matching (der emotionalen Übereinstimmung)“ in der Interaktion mit dem Säugling nötig. Affect matching bedeutet z. B., dass die ersten Bezugspersonen auf die emotionalen Ausdrücke des Säuglings mit Anpassung reagieren und diese feinfühlig auf das Kind abgestimmt, aber amodal ‚ausdrücken‘, z. B. durch die Anpassung der Stimme an den emotionalen Bedarf des Kindes. Die ‚Mutter‘ [bzw. ihr funktionales Äquivalent] stellt sich demnach auf die Qualität des Gefühls des Säuglings ein und nicht primär auf dessen Verhalten. Durch die Einstimmung der Mutter auf ihr Kind entsteht eine „interpersonelle Kommunikation“.13 Insgesamt gilt für die ersten Bezugspersonen, dass sie emotional verfügbar sind („emotional availibility“). 4. Das Stadium des sprachlichen, des narrativen Selbst Dieses Stadium hat seinen Beginn ab dem fünfzehnten bis achtzehnten Lebensmonat. Kleinkinder nehmen nun deutlich wahr, dass sie über eigene Erfahrungen und persönliches Wissen verfügen, und beginnen dieses zu kommunizieren. Sie beginnen mit der systematischen Verwendung eines Symbolsystems. „Es gibt jetzt nicht mehr nur Gefühle und gemeinsame subjektive Zustände, sondern gemeinsames und symbolisch kommuniziertes Wissen um dieselben.“14 Diese Prozesse markieren den Beginn der symbolisch vermittelten Kommunikation über Wissensinhalte, die gemeinsam möglich und geteilt wird und dennoch in den konkreten Inhalten persönlich differiert. In dieser Entwicklungszeit entsteht eine Vorstellung des „objektiven Selbst“.15 Ein berühmtes Indiz liefert der „Rouge-Test“, bei dem man Kindern einen Fleck
11Leuzinger-Bohleber
2009, S. 105. 2009, S. 105. 13Leuzinger-Bohleber 2009, S. 105. 14Dornes 1993/2001, S. 81. 15Leuzinger-Bohleber 2009, S. 106. 12Leuzinger-Bohleber
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ins Gesicht malt und sie sich anschließend selbst vor dem Spiegel betrachten lässt. In diesem Alter sind die Kinder bemüht sich den Fleck im Gesicht zu entfernen oder den Fleck im Gesicht zu berühren, was den Hinweis ergibt, dass die Kinder sich nun selbst erkennen. Das Kind kann sich nun von „außen“ sehen und die anderen zunehmend von „innen“. Empathie ist jetzt nicht mehr nur reaktiv oder präreflexiv, sondern sie wird reflexiv. Leuzinger-Bohleber verweist auf die Ambivalenz dieser Phase für das Kind. „Denn die amodale, präreflexive Verständigung mit den Primärobjekten verliert sich zunehmend. Sie erleben sich als stärker getrennt von ihnen.“ Dies könnte Trauerreaktionen auslösen, auch wenn sie stolz auf ihre sprachlichen Kompetenzen seien. Vor diesem Hintergrund lässt sich jetzt auch die Frage resümieren, wie Bildungsprozesse möglich sind. Ganz offenkundig sind es Praktiken, die in der Kommunikation mit der Umwelt des Säuglings präsent sind, sprachliche, emotionale, gestische, körperbezogene, pflegerische, die zusammen eine komplexe Interaktion darstellen und strukturieren und dem Säugling ermöglichen, sich als kompetentes Wesen zu erfahren und weiter zu bilden. Nicht nur der Säugling, auch die Theoretiker haben also gelernt: Die Bedeutung der frühen Kontaktaufnahme des Säuglings und der feinfühligen, adäquaten Reaktionen seiner sozialen Umwelt und damit einer gelungenen Interaktion spielten zwar schon in früheren Konzepten und Theorien eine zentrale Rolle, sind aber jetzt unbestritten in ihrer unersetzlichen Bedeutung anerkannt. Die beiden besonders einflussreichen theoretischen Konzepte sind das psychoanalytisch begründete Modell der Entwicklung von Ich-Identität von Erik Erikson, das insbesondere in den ersten beiden Phasen auf die besondere Bedeutung der frühen Beziehung des Säuglings zur Entwicklung von Urvertrauen und Autonomie hinweist; die zweite relevante Theorie liegt mit der international besonders bedeutsam gewordenen Bindungstheorie vor, die die spezifischen Mutter-Kind-Interaktionen in ihren Konsequenzen für den jeweils entwickelten Bindungstypus herausgearbeitet hat. Das Konzept des Urvertrauens von Erikson,16 die erste wesentliche Referenz, kann man als Beschreibung einer spezifischen emotionalen Komponente und präreflexiven Gestimmtheit auffassen. Sie wird durch die Interaktion mit der primären Bezugsperson und ihrer sichernden, umsorgenden, aber auch antwortenden Reaktionen hervorgerufen bzw. bestätigt, die für das Erlernen dieser grundlegenden Haltung gegenüber der Welt von großer Bedeutung sind. Das Urvertrauen beeinflusst auch den Aneignungsprozess des Subjekts dauerhaft, d. h. es strukturiert einerseits die Abhängigkeit des Säuglings von der ihn umgebenden sozialen Umwelt, prägt aber zugleich auch die Aktivität des Säuglings in der Beziehungsbewertung und in den Konsequenzen, die er zwar präreflexiv, aber dennoch selbst vollzieht.
16Im Folgenden paraphrasiere ich Arbeiten von Erik H. Erikson, u. a.: Kindheit und Gesellschaft. 12. Aufl., Stuttgart [1950] 1995, bes. S. 241/242, sowie E.H.E.: Identität und Lebenszyklus. (1959) Frankfurt 1998, zit. u. a. S. 62, 52, 78 f. – und er arbeitet ja im Rückgriff auf ältere Studien von René Spitz.
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Versteht man, in Anlehnung an die Bildungstheorie, Urvertrauen oder Urmisstrauen als Modi des Weltzugangs und folgt man Luhmann mit der Einschätzung, dass Vertrauen (und Misstrauen als funktionales Äquivalent) eine Reduktion von Komplexität darstellt und erzeugt,17 dann kann man sagen, dass sich das Subjekt aus seinen ersten Erfahrungen heraus eine Schablone zur Bewältigung von Welt konstruiert und seinen Bildungszugang aktiv und konstruktiv in Kommunikation mit seiner ersten sozialen Umwelt schematisiert. „Der allgemeine Zustand des Vertrauens bedeutet außerdem nicht nur, daß man gelernt hat, sich auf die Gleichwertigkeit und die Dauer der äußeren Versorger zu verlassen, sondern auch, daß man sich selbst und der Fähigkeit der eigenen Organe trauen kann, mit dringenden Bedürfnissen fertig zu werden, und daß man imstande ist, sich selbst als vertrauenswürdig genug zu empfinden, so daß die Versorger nicht auf der Hut sein müssen, durch beißenden Zugriff festgehalten zu werden.“18 Erikson betont zugleich, dass das Vertrauen, das sich auf die Bezugspersonen bezieht, zugleich in den Bezugspersonen die Gesellschaft repräsentiert. „Ich glaube, daß die Mutter in dem Kinde dieses Vertrauensgefühl durch eine Pflege erweckt, die ihrer Qualität nach mit der einfühlenden Befriedigung der individuellen Bedürfnisse des Kindes zugleich auch ein starkes Gefühl von persönlicher Zuverlässigkeit innerhalb des wohlerprobten Rahmens des Lebensstils in der betreffenden Kultur vermittelt.“ Die auf die jeweiligen Lebens- und Reifungsalter bezogenen Krisen führen zu Grundhaltungen, die binär kodiert und dennoch als zwei mögliche Präsenzen verstanden werden können. Das bedeutet, dass zwar aufgrund der frühkindlichen Erfahrung eine Haltung des Vertrauens entwickelt wurde, aber dennoch aufgrund neuer Erfahrungen sich das Urvertrauen gegen Misstrauensgefühle durchsetzen muss. Die gefühlten Grundhaltungen, von denen Erikson spricht, stellen zugleich „Weisen des Erfahrens“, „Weisen des Verhaltens“ und „unbewußte innere Zustände“ dar. In der zweiten Phase, die Erikson ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ansiedelt, entsteht eine zweite für die Betrachtungen der Selbstkonstruktion des Subjekts bedeutende Selbsthaltung, die alternative Grundhaltung von Autonomie versus Scham und Zweifel. „Aus seiner Empfindung der Selbstbeherrschung ohne Verlust des Selbstgefühls entsteht ein dauerndes Gefühl von Autonomie und Stolz; aus einer Empfindung muskulären und analen Unvermögens, aus dem Verlust der
17Niklas
Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. (1968) 4. Aufl., Stuttgart 2000, S. 9, zu einführenden Orientierung über dieses Buch vgl. André Kieserling: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. (1968). In: Oliver Jahraus u. a. (Hrsg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2012, S. 140–144. In der pädagogisch-psychologischen Diskussion wurde dieses Buch Luhmanns erst vergleichsweise spät rezipiert, vgl. das Themenheft 6/2012 der Zeitschrift für Pädagogik: „Vertrauen als pädagogische Grundkategorie“ und dort die Einführung von Melanie Faber-Lamla und Nicole Welter. 18Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus. (1950) Frankfurt a. M. 1995, S. 242, S. 243 für das folgende, S. 245 für das nächste Zitat.
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Selbstkontrolle und dem übermäßigen Eingreifen der Eltern entsteht ein dauerhaftes Gefühl von Zweifel und Scham.“19 Diese beiden frühen Phasen belegen zwei zentrale Modi für die Bedingungen der Möglichkeit einer gelungenen aktiven und selbsttätigen Auseinandersetzung mit Selbst und Welt. Doch auch wenn jeweils die gegenteilige Selbst- und Welthaltung aufgrund früher Erfahrungen gewählt wird, ist der Säugling bzw. das Kleinkind Akteur der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten seiner Umwelt. Die Eriksonsche Einteilung ist grundsätzlich zwar hilfreich, aber in den individuellen Modifikationen stark vereinfachend. Sehr viel überzeugender für das Verständnis der frühkindlichen Entwicklung im Einzelnen sind aktuell die Annahmen und Ergebnisse der Bindungsforschung. Sie hat sich seit den 60er Jahren gegen anfängliche Widerstände als Forschungsrichtung etabliert und begonnen, die Psychoanalyse mit der Entwicklungspsychologie zu verbinden. John Bowlby gilt dafür als Pionier. Er war einer der ersten, der den Säugling in seinen frühen sozialen Interaktionen gesehen und anerkannt hat und daraus die Bedeutung einer sicheren Mutter-Kind-Bindung ableitet.20 Die Bindungstheorie sieht eine enge Verbindung zwischen der Sicherheit, die aus der eine Nähe herstellenden Bindung des Kindes zu seinen Bezugspersonen entsteht, und dem daraus resultierenden Mut, seine Umwelt zu erkunden (Explorationsverhalten). Berühmt ist der „Fremde-Situations“-Test von Ainsworth u. a. zur Messung des kindlichen Bindungsverhaltens geworden. Es handelt sich um eine Laborbeobachtung, bei der Mütter mit ihren zwölf bis vierundzwanzig Monate alten Kindern einer systematischen Abfolge von Trennungssituationen ausgesetzt werden und das Verhalten der Kinder in der Trennungssituation sowie in der Situation der Wiedervereinigung mit der Mutter untersucht wird. Dabei wurden ursprünglich drei, inzwischen durch neue Tests vier Bindungstypen unterschieden. Die Gruppe der sicher gebundenen Kinder, die Gruppe der unsicher gebundenen Kinder, die sich in den Typus der unsicher vermeidenden und den unsicher ambivalenten Typus differenzieren lassen und als vierter, später hinzugekommener Typus, die desorganisierte Bindungsorganisation.21 Übergreifende Kriterien für die Bindungsqualität scheinen die Feinfühligkeit der primären Bezugsperson und prompte und adäquate Reaktion in Bezug auf die Bedürfnisse des Säuglings zu sein.22
19Erikson
[1966] 1998, S. 78/79. 2004, S. 56, Dornes, Emotionale Welt, 2001, S. 50–53; auch Gloger-Tippelt 2013, passim. Auch hier gilt, dass ich intensiv nutze und paraphrasiere. 21Seiffge-Krenke 2004, S. 73, Dornes, op. cit. 22Die erweiternde These, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Selbstvertrauen, Vertrauen in Beziehungen und Vertrauen in die soziale Umwelt als eine Einstellung und dem jeweils in der frühen Kindheit entwickelten Bindungstyps gibt, vertritt und belegt Marina Zulauf-Logoz unter anderem in ihrer Studie an Züricher Kindern, vgl. dies: Bindung, Vertrauen und Selbstvertrauen. In: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), S. 784–798. 20Seiffge-Krenke
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Auch wenn die Diskussion um den kompetenten Säugling, insbesondere um seine Selbst- und Weltwahrnehmungsfähigkeit in den ersten drei Monaten noch nicht abgeklungen zu sein scheint, so lässt sich dennoch dreierlei zeigen: Erstens der Säugling ist von Geburt an aktiv, zweitens verfügt er über Sinnesmodalitäten und Verbindungen, die ihm komplexe Erlebnisse ermöglichen, und drittens befindet er sich in sozialen Beziehungen, von denen er abhängt, die er aber zugleich mitgestaltet und für sich und seine Entwicklung produktiv nutzt. Die These der Selbstkonstruktion und des Selbstbildungsprozesses des Säuglings sowie die Bedingungen einer durch Vertrauen geprägten, Bindung bietenden und Autonomie gewährenden sozial feinfühligen Umwelt, die dem Säugling und dem Kleinkind den nötigen selbstkonstruktiven Individuierungs- und Vergesellschaftungsprozess ermöglicht und ihn unterstützt, erscheint also sehr wohl haltbar. Die Säuglings und Kleinkindforschung der letzten 30–40 Jahre23 hat insofern das neue Bild eines „kompetenten“, d. h. von Beginn an aktiven Säuglings und Kleinkinds gezeichnet, dabei die unverkennbare Eigenaktivität des Kindes demonstriert und auf Formen der Interaktion im Familiensystem und auf Praktiken des Weltzugangs hingewiesen, die zeigen, was Bildung schon im Ursprung bedeutet. Nicht zufällig können Sozialisationsforscher, die sich der Analysen von Kindheiten nähern, ihren Leitbegriff des Menschen als eines „produktiven Realitätsverarbeiters“ schon hier verwenden.24 Innerhalb der Sozialisationsforschung sind an anderer Stelle, im Umfeld der Theorie von Ulrich Oevermann, die sozialen Bedingungen näher beschrieben und analysiert worden, die sichern und zu verstehen helfen, warum und wie man die „Struktur der sozialisatorischen Interaktion“ systematisch und auch jenseits der Kindheit als einen Ort der Konstruktion und des Erwerbs grundlegender Kompetenzen beschreiben kann.25 In der Vergleichbarkeit der Bestimmungen, die hier bereits im Blick auf Bindungstheorie oder psychoanalytische Forschung dargestellt wurden, wird ein Konsens der relevanten Theorien sichtbar, der es erlaubt, Bildungsprozesse im frühen Kindesalter als Prozesse des Erwerbs grundlegender, den weiteren Lern- und Lebensprozess strukturierender Qualität zu
23Eine
schöne Übersicht über wesentliche Dimensionen dieser Forschung liefert Kurt Kreppner: Eltern-Kind-Beziehung: Forschungsbefunde. In: W.E.Fthenakis/M.R.Textor (Hrsg.): Das OnlineFamilien-Handbuch: www.familienhandbuch.de. München: Staatsinstitut für Frühpädagogik (zuletzt eingesehen 22.09.2013). Für den gesamten Forschungskomplex der frühkindlichen Sozialisation werden wesentliche Ergebnisse der Forschung auch in einer Stellungnahme von Leopoldina und acatech zusammengefasst (womit zugleich die gesellschaftliche Bedeutung des Themas symbolisiert wird): Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina/acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.): Frühkindliche Sozialisation. Biologische, psychologische, linguistische soziologische und ökonomische Perspektiven. Halle/Berlin 2014. 24Klaus Hurrelmann/Heidrun Bründel: Kindheitsforschung. Weinheim/Basel/Berlin 22003, bes. S. 39 ff.: „Das Kind als produktiver Verarbeiter der Realität.“ 25Ich nutze hier dankbar die Beschreibung und Analyse bei Hans-Josef Wagner: Krise und Sozialisation. Strukturale Sozialisationstheorie II. Frankfurt a. M. 2004, bes. S. 44 ff., die folgenden Zitatnachweise in Klammern im Text.
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v erstehen, und zwar als einen Prozess der Selbstkonstruktion in Interaktion. Man sieht diese Vergleichbarkeit der Theorieprämissen, wenn man die bei Oevermann und in seiner Nachfolge herausgearbeiteten „objektiven Struktureigenschaften der sozialisatorischen Interaktion“ betrachtet. Zuerst wird hier i) die „latente Sinnstruktur“ benannt, die Tatsache also, „daß Kinder Handlungen und Äußerungen erzeugen, deren objektiver Sinn ihre Absicht, Intentionalität und ihr Bewußtsein weit übersteigt“, z. B. in der sprachlichen Kommunikation,26 die aber die Voraussetzung dafür sind, dass Kompetenzen erworben werden, allerdings unter der Bedingung, dass „die stellvertretende Deutung der Eltern oder anderer Bezugspersonen“ (47) hinzukommt, die den Sinngehalt explizieren und so kommunizieren, dass Kompetenzerwerb möglich wird. Insofern ist ii) „die konkrete Eltern-Kind-Beziehung grundlegend“, die es überhaupt möglich macht, dass „ein universalistisches, in Begriffen des Allgemeinen denkfähiges Bewusstsein und autonom handlungsfähiges Subjekt im Kontext partikularistischer, diffuser und affektiv strukturierter Sozialbeziehungen hervorgebracht wird.“27 Damit dieser Prozess „in Gang gesetzt wird“ sind iii) „die Motive, Erwartungen und Intentionen des Erziehungspersonals … Voraussetzung“, aber allein nicht hinreichend. Sie erzeugen in der Interaktion vielmehr eine Wirklichkeit eigener Art, eine emergente Realität, in der sich die objektiven Sinnstrukturen zur Geltung bringen. Nicht allein das Geschrei des Kindes (Kant), um ein Beispiel zu geben, beherrscht dann die Situation, sondern die Fähigkeiten der Eltern, diesem Geschrei Sinn zu unterlegen und den intendierten Sinn zu deuten, z. B. als die Artikulation von Hunger und Durst oder als Erwartung der Zuwendung oder der Pflege, z. B. bei nassen Windeln (usw.), so dass das Kind in dieser Situation seine eigenen kommunikativen Akte als sinnerfüllt erlebt und entsprechende Erwartungen ausbildet. „Die stellvertretende Deutung der Eltern bzw. des Erziehungspersonals“ iv), das ist die vierte Eigenschaft, „spielt“ insofern „eine überaus wichtige Rolle“, in der Funktion der „reichhaltigen Interpretation von Interaktionsszenen“, gestützt durch die emotionale Bindung von Kind und Eltern. Wesentlich v) für diesen Prozess ist dabei, dass das Kind gleichzeitig „Erfahrungen“ macht, „auf ihnen wird Unbekanntes abgespeichert, archiviert und sukzessive … in Bekanntes überführt.“ Oevermann definiert vor diesem Hintergrund vi) schließlich was für ihn „Lernen“ bedeutet: „die zunehmende subjektiv-intentionale Realisierung von Lesarten der latenten Sinnstruktur von Interaktionen“, und zwar so, dass die zunächst nur subjektive und die zugleich präsente objektive Sinnstruktur zur Einheit bzw. Annäherung kommen, entwicklungsspezifisch, aber natürlich nicht gegen „pathologisch restringierende Faktoren“ gefeit. Risikolagen sind nicht zufällig ein zentrales Thema der Entwicklungspsychologie. Dieser gesamte Prozess ist selbstverständlich vii) nicht
26Oevermann hatte seine Theorie schon früh u. a. als Kritik der These von der sog. „schichtspezifischen Sozialisation“ und Sprache entwickelt und gegen die dort dominierenden Defizitannahmen den Aspekt des grundlegenden Kompetenzerwerbs herausgearbeitet. 27So zitiert Wagner, S. 48, eine Kernthese Oevermanns.
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„statisch“ zu verstehen, auch können pathologische Restriktionen von den Eltern und ihren Fähigkeiten und Bereitschaften zur stellvertretenden Deutung ausgehen viii); denn man lokalisiert die Sinnstrukturen ix) in den „Dimensionen des Bewußten und Unbewußten“ zugleich und sie setzen x) als „notwendiges Komplement psychische Strukturen“28 voraus und erzeugen ihrerseits relativ stabile, z. B. eher optimistische oder eher pessimistische, Muster von Erwartungen an sich selbst im Umgang mit Welt. Wie immer die Theoriereferenzen auch aussehen, die hier zwischen kompetenztheoretischen und entwicklungspsychologischen Annahmen genutzt werden, z. T. auch neuropsychologisch gestützt, im Blick auf die Interaktionen im frühen Kindesalter wird nicht nur das Bild des kompetenten Säuglings verständlich, sondern auch die Annahme, dass damit ein sich selbst aufbauender und stützender Prozess des weiteren Erwerbs und des lernenden Umgangs mit Welt seine Grundlegung findet. Hier werden im klassischen Sinne Bildungsprozesse expliziert, basierend auf Mechanismen, die Selbstkonstruktion sowohl darstellen als auch weiterhin möglich machen, und zwar nicht in einer selbstverständlichen und in sich unproblematischen Sequenz von Lebensereignissen, sondern angesichts von Krisen29 und Herausforderungen, denen sich der Mensch in seiner Biografie unausweichlich konfrontiert sieht und die er bewältigen muss. Im Blick auf die dann wartenden Herausforderungen lässt sich zeigen und diskutieren, wie die Prozesse der Bildung des Subjekts sich weiter entfalten und ob die Prämisse der Selbstkonstruktion signifikant und erklärend bleibt.
17.2 Bildung in der Schule oder trotz der Schule? – Outcome-orientierte vs. bildungstheoretische Analyse Die erste gravierende, für alle Menschen vergleichbare und unausweichliche, weil gesellschaftlich erzwungene und rechtlich auch durchgesetzte Zäsur in der Bildungsbiografie von Heranwachsenden stellt in westlichen, ‚modernen‘, Gesellschaften die Ablösung von der Familie und der Eintritt in die Schule dar. Als Pflichtschule organisiert, d. h. im Kontext eines staatlich verordneten Schul- bzw. Unterrichtszwangs eingeführt, ist die Schule tatsächlich eine der „erziehenden Gewalten“,30 in denen sich Gesellschaft und Staat mit eindeutigen Ansprüchen den Individuen und ihren Milieus gegenüber als objektive Macht etablieren, unausweichlich zumal dann, wenn noch, wie aktuell in der Bundesrepublik, alle Formen
28Wagner,
S. 54. nennt „vier zentrale ontogenetische Ablösungskrisen“: Schwangerschaft und Geburt, Mutter-Kind-Symbiose, ödipale Triade, Adoleszenzkrise. 30Wilhelm Flitner: Macht in der Erziehung. (1965). In: W.F.: Grundlegende Geistesbildung. Heidelberg 1965, S. 166–175. 29Wagner
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des familiär kontrollierten home schooling höchstrichterlich ausgeschlossen werden.31 Bildungstheoretiker und Erziehungsphilosophen sehen deshalb früh, schon mit Beginn der umfassenden staatlichen Intervention in das Bildungswesen und den Lebenslauf, dass Erziehung „unter öffentlicher Mitwirkung“32 sich nicht von selbst versteht, sondern der Rechtfertigung im Blick auf die Individuen bedarf. Mag dabei für die Schulmänner des 19. Jahrhunderts unstrittig gewesen sein, dass öffentliche Erziehung „sittlich erlaubt“33 ist, die Frage stellt sich bis heute immer wieder neu. Noch aktuell wird die öffentliche Schule nicht allein und immer als eine positiv zu bewertende Bildungswelt verstanden, sondern als „sozialpathologische“ oder „parapädagogische“ Einrichtung34 oder als Stätte der puren „Entfremdung“.35 Sie müsse deshalb auch systematisch aus der Betrachtung von Bildungsprozessen ausgeklammert werden, weil sie dort „notwendig“ scheitern, wie noch derjenige belege – so die begleitende These –, der das leugnet, denn damit beweise er den vollständigen Sieg der Schule über die kritische Einsicht, dass Schule kritische Einsicht verhindere.36 31Für
die Schulpflichtgesetzgebung und – rechtsprechung vgl. Hermann Avenarius/Hans-Peter Füssel: Schulrecht. Ein Handbuch für Praxis, Rechtsprechung und Wissenschaft. Köln/Kronach 82010, bes. S. 345 ff., zur bildungstheoretischen Legitimation von Schulpflicht auch meine Überlegungen in IV.22. 32Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung (1810), hrsg. von Asmus, Werke Bd. 1. 33Wilhelm Flitner: Ist Erziehung sittlich erlaubt? In: Zeitschrift für Pädagogik 25 (1979), S. 499– 504 stellt die Frage erneut und beantwortet sie ebenfalls positiv. 34Solche Attribuierungen liefern Hartmut von Hentig (der ab und zu an der Schule sozialpathologische Dimensionen sieht) und Wolfang Fischer, der Schule systematisch „parapädagogisch“ nennt, wie alle Antipädagogen. 35Das findet sich jetzt selbst in der Soziologie, z. B. bei Hartmut Rosa (vgl. unten Kap. 27, (2)), allerdings in einem Blick auf die Schule, der von kritischer Theorie, aber nicht von empirischer Schulforschung belehrt ist. 36Das ist die These im Umkreis von Andreas Gruschka, vgl. exemplarisch Martin Heinrich: Alle, Alles, Allseitig. Studien über die Desensibilisierung gegenüber dem Widerspruch zwischen Sein und Sollen der Allgemeinbildung. Wetzlar 2001. „Desensibilisierung gegenüber dem Widerspruch zwischen Sein und Sollen der Allgemeinbildung“ ist für ihn die Praxis des Unterrichts: „Was alle gleich machen soll, wird so institutionalisiert und organisiert, daß es zu Unterschieden führt.“ (S. 12), „Anspruch und Wirklichkeit“ allgemeiner Bildung, „Allgemeinbildungsnorm“ und „Selektionsfunktion“, klaffen auseinander, das Bildungswesen erscheint ihm als eine Praxis, „die ihre eigenen Möglichkeiten … eklatant unterbietet“ und seine Frage ist, warum diese „Praxis nicht zu Protest geht“. (S. 13) Das aber, so die Pointe seiner Studien, gehöre zu den wesentlichen Effekten der Schule, dass die Lehrenden und Lernenden diesen „Widerspruch“ weitgehend „fraglos hinnehmen“, das sei auch nicht „Verfallsgeschichte“, sondern „ein inhärenter Defekt“ (Kap. 7), eine „erstaunliche Sozialisationsleistung der öffentlichen Bildungsinstitutionen“ (S. 302), dass die schulische Reproduktion von Ungleichheit und ihre Legitimation in der Wahrnehmung der Betroffenen durch die Form der Allgemeinbildung selbst erzeugt wird. Verortet im theoretischen Kontext seiner Studien, die „bürgerliche Kälte“ belegen wollen, bedeutet das: „Für die Kältestudien ist nun festzuhalten, daß strenggenommen jede Reaktion eine ‚entfremdete‘ und ‚entfremdende‘ sein muß, da die objektive Struktur (die Diskrepanz zwischen normativen Ansprüchen und gesellschaftlichen Funktionserwartungen) bereits als widersprüchlich identifiziert wurde.“ Dem Akteur bleibt nur dann eine Chance, dem Verdikt
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Ob Schulen sich als legitimierbare Orte der Bildung, der Selbstkonstruktion des Subjekts in einer eigenen Welt, betrachten lassen, ist also keineswegs ausgemacht oder allgemein anerkannt. Jenseits der grundlagentheoretischen Kontroversen der Philosophie oder schulkritischer Theoretiker und unkritischer Staatsapologeten wird in der Tradition dieser schultheoretischen Debatte bis heute durchaus ernsthaft diskutiert, ob die Praxis schulischer Arbeit selbst unter der Frage produktiv analysiert werden kann, ob hier, innerhalb des Schulzwangs, Bildung möglich ist. Damit treten bildungstheoretische Problemstellungen unmittelbar als Referenz in die Analyse der Wirklichkeit schulischer Arbeit ein, und zwar in zugleich theoretischer, analytischer und empirischer Wendung, nicht allein normierend oder prinzipientheoretisch oder nur kritisch-abwertend. In der bildungstheoretisch zentralen Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit – als der Bestimmung des Menschen – und Zwang – als der legitimen gesellschaftlichen Erwartung der Unterwerfung unter das Gesetz – wird die klassische Bestimmung des „größesten Problems“ der Pädagogik in der modernen Welt diskutiert, die sich schon bei Kant findet. Für ihn galt einerseits „Zwang muss sein“, gleichzeitig stellte er angesichts des Freiheitsproblems die operativ so herausfordernde Frage an die Pädagogen: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“37 Bereits Kant gibt als Auflösung seiner paradoxen Bestimmung der Aufgabe der Pädagogik den Verweis auf die spezifische Arbeitsweise von Schule. Ihre Praxis löse, operativ und prozessual, die scheinbare Antinomie auf, und zwar durch die Logik ihrer Arbeit selbst, die den Lernenden mit Aufgaben konfrontiert, die seine Selbsttätigkeit herausfordern und insofern systematisch Selbstkonstruktion im Modus des Lernens ermöglichen, obwohl die Form der Organisation dem Beobachter, der die Logik der schulischen Arbeit nicht sieht, als Fremdbestimmung erscheint. Diese pädagogische Lösung des scheinbar unlösbaren Konflikts zwischen der Freiheit der Subjekte und dem Zwangscharakter gesellschaftlich notwendiger Erwartungen findet sich auch bei anderen Klassikern der Pädagogik. Rousseau hat so das Prinzip der Erfahrung und der lernenden Selbsttätigkeit des „Emile“ in einer Welt ins Recht gesetzt, die der Struktur nach vollständig pädagogisch bestimmt war, aber von ihm als „wohlgeordnete Freiheit“, d. h. erziehungstheoretisch als Sozialform eigener Art legitimiert und verständlich gemacht wird,
Fußnote 36 (Fortsetzung) des Forschers zu entgehen, wenn er wie der Forscher selbst denkt: „Die einzige Möglichkeit des Subjekts, sich nicht mit seiner Reaktion einer Verblendung oder Entfremdung anheimzugeben, ist, den Widerspruch zu benennen und bewußt auszuhalten.“ Auch das führt aber in keine legitime (pädagogische) Welt: „Für seine Praxis bleibt damit gleichwohl das Faktum bestehen, daß der Handelnde, was er auch tut, immer einer Seite des Widerspruchs – Norm oder Funktion – sich entfremden wird.“ (S. 227) Liest man dann später, „daß Allgemeinbildungsanspruch und Selektionsmechanismen in der Schule sich nicht einander vermitteln lassen“ (S. 274), ist das ganze Elend dieser Theorie und die Sinnlosigkeit und Selbstbestätigung dieser Empirie offenkundig. Sie weiß schon alles, bevor sie forscht. 37Kant: Über Pädagogik, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, S. (A 32).
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in der Erfahrung als Prinzip der Selbsttätigkeit nicht ausgeschlossen ist.38 In ihrer Sozialform kann Schule insofern durchaus ein Ort der Bildung sein. Schleiermacher wiederum hat das paradoxe Ausgangsproblem in seiner zeittheoretischen Dimension analysiert und auch dafür die scheinbare Widersprüchlichkeit von Freiheit und Zwang durch Verweis auf eine pädagogisch und d. h. methodisch reflektierte Praxis aufgelöst. Mit dem Problem konfrontiert, dass Pädagogen die Kontrolle der Gegenwart der Lernenden mit dem Verweis auf den Nutzen in der Zukunft zu rechtfertigen pflegen, hat er zunächst scharf solche Argumente kritisiert und sie für nicht legitim gehalten: „Jede pädagogische Einwirkung stellt sich dar als Aufopferung eines bestimmten Momentes für einen künftigen; und es fragt sich, ob wir befugt sind, solche Aufopferungen zu machen. Schon das allgemeine Gefühl spricht sich dagegen aus.“39 Schleiermacher sieht dabei durchaus die Rechte beider, die legitimen Ansprüche der Gesellschaft, in die das Kind in Zukunft eintritt, und das je gegenwärtige Recht des Kindes auf die Sinnhaftigkeit des Lernens in seiner Gegenwart. Seine Lösung formuliert ebenfalls eine starke Herausforderung an die Pädagogik und ihre operative Kompetenz, wenn er erläutert, wie er den „Widerspruch aufheben“ will: „Die Lebenstätigkeit, die ihre Beziehung auf die Zukunft hat, muß zugleich auch ihre Befriedigung in der Gegenwart haben; so muß auch jeder pädagogische Moment, der als solcher seine Beziehung auf die Zukunft hat, zugleich auch Befriedigung sein für den Menschen, wie er gerade ist.“ Es ist für ihn auch hier die Logik der pädagogischen Praxis selbst, in der die für das Subjekt legitime Form des „Spiels“ mit der schulisch erzwungenen „Übung“ zur Einheit sinnvoller Tätigkeit gebracht werden kann. Dabei gewinnt auch die pädagogische Interaktion ihre eigene Geschichte, als gemeinsame Konstruktion einer produktiven Lernwelt. Bei Kant wie bei Schleiermacher erwächst die Legitimation der Schule also aus der Tatsache, dass es ihr gelingt, vermeintlich unvereinbare Referenzen zu sehen und die für die Realität der pädagogischen Arbeit unterstellten Widersprüche sachlich und prozedural in methodisch organisierter Arbeit aufzulösen, d. h. in einer als Bildungswelt fungierenden Realität eigener Art. Dieses Argument findet sich auch nicht nur in pädagogischen oder philosophischen Texten, insofern
38Rousseau
beschreibt auch die kontrollierende Rolle des Pädagogen mit ganz eindeutigen Worten, wenn er für das Verhältnis zum „Zögling“ sagt: „Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. Ist das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und erkennt, euch nicht vollkommen ausgeliefert? Verfügt ihr nicht über alles in seiner Umgebung, was auf es Bezug hat? Seid ihr nicht Herr seiner Eindrücke nach eurem Belieben? Seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Kummer – liegt nicht alles in euren Händen, ohne daß er davon weiß? Zweifellos darf es tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, daß er es tut. Es darf keinen Schritt tun, den ihr nicht vorgesehen habt, es darf nicht den Mund auftun, ohne daß ihr wißt, was es sagen will.“ In: Rousseau, Émile oder Über die Erziehung (1762). Übersetzt und hrsg. von Martin Rang, Stuttgart 1963, S. 265. 39Schleiermacher, Vorlesungen von 1826, S. 46 ff., für das Dual von Spiel vs. Übung, S. 50 f.
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vielleicht der blinden Emphase verdächtig, sondern auch bei nüchternen soziologischen Beobachtern, und zwar bis heute. Sie sehen die Leistung der Schule als Organisation in der Universalisierung von Normen und Werten, und zwar von universalistischen Werten, die ganz wesentlich sind für die Konstitution von Individualität in Gesellschaften wie unseren. Diese Autoren erklären die Genese wie die Universalisierung solcher Normen aus der Struktur der schulischen Bildungswelt selbst, z. B. aus der individuellen Zurechnung von Leistung, generell also dadurch, „dass die sozialen Erfahrungen, die den Schülern in der Schule geboten werden, kraft der Natur und Sequenz ihrer strukturellen Arrangements den Kindern Gelegenheit geben, Normen zu lernen, die für verschiedene Aspekte des erwachsenen Lebens in der Öffentlichkeit typisch sind.“40Aber, damit nicht neue Vergesellschaftungsmythen genährt werden: Noch in der Verarbeitung dieser strukturell unausweichlichen Erfahrungen regiert die Varianz je individuellen Umgangs mit solchen Herausforderungen.41 Generalisiert wird ein Bewusstsein von der Geltung und der Differenz der Normen, nicht etwa die Garantie normkonformen Verhalten. Dieses Bewusstsein ist freilich so stark, dass auch bei Normverletzungen das Bewusstsein der Verletzung der Norm präsent ist. Schule sozialisiert also auch normativ primär die Erfahrung von Differenz, sie generalisiert und egalisiert aber darüber hinaus nicht das Verhalten. Der innerschulisch institutionalisierte Konflikt von Freiheit und Zwang wird insofern auch in dieser soziologischen Theorie, wie bei Kant und Schleiermacher, über die pädagogische Praxis selbst bearbeitbar. Sie beweist sich in ihren Möglichkeiten als Konstruktion einer eigenen Sozialform, mit einer spezifischen professionellen Methodik, die eine Lösung über Strukturen der Interaktion und der Organisation von Zeit sowie – wie man ergänzen kann – auch sachlich sucht. Das geschieht z. B. in der Konstruktion von Lehrplänen und ihnen zugeordneter Lern-Aufgaben, die von ihrer doppelseitigen Bedeutung für die Individuen und für die Welt kategorial konstruiert und gerechtfertigt werden.42 Die Ermöglichung von Bildung in der Schule bedarf deshalb neben den lernenden und schon deshalb selbsttätigen Subjekten der Kunst der pädagogischen Methode, die Schule
40Robert K. Dreeben: Was wir in der Schule lernen. [1968] Frankfurt a. M. 1980, S. 61. Herv. H.-E.T. 41Schon Dreeben betont diese Varianz der Effekte in den verschiedenen universalen Dimensionen, die thematisch werden: „Unabhängigkeit manifestiert sich bei manchen als Kompetenz und Autonomie, bei anderen als belastende Verantwortung und Unzulänglichkeit. Universalistische Behandlung bedeutet für den einen Fairneß, für den anderen kalte Unpersönlichkeit …“ (zit. S. 83 f.) – nur Pädagogen glauben gegen alle eigene Erfahrung immer neu, sie könnten solche Varianz nivellieren und auch moralisch nur erwünschte Ergebnisse erzeugen. 42Wolfgang Klafki deutet so in der Auflösung alter Oppositionsformeln (z. B. von ‚material‘ vs. ‚formal‘ oder von ‚Individuen-‘ vs. ‚Sachzentriert‘) die Tradition des Lehrplandiskurses und stellt die inhaltliche Planung von Unterricht unter das Prinzip der „kategorialen Bildung“, also der wechselseitigen Erschließung des Menschen für die Welt und der Welt für den Menschen, vgl. W.K.: Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. (1957) Weinheim 2. Aufl. 1963.
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als Bildungswelt erfahrbar macht. Ob und wie das gelingt, das ist dann keine prinzipientheoretische, sondern eine empirische Frage. Bevor man diese Empirie sucht, muss man noch einen weiteren theoretischen Einwand diskutieren, nämlich den der schulkritischen Pädagogik selbst, die eine Tradition seit dem 18. Jahrhundert hat.43 Es gehört in den Kontext reformpädagogisch inspirierter Betrachtungen der (öffentlichen) Schule, dass sie seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in pädagogischen Diskursen ihre Legitimation erneut, und vielleicht erstmals ganz radikal, verliert. Dabei wird zwischen den Ansprüchen des Subjekts und den in Schule institutionalisierten öffentlich-gesellschaftlichen Erwartungen ein Widerspruch konstruiert, der sich in reformpädagogischen Diskursen bis in die Gegenwart erhält. Schule wird jetzt, zuerst in der Literatur, als Form der Vernichtung von „Eigensinn“ und „Begabung“, zumal der besonderen, höheren, individuellen und künstlerischen Begabung interpretiert. Hermann Hesse z. B. sieht das Schulkind in seinem 1903 entstandenen, 1906 erschienenen, auch autobiografisch geprägten Roman „Unterm Rad“ einer Maschinerie unterworfen, die das Individuum überwältigt (Schillers Metaphorik kehrt wieder!), so dass der Schülerselbstmord manchen Zeitgenossen angesichts der pädagogisch als illegitim deklarierten Praxis der Schule als eine so erwartbare wie entlarvende Reaktion der Individuen erscheint.44 Schule wird auch im epochendefinierenden Text für das ersehnte „Jahrhundert des Kindes“ als Anstalt des „Seelenmords“45 gebrandmarkt und scharf abgelehnt, freilich und nicht ohne Paradoxie, zugunsten einer neuen, jetzt reformpädagogischen Schule. Der Begriff des „Eigensinns“ selbst markiert diese Differenz besonders deutlich. Noch bis zur Jahrhundertmitte als „Kinderfehler“ klassifiziert,46 wird er im reformpädagogischen und schulkritischen Kontext um 1900 zur Metapher für Individualität schlechthin. Jetzt entdecken die Literaten und bald auch die Pädagogen in der schulischen Biografie das „Drama des begabten Kindes“. Psychoanalytiker tradieren diese Diagnose bis in die Gegenwart und perhorreszieren die Schule als Anstalt, die das Kind nur vergewaltigen und seiner natürlich gegebenen Möglichkeiten berauben kann. 43Als
Schiller das Theater als „moralische Anstalt“ denkt (vgl. oben Teil II), sieht er es zugleich als einen Ort, die „Irrtümer der Erziehung (zu) bekämpfen“ und „die unglücklichen Schlachtopfer vernachlässigter Erziehung“ zu rehabilitieren. Er argumentiert so gegen die Pädagogen, die in Reformanstalten „den zarten Schössling in Philanthropinen und Gewächshäusern systematisch zugrunde richten“. So Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784), 1801 u.d.T.: Die Schaubühne als eine moralische Anstalt. In: Schiller, Werke, hrsg. von Göpfert, Bd. 1, München 1966, S. 719–729, zit. S. 727. 44York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne. Stuttgart 1995; für den Schülerselbstmord in der öffentlichen Diskussion – und für die Irrtümer und falschen Behauptungen in dieser Diskussion – Joachim Schiller: Schülerselbstmorde in Preußen. Spiegelungen des Schulsystems? Frankfurt a. M. (usw.) 1992. 45Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes. (1900) Weinheim/Basel 1992, für den „Seelenmord“ S. 143 ff. 46So z. B. in Ludwig Strümpell: Pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder. Leipzig 1890, S. 26.
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Allerdings, jenseits der kritischen Rhetorik und der reformpädagogischen Propaganda bleibt selbst in diesen Texten im Grunde das alte und klassische pädagogische Lösungsschema für den vermeintlich unüberwindbaren Widerspruch von Gesellschaft und Subjekt erhalten, nämlich das Vertrauen auf die pädagogische Methode und auf die Leistung spezifisch konstruierter Bildungswelten. Es ist jetzt nur alternative Pädagogik, auf das Kind zentrierte, wie sie sich selbst attribuiert. Aber „ihre Fortschritte liegen dabei in der Linie, zunehmend List an Stelle der Gewalt zu setzten“, wie es ein nüchterner Beobachter,47 der zudem eigene Erfahrung aus Reformschulen mitbrachte, formuliert hat. Auch bei der Reformpädagogik zählen deshalb nicht die großen Versprechen oder die scharfe Kritik der alten Schule, sondern die eigene Praxis, d. h. auch hier: Empirie zählt. Dann muss man nicht einmal die ernüchternden Botschaften über den Missbrauch von Kindern in prominenten Reformschulen anführen, um die Propaganda zu entzaubern, es reicht, die Versprechen und die Reformpraxis in ihrem Kontext zu studieren. Schon historisch kontrastieren nämlich der reformpädagogische und ästhetische Blick auf die alternative Schule scharf mit dem faktischen Verhalten des Bildungsbürgertums selbst, das auch die alternativen Schulen primär danach wählt und aufsucht, ob sie die Zertifizierung und das Abitur garantieren können; und natürlich ist dies auch das erste Versprechen der Reformschulen selbst, schon um sich am Markt zu behaupten.48 Die öffentlich so verbreitete und von Pädagogen bis heute genährte schulkritische Rhetorik kontrastiert zugleich scharf den bildungspolitischen Forderungen der bis dato von (bürgerlicher und höherer schulischer) Bildung ausgeschlossenen Sozialschichten und ihrer Parteien. Zumal in den Programmen der Sozialdemokratie wird gefordert, dass der Staat das „Bildungsminimum“ garantiert, d. h. einem jeden den Zugang zu den öffentlichen Schulen garantiert, und sie verlangen im Interesse ihres eigenen Nachwuchses, dass ihnen über schulisches Lernen die kulturellen Basiskompetenzen gesichert werden. Ganz ohne Angst vor der politischen Indoktrination in der Schule der Untertanen, nur im Vertrauen auf die Eigenlogik und den Wert von Bildung. War dieses Vertrauen gerechtfertigt, ist deshalb die erste, die nur empirisch zu beantwortende Frage. Hat es Bildung auch trotz der Allgegenwart von Zertifizierung und Berechtigungsdenken in Schulen gegeben, historisch und aktuell, das ist die zweite Frage? Antworten kann man in der Praxis der Schule suchen, auch wenn eine hinreichende und überzeugende Antwort noch nicht darin bestehen kann, dass man auf die immensen Erfolge der Verschulung und Beschulung verweist, also auf den ebenso raschen wie umfassenden und erstaunlichen Prozess der Alphabetisierung. Auch das ist ohne die Eigenleistung der 47Die
Anspielung gilt Walter Benjamin, der Schüler in den Lietzschen Landerziehungsheimen war und seine Erfahrungen mit der bürgerlichen Pädagogik so resümierte, vgl. W.B.: Eine kommunistische Pädagogik. (1929) In: W.B.: Über Kinder, Jugend, und Erziehung. Frankfurt a. M. 1969, S. 87–90, zit. S. 87. 48Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim/ Basel (Beltz) 2011 sowie, für die seine Analyse insgesamt, meine Rezension in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau H. 63,34 (2011), S. 18–25.
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Subjekte nicht zu erklären, aber es mag zu alltäglich sein, um die Bildungswirkung der Schule allein schon von hier aus zu behaupten (aber die Unerlässlichkeit von Grundbildung als Artikulation von Bildungsgerechtigkeit wird in Teil IV erneut diskutiert werden). Hier soll die Bildungsbedeutsamkeit der öffentlichen Pflichtschule auch nicht aus der Tatsache abgeleitet werden, dass die Konstruktion des Lebenslaufs als Bildungskarriere sich schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts als gesellschaftliche Normalerwartung durchzusetzen beginnt. Solcher Wandel der Wertorientierung mag noch milieuspezifisch erklärt werden, also relativ unabhängig von Schule, zunächst sollen Indikatoren für Bildungsprozesse jenseits der Alltäglichkeit der Beschulung und Alphabetisierung oder milieuspezifischer Werte gesucht werden. Es geht also um Bildungswirkungen, die tatsächlich nur aus der Wechselwirkung von Schule und lernenden Subjekten erklärbar sind – und deshalb das bildende Potential der Schule als Organisation bestätigen.
17.2.1 Kompetenzkonstruktion – die alltägliche Leistung Als Antwort auf diese Fragestellung sollen hier zunächst nur biografische Texte herangezogen werden. Allerdings werden andere Texte als die klassischen Bildungsromane über das Aufwachsen und Leben in modernen Gesellschaften genutzt, und auch nicht die ‚schwarzen‘, negativen, im Selbstmord endenden schulkritischen Schreckensszenarien der Jahrhundertwende. Erweitert man den Blick auf die in Schreckensbildern wenig genutzte Überlieferung, dann trifft man in autobiografischen Texten historisch identifizierbarer Individuen auf bedeutsame Bildungsverhältnisse, selbst und vor allem dann, wenn man die dort geschilderten Schulerfahrungen studiert: „Meine Schulzeit machte mir keine Beschwerden. Ich ging gern zur Schule, obgleich mir Schule und Arbeit nur wenig Zeit zu jugendlichem Spiel mit den Kameraden übrigließen“, so schreibt der Arbeiter Wilhelm Bock, der um 1900 auf seinen Lebenslauf zurückblickt.49 Es ist, damit man die Bedeutung dieser Wertschätzung der Schule würdigen kann, die viel getadelte „Schule der Untertanen“,50 die Volksschule im Kaiserreich also, die hier so positiv
49Hier zit. nach Adalbert Rang: Über Arbeiterkinder, die gern in die Volksschule des 19. Jahrhunderts gingen. In: Hilfe Schule. Ein Bilder-Lese-Buch über Schule und Alltag Berliner Arbeiterkinder. Berlin 1981, S. 10–102, dort auch alle weiteren Zitate aus Arbeiterautobiografien, die ich hier nutze. 50Für diesen Titel und die damit zumeist verbundenen kritischen Werturteile über die Volksschule Folkert Meyer: Schule der Untertanen. Lehrer und Politik in Preußen 1848–1900. Hamburg 1976, der aber die Ambivalenz der Prozesse und die Modernisierung der Schule beschreibt, anders als manche zeitgenössischen Kritiker z. B. aus der sozialdemokratischen Lehrerbewegung, z. B. in den seit den 1870er Jahren „Gegen die Prügelpädagogen“ publizierten Schriften von Eduard Sack: Die preußische Schule im Dienste gegen die Freiheit. Schulpolitische Kampfschriften. Ausgew., eingel. und erläutert von Karl-Heinz Günther. Berlin (DDR) 1961.
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konnotiert wird, und nicht allein in diesem Text: „Nach vollendetem 11. Lebensjahr wurde ich trotz allen Sträubens aus der Schule genommen, um die verschiedenen Zweige des Geschäfts zu erlernen. Meine Lern- und Wißbegierde war so groß, daß ich etwas wie ‚Schulschwänzen‘ gar nicht kannte; und ich erinnere mich, daß ich wiederholt in mit Lumpen zusammengehaltenen Schuhen im tiefsten Schnee noch zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen; und es war das schrecklichste Leid für mich, wenn ich einmal aus einem triftigen Grunde nicht zur Schule durfte.“ In dieser biografischen Retrospektive, die sich aus weiteren Biografien nichtbürgerlicher Kinder leicht vermehren ließe, auch in ihrem positiven Grundton, wird dann von den Akteuren selbst erklärt, aus welchen Gründen die Schule derart intensiv gesucht wurde: Sie war der Ort, an dem man die Nachteile der Herkunft kompensieren konnte, d. h. vor allem der Ort, an dem man die basalen Kulturtechniken erwerben und die eigene „Wißbegierde“ befriedigen konnte, für die – anders als im bürgerlichen Haus, im Privatunterricht oder in den privaten Vorschulen – die proletarische Familie nicht hinreichend sorgen konnte: Lesen und Schreiben, Rechnen, Umgang mit Zahl und Maß und mit Gedrucktem, Übung in öffentlicher Kommunikation. Das war das schulische Angebot, das es zu Hause nicht gab (und nebenher war die Schule ein geschützter Ort, schon gegen die Unbillen der Witterung51). Kompetenzerwerb für den eigenen Umgang mit Welt war das Ziel, schulische Bildung die Lebensform, die man suchte. Dabei nahmen die proletarischen Kinder und Jugendlichen sehend und bewusst in Kauf, dass sie diese grundlegende Bildung nicht in reiner Form bekamen, sondern vermischt mit Indoktrination durch und für die legitimatorischen Ideologien und Lügen der regierenden Kirchen und Herrscherhäuser. Aber sie schüttelten diese Beigabe relativ locker ab, konnten zwischen den Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs und den Zumutungen der Indoktrination gut unterscheiden, innerschulisch und danach. Sie wählten für den Reichstag oder für andere Parlamente die Sozialdemokratie und nutzten nach- und außerschulisch die kulturellen Basiskompetenzen, die sie aus der Schule mitbrachten, um ihr eigenes Leben zu gestalten. Sie deuteten dieses Leben und ihre eigene private und öffentliche Praxis auch bald und durchaus intensiv im Medium von Bildung, nicht nur öffentlich und in den Schiller-Feiern (denn die bessere Tradition überließ man nicht den Bürgern allein) oder in anderen Festen der Arbeiterbewegung. Sie entwickelten auch in Alltag und Beruf von hier aus ihre eigene Lebensperspektive als Prozess der Konstruktion durch und für eigenständiges Lernen, gegen den hergebrachten „Fatalismus“, den die „Volksbildung“ der Aufklärung schon – und z. T. erfolgreich – an den Bauern bekämpft hatte, oder gegen die resignative Ergebung
51Konservative
Kritiker der preußischen Schulpolitik um 1900 tadelten deshalb auch die lokalen Bildungsverwaltungen, dass sie dem Proletariat „Schulpaläste“ bauten. Das sind, den Schulkritikern sei es gesagt, die Schulgebäude, die heute gelegentlich als „Kasernenbauten“ kritisiert werden.
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in die vermeintlich nicht aufhebbare schlechte soziale Lage der Unterschichten.52 Bildung wurde innerhalb der klassenbewussten Arbeiterschaft das Medium der Konstruktion alternativer Zukünfte, gelegentlich so stark wertbesetzt, dass klassenbewusste Theoretiker gegen den „Bildungswahn“53 an die Grenzen der Bildung und die Unentbehrlichkeit der Politik erinnern mussten. „Bildung“ kann man als Prozess wie Ergebnis solchen Schulbesuchs und dank des Schulbesuchs diese Praxis und ihre Wirkung nennen, weil die Subjekte ihre Wechselwirkung mit der Welt selbst gestalten. Sie haben im Ergebnis ihrer Auseinandersetzung mit der Schulwelt zwischen den Kompetenzen, etwa der Handhabung der Kulturtechniken, die sie erworben haben, und den weiteren Beigaben, die ihnen pädagogisch-erzieherisch zugemutet wurden, deutlich zu unterscheiden gelernt. Das war gerade wegen der Struktur des Arrangements möglich, weil die Indoktrinationsabsicht in der Lernsituation selbst präsent war – und unvermeidlich präsent ist – und weil das Verstehen dieser Situation aus der Wahrnehmung der Differenz von Information, schulischem Wissen und Kompetenzen einerseits, der indoktrinierenden Mitteilung andererseits entsteht, also in der von den Lernenden selbst hergestellten Einheit von themengebundenem, curricular definiertem Lernen, der sie überformenden Indoktrination und ihrer eigenen Wahrnehmung. Als Bildungspraxis ist Schule also decodierbar, weil sich die Lernenden in dieser Situation selbst beobachten und Wissbegierde, ihr eigenes Interesse, und die Überformungsabsicht zu unterscheiden lernen.54 Die „ideelle Vergesellschaftung von oben“55 arbeitet deshalb – anders als marxistische oder andere Schul-Kritiker unterstellen – mit dem Risiko ihres selbsterzeugten Scheiterns, weil sie die Differenzen unmittelbar und unausweichlich präsentiert, die sie verwischen will. Denn die Eigenlogik der Bildungssituation bewährt sich – historisch wie aktuell – exakt darin, dass diese Verknüpfung zugleich präsent war und sichtbar wurde, gelegentlich sogar angestoßen durch den Lehrer. Während das bürgerliche Kind gegenüber der Schule milieubedingt in bevorzugter Lage ist, zugleich profitierend und distanziert, ist deshalb auch der Wert der Schule als Lerngelegenheit bei denen deutlich größer, weil eindeutig der Schule zurechenbar, die auf die Kompensation hergebrachter Nachteile der eigenen Lebenswelt angewiesen sind. Es ist dann nicht selten der Lehrer, der vermeintlich nur das schulische Thema zur Geltung brachte, aber die Welt der Bildung in der Schule eröffnet hat, durchaus
52Ein weiteres Exempel stellen im Übrigen auch Migrationsprozesse seit dem frühen 19. Jahrhundert dar. „Erst als die Leute lesen konnten, gingen sie weg.“ – so die These von Edgar Reitz, der über die sozialen Veränderungen in der Pfalz in seinem „Heimat“-Zyklus filmisch erzählt (vgl. Interview im Tagesspiegel, 01.10.2013, S. 19). 53Diese Mahnung findet sich in einer Rede vor Jungsozialisten bei dem Philosophen Leonard Nelson: Vom Bildungswahn – Ein Wort an die proletarische Jugend. (1922) In: L.N.: Sittlichkeit und Bildung. Hamburg 1971 (Ges. Schr. Bd. 8), S. 556–567, Teildruck in H.-E.Tenorth (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Weinheim 1986, S. 48–53. 54Für die systematischen Annahmen vgl. die Hinweise im folgenden Abschnitt über Indoktrination und Resistenz. 55Dafür die Analysen Louis Althussers, der auch deterministische Fehlschlüsse nicht vermeidet.
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auch in einem politisch relevanten Sinn: „Die Schule hat auf meine geistige Entwicklung einen starken und guten Einfluß ausgeübt, was vor allem dem Lehrer zu verdanken ist. Er war tüchtig und fähig … er machte uns auch mit der Kulturentwicklung der Völker vertraut, so dass sich mein Gesichtskreis erweiterte und ich in späteren Jahren leichter als mancher begriff, um was es sich beim Sozialismus handelt“.56
17.2.2 Moralisch bedeutsame Differenzerfahrung – Indoktrination und Resistenz Mit der Vermittlung der kulturellen Kompetenzen und der Fähigkeit, zwischen den Zumutungen der Schule und den eigenen Erfahrungen zu unterscheiden, eröffnet sich eine andere, neue Welt und zugleich ein Blick auf die Welt, der nicht allein von den Kulturtechniken sachlich ermöglicht und determiniert ist, sondern auch wertbesetzt reflektierbar wird. Der „Gesichtskreis“ erweitert sich, wie der biografische Text sagt, und er erweitert sich in mehr als einer Dimension, bezogen auf die eigene und die neue Welt und ihre je relevanten Dimensionen sowie bezogen auf die Lernenden selbst. Auch für diejenigen, die von Bildung erst sprechen wollen, wenn Wirkungen in der moralisch-evaluativen Dimension eröffnet oder gar garantiert werden, gibt die Wirklichkeit der Schule ermutigende Exempel. In gewisser Weise kann Schule doch als „moralische Anstalt“57 betrachtet werden, sowohl im Blick auf den Unterricht und seine Wirkungen als auch vom gesamten Schulleben aus. Dafür soll hier zunächst ein historisches Exempel stehen, für die Schule unter Bedingungen der Diktatur, erst dann sollen auch die Ergebnisse empirischer Schulforschung ergänzend und bestärkend hinzugezogen werden. Dabei wird sich zeigen, dass bereits der Unterricht und das Klassenzimmer ganz alltäglich für die Leistung als moralische Anstalt bedeutsam, ja unentbehrlich sind. Die Praxis von Schule unter Bedingungen der Diktatur ist ein Prüfstein besonders nachdrücklicher Art, wenn man genuine Bildungswirkungen von Schule auch unter schwierigen Umweltbedingungen behaupten will. Die historische Bildungsforschung, zumal in Deutschland, das ja zwei Diktaturen im 20. Jahrhundert erlebt hat, hat in jüngerer Zeit solche Fragen intensiv gestellt und sich damit von älteren Thesen abgegrenzt, die in Metaphern von Überwältigung und Verführung die Lernenden als hilflose Objekte schulischer Indoktrination
56zit.
nach Rang, a. a. O. nehme im Folgenden Argumente aus einem Text auf, den ich zu einem einschlägigen Forschungsvorhaben von Achim Leschinsky geschrieben habe, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Schule als moralische Anstalt. Kommentar zu einem Forschungsvorhaben. In: A. Leschinsky/P. Gruner/G. Kluchert (Hrsg.): Die Schule als moralische Anstalt. Weinheim 1999, S. 261–272 – und natürlich beziehe ich mich auf die Arbeiten von Leschinsky selbst. 57Ich
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konstruiert hatten.58 Auch hier sind biografische Zeugnisse von erheblichem Aussagewert, ohne dass damit suggeriert werden soll, dass sie den generell erwartbaren Normalfall repräsentierten. Es gab in den deutschen Diktaturen natürlich auch Zustimmung, sogar individuell stark begründete und auch verständliche Zustimmung zum je politischen Selbstverständnis der Diktatoren; und natürlich wurde auch die Schule als bedrohliche Situation erlebt, im NS-Staat zumal von jüdischen Kindern,59 und erst die außerschulische private Welt als Freiheitsraum.60 Aber Schulerinnerungen aus der NS-Zeit können auch überraschen, wenn sich etwa der Altphilologe und Schriftsteller Walter Jens seiner Schulzeit im Hamburger Johanneum erinnert und an den Umgang seines Deutsch-Lehrers mit NS-Texten und zumal mit dem Horst-Wessel-Lied: „ich werde den Tag nie vergessen, an dem unser Klassenlehrer den Satz ‚Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geiste in unsren Reihen mit‘ grammatikalisch erledigte, indem er die Frage stellte, wer hier eigentlich wen erschossen habe, Rotfront die Kameraden oder, was eher anzunehmen, freilich ganz und gar nicht gemeint sei, die Kameraden die Rotfront.“61 Die Frage behandelt der Lehrer in der weiteren Textanalyse so, wie es seinem Elitegymnasium entspricht, als fachspezifisches, hier grammatikalisches Problem, mit einem eindeutigen Ergebnis: „Er, Sprachmeister Fritz, verstünde den Artikel die als Nominativ, Horst Wessel hingegen als Akkusativ – da möchten doch bitte sehr, wir selber entscheiden, wer hier im Recht sei! Gestorben, ein für allemal, die Hymne, als Machwerk erledigt mit Hilfe der aufklärerisch gehandhabten Grammatik!“ Es ist also der „Geist der Gelehrtenschule“, der hier durchschlägt, denn gleich ob nah oder fern zum NS-Staat „der Optativus obliquus hatte Vorrang
58Ich
nutze hier Argumente aus eigenen Arbeiten, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Grenzen der Indoktrination. In: P. Drewek u. a. (Hrsg.): Ambivalenzen der Pädagogik. Zur Bildungsgeschichte der Aufklärung und des 20. Jahrhunderts. Weinheim 1995, S. 335–350 sowie jüngst ders.: Unterwerfung und Beharrungskraft – Schule unter den Bedingungen deutscher Diktaturen. Befunde und Analyseperspektiven. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 30(2008)2, S. 275–297 (daraus im Folgenden z. T. wörtliche Übernahmen); für die dadurch ausgelösten Kommentare und weiterführenden Analysen v. a. Henning Schluss: Indoktrination und Fachunterricht – Begriffsbestimmung anhand eines Exempels. In: Ders. (Hrsg.): Indoktrination und Erziehung. Aspekte der Rückseite der Pädagogik. Wiesbaden 2007, S. 57–74 sowie Tilmann Grammes/Henning Schluß/Hans-Joachim Vogler: Staatsbürgerkunde in der DDR. Wiesbaden 2006. 59Quellen und Analysen dazu u. a. bei Benjamin Ortmeyer (Hrsg.): Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die N S-Zeit in Frankfurt a. M. Bonn 1994. 60Die signifikante Formel dafür liefert in einem autobiografischen Text der Psychologe Peter Brückner: Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945. Berlin 1980. 61Walter Jens: Mein Lehrer Ernst Fritz. In: M. Reich-Ranicki (Hrsg.): Meine Schulzeit im Dritten Reich. Erinnerungen deutscher Schriftsteller. Erw. Neuausgabe Köln 1988, S. 105–114, zit. S. 110, Herv. dort, auch für das folgende Zitat. In Tenorth: Grenzen der Indoktrination. 1995 finden sich auch quellenkritische Überlegungen.
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vor jedem Appell“.62 Erst zählt der Anspruch der Schule, der Qualitätsstandard des Fachunterrichts und die Methodik des Unterrichts, und das konnte unabhängig machen von Hitler-Jugend oder NSDAP-Mitgliedschaft.63 Es sind die elementaren Regeln von Grammatik und Rhetorik, Stil und Argumentation, die hier gelten und praktiziert werden. Das wird bedeutsam in einem Unterricht, in dem der Lehrer seiner professionellen Rolle gerecht wird und auch den latenten Sinn des Themas präsent macht, selbst mit der pädagogisch sonst verpönten Ironie64 und ohne hier und da Arroganz zu scheuen. Distanziert gegenüber frühen Annahmen der umfassenden Wirkung der NS-Erziehung in der Typik von „Führung und Verführung“ (Gamm), geht die hier versuchte bildungstheoretische Analyse also von der Prämisse aus, dass schulische Wirkung auch im Falle manifest als Indoktrination ansetzender Schulverhältnisse sich nur aus einem Gefüge unterschiedlicher Elemente, v. a. latenter innerschulischer Strukturen und Praktiken, Gütekriterien und Wertorientierungen der Lernenden erklärt. Bei aller kontroversen Diskussion, die in diesen Studien für den Indoktrinationsbegriff selbst und seine Referenzen – zwischen Doktrinen und/oder Praktiken – existiert, verstärken die historischen Befunde deshalb die Argumente für die These, dass die Differenz von Intention und Wirkung nicht zufällig entsteht, sondern dass Schule systematisch Brechungen erzeugt, die sich erst aus ihrer genuinen Bildungsleistung auch unter den Bedingungen von Diktatur erklären lassen. In der Situation und Struktur von Unterricht selbst sind nämlich Mechanismen zu erkennen, die solche Brechungen zwar nicht garantieren,65 aber doch der indoktrinierenden Intention überzufällig häufig Begrenzungen eintragen (die dann verstärkt werden, wenn außerschulische sozialmoralische Differenzerfahrungen, etwa aus strikt katholisch oder politisch alternativ geprägten Elternhäusern, hinzukamen). Eine wesentliche und tatsächlich schuleigene Bedingung für die Ermöglichung eigenständiger Urteile auch gegen indoktrinierende Zumutungen stellt dann offenbar der Fachunterricht dar. Hier werden wissenschaftsorientierte und wissenschaftspropädeutische Gütekriterien der Argumentation eingeführt und als Schülerhabitus generalisiert, die sich nicht willkürlich dispensieren lassen, wenn ideologische Versatzstücke den Unterricht bestimmen, die für sich eine nur sozial gestützte Anerkennung und Geltung beanspruchen können (z. B. in dem bekannten Satz: „die Partei hat immer Recht“). Die Lernenden müssen sich dann zumindest
62Jens,
ebd., S. 106. würde die spät bekannt gewordene und von Walter Jens selbst nicht eingestandene Mitgliedschaft in NS-Organisationen auch nicht als Widerlegung seiner Schulerfahrung lesen oder gar als geplante Täuschung, sondern als Indikator für die Scham angesichts seines eigenen Differenzbewusstseins, also selbst noch als Indiz für wirksame Selbstkonstruktion. 64Jens erinnert sich der Qualifizierung des Hitler-Grußes durch den Lehrer: „Die Hand zu heben, ach, das ist nun wirklich keine Kunst. Das macht auch der Hund am Baum.“ (zit. S. 111). 65Schluß 2007 liest – darin überzeichnend und gegen die probabilistischen Wirkungsannahmen in meinem Text – meine Thesen gelegentlich so, als würde dort eine derart starke Annahme gemacht. 63Ich
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mit der Ambivalenz mehrfacher Orientierungsparameter auseinandersetzen, sie stoßen auf Konflikte, auf konkurrierende Geltungskriterien in der Schulsituation und müssen für sich diese Konflikte lösen. Dafür gibt es natürlich unterschiedliche Optionen zwischen Resistenz und Akzeptanz. Die nahezu universell in der Erforschung von Diktaturen eingeräumte Tatsache, dass zwischen der offiziös erzwungenen, ideologisch erwünschten Selbstdarstellung in der Schule und den außerschulischen Verhaltens- und Wissensdimensionen manifeste, aber den Akteuren bewusste Differenzen existierten,66 die ein Reden mit gespaltener Zunge und eine moralisch-politische Doppelexistenz erzwungen haben, spricht dafür, dass dieses Diskrepanz zwischen verordneter und eigener Erfahrung zumindest im NS-Staat und in der DDR alltäglich war, aber wohl für Diktaturen in modernen Welten insgesamt typisch ist. Pädagogen, die sich der Diktatur selbst verpflichtet fühlen, neigen dazu die manifesten Misserfolge ihrer Bemühungen, wie in der DDR, feindlichen Umwelten zuzurechnen, ignorieren also den Eigensinn der Subjekte. Erst im Untergang sind sie gelegentlich bereit, diese Widerständigkeit z. B. der Jugend und informeller Gruppen „bildungstheoretisch“ zu erklären, also als autonome Leistung der Lernenden selbst.67 Schultheoretisch gesehen bestätigt dieser Befund deshalb die Annahme, dass Schule in der Moderne eine Welt eigener Art darstellt, mit universalistischen Kriterien von Geltung und Leistung, die durch die Teilnahme an fachlich gebundener Interaktion erzeugt und bekräftigt werden. Schule ist aber offenbar keine Institution, die zugleich noch außerschulische Erfahrungen oder das eigene Lernen und Denken ihrer Adressaten zuverlässig dispensieren oder präzise zielbezogen überformen kann. Diktaturen setzen gegen solche Befunde dennoch auf eine pädagogisch vermeintlich eindeutig und strikt zielbezogen zu erzeugende Praxis der vollständigen Kontrolle von Erfahrung und der damit erwünschten Einheit von lebensweltlicher Sozialisation, schulischem Lernen und schulischer Erziehung. Aber diese Einheit konnten beide deutschen Diktaturen nicht herstellen, schon weil sie die medial verfügbare, die Grenzen der Schule überschreitende Erfahrung, die z. B. aus den peer groups vorliegt,68 nicht ausschließen konnten. Lernen wiederum ist – subjektbezogen – ein Mechanismus, der gegen 66Nach
1990 räumten prominente DDR-Pädagogen und Bildungsplaner in Interviews immer wieder ein, dass sie mit der These von der Überlegenheit der DDR gegen die z. B. medial vermittelte Alltagserfahrung pädagogisch nicht erfolgreich sein konnten, vgl. Heinz-Elmar Tenorth/ Sonja Kudella/Andreas Paetz: Politisierung im Schulalltag der DDR. Durchsetzung und Scheitern einer Erziehungsambition. Weinheim 1996, bes. S. 245 ff. für die Wirkungsproblematik der DDR-Schule. 67Belege dafür gebe ich in Heinz-Elmar Tenorth: Die „Erziehung gebildeter Kommunisten“ als Aufgabe und Problem. Erziehungsforschung in der DDR zwischen Theorie und Politik, Wissenschaftssystem und Praxis. In: S.Reh u. a. (Hrsg.): Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990. Weinheim/Basel 2017, S. 207–275, bes. S. 256–258. 68Widerständige und resistente Jugendgruppen sind für das nationalsozialistische Deutschland deutlich belegt, für bürgerliche Schichten z. B. die Swing-Gruppen, für proletarische u. a. die sog. Edelweißpiraten.
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Erziehung und ihre Intention relativ resistent ist. Im Lernprozess selbst bleiben die Dimensionen der Vermittlung unterscheidbar, z. B. zwischen der Mitteilung eines Inhalts, wie es das Schulfach bietet, und der begleitenden Information über die überformende pädagogische Intention, die sich den Aktivitäten der Lehrer oder dem Stil des Schulbuchs ablesen lässt und vom Lernenden verstehend und auf das eigene Selbst bezogen zur Einheit gebracht werden müssen. Damit sind Diskrepanzerfahrungen im Prozess selbst verankert, ja der nach Möglichkeit selbstständige Umgang mit solcher Differenz gehört zu den Gütekriterien des Prozesses selbst. Themengebundene Kommunikation, Fachlichkeit des Unterrichts, muss man insofern zu den bildungstheoretisch bedeutsamen Strukturmerkmalen rechnen, die dem Unterricht seine eigene Dignität geben, seine Autonomie, interpretiert als Eigenlogik seiner Praxis, ohne die man seine Wirkungen nicht erklären kann. Die Bedeutung dieses Mechanismus wird offenbar auch in Diktaturen nicht außer Kraft gesetzt. Fachlichkeit als Mechanismus mit eigener Wirkungskraft wird vielmehr auch aus der Analyse von Lehrerbiografien der NS-Zeit als fortdauernd bedeutsames und Distanzierung eröffnendes, wenn auch nicht schon allein zuverlässig garantierendes Strukturmerkmal pädagogischer Arbeit erfahrbar: „Im Prinzip bei der Sache zu bleiben“, das sei, ist die These bei Marion Klewitz, „vielleicht eine der durchschlagendsten Möglichkeiten der Schülerförderung im Dritten Reich“ gewesen.69
17.2.3 Identitätsbildung – Schule als Lebenswelt und moralisierende Instanz Wie aber, das ist ja die naheliegende Anschlussfrage, entwickelt sich aus der schulisch offenbar unausweichlich erwartbaren Erfahrung von Differenzen – des Wissens, der Geltung von Aussagen, der ideologischen Positionen, der Werte von Milieus – ein stabiles Bewusstsein von Werten und Normen, also die Habitualisierung moralischer Urteilsfähigkeit? Basiert, könnte man auch fragen, die bereits zitierte soziologische These, dass in der Schule „kraft der Natur und Sequenz ihrer strukturellen Arrangements“ die Erwartung begründet ist, dass „Normen [gelernt werden], die für verschiedene Aspekte des erwachsenen Lebens in der Öffentlichkeit typisch sind“,70 wirklich auf beweisbaren Befunden? In der schulsoziologischen Forschung ist das vor allem für die Habitualisierung gesellschaftlicher Erwartungen diskutiert und bestätigt worden, die mit den Praktiken schulischer Leistungserbringung und individualisierter Leistungszurechnung und -bewertung verbunden sind, Moralerziehung in der Schule hat
69Marion
Klewitz: Lehrersein im Dritten Reich. Analysen lebensgeschichtlicher Erzählungen zum beruflichen Selbstverständnis. Weinheim/München 1987, S. 239. 70Dreeben: Was wir in der Schule lernen. 1980, S. 61. Herv. H.-E.T.
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aber auch noch eine andere Dimension und eine jenseits von Leistungserbringung schulisch präsente Ermöglichungsform. Sie wird sichtbar, wenn man sich der mit Schule notwendig verbundenen und zunächst so trivial erscheinenden Tatsache erinnert, dass Lernen in Schulen ein Lernen in Gruppen ist. Damit verbinden sich, und zwar jenseits der Handlungsprobleme der Lehrer, auch für die Lernenden durchaus bedeutsame, keineswegs triviale Konsequenzen.71 Schülerinnen und Schüler sind in der Schule nicht allein an Unterricht beteiligt, sie leben in einer Schulklasse, und d. h. in Gruppen innerhalb und außerhalb von Unterricht, immer aber in einer Schulwelt. Sie lernen als Gruppe, und zwar als eine Gruppe (relativ) Gleichaltriger, als Gruppe, die man mit gemeinsamen Themen konfrontiert, und die Gemeinsamkeit der Schulklasse besteht auch darin, dass sich ihre Mitglieder in Entwicklung befinden. Die Mitglieder der Schulklasse haben schließlich auch das Schicksal gemeinsam, dass sie als eine von Lehrern betreute Gruppe existieren. Zu dieser spezifischen Sozialform gehört zudem, dass sie eigene Formen von Kommunikation ausbildet, z. B. Rituale des Schülerlebens, die von der Gruppe insgesamt oder von Gruppen innerhalb der Gruppen kultiviert werden.72 Zu den Leistungen, die solche Gruppen erbringen, muss man dann auch rechnen, dass sie das Sozialverhalten innerhalb der Gruppe zum Gegenstand von kontrollierenden Praktiken machen, dass sie Normen etablieren und sich angesichts von Normbrüchen verhalten, z. B. Sanktionen durchsetzen. Systematisch gesehen stellt das immer einen Prozess dar, in dem es um die Aushandlung von Grenzen des Verhaltens geht, in dem toleriertes und nicht akzeptiertes Verhalten markiert und bei Verstößen sanktioniert wird. Bildungstheoretisch bedeutsam, und zwar unter dem Aspekt der Moralentwicklung bedeutsam, sind solche Formen und Prozesse des Gruppenlebens und der Gruppenaktivitäten, weil die daran Beteiligten in spezifischer Weise relevante Praktiken und Argumentformen lernen, z. B. das Aushandeln von Grenzen, dass sie auch lernen, wie man mit Normbrüchen umgeht oder wie man Sanktionen praktiziert. Bedeutsam ist dabei vor allem: Die Kinder tun es selbst – schon in der Grundschule. Sie bewähren sich in der Situation als „produktive Realitätsverarbeiter“, und zwar unausweichlich, denn wegen der Struktur der Situation müssen sie sich auch aktiv verhalten. Auf der einen Seite gilt nämlich: „Fast alle Kinder begehen Normbrüche und werden dafür von anderen Kindern bestraft … Normbrüche und ihre Bestrafung gehören zu jeder Stunde des Alltags unter Kindern.“73 Das alles bleibt aber in die schulische Situation eingebunden; denn die Lernsituation bleibt ja erhalten. Normbrüche und ihre Bestrafung dominieren nicht
71In
den folgenden Analysen schließe ich eng, auch in manchen Formulierungen, an die Arbeiten von Lothar Krappmann und Hans Oswald an, vgl. u. a. L.K./H.O.: Alltag der Schulkinder. Weinheim 1995; H.O.: Helfen, Streiten, Spielen, Toben. Die Welt der Kinder einer Grundschulklasse. Opladen/Farming Hills 2008. 72Einschlägige Forschungen für diese Praxis u. a. bei Christoph Wulf u. a.: Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen 2001. 73Krappmann/Oswald 1995.
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den Alltag, aber der schulische Alltag selbst gibt die Anlässe vor, dass das Normproblem alltäglich präsent ist. In der Enge des Klassenzimmers und auf dem überfüllten Schulhof ist z. B. die Regelung von Distanz und Nähe eines der schwierigsten Probleme, das die Schule den Kindern in Eigenregie zu lösen aufgibt. Die größte Gruppe der sanktionierten Normbrüche entsteht durch die räumliche Ordnung des Klassenzimmers und der Schule. Man muss sein Territorium – schon zwischen Tisch und Bank – abgrenzen und gegen Übergriffe verteidigen, dabei „Angriffe auf das Selbst“, wie sie in unterschiedlicher Form zwischen Demütigung und Beleidigungen vorkommen, abwehren, erwartbar in der geschlechterspezifischen Varianz: Jungen belästigen die Mädchen eher körperlich, Mädchen die Jungen eher in psychischen Attacken (usw.). Auch Ordnungsfunktionen werden geschlechtsspezifisch wahrgenommen, Mädchen übernehmen Sanktionspraktiken, die der Lehrperson zugeschrieben werden, sie kritisieren und tadeln und ernennen sich selbst zu Hüterinnen des Rechts. Die Ziele der Sanktionen und die Art der Strategie sind aber insgesamt durchaus kinderspezifisch: Kinder bevorzugen Strategien, die sich direkt auf den Normbruch und nicht auf den Täter beziehen. Sie zielen darauf ab, die Störung abzustellen und sie arbeiten an der Wiederherstellung der Ordnung, oder, im Blick auf die Person des Normbrechers, auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts durch Sühne. Aber sie beherrschen auch reflexive Strategien, z. B. demonstratives Ignorieren einer Tat, so dass die Intention der Täter ins Leere läuft. Universalistisch ist schon die dabei genutzte Fähigkeit, sich in die Perspektive des Anderen zu versetzen, sie zu übernehmen, denn als regulatives Prinzip ist erkennbar, dass beide Seiten ihr Gesicht wahren können – „Umgang mit Menschen“ ist auch hier als Herausforderung an die bildenden Selbstkonstruktion also immer präsent. Selbstverständlich kann man diese alltägliche Form der Moralerziehung durch pädagogisch bewusste Interventionen steigern und stärken. Die Theoretiker der Moralentwicklung und Moralerziehung haben unterschiedliche Strategien ausgebildet, bezogen auf die Formen der Interaktion oder die Strukturen der Organisation, bis hin zu komplexen Modellen der Schule als einer „just community“.74 Die unterschiedlichen Modelle sind auch schon nach ihren Wirkungen erprobt und nach ihren Voraussetzungen diskutiert worden; das muss hier nicht im Detail ausgebreitet werden. Entscheidend für eine bildungstheoretische Betrachtung der Schule ist vielmehr, dass sie tatsächlich, wie die Schulsoziologen behaupten, kraft der Struktur ihres Arrangements auf Differenzen hin sozialisiert, die nicht nur kognitiv, sondern auch moralisch von Bedeutung
74Eine
so umfassende wie lehrreiche Übersicht zu diesem Thema geben Fritz Oser/Wolfgang Althof: Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Stuttgart 2. Aufl. 1994, bes. S. 337 ff. im 3. Teil „Moralerziehung durch gerechte Gemeinschaft und Demokratisierung“, unter dem bezeichnenden Titel „Eine praktische Theorie der Bildung“.
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sind. Schule lässt sich deshalb auch mit gutem Grund als ein Ort identifizieren, in dem und an dem sich Identität bildet, als die Form, in der die Subjekte die Erfahrungen zur Einheit formen, mit denen sie sich in der Schule konfrontiert sehen – kognitiv, sozial, moralisch – in den Dimensionen also, die der Bildungsbegriff subjektbezogen in ihrer Genese und Konstruktion beschreibt.75 Es ist die schulisch präsente kommunikative Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen, die alltägliche Herausforderung also, sich selbst in der Schule angesichts der Schule zu sehen, die solche Bildungserwartung präsentiert, d. h. angesichts von Herausforderungen, die der Unterricht und seine Themen mitsamt den universalen Leistungskriterien bieten, die damit verbunden sind, die zugleich aber auch das Schulleben alltäglich präsentiert. Als Bildungserfahrungen sind diese Welten schon deshalb zu qualifizieren, weil sie unausweichlich auch Enttäuschungen bereithalten, die Erfahrung der Inkompetenz innerhalb selbst gesehener Differenzen in der Gruppe, aber natürlich auch Erfolgserlebnisse, die unvermeidbar auftreten und Bedeutung je individuell und für die Gruppe haben, aber auch eine große Herausforderung für die Lehrenden darstellen. Praktiken des Schulehaltens, Formen der Anerkennung oder Missachtung der Lernenden, erzeugen bedeutsame Unterschiede, und natürlich wird man Wertschätzung empfehlen, aber Differenzerfahrung und Folgeprobleme nicht vollständig vermeiden können. Für den je individuellen Bildungsprozess bleibt die Schule allemal bedeutsam, auch in den paradoxen Wirkungen, die man nicht ausschließen kann: „Ich hatte schlechte Lehrer, das war eine gute Schule“. Insofern geschieht das, was Schule leistet, immer in Varianz, abhängig von der Praxis der Schulen und ihrer Lehrer sowie von den Aktivitäten der Lernenden gleichermaßen. Die Effekte sind in ihrer Varianz auch noch geprägt und modifiziert durch die Milieus, aus denen die Lernenden kommen, und durch die Milieus, z. B. der peer groups, in denen die Heranwachsenden im Umfeld der Schule leben. Aber das betrifft nicht die Ebene der grundlegenden Kompetenzen, sondern die variierende Ebene der Performanz. Eine Betrachtung aus der Perspektive bildungstheoretischer Überlegungen und mit Aufmerksamkeit für die Prozesse der Selbstkonstruktion der Individuen sowie den bildenden Zusammenhang dieser Lernorte, mit denen die Heranwachsenden konfrontiert werden und
75Die
Literatur dazu, selbst die relevante empirische Forschung, ist breit. Eigene Forschungen und eine Übersicht zur einschlägigen Forschung präsentieren in großer Dichte z. B. Helmut Fend, u. a.: Der Umgang mit Schule in der Adoleszenz. Aufbau und Verlust von Lernmotivation, Selbstachtung und Empathie. Bern usw. 1997 oder – aktueller in den Daten, aber anschlussfähig an die ältere Forschung – Johannes König/Christine Wagner/Renate Valtin: Jugend – Schule – Zukunft. Psychosoziale Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung. Ergebnisse der Längsschnittstudie AIDA. Münster 2011; hier nehmen die Autoren in der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse auch explizit bildungstheoretische Erwartungen und Begriffe auf, wenn sie „die jugendliche Person als ‚Werk ihrer Selbst‘“ interpretieren, natürlich konstituiert in Auseinandersetzung mit einem definierten – schulischen – Rahmen und distinkten schulischen wie außerschulischen Welten, nicht allein durch Unterricht.
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die sie selbst gestalten, zeigt genau diese Möglichkeiten von Schule.76 Die allein kritischen Außenbeobachter sehen deshalb nicht die Vielfalt und die Möglichkeiten, und natürlich auch die Ambivalenz von Schule nicht,77 sondern stoßen in den vermeintlich nur noch konstatierbaren „Bildungsqualen“ zuerst auf die Folgen der Habitualisierung ihrer eigenen Beobachterperspektive und der verinnerlichten Rolle des distanzierten Beobachters, dem Kritik ohne Selbstkritik zur professionellen Deformation geworden ist.78 Die vielfach praktizierte, begrifflich vielleicht noch eindeutige Unterscheidung nach formalen – also schulischen – und informellen – also lebensweltlichen, außerschulischen – Bildungswelten verliert angesichts dieser Praxis der Jugendlichen allerdings ebenfalls ihren Sinn. Sie konstruieren sich ihre Welt selbst, als je emergente Realität, in der gleichzeitigen Präsenz dieser Welten und der mit ihnen verbundenen Aufgaben und Herausforderungen. ‚Gute Schulen‘ wiederum konstruieren sich selbst als eine Welt, in der diese Dimensionen in der Ordnung des Sozialen ebenso Thema bewusster Beobachtung und Gestaltung sind wie die Themen des Unterrichts, die gemeinsam geteilten Ziele der Arbeit und die präferierten und öffentlich sichtbar ausgezeichneten Formen der Interaktion. Nicht nur der Erwerb von Kompetenzen ist deshalb als spezifisches Ergebnis schulischer Praxis anzusehen, bildungstheoretisch gleich bedeutsam ist die zwanglos-zwingend in diesem Prozess erzeugte Erfahrung und Beurteilung der eigenen Biografie in Relation von Schule und individuell zurechenbarer Praxis. Für den bildungstheoretischen Defätismus kritischer Schultheorie besteht deshalb auch überhaupt kein Anlass, Schule ist für die Prozesse der Selbstkonstruktion der Subjekte ein zentraler Ort. Aber zweifellos gilt auch, dass man daran arbeiten kann, ihn besser und noch zieladäquater zu gestalten. Erfolgreich ist diese Ambition aber nur deswegen, weil sie an Strukturen anknüpfen kann, die Schule in ihrer bildungstheoretisch relevanten Eigenlogik schon immer sachlich, im Curriculum, sozial, in der Altersgruppe, und – wie man hinzufügen muss, – auch zeitlich, in der als Schonraum ausgebildeten Zeit des Experimentierens mit Rollen und Herausforderungen, präsent hält. Es ist vor diesem Hintergrund schon paradox, dass ausgerechnet die Erziehungswissenschaftler sich nur mühsam dazu
76Die Separation von Schul- und Jugendforschung wird immer deutlicher überwunden, vgl. u. a. Werner Helsper/Rolf-Torsten Kramer/Merle Hummrich/Susann Busse: Jugend zwischen Familie und Schule. Eine Studie zu pädagogischen Generationsbeziehungen. Wiesbaden 2009 und die späteren Arbeiten aus der Hallenser Forschergruppe. 77Für Andreas Gruschka z. B. ist das, „was heute in den Schulen als Fortschritt gefordert und gefeiert wird“, nur noch „ein negativer Bildungsprozess der perfiden Art“, so A.G.: Kann man noch von Bildungsprozessen sprechen, die in einem Bildungserlebnis kulminieren? In. Pädagogische Korrespondenz H. 54, 2016, S. 4–13, zit. S. 9. 78Gelegentlich räumen das die Kritiker wenigstens, ratlos sich selbst gegenüber, sogar deutlich ein, ohne dass es im „Zeitgeist“, den sie als Erklärung bemühen, angemessen analysiert wäre, vgl. die Einleitung der Herausgeber zu Sandra Rademacher/Andreas Wernet (Hrsg.): Bildungsqualen. Kritische Einwürfe wider den pädagogischen Zeitgeist. 2015.
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bereitfinden, diese Fragen als Kern einer pädagogischen Theorie der Schule zu sehen, aber immerhin, es gibt Ansätze dazu.79 Selbstlernen charakterisiert die Wirklichkeit der Schule, sie stellt eine Welt dar, die allein von den strukturierenden Medien und der Lernorganisation oder den Aktivitäten der Lehrpersonen, pädagogisch also, oder in outcome-orientierten Messungen ihrer kognitiven Effekte nicht angemessen zu verstehen ist. Insofern ist Schule auch eine Bildungswelt, besser oder schlechter in ihren Wirkungen, auch in den Gestaltungsmöglichkeiten offen, aber ihrer Struktur und Form nach immer eine Welt, die zum Selbstlernen herausfordert. Im Grunde wird diese systematische Prämisse der schulischen Form des Lernens auch von allen Schulkritikern und reformorientierten Pädagogen selbst noch unterstellt, denn sie unterstellen die bildungsförderlichen Dimensionen der Schule ja auch, indem sie ihre je eigene Form von Schule gründen. Aber es sind dann ebenfalls separierte Lernwelten, die eine themenbezogene Kommunikation unter dem Aspekt der je individuellen Differenzerzeugung ermöglichen, die Eigenlogik schulischer Zeit nutzen, die Chancen der professionellen Betreuung von Lernen, die Möglichkeiten der Gruppe und der Organisation für soziales und moralisch relevantes Lernen. Schule muss deshalb als Ermöglichungsraum von Bildung gesehen werden, dadurch hat sie auch ihre bildungstheoretische Legitimation. Ihre Wirkung zeigt sich dann in der Varianz aller empirischen Bildungswelten, sie ist nicht vorab durch propagandistische Zuschreibungen und reformerisch stilisierte Selbstbeschreibungen zu sichern – oder schulkritisch zu dementieren.
17.3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken der Selbsttätigkeit und der pädagogische Kontrollblick Aber Schule ist natürlich nicht die einzige Bildungswelt, vielleicht noch bedeutsamer, jedenfalls spezifisch wirksam sind die autonomen, lebensweltlich verankerten Praktiken der Heranwachsenden selbst. Sie zeigen, wie sie Selbstbildung umfassend praktizieren, und damit zugleich, wie sie als gesellschaftliche Akteure zum Problem werden, zu einer öffentlich, staatlich oder pädagogisch, als Gefahr codierten Lage, die von Bildung ausgeht. Das Phänomen setzt auch früh ein. Kaum haben die Theoretiker der Bildung das „Selbstlernen“ entdeckt und zum Programm erhoben, offenbar so deutlich, dass es die Menschen, selbst
79Generell
würde ich deshalb die inspirierende Apologie der Schule als Bestätigung meiner Thesen lesen, die sich aktuell auch findet: Jan Masschelein/Maarten Simons: In Defence of the School. A Public Issue. (flämisch 2012) engl: Leuven 2013 (als E-Book im Netz präsent). Beide Autoren sehen u. a. in der separierenden Zeit- und Weltordnung den spezifisch produktiven Status und die Möglichkeiten von Schule. Für die offenen Fragen auch Roland Reichenbach/ Patrick Bühler (Hrsg.). Fragmente zu einer pädagogischen Theorie der Schule. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf eine Leerstelle. Weinheim/Basel 2017.
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schon die jungen, auch praktizieren, werden diese Praxis und ihr Programm im gleichen Moment zum Objekt kritisch-skeptischer Beobachtung, und zwar gesellschaftsweit, nicht etwa nur in konservativen Krisenszenarien. Das Selbstlernen zeigt Folgen, die offenbar nicht erwünscht sind, und es sind nicht allein die Pädagogen und Philosophen, sondern auch Vertreter disziplinierender Obrigkeiten, die im Selbstlernen eine Gefahr sehen, diese Gefahr thematisieren, in allen Dimensionen und in den schrecklichsten, individuell wie gesellschaftlich drohenden Folgen beschreiben und auf Abhilfe, zumindest auf Prävention sinnen. Dabei geht es, bei dem Exempel, das hier diskutiert werden soll, im Grunde nur um das Lesen und um die selbstständige Nutzung der Kompetenz des Lesens, um eine Praxis also, in der sich die Kinder und Jugendlichen die Welt selbst aneignen, nichts anderes tun, als von den Kompetenzen Gebrauch zu machen, die ihnen in öffentlichen Lernprozessen als so sinnvoll wie notwendig für ein eigenständiges Leben angesonnen werden. Diese Praxis wird aber wie eine Krankheit diagnostiziert, als „Lesesucht“, ja als ein zugleich nach außen aggressives wie nach innen selbstzerstörerisches Verhalten, eine „Lesewut“, bis zur Konsequenz der psychischen Selbstzerstörung. Im Kontext von Bildung als Selbstkonstruktion ist dieses Phänomen – der eigenständigen Lektüre und ihrer öffentlich kritischen Codierung – so lehrreich wie ernüchternd. Das Phänomen zeigt nämlich nicht nur, und ermutigend, dass die im Bildungsprozess erworbenen Kompetenzen je subjektiv einen Autonomisierungsprozess bedeuten, sondern auch eigene gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, und zwar mit ambivalenten Folgen, auch solchen, die zur Begrenzung der Kompetenzen und der Autonomie des Subjekts führen. Bildung geschieht zwar, sie gilt in den angestrebten Kompetenzen als notwendig, aber zugleich provoziert sie gesellschaftliche und pädagogische Kontrollphantasien. Das hier zu diskutierende Beispiel ist bildungshistorisch relativ gut bekannt,80 so dass hier auch nur die bildungstheoretisch relevanten Fragen diskutiert werden müssen, d. h. vor allem die paradoxe Tatsache, dass sich das Zugeständnis und die Einschränkung von Selbsttätigkeit und Selbstlernen in der Phase des Ursprungs des modernen Bildungsgedankens quasi uno actu ereignen. Der historische Kontext ist das Lesen und die Generalisierung, zumindest die Ausweitung von Lesekompetenz, wenn es denn keine Leserevolution gewesen sein
80Zum
Thema schon Dominik von König: Lesesucht und Lesewut. In: Herbert G. Göpfert (Hrsg.): Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, 13. und 14. Mai 1976. Hamburg 1977, S. 89–113; im Kontext der Geschichte der öffentlichen Leihbibliothek als dem Ort der Ermöglichung privater, schulisch nicht kontrollierter Lektüre sehr materialreich und informativ Alberto Martino, in Zus.arbeit mit Georg Jäger: Die Deutsche Leihbibliothek: Geschichte einer literarischen Institution 1756–1914. Wiesbaden 1990, bes. S. 14–29 (Kap.: Die Lesesucht. Lektürekritik und Kritik an der Leihbibliothek), jüngst und mit der gebührenden Distanz: Hennig Wrage: Jene Fabrik der Bücher. Über Lesesucht, ein Phantasma des medialen Ursprungs und die Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 102 (2010), 1, S. 1–21.
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soll,81 ist das diagnostizierte Problem. Diese neu erworbene Fähigkeit provoziert sogleich Attribuierungen, die diese Kompetenz im Gebrauch kritisch sehen, sie nicht nur positiv als „Leselust“, sondern in der Regel anders, nämlich eindeutig abwertend als „Lesewut“, ja als „Lesesucht“ zum Thema und Problem machen. Es ist also nicht allein die schon immer bekannte und als Gegenstand des pädagogischen Kampfes klar bezeichnete und im Nachgang auch viel diskutierte Kontrollsucht gegenüber der Natur der Kinder, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert im Kontext reformorientierter Pädagogik neu ausprobiert und als ein Exempel „schwarzer Pädagogik“ zeigt, erwartbar im Kontext von Sexualität und Onanie und auch mit einer besonderer Schärfe der pädagogischen Interventionspraktiken.82 Hier, beim Lesen, trifft man auf die pädagogisch bereits schon konstruierte zweite Natur, sie provoziert die Kontrollwut. Das bekannte pädagogische Thema wird also in seiner modernen Form sichtbar, als Selbstreferenz erfolgreicher Pädagogik angesichts der Selbstkonstruktion der Subjekte. Die „Lesesucht“ ist bildungstheoretisch als Thema deshalb so neu wie gravierend (und wird die „vielleicht erste große Diskussion um Medienschutz in der Neuzeit“83), weil die Pädagogik nicht auf die bekannten Defizite der Natur, sondern auf die Erfolge ihrer eigenen Praxis trifft. In der Kritik der kindlich-jugendlichen Lesepraxis muss sie deshalb auch die nicht-vermuteten, auch die nicht-intendierten und die dennoch offenbar systematisch erwartbaren Implikationen ihrer eigenen Wirksamkeit bearbeiten. Ein Systemproblem ist das deswegen, weil die bildungstheoretische Implikation des Selbstlernens und der Selbstbildung so offenkundig in einer ihrer Kernannahmen dementiert wird, dass nämlich das Gute und Wahre zusammengehören, gemeinsam realisiert und auch gemeinsam gesteigert werden. Das ist zugleich ein spezifisch pädagogisches Problem, nicht nur ein weiteres Exempel allfälliger Zensurambitionen, weil von dem kritischen Zugriff primär Kinder betroffen sind, Unmündige, wie die Zuschreibung lautet, die deshalb auch immer die begleitende Frage aufwerfen, ob dieser kontrollierende Zugriff nicht auch legitim, ja pädagogisch sogar geboten ist. Das erzeugt eine Hypothek in der Beurteilung, auch für die nachfolgende, in der Medienreferenz variierte, aber sonst funktional äquivalente Praxis bis in die Gegenwart und damit auch für die Wiederkehr der Kontrollphantasien und -formen. Die Zuschreibung der Autonomie, die das Selbstlernen offenkundig und aus guten Gründen gemacht hat, kann anscheinend an einem Adressaten
81Für
die „veränderten Lesegewohnheiten“ Hans Erich Bödeker: Die bürgerliche Literatur- und Mediengesellschaft. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II, München 2005, S. 499–520, bes. S. 507 ff., zur „Lesewut“ dort knapp S. 511, im Blick auf die Erwachsenen und als Indikator für die Differenzierung des Lesepublikums. 82Die inzwischen klassische, zwar polemisch ausgewählte und weitgehend unhistorisch kommentierte, aber wegen des ungehemmten pädagogischen Kontrollfurors natürlich immer noch erschreckende Auswahl zu diesem Thema bietet Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt usw. 1977. 83So die Qualifizierung bei Wrage: Jene Fabrik der Bücher, (2010), S. 12, zusammen mit der These, dass „alle folgenden [Medienschutzdebatten] ihre Argumente auf(nehmen)“.
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leicht widerrufen werden, dem man zwar Selbstlernen als technische Bedingung des Kompetenzerwerbs einräumt, der aber nicht zugleich den Charakter der moralischen Person schon besitzt, die über die erworbenen Kompetenzen auch selbst verfügen darf, sondern nur über den Status des unreifen Kindes, das im Gebrauch der Kompetenzen kontrollbedürftig ist. Die Kontrolle der Situation erlaubt deshalb den Pädagogen und ihren Helfern, ihre Praxis nicht als Umgang mit den eigenen falschen Annahmen zu codieren, sondern diese Praxis vor allem auf das unreife Kind und sein Schutzbedürfnis zu attribuieren. Bildungstheorie, dieses Problem wird also damit erzeugt, muss für sich und ihre Praxis die Balance von Freisetzung und Kontrolle schon im Ursprung präzisieren und legitimieren. Wie sieht die Lage historisch konkret aus? Man erkennt das Problem zunächst im ausgehenden 18. Jahrhundert, aber es wiederholt sich bis in die Gegenwart und zeigt auch insofern seine strukturelle Bedeutung. Folgt man dem diskursiv präsenten Bestand zunächst für den Ursprung, so wird seit der meist als erste Nennung für „Lesewut“ genannten Quelle – Rudolf Heinrich Zobels Briefe Über die Erziehung der Frauenzimmer im Jahre 177384 – das Problem breit und intensiv diskutiert. Von den Pädagogen bis in Kants Anthropologie ist die „Leserei“ ein Thema. Kant bezieht sich in seiner Stellungnahme zur „Leserei“85 dabei nicht etwa nur auf Kinder, auch nicht nur auf Frauen, sondern insgesamt auf „unsere Lesewelt von verfeinertem Geschmack“, aber er macht auch gleich bewusst, dass der Lesestoff das Problem darstellt und die zu kritisierenden Folgen erzeugt. Denn die „Lesewelt“ werde „durch ephemerische Schriften immer im Appetit, selbst im Heißhunger zur Leserei (eine Art von Nichtstun) erhalten“; „nicht um sich zu kultivieren, sondern zu genießen“ lese diese Welt, wähle jedenfalls nicht die erwünschte Option beim Lesen, mit den fatalen Folgen, „dass die Köpf dabei immer leer bleiben und keine Übersättigung zu besorgen ist; indem ihrem geschäftigem Müßiggang den Anstrich einer Arbeit geben.“ Die Präferenz für Arbeit kollidiert mit der Neigung zum Genießen, nicht die Pflicht setzt sich durch, sondern Publikationen wie das „Journal des Luxus und der Moden“,86 das Kant als abschreckendes Beispiel zitiert. Es ist der Kontext von „Lust und Unlust“, in dem Kant das Beispiel einführt, „von der Langeweile und dem Kurzweil“, das sind die konkreten Themen, Müßiggang und Genießen sind die problematischen Begleitumstände und Effekte ungezügelter Lektüre. Die „anthropologische Didaktik“ wird deshalb auch zu dem Teil der Anthropologie, in den Kant das Thema einordnet und neue Aufgaben sieht.
84So
von König 1977, S. 91 f. Anthropologie, hrsg. von Brandt, Hamburg 2000, § 61, S. 145 – dort auch die folgenden Zitate und Hervorhebungen. 86Von F.J. Bertuch und J.M. Kraus wurde ein Journal unter diesem Titel seit 1786 ediert, wie der Herausgeber zu Kant, Anthropologie, S. 145 erläutert. Hans Magnus Enzensberger hat den Titel 1990 wieder aufgenommen, und zwar als Untertitel zu „Transatlantik“, vgl. H.M. Enzensberger: Transatlantik (1980). In: Ders.: Meine Lieblings-Flops, gefolgt von einem Ideen-Magazin. Berlin 2011, S. 128–131. 85Kant,
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Kant steht aber nicht allein, auch nicht in der Kritik solcher Lesepraxis. An anderer, ebenfalls viel zitierter Stelle muss gleich die Menschheit bemüht werden: „Ein Buch lesen, um bloß die Zeit zu tödten,“, das kann man 1799 lesen, „ist Hochverrath an der Menschheit, weil man ein Mittel erniedrigt, das zur Erreichung höherer Zwecke bestimmt ist, und ein Geschenk mißbraucht, daß man uns zu edlern Absichten gab. Ohne Gewinn für sein Herz und für seinen Kopf lesen, ist eine Sünde, die sich kein Mensch verzeihen sollte, so lange er noch seines Verstandes mächtig ist.“87 Johann Adam Bergk, einer der populären Aufklärungsphilosophen, argumentiert im Grunde aber insgesamt viel distanzierter und reflektierter über das Lesen als in dem Zitat, auf das man gelegentlich seine Überlegungen reduziert. Er sieht nämlich „das Bücherlesen als eine Bildungsanstalt zur Erweckung unserer Anlagen und zur Vervollkommnung unserer Kräfte“ durchaus auch mit Anerkennung (S. VIII). Der Leser erwerbe „Selbsttätigkeit der Denkkraft, und Selbstständigkeit des Charakters“, vorausgesetzt „alle Stoffe“ des Lesenden sind „zur Erreichung von Vernunftzwecken bestimmt“… „und daß alle Sachen den Menschen als mit Freiheit begabten Wesen dienen“ (ebd.), „zur Beförderung unserer Mündigkeit“ (IX). Aber, ich werde darauf zurückkommen, auch für den Umgang mit den schlechten Stoffen hat er einen bildungstheoretisch akzeptablen Vorschlag. Der mainstream der öffentlichen Debatte lebt dagegen nur im Modus der Entrüstung. Gattungsspezifisch konkret ist es vor allem „die Romanleserey“,88 die den Horror weckt, meist spezifiziert auf besondere Adressaten, die Frauen, denn es gehe um „Die Lesesucht unserer Weiber“, die in eigener Ikonografie warnend präsentiert wird.89 Goethes Werther wird als abschreckendes Beispiel der Romanleserei angeführt,90 führe solche Lektüre und Praxis doch zum Tode. In Campes Wörterbuch kann man 1806 das Syndrom schon systematisiert finden,91 zwischen „Lesen“ und „Leswürdig“ wird es abgehandelt, die „Lesesucht“ ist das zentrale Problem an der „Leserei“, wie man sie aktuell in der „Lesewelt“ studieren kann. Hier gäbe es nämlich einen „Lesepöbel“. Dazu zählt Campe „alle solche Leser,
87Johann
Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799, zit. S. 59. 88Bei Münch wird der katholische Pädagoge Sailer zitiert mit der These, „Die Leseseuche aller Art macht die Töchter arm an Geist und krank an Leib, und Romanleserei insbesondere ganz untüchtig für dieses Erdenleben.“ (Münch, 1842, Bd. 2, S. 106). 89Vgl. für die Stabilität des Themas u. a. – in ironischer Brechung – Stefan Bollmann: Frauen, die lesen, sind gefährlich. Lesende Frauen in Malerei und Fotografie. München 2005. 90Für diesen Kontext und seine Stabilität in der öffentlichen Kontrollpraxis knapp und konzis Georg Jäger: Die Leiden des alten und neuen Werther. Kommentare, Abbildungen, Materialien zu Goethes Leiden des jungen Werthers und Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. München 1984, bes. S. 93 f.: Literatur und Lektüre im Werther und ‚Wertherfieber‘. 91Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 3. Braunschweig 1809, S. 106/107, Zitate von dort, Nachweise im Text. Campe hatte in der „Allgemeinen Revision“ bereits 1785 die „Lesewuth“ als „litterarischen Luxus“ scharf kritisiert (vgl. von König 1977, S. 93 f.).
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welche ohne Auswahl und Geschmack, ohne Verstand und Nuzen nur zum Zeitvertreibe Alles was ihnen in die Hände kömmt, lesen.“ (106)92 Der wahre „Leser“ dagegen sei „eine Person“, wie Campe im Blick auf Lesepraxis in der Natur, also für „Ährenleser, Weinleser, Erbsenleser etc.“, erläutert, „welche liest, eines nach dem anderen aufnehmend sammelt, oder etwas durch Aussuchung oder Wegnehmung des Schlechten, Unbrauchbaren reiniget.“ (106) Das alles treffe auf „die Leserei“ nicht zu, nicht zufällig rede man von ihr „verächtlich“, und vollends dann, wenn sie die Symptome der „Lesewut“ oder, wie verwiesen wird, „Lesesucht“ zeige (107). „Lesesüchtig“ seien Menschen, erfährt man dort, „die selbst das Schlechte nicht ungelesen lassen.“ Auch hier ist die moralisierende Codierung also gelungen, wahres und falsches Lesen ist unterscheidbar, das richtige Sammeln und das Reinigen erzeugen die Differenz. Die Natur dagegen biete das positive Beispiel, denn sie zeige, dass störende Begleiteffekte nicht vorkommen, die Phantasie wird nicht genährt, die Einbildungskraft durch das Material kontrolliert, auf das Handwerk und die Fertigkeit kommt es an. Lesen wird seiner genuinen Qualität beraubt, auf eine Technik reduziert, in den Dimensionen von richtig und falsch bestimmt und an einem Material spezifiziert, das schon durch Augenschein die Unterscheidung nach gut und verdorben erlaubt. Von den Pädagogen wird ganz in diesem Sinne die „Leserei“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch als eine falsche Praxis, als „Leseseuche“93 bezeichnet, jetzt aber auch deutlicher nach der Logik des Lernens beurteilt. Dabei verfestigt sich die Beschreibung einer Praxis und ihrer Folgen, die den beobachtenden Pädagogen entsetzen und zur moralischen Entrüstung treiben muss: „eine unmäßige Begierde, seinen eigenen, unthätigen Geist mit den Einstellungen Anderer aus deren Schriften vorübergehend zu vergnügen. … nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu lesen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, und diß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier.“ (105) Unterscheidungen wie diese allerdings, unkontrollierte „Neugier“ von der „eigentlichen Wißbegier“ zu trennen, deuten die pädagogische Überformung an und eröffnen zugleich die Legitimation des eigenen Zugriffs, dass nicht das pädagogische Prinzip, also die Vermittlung von Kompetenzen, sondern deren falsche Nutzung das Übel erzeugt. Die Übel aber werden als manifest dargestellt, in aller Breite der Tugenden, die man über Erziehung zu sichern und zu ermöglichen hofft und die in der Lesesucht verfehlt werden: „Zeitverschwendung“, „Müßiggehen“ werde „zur Gewohnheit“, das wiederum „bewirkt … eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte“, fördere „eine reizbare Einbildungskraft“, und zwar in dramatisch gesteigerter Form, nämlich
92Als
Beleg für den Begriffsgebrauch führt er ein Zitat aus der Allgemeinen Deutschen Bibliothek an: „Und wer möchte ihn um den Trost beneiden, den Beifall des Lesepöbels erhalten zu haben.“ 93So s.v. „Lesesucht (Leseseuche)“ in: Matthias Cornelius Münch (Hrsg.). Universal-Lexicon der Erziehungs- und Unterrichtslehre für ältere und jüngere christliche Volksschullehrer. Augsburg, 2 Bde., 1840/42, zit. Bd. 2, 1842, S. 105–107 (Nachweise in Klammern im Text).
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bis „in’s Mißgeburtartige“. Dabei bilden sich falsche Gewohnheiten, denn „Sie [solche Menschen] gewöhnen sich, alles nur auf die Unterhaltung ihrer Phantasie zu leiten. Sie wollen nur was diese kizelt, und halten dieß für das Wichtigste. … verdorben, und … für … Stand und Beruf untüchtig gemacht.“ Verantwortlich sind die Autoren der Texte, nahezu alle: „Die meisten von den Schriftstellern unserer Zeit geben der Welt in ihren Büchern nur die traurigen Früchte ihres verwahrlosten Geistes und Herzens … die unreinen Bilder ihrer Träumerei, aber nicht das Wahre und Schöne … Selbstgetäuscht und verführt täuschen und verführen sie auch andere.“ Erst danach wird die „Lesesucht“ in ihrer altersspezifischen Problematik diffe renziert: „auf die Jugend … das unerfahrne Herz“ wirke sie „am empfindlichsten“, schon durch nur „ein auf Sittenverderbniß verrechnetes Buch eines geilen Wollüstlings … wird ihre Einbildungskraft mit unanständigen Vorstellungen, mit verschönernden Gemälden viehischer Triebe, mit Verzierungen des Verbrechens vertraut gemacht“. Diese Lektüre erkläre auch einen Status der Jugendlichen, den sie nach der Logik der Pädagogik noch nicht haben dürften, denn diese Lektüre zählt zu den „geheimen … Ursachen der verfrüheten jugendlichen Reife“ (105). Damit wird eine „Verfrühung“ provoziert, die selbst fatale Folgen für die Jugendlichen zeitigt; Indizien „ihres geistigen und körperlichen Absterbens unter der Wuth geheimer Sünden“ erkennt der Pädagoge, „Viel und Halbwissen, Kenntniß ohne Gründlichkeit; daher dann auch Mangel an Ueberzeugung, Ergreifen des Scheins für Wahrheit .. starker Hang nach Büchern, welche die Neugier spannen und die Phantasie beschäftigen.“ Kognitiv und moralisch, emotional und für den eigenen Lernprozess droht also Verfall, statt Disziplin regieren „Phantasie“ und unkontrollierte „Einbildungskraft“, die schon immer als gefährlich galt,94 und natürlich, das alles wird durch den Medienmarkt, „durch die Leihbibliotheken gefördert“, die den unkontrollierten Zugang zur Lektüre aus dem Verdienstkalkül heraus eröffnen (106). Was kann man tun? Die Pädagogen empfehlen Prävention und Kontrolle. „Christliche Obrigkeiten“, wie Münch mahnt (106), wissen zudem, dass das zu „freie Censurgesetz“ solches Unheil mit erzeugt, denn es „ahndet meist nur solche Grundsätze, welche mit denen des Staates nicht ganz harmoniren … aber man ist gleichgültig bei Erscheinung solcher Schriften, welche Religion und Sittlichkeit an der Wurzel angreifen oder wenigstens ihre Vorschriften lächerlich machen.“ Es wird zur Aufgabe der „Eltern und Lehrer … auf die Lesereien der Jugend nicht minder als auf deren Gespielen95 ein wach-/sames Auge haben … so, daß ihnen ein natürlicher Abscheu gegen alles Unedle und Verderbliche entsteht.“ Auch operative Umsetzungsvorschläge fehlen nicht, die mit starken Wirkungsannahmen
94Herder
votierte (in den Palmblättern 1786) energisch für die „Bezähmung der Einbildungskraft als der gefährlichsten aller menschlichen Gemüthsgaben“, hier zit. nach Hans Heino Ewers: Einleitung. in: Ders. (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. Stuttgart 1980, S. 5–59, zit. S. 54. 95Die peer group wird als nächste Instanz der Verführung des Kindes sichtbar, vgl. unten „Jugendkultur“!
17.3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken …
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verbunden werden: „zuerst die vortrefflichsten Schriften zum Lesen geben … damit sie nachher desto lebhaftern Eckel gegen das Schlechte empfinden.“ (107) Die Begründung ist selbstverständlich und sie bestätigt auch noch einmal die Hierarchie der Werte zwischen dem „Guten“, dem „Schönen“ und dem „Wahren“: „Was hülfe den Kindern alle Bildung des Geschmacks, wenn darüber die Reinheit ihres Herzens verloren gienge; was alle Erkenntniß der Welt und ihrer Dinge, wenn diese ihre Erkenntniß ihrer höhern Bestimmung und der göttlichen Dinge verdunkelte?“ Von einer weltlichen, säkularisierten Orientierung kann nicht die Rede sein, Bildung aktualisiert bei diesen Pädagogen im Kampf gegen die Leselust die alten religiösen Vorstellungen: „Das Lesen heiliger und anderer Schriften soll die Jugend nur dahin führen, daß sie vollkommen werde in ihrem für den Himmel auserkorenem Geiste.“ (107). Nur wenige Diskutanten sehen das Thema, bei aller Dramatik, die sie auch erkennen, dennoch relativ nüchtern. Adam Bergk, der einerseits den „Verrath an der Menschheit“ konstatiert, wenn man nur zum Zeitvertreib liest, ist andererseits höchst skeptisch gegen Verbote.96 Bergk lobt vielmehr den „Skepticismus“ als Tugend (38), auch gegen solche Akteure, die meinen, gute und schlechte Literatur einfach unterscheiden zu können. Bergk kann sogar den Nutzen der Lektüre schlechter Romane (243 ff.) diskutieren, und zwar in einem Modell literarischer Bildung, das nicht alltäglich ist. Zunächst hält er die Zuschreibung als gut oder schlecht für relativ: „was dem Einen nutzt, ist dem Anderen schädlich“ (41). „Schlechte Romane“, dann gibt er doch eine Definition, seien solche, die „weder eine schöne Darstellung haben, noch ideenreich sind“ (243 f.), ästhetisch und intellektuell zugleich also nicht befriedigen. Wie liest man sie dann, fragt sich auch Adam Bergk, im Modus der Selbstbildung, könnte man seinen Vorschlag bezeichnen. Die von ihm empfohlene Lektürepraxis sei auch unabhängig von der Qualität der Lektürevorlage möglich, quasi in kontrafaktischer Lektüre: „Wir“, so schlägt er vor, „müssen … uns bemühen, zu erforschen, wie die Darstellung hätte beschaffen seyn müssen, wenn sie uns hätte gefallen sollen.“ (244) Die Lektüreerfahrung selbst bildet also den Ausgangspunkt, gegen die Intention des Autors gewissermaßen, weil sie die Fragen anstößt, die dann bearbeitet werden müssen: „Das Studium der Fehler muss uns in das Reich der Wahrheit einführen.“ (245) – stilistisch wie moralisch, dann „verscheuchen wir auch die Langeweile“ (ebd.), Bergk vermutet allerdings, dass eine solche Strategie noch nichts für „junge Gemüther“ sei (245). Die aufklärerischen Pädagogen bevorzugen deshalb andere Strategien, solche, die in der Logik der neuen Erziehung verbleiben, Lesen also verbreiten, aber gleichzeitig kontrollieren.97 Schlechte Literatur kommt jedenfalls für sie
96Johann
Adam Bergk: Die Kunst, Bücher zu lesen, nebst Bemerkungen über Schriften und Schriftsteller. Jena 1799, Zitatnachweise in Klammern im Text. 97Jürgen Oelkers: Tugendliteratur und die pädagogische Kultur „moralischer Gefühle“. Moralische Erziehung als neue pädagogische Technologie in der sensualistischen Psychologie des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 2(1995), S. 85–110.
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17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang
nicht ins Kinderzimmer oder in die Hände der Jugend, der Mut von Bergk fehlt ihnen. Zuerst bieten sie gute alternative Literatur, Kinder- und Jugendliteratur, didaktisiert, moralisierend, lehrhaft. Das geht bis zur Umschreibung der klassischen Literatur ad usum delphini, also in der bewährten und erprobten pädagogisch legitimierten Zensurpraxis, wie es z. B. Campe für den Robinson exemplarisch vormacht. Der bietet am Ende zwar nicht mehr den Defoe, aber doch, wie ein Pädagoge noch 2005 anerkennend formuliert, ohne auch nur am Rande die Paradoxie der Gattung und die bildungstheoretische Problematik seines Campe-Lobes zu sehen, „eine Anleitung zu Selbstaufklärung und Selbstdenken, Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit durch eine ‚geordnete Phantasie‘; eine Einübung in zivilisierte ‚bürgerliche‘ Vergesellschaftung, … eine anschauliche Erfahrung vom Interesse an Verbesserung der eigenen Lebenslage und von der Wertschätzung des materiellen Wohlstandes.“98 Allerdings, als am Ende des Jahrhunderts die nächste intensive Debatte der Lesesucht und -wut einsetzt, da identifizieren die pädagogischen Experten das pädagogische Problem exakt an dieser Stelle: „Pseudodichtung“ sei das, was die Philanthropen produziert hätten,99 den Schutz vor der minderwertigen „im Dunkeln flutenden Literatur“ hätten sie damit genauso verfehlt wie die richtige „literarische Bildung“. Das Phänomen ist also noch bekannt, die Sorge vor der „Lesewut“ noch nicht ausgestorben, der moralisierende Übergriff auf die Lebenswelt der Jugendlichen und auf ihre kulturellen Praktiken bleibt das alte, identische Motiv. Erneut geht es um die als verderblich beurteilte bzw. nicht hinreichend kontrollierte „Privatlektüre“ der Jugendlichen. Erneut ist die kritische Diagnose auch kein Privileg kirchlich-konfessionell gebundener Pädagogen, sondern selbst in den liberalen und reformpädagogischen Milieus breit verankert.100 Gemeinsam sind die Ausgangsprämisse und die Sorge, dass „das an sich nicht tadelnswerte Lesebedürfnis“ sich nicht „zur Lesewut steigert“ (56) (der katholische Pädagoge zitiert zustimmend Wolgasts „Elend der Jugendliteratur). Sie ist das Übel, sie „bricht ‚wie eine Pest über das arme Kind herein‘“ (Sp. 56), mit umfassend negativen Folgen, für die auch noch einmal Kant zitiert wird. Die Kinder werden „unlustig zu Spiel und Arbeit“, das Gedächtnis wird gestört, „gesundheitliche Schädigungen“ seien zu befürchten, „nervöse Störungen, Kurzsichtigkeit u. Rückenverkrümmung. Die Begriffe Verwirrung des Weltbildes, Verwilderung des Gemütes, u. endlich gar völlige geistige u. sittliche Verwahrlosung kennzeichnen
98Ulrich
Herrmann: Kulturelles Leben und seine Medien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte Bd. II, München 2005, S. 485–498, zit. S. 494. 99Heinrich Wolgast: Privatlektüre. In: W. Rein (Hrsg.): Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik 10, Bd., 1908, S. 10–27, zit. S. 13 f., für die folgenden Zitate S. 22 ff. 100In den konfessionellen, hier katholischen, Kontext, also analog zu Münch 1842 lesbar, gehört das Lexikon der Pädagogik, exemplarisch hier der Verweis bei „Lesewut“ (Bd. 3, 1914, Sp. 419) auf S.P. Widmann: Privatlektüre der Jugend. In: Lexikon der Pädagogik, Bd. 4, 1915, Sp. 55–59; in den Kontext des liberalen deutschen Lehrervereins und der Reformpädagogik gehört Heinrich Wolgast: Privatlektüre. In: W.Rein (Hrsg.). Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 10, 1908, S. 10–27, „Lesewut“ dort S. 10.
17.3 Kindheit, Jugend und Medien – die Risiken …
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die Steigerung im Verlauf der ungeregelten Vielleserei.“ (56) „Maßnahmen“, wie der Reformpädagoge Wolgast sagt, „die Jugend vor schlechter Lektüre zu bewahren“ (22 ff.) seien also notwendig, erneut werden die Dimensionen des Wahren, Guten und Schönen bemüht, um die schlechte Literatur zu unterscheiden: „Lektüre, welche die Erkenntnis verwirrt, die Sittlichkeit auf Abwege führt und den Geschmack in falsche Bahnen drängt“ (11), sei fernzuhalten. Die begründende Prämisse der Intervention zeigt noch einmal das Problem als ein pädagogisch selbst erzeugtes Problem, aber es wird in einer einfachen Handlungsmaxime gelöst: „Weil die Schule dem Kinde die Fertigkeit des Lesens beibringt, hat sie auch die Pflicht zuzusehen, wie diese Fertigkeit verwandt wird.“, so begründet der katholische Pädagoge Widmann, greift also ohne Scheu über die Schule hinaus in die Lebenswelt der Lernenden ein (56). Vor allem aber, und das ist die pädagogische Deformation der angestrebten Kompetenz, wertet er die Lesekompetenz ab zur bloßen „Fertigkeit“, so dass auch alle Implikationen des Lesens, vor allem die Weckung der Einbildungskraft und die Belebung der Phantasie, aus der Kompetenzdimension von Lesen ausgegrenzt werden können. Auch der Hamburger Schulreformer Heinrich Wolgast, als Literaturdidaktiker innerhalb der Kunsterziehungsbewegung bis heute berühmt,101 spricht ebenfalls nur von „Lesefertigkeit“. Die autonome Dimension des Lesens als einer „natürlichen Unterhaltung“, er erinnert sich offenbar doch an Schillers ästhetische Erziehung, sieht er beim Kinde nur im „Spiel“ (11), nicht im Umgang mit Literatur; schon gar nicht ist „Lektüre zur bloßen Unterhaltung“, also die zweckfreie, unpädagogisierte Lektüre, für den Pädagogen auch nur irgendwie „statthaft“ (20). Das bedarf bei Wolgast auch keiner großen Begründung: „Denn es liegt auf der Hand, daß die Lektüre den Erziehungszwecken nicht zuwiderlaufen darf.“ (10) „Literarische Bildung“ beginnt erst jenseits solcher Freiheitsräume. Diese literarische Bildung verstrickt sich freilich in ihre eigenen Widersprüche, denn das Lesen macht sich jenseits der puren „Lesefertigkeit“ in seiner eigenen Dynamik genauso bemerkbar wie das Kind und der Jugendliche mit seinen Lesepraktiken. Wolgast empfiehlt (neben abwehrenden und Kontrollmaßnahmen) die „literarisch wertvolle Privatlektüre“ (20), im Vertrauen darauf, dass damit auch „die anderen Seiten der Erziehung … die intellektuelle, moralische, religiöse und vaterländische“ befördert wird, denn, so unterstellt er, „der echte Dichter“ sei imstande, „tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen … als irgend jemand, und sicher tiefer, als der lehrhafte oder moralische, der religiöse oder patriotische Dichterling“ (20). Von der aufklärerischen Skepsis von Bergk nicht angekränkelt, auch nicht irritiert von der Schwierigkeit der ästhetischen Theorie, solche Urteile in Sachen des Geschmacks hinreichend zu begründen, soll literarische Bildung neu und besser entwickelt werden, freilich mit wenig Fortune. In erbitterten
101Für die Person und den reformpädagogischen, auch den pazifistischen und linken Hamburger Lokalkontext, vgl. schon Gisela Wilkending: Volksbildung und Pädagogik „vom Kinde aus“. Eine Untersuchung zur Geschichte der Literaturpädagogik in den Anfängen der Kunsterziehungsbewegung. Weinheim/Basel 1980.
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Auseinandersetzungen wird in Hamburg – und in der Kinder- und Jugendliteraturdebatte der Folgezeit – über den Konflikt von „Kunstwert“ und „Kindertümlichkeit“ gestritten.102 Dabei wird rasch bewusst, dass das Kind so wenig „-tümlich“ ist wie das Volk „volkstümlich“, dass sich deshalb auch die literarische Bildung des Kindes ohne Selbstwidersprüche der Theorie so wenig als Schwundform der Bildung etablieren kann wie die „volkstümliche Bildung“. In der Literaturdidaktik wird die Vereinbarkeit von Kanon und freier Lektüre weiterhin aber als Problem prozediert, allein der Konsens, dass „sittlich minderwertige Schriften“103 nicht toleriert werden können, der hält, ohne Konsens über die Art und Menge des Gedruckten, das damit gemeint ist. Im Übrigen aber lesen die Kinder weiterhin die „Heftchen“ und suchen den „Schundliteraten“ (mit dem sie nach Meinung der Reformpädagogen sogar in der Schule konfrontiert werden104) in ihrer Privatlektüre außerhalb der Schule oder sie kaufen die Kinderliteratur, die den Status wertvoller Literatur nicht beanspruchen kann. Die Pädagogisierung, ja die partielle Dämonisierung des Mediengebrauchs im Allgemeinen, der Lektüre im Besonderen bleibt offenbar nur noch in Schulen und bei Medienkritikern erhalten, nicht allein in der Zensur, z. T. auch in der Kanonbildung für die Öffentlichkeit und natürlich in Lektürelisten für die Schule. Das alles bleibt zwischen Aufforderung zur Selbsttätigkeit und kontrollierender Intervention das paradoxe Unternehmen, das es immer war, Pädagogik, nicht Bildung. Bildung ereignet sich in dieser Praxis erst im souveränen Umgang der Lernenden mit den Absichten der Institution. Für die pädagogischen Akteure scheint deshalb nur noch Mitleid angebracht. Hans Magnus Enzensbergers etwas verzweifelter Hilferuf an die Deutschlehrer, den er schon 1976 formulierte, ist offenbar immer noch ungehört: „Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch viel häßlichere Laster der richtigen Interpretation! Zwingen Sie nie einen wehrlosen Menschen, den Mund aufzusperren und ein Gedicht hinunterzuschlingen, auf das er keine Lust hat!“105 Aber, gute Deutschlehrer wissen das, kluge Lernende auch, sie werden tolerant gegenüber solchen Zumutungen der Schule und gestalten ihre Lesezeit selbst, gebildet, wie sie sind. In der außerschulischen Kontrolle unerwünschten Schrifttums und ungeliebter Praktiken, auch von Vertriebswegen solcher Literatur, wurden die Pädagogen, die
102Ausführlich
Wilkending, Volksbildung,. S. 250 ff. Reukauf: Leseabende im Dienste der Erziehung. In: Rein, Enzyklopädisches Handbuch, Bd. 5, 1906, S. 574–583, zit. S. 581. 104Die Kunsterziehungsbewegung und Literaturdidaktik hat genug damit zu tun, den „verkappten Schundliteraten“ zu bekämpfen, als den sie den schulischen Aufsatz im Deutschunterricht identifiziert hat, vgl. Adolf Jensen/Wilhelm Lamszus: Unser Schulaufsatz – ein verkappter Schundliterat. (1906/4. Aufl. 1922) Teildruck in: H. Lorenzen (Hrsg.). Die Kunsterziehungsbewegung. Bad Heilbrunn 1966, S. 85–89. 105Hans Magnus Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie. (1976) In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt a. M. 1988, S. 23–41, zit. S. 40 – im Übrigen aus Anlass der „Normenbücher Deutsch“ der Kultus-Minister-Konferenz. 103A.
17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?
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in der Reformpädagogik die „Jugendschriftenwarte“ und ihre „Kontrollausschüsse“ erfinden und damit die Kontrolle zuerst in ihre Hände nehmen, ja auch bald durch den Staat entlastet. Das „Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ wird 1926 in der Weimarer Republik erlassen, mit Beifall der Pädagogen, aber begleitet von höhnischen Bemerkungen der Schriftsteller,106 die in der Pädagogik nur die Zensurpraxis erkennen können, der sie entspringt, und die den Staat „zu einer Moralitäts-Erziehungs- und Erbauungs-Anstalt“107 machen wollen. Aber das Gesetz erhält sich bis in die Gegenwart. Weniger als die Lesepraxis wird aktuell aber die Medienpraxis der Kinder und Jugendlichen, zumal im Umgang mit den neuen Medien und dem Internet, zum Problem, vor allem wegen der Darstellung von Gewalt und Sexualität, die hier droht. Aber das eröffnet schon in der Spannung von Moralerziehung durch Medien und Literatur vs. Literatur und Medien als Raum von Kreativität und Phantasie weitergehende Forschungsfragen, die hier nicht behandelt werden können.
17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung? Die thematische Fixierung auf den Modus der Sorge für die Jugend angesichts der unkontrollierbaren Präsenz der Medien kehrt in der Kontinuität der Zensurambitionen im pädagogischen Milieu und in der Öffentlichkeit offenbar immer wieder, aktuell angesichts der sog. ‚neue Medien‘ oder in der allpräsenten Diskussion der „digitalen Bildung“. Hier kann man die bekannten Reflexe als unreflektierte tradierte Reflexe erkennen (ohne zu leugnen, dass man auch bildungstheoretisch nach dem innovativen Potential dieser Medien fragen kann). Zu den tradierten Reflexen zählt sicherlich der Ton besorgt-kritischer Klage, den die Medien verbreiten. Erneut findet sich die Diagnose der „Sucht“108 und
106Ignaz Wrobel (i.e. Kurt Tucholsky): Old Bäumerhand, der Schrecken der Demokratie. In: Die Weltbühne 22(1926) II, S. 916–920 – und die Kritik richtet sich gegen „Theodor Heuß und Gertrud Bäumer, die guten Eltern des Reichs-Schund-Gesetzes“, also gegen den liberalen Journalisten und die Staatssekretärin im Reichsinnenministerium und führende Akteurin der bürgerlichen Frauenbewegung, die sich zum Büttel der Zentrums-Politik hätten machen lassen. 107So wird im unmittelbaren Anschluss an den Tucholsky-Artikel unter der Überschrift „Zu diesem Schmutz und Schund“ Schopenhauer zitiert, der als „Hintergrund“ annimmt, dass dort „der jesuitische Zweck lauert, die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des Einzelnen aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer Chinesischen Staats- und Religions-Maschine zu machen.“, und als Konsequenz befürchtet: „Dies aber ist der Weg, auf welchem man weiland zu Inquisitionen, Autodafés und Religionskriegen gelangt ist.“ (S. 920) Schopenhauers Text findet sich jetzt beim Stichwort „Der ethische Staat“, u. a. in A. Schopenhauer: Die Kunst zu beleidigen. München 2002, S. 114. 108Vgl., schon in distanzierter Beobachtung des Wechsels von früher (bildungsbürgerlicher) Kritik und späterer Anerkennung, Hasso Spode: Fernseh-Sucht. Ein Beitrag zur Geschichte der Medienkritik. In: Distanzierte Verstrickungen. Die ambivalente Bindung soziologisch Forschender an ihren Gegenstand. Festschrift für Peter Gleichmann zum 65. Geburtstag. Berlin 1997, S. 295–312 – und nicht zufällig resümiert er: „Difficile est satiram non sribere.“ (S. 303).
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erneut finden sich kritische Beobachter, die warnend kontrollieren, nicht nur bei den Pädagogen. Neurowissenschaftler z. B., die sich liebhaberisch und kritisch pädagogischen Themen widmen, befürchten vergleichbare dramatische Folgen wie die Pädagogen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Jetzt sind es allerdings nicht Nervosität oder „Neurasthenie“ als die epochentypischen Krankheiten, sondern „Demenz“, und zwar „digitale Demenz“,109 die hier offenbar drohen oder schon Realität geworden sind. Der Waschzettel eines einschlägigen aktuellen Bestsellers, durchaus typisch für den Duktus des gesamten Buches, liest sich wie eine Replikation der kontrollierend-alarmierenden Topoi alter Lesesucht-Texte, aber erneut ist der Status der wissenschaftlichen Begründung nicht besser als in der Tradition, wie schon der b esorgt-generalisierende Ton befürchten lässt. Mit vergleichbar unsinnigen Behauptungen, wie man Satz für Satz zeigen kann, wird auch heute argumentiert: „Digitale Medien nehmen uns geistige Arbeit ab.“ – ja, das mag sein, aber: „Was wir früher einfach mit dem Kopf gemacht haben, wird heute von Computern, Smartphones, Organizern und Navis erledigt.“ Aber – haben wir je „mit dem Kopf“ und ohne Geräte oder materiale Basis telefoniert, Zettelkästen gefüllt, Bücher sortiert, Texte geschrieben? Materialität der Kommunikation ist doch ein altes Thema, vom Pergament bis zum Buchdruck, von der Schreibfeder bis zur Schreibmaschine schon präsent. Aber die Warnungen gehen weiter: „Das birgt immense Gefahren“, so der renommierte Gehirnforscher Manfred Spitzer. Auch das wird man nicht bezweifeln, dass der Umgang mit Medien Folgen hat, aber zumindest doch ambivalente; denn er eröffnet auch neue Möglichkeiten des Zugangs zur Welt, wie andere Medienpädagogen nicht müde werden zu behaupten. Vor allem an den durchaus ambivalenten Effekten populärer Massenkultur auf ihre Nutzer (‚Konsumenten‘ attribuiert schon kulturkritisch) können das z. B. Historiker sehr gut zeigen, auch für die Gegenwart.110 Einerseits, man kann dann wissen, dass die Modi der Wirkung zwischen „Volkserziehung, Volksverziehung, Kompensation und kognitiver Fitness“ changieren, dass Medien zunächst nur für Medien sozialisieren, so dass auch gilt, „beim Fernsehen lernen wir vor allem fernzusehen“.111 Man weiß insofern auch, dass „Massenmedien nicht zum Lehrmeister im Sinn der aufklärerischen Erwartung (taugen), Menschen durch Ansprechen
109Manfred Spitzer: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Stuttgart 2012, dort die Zitate. 110Sehr instruktiv und ohne alle kulturkritische Aufgeregtheit die Diskussion bei Kaspar Maase: Radioten, Glotzer, Unterschichtfernsehen? Zu den Bildungseffekten von Massenmedien. In: Norbert Buschmann/Ute Planert (Hrsg.): Vom Wandel eines Ideals. Bildung, Universität und Gesellschaft in Deutschland. Bonn 2010, S. 124–141, dort S. 131 für das folgende Zitat, Herv. dort. Im gleichen Band kann der Ethnologie Hermann Bausinger selbst den Quizsendungen ihren eigenen Bildungswert abgewinnen, vgl. H.B.: Vermessung der Welt – Zur Faszination des Quiz. Ebd., S. 143–153 – aber er gehört ja auch, wie er bekennt, nicht zu den „Apokalyptikern“ (S. 146) der Bildungs- und Kulturkritik. 111Maase, Radioten, 2010, S. 141, S. 140 für die folgenden Zitate.
17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?
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ihres Verstandes auf den rechten Weg zu bringen“. Deshalb fehlt ihnen aber nicht die bildende Herausforderung, denn sie lehren die Wahrnehmung von Differenzen und „führen (unter pluralistischen Verhältnissen) viele Wege vor, und das ist historisch durchaus eine Errungenschaft.“ „Wäre für eine Zivilgesellschaft, die ihre aus sozialer Ungleichheit und kultureller Differenz entspringenden Konflikte möglichst gewaltarm bewältigen möchte“, so kann man ja auch fragen, „die Gewöhnung an den friedlichen Umgang mit Irritierendem nicht schon ein Wert?“ Und Maases Abschlussfrage ist eine gut kaschierte These: „Im Sich-Einlassen auf Massenmedien zu deren kompetenten Nutzern zu werden – ist das ein völlig triviales, apologetisches Ziel oder ein utopisches?“ Das Wirkungsproblem ist also in jedem Fall jenseits der Befürchtungen zu platzieren, die z. B. Manfred Spitzer suggeriert, vermeintlich im Namen der Neurowissenschaften. Nicht einmal die Gewaltforscher, selbst natürlich immens besorgt, behaupten aber, dass die Steigerung gewaltaffinen Verhaltens die einzige und unausweichliche Konsequenz der Nutzung gewaltaffiner Medien ist. Subjekte können nämlich, wie Pädagogen schmerzhaft erfahren und immer neu beklagen, auch negieren, mit Medien zu lernen, z. B. Gewalt zu meiden und zu ächten. Demenz ist jedenfalls nicht die zwingende Konsequenz, und nicht einmal „die Neurowissenschaften“ haben das belegt. „Die von ihm diskutierten Forschungsergebnisse sind alarmierend: Digitale Medien machen süchtig.“ – schreibt Spitzers Propaganda trotzdem. Wenn man einen laxen Suchtbegriff gebraucht, mag das stimmen, aber Spitzer kann weder einen diskutierbaren Suchtbegriff präsentieren noch die Verbreitung entsprechender Verhaltensweisen quantifizieren oder qualitativ hinreichend spezifizieren (was heißt schon „Medienkonsum“ genau, wenn nur Stunden genannt werden, aber die Rezeptionssituation unbedacht bleibt?). Schon gar nicht kann er der Mediennutzung kausal die unterstellten Wirkungen zurechnen, ja er prüft nicht einmal die Stabilität solchen Verhaltens im Lebenslauf. Diese Einwände gelten auch für die übrigen generalisierenden Behauptungen, die bestenfalls den Status kritischer Allusionen und Suggestionen haben, wenn er z. B. über die „Auslagerung von Hirnarbeit“ phantasiert: Die von ihm kritisierten Praktiken, behauptet er, „schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist. Wenn wir unsere Hirnarbeit auslagern, lässt das Gedächtnis nach. Nervenzellen sterben ab, und nachwachsende Zellen überleben nicht, weil sie nicht gebraucht werden. Bei Kindern und Jugendlichen wird durch Bildschirmmedien die Lernfähigkeit drastisch vermindert. Die Folgen sind Lese- und Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste und Abstumpfung, Schlafstörungen und Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialer Abstieg. Spitzer zeigt die besorgniserregende Entwicklung und plädiert vor allem bei Kindern für Konsumbeschränkung, um der digitalen Demenz entgegenzuwirken.“ Nicht zufällig ist
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die Kritik an dieser Art von „Hirnforschung“ inzwischen scharf und eindeutig.112 Jedenfalls kann man keinen Grund erkennen, dass die Bildungstheorie oder andere Kulturwissenschaften erneut zum „‚Opfer‘ biologistischer Disziplinen“113 werden müssen. Kontrolle des Mediengebrauchs, auch das wiederholt sich, ist die erwartbare Konsequenz. Der Medienkritiker heute entwickelt aber nicht einmal so viel Skepsis, wie die Aufklärer früher, ganz zu schweigen davon, dass er nicht präzise beschreiben kann, worin denn akzeptable Medienkompetenz besteht und wie Medienbildung aussehen und pädagogisch realisiert, unterstützt und gefördert werden könnte. Varianz zeigt sich nur in den Medien, die zum Objekt von Sorge und Kontrolle werden. Am Anfang war es das Buch, dann die Heftchen oder die Comics, das Kino und der Rundfunk, bald das Fernsehen, heute die neuen Medien und das Internet. Gleichzeitig werden die alten Feinde des Kindes und der Bildung der Jugendlichen im Prozess aufgewertet: Fernsehen, zumal mit den Eltern gemeinsam, ist heute besser als das Internet, Bücher sind besser als die neuen Medien, selbst Comics wurden längst in ihrem pädagogischen Wert entdeckt (auch wenn Crumbs Drastik immer noch erschreckt). Man sollte erinnern, dass auch Romane heute nicht mehr als selbstmordgenerierende oder krankmachende Materialien gelten und Harry Potter nicht zur Weltflucht verführt, auch wenn er die Phantasie beflügelt. Eröffnen die neuen Medien, das Internet, die sozialen Netzwerke wie Face-Book (usw.) – das ist ja das gelegentlich emphatisch beschworene Gegenbild – aber eine neue Dimension der Bildung? Ist Bildung in Zeiten des Internet neu und anders, mit den Erwartungen, Zielen und Praktiken der alten Bildung nicht mehr zu vergleichen? Ist „Erfindet Euch neu!“ oder eine „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“114 die aktuell angesagte Losung? Das sind Fragen, die nicht mehr allein didaktisch oder methodisch beantwortet werden können (diese Perspektiven treiben die Medienpädagogik um, meist auch in
112Für eine intensive Diskussion der – weithin fehlenden – Qualität der „neurowissenschaftlichen“ Argumente im Kontext der Pädagogik und der Bildungsforschung vgl. u. a. Elsbeth Stern/Roland Graber/Ralph Schumacher: Lehr-Lern-Forschung und Neurowissenschaften. Erwartungen, Befunde und Forschungsperspektiven. Bonn/Berlin (BMBF) 2005; Nicole Becker: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Bad Heilbrunn 2006 sowie die Beiträge in dem Sammelband Steffen Schlüter/Alfred Langewand (Hrsg.): Neurobiologie und Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn 2010. Die scharfe Kritik, jetzt an dem vergleichbar wie Spitzer engagierten Gerald Hüther, bei Martin Spiewak: Die Stunde der Propheten. In: Die Zeit vom 29.08.2013 hat also systematischen Hintergrund. 113Davor warnen Neurowissenschaftler ihre geisteswissenschaftlichen Kollegen schon selbst, exemplarisch für die Geschichtswissenschaft, aber generalisierbar, vgl. Niels Birbaumer/Javier Campos: Geschichte ohne Gedächtnis – Gedächtnis ohne Geschichte. Über eine Kooperation von Geschichts- und Neurowissenschaft. In.: Buschmann/Planert (Hrsg.): Vom Wandel eines Ideals, 2010, S. 101–107 sowie Dieter Langewiesche/Niels Birbaumer: Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig. Berlin 2017. 114Das ist jedenfalls die Aufforderung bei Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. (2012) Frankfurt a. M. 2013.
17.4 Exkurs: ‚Neue‘ Medien – Neue Bildung?
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bewahrend-protektiver Absicht115), sondern zunächst grundlagentheoretisch und dann auch nicht zuerst kulturkritisch beantwortet sein wollen: Wie verändern sich die Formen der Selbstkonstruktion des Subjekts, in welchen Praktiken und Mustern ereignet sich die Wechselwirkung von Mensch und Welt, sehen wir uns mit dem Internet einer neuen Kulturtechnik konfrontiert, die nach der Erweiterung der allgemeinen Bildung verlangt, in denen die Prämissen des Umgangs mit Welt als Kompetenzen generalisiert werden? Man kann heute solche Fragen stellen, gewinnt bei der Lektüre der einschlägigen Texte allerdings nicht den Eindruck, dass es bildungstheoretische Perspektiven sind, die eine Verständigung der unterschiedlichen Akteure ermöglichen. So lange noch relativ unwidersprochen sogar behauptet werden kann, dass es „Digitalisierung nicht gibt“, jedenfalls nicht in einem präzisierbaren Sinne, sondern allenfalls als diffusen Slogan,116 sollte die Praxis der Medienschelte im Konnex von Zensur und Pädagogisierung eine Warnung sein. Die bildungstheoretische Herausforderung schließlich besteht in der Frage, ob die neuen Medien nicht nur eine neue Materialität des Weltzugangs bereithalten, wie Buch und Schrift, sondern auch eine neue Modalität, wie sie linguistisch und mathematisch, ästhetisch und historisch in Gesellschaften wie unseren vorausgesetzt und schulisch generalisiert werden. Bildung in Zeiten des „Internets“ ist tatsächlich eine Herausforderung, auch für das Bildungssystem. Die Antworten sind bisher offenbar entweder selbstverständlich, wie bei der Kultusministerkonferenz, dass man mit und über die Medien lernen soll, oder offenkundig zu global, wenn nur die materielle Ausstattung von Schulen diskutiert wird, oder nur eine kulturkritische Replik alter Zensurpraktiken, die das Gesetz und die Polizei als Adressaten haben. Die Möglichkeiten der neuen Medien, gleich welcher Art, werden gleichzeitig von den gesellschaftlichen Akteuren einfach genutzt und erprobt, zwischen Emphase und Ernüchterung, in den Konjunkturen des Interesses, die man jetzt schon sieht, auch in größter Varianz. Bevor man nur zensiert, pädagogisiert und kriminalisiert, sich hymnisch exaltiert oder ökonomistisch nur an Investitionen denkt, wäre es deshalb sinnvoll, sich der Möglichkeiten des Umgangs mit Medien auch einmal anders zu vergewissern, als Formen der Selbstkonstruktion der Individuen, die sich damit befreien und autonome Formen des Umgangs mit ihrer Welt finden. Jugendkulturen sind dafür ein gutes Beispiel, das deshalb jetzt auch exemplarisch diskutiert werden soll.
115Als knappe Orientierung, mit weiterführender Literatur, Heinz Mandl/Birgitta Kopp: Medienpädagogik. In: Beltz Lexikon Pädagogik, Weinheim/Basel 2007, S. 496–499; informativ im Überblick jetzt auch Deutsche Telekom Stiftung: Medienbildung entlang der Bildungskette. Bonn 2014. 116Kathrin Passig/Aleks Scholz: Warum es Digitalisierung nicht gibt. In: Merkur 798, 69(2015), November, S. 75–81.
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17.5 Bildung im Jugendalter – Emanzipation in kultureller Praxis Eine vergleichbare Bedeutung wie den Medien, öffentlich vielleicht noch sichtbarer, muss man den jugendlichen peer groups vor allem im nachschulischen Alter für die Prozesse der Selbstkonstruktion der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen angesichts gesellschaftlicher Erwartungen und pädagogischer Zwänge zuschreiben. Hier entfaltet sich eine Bildungswelt, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Es ist aber auch eine Bildungswelt, die deutlicher als andere die Frage aufwirft, ob und wie sich gesellschaftlich anerkannte und ausgeschlossene, erlaubte und verbotene kulturelle Praktiken öffentlich behaupten und auch in der systematischen Beobachtung als Praxis von Bildung identifiziert werden können. Die Lernfähigkeit der Gesellschaft wie der Bildungstheorie, ihr Traditionalismus oder die Offenheit für das Neue, das ist entscheidend, werden mit der Emanzipation der Jugend vor allem seit dem frühen 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart auf eine ernsthafte Probe gestellt. In der einschlägigen Forschung über die Jugend ist dieser neue Blick auch schon länger präsent, bezeichnenderweise aber auch hier nicht vom Begriff der Bildung aus theoretisch geleitet. Seit diese Forschung im Kontext der Jugendkulturen und der „Jugendbewegung“ in der Wende zum 20. Jahrhundert entsteht,117 hat sie ihre Aufmerksamkeit für die Autonomisierung der Jugend gegenüber der Erwachsenenwelt kultiviert, Prozesse der Vergesellschaftung im Jugendalter als Formen der Autonomisierung decodiert und Jugendliche als „produktive Realitätsverarbeiter“ gesehen. In einer subjektorientierten Jugendforschung wird die Fruchtbarkeit dieser Perspektive heute intensiv im Blick auf Jugendkulturen und ihre ‚Stile‘, ‚Praktiken‘ oder ‚Szenen‘, demonstriert.118 Selbst im Bereich der Sozialpädagogik wird jetzt der Begriff der Bildung (neben dem der Betreuung, der Hilfe und der Erziehung) aufgenommen, um die eigene Wirklichkeit jenseits von alten Kontrollphantasien, Normalitätserwartungen und HilfeKonzepten neu und besser zu verstehen.119
117Peter
Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich. Opladen 1990; Christoph von Bühler: Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Zur Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Weinheim 1990. 118Am Beispiel einiger jüngerer Publikationen lasen sich Fragestellungen und Ertrag dieser Forschung sehr gut verfolgen, vgl. die differenziert argumentierende Analyse bei Christian Lüders: Jugendforschung. In. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14 (2011), S. 671–682. 119Die in jüngerer Zeit in der Sozialpädagogik ausbrechende Emphase für diesen Begriff, quasi amtlich dokumentiert im 12. Jugendbericht (Zum Thema: „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“, 2006), liest sich gelegentlich eher als Versuch der Rettung vor den eigenen, früher dominierenden Normalisierungskonzepten, denn als eigener Beitrag zur Bildungstheorie, vgl. exemplarisch Thomas Rauschenbach: Zukunftschance Bildung, Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Weinheim/München 2009, bes. S. 83 ff., der zeigt, dass der Verweis auf „die andere Seite der Bildung“ neben der Schule noch kein eigenes Konzept begründet. Theoretisch angemessener dagegen Thiersch, Bildung, 2011.
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Bildungstheoretisch provoziert diese Situation die Frage, in welchem Maße die Pluralisierung von Lebensstilen auch begründet als Ausdruck von Selbstkonstruktion anerkannt werden. In der Analyse jugendlicher Gesellungsformen entsteht also erneut die Frage, ob sich dem Begriff der Bildung nur spezifische Lebensformen und Bildungsgüter, kulturelle Praktiken und gesellschaftliche Verhaltensweisen zurechnen und als legitim bewerten lassen, andere aber als Indikatoren der ‚Unbildung‘ ausgegrenzt werden müssen. Der „Gebildete“ war ja eine Sozialfigur, die anfangs primär in den bildungsbürgerlichen, akademischen, der ‚hohen Kultur‘ verpflichteten, traditionsbewussten Milieus gesucht wurde. Der klassenbewusste Arbeiter und die „Arbeiterbildung“ z. B. wurden erst später, und nie ohne Kontroversen, in Dimensionen der Bildungsreflexion analysiert.120 Die Beobachtung von Jugendkulturen und ihre reflexive Selbst- und Fremddeutung werfen deshalb erneut die Frage auf, ob eine bildungstheoretische Analyse auch die Offenheit für neue Welten, alternative Praktiken und als nonkonform geltende Verhaltensweisen einschließen kann. Das Exempel, das hier auf solche Fragen hin näher diskutiert werden soll, ist die Kultur des Punk; denn einfach darf man es der Bildungstheorie nicht machen, wenn man ihre Lernfähigkeit testen will. In den westlichen Gesellschaften gehört Punk nicht nur zu den sichtbarsten, sondern auch zu den meist diskutierten jugendkulturellen Gesellungs- und Protestformen des späten 20. Jahrhunderts. Punks sind ein nach 68er Phänomen, zwar 1969/1970 in den USA schon sichtbar, wird aber die Punk-Kultur in England stilbildend, bald weltweit verbreitet, signifikant für den Stil einer Jugendkultur, der sich zwar noch als Jugendprotest verstehen ließ, aber den politisch universalen Gestus der akademischen Kulturen der „68er“ nicht mehr mit sich trug. Seinen folgenreichen Ursprung verdankt er einem Konflikt innerhalb von Jugendkulturen selbst, denn Punk entwickelt sich kritisch gegen das Hippietum der späten hedonistischen 68er, aber gleichzeitig desillusioniert gegenüber allen politischen Ideologien der Zeit. No Future heißt seine zentrale Losung, Anarchie wird zur Formel für das eigene Programm der Ablehnung. Anfangs eindeutig männerdominiert, tritt er in der eigenen Ambition als selbstbewusster Dilettantismus auf. Die eigene Musik, Punk-Rock, wird ebenfalls scharf abgegrenzt gegenüber dem anerkannten Stil: „Pure, stripped down, no bull-shit Rock’n Roll“, wie sich die Sex Pistols, eine stilbildende Band neben The Clash oder The Damned, selbst verstehen. Die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppierung wird aber nicht allein über Musik definiert, sondern vor allem über
120Dieses Thema hat seine eigene Forschungsgeschichte, die man orientiert an Begriff der „Arbeiterkultur“ historiografisch von Edward P. Thompson über Hildegard Feidel-Mertz, Dieter Langewiesche und Klaus Schönhoven bis zu Jacques Rancière und Patrick Eiden-Offe rekonstruieren kann. Das kann hier nicht diskutiert werden, die Problematik dieser Perspektive und der Traditionskonstruktion, die sie erzeugt, zeigt sich sehr schön in der Rezension von Stephan Gregory über Patrick Eiden-Offe: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017, in: H-Soz-Kult 07.06.2018 – dessen Literaturhinweisen man aber sicherlich die deutsche Forschung über Formen und Praktiken der Arbeiterkultur bis ins späte 20. Jahrhundert hinzufügen müsste.
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das Outfit, die „Kluft“, wie schon alte Wandervögel dieses Abgrenzungs- und Erkennungsmerkmal nannten, ohne dass hier Identitäten oder auch nur weitgehende Ähnlichkeiten behauptet werden sollen. Allein in der Artikulation des Entsetzens der staunenden Öffentlichkeit über die Abkehr von den bürgerlichen Bekleidungsnormen und den als zivilisiert geltenden Manieren, wie man sie um 1900 oder nach 1968/1970 finden kann, ergeben sich Vergleichsgesichtspunkte. Ansonsten wird man Wandervögel nach ihrem Erscheinungsbild sicherlich nicht mit Punks verwechseln: Für die sind zerrissene Jeans, Lederjacken, Militaria, Nieten, Aufnäher, Buttons, Netzhemden, -strümpfe, karierte, zerrissene, veränderte Kleidung, martialische Stiefel, Halsbänder und Körperschmuck typisch, auch Piercing, gefärbte Haare, Irokese, Rasierklingen, Sicherheitsnadeln – es ist die Ästhetisierung des Hässlichen, auf die man stößt, die auch provokative Elemente, sichtbar getragene Hakenkreuze z. B., mit einschließt. Das zentrale Thema und das leitende Motiv ist auch hier, wie bei der Betrachtung von Jugendkulturen überhaupt, die Konstruktion einer eigenen Lebensform. Als solche werden sie auch zuerst sichtbar, in Ritualen und Formen der Bekleidung und Zurichtung des eigenen Körpers, in der eigenen Musik, in den lokalen und territorial abgesicherten Gesellungsformen in der Stadt, in der Provokation der Umwelt. Man erkennt sehr gut das wiederkehrende Muster solcher Autonomisierung und der Konstruktion von Unterscheidbarkeit und Provokation zugleich, es ist das „Herauswinden der Produkte aus ihrem ursprünglichen Kontext und ihre Wiederverwendung in einem neuen Stil, in dem die ursprünglichen Bedeutungen geleugnet werden“; diese „typische Praxis urbaner Popularkultur“ kehrt auch im Punk wieder.121 Durchaus gezielt, wie Bildungstheoretiker erfreut konstatieren könnten, denn die eigene Lebensform wird selbst schon reflektiert, die Distanz damit zugleich ebenso verstärkt wie die scheinbar leichte Chance der Identifikation durch die Umwelt erschwert: „Punk ist das, was im Kopf geschieht, nicht das, was man am Körper trägt.“122 Daran orientiert sich allein die Umwelt, von da aus bewertet sie, aber sie verfehlt damit auch den verstehenden Zugang zum Phänomen und zu der Bedeutung, die solche jugendkulturellen Praktiken für die Akteure selbst haben. Diese Frage ist vor allem dann zentral, wenn sich eine solche Jugendkultur unter Bedingungen der Diktatur etabliert. Das geschah in der DDR, hier kann der Konflikt zwischen jugendkulturellen Autonomisierungsversuchen und der sie umgebenden Gesellschaft in besonderer Dramatik beobachtet werden. Wenig gewohnt an die rasch wechselnden Moden und den Wechsel des Stils in jugendlichen Gesellungsformen, im Grunde auch im eigenen kulturellen Selbstverständnis traditional, zugleich in der Arbeiterkultur wie im deutschen Bildungsdenken befangen, kann man diesen Konflikt als signifikante – und in seinem
121John Fiske: Lesarten des Populären. Wien 2000, so paraphrasiert bei Sonja Häder: Zeugnisse von Eigen-Sinn – Punks in der späten DDR. In: Dies. (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Weinheim/Basel 2004, S. 68–84, zit. S. 74. 122So zitiert das Pop-Lexikon den Musiker Rod, den Bassisten der Ärzte.
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historischen Kontext und in seinen szenespezifischen Erscheinungsformen relativ gut erforschte123 – Quelle für die Eigenständigkeit kultureller Praktiken lesen und fragen, ob sie auch als Indikator für Bildungsprozesse interpretiert werden können. Im zeitgenössischen politischen Kontext werden diese Praxen jedenfalls hoch bewertet. Der Konflikt mit den Punks wird von den staatlichen und gesellschaftlichen Kontrollinstanzen der DDR sogleich auf die Ebene höchster Aufmerksamkeit gehoben,124 vor allem als Punks im Straßenbild zumindest der Städte nicht mehr zu übersehen sind (obwohl es in absoluten Zahlen kaum mehr als wenige Tausend Jugendliche waren). Unerfahren, wie die polizeilichen und anderen staatlichen Akteure in der sicheren Unterscheidung jugendlicher Sub-Kulturen waren, wurde den Beamten als Orientierung im Alltag eine handliche Tabelle geliefert, an die sie sich bei der Identifikation der als gefährlich geltenden Gruppierung halten konnten (s. Abb. 17.1)125. Für die Konstruktion der Tabelle haben sich die Stasi-Akteure wissenschaftlich, nämlich von einer Soziologin der Humboldt-Universität beraten lassen126 – empirische Sozialforschung lässt sich also hier auch in ihrer Nähe zu kontrollierenden Praktiken der Herrschenden beobachten. Die Quelle belegt, wie die Szene kriminalisiert wurde. Sie ist gleichzeitig aber auch geeignet, innerhalb der Jugendlichen und für ihre zu „Szenen“ geronnenen Gruppierungen Unterscheidungen zu treffen. Dennoch gibt diese Merkmalsliste nur die Oberflächendimension wieder, nicht den Kern der Bedrohung, der mit der Kultur des Punk für die DDR verbunden war. Aber auch hier ist „das, was im Kopf geschieht, nicht das, was man am Körper trägt“, die wirkliche Bedrohung, die der Staat für sich sieht, und die Drohung, die daraus für die Betroffenen erwächst, wird nur begrenzt sichtbar. Polizei wie Öffentlichkeit finden diese Bedrohung in der Musik, vor allem in den Texten, die mit dieser Musik transportiert werden.
123Literatur Michael Rauhut: Ohr an Masse. – Rockmusik im Fadenkreuz der Stasi. In: Peter Wicke/Lothar Müller (Hrsg.). Rockmusik und Politik. Analysen, Interviews und Dokumente. Berlin 1999, S. 28–47, für den Punk bes. S. 42 ff.; generell und für den Kontext auch Babett Bauer: Kontrolle und Repression in der DDR. Göttingen 2006; für die Punks im Ostblock und ihr Verhältnis zum Westen Sonja Häder: Selbstbehauptung wider Partei und Staat. Westlicher Einfluss und östliche Eigenständigkeit in den Jugendkulturen des Eisernen Vorhangs. In: Archiv für Sozialgeschichte 45 (2005), S. 449–474. 124Erich Mielke selbst, der Minister für Staatssicherheit, ordnet an, „mit ‚Härte‘ gegen die Punks vorzugehen, um eine ‚Eskalation der Bewegung zu unterbinden‘“, und er erteilt den „Auftrag … nunmehr ‚strafrechtlich relevante Handlungen zu suchen, um Inhaftierungen vornehmen zu können.‘“, hier zit. nach Sonja Häder: Zeugnisse von Eigen-Sinn – Punks in der späten DDR. In: Dies. (Hrsg.): Der Bildungsgang des Subjekts. Weinheim/Basel 2004, S. 68–84, zit. 77. 125Aus Michael Rauhut: Rock in der DDR 1964 bis 1989. Bonn 2002, S. 116. 126Das war Frau Prof. Loni Niederländer, die sich auf Untersuchungen über Punks stützte, die sie zwischen Mai 1986 und Januar 1987 gemacht hatte, vgl. die Hinweise bei Häder, Selbstbehauptung, 2005, Anm. 67, S. 461 f., dort auch weitere Belege für die Stasi-Aktivitäten der Soziologen.
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Abb. 17.1 Jugendszenen im Fadenkreuz der Stasi (aus: Rauhut 2002, S. 116)
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In den Liedern der Punks werden nämlich Themen aufgenommen und sozialkritisch reflektiert, die unmittelbar das Selbstverständnis der regierenden Eliten und der herrschenden Kultur der DDR kritisieren. Wenn deren Akteure z. B. als „linke Spießer“ bezeichnet werden, dann wird die Differenz von scheinbar klassenbewusstem Selbstverständnis der DDR-Eliten und den gegenüber ihren Lebensformen kritischen Beobachtern scharf markiert: linke spießer ihr seid lehrer und beamte Seid gelehrte sogenannte Ihr schreibt bücher seid im fernsehen Und ihr glaubt dass wir euch gernsehen Immer kritisch und politisch marx und lenin auf dem nachttisch doch ihr habt was gegen rabbatz und ihr macht den bullen gern platz ihr seid nichts als linke spießer ich frag mich was wart ihr früher … sozialarbeiter und student ihr seid so frei und unverklemmt ihr seid sozial auch sehr gut drauf … Doch werden wir mal aggressiv Seid ihr auf einmal konservativ.
Dieser Text der Punk-Band slime127 mag nicht von erster literarischer Qualität sein, aber er spielt souverän mit den Selbstbeschreibungen der regierenden Eliten, kennt die binären Codes, die diese Selbstbeschreibung organisieren, und problematisiert sie schon durch die contradictio in adiecto, die dem ganzen Lied den Titel gibt und so die intendierte Beleidigung rhetorisch auf die kritische Abgrenzung zuspitzt, die offenkundig gesucht wird. Die Abgrenzung von der herrschenden Moral gilt, jetzt in einem anderen Text, auch für das hohe Arbeitsethos, das die DDR für sich im Kultus des Arbeiters inszenierte, zwar hier schon in der Wahl des Ortes – „Arbeiten fürs Büro“ – nicht am Lieblingsplatz angesiedelt, aber dennoch, die Stasi liest das Lied als Versuch der Punks, zur „Erosion des legitimatorischen Arbeitsparadigmas“128 beizutragen: Arbeiten fürs Büro Arbeiten für’s Büro Arbeiten für’n Kader Arbeiten für’n Brigadier Arbeiten für’n Leiter
127Text hier nach Michael May: Provokation Punk. Versuch einer Neufassung des Stilbegriffes in der Jugendforschung. Frankfurt a. M. 1986, zit. S. 6. 128Häder, Eigen-Sinn, 2004, zit. S. 80, der Lied-Text ebd., S. 75.
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Aber wenn ich mir anseh’, was ich so rauskrieg, weiß ich nicht mal mehr, wie Geld denn aussieht! Strenge Verweise, Lohnabzüge, Undank, Befehle. Aber wenn ich mir anseh’, was ich so rauskrieg, weiß ich nicht mal mehr, wie Geld denn aussieht!
Die schärfste Form der Erzeugung von Differenz wird aber in der souveränen Nutzung und kritischen Transformation des politischen Codes erzeugt. Nichts weniger als die Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Staat und die Gleichsetzung von MfS und SS wird nämlich mit einem weiteren Lied dokumentiert, dem MfSLied,129 das nicht nur das grundlegende Muster der Selbstlegitimation der DDR attackiert, sondern gleichzeitig noch die offene Sexualisierung als Mittel der Provokation nutzt: MfS-Lied Ich sitz zu Hause bei’ner Flasche Bier, im Radio klimpert ein Punkklavier. Dann zünd’ ich mir ‘ne Karo an Und wichs meiner Käthe in die hohle Hand Refrain: Aufgepasst, Du wirst bewacht vom Mf-MfS Endlich geh ich dann die Straßen lang, ein Besoffner suhlt sich an ihrem Rand Dann ruf ich meine Kumpels an, da hängt noch wer an der Leitung dran. Refrain: Aufgepasst, Du wirst bewacht vom Mf-MfS Ich bin K. O. und will nach Haus, ich denk mir, ich penn mich aus dann endlich geh ich durch die Tür, bis jetzt lief einer hinter mir. Refrain: Aufgepaßt Du wirst bewacht vom Mf-MfS
Mit den Wiederholungen im Refrain wird die Gleichsetzung noch stärker akzentuiert: „MM, ff, SS“. Es wundert nicht, dass die DDR-Obrigkeiten wenig Gefallen an solchen Texten und Gruppierungen hatten. Punks konnten auch nur in den geschützten Räumen dissidentischer oder relativ freier Milieus überleben, vor allem in den Kirchen, die diesen Gruppen Platz für ihre Konzerte und Schutz vor der Stasi boten. Nicht allein in und für die DDR, auch in der Bundesrepublik findet sich diese Praxis,130 und es ist neben einer kritisch-ironischen Brechung immer auch – zumindest in England – „Haß“, der sich hier „als Zeitbombe in einer Gesellschaft
129„Namenlos“, zit. Häder, Eigen-Sinn, 2004, S. 75, S. 78, auch Häder, Selbstbehauptung, 2005, S. 469 f. 130Man lese nur Programme der pogo-Partei, z. B. für die Wahl zum Bundestag 2002 oder später, um den provokativen Ton wieder zu finden.
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ohne Liebe“ artikuliert, wie der damals als Kulturkorrespondent der FAZ in London lebende und schreibende Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer formuliert hat.131 Er sieht einen Zusammenhang von „Punk-Kultur und Kulturkritik“, und findet in dieser Kultur der Jugendlichen „mehr Lebendigkeit und Kreativität … als [sie] jener emotionslose, friedfertige Stumpfsinn (besitzt), den man einer Freizeitgesellschaft ohne Utopie predigt.“ Bohrer gibt, ausgehend von einer Analyse des Theaterstücks „Class Enemy“,132 das er in London sieht, „atemlos und bravourös gespielt von Teenagerschauspielern“, dem Stück eine weitreichende kulturkritische Interpretation, eingeschlossen eine kritische Abgrenzung gegen alle Pädagogisierung der autonomen Artikulationsformen der Jugendlichen: „Wir sollten es klar sehen: dieser Haßexistentialismus proletarischer Jungens ist kein Fall bloß für Sozialpflege, wie gut meinende Snobintellektuelle aus besseren Hause und mit höherem Einkommen sich hier und anderswo einreden.“ In der breiten öffentlichen, aber auch in der intellektuellen Distanzierung gegenüber den Punks sieht er zugleich ein Indiz für die Tatsache, dass die „Aggressionsmittel, die dem intellektuellen Mittelstand auszugehen drohen“, bei diesen „proletarischen Schülern“ noch zu finden sind. Für Bohrer ist deshalb auch „die notorische Herablassung gegenüber den Punks als entweder modisch oder krank“ nur Kompensation der eigenen Schwäche. Bildungstheoretisch kann man eine solche Artikulation der Differenz von eigener und anderen Kulturen sehr gut nachvollziehen, weil die Entwicklung eines eigenen Stils die grundlegende Voraussetzung dafür ist, dass sich eine eigene Kultur im Umgang mit Welt ausbildet.133 Diese Konstruktion einer autonomen Lebensform beginnt ganz alltäglich, auch unter Bedingungen der Diktatur: „Ich wollte einfach anders sein, schockierend, auf Abstand halten … und schon gar nicht ein ordentliches Mädchen sein“ – wie das die Eltern gewünscht hatten.134 Das ist gewissermaßen die von außen und von den entrüsteten erwachsenen Beobachtern erwartete Selbstbeschreibung und Begründung für die Zuwendung zu den Punks; denn Punk ist für sie „einfach anders sein“ und die Absage an eine „ordentliche“ Existenz die historisch wie gesellschaftlich geeignete Form,
131Karl Heinz Bohrer: Ein bißchen Lust am Untergang. Englische Ansichten. München/Wien 1979; tb-Ausgabe Frankfurt a. M. 1982, S. 189–193, zit. S. 192, 193, auch für die folgenden Zitate. 132Das Stück von Nigel Williams wurde 1978 in London uraufgeführt. 133Für die historische und systematische Dimension dieses Phänomens u. a. Walter Hornstein: Vom „jungen Herrn“ zum „hoffnungsvollen Jüngling“. Wandlungen des Jugendlebens im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1965 sowie Jürgen Zinnecker: Jugendkultur 1945–1985. Opladen 1987. 134So ein Zitat von „Jana“, Mitglied der Band „Namenlos“, die – so die Stasi-Formulierung – „durch strafprozessuale Maßnahmen erfolgreich zersetzt“ wurde. Jana wurde ihres Verhaltens wegen polizeilich und gerichtlich verfolgt und verurteilt, aus: Häder, Zeugnisse von Eigen-Sinn, 2004, zit. S. 70, 75, und für die polizeilichen Aktionen S. 77 ff.
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ihr O utfit prägt und belegt ihre eigene Welt.135 Aber gleichzeitig speist sich die Gründung der Band nicht nur aus der Abgrenzung nach außen, sondern auch aus der Eigenerfahrung mit sich selbst: „mit dem ‚Rumhängen‘ sollte Schluss sein“, wird das Motiv der Band-Gründung zitiert. Jana wollte nach einer länger andauernden Existenz ohne Ziel in Berlin endlich „etwas Sinnvolles tun, was ihren Überzeugungen entspricht, und damit auch andere erreichen.“136 Selbstverwirklichung also, ein ganz konventionelles Motiv, verbunden mit der Stiftung und Tradierung von Sinn, aber realisiert aus der Distanz gegenüber den erwarteten Lebensformen erzeugt einen Habitus, der dann auch den eigenen Status und das öffentliche Verhalten bestimmt. Das kann man den Habitus eines Gebildeten nennen, weil die Akteure sich ihres Verhaltens in der Welt bewusst sind. Der Habitus wird hier auch nicht von Zertifikaten oder schulisch gelieferten Indikatoren bestimmt, sondern von eigener kultureller Praxis, von „Autorschaft“, wenn man emphatisch artikuliert, von Selbsttätigkeit, wenn man die alltägliche Konstruktionsleistung der Individuen in ihrer gesellschaftlichen, für diese Lebensform ja durchaus bedrohlichen Situation reflektiert. Es ist auch mehr als Initiation in eine Gesellschaft, die hier zu beobachten ist, in London wie in Leipzig, wo sich in den 1960er schon die „Gammler“ gegen staatliche Indoktrination sammelten und die dissidentische Jugendkultur der DDR vor allem präsent war, wie Anfang der 1960er Jahre die Jugendlichen in München oder Berlin. Diese Jugendkulturen dokumentieren zugleich Reflexion, und zwar der eigenen Lage, der Codes, die ihnen als Weltdeutung vom Staat und den Erziehungseinrichtungen, vor allem von Schule und FDJ, angesonnen werden, und der Lebensformen, die als wünschenswert oder erstrebenswert gelten. Bildung erweist sich hier als die je individuelle Leistung der Konstruktion des eigenen Habitus. Diese Formen der Konstruktion von Individualität sind schon wegen der sie bald begleitenden Kommerzialisierung zwar nicht autark, immer auch in Gruppen unterschiedlichster Form, sei es als Subkultur, Gegenkultur oder Szene137 abgestützt und über sie erst definiert. Solche jugendlichen Szenen sind aber in dieser Abhängigkeit genauso autonom, wie die alten und etablierten, sich selbst als hochkulturell verstehenden Lebensformen traditionellen Musters es auch immer nur waren und sind. „Gebildete“ also auch hier. Diese Praxis der Autonomisierung ist, auch und wegen der paradoxen Formen, denen die (tolerierte) Artikulation von Jugendprotest zuzurechnen ist, natürlich in den libertär-permissiven Kulturen
135Häder, Zeugnisse von Eigen-Sinn, 2004, beschreibt dieses outfit so: „Irokesenhaarschnitt, die zweifach um den Hals geschlungene Metallkette … als weiterer Schmuck .. ein Ohrring und eine Metallkette am Arm … an den nackten Füßen Turnschuhe … einen katzenähnlich gemusterten Overall, der eng an ihrem Körper anliegt und über den sie ein aus dem gleichen Stoff gearbeitetes enges, tief ausgeschnittenes und durch einen breiten Gürtel um die Taille gerafftes Oberteil gezogen hat“ (etc., zit. S. 74). 136So Häder, Zeugnisse von Eigen-Sinn, 2004, zit. S. 73. 137Diese feineren Unterscheidungen der jugendkulturellen Gesellungsformen kann ich für das hier vorgetragene Argument ignorieren, vgl. für die Diskussion u. a. Roland Hitzler u. a.: Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute. Opladen 2001.
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des Westens auch ein Medium sozialer Integration,138 aber dennoch autonom praktiziert, nicht allein stellvertretend wie in der Literatur oder auf dem Theater oder im Schonraum der Schule. Deshalb gilt insgesamt, dass man hier historisch konkrete Bildungsbewegungen sehen kann, wie sie in der Generationsordnung der Moderne immer neu auftreten, auch immer mit eigenen biografischen Folgen: Über die Jugendbewegung war schon spöttisch zu hören, dass mit dem Eintritt in den Beruf die Klampfe an die Wand gehängt139 und die Lederhose ausgezogen wird, aber prägend, das lässt sich in den weiteren Biografien beobachten, sind diese Gruppierungen geblieben, in einem eigenen Lebensstil, kulturell und politisch, nicht nur individuell von Bedeutung. Für die Mitglieder der Jugendopposition der DDR – wie für die Opposition in der DDR insgesamt – sind solche identitätsprägenden Folgen ebenfalls nicht zu bestreiten, in der Varianz, die dem Lebenslauf eigen ist, wie sich auch nach 1990 zeigen wird. Bildungsprozesse, mit anderen Worten, erweisen sich in ihrer Bedeutung letztlich erst in der Biografie. Sie präsentiert den Gebildeten und in ihrem Eigensinn ist sie auch die Probe auf die im Leben erfahrene, letztlich aber gescheiterte Pädagogik. Das Leben in jugendspezifischen Sozial- und Praxisformen prägt die eigene Identität, den Umgang mit Welt und die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Die dabei wirksamen Formen und Praktiken sind generationsspezifisch jeweils neu, in ihrer Artikulation von Autonomie, in der Konstitution der je eigenen Lebensform und in der Abgrenzung von den jeweiligen Umwelten anderer Jugendkulturen und -szenen oder der Erwachsenenwelt, in allem aber funktional äquivalent und folgenreich für den weiteren Lebenslauf. Das öffentlich sichtbare Bild des eigenen Lebensentwurfs prägt sich hier zuerst aus. Das wirft natürlich auch die Frage auf, wie viel an Autonomie jenseits der Krisenphase des Jugendalters verbleibt, ob sich die hier noch präsenten Formen der Selbstkonstruktion auch in einem Alltag erhalten, der mit commercium und connubium die Offenheit der Jugendphase verloren hat. Der Eintritt in den Beruf und die Begründung eigener familiärer Lebensformen, insgesamt das Erwachsenenalter erzeugen ja eine Welt, die zu festeren Strukturen geronnen ist als sie das Moratorium des Jugendalters kennt. „Wer einen Beruf ergreift, ist verloren“, lautet die verzweifelte Botschaft bei Henry David Thoreau, und wer dazu noch allein den ‚falschen‘ Beruf ergreifen konnte, sich nicht in den privilegierten Etagen der Sozialstruktur wiederfindet, dem droht das ‚Elend der Welt‘. Kann man auch dann noch von der Selbstkonstruktion der Individuen sprechen oder ist doch das Bündnis von Bildung
138Die Studien über Jugendprotest in Schulen, wie sie im Zusammenhang der englischen CultureStudies aus dem Kontext von CCCS vorgelegt wurden, dokumentieren diesen paradoxen Effekt, vgl. u. a. Paul Willis: Learning to Labour. (1977) dt.: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt a. M. 1979. Hier findet man „Stil als bedeutungsvolle Abweichung, selbstbewusst subversive Bricolage und symbolischer Widerstand“ (Baacke). 139Kurt Tucholsky hat jedenfalls 1929 diagnostiziert: „Die großen Worte werden später mit der Klampfe an die Wand gehängt.“ (K.T.: Schulkampf. In. Die Weltbühne 25(1929), II, S. 514–518, zit. S. 515).
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und Besitz, Status und Ausbildung notwendig, um die eigene Welt dauerhaft zu konstruieren? In Zeiten von PISA und zahllosen Untersuchungen über die Bedingungen des Erfolgs – in der Schule oder im Leben – liegt eher eine negativ-kritische Antwort nahe, denn zu deutlich ist immer noch, wie man nahezu formelhaft hören kann, die Abhängigkeit der Bildungskarrieren und des Lebenslaufs von der sozialen Herkunft, aber nicht von Leistung oder individueller Anstrengung. Bildung als Medium der Konstruktion des Lebenslaufs erscheint in diesen Texten und Analysen als eine Größe, die nicht auf das Subjekt verweist, sondern auf die Bedeutung von Schicht und Klasse, Geschlecht, Milieu und Sprache, Kultur, Region und Konfession. Die Abhängigkeit von solchen sozialstrukturellen Faktoren wird letztlich als so entscheidend stilisiert, dass man soziologischen Theorien den Vorwurf des Determinismus gemacht hat, die nur zeigen, wie sich soziales oder kulturelles Kaptal „vererbt“. Anderen wiederum, die den je individuellen Part nicht ignorieren, sondern nach wie vor für wesentlich halten, wird die Anhänglichkeit an Illusionen unterstellt, etwa der Chancengleichheit oder der Fiktion, als sei wirklich jeder seines Glückes Schmied und nicht eher Objekt der Verhältnisse.140 Muss man diese soziologisch erzeugte, in sich skeptische Diagnose auch bildungstheoretisch für das letzte Wort halten?
17.6 „Wir sind gelebt worden“ – das „Elend der Welt“, Aufstieg durch Bildung? Die Antwort auf solche Fragen bedeutet letztlich eine Prüfung der alten bildungstheoretischen These, dass „Das Leben bildet“. Das war die Grundüberzeugung im Ursprung der Bildungsreflexion, aber was bedeutet dieser Satz, nimmt man ihn nicht grundlagentheoretisch oder gar philosophisch, sondern empirisch, für die Realität, in der die Bedingungen und Formen des Lernens im Erwachsenalter, bildungstheoretisch gesehen als Form der „Aneignung“ und Konstruktion der eigenen Welt,141 ihre aktuelle Gestalt gefunden haben. In dieser Perspektive soll im Folgenden die Bedeutung der alten These untersucht werden, exemplarisch und an historisch bis heute relevanten Exempeln für die Strukturen des „Lebens“, das vermeintlich „bildet“, vor allem unter der Frage, ob auch die Welten, in denen wir heute leben, Selbstkonstruktion noch als eigenständige Konstruktion eines Selbst in Wechselwirkung mit der Welt ermöglichen, um die Möglichkeiten zu sichern,
140Die Anspielungen gelten einerseits den Thesen von Pierre Bourdieu und andererseits der Kritik an der politisch und pädagogisch genährten „Illusion der Chancengleichheit“, die er selbst formuliert hat (Bourdieu/Passeron 1971). 141Deren Erläuterung für das Erwachsenenalter liefert Jochen Kade: Erwachsenenbildung und Identität. Eine empirische Studie zur Aneignung von Bildungsangeboten. Weinheim 1989, für die theoretische Verortung bes. S. 27–32.
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die man einem Leben in Würde zuschreiben kann und muss, auch als Probe für die Bildungstheorie, wie sie die Vielfalt der historischen Prozesse in ihre eigene Deutung von Bildungsprozessen einordnen kann. „Soziale Herkunft“, so die bis heute dominierende Formel, wird (sieht man von den Privilegierungsprozessen ab, die auch damit verbunden sein können) aktuell vor allem für lebensgeschichtliche Benachteiligung und für die Stabilität von Ungleichheit verantwortlich gemacht, für gravierende Differenzen in der jeweiligen Lebenslage und dann auch für die Möglichkeiten der Teilhabe an Bildungsprozessen. Heute muss man die viel berufene „soziale Herkunft“ allerdings dekomponieren, um sinnvolle Aussagen zu formulieren, also nicht mehr nur „objektive“ Klassenverhältnisse betrachten und dann z. B. die fast schon sprichwörtlichen „Arbeiterkinder“ in ihren – erreichten oder versäumten – Bildungskarrieren oder Gender-Phänomene in ihrer Stabilität untersuchen, sondern auch weitere Dimensionen des Sozialen. Bildungstheoretisch darf man dann erwarten, dass die Analyse bis hin zu konkreten sozialen Milieus geht, auch die Komponente der Mentalitäten142 und Aspekte der Lebensstile und der Lebensführung erreicht.143 Vor allem je individuelle Verarbeitungsformen der sozialen Lage werden erst dann sichtbar und zu diskutierbaren Indizien für die ambivalenten Optionen in den strukturell bezeichneten Lebensformen. Die Stadt-Land-Differenz stellt eine solche Struktur dar, älter als die von der „großen Industrie“ erzeugten Klassenverhältnisse, schon in der Aufklärung zum Thema geworden, wenn Rochow die „Vernunft ins Volk“ bringen will oder die Aufklärer selbst den „dummen Bauern“ zum Adressaten ihrer Arbeit machen. Ländlichen Verhältnissen fehlten auch noch spät im 19. und frühen 20. Jahrhundert zentrale Dimensionen der Modernisierung, angefangen bei Arbeitsverhältnissen und ihren Qualifikationserwartungen bis hin zu sozialen und politischen Organisationsformen, denen man die Befreiung der Individuen aus Abhängigkeit und Fremdbestimmung zuschreiben kann. Welche Bedeutung dieser Beharrungskraft und zugleich der Auflösung alter ländlicher Strukturen für die dort lebenden Akteure zukam, das ist auf vielfältige Weise untersucht worden. In bildungstheoretischer Perspektive sind oral-history-Studien besonders aufschlussreich, wie sie u. a. für den Über gang vom späten 19. zum frühen 20. Jahrhundert z. B. für die schwäbische Alp
142Die Betrachtung der feinen Verästelungen, zu denen die einschlägige Forschung inzwischen geführt hat, verdeutlichen besonders intensiv die Arbeiten von Michael Vester, u. a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Frankfurt a. M. 2. Aufl. 2001. Einen einführenden Überblick zum Thema gibt Stefan Hradil: Soziale Milieus – eine praxisorientierte Forschungsperspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 44–45/2006, S. 3–10. 143Zu deren Thematisierung, auch im Kontext von Bildung, jüngst Erika Alleweldt/Anja Röcke/ Jochen Steinbicker (Hrsg.): Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität. Weinheim/ Basel 2016.
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vorliegen. Susanne Mutschler144 hat solche Studien unternommen und sie hat aus ihren Gesprächen mit den alten Leuten auf der Alp den Satz überliefert, der sich wie eine starke Bestätigung der Folgen dieser ländlichen, offenbar nur depravierenden Lebensformen lesen lässt. „Wir sind gelebt worden“.145 Nimmt man die weiteren Befunde dieser Studien hinzu, dann bekräftigen sie scheinbar die kritische Erstdiagnose: Die Tatsache z. B., dass sich ein von Kritik und Distanz zur eigenen Welt bestimmtes Jugendleben und die Krise der Adoleszenz so wenig beobachten lassen wie ein selbstbestimmtes Heiratsverhalten, könnte man ins Feld führen, auch den Befund, dass eine modernen Verhältnissen entsprechende Wahrnehmung von Politik und Zeit, Verwandtschaft und Besitzverhältnissen kaum beobachtbar ist, zu schweigen von einem politischen Organisationsverhalten in kämpferischen Organisationen, das man vielleicht erwartet, wenn man gesellschaftskritischen Theorien und ihren Annahmen über die Bedeutung der Lebenslage für das politische Bewusstsein folgt. Die dörfliche Erfahrung befördert nicht kollektiven Protest oder Widerständigkeit, nicht einmal einen Begriff von Individualität, wie man ihn in der Moderne erwartet, denn „erst in der Rekonstruktion des Wir gelingt dem erinnernden Ich seine Selbstdarstellung“.146 Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts (und in manchen Aspekten sicherlich bis in die Gegenwart) ist dieses Leben in seinen individuell konstruierten Möglichkeiten primär bestimmt von den kollektiven Erfahrungen des Dorfes und seiner Lebensweise, auch von der Reserve, die von der neuen, städtischen Welt ausgelöst wird, sieht man etwa die Abwehr von Fabrikarbeit durch die Landbevölkerung, die ihnen als unerträgliche Gefährdung der eigenen Identität erscheint.147 Solche verständlichen Verhaltensmuster, aber auch die Selbstreflexivität, die in dem resümierenden Zitat ja ebenfalls nicht zu übersehen ist, sollten zugleich davor warnen, die Deutung der Welt, die hier gegeben wird, allein als begrenzt, gar borniert oder nur vormodern abzuwerten. Reflexivität gegenüber der eigenen Situation zeigt sich schon darin, dass die Situation beobachtend wahrgenommen
144Susanne Mutschler: Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen. Familien- und Kinderleben in einem württembergischen Arbeiterbauerndorf an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Tübingen 1985 sowie, aus demselben Forschungskontext Andreas Gestrich: Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung. Sozialgeschichte der Jugend in einer ländlichen Arbeitergemeinde Württembergs, 1800–1920. Göttingen 1986; überblickshaft zum gesamten Projekt Ulrich Herrmann/Andreas Gestrich/Susanne Mutschler: Kindheit, Jugendalter und Familienleben in einem schwäbischen Dorf im 19. und 20. Jahrhundert (bis zum Ersten Weltkrieg). In: Peter Borscheid/Hans J. Teuteberg (Hrsg.): Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit. Münster 1983, S. 66–79. In meiner Interpretation dieser Arbeiten nutze ich auch Argumente, die ich an andere Stelle bereits publiziert habe, vgl. H.-E.T.: Jugend und Generationen im historischen Prozeß – Historische Befunde und Probleme ihrer Analyse. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur13 (1988), S. 107–139, dort bes. S. 123–126. 145Hermann/Gestrich/Mutschler 1983, zit. S. 78. 146Mutschler 1985, S. 39, Herv. im Original, dort unterstrichen. 147Mutschler 1985, S. 42, auch Gestrich 1986, S. 89.
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werden kann und beschrieben wird, nicht apologetisch, sondern nüchtern, mit Bewusstsein für die eigene Lage. Auch die Verteidigung der eigenen Situation und Perspektive gegen Gefährdungen von außen und in der Zukunft gehört in diesen reflektierten Bezug auf das eigene Leben. Das spiegelt sich weiterhin in der Tatsache, dass mit Beginn des 20. Jahrhunderts Jugendliche dann doch den Weg in die Stadt wählen, wenn die Lebenssituation es erzwingt und ihre eigenen Aspirationen es nahelegen – und andere bleiben, mit guten Gründen, in nüchterner Abwägung von Handlungsoptionen und erwartbaren Belastungen bzw. Vorteilen, letztlich aber, um ihre Handlungsfähigkeit zu wahren. Die beobachtenden Forscher enthalten sich deshalb auch aus guten Gründen jeder Bewertung der Handlungsmuster und der Formen ihrer Reflexion, die sie erhoben haben und dokumentieren. Die Überheblichkeit gegenüber den ‚dummen Bauern‘, die der selbstbewusste Aufklärer noch artikulierte, ist ihnen so fremd wie – angesichts anderer depravierter Lebenslagen – die abwertend-kritische Betrachtung z. B. des revolutionsunwilligen Proletariers durch die frühen und späteren klassen- und organisationsbewussten Theoretiker der Arbeiterbewegung. Denn auch diese Lebenslage führt nicht notwendig und zwingend zu einer und nur der einen Reaktion, die der beobachtende Theoretiker als legitim codiert und erwartet, nämlich zu Aufstand und Protest, Organisation und Kampf. Der Zugang zur Welt kann auch im proletarischen Milieu ganz anders strukturiert und gestaltet sein, nicht abhängig und allein fremdbestimmt, sondern in einer autonomen kulturellen Praxis. Die existiert z. B. dort, wo man den lesenden Arbeiter findet, der sich, wie in Frankreich in und nach der Julirevolution von 1830, seine eigene literarisch-politische Welt konstruiert,148 den „Arbeitertraum“ jenseits von Arbeit und Klassenkampf,149 selbstbewusst, nicht als Opfer seiner Welt.150
148Das aktuell viel diskutierte Exempel bieten sicherlich die Studien von Jacques Rancière, v. a.: Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums. (1981) Wien/Berlin 2013. Für die intensive Diskussion vgl. das von Christian Sternad und Siegfried Mattl edierte Heft der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27 (2016), H. 1 – Apropos Rancière, sowie die einleitende Analyse der Herausgeber: Die Welt der stummen Zeugen. Jacques Rancière und die Geschichtswissenschaft. 149Um das Thema, die Perspektive und den Ton wenigstens anzudeuten, den Rancière wählt: „Das Thema dieses Buches ist zunächst die Geschichte dieser Nächte, die der normalen Abfolge von Arbeit und Erholung entrissen wurden. Eine kaum wahrnehmbare Unterbrechung des normalen Ganges der Dinge, scheinbar harmlos, in der das Unmögliche sich vorbereitet, träumt, bereits lebt: die Aufhebung der überlieferten Hierarchie der Unterordnung der Handarbeiter unter diejenigen, die das Privileg des Denkens besitzen. Nächte des Studiums und des Rausches. Arbeitsreiche Tage, die verlängert werden, um die Rede eines Apostels oder den Unterricht der Volksunterweiser zu hören, um zu lernen, zu träumen, zu diskutieren oder zu schreiben.“ (Rancière 2013, S. 8). 150Markus Rieger-Ladich: Ungerechtigkeit. In: Merkur 787,68 (2014), S. 1081–1090 zitiert (S. 1082) die von Rancière kolportierte These seines Lehrers Louis Althusser über den scheinbar ausweglosen Kreislauf, gegen die sich Rancières eigene Deutung dieser Arbeiterwelt dann richtet. „Sie waren unterdrückt, weil sie nicht verstanden, und sie verstanden nicht, weil sie unterdrückt waren.“
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Diese Praxis kann man, das wäre funktional äquivalent der Kritik des Landlebens, natürlich ideologiekritisch destruieren, wie das für die deutsche „Arbeiterbildung“ schon geschehen ist,151 oder emphatisch überhöhen und damit ebenso in ihrer Bedeutung verfehlen, wie das aktuell gelegentlich auch geschieht. Aber man kann die hier zitierten Formen der Konstruktion einer eigenen Welt angesichts einer Welt der Begrenzung, der Ausbeutung und der Ungerechtigkeit auch als legitime, je individuell autonom gewählte und zugleich ambivalente Antworten auf die Frage lesen, wie die Individuen mit solchen Situationen umgehen, zur Selbstbestimmung in Wechselwirkung mit der Welt finden, und auch, wie und warum sie Ungerechtigkeit erdulden.152 Es gibt allerdings keinen Standpunkt, sei es des Akteurs oder des Beobachters, der sich als der einzig wahre auszeichnen lässt. In der Bildungstheorie lässt sich dieser Standpunkt schon gar nicht identifizieren, es sei denn, man schreibt ihr oder der traditionellen Klassenanalyse oder aktuellen kritischen Beobachtern aus den Sozialwissenschaften einen überlegenen Standpunkt gegenüber dem Subjekt oder angesichts der Ursachen und Folgen des „Elends der Welt“153 zu. Das kann man schwerlich begründet unterstellen, aber man muss vielmehr auch und vor jeder akteurzentrierten Idyllisierung anerkennen, dass „die gesellschaftlichen Akteure … die Weisheit hinsichtlich dessen, was sie sind und was sie tun, nicht mit Löffeln gefressen (haben); genauer gesagt, sie haben nicht notwendigerweise Zugang zum Ursprung ihrer Unzufriedenheit oder ihre Malaise“.154 Aber das Dilemma des forschenden Beobachters und die Herausforderung seiner methodischen Arbeit wird gleichzeitig sichtbar, weil er – wie auch Bourdieu immer wieder, wenn auch
151Die
„Ideologie der Arbeiterbildung“ als Kritik der Chancengleichheitsideologie hat Hildegard Feidel-Mertz: Zur Ideologie der Arbeiterbildung. Frankfurt a. M. 1964, erw. Neuauflage 21972 schon zugleich legitimiert und kritisiert; die Kritik an Rancière von einem orthodoxen Klassen-Standpunkt aus fehlt ebenfalls nicht (etc.). 152Das ist eine Frage, die Rieger-Ladich stellt (2014, S. 1087 f.) und im Verweis auf unterschiedliche Formen der Verarbeitung von Erfahrung beantwortet. 153Die Anspielung gilt dem monumentalen Werk von Pierre Bourdieu u. a.: Das Elend der Welt. (1993) dt. Frankfurt a. M. 1997 – das ich hier nicht im Detail diskutieren kann, auch nicht die dem Forschungsansatz folgende Analyse der deutschen Verhältnisse bei Franz Schultheis/ Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005. Bei Pierre Bourdieu und seinen Mitautoren finden sich einerseits Determinationsthesen wieder, zumal wenn sie die „am besten verborgenen Wirkungen der Institution Schule“ (Bourdieu, S. 285) in der Gleichzeitigkeit von Reproduktion und Legitimation der Klassenstruktur der Gesellschaft beschreiben, andererseits auch Argumente, in denen sie immer wieder betonen, dass die Wahrheit über die Lebenssituation der Bewohner der Vorstädte französischer Metropolen weder dem beobachtenden Forscher noch dem Akteur exklusiv und allein zugänglich ist. 154Pierre Bourdieu: Verstehen. In: Ders., Elend, (2010), S. 393–410, zit. S. 405.
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nicht insgesamt konsistent einräumt155 – ohne den Akteur selbst nicht klug wird, schon weil der Akteur in allem Elend doch meist weiß, welche Rolle er selbst in der Nutzung oder im Auslassen von Lern- und Handlungsoptionen gespielt hat.156 Bildungstheorie wird deshalb zunächst die Vielfalt der Konstruktionen als offenes Problem behandeln und darin die Form der Selbstkonstruktion sehen, die unsere Moderne sowohl erzwingt als auch erlaubt. Diese Moderne bietet allerdings zugleich mit dem Imperativ der Selbstkonstruktion – wie man Bildung als gesellschaftliche Erwartung ja auch übersetzen darf – eine je individuelle Praxis an, sich selbst aus depravierenden Verhältnissen zu befreien oder den eigenen Platz im sozialen Gefüge anders zu bestimmen (und auch das ist natürlich nicht nur ein Privileg, sein „eigener Sklaventreiber zu sein“157). „Aufstieg durch Bildung“ oder die „Freie Bahn“, die „dem Tüchtigen“ eröffnet werden soll, stellen solche Handlungsmaximen dar. Sie werden als politisch verbreitete Losungen und als kollektiv akzeptierte Visionen einer alternativen Zukunft zwar erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftsweit etabliert und im Kriege, 1916, sogleich auch als Medium der Herstellung des „Inneren Friedens“ funktionalisiert,158 aber die Praxis selbst ist nicht neu. Aufstieg im Beruf gehört schon zu den vormodern etablierten Praktiken beruflicher Ausbildung und Arbeit. Aus- und Fortbildung im Beruf zählen zu den Selbstverständlichkeiten, mit denen sich Arbeit und Beruf organisieren. Vor allem im handwerklichen Kontext ist eine formalisierte, auf tradierbares Wissen und lehr-/lernbare Praktiken setzende Ausbildung seit dem Mittelalter präsent, eingeschlossen die Erfahrung in der Fremde, die der Geselle auf der „Waltz“,159
155Robin Celikates: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt a. M. 2009 kann deshalb mit guten Gründen bei Bourdieu Folgeprobleme eines „Szientismus und Objektivismus sowie des Bruchs und der Asymmetrie“ in den Annahmen über die Differenz von Beobachter- und Akteurtheorie zeigen und damit systematischen Anhaltspunkte für seine These, dass Bourdieu sich, als Repräsentant der Theorie, doch gegenüber dem Alltagswissen des Akteurs erhaben fühlt. 156Zumal in den Gesprächen mit Jugendlichen in Bourdieu et al. 2010 findet sich neben der Attribuierung auf die soziale Lage immer neu auch dieser selbstreflexive und auch selbstkritische Bezug auf nicht genutzte Lernmöglichkeiten. Die Analytiker räumen dann zumindest auch ein, dass Bildungsanstrengungen als individuelle Lösungen der Probleme geeignet sein könnten, den „Teufelskreis“ zu durchbrechen (vgl. u. a. S. 67 u. ö.). 157Um noch einmal Thoreau zu zitieren, für den diese Form der Selbstkontrolle sogar „das schlimmste ist“ (Henry D. Thoreau: Walden oder Hüttenleben im Walde. (1854) Zürich 31992, zit. S. 12). 158Das signifikante Dokument ist Deutscher Ausschuß für Erziehung und Unterricht/Peter Petersen (Hrsg.): Der Aufstieg der Begabten. Vorfragen. Leipzig/Berlin 1916 – auch als Belege der Tatsache, dass erst der „Burgfriede“ (S. 1), den der Weltkrieg gebracht habe, diese Arbeit ermöglicht hat. 159Martin Kipp hat ein schönes Exempel einer solchen handwerklichen Bildungsreise ausführlich dokumentiert, vgl. M.K.: Von der Wanderschaft des Weißgerbergesellen Ludwig Junkermann (1803–1868) zur mehrfachen Meisterschaft in Mengeringhausen – ein Beispiel für „lebenslanges Lernen“ im 19. Jahrhundert. In: Geschichtsblätter für Waldeck (2016).
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der „Grand Tour“, der Bildungsreise des Adligen vergleichbar, erwerben musste. Sie prägt nicht nur das Können, sondern auch seine Identität, das „symbolische Kapital der Ehre“,160 über das der Handwerker verfügt, um Anerkennung zu finden und seine soziale Rolle zu definieren, die im Ethos des Berufs als Form der sozialen Identität seit Luther sogar religiös überhöht wird. Industrielle Arbeitsverhältnisse übernehmen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dieses Ausbildungsmodell, im sog. ‚Dualen System‘ wird es in Deutschland generalisiert. Hier, in der Kooperation von Schule und Betrieb, wird seither handwerklich und industriell, gewerblich, kaufmännisch und technisch ausgebildet (erst später ergänzt durch vollzeitschulische Ausbildung auch für die erste Hierarchieebene, während Techniker oder Ingenieure schon immer schulbezogen qualifiziert wurden). Solche formalisierten Bildungs- und Aufstiegsprozesse sind also schon sehr lange bekannt und noch im 19. Jahrhundert für einzelne (männliche) Heranwachsende aus den Unterschichten auch im allgemeinbildenden höheren Schulwesen möglich,161 so wie erfolgreicher Universitätsbesuch auch bei niederer sozialer Herkunft konstant in der Geschichte der abendländischen Universität für einzelne Jugendliche möglich war.162 Neu sind jetzt Formen der Selbstkonstruktion solcher Bildungswege jenseits formalisierter Ausbildung. Das Exempel, das für diese Praxis hier gezeigt werden soll, entstammt – regional – der Kernzone der frühen Industrialisierung, dem Ruhrgebiet, und dort der Stahlbranche. Das Exempel gehört also in eine Zeit, in der es formalisierte berufliche Ausbildung von Facharbeitern in der Industrie noch gar nicht gab, und wird damit zum Beleg für eine Praxis, in der Individuen selbst in ihren Mustern des Umgangs mit ihrer beruflichen Welt und deren Anforderungen nicht nur die Formen prägen, aus denen später – kollektiv – Ausbildungsformen und berufliche Bildung entstehen, sondern auch für sich selbst eine Form finden, in der sie – individuell – ihre Biografie über Bildungsprozesse gegen die Nachteile der Herkunft konstruieren. Nicht gesellschaftliche Gleichheit wird dabei hergestellt, aber doch die Äquivalenz von Bildungsprozessen unterschiedlichster Art für die Konstitution von Identität bezeugt. Die Welt, in der sich die hier zu beobachtenden Bildungsprozesse ereignen, ist – wie das zuletzt zu diskutierende Exempel zeigen soll – eine Welt der Arbeit, von einem Hüttenwerk geprägt, konkret von der Gutehoffnungshütte in Oberhausen (deren Archiv die Quelle entstammt). Einer ihrer hochkompetenten Facharbeiter, der spätere Walzmeister Hövelmann, berichtet, wie er in sein Tätigkeitsfeld gefunden hat, also mit den Folgen von „Industrialisierung“ lernend umgeht:
160Andreas Griesinger: Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewusstsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt am. (usw.) 1981. 161Eindeutige Belege dafür bei Peter Lundgreen/Margret Kraul/Karl Ditt (1988): Bildungschancen und soziale Mobilität in der städtischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Göttingen. 162Dazu Klaus-Peter Horn: Der Eine und die Vielen. Eine ‚Karriere‘ vor dem Hintergrund einer kollektiven Biografie von Studenten. In: Rudolf W. Keck/Erhard Wiersing (Hrsg.). Vormoderne Lebensläufe – erziehungshistorisch betrachtet. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 2013–218.
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„Am 9. März 1837 trat ich in die Dienste der Firma, zunächst als Wieger der produzierten Halb- und Mittelfabrikate. Da meine Eltern nicht die Mittel hatten, eine weitere Schulbildung mir geben zu lassen, so war ich angewiesen, mich selbst erst einmal weiter auszubilden, welchem Ziel ich mit immensem Fleiße nachstrebte. Auch besuchte ich in den ersten zwei Wintern 37/38 und 38/39 nach getaner Tagesarbeit die Abendschule im eine halbe Stunde entfernt liegenden Osterveldt. Im Laufe der Zeit suchte ich mich in allen Branchen unseres Werkbetriebes auszubilden, theoretisch als besonders praktisch: im Jahre 1845 war ich bereits so weit gekommen, daß ich als Walzmeister fungieren konnte.“163
Lernen für den Beruf und „Aufstieg“ über den Beruf und im Beruf wird hier, das ist die Besonderheit, noch ganz allein als Leistung der Individuen selbst sichtbar, vom Betrieb oder überbetrieblich, gar schulisch, weder formalisiert gefordert noch institutionell ermöglicht oder unterstützt. Hövelmann zeigt die Kontexte, die diese Bildungsbiografie herausfordern: fehlende familiäre Mittel, um schon nach der Pflichtschule weitere schulische Bildungsgänge zu besuchen, ein hohes Maß an Motivation, nach dem Berufseintritt auf eigene Initiative – und eigene Kosten – eine Weiterbildung zu suchen, den Eifer und die Beharrungskraft, das langfristig und kontinuierlich zu tun, und die Belohnung, schon nach acht Jahren die bedeutsame und angesehene Position des Walzmeisters einnehmen zu können. Man muss nur die Zeitinvestition betrachten, um die Anstrengungen zu würdigen, die dabei erbracht wurden. Wenn der Walzmeister Hövelmann „nach getaner Tagesarbeit die Abendschule im eine halbe Stunde entfernt liegenden Osterveldt“ besuchte, dann hatte er einen Arbeits- und Lerntag, der insgesamt 15–16 h umfasste: 10–12 h Arbeit im Hüttenwerk, gut eine weitere Stunde Wegezeit (hin und zurück) und die Lernzeit der Abendschule nimmt er auf sich, um erst seine allgemeine Bildung zu erweitern, sich dann fachlich zu schulen und auf Tätigkeiten vorzubereiten, die er kennt und für die er seine Qualifikation am Ende erfolgreich anbieten kann. Weiterbildung, das charakterisiert diese frühe Phase der Bildungsgeschichte, ist hier noch ganz individuell organisiert und strukturiert, Lernen als Medium noch ganz subjektiviert. Die Betriebe setzen auf die Weiterbildungsbereitschaft ihrer Belegschaften und zugleich darauf, dass in der beruflichen Erstausbildung neben den Lernvoraussetzungen auch die Motivation für Weiterbildung im Beruf gelegt worden ist. Wenn man z. B. auf die ökonomische Entwicklung der alten Bundesrepublik nach 1950 schaut, auch auf den gravierenden sozialen Wandel, der mit dem weitgehenden Bedeutungsverlust des primären Sektors und dem Wandel beruflicher Anforderungen im Prozess von Automation und Technisierung verbunden war, dann sind sogar diese radikalen Veränderungen im Wesentlichen innerhalb und mit der Qualifikationsstruktur möglich geworden, die das duale System der Ausbildung erzeugt hat. Ohne die in Ausbildung und Beruf erworbene Lernbereitschaft und ein hohes Maß an Lernfähigkeit der Facharbeiter, wie sie aus der Erstausbildung vorlag, sind solche Prozesse der Umstellung von Arbeits- und
163Hier zit. nach Klaus Harney/Heinz-Elmar Tenorth: Berufsbildung und industrielles Ausbildungsverhältnis – Zur Genese, Formalisierung und Pädagogisierung beruflicher Ausbildung in Preußen. In: Zeitschrift für Pädagogik 32 (1986), S. 91–113, zit. S. 96 f.
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Produktionsbedingungen gar nicht erklärbar. Die Lern- und Anpassungsprozesse der Beteiligten sind auch nicht immer mit sozialem Aufstieg verbunden, sie sichern nur die Form der Lebensführung und damit die Identität, die aus Arbeit und Beruf erwachsen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings erlebten die „Aufstiegs“-formel und ihre Praxis gleichzeitig einen strukturellen Wandel. Aus dem Versprechen an den Einzelnen, durch Lernanstrengungen seinen sozialen Status zu verbessern, und verbunden mit der letztlich ökonomisch begründeten Maxime der Gesellschaft, damit uno actu die – als begrenzt gedachte164 – „Reserve“ an „Talenten“ und „Begabungen“ auszuschöpfen,165 wird allmählich ein kollektiv adressiertes, auch ökonomisch motiviertes Programm. Heute ist das Versprechen des „Aufstiegs“ die neue Legitimationsformel angesichts unverkennbarer Ungleichheit. Die „Begabungspotenziale“166 gelten jetzt nicht mehr als begrenzt, sondern in ihren Dimensionen allein als abhängig von den geeigneten pädagogischen Anstrengungen im Bildungssystem und seinen Angeboten und von der Lernbereitschaft der Adressaten. Bildungsprozesse und -organisationen werden daraufhin untersucht, ob sie hinreichend sicher Aufstieg ermöglichen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so organisieren, dass Aufstieg unabhängig von Schicht und Klasse, Geschlecht und Ethnizität möglich wird. „Leistung“ und der „Erfolg“167 zählen (und werden, erwartbar, bis heute in reformpädagogischer oder bildungskritischer Intention problematisiert und intensiv diskutiert168). Gemessen werden sie – gesellschaftlich – an dem eindeutigsten
164Carl Götze: Schulbegabung und Lebensbegabung in: Deutscher Ausschuß/Petersen, Aufstieg, 1916, S. 9–16 hält fest: „Art und Mannigfaltigkeit der Begabungen, die unserm Volke zuwachsen, sind begrenzt“, die Argumentation mit einer „Ökonomie der Menschenkräfte“ sei auch angesichts dieser Knappheit angemessen (zit. S. 9). 165William Stern: Psychologische Begabungsforschung und Begabungsdiagnose. In: Deutscher Ausschuß/Petersen, Aufstieg, 1916, S. 105–120 sagt gleich zu Beginn, dass es bei der „Tüchtigkeitsauslese“ (106) um „Menschenökonomie“ (105) geht, um die Bewirtschaftung „der Größe und der Art unseres Schatzes an geistigen Rohstoffen – das sind die Begabungen“ (105, Herv. im Original, dort unterstrichen). Zuerst ergeben sich für ihn daraus Forschungsprobleme der pädagogischen Psychologie und der Begabungsforschung, die dem Prozess der „Auslese“ Rationalität verleihen soll. 166Das ist Titel und Thema eines aktuellen Forschungsverbundes der Leibniz-Gemeinschaft und ihrer Institute der empirischen Bildungsforschung (u. a. auf der website des DIPF finden sich weitere Hinweise). Für den Wandel des Begabungsbegriffs ist die Diskussion seit dem Deutschen Bildungsrat Ende der 1960er Jahre verantwortlich, vgl. H-E.Tenorth: Heinrich Roth: Begabung und Lernen. In: W. Böhm/B.Fuchs/S. Seichter (Hrsg.): Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn (usw.). 2009, S. 382–384. 167„Erfolg“ als kollektiv anerkannter Maßstab von Lebensläufen ist relativ jungen Datums, kaum vor dem 20. Jahrhundert präsent, vgl. – sehr pointiert – Rudolf Helmstetter: Viel Erfolg. Eine Obsession der Moderne. In: Merkur 771, 67(2013), S. 706–719; während „Leistung“ als Kriterium für den Statuserwerb statt Herkunft schon um 1800 gilt, wie man z. B. bei Humboldt lernen kann. Die Leistungserwartung wird um 1900 allerdings generalisiert und jetzt auch wissenschaftlich, z. B. pädagogisch und psychologisch, messbar gemacht, vgl. Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. München/Berlin 2018. 168Für die kritische Diskussion Alfred Schäfer/Christine Thompson (Hrsg.): Leistung. Paderborn 2015.
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Indikator für eine auch biografisch folgenreiche Differenz, die das deutsche Schulwesen traditionell stiftet, am Abitur bzw. dem Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung. Noch heute aber sind beim Erwerb solcher Zertifikate Generations- und Kohorteneffekte so wenig zu neutralisieren169 wie die Folgen milieuspezifischer Entscheidungen, wenn z. B. trotz der Hochschulzugangsberechtigung kein Studium aufgenommen wird oder der Weg über die Berufsausbildung und die Fachhochschule eher gewählt wird als der direkte Weg über Gymnasium und Universität.170 Auch das Versprechen der Gesamtschulen, sozialen Aufstieg nicht nur besser, sondern allein und gegen alle Herkunftsbedingungen sichern zu können, ist nur selten eingelöst worden. Im Erwachsenenalter finden sich ihre Absolventen nicht selten in den sozialen Lagen und mit den gleichen Erwartungsmustern wieder, aus denen sie aufgebrochen sind. Orientierungsmuster und Aspirationen lassen sich offenbar allein schulisch nicht auflösen.171 In der bildungspolitisch dominierenden, vom Versprechen der Chancengleichheit genährten Perspektive werden dabei die spezifisch bildungstheoretischen Probleme gelegentlich gar nicht mehr gesehen, die mit einer schulisch erzeugten Veränderung der eigenen Lebensform verbunden sein können. Das war nicht immer so, sondern – aus ganz unterschiedlicher Perspektive – schon früh ein viel diskutiertes Thema. Nach 1918 befürchteten klassenbewusste Sozialdemokraten noch, dass der „Bildungswahn“ dazu führen könne, dass Politik und Machtfragen scheinbar entbehrlich würden. Nach 1950 wird in Ländern mit hoher Bildungsungleichheit, in England wie in Deutschland, befürchtet, dass sozialer Aufstieg zu Problemen der Identitätsbildung führen kann, weil der Aufsteiger zwischen der Herkunftsschicht und der neuen sozialen Lage keine angemessene Form der Selbstdefinition mehr finden kann, sondern an allen Orten fremd ist.172 Auch das
169Bei Ingrid Miethe u. a.: Bildungsaufstieg in drei Generationen. Zum Zusammenhang von Herkunftsmilieu und Gesellschaftssystem im Ost-West-Vergleich. Opladen/Berlin/Toronto 2015 wird außer auf individuell-biografische Faktoren auf die wichtige Rolle von „politischen Gelegenheitsstrukturen“ abgehoben, wie sie z. B. mit dem bis Ende der 1950er Jahre laufenden Programm positiver Diskriminierung der Arbeiterkinder in der DDR präsent waren und dann zugunsten der Selbstreproduktion der akademischen Milieus zunehmend verloren gingen. 170Daten zu den aktuellen Mustern der sozialen Reproduktion – in der Gleichzeitigkeit von Abbau und Stabilität von Ungleichheit – über das Bildungssystem liefert jetzt in gedrängter Kürze der Nationale Bildungsbericht (seit 2006). Alte Ungleichheitsfaktoren wie Konfession, Region oder Geschlecht haben erheblich an Bedeutung verloren, soziale Herkunft hat ihre Bedeutung behalten, Ethnizität und Migration kamen hinzu. 171Das haben, gegen die Erwartung ihres Autors, die lebenslaufbezogenen Studien von Helmut Fend gezeigt, vgl. u. a. Helmut Fend/Fred Berger/ Urs Grob (Hrsg.): Lebensverläufe, Lebensbewältigung, Lebensglück. Ergebnisse der LifE-Studie. Wiesbaden 2009. 172Eine solche Diagnose findet sich z. B. bei Hedwig Ortmann. Arbeiterfamilie und sozialer Aufstieg. Kritik einer bildungspolitischen Leitvorstellung. München 1971, auch mit Hinweisen auf die internationale Forschung. Das Phänomen ist natürlich selbst historisch, schon der „Anton Reiser“ (1788) schildert ja auch das Problem der Identitätsfindung angesichts des Wechsels des sozialen Milieus. Bei Peter Alheit/Frank Schömer: Der Aufsteiger. Autobiographische Zeugnisse zu einem Prototypen der Moderne von 1800 bis heute. Frankfurt 2009 findet sich das Phänomen in seiner langen Dauer.
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17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang
ist natürlich nicht etwa nur ein deutsches Phänomen, sondern in allen offenen Marktgesellschaften zu finden, auch in der literarischen oder autobiografischen Verarbeitung,173 deshalb auch nicht erst von der Rede von Bildung induziert. Einen Akt der Emanzipation können diese Kritiker folglich im Aufstieg nicht sehen. An der breiten Anerkennung der Aufstiegserwartung und der verbreiteten gesellschaftlichen Unterstellung dauerhafter Aufstiegs- und Lernbereitschaften hat das nicht gehindert, im Gegenteil. Bildungstheoretisch signifikanter als die Urteile der Beobachter sind die Wahrnehmungen der Akteure selbst, zumal dann, wenn sie nicht den Erfolg des Aufstiegs erleben (und sich keineswegs nur fremd fühlen174), sondern Misserfolg verarbeiten müssen. Die Wahrnehmung von Ereignissen im Lebenslauf und deren Bewertung folgt ja nicht einheitlichen Mustern, sondern ist selbst individuell geprägt und biografisch relevant. Vor allem die Attribuierung auf die Ursachen von Erfolg und Misserfolg folgt einerseits zwar gesellschaftlich verbreiteten Mustern, ihre je individuelle Handhabung ist aber selbst noch variabel und erfahrungsabhängig. Zu den gesellschaftlich verbreiteten Mustern zählt, dass Erfolg individuellen Anstrengungen und damit der Leistung zugeschrieben wird und nicht etwa primär gesellschaftlichen Umständen oder einem Faktor wie Glück und Zufall. Die Attributionsstile von Individuen gegenüber Erfolg und Misserfolg nehmen diese Referenzen auch auf und unterscheiden sowohl „internale“, z. B. Anstrengungen der Person, und „externale“, z. B. Zufall, als auch „zeitlich stabile“ und „vorübergehende (variable)“ Faktoren, und beurteilen sie relativ zu der Frage, ob ihr Lernprozess als von „selbstkontrollierbaren Bedingungen“ abhängig gedacht wird.175 In konkreten Biografien gibt es allerdings erhebliche Differenzen in der Handhabung dieser Zurechnungspraktiken. Individuen entscheiden primär „selbstwertdienlich“,176 schon um ihre Identität im Lebenslauf auch angesichts von Misserfolg zu wahren, bewerten also auch abhängig von Ergebnissen ihre eigenen Leistungen im Erfolgsfall höher als externe Faktoren. Allerdings, solche
173Als zugleich singulär für die Autoren wie exemplarisch für die französische Gesellschaft stehen die Autobiografie von Pierre Bourdieu: Ein soziologischer Selbstversuch, Frankfurt a. M. 2002 und von Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016. 174Risiken und positive Erfahrungen im Aufstieg thematisiert u. a. Ingrid Miethe: Der Mythos von der Fremdheit der Bildungsaufsteiger_innen im Hochschulsystem. Ein empirisch begründetes Plädoyer für eine Verschiebung der Forschungsperspektive. In: Zeitschrift für Pädagogik 63(2017)6, S. 686–707; das Heft bietet in seinem Thementeil „Bildungsaufstieg: Mechanismen, Strategien und Risiken des Erfolgs“ einen konzisen Überblick zur Forschungslage (Nicole Welter/Jane Schuch) und weitere Analysen, u. a. über „migrationsspezifische Ambivalenzen sozialer Mobilität“ (Aladin El-Mafaalani) oder über „Selbst- und Fremdkonstruktionen erfolgreicher Romnja und Sintizza“ (Elizabeta Jonuz/Jane Schuch). 175Eine Übersicht über diese inzwischen klassischen Lehrstücke der Psychologie von Motivation und Selbstkonzept liefern z. B. Andreas Krapp/Bernd Weidenmann (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch. München/Weinheim 42001, zit. S. 229, auch für das Folgende. 176Zur bildungstheoretischen Diskussion solcher Präferenzordnungen Markur Rieger-Ladich: „Biographien“ und „Lebensläufe“: Das Scheitern aus der Sicht der pädagogischen Anthropologie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 88(2012), S. 608–623.
17.6 „Wir sind gelebt worden“ – Elend ... und Aufstieg ...
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Praktiken variieren mit den Ergebnissen, die die Bildungsbiografie selbst bereithält: Erfolgreiche Lerner, Abiturienten z. B., können, in realistischer Einschätzung der Komplexität der Bedingungen von Erfolg und Misserfolg, auch die Umstände als verursachende Faktoren sehen, z. B. die privilegierte soziale Herkunft oder das Glück. Heranwachsende dagegen, die notorisch Misserfolge in ihrer Bildungskarriere erleben, Hauptschüler z. B., rechnen den Misserfolg sehr viel stärker sich selbst zu und ihrem eigenen Selbstkonzept und Fähigkeitsbild, damit also auch als stabil interpretierten Faktoren, z. B. ihrer quasi naturalistisch und als unveränderbar interpretierten „Begabung“.177 Bildungsbiografisch dramatisierend kommt schließlich hinzu, dass diese Attributionsmuster im Blick auf den beruflichen Erfolg oder sozialen Aufstieg im Lebenslauf relativ stabil bleiben: der Erfolgreiche attribuiert, gegen alle Erfahrung von der Bedeutung externer Faktoren,178 auf sich selbst und seine Leistung,179 Misserfolg dagegen zeugt sich selbst fort, auch wegen des Bildungssystems. Lebenslanges Lernen, eine heute gesellschaftlich selbstverständliche Verhaltenserwartung, führt also nicht notwendig zur Korrektur von Formen der Selbstwahrnehmung, die sich in der Bildungsbiografie früh ausgebildet haben. Die quasi normativ verfestigte Erwartung lebenslanger Lernbereitschaft wird es deshalb auch nicht mehr als Verheißung, sondern gelegentlich schon eher als Drohung erlebt, ‚lebenslänglich‘ lernen zu müssen. In der viel beschworenen „Bildungsgesellschaft“ bleibt gelegentlich nur noch der „Produktivitätsimperativ“ in Geltung, die Forderung nach Flexibilität und Anpassungsbereitschaft. Bildung verliert im Sinne der traditionellen Metapher für je subjektive Anstrengungen zur Sicherung der eigenen Reproduktionsfähigkeit an Bedeutung und wird zur beliebig handbaren Losung in einer Situation und zum Leitbegriff für Maßnahmen, die den Übergang von der Arbeitslosigkeit in den Beruf ermöglichen sollen, z. B. bei Hartz IV, aber nur noch unsichere Erfolgsversprechen geben. In den einschlägigen Programmen dominiert zwar die Semantik des Selbst, seiner Lernbereitschaft und Verantwortung,180 aber sie bildet keine Wirklichkeit mehr
177Einschlägige Befunde finden sich immer wieder, bildungshistorisch besonders intensiv aufklärend für die Praxis der Betroffenen ist immer noch die kasuistische Analyse bei Konrad Wünsche: Die Wirklichkeit des Hauptschülers. Berichte von Kindern der schweigenden Mehrheit. Köln 1972. Als Überblick zur aktuellen Situation und ihrer Analyse, mit intensiver Beachtung des Problems der schulisch erzeugten Selbstwahrnehmung, jetzt Hermann Veith/Matthias Völcker: Hauptschulsozialisation – oder der „unheimliche“ Lehrplan einer verschmähten Bildungseinrichtung. In: Zeitschrift für Pädagogik 61(2015)6, S. 857–875. 178Die sozialwissenschaftlichen Beobachter sprechen vom „fundamentalen Attributionsfehler“ (vgl. Meulemann 2016, S. 23), wenn Handlungsergebnisse stärker auf die Person als auf die Situation zugerechnet werden. 179Für diese These noch jüngst starke Befunde bei Heiner Meulemann: Bin ich meines Glückes Schmied? In: Zeitschrift für Soziologie 45(2016)1, S. 22–38. 180Matthias Bohlender: Wie man Langzeitarbeitslose regiert. In: Merkur 757, 66(2012), S. 557– 565.
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17 Exempla: Der Lebenslauf als Bildungsgang
zuverlässig ab. Dann wird nicht einmal mehr verwertungsbezogen gelernt, sondern allenfalls ein zynisches oder defätistisches Weltverhältnis begründet. „Bildungspanik“ wird diagnostiziert, statt der Perspektive des Aufstiegs droht in anderen Krisenerzählungen aktuell eher die „Abstiegsgesellschaft“.181
181Das ist die These bei Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Frankfurt a. M. 2016, aber auch der Hintergrund für zahlreiche Diagnosen des drohenden „Prekariats“ trotz hochwertiger Ausbildung. Die Bildungsökonomen, orientiert an längerfristigen Entwicklungen als z. B. Nachtwey, der nur die letzten Jahrzehnte betrachtet und „kollektiven sozialen Abstieg“ (117) meint diagnostizieren zu können, bestätigen das allerdings nicht. Auch Bude, der die „Bildungspanik“ gerade der Mittelschichten diagnostiziert, hält sie objektiv für unangebracht.
Kapitel 18
Utopien und die Realität Die Bildungspraxis der Subjekte und die Möglichkeit anderer Welten
So alltäglich offenbar die Selbstkonstruktion des Subjekts historisch und aktuell identifizierbar ist und so bedeutsam deshalb Bildung in all ihrer Varianz als historische Tatsache gelten muss, von der Alphabetisierung bis zum Erwerb komplexerer Kompetenzen, von der Habitualisierung eines eigenen Lernkonzepts und der Wertschätzung von Weiterbildung, als Kultivierung individueller Lernstrategien und eines eigenen Stils der Teilhabe an Kultur und Gesellschaft – darf man sich damit zufrieden geben? Oder sprechen diese Befunde nur deshalb für Bildungsprozesse auch unter Bedingungen der alltäglichen Erziehungsgesellschaft, weil die Beobachtung sich normativ bescheiden eingerichtet hat, zufrieden mit dem Gegebenen und den Handlungsoptionen und -strategien der historischen Akteure? Ist nicht der Befund doch auch, dass mit der Alltäglichkeit der hier geschilderten Formen der Selbstkonstruktion der Subjekte Kants Vision der „Höherbildung der Menschheit“ und seine Hoffnung, dass die „Erziehung … uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte (eröffnet)“, zugleich ausgeträumt? Kann man in der geschilderten Tatsächlichkeit, in der großen Varianz und Alltäglichkeit der Bildungsprozesse zugleich und eindeutig, vielleicht sogar verbreitet und irreversibel, noch einen Fortschritt der Gattung zum Besseren behaupten? Nicht ohne Grund finden die Diagnosen der Halb- und Unbildung ebenso immer neue Nahrung wie die kritischen Bemerkungen über den Status des „Selbst“, das sich alltäglich ausbildet und vor großen Erwartungen kaum rechtfertigen kann. In der Regel ist das Argument der Kritiker ja auch so einfach wie verständlich, dass sie nämlich die großen Versprechen und erhabenen Erwartungen der klassischen und modernen Theoretiker der Bildung als Hypothese auffassen, deren Einlösung an der Wirklichkeit gemessen wird. Differenzen sind dann unbestreitbar, von ihnen nährt sich die Kritik. Insofern hat man unverkennbar Mühe, die großen Hypothesen von Bildungsphilosophen, Pädagogen und Bildungspolitikern bestätigt zu finden, dass mit der Ausbreitung und Universalisierung von Bildung auch die Moralisierung der Menschheit stattfindet oder dass die Zivilisierung der Gattung und die „moralische © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_18
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18 Utopien und die Realität
Cultur der Nation“ zugleich befördert werden. Die Realität der Konstruktionen des Selbst erweist sich nicht als eine Praxis, in der die Bildungsideale eingelöst werden, die Bildungstheoretiker immer neu zeichnen: Visionen ganzheitlicher Selbstkreation, „die höchste und proportionierlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen“, wie die klassischen Texte formulieren, oder die Realisierung von „Bildungskriterien“ und „Maßstäben“, die immer neu in Wunschbildern politischen, sozialen und kulturellen Verhaltens vorgegeben werden. Auch die finden sich in der Alltäglichkeit der Selbstkonstruktionen nicht oder allenfalls sehr schwach ausgeprägt. Man wird solchen Erwartungen in ihrer Wünschbarkeit auch nicht grundsätzlich widersprechen, aber doch fragen, wie die Zukünfte organisiert werden können, die damit intendiert sind? „Mögliche Welten“ sollen ja auch realisierbare Welten sein, die Kritik kann sich nicht allein von einer kategorialen Unterscheidung her begründen, dass das Gegebene immer nur ein defizienter Modus der Einlösung von Möglichkeiten darstellt. Da werden die Folgen unvermeidlicher Selektion unter gegebenen Möglichkeiten systematisch abgewertet, ohne die Möglichkeit legitimer Selektion selbst diskutiert zu haben. Das Argument mit den „möglichen Welten“,1 die als Ergebnis von Bildungsprozessen hypothetisch unterstellt werden, immunisiert sich damit gegen Erfahrung. Ungeachtet solcher Begründungsprobleme erinnern kritische Bildungstheoretiker, solche also, die sich – gleich ob konservativer oder revolutionärer Provenienz2 – mit und in dem historisch Gegebenen nicht einrichten wollen, an die großen und gelegentlich sogar revolutionären Versprechen der Ursprungsphase der klassischen Moderne und notieren immer neu Differenzen zur je aktuellen Wirklichkeit, die sie z. B. als „Entfremdung“3 einordnen oder als modernistisch erzeugte Defizite kritisch codieren. Allerdings erklären zumal kritische Bildungstheoretiker diese Diskrepanz von Anspruch und Realität in der Regel durch Externalisierung, denn sie suchen die Ursachen für die Differenzen oder den Misserfolg der schönen Programme der Vergangenheit andernorts, nie bei den (eigenen) Programmen und den Urteilskriterien ihrer Protagonisten. Die beobachtbaren
1Hans-Christoph
Koller: Das Mögliche identifizieren? Zum Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung am Beispiel der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. In: Pongratz/Wimmer/Nieke, S. 108–124 macht von diesem Argument Gebrauch, ohne überzeugend die Empirisierung leisten zu können, denn z. B. auch „hypothetisch“ antizipierte oder reflexiv „implizite Welten“, auf die er anspielt, müssen mit gegebenen Welten vergleichbar werden. Im Rückgang auf Lyotard und die These vom „Widerstreit“ verbaut er sich vollends den Wirklichkeitszugang durch kategoriale Konstruktionen. 2Nicht zufällig werden bildungstheoretische Positionen auch paradox codiert, wie der prominente Fall der Zuschreibung des „Konservativen als Revolutionär“ bestätigt, mit dem Herwig Blankertz die reflexive Praxis von Heinz-Joachim Heydorn qualifizierte, so H.B.: Der Konservative als Revolutionär. In: betrifft: erziehung 5 (1972)11, S. 63–65. 3Der Begriff findet sich schon in der zeitdiagnostischen Tradition seit Schiller und Humboldt, für seine aktuelle Diskussion jenseits positionsspezifischer Selbstsicherheit u. a. Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M./New York 2005.
18 Utopien und die Realität
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Möglichkeiten der Bildung – und die Geltung von Kritik4 – werden jedenfalls nur sehr selten realistisch, meist skeptisch betrachtet, allenfalls gelegentlich, wenn in neuer binärer Codierung ein „affirmativer“ und ein „kritischer Bildungsbegriff“ unterschieden werden.5 Aber meist bewahrt schon ein munteres „umso schlimmer für die Wirklichkeit“ die Bildungsprogrammatik und -philosophie davor, angesichts der Diskrepanzen von Anspruch und Realität selbst auf den Prüfstein ihrer radikalen Versprechen gestellt zu werden. Sicherlich, vor allem die pädagogische Praxis wird kritisiert, als eine Wirklichkeit, „die die Menschen augenscheinlich nur unzureichend mit dem Widerstandspotential gegen das herrschende gesellschaftliche Unrecht ausstattet“6 – wie man es von einer anderen Praxis offenbar erwarten darf, freilich ohne dass ein Exempel solcher Praxis belegt wird, das wirklich „Widerstandspotential“ generiert habe, denn mit Resistenz, die man ja tatsächlich als Wirkung schulischen Lernens in Diktaturen finden kann, gibt sich die Widerstandsrhetorik nicht zufrieden. An dieser Diagnose überrascht zugleich der bildungstheoretische Mut, auch für Gesellschaften wie unsere, für die ja die kritische Diagnose formuliert wird, Evidenz und Konsens für die Feststellung des ‚herrschenden gesellschaftlichen Unrechts‘ unterstellen zu können. Als Indiz für Unbildung oder fehlendes Widerstandspotential wird dann offenbar schon gewertet, dass Schulabsolventen mit den gesellschaftskritischen Diagnosen kritischer Bildungstheorie nicht in allen Details übereinstimmen. Aber auch wenn man Indikatoren für die politische Dimension der Bildung wählt, die nicht ganz so umfassend, weit und primär kritisch diagnostizieren, werden relativ einfache und eindeutige empirische Befunde vielleicht noch mehr ernüchtern. Dazu könnte man z. B. die Tatsache rechnen, dass das aktive Interesse an Politik, gar ein eigenes politisches Engagement für die meisten Menschen trotz aller Bemühungen der Schulen, der Politischen Bildung und ihrer Agenten außerhalb der Schule doch sehr gering ist.7 Die auf Veränderung drängenden sozialen Bewegungen rekrutieren auch nur Minderheiten. Die meisten Menschen
4Zu
den methodischen Anforderungen an und den Möglichkeiten von Kritik vgl. meinen Exkurs in Kap. 25.3. 5So Dietrich Benner: Bruchstücke zu einer nicht-affirmativen Theorie pädagogischen Handelns. (1982) Jetzt in: D.B.: Studien zur Theorie der Erziehung und Bildung, Bd. 2, Weinheim/ München 1995, S. 51–75, dort werden nach Überlegungen „zur aporetischen Situation nichtaffirmativer Bildung“ systematisch „Bruchstücke zu einer Theorie nicht-affirmativer Bildung“ (S. 71 ff.) entwickelt, die sich aus der Distanz gegenüber der aktuellen Praxis von Politik und den neuzeitlichen Wissenschaften gleichermaßen entwickeln und einen neuen Begriff von „Mündigkeit“ entfalten sollen. 6So Andreas Gruschka: Negative Pädagogik, 1988, S. 52. 7Die Meinungsforscher konstatieren ein Potential von nicht mehr als 5 % der Bevölkerung, die nicht nur in einem juristischen Sinne, also in der Wahlberechtigung, als „Aktivbürger“ betrachtet werden können, sondern auch in einem politischen Sinne, also bereit sind, sich auch handelnd politisch zu engagieren – vgl. für das Thema des politisch definierten bürgerschaftlichen Engagements jüngst noch Stephan Lessenich: Deutschland sucht den Aktivbürger. Vom Recht auf Teilhabe zur Pflicht zum Engagement? In: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.): Die Bürger und ihr Staat. Ein Verhältnis am Wendepunkt? Freiburg (usw.) 2013, 84–95.
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in westlichen Gesellschaften sind, nicht nur in Deutschland, politisch nicht aktiv, jedenfalls nicht dauerhaft, wie jüngst selbst für ein als globales Muster geltendes Land wie die Schweiz, aber in verallgemeinernder Tendenz, auf der Basis zahlloser guter Studien kühl festgestellt wurde.8 Ein anderer Befund steht dem nur scheinbar entgegen: Aus empirischen Studien wissen wir nämlich auch, dass die Zustimmung zu westlichen demokratischen Werten, auch ein entsprechend tolerantes Verhalten und politisches Interesse sowie die Distanz gegenüber extremistischen Versuchungen oder Fremdenfeindlichkeit mit der Höhe des Schulabschusses und der Dauer des Schulbesuchs positiv korrelieren.9 Zu Defätismus angesichts der Ambitionen politischer Bildung besteht deshalb vor diesem Hintergrund wiederum kein Anlass. Selbst den ersten Befund, die relative Distanz gegenüber aktivem politischem Engagement, kann man ja auch als Effekt der politischen Bildung selbst deuten, nämlich als kluge Einsicht in die Funktionsmechanismen repräsentativer Demokratien. Aber auch das wäre ein Moment der Veralltäglichung der Bildungsambition, nicht eine Bekräftigung von gesteigerten Erwartungen, wie sie z. B. demokratietheoretisch und aus Idealen der Bürgerbeteiligung begründet werden können. Schon angesichts der Tradition großer Formeln muss man deshalb doch fragen: Lösen solche ernüchternden Befunde die alte und enge Verbindung von Erziehung und Utopie, von der starken Rolle von Bildung in der Ermöglichung und Konstruktion anderer, neuer, als besser qualifizierter Welten vollständig auf? Muss man gar vom „Raub der Utopie“10 sprechen oder vom „Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern“11 und an der Idee der Bildung zugleich? Solche Erwartungen meinten ja immer mehr als den unvermeidlichen Zukunftsbezug, der sich mit der Erziehung der nachwachsenden Generationen selbst dann verbindet, wenn die gegebene Gesellschaft tradiert wird. Die großen Erwartungen dagegen,
8Roland
Reichenbach: Die Ironie der politischen Bildung – Ironie als Ziel politischer Bildung. In. Ders./Fritz Oser (Hrsg.): Zwischen Pathos und Ernüchterung. Zur Lage der politischen Bildung in der Schweiz. Freiburg (CH) 2000, S. 118–130. 9Studien zur Realität und vor allem zur Wirkung Politischer Bildung und von Programmen der Civic Education belegen das immer neu, allerdings auch, dass ein Restpotential von ca. 20 % der Bevölkerung trotz aller politischen Bildung für rechtsextremistische Positionen anfällig bleibt. 10So formulierte einst, verbunden mit einer „Kritik der Alltagspädagogik“ und einer Bekräftigung philosophischer Utopietraditionen, zumal bei Ernst Bloch, Rainer Treptow: Raub der Utopie. Zukunftskonzepte bei Schütz und Bloch. Kritik der Alltagspädagogik. Bielefeld 1985. 11Das ist die These bei einem reformpädagogisch-programmatisch eher liebhaberisch reflektierenden Philosophen wie Richard David Precht: Anna, die Schule und der liebe Gott. Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern. München 2013 – und natürlich verspricht er das Bekannte, wenn man ihm folgt: „Nicht zuletzt möchte ich zeigen, dass eine neue Form der Bildung und des Bildungssystems ohne Zweifel zugleich eine andere Gesellschaft erzeugen wird.“ Auch er unterstellt, dass „in diesem Sinne ... der Umbau unseres Bildungssystems der vielleicht wichtigste Teil einer großen sozialen Transformation (ist)“, „die“ – so relativiert er seine Prognose bezeichnender Weise, „unsere Gesellschaft unzweifelhaft verändern und hoffentlich verbessern wird.“ (zit. S. 22) – wer auf Bildung setzt, muss sich offenbar hüten, Garantien zu geben. Aber die weitere Argumentation in seinem Buch kennt solche Reflexivität dann nicht mehr.
18 Utopien und die Realität
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wie sie häufig mit den klassischen Utopien verbunden werden, zielen auf radikale Veränderung der Individuen wie der Gesellschaft. Der Bildungsbegriff gab diesen Erwartungen die emphatische Fassung, jedenfalls in der Form, wie sie im Umkreis der Französischen Revolution ebenso präsent waren wie in späteren Revolutionen oder in den Befreiungsbewegungen der damals noch sog. ‚dritten Welt‘ des späten 20. Jahrhunderts. Auch für sie war die legitime, also die eigene Bildungsarbeit im Anspruch wie in den Wirkungen revolutionär. Bildung sollte den „Neuen Menschen“ schaffen, die Unterdrückten befreien, die Massen revolutionieren. Ist das alles nur Illusion, ein allein pädagogisch kultivierter Traum, unrealisierbar, eher Ideologie als Utopie,12 in programmatischen Texten der UNESCO gegen alle realen Machtverhältnisse noch als Selbstermutigung formulierbar,13 aber sonst doch nur als volkspädagogischer Appell oder Wahlkampfslogan präsent? Bevor man in Resignation verfällt oder nur die alten Programme neu bekräftigt, sollte man zunächst eine andere Frage stellen: Was war eigentlich gemeint in den utopischen Konstruktionen, die immer neu bemüht werden? Wurde Bildung und Erziehung tatsächlich die zentrale Rolle in diesen Antizipationen anderer Welten zugeschrieben, wie alle Reformrhetorik bis heute unterstellt? Welche Wirkungsannahmen für den Prozess des Aufwachsens und das Lernen der Subjekte haben sich in diesen Texten mit der utopischen Antizipation und Konstruktion alternativer Welten verbunden? Der erste Befund ist dann, dass der Begriff der Utopie selbst nicht eindeutig ist,14 so wenig wie die Rolle, die in utopischen Schriften der Erziehung zugeschrieben wird. Lässt man zunächst solche Texte außer Acht, die in reformpädagogischer Intention allein alternative pädagogische Welten konstruieren, dann geht es zunächst um politische, nicht um subjektbezogene Utopien. Seit Thomas Morus sein Utopia (1516) vorgelegt hat, das gattungsprägende Werk15 – „Ein
12Diese
von der Frage der Realisierbarkeit her begründete Unterscheidung schon bei Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. (1929) Frankfurt a. M. 1952 (u. ö.). 13Die Generalsekretärin der UNESCO, Irina Bokova, schreibt der Erziehung in „Rethinking Education“ (UNESCO 2015, S. 4) jedenfalls die größte Macht zu, und zwar in allen Dimensionen der Gestaltung von Welt: „There is no more powerful transformative force than education – to promote human rights and dignity, to eradicate poverty and deepen sustainability, to build a better future for all, founded on equal rights and social justice, respect for cultural diversity, and international solidarity and shared responsibility, all of which are fundamental aspects of our common humanity.“. 14Einen Überblick bietet Hans-Christian Harten: Utopie. In: Dietrich Benner/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004, S. 1071–1090. In den folgenden Überlegungen nehme ich auch Argumente auf, die ich an anderer Stelle ausführlicher entfaltet habe: Heinz-Elmar Tenorth: Neu wird der Mensch! Der lange Marsch der Bildungsutopien. In: Kursbuch 193, Hamburg 2018, S. 51–64. 15Eine Übersicht zur Karriere und den Merkmalen der Gattung gibt Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit Darmstadt 1991, mit der folgenden Gattungscharakterisierung: „politische Utopien“ seien „Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften …, die sich entweder zu einem Wunsch- oder einem Furchtbild verdichten. Ihre Zielprojektion zeichnet sich durch eine präzise Kritik bestehender Institutionen und sozio-politischer Machtverhältnisse aus, der sie eine durchdachte und rational nachvollziehbare Alternative gegenüberstellt.“ (Saage, zit. S. 2 f.).
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wahrhaft herrliches, nicht weniger heilsames denn kurzweiliges Büchlein von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“ – haben diese Texte ihre eigene Geschichte. Schon hier ist die Rolle von Bildung und Erziehung zwar immer mit bedacht, aber nicht selten durchaus überraschend bestimmt, keineswegs eindeutig und konstant in allen Utopien gleich, etwa als der zentrale Motor revolutionärer Veränderungen oder als „Ferment“ (Marx) gesellschaftlicher Transformation, wie heute gern die Funktion von Bildung bestimmt wird. Im Ursprung, bei Morus z. B., der ja den Prozess des Übergangs zu Utopia nicht primär thematisiert, sondern die Funktionsweise der schon als andere Welt eingerichteten Insel darstellt, kommt der Erziehung eine eindeutig sozialkonservative Funktion zu: „Der Unterricht der Kinder und Jugendlichen liegt in den Händen der Priester, und sie lassen sich mehr die Erziehung zu Sitte und Tugend als die wissenschaftliche Ausbildung angelegen sein.“ Die Aufgabe der Erziehung ist es jedenfalls, „… von Anfang an gesunde und der Entfaltung ihres Staates dienliche Anschauungen einzupflanzen.“16 Das mag nur signifikant sein für den frühen Typus der „statischen Utopien“,17 hier und da wird in den späteren, evolutionär ansetzenden und dynamischen Utopien der Erziehung eine stärkere, auch innovationsermöglichende Rolle zugeschrieben. Aber ganz unverkennbar entsprechen die dabei entwickelten Vorstellungen eher einem „instrumentalistischen Projekt der Machbarkeit des ‚neuen Menschen‘“,18 das nicht einfach bildungstheoretisch in Dimensionen von Autonomie und Selbstkonstruktion zu rechtfertigen ist. Vollends in den Dystopien, den schwarzen Utopien des 20. Jahrhunderts und bis heute, nicht nur in „1984“, um gleich ein symbolisch stark besetztes Exempel zu markieren, haben öffentlich organisierte Lernprozesse eindeutig den Status machtgestützt legitimierter Indoktrination, subjektbestimmte Bildung dagegen gilt als zu verfolgendes Verbrechen. In freier, individualisierter
16Vergleichbar
sozialkonservative Zuschreibungen für die Funktionsbestimmung von Erziehung finden sich auch bei einem frühen Sozialisten wie Gerrard Winstanley: Das Gesetz der Freiheit als Entwurf oder die Wiedereinsetzung wahrer Obrigkeit. (1649) In: G.W.: Gleichheit im Reiche der Freiheit. Sozialphilosophische Pamphlete und Traktate. Hrsg. von Hermann Klenner, Frankfurt a. M. 1988, S. 153–278, zit. S. 247: „In seiner Jugend ist der Mensch ungebärdig und töricht wie ein junges Füllen … darum erheischt das Recht des Gemeinwesens, daß nicht bloß die Väter, sondern auch alle Vorsteher und Beamten es sich zur Aufgabe machen, den Kindern gute Sitten beizubringen, ihnen zu einer Ausbildung in dem einen oder anderen Gewerbe zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass nicht eines von ihnen … den lieben langen Tag mit Nichtstun und Kinderkram verbringt. … [Deshalb] sollen seine Eltern ihn zu einem höflichen und bescheidenen Verhalten gegenüber jedermann erziehen. Außerdem sollen sie ihn zur Schule schicken, damit er lerne, die Gesetze des Gemeinwesens zu lesen, seinen kindlichen Verstand zur Reife bringen und seine Bildung so weit zu vervollkommnen, daß er Kenntnis von allerlei Künsten und Sprache erlangt.“ 17Die Charakterisierung hier im Anschluss an Harten, bes. S. 1073 ff.; für den eigentümlich geschichtslosen Status der klassischen Utopien schon Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia. Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie. München 1974. 18Harten 2004, zit. S. 1087.
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Bildung sehen viele der Utopien, nicht anders als totalitäre Staaten, also eher eine Bedrohung ihrer Welten. Sie lassen sich entsprechend auch eher als Programme der Überwältigung lesen,19 allerdings z. T. in innovativer Didaktik, betrachtet man z. B. die Nutzung des öffentlichen Raumes, der von Campanella bis zu Erziehungsprogrammen und -praktiken der frühen Sowjetunion als Lernraum genutzt wird.20 Hier soll über öffentlich organisierte Erziehung das richtige, d. h. das politisch erwünschte und staatsphilosophisch legitimierte Bewusstsein erzeugt werden. Bildungsprozesse werden also auch hier instrumentalisiert, die Individuen zu Objekten einer erziehungsstaatlichen Praxis gemacht und manipuliert. Auch wenn sie, wie in der DDR,21 in bester Absicht und in egalitärer Intention inszeniert werden, niemand kann diesen indoktrinierenden Praktiken und Erziehungszumutungen entgehen. Man kann sie allenfalls privat negieren und wird damit zu einer für Diktaturen typischen, zwischen dem öffentlichen und privaten Leben gespaltenen Existenz genötigt. Pädagogen konstruieren vielleicht auch deswegen eigene und alternative pädagogische Welten, um dem Zugriff des Staates zu entgehen, und dennoch den neuen Menschen möglich zu machen, der dann, wenn er die pädagogischen Welten verlassen hat, auch die neue Gesellschaft herbeizuführen hilft.22 In dieser Absicht verlassen sie sich in der Regel auf einen Akteur, der ihnen quasi professionell anvertraut ist, und das ist das „Kind“. In den Texten von
19Diese Dimension der Utopien seit der Französischen Revolution zeigt eindeutig und scharf bereits Alexander Schwan: Vom totalitären Geist der Utopie. In: Hans Maier u. a. (Hrsg.): Politik, Philosophie, Praxis. Festschrift für Wilhelm Hennis zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1988, S. 303–313. 20Campanellas Erziehungserwartungen im „Sonnenstaat“ leben von der in lehrhafter Absicht praktizierten Bebilderung der Mauern der Stadt: „Weisheit [einer der drei Regenten des Sonnenstaats, H.-E.T.] hat die Mauern der ganzen Stadt außen und innen, unten und oben mit ausgezeichneten Gemälden schmücken lassen, die sämtliche Wissenschaften in herrlicher Anordnung darstellen. … Die Lehrer erklären diese Bilder, und die Kinder eignen sich alle Wissenschaften mühelos und gleichsam spielend durch Anschauung an, noch ehe sie zehn Jahre alt sind.“ (zit. Tommaso Campanella: Der Sonnenstaat. (1602/1623) In: T.C.: Der Sonnenstaat. Idee eines philosophischen Gemeinwesens. Berlin 1955, S. 34. Für diese politisch kontrollierte Didaktik des öffentlichen Raumes, die „Ceremonial Pedagogy“ – so Schriewer – in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts und im Meji-Japan vgl. Jürgen Schriewer (Hrsg.): Remodelling Social Order through the Conquest of Public Space: Myths, Ceremonies and Visual Representations in Revolutionary Societies. Leipzig 2009 (Comparativ /19/2009/ H. 2/3). 21Campanella wird gerade wegen dieses Egalitarismus in der sozialistischen Erziehungstradition anerkennend rezipiert, vgl. die in der DDR erschienene „Geschichte der Erziehung“ die bei Campanella „die allgemeine, gleiche und allseitige Erziehung der Jugend“ lobt und deshalb auch im „Sonnenstaat“ „eine Reihe charakteristischer Merkmale der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft vorweggenommen“ sieht (zit. 15. Aufl. Berlin 1987, S. 112). 22Für die Relation und Differenz von politisch konstruierten Erziehungsstaaten und pädagogisch konstruierten Erziehungswelten vgl. Heinz-Elmar Tenorth: „Erziehungsstaaten“. Pädagogik des Staates und Etatismus der Erziehung. In: D. Benner/J. Schriewer/H.-E.Tenorth (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Geschichte und nationaler Gestalten. Weinheim 1998, S. 13–53, dort auch die Nachweise für die im Folgenden zitierte Literatur.
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Pädagogen (und Politikern) erscheint „Das Kind als Träger der werdenden Gesellschaft“, wie bei dem Berliner Stadtschulrat, Schulreformer und Gründer der „Kinderfreunde“-Bewegung Kurt Löwenstein 1924. Im Blick auf die Rolle des Kindes werden dabei allerdings auch bildungstheoretisch bedeutsame Differenzen der politischen Lager sichtbar. Während im sozialistischen Milieu der Begriff der „Bildung“ genutzt wird, um die Ambitionen im Umgang mit den Kindern zu qualifizieren und nur eine Erziehung ohne Zwang als akzeptabel gilt, verwenden kommunistische Erziehungstheoretiker den Begriff der „Schulung“ und drücken damit in ihrer Programmatik wie in ihrer Praxis aus, dass der Primat nicht dem Kind und seinen Rechten, sondern den politischen Zielen und den eigenen Kampforganisationen zukommt. Die Wirkungen dieser pädagogischen Praktiken scheinen auf beiden Seiten relativ hoch; denn die Bindung an das eigene soziale Milieu ist offenkundig stabil und die dort erworbene politische Identität wird nicht so schnell preisgegeben. Für die Wirkungen sozialistischer Kinder- und Jugendkultur ist das biografisch relativ gut belegt23 und auch die Schwierigkeiten der Ablösung aus kommunistischen Welten spiegeln sich ebenfalls deutlich in Biografien. Die Bindung an das eigene, aus der eigenen Sozialisation vertraute Milieu ist hier sogar noch dann unverändert groß, wenn das Milieu manifeste Unrechtserfahrungen, ja Willkür und Gewalt bis hin zur Bedrohung der eigenen körperlichen Integrität organisiert, wie das emigrierten überzeugten Kommunisten unter den Bedingungen des Stalinschen Terrors widerfuhr. Sie haben vielfach dennoch ihre Bindung an den Kommunismus nicht so rasch oder überhaupt aufgegeben.24 Auch für diese Haltung gab und gibt es ganz konkrete Rationalisierungsmuster, wenn z. B. der gute „Kommunismus“ und der schlechte „Stalinismus“ einander gegenübergestellt werden. Und natürlich gilt für alle Differenzerfahrungen von Utopie und Realität, nicht nur im politischen Kontext, sondern z. B. auch im religiösen, dass man trotz widerstreitender Realität und scheinbar dementierender Erfahrungen dennoch an den hohen Zielen festhalten und bis heute immer neu auf das Kind als Medium der Konstruktion neuer Welten setzen kann (und nicht etwa nur in Mitteleuropa25). Begründungen für ein derart unerschütterliches Festhalten an alten Überzeugungen finden sich sogar bei Kant, der nüchtern-ironisch notiert: „Empirische Beweisgründe wider das Gelingen dieser auf Hoffnung genommenen
23Exemplarisch
hat das jüngst noch einmal die Betrachtung der Rolle der Jugendbewegung für sozialistische Lebensläufe gezeigt, vgl. u. a. Friedhelm Boll: Willy Brandt. In: Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen 2013, S. 173–189. 24Eindrückliche biografische Zeugnisse und ihre Analysen bei Christa Uhlig: Rückkehr aus der Sowjetunion: Politische Erfahrungen und pädagogische Wirkungen. Emigranten und ehemalige Kriegsgefangene in der SBZ und frühen DDR. Weinheim 1998. 25Belege dafür liefert Thomas S. Popkewitz: Cosmopolitanism and the Age of School Reform. Science, Education, and Making Society by Making the Child. New York/London 2008.
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Entschließungen richten hier nichts aus.“26 Das schließt aber nicht aus, sondern ein, dass man über die „Belastetheit“27 von Utopien empirisch gestützt sprechen kann und muss, wenn man ihre Legitimität oder Wünschbarkeit erörtert. Das Urteil über die politischen Utopien, die im 20. Jahrhundert die Diktaturen geprägt haben, ist dann eben doch eindeutig, nämlich höchst kritisch und abwertend, auch wenn diese Gemeinsamkeit der Menschenverachtung Differenzen in anderen Dimensionen nicht verwischen soll. Bildungstheoretiker schließlich sollten davon eher nicht überrascht sein, auch nicht über die primär „sozialkonservative“ Funktion der Erziehung und des Bildungssystems klagen, von der schon der Marxist und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld sprach.28 Im Begriff der Bildung ist doch, so sagten die Texte aus der Ursprungsphase, der Prozess der Selbstkonstruktion des Subjekts gemeint, nicht die pädagogische Überwältigung der Individuen im Namen politischer Utopien. Man kann die propagierte Höherbildung der Menschheit deshalb auch durchaus behaupten und sie schon daran erkennen, dass die Menschen gegen die indoktrinierend-pädagogisierenden Zumutungen gelernt haben, die pädagogischen Visionen in ihrer Problematik zu durchschauen und nicht jedem Versprechen von Pädagogen und Philosophen, oder von Politikern, schon deshalb zu glauben, weil es sich als visionäre Antizipation neuer Welten oder als Erlösungsprogramm menschheitsgeschichtlich oder in konkreten historischen Situationen meint legitimieren zu können. Akzeptiert man in dieser Weise die verbreitete Distanz gegenüber Utopien als eine aus der Erfahrung begründete Position, dann hat die ‚Menschengattung‘ also offenbar doch gelernt; denn sie hat gelernt, die große und emphatische Rede über die Gattung und die Zukunft der Menschheit selbst zu durchschauen, zumindest ihr gegenüber misstrauisch zu werden. Die erste Leistung der Subjekte und ein starkes Indiz für autonome Konstruktion, ein starkes Indiz für Bildungsprozesse also, das möchte ich als Fazit dieses Blicks auf die Realität von Bildung selbst in Erziehungsgesellschaften festhalten, scheint mir deshalb darin zu bestehen, dass sich die viel kritisierten Athleten der Anpassung notorisch und trotz der schönsten Versprechen weigern, den Visionen zu folgen, die andere für sie entwerfen, Pädagogen oder Politiker, Philosophen oder Theologen, aus welchen Gründen immer. Die Menschen ziehen
26Immanuel
Kant: Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. IX, zit. S. 168, und er fährt fort: „Denn: daß dasjenige, was bisher noch nicht gelungen ist, darum auch nie gelingen werde, berechtigt nicht einmal, eine pragmatische oder technische Absicht aufzugeben …; noch weniger aber eine moralische, welche, wenn ihre Bewirkung nicht demonstrativ-unmöglich ist, Pflicht wird.“ 27Ich wähle einen Ausdruck, mit dem Klaus Holzkamp gegen das überscharfe Falsifikationskriterium von Karl Popper das Maß bezeichnet hat, in dem Theorien durch empirische Befunde in ihren Annahmen zwar nicht vollständig widerlegt, aber doch in ihrer Geltung eingeschränkt wurden, vgl. K.H.: Wissenschaft als Handlung. Versuch einer Grundlegung der Wissenschaftslehre. Berlin 1968, bes. S. 135 ff. 28Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. (1925) Frankfurt a. M. 1967.
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den Alltag vor, sie leben zwar nicht heroisch, gar widerständig, aber sie unterwerfen sich auch nicht mit Haut und Haar. Für diese Enthaltsamkeit gegenüber Visionen gibt es sogar gute und sehr rationale Gründe, denn die zahlreichen Visionen der Moderne – seien sie politischer oder pädagogischer oder philosophischer Natur – hatten nicht nur fatale Konsequenzen, sie waren sich in der Regel auch darin einig, dass sie den Lebensentwürfen des gemeinen Mannes höchst misstrauisch gegenüberstanden. Die Intellektuellen haben die Masse und das Volk missachtet und die Pädagogen wollten es erziehen. Aber das „Ende des Volksmagisters“ bedeutet keinen Verlust, sondern Gewinn.29 Vielleicht muss man deshalb doch zufrieden sein mit eher bescheidenen Erwartungen an die Möglichkeiten der Erziehung, mit Erwartungen z. B., wie sie Isaiah Berlin formuliert hat. Er hat – und nicht nur im Blick auf das 20. Jahrhundert – die problematischen Folgen von Ideensystemen beschworen, die „die höchsten Ziele der Menschen“ anzustreben meinten, aber doch nur Unglück erzeugten. Berlin ist deshalb bescheidener: „Wenn es uns gelänge, ein Minimum an Toleranz, rechtlicher und gesellschaftlicher Gleichheit zu erzeugen, wenn es uns gelänge, Lösungsmethoden für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln, die den Menschen nicht vor unerträgliche Alternativen stellen – dann wäre schon sehr viel getan.“ Er weiß auch: „Freilich sind solche Ziele nicht so erhaben, nicht so erregend wie die glänzenden Visionen, die absoluten Gewissheiten der Revolutionäre; freilich haben sie weniger Reiz für die idealistische Jugend, die es vorzieht, sich auf dramatischere Weise mit Tugend und Laster auseinander zu setzen, die klar zwischen Lüge und Wahrheit, schwarz und weiß trennen und daran glauben möchte, man könne sich heldenhaft auf dem Altar der guten und gerechten Sache hinopfern.“ Aber er bekräftigt dennoch seine Position: „Wer sich für solche bescheideneren und menschlicheren Ziele einsetzt, kann tatsächlich zur Schaffung einer wohltätigeren und zivilisierteren Gesellschaft beitragen.“30 In der Distanz gegenüber utopischen Versprechen, so würde ich Isaiah Berlin unterstützen und generalisieren, erkennt man ein erstes Indiz, dass sich solche Erwartungen ausbreiten, dass die Verarbeitung von politischen Erfahrungen positive Früchte trägt, Bildungsprozesse also doch zur Autonomisierung der Individuen beitragen und auch bessere Welten entwickeln helfen. Der systematische Blick auf die Formen und Bedingungen des Aufwachsens in Gesellschaft, wie er sich in Kindheit und Jugendalter, zwischen sozialer Interaktion in Schulen und peer groups ereignet und im selbständigen Umgang mit Welt auch unter schwierigen Bedingungen entfalten kann, ermutigt zugleich
29Diese
These übernehme ich von Anke-Marie Lohmeier: Vom unendlichen Ende des Volksmagisters. Die Intellektuellen, die „Massen“ und die offene Gesellschaft. In: http://iasl.unimuenchen.de/discuss/lisforen/lohmeier.htm (Ins Netz gestellt am 10.03.2000). Exempel für die kritikbedürftigen pädagogischen Intellektuellen sind bei Lohmeier im Übrigen Otto Friedrich Bollnow oder Eduard Spranger, im Grunde brave Denker. 30Isaiah Berlin: Epilog. Die drei Elemente meines Lebens. In: Ders.: Persönliche Eindrücke. (1998) Berlin 2001, S. 372–377, zit. S. 374.
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zu der These, dass Bildung eine Realität in Gesellschaft hat, ganz alltäglich und nicht nur in trivialen Indikatoren messbar. Zu den Merkmalen ihrer Qualität zählt dann auch, dass man zumindest in Gesellschaften wie unseren über Kriterien des guten Lebens streiten kann, ohne Interventionen fürchten zu müssen, die jenseits der Logik von Diskursen stehen. Und die Exempel haben gezeigt, dass auch die öffentlich, reformpädagogisch oder bildungsphilosophisch, so viel kritisierte öffentliche Schule zu diesem positiven Befund beiträgt, was man freilich erst sieht, wenn man nicht allein der Kritik folgt. Die Anschlussfrage ist jetzt, ob sich jenseits der Kasuistik und der Exempel auch eine systematische, selbst vor der Tradition des Bildungsbegriffs tragfähige Rechtfertigung für das öffentliche Bildungssystem, zumal für die obligatorische Pflichtschule und ihre Organisation finden lässt.
Teil IV „Beschulung“ – die bildungstheoretische Legitimität öffentlicher Erziehung
Kapitel 19
Bildung als soziale Tatsache Das Konstruktions- und Legitimationsproblem des Bildungssystems
Bildung ist, seit sie in den Debatten um 1800 in ihrer modernen Gestalt erfunden und danach als Modus der Selbstkonstruktion des Subjekts in der Rede von Bildung näher bestimmt wurde, sicherlich am intensivsten als specimen humanum diskutiert worden. Bildungsideale, als wünschenswerte Bilder des Menschen, werden meist als erste Referenz gesucht, wenn man Bildung zum Thema macht. Die Bestimmung des Menschen in einer Vielfalt von Menschenbildern stellt zusammen mit der Konstruktion wünschenswerter Welten sowohl konstruierend, kritisch oder reflektierend, meist eher normierend als analysierend, zweifellos die dominierende Form der Rede über Bildung dar. Aber auch die Forschung über Bildungsprozesse, primär biografieorientiert, wenn sie einen eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit der Selbstkonstruktion des Menschen in der Welt sucht, bestätigt diese auf das Individuum zentrierte Sichtweise. Zu einem immer neu brisanten und konfliktreichen Thema ist Bildung aber vor allem dadurch geworden, dass man auch ihre gesellschaftliche Seite in den Blick genommen hat. Bildung wurde, so erinnert man sich dann, bereits in ihrer Ursprungsphase im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht allein als Merkmal der Person betrachtet, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion und in differenten Mustern ihrer Institutionalisierung und Organisation konstruiert und beobachtet. In der Rede von Bildung kehren bei diesen Themen bis heute zumindest zwei Referenzen immer wieder: Wenn z. B. Wilhelm von Humboldt über die Bildung der „Nation“ spricht, dann formuliert er die erste Referenz, nämlich starke Erwartungen an die gesellschaftliche Wirkung, die mit Bildung als Medium der Formierung der Gattung und in der Konstruktion von kollektiven Mentalitäten und Handlungsbereitschaften angezielt werden. In der zweiten Referenz wird die Form der Ermöglichung solcher Erwartungen diskutiert. Hier dominiert spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Einrichtung eines staatlich verantworteten Bildungssystems, mit dem, beginnend mit der obligatorischen Beschulung aller Heranwachsenden, dann bezogen auf den gesamten Lebenslauf und die Lernprozesse in Hoch- und Fachschulen und in © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_19
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der Weiterbildung, im Zugriff auf den Menschen nicht nur der Bürger erzogen, sondern auch Forschung befördert und das gesellschaftliche System der Arbeit und der qualifiziert Beschäftigten reproduziert werden soll. Bildung ist in diesem Prozess und retrospektiv intensiv zum Thema geworden, und zwar in der Beurteilung ihrer Leistungen und Wirkungen in sehr ambivalenter Weise. Die spezifisch deutsche Tradition des Bildungsdiskurses und ihrer Proponenten sowie der Bildungspraxis und ihrer Effekte wurde z. B. von Historikern und Soziologen im Lichte der deutschen Geschichte sehr kritisch gesehen, als ein höchst problematisches Muster der Konstruktion und Deutung von Nation und Gesellschaft, Staat und Geschichte.1 Auch das Bildungssystem wird bis zur Gegenwart nicht nur als bewahrenswerte Tradition gesehen. Bereits in den schon seit 1872 eindeutigen Urteilen über den Klassencharakter des Bildungssystems im Umkreis der Sozialdemokratie ist eine gesellschaftskritische Diagnose gegenwärtig und bis heute in der Forschung nahezu konsensual präsent. Der Zusammenhang von Bildung und Gesellschaft wird hier als konstantes Problem der Genese und Tradierung sozialer Ungleichheit gesehen, die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit gilt in der Öffentlichkeit unbestritten, ungeachtet der Differenz der Kriterien für ein gerechtes Bildungswesen. Die starken empirischen Befunde für solche Diagnosen werden sowohl politisch als auch bei den wissenschaftlichen Beobachtern zugleich als Rückfall hinter die universalistischen Ansprüche der Bildungstradition beurteilt.2 Die Tradition fundiert insofern selbst die Kritik und fungiert als Bastion gegen eine nur historisierende, distanziert beobachtende und primär analysierende Betrachtung von Bildung. Vor allem angesichts der sich öffentlich wie wissenschaftlich seit den 1950er Jahren ausbreitenden Rede vom „Humankapital“ wird die Tradition neu belebt, auch gegen die enge Bindung von Bildung und Wirtschaftswachstum, gegen die Subsumierung von individuellen Bildungsprozessen unter die – u. a. von Pierre Bourdieu breit analysierte3 – Logik des ökonomischen 1Für
die Tradition der kritischen Beobachtung muss es hier ausreichen zwei auch wirkungsgeschichtlich höchst folgenreiche Arbeiten zu nennen: Fritz K. Ringer: The Decline of the German Mandarins. Cambridge 1969 (dt.: Die Gelehrten. Stuttgart 1983) sowie Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Frankfurt a. M. 1994. 2Für eine soziologische Kritik der Bildungsreflexion schon früh Peter-Martin Roeder: Bildung und Bildungsbegriff: Sozialwissenschaftliche Ansätze der Kritik. In: D. Goldschmidt u. a.: Erziehungswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft. Heidelberg 1969, S. 45–67. 3Vgl. dazu u. a. Pierre Bourdieu/Jean Claude Passeron: Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Frankfurt a. M. 1973; ders./Jean-Claude Passeron: Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart 1972; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (1979) Frankfurt a. M. 1982; ders. u. a.: Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht. (1971) Frankfurt a. M. 1981. Für die bildungstheoretische Rezeption vor allem Eckart Liebau: Gesellschaftliches Subjekt und Erziehung. Zur pädagogischen Bedeutung der Sozialisationstheorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann. Weinheim/München 1987, für die z. T. sehr distanzierte Diskussion in Erziehungswissenschaft und Bildungsphilosophie Barbara Friebertshäuser/Markus Rieger-Ladich/Lothar Wigger (Hrsg.): Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu. Wiesbaden 2006.
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und kulturellen, symbolischen und sozialen Kapitals oder gegen die politisch wie gesellschaftlich unverkennbare Koppelung von Bildung und Macht. Bildung, das „semantische Gefängnis“ (Bollenbeck) der Deutschen, tradiert offenbar immer auch Potentiale der Befreiung gegen solche Funktionalisierungsversuche. Damit wird diese Situation zugleich aber auch zum Prüfstein für die Argumentationsfähigkeit der Rede von Bildung, und zwar in mehreren Dimensionen, im Blick auf die Realität von Bildungsprozessen empirisch, angesichts der politischen Forderungen und Programmsätze reflexiv, und in der Einheit von Beobachtung und Normkritik auch konstruktiv, im Entwurf legitimer und zugleich realisierbarer Bildungswelten. Der systematische Status der Bildungsreflexion müsste sich dann darin beweisen, dass sie angesichts kritischer Diagnosen der Bildungswirklichkeit und kontroverser Gerechtigkeits- und Gleichheitsdebatten einen eigenständigen Ort zwischen Engagement und Distanzierung finden und auch gegenüber politisch-gesellschaftlicher Argumentation ihre Eigenständigkeit empirisch und normprüfend, beobachtend und reflexiv ausweisen kann. Die Ausgangslage für solche Debatten ist so günstig wie herausfordernd. Es gibt zwar stark normativ und ideologisch geführte öffentliche Debatten, die suggerieren, dass alle Attribuierungen, die Bildung mit Politik und Ökonomie, Bildungssystem oder Gesellschaft verbinden, nur als contradictiones in adiecto zu verstehen seien, aber gleichzeitig gibt es neben einer Fülle an differenzstiftender Forschung zunehmend auch eine distanzierte Reflexion über Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit. Es ist also möglich, realistisch und nicht nur im Duktus von positioneller Kritik oder gar Affekt über das Bildungssystem, über Bildungspolitik und -ökonomie zu sprechen, vielleicht sogar der Rede vom Humankapital einen legitimierbaren Sinn abzugewinnen.4 Wie auch immer das Ergebnis dann aussieht, die Ausgangstatsache ist schwer zu bestreiten, dass Bildung nicht nur ein specimen humanum darstellt, sondern auch gesellschaftliche Tatsache geworden ist, unausweichlich in ihrer synchronen wie diachronen Präsenz. Nicht zufällig sind in der Analyse der gesellschaftlichen Seite von Bildung deshalb auch grundlagentheoretische Fragen, vor allem solche der praktisch-philosophischen Rechtfertigung von Funktion und Struktur des Bildungssystems neu aufgeworfen worden, z. T. in dieser Schärfe überhaupt erst entstanden, die bis heute weitgehend ungelöst, jedenfalls höchst kontrovers behandelt werden. Zu diesen Fragen zählt, welche legitimen Kriterien zur Ordnung des Generationenproblems es in Gesellschaften unseren Musters, d. h. in westlichen Demokratien mit einer marktwirtschaftlich-wohlfahrtsstaatlichen Ordnung, überhaupt gibt, wie sich die Funktion des Bildungssystems für Individuen, aber auch für Staat und Gesellschaft, Kultur oder Ökonomie bestimmen lässt, und was Bildungsgerechtigkeit oder Chancengleichheit im
4Einen so realistischen wie distanzierten und konzisen Blick auf das Thema findet man z. B. bei Rolf Becker: Bildung. Die wichtigste Investition in die Zukunft. In: Stefan Hradil (Hrsg.): Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 121–151.
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Bildungsprozess bedeuten. In der Klärung dieser Fragen müsste sich die spezifische Leistung der Bildungsreflexion beweisen, indem sie gegenüber den politisch-gesellschaftlichen Ideologien und einer nur beobachtenden Bildungsforschung die Spezifik ihrer Argumentation ausweisen kann. Im Blick auf die Kriterien der Bildungsorganisation soll deshalb auch die Argumentationsfähigkeit der Bildungsreflexion in den hier folgenden Überlegungen exemplarisch geprüft werden. Das geschieht jetzt auch nicht primär beobachtend, wie die Rede von Bildung bisher zum Thema wurde, sondern begründend, in einem Versuch der systematischen Rechtfertigung der gesellschaftlichen Organisation von Bildungsprozessen. Dabei ist der Versuch leitend, die Kontroversen in der öffentlichen Debatte über die Ordnung des Bildungssystems aufzunehmen und die leitenden Orientierungspunkte, vor allem die Kriterien der „Bildungsgerechtigkeit“ und der „Bidungs-Gleichheit“, im Lichte der Bildungsreflexion zu diskutieren und bildungstheoretisch begründbare Kriterien für Struktur und Sequenz des Bildungssystems zu entwickeln. Für eine solche Diskussion ist es allerdings notwendig, die mehrdeutige Rede vom „Bildungs-System“ vorab selbst zu präzisieren. In der öffentlichen Debatte wird das gesellschaftliche System der Bildung vielfach gleichgesetzt mit den Organisationen des Lernens, die für alle Heranwachsenden in der Pflichtschule, im akademisch-hochschulischen oder im berufsbildenden Bereich etabliert wurden, mit den Schulen und Hochschulen also, gelegentlich erweitert um die Einrichtungen der Erwachsenenbildung. In systemtheoretischer Terminologie wird dagegen vom „Erziehungssystem“ gesprochen,5 konzentriert auf das Primar- und Sekundarschulsystem sowie auf die Leistungen des Unterrichts und seine Lehrer. Das ist für die Fragen der Rechtfertigung des öffentlichen Zugriffs auf die Heranwachsenden bildungstheoretisch eine wichtige Begrenzung, weil es nach der Legitimation von „Erziehung“ angesichts der Selbstkonstruktion der Subjekte fragt, aber das darf den Blick auf Bildung als soziale Tatsache in ihrer Gesamtheit nicht verstellen. Bildung als gesellschaftliche Institution hat sich in historischkultureller Varianz in eigener Form entfaltet, unabhängig von den Subjekten, aber unausweichlich für ihre individuelle Situation, als ein eigenständiges Gefüge und als eine notwendige „Infrastruktur“ moderner Gesellschaften, ist sie insofern soziale Tatsache geworden.6 5Vgl.
Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979 – schon das Hochschulsystem wird davon abgegrenzt, weil es Forschung und Erziehung verknüpfe, deshalb eine „Anomalie“ als Organisation darstelle, wie Luhmann bemerkt. 6Mit dieser Begrifflichkeit werden z. B. Bildungsprobleme angesichts des demografischen Wandels als Thema für die Angebotsstrukturen von Bildung in ländlichen Räumen diskutiert, u. a. bei Eva Barlösius/Marlen Schröder: Kategorien der Raumordnung und ihr inhärentes Verständnis von Infrastrukturen – Ein Vergleich von Schweden, Frankreich und Deutschland, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 60 (2012), S. 56–72. Der Begriff wird aber auch vorgeschlagen, um der nur kritischen Bewertung der Bildungspolitik im Lichte von NeoLiberalismus-Thesen zu entgehen, vgl. u. a. Oliver Brüchert: Warum es sich lohnen könnte, Bildung als Infrastruktur zu denken. In: links-netz 2014 (eingesehen zuletzt am 22.03.2014).
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Diese Bildungswelt präsentiert sich als ein komplexes System von Normen und Organisationen, Professionen und Rollen, Erwartungen, Aufgaben und Praktiken, rechtlichen und normativen Vorgaben, kulturellen und sozialen Prämissen, etabliert in Differenz zu einer Umwelt, die von diesem System die Lösung des Problems der ‚Bildung‘ erwartet, d. h. die soziale und zeitliche Ordnung der gesellschaftlichen und individuellen Reproduktion. Diese gesellschaftliche Ordnung, das Bildungssystem in einem umfassenden Sinne, ist im Lebenslauf präsent und prägt ihn offenbar unausweichlich, synchron wie diachron, in einer Weise, dass er als Bildungsgang verstanden werden kann und auch erlebt wird. In der Erfahrung von Normen und Institutionen, Erwartungen und Zumutungen ist eine eigene Wirklichkeit entstanden, die das Individuum regiert und die zugleich in der Praxis der beteiligten Akteure zugleich reproduziert und bestärkt wird, im offenbar unaufhaltsamen Zugriff der Pädagogen. In distinkter Weise soll hier der homo paedagogicus erzeugt werden,7 das allzeit lernbereite Subjekt, das sich für seine soziale und materielle Reproduktion, für den Erfolg und auch für das Scheitern, selbst die Verantwortung zurechnet und die Lerngelegenheiten und Gratifikationen, Zertifikate und Referenzen des Bildungssystems nutzt, um seinen Lebenslauf zu strukturieren und seine Teilhabe an Gesellschaft, erfolgreich oder in selbstgewählter oder zugeschriebener Distanz, zu organisieren. Das Bildungssystem hat diese Bedeutung auch deswegen gewonnen, weil es als Ort interpretiert und propagiert wird, Statuserhalt oder sozialen Aufstieg zu sichern, Kompetenzen im Wechsel der Generationen zu tradieren und Identitäten zu prägen. Angesichts der Eigenlogik seiner Praxis ist dieses System allerdings nicht nur individuell und kollektiv nützlich, sondern immer wieder auch Quelle der Irritation für andere Sozialsysteme,8 nicht nur eine allzeit wohl funktionierende Instanz der Erbringung erwarteter Leistungen, wie das die Kritiker in ihrer Kritik systematisch unterstellen oder Pädagogen mutig versprechen.9 Solche Irritation über unerwartete oder unerwünschte Leistungen zeigt sich schon, wenn Absolventen im Übergang zwischen Teilsystemen nicht mit den Qualifikationen erlebt werden oder aufwarten können, die z. B. die Berufsbildung von den Schulen oder die Universität von den Studenten erwartet oder die Gesellschaft insgesamt
7Dazu im Detail meine Thesen in Heinz-Elmar Tenorth: Laute Klage, Stiller Sieg. Über die Unaufhaltsamkeit der Pädagogik in der Moderne. In: Erziehungswissenschaft zwischen Modernisierung und Modernitätskrise. Weinheim/Basel 1992, S. 129–140. 8Ein skeptischer Theoretiker wie Niklas Luhmann erwartet allerdings, „daß die schulförmige Erziehung riesiger (und der wichtigsten) Menschenmengen über sehr viele und wichtige Lebensjahre hinweg Kognitionen und Motivlagen formt, also die Umwelt der Gesellschaft hochgradig deformiert, ohne daß absehbar oder gar planbar wäre, wie die Gesellschaft dadurch betroffen wird.“ (N.L.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, zit. S. 644, Herv. H.-E.T.). 9Niklas Luhmann unterstellt an gleicher Stelle sogar, daß „in den Selbstbeschreibungen des Erziehungssystems als Bildungssystem nichts (liegt), was dieses Problem auch nur erfassen könnte.“ (N.L.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984, zit. S. 644).
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von der Sozialisationsordnung erhofft, z. B. brav sozialisierte, politisch aktive und altruistisch agierende Jugendliche. Pädagogen reagieren und Öffentlichkeiten erwarten dann vermehrte Anstrengungen, aber Bildungstheoretiker sehen die vermeintlichen Defizite eher als systematische Indizien für die Unverfügbarkeit der individuellen Aneignung auch von pädagogischen Welten. Dieses Muster der Institutionalisierung des Lebenslaufsregimes ist also mit normativen Erwartungen überfrachtet und hat sich zu einem politisch wie diskursiv allpräsenten und zugleich sehr kontrovers behandelten Thema zugespitzt. „Bildung“ beherrscht die Wahlkämpfe und die Politik der Parteien und Verbände.10 Das Argument, dass es primär und vor allem „Bildung“ sei, von der „die Zukunft“ von Mensch und Welt abhänge, ist allgegenwärtig. Soziologische Beobachter notieren schon amüsiert als „Wunder“,11 was Bildung vermeintlich alles vermag. Die Rede von „Bildungsgerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ lässt sich davon nicht irritieren, denn „Gerechtigkeit fängt bei der Bildung an“, deklariert z. B. die SPD als die klassische „sozialdemokratische Erzählung“, also als ihr identitätsstiftendes Narrativ.12 Aber Bildungsgerechtigkeit fordern auch alle anderen Parteien, von rechts bis links. Die CDU wiederum hat ihre alte Losung vom „Wohlstand für alle“ in jüngster Zeit durch das Versprechen der „Bildungsrepublik“ abgelöst hat, die über „Bildung für alle“ und den „Aufstieg durch Bildung“ die schönen Zukünfte konstruiert, die in früheren Parteilosungen vom Wohlstand und der Ökonomie abhingen.13 Nicht zufällig findet man die besten Belege für die primär an der Konstruktion wünschenswerter Welten orientierte Rede von Bildung in diesem politischen Segment, im Übrigen international, wie schon gezeigt wurde. In solchen Debatten werden, spätestens seit PISA, die öffentlichen Erwartungen und die wissenschaftlichen Analysen aber nicht primär auf das Gesamtsystem bezogen, sondern auf „die Schule“. Sie gilt als der erste und offenbar ausschlaggebende Teil des Gesamtsystems, hier entzünden sich die
10Publikationen
wie Alfred Herrhausen Gesellschaft (Hrsg.): Orientierung für die Zukunft. Bildung im Wettbewerb. München/Zürich 2011 oder, jetzt im Kontext von McKinsey entstanden, Norbert Killius/Jürgen Kluge/Linda Reisch (Hrsg.). Die Zukunft der Bildung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002 lassen sich beliebig und für jeden gesellschaftlich oder politisch aktiven Akteur, natürlich für alle Stiftungen, national wie international, von der UNO bis zum Vatikan, spätestens seit dem 20. Jahrhundert leicht vermehren. 11So der Soziologe Hans-Peter Müller: Vom Bildungswunder. In: Neue Züricher Zeitung, 17.07.2013. 12Burkhard Jungkamp/Marei John-Ohnesorg (Hrsg.): Gerechtigkeit fängt bei der Bildung an – Eine sozialdemokratische Erzählung. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung 2016. Die websites der Parteien liefern die weiteren Nachweise. 13Die CDU spricht intensiv von der „Bildungsrepublik“ seit den Programmdebatten auf ihrem Leipziger Parteitag 2003. Aktuell lautet das Versprechen auf der website der CDU: „Für die Zukunft Deutschlands ist entscheidend, dass Bildung und Forschung im Mittelpunkt unseres Handelns bleiben. Mit gezielten Investitionen stärkt die CDU-geführte Bundesregierung die Bildungsrepublik Deutschland.“ (https://www.cdu.de/themen/bildung-und-forschung, eingesehen 07.11.2017).
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Kontroversen über Gleichheit und Gerechtigkeit vor allem. Das ist politisch wie individuell auch verständlich, denn der umfassende Zugriff auf die Individuen und die grundlegenden Lernmöglichkeiten bieten sich nur hier, weil hier das System über Schulpflicht organisiert ist, der alle Heranwachsenden unterworfen sind. Dass ist politisch also attraktiv, als „Schulzwang“ bildungstheoretisch aber höchst rechtfertigungsbedürftig. Für die Zeit der obligatorischen Bildung stellt sich zugleich die Frage, wie sie mit dem Prozessproblem umgeht, dass in der Einheit des Lernens immer auch Differenz, „Ungleichheit“, hergestellt wird oder sich bemerkbar macht. Solche Konstruktion und Reproduktion von sozialen Disparitäten wird, ebenfalls seit PISA nahezu im Konsens, dem Bildungssystem und seinen Praktiken zugerechnet – und auch deshalb besteht Rechtfertigungsbedarf. Wegen dieser besonderen Bedeutung steht die Phase der obligatorisch geordneten öffentlich-staatlichen Bildung im Zentrum der folgenden Überlegungen, als Anlass für die Frage, ob und wie die Zumutung des Zwangs ebenso gerechtfertigt werden kann wie die Praxis der Zuschreibungen, die Schule gleichzeitig für den Lebenslauf erbringt. In dieser Absicht werden vier Kriterien der Rechtfertigung obligatorischen Lernens vorgeschlagen, diskutiert und geprüft, die einerseits die Tradition des Bildungsdenkens aufnehmen, zugleich aber auch den öffentlichen Forderungen nach Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit eine bildungstheoretische Interpretation und Rechtfertigung geben können: Die Argumentation setzt ein i) mit dem klassischen Begriff allgemeiner Bildung, vom dem aus die Ordnungsform von Bildung im Blick auf die Adressaten und die von ihnen individuell wie universal erwarteten Kompetenzen diskutiert werden kann; dann folgt ii) die Klärung der Frage, was Gerechtigkeit, zumal Bildungsgerechtigkeit bedeuten kann und welche Anforderungen daraus an das Bildungssystem formulierbar sind; von hier aus kann, relationierend, abgrenzend und präzisierend, iii) diskutiert werden, in welchem Sinne von Gleichheit im Bildungssystem und von Chancengleichheit gesprochen werden kann; schließlich iv) wird erläutert, dass und wie Bildung – nicht nur im ökonomischen Kontext – auch als Wert diskutierbar ist und ob er sich vielleicht sogar in der heute nahezu verfemten Vokabel von Bildung als Humankapital darstellen lässt. Allgemein und gerecht, gleich und wertvoll – über dieses Bündel an Referenzen und Kriterien soll die gesellschaftliche Seite der Bildung im Folgenden diskutiert und ein Vorschlag zur Legitimation von Bildung in der öffentlichen Erziehung und im Bildungssystem begründet werden, konzentriert, wie noch einmal zu betonen ist, auf die Phase der Pflichtschule, aber auch in der Absicht die Bedeutung dieser Phase, der grundlegenden Bildung, für die gesamte Bildungsinfrastuktur und für die individuelle und kollektive Konstruktion des Lebenslaufs als Bildungsbiografie zu zeigen.
Kapitel 20
„Allgemein“ – Adressatenbilder und Kanonfragen
20.1 „Allgemeine Bildung“ – das traditionale Kriterium der Bildungsorganisation Bei aller für ihn wesentlichen Wertschätzung der Individuen, hat auch Wilhelm von Humboldt vor allem in seiner kurzen, nur von Februar 1809 bis April/Juni 1810 dauernden Amtszeit als Chef der Sektion für Unterricht und Kultus im preußischen Innenministerium, die gesellschaftliche Seite der Bildung intensiv diskutiert. Die dabei entwickelten Kriterien sind bis heute folgenreich geblieben, schon daran absehbar, dass sie die politische Diskussion über Bildung als Bürgerrecht1 genauso bis in unsere Gegenwart bestimmt haben wie die politische Kontroverse über Bildungschancen und die historische Analyse von Wirkungen und Defiziten des Bildungssystems.2 Einerseits nimmt Humboldt in seinen einschlägigen bildungspolitischen Überlegungen Denkfiguren und Kriterien auf, die er schon in seinem frühen radikalliberalen Manifest – „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“3 – von 1792 für die politische Funktion von Bildung zwischen Staat, Nation und Gesellschaft und für die Autonomie des Bildungssystems entwickelt hatte. Andererseits nutzt er die Gelegenheit und den Zwang seines Amtes, zu Schulplänen, die 1809
1Für
Details von Humboldts Bildungspolitik verweise ich auf H einz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Paderborn 2018, bes. S. 119–142 sowie, für die Schulpolitik, S. 157–172. Seine liberalen Prämissen über die Rolle des Staates in der Erziehung und die Bedeutung der Bildung für die Konstruktion der Nation werden international, z. B. bei John Stuart Mill, seit dem 19. Jahrhundert genauso rezipiert wie in der Debatte über „Bildung als Bürgerrecht“, wie sie 1965 von Ralf Dahrendorf neu angestoßen wurde. 2Ludwig von Friedeburg z. B. nutzt in seiner kritischen Analyse der „Bildungsreform in Deutschland“ (1989) u. a. Humboldts Reformtexte von 1809, um die Dynamik des Bildungssystems an einem immanenten, historisch präsenten Maßstab zu messen. 3In: Humboldt-Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 1964, Bd. I, S. 56–233. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_20
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vorgelegt wurden, als Sektionschef Stellung nehmen zu müssen, z. B. zu dem sog. „Königsberger“ und zu dem „Litauischen“ Schulplan,4 um weitere Grundfragen der Bildungsorganisation zu diskutieren. Folgenreich aus seinen Überlegungen ist dabei neben klassischen Bestimmungen der Bildung von 1792 für die Organisationsfragen neuzeitlicher Bildungssysteme bis heute der Begriff der „allgemeinen Bildung“ geworden. In der Entfaltung ihrer Dimensionen5 kennt Humboldt keine Trennung von Systemorganisation und Gesellschaftsbezug oder vom Bezug auf Individualität und auf das lernende Subjekt. Er nimmt immer beide Seiten in den Blick und versucht, seine Kriterien in dieser zweiseitigen Referenz zu entwickeln. Die Dimensionen des Allgemeinen, die der Bildung ihre Gestalt im Bildungssystem geben und zugleich dessen Funktionsimperative klären, sind deshalb auch nicht irgendwie metaphysisch oder realitätsabgewandt bestimmt, sondern in einer dreifachen Referenz eindeutig realitätsbezogen und politisch entfaltet sowie sozialphilosophisch erläutert und begründet. In seiner Bestimmung „allgemeiner Bildung“ bezieht sich Humboldt zunächst auf die soziale Dimension, d. h. zuerst auf die Individuen, die an gesellschaftlich organisierten Lernprozessen teilnehmen und teilnehmen sollen. Die von Humboldt präferierten Formen der öffentlichen Lernorganisation kennen dann keine Ausgrenzung6 (wenn man einmal das historisch besondere Problem des Lernens für das weibliche Geschlecht und die Erwartungen an die Juden ausblendet – vgl. Teil I). Humboldt konstruiert in diesen Überlegungen vielmehr ein sozial inklusives Bildungssystem, ohne ständische Privilegien im Zugang, ohne primäre Rücksicht auf Stand und Beruf, wie sich vor allem in der Ablehnung der Mittleren Schule bestätigt. Allgemein in dieser sozialen Dimension ist auch die Reflexion über den Lehrer; denn er wird nicht von Schularten aus gedacht, sondern von Bildungsaufgaben und -stufen, in einer Schematisierung, die nicht alltäglich ist7: „Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich macht,“ – weil er die „Unterrichtsfähigkeit“ erzeugt, also die Fähigkeit der Lernenden an Unterricht verständig, aufnehmend und mitwirkend, teilzunehmen, – „so wird er durch den Schulunterricht entbehrlich“, denn in der Schule wird das „Lernen des Lernens“
4Beide
in Humboldt, Werke, hrsg. von Flitner/Giel, Darmstadt 1964, Bd. IV, S. 168–195. ausführliche schultheoretische Diskussion der Humboldtschen Ideen und der Aufweis ihrer immanenten Systematik und Modernität findet sich in Jürgen Diederich/Heinz-Elmar Tenorth: Theorie der Schule. Berlin 1997, S. 30–42, für die Dimensionen des Allgemeinen und ihre Abgrenzung von ‚Allgemeinbildung‘ z. B. als Allgemeinwissen, vgl. schon die Hinweise in Heinz-Elmar Tenorth: Bildung, allgemeine Bildung, Allgemeinbildung. In: Ders. (Hrsg.): Allgemeine Bildung. Weinheim/München 1986, S. 7–30. 6„Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth gleichgestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll.“ (Litauischer Schulplan, Werke, Bd. IV, S. 189). 7Die hier zitierten Ausführungen finden sich bei Humboldt, Königsberger Schulplan, Werke IV, S. 170. 5Eine
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gelernt, das, zur „Reife“ gebracht, den Lehrer entbehrlich macht, auch mit den angenehmsten Konsequenzen für das anschließende „Stadium des Unterrichts“, die Universität: „Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin.“ Humboldt begründet, zweitens und in der sachlichen Dimension, die Themen des Lehrgangs und das Curriculum, mit vergleichbarem Anspruch und d. h. ebenfalls in allgemeiner Referenz. Das Curriculum ist nämlich für ihn erst dann legitim, wenn es sich „auf den Menschen überhaupt“8 bezieht, d. h. sich bildungstheoretisch ausweisen kann. Dieses Kriterium kann für Humboldt aber nur ein „Gegenstand“ erfüllen, der sich als hinreichende Anforderung an die menschliche Aktivität und als lohnende Herausforderung seiner Selbstkonstruktion interpretieren lässt, d. h., noch schärfer, der die „Welt“ ist bzw., weil das vielleicht doch wie ein „überspannter Gedanke“ klingt, den man als Welt muss auffassen können.9 Jedenfalls kennt Humboldt für alle Lernenden nur die gleiche Trias von historischen, mathematischen und linguistischen „Kenntnissen“, erweitert um die für ihn unerlässliche ästhetische Dimension.10 Humboldt gibt damit den Grundriss für einen bis heute im Grunde gültigen Kanon der allgemeinen schulischen Wissensordnung, und zwar für einen obligatorischen Kanon, der das für alle Lernenden notwendige Wissen und die damit erwarteten Fähigkeiten in der Totalität der ‚Welt‘ umfasst, die damit repräsentiert wird, und auch deshalb als allgemein gelten kann, weil er für alle Lernenden gleich institutionalisiert wird. Dieser Kanon der Grundbildung und der schulischen Bildung, das muss man hinzufügen, ist nicht identisch mit der historisch kontingenten Liste der Schulfächer, wie sie in Stundentafeln repräsentiert sind. Denn die Dimensionen, in denen Humboldt die „Kenntnisse“ erläutert, ermöglichen und erfordern angesichts der ihnen eigenen Geschichte ihre Übersetzung in mehr als ein Schulfach. Die „linguistische“ Dimension zeigt das exemplarisch, die neben der Muttersprache auch Fremdsprachen umfasst, oder die „historische“, zu der die Geografie genauso gerechnet wird wie Geschichte oder, in früheren Zeiten, die Rhetorik, die als politische Bildung verstanden wurde. Im Kriterium des „Mathematischen“ werden Mathematik und Naturwissenschaften gebündelt, denen gemeinsam ist,
8Humboldt,
Litauischer Schulplan, Werke Bd. IV, S. 188. ist in Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, Werke Bd. I, S. 234–240 jedenfalls das Kriterium dafür, dass Bildung möglich wird: denn „diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (zit. S. 235 f.). Damit nun diese Erwartung nicht als „ein unverständlicher, sondern auch ein überspannter Gedanke“ (236) erscheint, wie Humboldt zunächst einräumt, klärt er die Erwartung durch Präzisierung dessen, was hier „Welt“ bedeutet: „Was also der Mensch notwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich macht. … so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt seyn, oder doch (denn diess ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden.“ (237 f.) – und dadurch ist bildungstheoretisch der Anschluss an alle lehrplantheoretischen Debatten eröffnet. 10Humboldt, Litauischer Schulplan, Werke Bd. IV. S. 188 f. 9Das
388
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dass sie Welt in einem anderen als sprachlichen System modellieren, also Maß und Zahl oder das Experiment als eigenständige ‚Sprache‘ des Weltzugangs nutzen. Humboldt versammelt unter dem Titel der „Kenntnisse“ und den Formen ihrer Lehre, „didaktisch“ natürlich, aber immer auch „philosophisch“, deshalb eher Lehrgegenstände, die als Modi des Weltzugangs in modernen Gesellschaften gefordert sind, um sich in ihnen kommunikativ-sprachlich, historisch-gesellschaftlich-normativ, naturwissenschaftlich-mathematisch und ästhetisch angemessen verhalten zu können, d. h. an ihnen selbstbestimmt teilzuhaben und sich selbst und die Welt zu gestalten.11 Humboldts Lehrplanvorgaben werfen dabei, eher nebenher, das bis heute diskutierte Problem auf, dass er Religion nicht als eigenen Modus des Weltzugangs in den Schulen beschreibt,12 sondern sie nur, quasi vorübergehend, als Indoktrination für das Volk im Bildungssystem als eigenes Fach akzeptiert. Diese Abwehr von Religion ist in laizistischen Gesellschaften, die von der strikten Trennung von Staat und Kirche ausgehen, selbstverständlich, in Deutschland, wo Religion als ordentliches Schulfach Verfassungsrang hat, eher unverständlich, jedenfalls wird es zumal von den Kirchen und Religionspädagogen nicht einfach akzeptiert. Bildungstheoretisch lässt sich solche Distanz aber gut begründen, weil sich im Blick auf die individuelle und innerweltliche Konstruktion von Subjektivität Bildung, hier, im schulischen Kanon, und Bekenntnis, dort, im Religionsunterricht unter Verantwortung der Kirchen, als Modi des Weltzugangs deutlich und stringent, schon in der Dimension von Freiheit und Weltlichkeit, unterscheiden lassen.13 Religion ist insofern zwar Thema im Unterricht, auch Weltanschauungen können hier behandelt werden, sie bleiben aber dem „historischen“ Modus des Weltzugangs zugeordnet, als Thematisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, zu der auch Religion gehört, den dort präsenten Prinzipien und Normen sowie den Anforderungen unterworfen, die sie an das lernende Subjekt
11Für
diese Interpretation der Struktur und Funktion des schulischen Kanons ausführlich HeinzElmar Tenorth: „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt 1994, bes. S. 122–141 sowie die daran anschließende und weiterführende Debatte der Kanonfrage bei Hans-Ulrich Musollf/Stephanie Hellekamps: Die Bildung und die Sachen. Zur Hermeneutik der modernen Schule und ihrer Didaktik. Frankfurt a. M. (usw.) 2003, bes. S. 229 ff. 12Religion ist Thema und damit Objekt in der „historischen“ Dimension der „Kenntnisse“; allein für die Elementarbildung diskutiert er auch eine spezifisch religiöse, obligatorische Unterweisung, vgl. dazu die Kritik an Humboldts Inkonsequenz bei Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. (1962) 2. Aufl. Düsseldorf 1971, bes. S. 87 ff. Für die aktuellen Kontroversen Heinz-Elmar Tenorth: Reform – Pädagogik – Religion. In: Der Evangelische Erzieher 49(1997), S. 376–384, ders.: Schule – Religion – Zivilreligion. Zur weiteren Problematisierung eines jetzt schon schwierigen Verhältnisses. In: Ch. Th. Scheilke/F. Schweitzer (Hrsg.): Religion, Ethik, Schule. Bildungspolitische Perspektiven in der pluralen Gesellschaft. Münster (usw.). 1999, S. 175–186 sowie die dort zitierte religionspädagogische Literatur. 13Für Humboldt ist die Differenz eindeutig: „Der Religionsunterricht ist minder Lehren, als Anregung des Gefühls.“ (Königsberger Schulplan, Werke Bd. IV. S. 177).
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und den frei agierenden Erwachsenen stellt – ohne eine Vorabnormierung von Kirchen oder Konfessionen. Auch in der zeitlichen Dimension, in der sequentiellen Ordnung der Lern-Prozesse kennt Humboldt nur die allgemeine Logik der Bildung selbst, nicht externe Kriterien für die Dauer der Bildung oder den Übergang in je neue Stufen des Unterrichts. Allein der je individuell erreichte Fortschritt im Lernprozess bestimmt über die Fortsetzung des Lehrgangs, nicht die soziale Herkunft oder der künftige Beruf des Lernenden: „jede Individualität fände ihr Recht und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in seiner allmäligen Entwicklung selbst zu suchen“.14 Aber Humboldt unterstellt dabei wie selbstverständlich und ohne weitere Begründung auch, dass „eine Verschiedenheit der intellectuellen Richtung … unläugbar vorhanden“ ist.15 Nicht Gleichheit in der Zuschreibung der individuellen Lernmöglichkeiten oder in den Lernergebnissen, sondern Rücksicht auf die Individualität in ihrer Differenz bestimmt für ihn den Bildungsgang. Regulativ für den Übergang in den Beruf oder für das weitere Lernen z. B. in der Universität sind die Möglichkeiten der lernenden Subjekte selbst: „Soweit der Schüler das eine hergibt, und zum anderen Mittel hat, soweit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebraucht werden könne.“16 Auch die Kriterien für die zeitliche Sequenzierung, die sich in der organisatorischen Stufung des schulischen Lehrgangs niederschlagen, werden bildungsimmanent begründet: „unterrichtsfähig“ zu werden, um an Schulunterricht teilnehmen zu können, das ist die Funktion der Elementarbildung. Neben dem Erwerb der notwendigen Kenntnisse das „Lernen des Lernens“ bis zur „Reife“ zu lernen, so weit also, dass man selbst, ohne Lehrer lernen kann, das ist die Funktion des Schulunterrichts, die Teilhabe an selbstständigem Lernen und Forschen die des Universitätsunterrichts. „Specielle Bildung“, also die berufliche, kommt im Lebenslauf hinzu, wird also keineswegs abgewertet, wie schon Humboldts Aufmerksamkeit für die Fachschulen belegt, erzeugt aber die gesellschaftlich folgenreichen Unterscheidungen. Niemand aber, so stellt Humboldt klar, wenn er konkrete Bildungsgänge und Formen der Organisation von Schulen diskutiert, soll in Phasen der „speciellen Bildung“ und damit den Beruf übergehen, der nicht an schulischem Lernen teilgenommen und damit die Fähigkeit erworben hat, seinen weiteren Lebenslauf als Lernprozess selbständig organisieren zu können.17 Allgemeinheit beansprucht dieses Konzept
14Königsberger
Schulplan, Werke Bd. IV, S. 175. Schulplan, Werke Bd. IV, S. 174. 16Litauischer Schulplan, Werke Bd. IV, S. 190. 17Dazu Humboldt, bes. Königsberger Schulplan, S. 173, wo er dann einerseits doch „Bürgerschulen“, die für ihn nur Elementarschulen sind, pragmatisch akzeptiert, die er vorher, im Königsberger Schulplan als Widerspruch gegen die Prinzipien allgemeiner Bildung abgelehnt hatte. Aber er erwartet, dass auch in diesen Quasi-Elementarschulen das Lernen des Lernens gelernt wird, damit sie legitime Schulen werden. 15Königsberger
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einer gesellschaftlich einheitlichen und für die Lernmöglichkeiten der Individuen legitimen Bildungsorganisation also sozial, sachlich und zeitlich, nach den Adressaten, in den Inhalten und methodisch, in den Prinzipien der Lernorganisation und ihrer internen Differenzierung. Sie wird nur im Blick auf die Individuen entwickelt, damit ihnen die „höchste und proportionirlichste Bildung aller Kräfte zu einem Ganzen“ ermöglicht wird, wie er 1792 schon seine zentrale Erwartung bestimmt hatte. In Humboldts Konstruktion kann man unschwer auch die schon im frühen 17. Jahrhundert entwickelten universalistischen Kriterien einer Bildungsorganisation erkennen, die von dem hussitischen Bischof Johann Amos Comenius entwickelt worden waren. „Omnes, omnia, omnino“ waren dabei die Referenzen, alle, in allem und umfassend zu bilden, hießen die Prinzipien der Didactica Magna, die Comenius freilich religiös begründete.18 In seiner Interpretation der bildungspolitischen Texte Humboldts wiederum konnte Eduard Spranger 1910 einerseits die Universalität, Totalität und Individualität als Prinzipien wiedererkennen, die er als leitende Ideen Humboldts Bildungstheorie selbst zugeschrieben hatte.19 Spranger sah darin, bildungstheoretisch, auch das Problem der Bestimmung des Menschen gelöst, aber dieser anthropologischen Begründung bedarf es nicht, um die Modernität von Humboldts Überlegungen in einem bildungspolitischen Kontext zu zeigen, der Bildung als Bürgerecht definiert hat. Die Allgemeinheit von Bildung, education for all, als das Recht der Teilhabe aller Heranwachsenden an öffentlicher Bildung, die selbst den Status und die Qualität allgemeiner Bildung hat, wird heute deshalb auch nicht zufällig über die Erklärung der Menschenrechte20 begründet, die ja selbst Allgemeinheit beanspruchen, also Geltung für alle Menschen. 18Zu
Comenius gibt es natürlich ebenfalls einen Berg an Deutungen und Analysen, eine umfassende Übersicht bietet der voluminöse Band von P. Zemek/J. Beneš/B. Motel (Hrsg.): Studien zu Comenius und zur Comeniusrezeption in Deutschland. Festschrift für Werner Korthaase zum 70. Geburtstag. Uherský Brod 2008. 19E.S.: Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Berlin 1910, ders: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Berlin 1909. 20Der Text von Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (in dem übrigens von „education“ die Rede ist, wo der approbierte deutsche Text „Bildung“ sagt): „(1) Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fachund Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen. (2) Die Bildung muß auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muß zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. (3) Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteilwerden soll.“ Eine Übersicht zu weiteren Dokumenten und Vereinbarungen der UN und internationaler Organisationen zum Thema Bildung für die Zeit von 1960–2014 gibt Christiana NikolitsaWinter: UNESCO’s Role in Promoting Social Justice through Education. In: Bildung und Erziehung 67(2014)3, S. 283–298.
20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen
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20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen Im Grunde ist deshalb Humboldts Programm in dieser ersten Dimension und dem damit verbundenen Kriterium der Allgemeinheit wenig hinzufügen. Man kann es anders begründen, z. B. demokratietheoretisch oder über die Grund- und Menschenrechte oder über die modernen Verfassungstexte,21 in den Konsequenzen für die Schulorganisation wird Humboldt dabei zunächst nicht überboten. Aus diesen neuen Referenzen lässt sich ebenfalls ein grundsätzliches Recht auf Bildung ableiten, wie bei Humboldt auch als Recht auf Teilhabe an Bildungsprozessen, nicht als Recht auf gleiche Ergebnisse. Dieses Teilhaberecht wird heute in der Regel durch die Schulpflichtgesetzgebung und durch die Existenz eines öffentlichen und allgemeinen Bildungssystems garantiert. Es ist gleichzeitig in Rücksicht auf das Elternrecht einerseits und die je individuellen „Fähigkeiten“ andererseits limitiert. Es gibt zwar einen Anspruch auf Teilhabe an Bildung, aber dieser Anspruch kennt doch rechtlich eindeutige Grenzen, auch menschenrechtlich. Ein über die Sicherung von Teilhabe hinausgehendes Klagerecht von Individuen gegenüber dem Staat z. B. gibt es bisher in Bildungsfragen nicht, wie das in einem völkerrechtlichen Sinne und bezogen auf Staaten durchaus existiert. Hier kann man unter Berufung auf die Durchsetzung der Menschenrechte das von der UNO 2005 verbindlich gemachte Konstrukt der „Responsibility to protect“22 rechtlich geltend machen. Das ist möglich gegenüber Staaten, die die Menschenrechte verletzen, um sie zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung zu bringen. In Bildungsfragen ist dieses Konstrukt bisher weder programmatisch im Kontext rechtsphilosophischer Gerechtigkeitsreflexionen und -debatten gefordert23 noch aussichtsreich in der Praxis durchgesetzt worden, trotz der Programme der „Education for all“, die z. B. die UNESCO fordert. Die Verfassung toleriert im Bildungssystem bestätigte oder erzeugte Ungleichheit als Ergebnis von Lernprozessen, und für das Bildungssystem toleriert sie insofern auch systemische organisatorische Differenzen.
21Für
die Tradition von Bildungsrecht und Schulpflicht in den deutschen Verfassungen des 20. Jahrhunderts vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Die pädagogische Dimension des Grundgesetzes. In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 57(2009), S. 422–433, für die Grenzen der gestaltenden Kraft des Rechts auf Bildung im Blick auf konkrete Formen der Ordnung des Schulwesens u. a. Eberhard Eichenhofer: Das soziale Menschenrecht auf Bildung. sowie: Ingo Richter: Das Recht des Menschen auf Bildung. Beide in: Vieweg, Klaus/Winkler, Michael (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn/München/Wien/Zürich (Schöningh) 2012, S. 165–172, S. 173–179. 22Zu dem Thema Christian Schaller: Gibt es eine „Responsibility to protect“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 46(2008), S. 9–14. 23Eine luzide Übersicht zu diesem Thema insgesamt bietet Ulrike Davy: Soziale Gleichheit: Voraussetzung oder Aufgabe der Verfassung. In: Erosion von Verfassungsvoraussetzungen. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 68, Berlin 2009, S. 124–176.
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Dieses Grundrecht auf Bildung kann deshalb auch nicht gegenüber dem Staat in der Forderung einer bestimmten, spezifischen Form der Schulverfassung oder der pädagogischen Interaktionsverhältnisse rechtlich eingeklagt (aber natürlich auch hier in der Rhetorik politischer Forderungen genutzt) werden,24 etwa in einer Klage für Gesamtschulen oder gegen Gymnasien. Auch die Forderung nach einem obligatorischen Basiscurriculum für alle ist nicht einklagbar, obwohl das hier und da von Verfassungsrechtlern gefordert wird. Aber die gelegentlich vertretene Forderung, neben dem „Entfaltungs“-, „Zugangs“- und „Partizipationsrecht“ auch ein „Minimumgrundrecht“ auf Bildung zu begründen,25 und zwar als „Leistungsanspruch, der sich gegen den Staat richtet, soweit private Bildungsmöglichkeiten nicht ausreichen“, dieser Vorschlag hat nicht nur bei Politikern, sondern auch bei Verfassungsrechtlern wenig Gegenliebe gefunden.26 Das Bildungssystem, so sagt die einschlägige Rechtsprechung, muss in seinen Bildungsgängen offen und durchlässig sein und immer auch den Anschluss an lebenslaufrelevante Zertifikate und Berechtigungen sowie an weiterführende spezielle, also berufliche Bildung eröffnen, dann erfüllt es das Kriterium der Allgemeinheit. Darüber hinaus kann es sehr differenziert gestaltet sein. Universalisierung, die im Kriterium des Allgemeinen thematisch wird, steht in einem notwendigen Spannungsverhältnis zu Individualisierung als pädagogischer Programmnorm. Das Bildungssystem muss beiden Referenzen gerecht werden – und was dann „gerecht werden“ bedeutet, wird noch zu erörtern sein. In einer bildungstheoretischen Perspektive, nicht als Kritik an Humboldts Argument, sondern als seine erweiterte Begründung in einem aktuellen Kontext, kann man allerdings die soziale Allgemeinheit heute neu diskutieren. Das geschieht im Kontext der Debatten über den Begriff der Inklusion, vor allem der Inklusion der Menschen mit Behinderung in das Bildungssystem. Bildungstheoretisch ist diese Frage von zentraler Bedeutung, weil sie die basale Prämisse über den Adressaten von Bildungsprozessen, die Zuschreibung der Bildsamkeit, jetzt wirklich universell fasst, also niemanden seiner Begabung oder Lernfähigkeit wegen von Bildungsprozessen ausschließt oder als „nicht-bildungsfähig“ ausgrenzt. Solche
24Annedore
Prengel: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen/Berlin/Toronto 2013 verwischt in der als „menschenrechtlich“ beanspruchten Begründung diese Differenz zwischen Einklagbarkeit und politisch-pädagogischer Rhetorik und argumentativer Stützfunktion, die Menschenrechte bieten (vgl. bes. S. 13–15). 25So Ingo Richter (zuerst 1991) zu Art. 7 GG in Erhard Denninger u. a. (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 3. Aufl., Neuwied/Kriftel 2001 (sog. Alternativ-Kommentar) zit. als: AK-GG 2001, Richter, Art. 7, Rn. 38, Rn. 39 für das folgende Zitat. Sein Beitrag Ingo Richter: Grundrechte. In: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. Neuwied 2011, S. 591–600 wiederholt die Forderung, dass „das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum … auch eine Bildung (umfasst), die für die Lebensbewältigung erforderlich ist.“ (zit. S. 595) – ohne dass damit die Einwände seiner Kritiker, die der Operationalisierung dieses Kriteriums gelten, widerlegt wären. 26Vgl. z. B. die knappe, aber scharf abwehrend formulierte Kritik bei Gröschner in seiner Diskussion zu Art 7 in Dreier, Grundgesetzkommentar, 1996, Rn. 61 und Anm. 149.
20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen
393
Exklusionspraktiken gab es ja bis weit ins 20. Jahrhundert, denn Kinder mit geistigen Behinderungen z. B. waren vom Schulbesuch sehr lange ausgeschlossen. Mit der UN-Behinderten-Konvention von 2006 ist die Lage anders geworden. Jetzt soll Inklusion sein, auch als national geltende Rechtsvorgabe. Allerdings, der Begriff ist nicht eindeutig und die Realisierung noch offen, jedenfalls schwierig, die Diskussion inzwischen hoch politisiert27 und auch in den beteiligten Wissenschaften nur noch schwer zu überschauen.28 Inklusion kann man zunächst als soziologischen Terminus erläutern, und zwar im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Dann, in der ersten und systemisch bedeutsamsten Modalität, bedeutet „Inklusion“, dass alle Heranwachsenden einer Generation der Logik des Bildungssystems unterworfen, d. h. in ihrem Lebenslauf unausweichlich und ohne Ausnahme als lernfähige Subjekte behandelt werden. Die systematische bildungstheoretische Prämisse lautet: Weil wir allen Heranwachsenden in unserer Gesellschaft Bildsamkeit zuschreiben, und zwar universell und ohne Ausnahme wirklich allen – unabhängig von ihren individuellen Existenzen und Differenzen, sei es des Geschlechts oder der Sinne, des Intellekts oder der Sozialität, der Ethnizität oder des Verhaltens –, deshalb können sie der Praxis pädagogischer Arbeit unterliegen, also auch der Pflicht zum Schulbesuch. Wir grenzen heute niemanden mehr wegen „Bildungsunfähigkeit“ aus der Schule aus, wie das etwa im Bildungssystem der DDR noch geschah oder früher, bis weit ins 20. Jahrhundert, für Menschen mit geistiger Behinderung galt. Anders als dort beschreibt der Begriff der Bildsamkeit, bekanntlich seit Herbart der „Grundbegriff der Pädagogik“, die pädagogisch-anthropologische Basisannahme über den Menschen29 (noch nicht die schwierige Frage der besonderen Bildsamkeit, etwa des „Willens zur Sittlichkeit“, die Herbart nur dem Menschen zubilligt und zu seinem, sehr viel engeren Zentralthema der Moralerziehung macht). Geklärt wird dabei die pädagogische Natur des Menschen, und in diesem
27Inklusion
bildet auch das Schwerpunktthema das Nationalen Bildungsberichts von 2014 – dort finden sich die Probleme und Daten jetzt in übersichtlicher Sortierung, ohne dass eine institutionell einfache Lösung angeboten würde. 28In diesem Exkurs nehme ich, z. T. wörtlich, Argumente aus früheren Beiträgen auf: H.E.T.: Inklusion im Spannungsfeld von Universalisierung und Individualisierung – Bemerkungen zu einem pädagogischen Dilemma. In: K.-E. Ackermann u. a. (Hrsg.): Geistigbehindertenpädagogik !? Disziplin – Profession – Inklusion. Berlin 2013, S. 17–41; ders.: Inklusion. Prämissen und Problemzonen eines kontroversen Themas. In: B.Lütje-Klose/T.Riecke-Baulecke/R.Werning (Hrsg.): Basiswissen Lehrerbildung – Inklusion in Schule und Unterricht. Grundlagen in der Sonderpädagogik. 2018, S. 59–71. 29Für die unterschiedlichen Lesarten von Bildsamkeit zwischen Philosophie und Psychologie und für das spezifisch pädagogische Begriffsverständnis und seine Karriere vgl. Heinz-Elmar Tenorth: „Bildsamkeit“ als Grundbegriff der Erziehungswissenschaft. Überlegungen zur Arbeit der Allgemeinen Pädagogik. In: S. Hellekamps/O. Kos/H. Sladek (Hrsg.): Bildung, Wissenschaft, Kritik. Weinheim 2001, S. 190–201 sowie ders.: Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee. In: L. Raphael/H.-E. Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S. 497–520.
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Begriff wird gleichzeitig die Antwort auf diese schwierige Frage, was denn diese „Natur“ sei, auf den pädagogischen Prozess selbst verlagert. Pädagogen arbeiten auf der Basis dieser, systematisch gesehen, hypothetischen Anthropologie. Sie unterstellen damit, anders als theologische oder philosophische Vorstellungen der Vormoderne oder manche anthropologischen Debatten aktuell, kein festes ‚Wesen‘ des Menschen, z. B. als mit einer ‚Erbsünde‘ belastet, oder eine unveränderliche, gar angeborene Natur. Sie schreiben nur ein Potential zu, Bildsamkeit eben, oder, in der Sprache der europäischen Aufklärer, denen wir dieses Begriffsverständnis verdanken, „perfectibilité“.30 Diesen Begriff übersetzt man schon im historischen Kontext am besten mit „Vervollkommnungsfähigkeit“ und hat dann der Natur des Menschen die Fähigkeit zugeschrieben, je individuell und seinen Möglichkeiten gemäß Fähigkeiten und Kompetenzen auszubilden. Systematisch begründete, von wie immer definierten, den Individuen zugeschriebenen kognitiven oder emotionalen, physischen, psychischen oder sozialen Merkmalen ausgehende „Exklusion“ als Markierung der Grenzen des Bildungssystems zu seiner Umwelt und operationalisiert als personenbezogene Zuschreibung der Inklusionsfähigkeit bzw. -unfähigkeit der Heranwachsenden kann deshalb keine Geltung mehr beanspruchen. Sie ist jedenfalls bildungstheoretisch schon lange und jetzt auch politisch nicht mehr begründungsfähig: Inklusion aller soll sein. Aber diese alte Art der Exklusion aus dem Bildungssystem, auf der Basis der Zuschreibung von „Bildungsunfähigkeit“ gibt es in der Bundesrepublik seit langem nicht mehr – offenbar muss man daran gelegentlich schon explizit erinnern. Diese historisch durchgesetzte Generalisierung der Bildsamkeitszuschreibung ist nicht zuletzt wegen der erfolgreichen Arbeit der Pädagogen selbst möglich geworden.31 Die pädagogische Idee der Bildsamkeit als universale Zuschreibung hat nämlich einen Status jenseits der reinen Programmatik vor allem deswegen gewinnen können, weil sie seit ihrem Ursprung unlösbar mit der pädagogischen Praxis und ihren spezifischen Erfindungen und Leistungen verbunden war und ist. Die Behauptung der Bildsamkeit kann ihre Geltung ja nicht rein theoretisch aufweisen, sie muss – dem Status eines Dispositionsbegriffs entsprechend – ihre Geltung in der Praxis zeigen, als Ermöglichung und Wirklichkeit individueller Selbstkonstruktion, im Lernen und Handeln der Individuen, für die Bildsamkeit behauptet wird. Das experimentum crucis solcher Behauptungen und universalistischer Zuschreibungen wird schon im ausgehenden 18. Jahrhundert die Bildsamkeit Behinderter. Ihnen wird, alltäglich, noch bis in diese Zeit alle Bildsamkeit abgesprochen. „Taubstumme“ z. B. galten als Wesen unterhalb der Tiere,
30Für
die Klärung des Begriffs im Ursprung vgl. Dietrich Benner/ Friedhelm Brüggen: Das Konzept der Perfectibilité bei Jean-Jaques Rousseau. In: Otto Hansmann (Hrsg.): Seminar: Der pädagogische Rousseau, Bd. 2: Kommentare, Interpretationen, Wirkungsgeschichte. Weinheim 1996, S. 12–48. 31Details in Tenorth: Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Selbstdestruktion einer Idee. In: Raphael/Tenorth (Hrsg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft … 2006, S. 497–520.
20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen
395
weil ihnen die Kommunikationsfähigkeit fehle. Die Zuschreibung von Bildsamkeit bewährt sich deshalb genau zu dem Zeitpunkt, als Pädagogen systematisch zeigen können, dass sie über Methoden verfügen, die auch hier noch Kommunikation möglich machen, etwa in der Anerkennung und Nutzung der Gebärden als eigenständige und eigenwertige, aber lehr- und lernbare und zur Vervollkommnung kultivierbare Sprache der vermeintlich zur Kommunikation Unfähigen, der „Taubstummen“. Über eigene Schulen, Lehrprogramme und pädagogische Professionen mit eigener methodischer Kompetenz wird insofern die Inklusion vorher ausgeschlossener Kinder und Jugendlicher ermöglicht und ihre Inklusion in einem systemischen Sinne garantiert – bis heute. In diesem Sinne haben wir ein Bildungssystem, das Inklusion bereits vollzogen hat. Wir haben Inklusion im deutschen Bildungssystem dagegen bis heute noch nicht, wenn man ein anderes, gegenwärtig bei Pädagogen dominierendes Begriffsverständnis ansetzt. In diesem Begriff gibt es noch keine Inklusion, weil hier Inklusion als die Beschulung aller Heranwachsenden mit der gemeinsamen Beschulung aller Lernenden gleichgesetzt wird, wie das seit der UN-Behindertenrechtskonvention bei radikalen Inklusionsbefürwortern in der bildungspolitischen Diskussion vertreten wird. Gegen andere Formen der universellen Beschulung – etwa in einem differenzierten Schulsystem, das z. B. eigene Förderschulen für spezifische Gruppen von Lernenden kennt – wird hier eine Form der Beschulung als Definition von Inklusion ausgezeichnet, die auf der gemeinsamen Beschulung aller Heranwachsenden (gelegentlich nur während der Pflichtschulzeit) beruht. Bei dieser Definition gibt es also Inklusion und Exklusion nicht nur als Dual für die System-Umwelt-Unterscheidung und als Grenzmarkierung nach außen, sondern noch einmal, ja zuerst innerhalb des Bildungssystems selbst. Diese Unterscheidung ist vor allem eine Besonderheit des pädagogischen Diskurses der emphatischen Vertreter der UN-Konvention. Der entscheidende pädagogische Unterschied liegt dann auf der Ebene der Binnenorganisation des Bildungssystems. Es geht nicht um die Frage der Grenzziehung zur Umwelt und der personenzentrierten Zuschreibung oder das Bestreiten der Bildsamkeit, sondern um die Frage der Inklusion von Bildungsgängen, Bildungsorganisationen oder Schulformen innerhalb des Systems. Bezogen auf die Formen des Umgangs mit Individualität, die in einem jeden Bildungssystem definitionsbedürftig sind, wird hier äußere Differenzierung – gestützt auf Formen der Organisation – negiert und allein innere Differenzierung – realisiert in Interaktion und gestützt auf deren Ziele, Praktiken und Materialien – zum Prinzip. Probleme entstehen aktuell wie systematisch primär aus der zweiten Bestimmung von Inklusion, vor allem unter der ja klassischen Frage, ob und wie möglich sein kann, was wirklich werden soll: die gemeinsame Beschulung aller Kinder, unabhängig von ihren individuellen Existenzen und Differenzen, sei es des Geschlechts oder der Sinne, des Intellekts oder der Sozialität, der Ethnizität oder des Verhaltens. Man muss offenbar das alte Problem der Pädagogik auf neuem Niveau neu bearbeiten, wie man Gleichheit und Differenz, Individualisierung und Universalisierung in einer Praxis zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, in vielleicht
396
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graduierten, aber nicht qualitativ unterschiedenen Zielen und Programmen, Praktiken und Arbeitsformen so realisiert, dass jede Individualität zu ihrem Recht kommt. Die Einfachheit, in der Humboldt das noch allein vom je individuellen Lernfortschritt abhängig machen konnte, ist jedenfalls vorbei. Inklusion in diesem Sinne bedeutet deshalb nicht weniger als eine Transformation der gegebenen primären Form der Binnendifferenzierung des Systems Schule. Bisher funktioniert und arbeitet das vor allem nach Kriterien der Organisation, bildet z. B. Schulformen, Jahrgangsklassen oder leistungsdifferente Gruppen und unterrichtet danach. Im neuen Verständnis von Inklusion würde Schule zu Gunsten eines anderen Prinzips, dem der Individualisierung, allerdings in gemeinsamer Unterrichtung, verändert und dass hätte zur Konsequenz, dass Schule deshalb nach Kriterien und Erwartungen der Interaktion ihren Alltag organisieren müsste. Universalität bleibt zwar im Anspruch der Beschulung aller als Systemmerkmal erhalten, Individualisierung tritt aber mit gleich universalem Anspruch als operativer Anspruch und Merkmal des Bildungssystems hinzu. Diese Fokussierung wird vor allem dann radikal, wenn in der Handhabung des binären Schemas von Inklusion/Exklusion in der Betrachtung der Binnenstrukturen und Wirkungen des Bildungssystems alle Formen der systemischen Differenzerzeugung – im Prozess wie im Ergebnis – als unzulässig abgewehrt und als unerwünscht abgewertet werden, wie das aktuell z. T. auch schon geschieht.32 In einer relativ weiten, nicht mehr nur pädagogischen, sondern gesellschaftstheoretischen Nutzung des Begriffs der Exklusion werden z. B. alle Formen der äußeren Differenzierung im Bildungssystem als Verstoß gegen die Inklusionsforderung interpretiert und als unzulässige, weil sozial separierende Formen von Bildungsgängen kritisiert. Dieses Verdikt wird vielfach ausgesprochen, z. B. für die Organisation, wenn die Unterscheidung von Bildungsgängen nach der Grundschule als Mechanismus der Exklusion bezeichnet und kritisiert wird, oder gegenüber Systemeffekten des Bildungssystems sozialstrukturell, wenn die nach der sozialen Herkunft ungleiche Verteilung auf spezifische Bildungsgänge oder Abschlüsse oder bei Zugangschancen zu weiterführenden Bildungsgängen als Indikator für systemisch erzeugte Exklusion interpretiert wird, jetzt nicht von Menschen mit Behinderung, sondern z. B. von Migrantenkindern oder angesichts von zertifizierter Leistungsdifferenz. Das Dual von Inklusion/Exklusion gerät damit, weit über das Bildungssystem hinaus, zur gesellschaftstheoretischen Formel, mit der sich alle gesellschaftlich erzeugten Formen der Ein- und Ausgrenzung und die damit verbundenen Chancen zur Teilhabe an Sozialsystemen bezeichnen lassen. Eine solche politische Reformulierung des Duals von Inklusion und Exklusion findet sich im pädagogischen Kontext aktuell vor allem in der Sozialpädagogik und Sozialarbeit und in der dabei vorgetragenen kritischen Perspektive auf den
32Eine
Übersicht über die Vielfalt der Verwendungsweisen des Begriffs gibt Karl-Heinz Demmer: All inclusive? Dabei sein ist alles? Ein Versuch, die Konjunktur des Inklusionsbegriffs in der Pädagogik zu verstehen. In: Pädagogische Korrespondenz H. 43, 2011, S. 5–30.
20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen
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Wohlfahrtsstaat.33 Dabei werden Aufgabenzuschreibungen an die Sozialarbeit vertreten,34 die explizit die Grenze von Sozialer Arbeit und Sozialpolitik einebnen und eine primär politische Definition der (sozial-)pädagogischen Aufgabe vertreten. In diesen Texten werden aber auch erneut Deutungen der pädagogischen Arbeit formuliert, die sich in den emphatischen 1960ern für den Lehrer finden ließen, als er seinem Status nach aus der „Zugehörigkeit zum universellen Proletariat“ definiert wurde und seiner Aufgabe nach aus der Rolle des Erlösers, der die „Gabe“ hat und das „Zeugnis“ gibt, die Ermöglichung einer anderen, besseren Welt vorzubereiten.35 Aktuell und sozialpädagogisch, auch hier im expliziten Bezug auf Heydorns kritische Bildungstheorie, bleibt dabei der Referenzpunkt der pädagogischen Arbeit zwar der Klient, aber im Zentrum steht nicht sein gesamte Biografie, sondern primär oder gar allein seine „Ausübung demokratischer Praxis und die Stärkung des Bürgerstatus“.36 Im Ergebnis wird Soziale Arbeit als eine politische „Kampfarena“37 gesehen, mit einer politischen Aufgabe, die sie der Natur und Funktion nach – und dann auch als Aufgabe der Profession – in krisenhaft sich entwickelnden Wohlfahrtsstaaten wahrzunehmen habe. Die erfolgreiche Teilhabe an Bildungsprozessen und die Vermeidung jeglicher Exklusion wird insofern als Voraussetzung zur erfolgreichen Teilhabe an Gesellschaft und Kultur, Ökonomie oder Politik überhaupt definiert, Erfolglosigkeit als Mechanismus der Aussperrung codiert. Gleichheit bzw. Ungleichheit der Teilhabechancen werden dabei letztlich nicht mehr pädagogisch, sondern allein gesellschaftlich definiert und zugleich als Maß sozialer Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit verwendet. Dem Bildungssystem, die Institutionen der Sozialen Arbeit jetzt eingeschlossen, wird in solchen Analysen und den damit verbundenen Programmen eine zentrale Rolle in der
33Für
diese Wohlfahrtsstaats-kritische Debatte in der Sozialpädagogik, z. T. auch in enger Anbindung an die us-amerikanische Debatte im Kontext der critical pedagogy, u. a. Andreas Schaarschuch: Gesellschaftliche Perspektiven sozialer Dienstleistung. sowie Heinz Sünker: Gesellschaftliche Perspektiven Sozialer Arbeit heute. Beide in: S. Müller u. a. (Hrsg.). Soziale Arbeit. Gesellschaftliche Bedingungen und professionelle Perspektiven. Neuwied/Kriftel 2000, S. 165–177 bzw. S. 209–225. 34Diese starke Akzentuierung der politischen und gesellschaftskritischen Rolle Sozialer Arbeit auch bei Fabian Kessl/Hans-Uwe Otto (Hrsg.). Soziale Arbeit ohne Wohlfahrtsstaat? Zeitdiagnosen, Problematisierungen und Perspektiven. Weinheim/München 2009 sowie, im Rückgang auf Klaus Mollenhauer, allerdings noch ohne klare professionspolitische Konsequenzen, in den Überlegungen zur „Notwendigkeit einer politischen Theorie Sozialer Arbeit“ bei Fabian Kessl/Martina Lüdke-Hartmann: Soziale Bildung und Erziehung in der Demokratie. Sozialpädagogische Reflexionen im Angesicht des post-wohlfahrtsstaatlichen Transformationsprozesses. In: Luise Ludwig u. a. (Hrsg.): Bildung in der Demokratie II. Tendenzen – Diskurse – Praktiken. Opladen/Farmington Hills 2011, S. 177–190. 35Heinz-Joachim Heydorn: Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt a. M. 1972, S. 127; aber Gesamtschulbefürworter von Tillmann bis Rolff schrieben, 1973, dieser Schulform und ihren Lehrern ja auch schon auch „strategische“ Funktionen im Klassenkampf zu. 36Schaarschuch 2000, S. 173; für den Anschluss an Heydorn v. a. die Arbeiten von Heinz Sünker. 37Sünker 2000, S. 215.
398
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Konstruktion gesellschaftlicher Gleichheit/Ungleichheit und für die Sicherung der politischen Teilhabe an Gesellschaft zugeschrieben. Bei einem derart weiten Verständnis des Duals von Inklusion/Exklusion hat man zwar neue Möglichkeiten der kritischen Betrachtung des Bildungssystems und der Generationsordnung eröffnet, zugleich aber den Begriff der Bildung weit überdehnt. Nicht die Selbstkonstruktion der Individuen erzeugt jetzt die Legitimität des schulisch geleiteten Bildungsprozesses, sondern politisch definierte Erwartungen an ihr gesellschaftlich-politisches Handeln. In solcher Politisierung des Bildungsbegriffs kann dann auch kaum mehr zwischen legitimierbaren Formen der pädagogischen Differenzierung, z. B. nach der kognitiven Leistung oder nach Interesse und Neigung, die notwendig mit Individualisierung parallel gehen, und Formen der nicht-legitimierten Separierung unterschieden werden. Jede Differenzzuschreibung wird politisch geächtet. Mit dieser Handhabung des Duals gerät man schließlich vollends in die Aporie,38 wenn nicht allein differente Prozess- oder Organisationsmerkmale im Bildungssystem systematisch zum Thema und Problem erklärt werden, sondern auch die Differenz in den Ergebnissen – etwa der erreichten Berufspositionen – allein als Konsequenz von nicht legitimierbaren Exklusionspraktiken von Pädagogen oder Systemstrukturen erklärt wird. Nicht nur, dass sich das Paradox der pädagogischen Individualisierung im Kontext von gesellschaftlichen Egalitätserwartungen dabei erneut einstellt, das in der viel genutzten Formel von der „egalitären Differenz“ (Prengel) ja nur rhetorisch gelöst wird, vor allem die operativen und pragmatischen Konsequenzen werden immer schwieriger, sowohl für das Bildungssystem als Organisation als auch für den einzelnen Pädagogen in der Praxis. Wer dem Bildungssystem nur einen Typus der Sozialform – gemeinsames Lernen – erlaubt, der muss zeigen, wie er dann noch die eigenen hochgesteckten Inklusionserwartungen und zugleich die Individualisierungsversprechen zielbezogen erfüllen kann. Im Blick auf eine moderne Bildungsorganisation stellt sich deshalb nicht nur das Inklusionsproblem, sondern auch die Frage, ob sich Humboldts Argumentation mit den „Stufen“ oder „Stadien des Unterrichts“ und sein Vertrauen auf die Logik des Bildungsprozesses als Prinzip auch für die Gestaltung von Bildungssystemen mit der organisatorisch breit ausdifferenzierten Schulorganisation verträgt, wie sie sich historisch in international großer Varianz entwickelt hat und wie wir sie aktuell haben. Die bildungstheoretisch häufig problematisierte Verbindung mit Prüfungen und Verfahren der Zertifizierung mag historisch plausibilisierbar sein, denn Humboldt selbst hat ja für Prüfungen im Bildungssystem energisch plädiert, die Konstruktion von zeitlicher oder sozialer
38Die
selbst gebauten Fallstricke solcher Art des Begriffsgebrauchs kritisiert, auch in den pädagogischen Konsequenzen, sehr überzeugend Bernd Ahrbeck: Der Umgang mit Behinderung. 2. Auflage. Stuttgart 2012; umfassend, auch im Blick auf die bereichsspezifische Transformation und Problematik allgemeiner Fragen, z. B. der Bildungsgerechtigkeit, jetzt ders.: Inklusion – eine Kritik. Stuttgart 2014.
20.2 Inklusion und Bildsamkeit als Systemprämissen
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Differenz ist damit nicht hinreichend geklärt oder gar systematisch gerechtfertigt. Für die mit dem schulischen Bildungsprozess verbundenen Formen und Möglichkeiten der Zuweisung in differente Bildungsgänge und Schulformen, für den dafür geeigneten Zeitpunkt oder die dabei zu handhabenden Kriterien, hat Humboldt wie die Tradition überhaupt so wenig konkrete oder gar aktuell noch brauchbare Vorgaben gemacht wie für den Standard an Einheitlichkeit und Differenz oder für die Formen von Inklusion und Exklusion, die man im Bildungssystem erwartet, oder für die Ausgestaltung der Rolle allgemeiner oder spezieller, also beruflicher Bildung benötigt. Als erster Referenzrahmen beeindruckend aktuell, erweisen sich die alten Texte angesichts konkreter Fragen der Schulorganisation deshalb zwar immer noch als inspirierend, aber im Detail für die Probleme einer Legitimation der Schulorganisation allein nicht mehr hinreichend. „Bildung für alle“ mag unbestritten als Ziel gelten und bildungstheoretisch zumal in Demokratien keinen Zweifel dulden. Was heute als „gerecht“ gilt, wenn man von Bildung spricht, oder als Einlösung des Versprechens der Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, das kann und muss man vor dem Hintergrund „allgemeiner“ Bildung zwar sehen, aber für die aktuelle Diskussion neu und weiter diskutieren.
Kapitel 21
„Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Über Bildungsgerechtigkeit, wie der aktuell dominierende Begriff lautet, hat man in der Moderne schon immer gesprochen, vor allem dann, wenn die von höherer Bildung Ausgeschlossenen die klassenspezifischen Wirkungen der Arbeit von Schulen thematisiert haben, wie das seit dem 19. Jahrhundert geschieht. Die Kritik stützte sich dabei auf kollektive und individuelle Daten, war systembezogen und biografisch fundiert. Ein frühes und beeindruckendes Zeugnis wie die Geschichte des „Anton Reiser“ belegt das exemplarisch. Liest man diesen vom Leiden an solchen Prozessen der Ausgrenzung geprägten „psychologischen Roman“, der sich nicht zuletzt von den Erfahrungen seines Autors speist, der im späten 18. Jahrhundert den Weg aus zelotischen, armen, protestantischen Verhältnisse bis in die akademische Welt Berlins erkämpft und erlitten hat, kann man ermessen, was die Verweigerung von Teilhabechancen bedeutet und welche zusätzlichen Herausforderungen auch noch mit der schulischen Kompensation von Nachteilen verbunden sind.1 Nachdrückliche Zeugnisse von Bildungsungerechtigkeit liefern, jetzt kollektiv, auch die Berichte über die Mechanismen des Ausschlusses vor allem von gymnasialer Bildung, wie sie – ungeachtet einzelner Aufstiegskarrieren2 – für die sozialen Unterschichten jenseits des Bürgertums bis weit ins 20. Jahrhundert charakteristisch waren. „Kontinuität von Ungleichheit“3 z. B. in der Teilhabe an akademischer Bildung wird noch 1975 konstatiert, die Stabilität von sozialen „Disparitäten“, die im Bildungssystem sichtbar und bestätigt werden, gehört zu den wesentlichen und öffentlich viel beachteten Befunden der aktuellen
1Karl-Philipp
Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. (1785) Stuttgart 1986. Lundgreen/Margret Kraul/Karl Ditt: Bildungschancen und soziale Mobilität in der städtischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1988. 3Hartmut Kaelble: Chancenungleichheit und akademische Ausbildung in Deutschland 1910– 1960. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 121–149, für die lange Dauer und die differente Struktur von Ungleichheit jetzt Hartmut Kaelble: Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 2017. 2Peter
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_21
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Bildungssoziologie.4 Das muss hier im Detail nicht rekapituliert werden, allenfalls der Hinweis auf die Erklärungsprobleme der dominierenden Argumentation über Disparitäten ist notwendig.5 In einem bildungstheoretischen Kontext ist vor allem die scharfe Zuspitzung auf Fragen der „Bildungsgerechtigkeit“ und der Ungleichheit bei Bildungskarrieren ein notwendiges Thema. Diese Befunde, für das Bildungswesen an Indikatoren der sozialen Herkunft bzw. Milieus und ihren Schulerfolg gemessen, sind in der Intensität und Schärfe, in der sie sowohl politisch als auch sozialwissenschaftlich beachtet und problematisiert werden, doch historisch neu und überraschend zugleich. Denn einerseits ist eine deutliche Veränderung bei der Bildungsbeteiligung unverkennbar, auch eine Verbesserung, wenn man an die früher dramatischen Ausgrenzungsprozesse etwa nach dem Geschlecht oder z. B. für die Bildungsbeteiligung von Katholiken denkt.6 Andererseits verdankt sich die besondere Intensität der Debatte und die kontinuierliche Aufmerksamkeit für das Thema offenbar der Tatsache, dass die für das deutsche Bildungssystem berichteten Befunde eine im internationalen Vergleich besondere Dramatik des Problems nahelegen, und zwar nach dem Ausmaß an Ungleichheit, das sich für den Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zeigen lässt, und zugleich in der Persistenz, der relativen Stabilität des Befundes, der sich auch trotz energischer bildungspolitischer Maßnahmen (auch international7) erhält, ja gegenüber einer relativen Verbesserung in den 1970/80er Jahren sich in Deutschland bis heute erneut verschlechtert hat.8 Verbunden mit den Diagnosen über die 4Einen
Überblick über die Entwicklung und Lage der Forschung geben Heike Solga und Rolf Becker: Soziologische Bildungsforschung – Eine kritische Bestandsaufnahme. In Dies. (Hrsg.): Soziologische Bildungsforschung. Wiesbaden 2012, S. 7–43 (KZfSS SH 52); sowie, auch mit klassischen Texten der Bildungssoziologie, interdisziplinär angelegt und als Beleg der offenen Analyseprobleme, Ulrich Bauer/Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Heidelberg/New York 2012. 5Dafür ist die kritische Diagnose sehr relevant, die jüngst publiziert wurde: Kai Cortina/Hans Anand Pant: Ignorierte Differenzen, illegitime Disparitäten – Die zunehmende Betriebsblindheit im Disparitätendiskurs der empirischen Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik 64 (2018), 1, S. 71–79. 6Was mit dem „katholischen Bildungsdefizit“ in einem Buch dieses Titels bei Karl Erlinghagen noch 1965 zu Recht kritisch angeprangert wurde, muss man heute jedenfalls den meisten erklären, weil es diese Dimension von Bildungsbenachteiligung nicht mehr gibt, so wenig wie die schulische Benachteiligung nach dem Geschlecht, denn die jungen Frauen sind die Gewinner der schulischen Bildungsexpansion. 7Früh als Diagnose bei Yossi Shavit/ Peter Blosfeld (Hrsg.): Persistent inequality – Changing educational attainment in thirteen countries. Boulder 1993; was immer die PISA-Daten an Varianz für das Problem zwischen den Ländern zeigen, sie belegen zuerst immer auch die andauernde Alltäglichkeit von Ungleichheit in Bildungsprozessen, und zwar international (und Deutschland hat nicht die singulär schlechte Position, die PISA-Interpreten suggerieren). 8Daten und Analysen u. a. bei Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg: Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden 4. Aufl. 2010; aus dem PISA-Kontext Jürgen Baumert/Petra Stanat/Rainer Watermann (Hrsg.): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden 2006; für die Verschlechterung seit den 1970/80er Jahren auch, knapp, Heinz Bude: Das prekäre Gut der Bildung. In: Merkur 771, 67(2013), S. 745–752.
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit
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schlechte Leistungsbilanz des deutschen Bildungswesens, wie sie seit den PISAErgebnissen über die schulisch erworbenen Kompetenzen in den Kernfächern von 2001 an immer wieder – ungeachtet leichter Veränderungen – berichtet werden, komplettiert sich damit das dramatische Bild, das sich für schulische Lernprozesse in Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich abzeichnet. Dass Bildungsgerechtigkeit sein soll, ist deshalb eine unbestrittene Forderung. Angesichts der internen Verzweigung, die das Thema inzwischen gefunden hat,9 muss aber die konkrete Bedeutung dieser zunächst so unbestrittenen Forderung diskutiert werden, im Allgemeinen, vor allem aber im Kontext des Bildungssystems. Dann muss sich zeigen, welche analytische Kraft und Begründungskompetenz für das Kriterium der (Bildungs-)Gerechtigkeit sich im Kontext bildungstheoretischer Reflexion auffinden lässt.
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit Der Ausgangspunkt ist ganz eindeutig: Der unbestrittenen Geltung von „Bildungsgerechtigkeit“ als politisch-pädagogischer Forderung zum Trotz ist keineswegs präzise geklärt, was Bildungsgerechtigkeit als Prinzip und in der konkreten operativen Handhabung im Bildungssystem eigentlich bedeuten soll. Problematisch ist schon die häufig zu beobachtende Gleichsetzung und thematische oder kriteriale Konfundierung mit „Bildungsgleichheit“ oder „Chancengleichheit“ oder „Chancengerechtigkeit“, also mit – wie noch zu zeigen sein wird – systematisch differenten, wenn auch aufeinander bezogenen Themen und kriterialen Systemen. Gerechtigkeit und Gleichheit sollten aber sorgfältig unterschieden werden. In der allgemeinen Diskussion der einschlägigen Theoretiker aus Sozialphilosophie oder Bildungssoziologie wird das in der Regel auch getan, meist im Konsens, auch wenn sich in erziehungsphilosophischen Debatten aktuell einige Besonderheiten entwickeln. Nur, und das verweist auf das zweite Problem, helfen diese allgemeinen Theorien meist bei der anschließenden Frage nicht weiter, wie denn die operative Umsetzung im Bildungssystem aussehen kann und wie man präzise operationalisiert, was mit Gerechtigkeit in Bildungsprozessen gemeint ist. Beide Referenzprobleme verdienen deshalb eine
9Einen einführenden Überblick über die Diskussion gibt Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit. Stuttgart 2010, eine schon systematischer ansetzende Analyse der Literatur, der Schwerpunkte der Diskussion und ihre Referenzen innerhalb der Erziehungswissenschaft findet sich bei Katharina Anna Vogel: Konstruktionen und Rezeptionen erziehungswissenschaftlichen Wissens. Bibliometrische und systematische Analysen am Beispiel des Diskurses ‚Bildungsgerechtigkeit‘. Bad Heilbrunn 2016. Die Argumente in Johannes Bellmann/Hans Merkens (Hrsg.): Versprechen Bildungsgerechtigkeit. Zur Rechtfertigung und Infragestellung eines mehrdeutigen Konzepts. Münster/New York 2019 konnte ich leider nicht mehr berücksichtigen, weil mein Text schon im Satz war.
404
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Diskussion, die begrifflich-theoretische Klärung genauso wie die operativen Konsequenzen.10 „Gerechtigkeit“, um mit den begrifflichen Abklärungen zu beginnen, ist seit den Analysen in der Ethik des Aristoteles im Grunde bis heute als rechts- und sozialphilosophisches Thema wohl sortiert11: „Austeilende“ und „ausgleichende Gerechtigkeit“ werden bei ihm schon unterschieden, „je nachdem, ob sie es mit dem Austausch von Gütern und Verträgen zu tun hat oder ob ihr das Zuteilen in einer Gemeinschaft aufgegeben ist.“ Die Definition des Aristoteles lautet: „Es ist G[erechtigkeit]. eine Tugend, durch die jeglicher das Seinige erhält und wie es das Gesetz angibt. Ungerechtigkeit dagegen ist es, wodurch einer fremdes Gut erhält und nicht nach dem Gesetz.“12 Man kann sich vorstellen, dass diese Formel Konflikte nicht ausschließt, denn „jeglicher das Seinige“ ist eine Vorgabe, die sicherlich unterschiedliche Interpretationen erlaubt. Die Debatte über Gerechtigkeit wurde vor allem aber dadurch erweitert und politisch, dann auch bildungspolitisch folgenreich, dass sich die Bestimmung dessen, was „ausgleichende Gerechtigkeit“ heißen soll, aus der Sphäre der Rechtsphilosophie und der Praxis der Gerichte in den Bereich des gesellschaftspolitischen Handelns erweiterte. Zumal in wohlfahrtsstaatlichen Demokratien gewinnt die Bestimmung der „ausgleichenden“, distributiven, Gerechtigkeit einen Sinn, der die Sicherung von Lebenschancen aller und zugleich auch sozialpolitische Zielsetzungen verbindet, und zwar so, dass „ausgleichend“ jetzt auch mit „kompensatorisch“ übersetzt wird. „Soziale Gerechtigkeit“ wird die neue Formel, die auch die Fronten im politischen Streit der Parteien codiert. Kompensiert, das führt konkret in den Kontext des Bildungssystems und der Bildungspolitik, sollen vor allem solche Nachteile werden, die sich aus Unterschieden der Lebenslage und der sozialen Herkunft ergeben und eine gerechte und faire Chance der selbstbestimmten Teilhabe an Gesellschaft erschweren oder unmöglich machen. In theoretischen Überlegungen zu Fragen der Gerechtigkeit ist diese Deutung des Themas systematisch vor allem von der „Theorie der Gerechtigkeit“13 inspiriert worden, die von John Rawls vorgelegt wurde. Sie wird trotz einiger Kritik inzwischen nahezu wie die Standardlesart des Gerechtigkeitsthemas
10Die
Beiträge in Veronika Manitius/Björn Hermstein/Nils Berkemeyer/Wilfried Bos (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit von Schule. Theorien, Konzepte, Analysen. Münster 2015 verbinden beide Dimensionen und sind darin nahezu singulär; ich werde auf diesen Band deshalb auch im weiteren Gang der Argumentation noch zurückkommen. 11Vgl. R. Hauser: Gerechtigkeit. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Darmstadt 1974, Sp. 329–334, zit. Sp. 330, im Übrigen: „Beide Male muß das Prinzip der Gleichheit zur Anwendung kommen, nur im ersten Fall in arithmetisch absoluter, im zweiten in geometrisch analoger Proportion.“ (ebd.). 12Aristoteles, Rhetorik, zit. nach Hauser, 1974, Sp. 330. 13John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. (1971) Frankfurt a. M. 1975/9. Aufl. 1996 – danach die Zitate im Folgenden; zur Diskussion schon Otfried Höffe (Hrsg.): Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1977 sowie ders.: John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin 2006.
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit
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behandelt. Ohne im Konsens anerkannt zu sein, liefert sie jedenfalls auch den bevorzugten Referenzpunkt der kontroversen Debatten.14 Ihr gegenüber muss man sich abgrenzen, wenn man anders argumentieren will, von hier aus lassen sich auch die Alternativen inspirieren, bis in die internationale Diskussion der Bildungsphilosophie hinein.15 Ein Blick in die Argumente von Rawls lohnt deshalb, weil diese Lektüre letztlich auch zeigt, wo die spezifischen Probleme der Bildungsgerechtigkeit einsetzen und welche Aufgaben in der Bildungsreflexion jenseits der allgemeinen Debatte der Prinzipien von Gerechtigkeit dann noch warten, wenn man sich der Prinzipien vergewissert hat. Der Ausgangs- und Zielpunkt von Rawls ist die Bestimmung von Gerechtigkeit als „Fairness“. In der Nachfolge vertragstheoretischer Begründungen, wie er sie von Locke und Rousseau bisKant findet, entwickelt er dabei für das Problem der „Verteilung“ in und über gesellschaftlich dafür geeignete Institutionen zwei „Grundsätze der Gerechtigkeit“.16 Es sind im Wesentlichen zwei Prinzipien, in denen sich die beiden Grundwerte spiegeln, von denen Rawls ausgeht, Freiheit und Gleichheit, also nicht etwa Gleichheit allein. Der erste Grundsatz bezieht sich auf Freiheit und er lautet: „Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“17 Der zweite Grundsatz macht die gesellschaftlichen Ungleichheiten und die Legitimität von Modalitäten ihrer Kompensation zum Thema und lautet: „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern
14Die
haben ihre eigene Tradition von Opponenten und Proponenten, vgl. u. a. die von Rawls ausgehende Debatte über Liberalismus und Kommunitarismus bei Axel Honneth (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M./New York 1993 und z. B. die aktuelle Kritik in „Mittelweg 36“ 2016 („Politische Theorie in der Krise“), die als so kritisch aufgenommen wird, dass Rawls an anderer Stelle (Julian Culp: Vom Nutzen der Idee vollkommener Gerechtigkeit. In: FAZ vom 01.11.2017, S. N4) sogleich gegen den Vorwurf verteidigt wird, seine Theorie erlaube, weil primär prinzipienorientiert, nicht, konkrete gesellschaftliche Problemlagen angemessen zu behandeln. Dazu gibt es natürlich dann auch rasch die Replik auf diese Kritik: Frieder Vogelmann/Martin Nonhoff: Politik ist leider manchmal ein schmutziges Geschäft. In: FAZ vom 27.12.2017, S. N 4. 15Exemplarisch: Kirsten Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and Equality in the Education System. Oxford/New York 2014 und dazu die kommentierend-klugen Erläuterungen in der Rezension von Johannes Drerup in EWR 14(2015)1 (06.02.2015; URL: https://www.klinkhardt.de/ewr/978041571480.html). 16Rawls hat in den Tanner Lectures (1981) die Formulierung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes geändert. Die aktuelle Formulierung der Gerechtigkeitsgrundsätze ist: „1. Jede Person hat das gleiche Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit einem ähnlichen System von Freiheiten für alle vereinbar ist. 2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen genügen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie den größten Vorteil für die am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen.“ 17Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, (1971), 1996, S. 336; Nachweise künftig in Klammern im Text.
406
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ Für die historisch konkrete Handhabung dieser „Grundsätze“ schlägt Rawls gleichzeitig „Vorrangregeln“ vor, Regeln also, die in Auseinandersetzungen, die ja erwartbar sind, konkrete Prioritätsprobleme diskutierbar und in Verfahren prozedierbar machen sollen. Er gibt deshalb „Leitlinien für die Anwendung der Grundsätze in nichtidealen Situationen“, und er „zeigt, um welche Beschränkungen man sich zuerst kümmern muß.“ (337) Die „erste Vorrangsregel“ formuliert den „Vorrang der Freiheit“, d. h. „Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken; (b) eine geringere als gleiche Freiheit muß für die davon Betroffenen annehmbar sein.“ Die „zweite Vorrangregel“ bezeichnet den „Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard“, d. h.: „Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine C hancen-Ungleichheit muß die Chancen der Benachteiligten verbessern; (b) eine besonders hohe Sparrate muß insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.“ (337). Aus Anlass der Kritik, wie sie von unterschiedlichen Opponenten vorliegt,18 hat Rawls seine „Grundsätze“ präzisiert und seine Theorie noch einmal geprüft, ohne die Grundannahmen aufzugeben.19 Die Kritik existiert deswegen auch weiter. Sie problematisiert seine Annahmen über den Menschen, der als Wesen jenseits von Gesellschaft individualistisch gedacht werde; sie kritisiert auch die Realisierbarkeit seiner Verfahrensvorschläge, denn es gebe das Wissen nicht, das benötigt werde, so dass sich auch die Prioritätsordnungen nicht herstellen ließen, die er voraussetzt. Es gibt schließlich eine Kritik, die nicht nur den verteilungstheoretischen Gerechtigkeitstheorien, sondern auch den anderen vorwirft, dass sie die „erste Frage der Gerechtigkeit“20 überhaupt noch nicht gesehen haben.
18Erwartbar
sind das die alternativen Theorien der Gerechtigkeit, wie sie aus der Tradition utilitaristischen, liberalen oder kommunitaristischen Denkens entwickelt werden und denen gegenüber Rawls seine eigene Position ja auch explizit entwickelt hat. Eine Rundumkritik aller dominierenden Gerechtigkeitstheorien, die er „alle als unzulänglich“ (S. 83) charakterisiert, weil sie „soziale Rechte“ gegen die „gleiche Freiheit“ aufrechnen, formuliert Ulrich Steinvorth: Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit. Berlin 1999, zu Rawls bes. S. 84 ff. 19In einer knappen und pointierten Rezension hat Otfried Höffe diese modifizierte Version kommentiert, vgl. O. H. zu: John Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M. 2003, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. Mai 2003, S. 41. 20Rainer Forst: Die erste Frage der Gerechtigkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37, vom 12.09.2005, S. 24–31 sowie, aktuell und systematisch auf Politik insgesamt ausgeweitet, ders.: Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Perspektiven einer kritischen Theorie der Politik. Berlin 2011.
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit
407
Diese erste Frage erschließe sich von der Dimension der Macht aus. Bedeutsamer als Fragen der Verteilung, ja ihnen vorausliegend, sei die Frage nach „der Rechtfertigbarkeit sozialer Verhältnisse und entsprechend der Verteilung von ‚Rechtfertigungsmacht‘ in einem politischen Zusammenhang“.21 In einer „kritischen Theorie der Gerechtigkeit, deren erstes ‚Gut‘ die sozial effektive Macht ist,“ gehe es darum, „Rechtfertigungen zu fordern, anzuzweifeln oder zu liefern und zur Grundlage politischen Handelns und institutioneller Regelungen zu machen“, denn der Mensch, wie Forst weiter begründet, sei „ein Rechtfertigungswesen“, mit einem „Anspruch und Grund-Recht auf Rechtfertigung“. Eine reine Logik der Verfahren sei auch deshalb unzureichend, man müsse „prozedurale und substanzielle Gerechtigkeit“22 unterscheiden und für die zweite votieren. Sie habe ein „moralisches Prinzip“, das „als fundamentum inconcussum“ fungiere, und das seien die „Menschenrechte“, die den „legitimen Grund“23 der Begründung abgeben. Von hier aus müsse und könne auch überhaupt erst „Teilhabegerechtigkeit“24 diskutiert werden, wie sie sich in den zahlreichen Referenzkontexten moderner Gesellschaften jeweils spezifisch stelle, allerdings – wie Forst als seine Variante des Rawlsschen Differenzprinzips25 radikalisiert – „dass die ‚worst off‘ ein ‚Vetorecht‘ in Verteilungsfragen haben“.26 Diese Kritik, wie die anderen grundlagentheoretischen Kontroversen, muss hier nicht ausgiebig diskutiert werden (und schon gar nicht können die Streitpunkte hier etwa aufgelöst werden). Bedeutsam für die Referenz auf das Bildungssystem und auf pädagogische Verhältnisse ist allerdings die Unterscheidung von „prozeduraler“ und „substantieller“ Gerechtigkeit. Wie sinnvoll diese Unterscheidung ist und welche Folgen sie hat, das müssen, in den Prinzipienfragen, die Philosophen unter sich ausmachen, aber die öffentliche Debatte hat das Problem des Abwägens dennoch. In den konkreten Referenzen nämlich, also
21Rainer
Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 2007; zit. S. 13, S. 13 f. für die folgenden Zitate. 22Forst 2005, S. 29 spricht auch von „fundamentaler Gerechtigkeit“, die als eine „substanzielle Vorgabe prozeduraler Gerechtigkeit“ verstanden werden müsse. 23Forst: Das Recht auf Rechtfertigung, 2007, zit. S. 9. 24Der Begriff der „Teilhabe“ hat aktuell sowohl politisch als auch theoretisch weite Bedeutung, wie man für selbst für die Fixierung von Forschungsthemen sieht: BMBF (Hrsg.): Chancengerechtigkeit und Teilhabe. Sozialer Wandel und Strategien der Förderung. Berlin 2014; nicht zufällig wird – kritisch – diskutiert, ob sich Bildung hinreichend über „Teilhabe“ diskutieren lässt, vgl. Rahel Hünig: Bildung – Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe und selbstbestimmtes Handeln. In: Pädagogische Korrespondenz H. 47, 2013, S. 48–68. 25„Dass soziale Ungleichheiten nur dann als gerechtfertigt betrachtet werden können, wenn keine andere Verteilung den ‚Schlechtestgestellten‘ einer Gesellschaft ein mehr an Grundgütern einbringt“, wie Forst 2005, S. 29 erläutert, vgl. auch oben die zweite „Vorrangsregel“ bei Rawls. 26Forst 2005, zit. S. 29, für die Probleme der Teilhabegerechtigkeit im Sozialstaat ebd., S. 30 f., wo zwei Formen unterschieden werden: „das Ziel der basalen sozialen Inklusion“ einerseits, die „Realisierung fundamentaler Gerechtigkeit“ andererseits, konkretisiert als „eine Stärkung politischer Teilnahmemöglichkeiten derer, die über die geringsten Einflussmöglichkeiten verfügen“ (zit. S. 30).
408
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
b ereichsspezifisch, wie z. B. in Fragen der Bildung, muss nämlich konkret diskutiert werden, ob diese Unterscheidung sinnvoll ist. Innerhalb der Debatte über „Chancengleichheit“ wurde in der Pädagogik schon einmal eine vergleichbare Unterscheidung eingeführt und diskutiert, die von „formaler“ und „materialer Chancengleichheit“.27 Im Blick auf die konkreten Fragen der Gestaltung des Bildungssystems und von Bildungskarrieren erwies sie sich freilich bald als wenig aussagekräftig, weil sie dann z. B. in der Fixierung auf das Abitur als Kriterium doch gesellschaftlichen Indikatoren von Erfolg in der Bildung verhaftet blieb. Es konnte, jenseits der impliziten Abwertung aller Verfahrensrationalität, schon nicht hinreichend geklärt werden, was denn hier, im Bildungssystem, als gerechtfertigte Ungleichheit anerkannt werden sollte und welche Veränderungen z. B. zu Recht als „innovative Verbesserungen der Institutionen von Bildung und Ausbildung“28 zu gelten haben. Deshalb interessiert in einer bildungstheoretischen Diskussion vor allem, was man für die Fragen der Bildungsgerechtigkeit von Rawls (und seinen Kritikern) lernen kann, ob seine Annahmen über den Menschen und seine Handlungskalküle hier sinnvoll anzuwenden sind, und wie die Realisierbarkeit der Verfahren, die er vorschlägt, konkret im Bildungssystem aussieht. Dann zeigt sich, dass sie letztlich doch den Vorrang des „Prozeduralen“ anzeigen, weil sich erst operativ, im Prozess, entscheidet, welche Form von Bildungsgerechtigkeit je individuell legitim ist und wie sie zugleich im Bildungssystem realisiert und erreicht werden kann. Gegen die dominierend prinzipientheoretische Argumentation in der Debatte über Gerechtigkeit sind auch sehr ernstzunehmende Vorschläge für die hier bezeichneten Probleme entwickelt worden. Vor allem Michael Walzer hat in der Diskussion von „Sphären der Gerechtigkeit“29 die Frage der bereichsspezifischen Spezifikation von Kriterien der Gerechtigkeit diskutiert und dabei auch den Bildungsbereich als Exempel berücksichtigt. Es lohnt sich, auf diesen Vorschlag näher einzugehen, weil er in der Begründung bildungstheoretischen Fragen nahesteht und die Allgemeinheit der Kriterien so weit expliziert, dass auch die Selbstkonstruktion der Subjekte im Prozess in ihrer Bedeutung für die Ordnung des Bildungssystems diskutierbar wird. Ausgehend von einer Kritik an Rawls, hat Walzer gegen die dominierende prinzipientheoretische Argumentation seit Rawls zunächst die These entwickelt, dass „dass die Prinzipien der Gerechtigkeit in ihrer Form selbst pluralistisch sind“, so „dass verschiedene soziale Güter aus
27Damals
wurde vor allem in der SPD-nahen Bildungspolitik, oder bei den Gewerkschaften, aber auch in den begleitenden theoretischen Texten u. a. von Herwig Blankertz (vgl. z. B. ders.: Demokratische Bildungsreform, kapitalistische Systemerhaltung, politische Erziehungswissenschaft – Versuch einer Analyse aus Anlaß des Kollegstufenmodells Nordrhein-Westfalen. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 49(1973), S. 314–33) diese Unterscheidung eine Zeit lang genutzt – ohne dauerhaften theoretischen Ertrag. 28Wie Forst 2005, zit. S. 30 fordert. 29Michael Walzer: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality. New York 1983; dt.: M.W.: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. übersetzt von Hanne Herkommer. Frankfurt a. M./New York 2006.
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit
409
u nterschiedlichen Gründen von verschiedenen Instanzen und gemäß unterschiedlicher Verfahren verteilt werden sollten“. Für die Erklärung der dabei sichtbar werdenden Unterschiede hat er hinzugefügt, „dass sich alle diese Unterschiede aus den verschiedenen Verständnissen (understandings) der sozialen Güter selbst herleiten – dem unvermeidlichen Produkt eines geschichtlichen und kulturellen Partikularismus“.30 Walzer unterscheidet dann sehr scharf zwei unterschiedliche Kriterien der Verteilung von Bildung,31 die durch die Schule in „relativer Autonomie“ sowie auf Individuen und die soziale Reproduktion zugleich bezogen und realisiert werden (289). Schule und der weitere Bildungsprozess müssen sich dabei für die Lernenden biografisch, d. h. für ihn in der „Elementarerziehung“, zuerst vor der Erwartung der „einfachen Gleichheit“ rechtfertigen, die auch die „gemeinsame Arbeit für ein gemeinsames Ziel“ (300) einschließt. In der Nachfolge der in den USA dominierenden Schultheorie und Bildungssoziologie liefert bei Walzer die Schule als einheitliche Konstruktion des demokratischen Bürgers dafür auch die politisch-soziale Referenz und Begründung. Für die spätere Phase der Arbeit von Schulen „verliert die einfache Gleichheit ihren Sinn“ (301), „komplexe Gleichheit“ tritt an ihre Stelle, Individualisierung setzt ein und Ungleichheit wird legitimierbar. Walzer hält es für diese Phase nämlich gerechtigkeitstheoretisch für legitim, dass die Differenzen der Neigungen und der Leistung sowie die je individuellen und systemischen Erwartungen an differente Bildungs- und Berufskarrieren zu ihrem Recht kommen. Sogar die Praktiken der Zertifizierung, in Debatten über Bildungsgerechtigkeit nicht selten als Wurzel allen Übels und als verantwortliche Praktik für Separierung identifiziert, werden als schulische Form der Verteilung unter ausdrücklicher Betonung der je individuellen „Leistung“ gerechtigkeitstheoretisch bei Walzer als Kriterium anerkannt (301 f.). Das auf die Individuen egalitär zugeschnittene Bedürfnisprinzip und das universal geltende Leistungsprinzip werden also klar unterschieden und sequenziert, so wie das Bildungssystem auch organisiert ist. Diese Position von Walzer ist, erwartbar, nicht unkritisiert geblieben, auch unter verteilungstheoretischen Kriterien, scheinen damit doch Privilegien der sozialen Herkunft vom Bildungssystem ungefiltert und wenig kompensiert nach der Elementarerziehung wieder zur Geltung zu kommen, u. a. vom Leistungsprinzip scheinbar legitimiert.32 Die nach Walzer entbrannte und Walzer-bezogene Diskussion, Egalität und Differenz, Gleichheit und Gerechtigkeit im Bildungssystem zugleich zu befördern und ihre Vereinbarkeit und Einlösbarkeit zu 30Walzer
1983, S. 6, zit. nach Knoll, Manuel/Spieker, Michael (Hrsg.): Michael Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. Ein kooperativer Kommentar. Stuttgart 2014, S. 15. Ich zitiere hier diese Übersetzung nur, um die Schwierigkeiten zu bezeichnen, die Knoll und Spiecker mit der Übersetzung der deutschen Ausgabe signalisieren. Systematisch kann ich das Übersetzungsproblem hier auf sich beruhen lassen. 31Walzer, Sphären, 2006, S. 288–326. 32Schwaabe, Christian (2014): Erziehung und Bildung bei Michael Walzer: Schule der Gerechtigkeit? In: Knoll/Spieker (Hrsg.), Walzer. Sphären der Gerechtigkeit. 2014, S. 177–190.
410
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
r echtfertigen, dauert noch an. Systematisch wird damit zuerst aber nur ein weiterer Beleg für die These von Walzer geliefert, dass Pluralismus unvermeidlich ist, damit aber auch Dissens über das Verständnis der Güter: „Keine Interpretation der Bedeutung eines sozialen Guts oder der Grenzen des Bereichs, in dem es rechtmäßig seine Wirkung entfaltet (sphere within which it legitimately operates), wird unstrittig sein. Auch ist kein ordentliches Verfahren zur Hand, mit dem die unterschiedlichen Interpretationen entwickelt oder überprüft werden könnten“.33 Eine Lösung sehen seine Kommentatoren in der Verständigung über den Status der Referenzen, den Walzer vorschlägt: „Trotz dieser Schwierigkeiten geht Walzers Ansatz von den Bedeutungen der sozialen Güter aus, die ihnen beziehungsweise ‚unserem gemeinsamen Verständnis (shared understandings)‘ von ihnen innewohnen“. Lösungsvorschläge gibt es natürlich auch. Sie werden in der Regel in der Sequenzierung von Praxen und Kriterien gesucht, also prozedural, so dass Gleichheit für die Phase des Bildungsminimums bzw. der Grundbildung34, zunehmende Akzeptanz von Differenz und individuelle Zurechnung von schulisch erbrachten Leistungen danach gesucht wird. Das Thema der „komplexen Gleichheit“ wird inzwischen auch erziehungstheoretisch, u. a. bei Giesinger,35 und sozialphilosophisch, u. a. bei Gosepath,36 auch mit internationaler Referenz und sehr selbstständig behandelt, in der gerechtigkeitstheoretischen Legitimierung und in der differenten Zuschreibung der Funktion der Phasen des schulischen Lernprozesses und der damit angestoßenen je individuellen Bildungsbiografie ganz nah bei Walzer. In der Diskussion einer Sequenz von Bildungsminimum und weiterer schulischer Bildung als Strukturen der deutschen Diskussion zur Präzisierung des Sinns und der Möglichkeiten von allgemeiner Bildung werde ich – später, bei der Diskussion von Gleichheit im Bildungssystem – auf diese Unterscheidung von „einfacher Gleichheit“ und „komplexer Gleichheit“ in der Unterscheidung von „Grundbildung“ und erweiterter schulischer Bildung zurückkommen. Schon jetzt kann man aber festalten, dass es auch gerechtigkeitstheoretisch und nicht nur empirisch gute Gründe für die bildungstheoretische Annahmen gibt, dass die Konstruktion von Bildung notwendig die Konstruktion von Differenz bedeutet, und zwar ohne Verletzung der Kriterien einer gerechten Ordnung des Bildungssystems. Das schließt für das Problem der Rechtfertigung des Bildungssystems deshalb auch ein, dass im Ergebnis der Lernprozesse „nicht alle gleich viel haben“ müssen, schon gar nicht alle das Zeugnis der Hochschulreife, wie man mit Harry
33zit.
nach Knoll/Spieker, S. 17, auch für das folgende Zitat. Begriff der „Elementarerziehung“ ist im deutschen Kontext missverständlich, deshalb steht hier „Grundbildung“, in dem Sinne, wie sie im Folgenden weiter erläutert wird. 35Johannes Giesinger: Was heißt Bildungsgerechtigkeit? In: Zeitschrift für Pädagogik 53(2007), S. 362–381. 36Stefan Gosepath: What does equality in education mean? In: Kirsten Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford, New York (Routledge) 2014, S. 100–112. 34Walzers
21.1 Gerechtigkeit – Bildungsgerechtigkeit
411
Frankfurt nicht nur für materiellen Besitz, sondern auch für Bildungsgüter sagen darf und betonen muss.37 Aber auch „Bildungsgerechtigkeit“, das zeigt sich mit und trotz Walzer, wird nicht konsensual bestimmt, sondern in ganz unterschiedlichen Varianten präsentiert.38 Gibt es weitere Klärungsmöglichkeiten? Geht man zunächst wieder von Rawls aus, dann werden die im Prozess geltenden und zu beachtenden Grundsätze und Regeln – jetzt wieder: von Rawls – auf die Verteilung der „Grundgüter“ bzw. auf die Chance der Verfügung über diese „Grundgüter“ (111 ff.) sowie auf die entsprechenden „Institutionen“ bezogen, die solche gerechte Zuteilung leisten sollen. Das Bildungssystem, das ist unstrittig, gehört zu diesen Institutionen, die in Prozessen der „Verteilung“ der gesellschaftlich anerkannten „Grundgüter“ zentral sind (111 ff.). Grundgüter sind solche „Dinge, von denen man annimmt, daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte“, genauer, wie Rawls „die wichtigsten Arten der Grundgüter“ erläutert, sind das „seine Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen“, aber – und zunehmend von Bedeutung – auch das eigene „Selbstwertgefühl“ (112). Es sind also „gesellschaftliche Güter“ (113), und von hier aus wird auch „das Gute“ innerhalb einer „Theorie der Güter“ ausführlich erläutert (433 ff.). Zunächst – und für die hier diskutierten Themen – reicht es aber aus, „das Gute“ als „die Befriedigung vernünftiger Bedürfnisse“ (113) zu bestimmen. Das gerechtigkeitstheoretische Problem der „Verteilung“ entsteht, weil die Grundgüter „ungleich“ verfügbar sind, es gibt (aus welchen Gründen immer, das ist nicht Rawls erstes Problem) „Benachteiligte“ und „Begünstigtere“, sowohl im Blick auf die bürgerlichen Rechte als auch im Blick auf Vermögen und Positionen. Aber von Gerechtigkeit kann erst die Rede sein, wenn für Ausgleich gesorgt wird. Prospektiv ist Ungleichheit also nicht hinzunehmen, „faire Chancengleichheit“ ist notwendig, sowohl für die Bürgerrechte als auch für Einkommen und Vermögen und für „Befugnisse und Vorrechte der Ämter“. In diesen Dimensionen muss gerechte Teilhabe an den Gütern möglich werden. Ursachen der Ungleichheit, von denen die weniger Begünstigten betroffen sind, sieht Rawls in der sozialen Herkunft, aber auch in natürlichen Fähigkeiten oder in der konkreten Biografie (118). Ziel ist es für ihn, dass diese „unverdienten Ungleichheiten ausgeglichen werden“, aber das Ziel ist nicht eine egalitäre, sondern eine meritokratische Gesellschaft; denn es gilt zwar das Prinzip des Ausgleichs, aber das „Unterschiedsprinzip“ gilt
37Harry
Frankfurt: Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleich viel haben müssen. (2015) Berlin 2016. 38Lothar Wigger: Bildung und Gerechtigkeit – Eine Kritik des Diskurses um Bildungsgerechtigkeit aus bildungstheoretischer Sicht. In: Manitius/Hermstein/Berkemeyer/ Bos (Hrsg.), Zur Gerechtigkeit von Schule, 2015, S. 72–92 unterscheidet z. B. Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit.
412
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
ebenfalls fort. Differenzen bleiben akzeptabel, die individuelle Wahl wird in ihren Konsequenzen nicht dispensiert, der Primat der Freiheit zählt.39 In den philosophischen Debatten über die Konsequenz dieser Überlegungen für die Frage der Bildungsgerechtigkeit werden auch Themen und Probleme der aktuellen Theorie und Praxis im Bildungssystem abgrenzend diskutiert. Rawls, das zeigt sich dann, kann z. B. nicht für strikt egalitäre Positionen40 reklamiert werden, d. h. für bildungspolitische Forderungen, dass „jeder das Gleiche“ müsste erwarten können, also z. B. relativ zur Sozialschicht eine Beteiligung an Bildungszertifikaten, die präzise dem Anteil entspricht, den die jeweilige Schicht oder das soziale Milieu an der Gesamtpopulation hat. Rawls kann aber wohl auch nicht den suffizienztheoretischen Positionen zugerechnet warden, solchen Erwartungen also, die Gerechtigkeit erst dann gewahrt sehen, wenn notwendige Voraussetzungen der Sicherung von Teilhabe erfüllt werden. Er kann schließlich auch nicht zu den marktliberalen Theoretikern gerechnet werden, die in Bildungsprozessen schon von Beginn an Leistungen und Chancen nur nach der individuellen Performanz und Leistung zurechnen. Er hält besondere Fördermaßnahmen „für die Bildung der weniger Begabten“ (121) für notwendig und gerechtigkeitstheoretisch für begründet, allerdings dürfen solche Maßnahmen der „positiven Diskriminierung“ (wie man sie nennen könnte und wie sie z. B. aus der Geschichte sozialistischer Länder nach 1945 bekannt sind), nicht mit einer systematischen Benachteiligung der „Begünstigteren“ verbunden sein (also mit einem expliziten Ausschluss z. B. bürgerlicher Kinder zugunsten von Arbeiterkindern, wie in SBZ und DDR nach 1945). Maßnahmen für die „Begünstigteren“ müssen allerdings auch danach bemessen werden, wie damit „die Aussichten der am stärksten Benachteiligten beeinflußt werden“(Rawls 114), ohne dass man soziale Gerechtigkeit – wie Otfried Höffe hervorhebt – als „Universalschlüssel“ verstehen dürfe, „mit dem sich alle Türen staatlicher Alimentierung öffnen. Im Gegenteil rechtfertigt sie Ansprüche und begrenzt sie zugleich.“41 Als Kriterium der Bildungspolitik müsse gleichzeitig gelten, dass sie auch nicht-materiellen Erwartungen zu genügen sucht, z. B. „worth in enriching the personal and social life of citizens“,42 wie Rawls formuliert, so „dass Bildung einen Menschen befähigt, sich die kulturellen Werte seiner Gesellschaft zu erschließen und daran teilzunehmen und ihm dadurch ein sicheres Selbstwertgefühl verschafft“ (122). Angesichts der Vielfalt dieser Kriterien wird erneut deutlich bewusst, dass ohne einen Blick auf konkrete Realisierungsmuster und Verfahren, die mit den Institutionen und Praktiken der Verteilung etabliert werden, eine hinreichende
39„Jedem
steht die gleiche Freiheit zu, um einen beliebigen Lebensplan zu verfolgen, solange die Gerechtigkeit nicht verletzt wird.“ (114). 40Ich schließe in manchen Begriffen und Zuschreibungen hier z. T. eng an Kirsten Meyer: Bildung, Berlin 2009, bes. S. 155–170 an. 41Otfried Höffe: Soziale Gerechtigkeit: Ein Zauberwort. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 37, vom 12.09.2005, S. 3–6, der auch den „maternalistischen Fürsorgestaat“ (S. 6) abwehrt. 42Rawls, hier zit. nach Meyer 2009, S. 169.
21.2 Capability-approach – „Befähigungsgerechtigkeit“
413
Diskussion der allgemeinen Überlegungen nicht möglich ist. Walzer hat diese Perspektive schon eröffnet, aber selbst Rawls räumt ein: „Gerecht oder ungerecht ist die Art, wie sich die Institutionen angesichts dieser Tatsachen verhalten.“ (123)43 Auch hier dominiert also die operativ-prozedurale Dimension. In der Nutzung für bildungstheoretische Fragen und im Blick auf die Gestaltung des Bildungssystems wird Rawls deshalb auch nicht nur grundlagentheoretisch intensiv rezipiert, sondern auch in den konkreten operativen Konsequenzen und in der Angemessenheit für das Bildungssystem und für Bildungsprozesse, dann im Blick auf alle Dimensionen, den Micro-, Meso- und Makrolevel, für Fragen der Organisation wie der Interaktion, bezogen auch auf das Curriculum oder Formen und Folgen der Zertifizierung44 – allerdings, auch hier kontrovers, vor allem im pädagogischen Kontext. Dabei werden weitere Varianten allgemeiner Konzepte von Bildungsgerechtigkeit vorgeschlagen und intensiv diskutiert, v. a. der „capability approach“ und die Theorien von „Anerkennung“. Beide lohnen eine intensivere Diskussion, weil sie die revierspezifischen Probleme der Einlösung und Reflexion von Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem weiter erhellen.
21.2 Capability-approach – „Befähigungsgerechtigkeit“ Zu den bildungssystemaffinen Theorien der Gerechtigkeit, die in jüngeren Debatten international viel beachtet und auch in Deutschland rezipiert wurden, z. B. in der Sozialpädagogik, zählen vor allem Überlegungen, wie sie im sog. capability-approach der amerikanischen Sozialphilosophin Martha Nussbaum sowie, in durchaus unterscheidbarer Akzentuierung, vom indischen Ökonomen Amartya Sen vorgelegt wurden.45 Vor diesem Hintergrund wird z. B. die Ermöglichung von „Befähigungsgerechtigkeit“ als spezifisch pädagogische Zielformel
43Insofern
ist angesichts dieser „Wie“-Frage der Vorwurf auch nicht zutreffend, Rawls und seine Nachfolger konzentrierten sich auf Prinzipienfrage und reduzierten Politik auf Moralphilosophie und „das Management von Rechten“ (Vogelmann/Nonhoff), wie er u. a. in der Politikwissenschaft diskutiert wird (vgl. die Kontroverse zwischen Culp und Vogelmann/Nonhoff s.a. Anm. 67). 44Hier
liegt die Stärke des Bandes von Manitius/Hermstadt/Berkemeyer/Bos, Bildungsgerechtigkeit, 2015, der in zehn Beiträgen die Fülle der „Realisierungssphären von Gerechtigkeit im Schulsystem“ analysiert und dabei immer auch „ihre empirische Analyse“ mitberücksichtigt, also die Frage nach den aktuellen Formen und Möglichkeiten der Einlösung gerechtigkeitstheoretischer und bildungspolitischer Programmatik. 45Dazu Meyer, Bildung, 2009, bes. S. 95 ff.; innerhalb der Erziehungswissenschaft wird der capability approach besonders intensiv in der Sozialpädagogik aufgenommen, vgl. u. a. Hans Uwe Otto/Holger Ziegler (Hrsg.): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2009 sowie die distanzierte Rezension von Friedhelm Vahsen in https://www.socialnet.de/rezensionen/8703.php, Datum des Zugriffs 31.08.2013.
414
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
v. a. auch sozialpädagogisch der Bildungsgerechtigkeit zugeordnet46 und diskutiert. Nussbaum versucht dabei über die Festlegung von „Grundbedürfnissen“ das Referenzproblem der Erwartungen an die Bildungspraxis zu klären (in gewisser Weise also ‚substantiell’ zu argumentieren) und weist ihr dann die Aufgabe zu, die entsprechenden „Fähigkeiten“ zur Wahrnehmung der Grundbedürfnisse auszubilden. Damit ist sie nahe bei den Überlegungen von Sen, der freilich stärker in der Zuwendung zu und intensiveren Diskussion der operativen Praktiken der „Befähigung“ argumentiert als in dem Versuch, ein als vollständig ausgewiesenes und letztbegründetes System der „Grundbedürfnisse“ auszuarbeiten, wie Nussbaum das versucht. In der Diskussion der Vorschläge von Nussbaum und in der Rezeption von Sen wird diese Perspektive schon jetzt ausdrücklich in die Argumentationslinie der deutschen Bildungsdebatte und in einen weiten, nicht allein schulzentrierten Bildungsbegriff eingeordnet,47 schon wegen der gleichzeitigen Referenz auf individuelle Selbstkonstruktion und die gesellschaftliche Gestaltung von Angebotsstrukturen, also der Organisation des gesellschaftlichen Systems der Bildung im Lebenslauf. Auch das führt letztlich aber nicht zu prinzipientheoretischen Überlegungen, sondern zu Fragen der empirischen Forschung, die hier nicht weiterverfolgt werden müssen (schon weil sie noch einen sehr vorläufigen, konträr diskutierten Status haben). Aber ohne Zweifel wird dabei sichtbar, dass eine enge Verbindung von praktisch-philosophisch ansetzender Reflexion von Bildung (in allen denkbaren Varianten) und der empirischen Bildungsforschung (in jeder denkbaren Methodik) unbedingt erforderlich ist. Vor allem im Blick auf das Bildungssystem genügt es ja nicht, immer neu Prinzipien der Bildungsgerechtigkeit zu formulieren, gleichzeitig muss, einerseits, immer geprüft werden, ob denn die aktuellen Programme und Maßnahmen im Bildungssystem – von der Vorschule bis zu Praktiken lebenslangen Lernens – den Zielen und Erwartungen entsprechen, und andererseits, ob sie das Kriterium der Realisierbarkeit erfüllen. Denn ‚Sollen impliziert Können‘, wie ein alter Grundsatz lautet, und „nur realisierbare Veränderungen“48 haben deshalb Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. An dieser Stelle wird dann nicht so sehr das Defizit der praktisch-philosophisch ansetzenden Begründungsargumentation, als vielmehr die begrenzte Aussagefähigkeit der dominierenden empirischen Bildungsforschung sichtbar.
46In
der Rezeption von Hans-Uwe Otto und Holger Ziegler in Deutschland v.a. präsent, u.a. in, Otto/Ziegler (Hrsg.): Capabilities, 2009, sowie Nina Oelkers/Mark Schrödter: Soziale Arbeit im Dienste der Befähigungsgerechtigkeit. Wiesbaden 2008, sowie die Hinweise oben S. 182–184. 47So u. a. in Sabine Andresen/Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler: Bildung as Human Development: An educational view on the Capabilities Approach. In: Dies. (Hrsg.). Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden 2008, S. 165–197; dies.: Education and Welfare: A pedagogical Perspective on the Capability Approach. In: Freedom and Social Justice. Documentation of the 2006 International Conference of the Human Development and Capability Association. 2006. 48Meyer, Bildung, 2009, S. 162.
21.2 Capability-approach – „Befähigungsgerechtigkeit“
415
Vor allem die öffentlich viel beachteten large-scale-Studien nach dem Beispiel von PISA oder TIMMS und IGLU zeigen zwar in ihren Rankings die Differenz der Leistungen auf, die Schulsysteme erbringen. Sie präsentieren immer neu auch den Zusammenhang mit sozialstrukturellen Variablen, die auf soziale Disparitäten, von Schicht und Klasse zu Geschlecht und Migration, in den gemessenen Dimensionen verweisen. Insgesamt ist aber auch manifest, dass sie kein kausales Wissen anbieten, das für die Erklärung der Genese und Stabilität solcher Disparitäten aussagekräftig ist oder für die Neukonstruktion von Bildungssystemen praktisch-politisch unmittelbar oder auch nur so genutzt werden kann, dass unerwünschte Folgen von politischen Interventionen ausgeschlossen werden können. Die Bildungspolitik der USA liefert die fatalsten Belege für die fehlende Rationalität einer Bildungspolitik, die sich auf die outcome-orientierte Forschung verlässt.49 Vor allem die bei dem Hauptinterpreten der OECD, Andreas Schleicher, beliebte pädagogisch-politische Interpretation der Daten relativ zur Struktur von Bildungssystemen, dann binär als ‚einheitlich‘ oder ‚gegliedert‘ codiert, begründet solche politischen Maßnahmen nur scheinbar. Bei der differenziert-detaillierten Betrachtung der PISA-etc.-Daten bewährt sich die binäre schulsystembezogene Codierung nicht. Andere Faktoren, schon die je nationalen Kulturen der Wertschätzung von Bildung oder der Praktiken der Eltern, treten in ihrer Bedeutsamkeit hervor, damit aber auch Faktoren, die sich gegen einfache Übertragung in andere Kulturen ebenso sperren wie gegen politische Intervention und Manipulation. Ein ganz zentrales Argument aus der Debatte über Bildungsgerechtigkeit, das vor allem die Egalitaristen immer neu bemühen, nämlich die Messung der Teilhabechancen an den Ergebnissen von Bildungsprozessen, wird schließlich seit langem systematisch problematisiert, weil sowohl die historischen Befunde wie die systematischen Überlegungen zur Logik und Praxis von Bildungsprozessen solche Erwartungen ausschließen. Chancengleichheit im Bildungssystem, das hatten die internationalen Forschungen schon in der großen Expansionsphase der 1960/70er Jahre deutlich belegt und damit falsche Gleichheitsversprechen ernüchtert,50 kann sich nur auf Startchancen, nicht auf das Erreichen von definierten Zielzuständen beziehen. Man kann Gleichheitspostulate natürlich in der politischen Rede dennoch immer wieder auch ergebnisbezogen vortragen,
49Bei
Richard Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim/Basel 2018, Kap. 3: „No Child Left Behind? Corporate Education Reform in den Vereinigten Staaten“ (99–314) werden zur Schulpolitik der USA gesamtstaatlich und lokal beeindruckende Belege für die höchst problematische Praxis und die Folgen dieser Politik geliefert. 50In der deutschen Diskussion findet sich die klassische Analyse schon bei Heinz Heckhausen: Leistung und Chancengleichheit. Göttingen 1974 – und nur als Abwehr von Interpretationen, die Begrenzungsprogramme rechtfertigen wollen: die Aufgabe der individualisierten Förderung der Lernenden wird damit nicht eingeengt, sondern erst eröffnet, aber sie verstärkt Varianz, erzeugt nicht Egalität.
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
sie werden deshalb noch nicht realisierbar.51 Bildungstheoretisch sollte das am wenigsten erstaunen, ist doch Individualisierung, also die Ermöglichung je differenzierter Bildungsgänge, nicht nur das Programm, sondern auch die Logik der Praxis von Bildungsprozessen. Das Bildungssystem ist, mit anderen Worten, ein System, das seiner Logik nach Differenzen erzeugt, und zwar nicht nur normativ, wenn es dem eigenen Programm der individuellen Ermöglichung von Selbstkonstruktion im Lebenslauf nicht widersprechen will, sondern auch nach seiner Praxis, die das Entstehen von Differenz gar nicht verhindern kann, weil es der Logik des Lernens entspricht. Weil also nicht Gleichheit im Ergebnis angezielt werden kann, dann sollten die Erwartungen an die Bildungspolitik, so wird deshalb schon vorgeschlagen, statt extensiver Programme der Egalisierung eine Strategie verfolgen, in der Lernerfolge allein bis zur „Schwelle“ der Sicherung für alle52 institutionell garantiert werden. Das bildungstheoretisch dafür angebotene Kriterium lautet dann z. B., durch das „Bildungssystem jedes Kind zu einem guten Leben in der Gesellschaft zu befähigen, und das heißt zu autonomer Lebensgestaltung unter Teilnahme am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Leben der Gesellschaft.“53 Darüber hinaus, so die These, habe das Bildungswesen keine weitere egalisierende Verpflichtung. Aber dieses Ziel ist, trotz impliziter Selbstbegrenzung, schon so ehrgeizig formuliert, dass es nur als ein Kriterium für Gerechtigkeit nicht mehr diskutiert werden kann, sondern im Blick auf die Strukturen des Bildungssystems und die von ihm erwartbare Egalisierungsleistung insgesamt gesehen werden muss. Erkennbar bedarf es deshalb auch noch der operativen – z. B. curricularen – Umsetzung, darauf werde ich bei der Diskussion von Gleichheit als Kriterium der Bildungsorganisation zurückkommen. Zunächst ist als Erweiterung der Grundverständnisse von Bildungsgerechtigkeit den bisher diskutierten Modellen der Zuteilungs-, Verfahrens- und Teilhabegerechtigkeit ein Modell hinzuzufügen, das nicht nur das Sollen und das Können der pädagogischen Praxis problematisiert, sondern auch die Frage aufwirft, ob
51Roland
Reichenbach: Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik. Paderborn 2018 rechnet solche Forderungen im öffentlichen und pädagogischen Diskurs über „Gleichheit und Ungleichheit“ im Bildungssystem zum „Arsenal der gefälligen und politisch korrekten Artikulationen“ ohne systematische Geltung (zit. S. 115). 52Das Argument findet sich bei Griesinger, u. a. in Was heißt Bildungsgerechtigkeit? In: Zeitschrift für Pädagogik 53(2007). Im Plädoyer für die Garantie eines „Bildungsminimums“ als zentraler Aufgabe der Bildungsorganisation werde ich das Thema im nächsten Abschnitt im Kontext der Gleichheitsthematik weiter diskutieren. 53Als Konsequenz der Diskussion einschlägiger, v. a. us-amerikanischer Debatten, so Giesinger, Bildungsgerechtigkeit, 2007, zit. S. 377. Giesinger entwickelt sein Programm, weil er das „Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit“ für problematisch hält (ebd., S. 373 ff.), d. h. (i) die Annahme der „Neutralisierung sozial bedingter [aber nicht natürlicher] Ungleichheit“, (ii) wegen des ungeklärten Verhältnisses zur Familie und der damit verbundenen Legitimität von Interventionen, (iii) wegen der Abwertung aller sozialer Ungleichheiten, auch solcher, die als legitim akzeptiert werden, und (iv) wegen der insgesamt nicht akzeptablen Implikationen strikter Gleichheitsforderungen.
21.3 Anerkennungsgerechtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive?
417
sich das Bildungswesen überhaupt zum Agenten der Eröffnung von Chancen der Teilhabe z. B. an Positionen, Einkommen und Vermögen außerhalb des Bildungswesens machen soll und, schärfer noch, ob es das gerechtigkeitstheoretisch überhaupt darf.
21.3 Anerkennungsgerechtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive? Besonderer Aufmerksamkeit in dieser Frage erfreut sich innerhalb der Pädagogik und der in ihrem Kontext diskutierten Bildungsprogramme und -theorien in jüngerer Zeit der Versuch, in der Aufnahme der von Axel Honneth entwickelten Theorie der „Anerkennung“54 auch Fragen von Bildung und Erziehung neu zu behandeln. Das findet sich in unterschiedlichen Problem- und Handlungskontexten,55 von der Sonderpädagogik und der allgemeinen Didaktik bis zur Bildungstheorie,56 freilich ohne dass der Begriff der Anerkennung bisher den Status eines pädagogischen Grundbegriffs gewonnen hätte.57 Dennoch, für die Diskussion von „Bildungsgerechtigkeit“ ist vor allem die Aufnahme und bildungs- sowie erziehungstheoretische
54Ausgangspunkt
war Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 1992. 55Eine frühe und zumal für die Sonderpädagogik und Grundschulpädagogik sehr wirkungsvolle pädagogische Rezeption der Arbeiten von Honneth bei Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen 1993 (3. Aufl. 2006). 56Bildungstheoretisch jetzt u. a. Eva Borst: Anerkennung des Andern und das Problem des Unterschieds. Perspektiven einer kritischen Theorie der Bildung. Baltmannsweiler 2003; Eva-Maria Klinkisch: Halbbildung oder Anerkennung? Perspektiven kritischer Bildung in der Gegenwart. Weinheim/Basel 2015 verbindet die Zeitdiagnose der Adorno/Horkheimer-Tradition mit Honneths These und liest ihn als „normativen Anker“ und als zuverlässige Analyse der „Paradoxien bzw. Pathologien gesellschaftlicher Verfasstheit“ (zit. S. 228), allerdings ohne Paradoxien von Pathologien präzise zu unterscheiden; allgemeindidaktisch ist die Rezeption z. B. bei Fritz Bohnsack: Wie Schüler die Schule erleben. Zur Bedeutung der Anerkennung, der Bestätigung und der Akzeptanz von Schwäche. Opladen/Berlin/Toronto 2013, im internationalen Kontext auch Heikki Ikäheimo: Anerkennung. Berlin/Boston 2014. 57Der Begriff fehlt z. B. noch in den lexikalischen Werken der pädagogischen Grundbegriffe seit den 1990er Jahren. Es gibt ihn z. B. weder in Dieter Lenzen (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. 2 Bde. Reinbek 1989 (und entsprechend auch nicht in der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft), noch in Horst Schaub/Karl G. Zenke: Wörterbuch zur Pädagogik München 1995 oder in Heinz-Elmar Tenorth/ Rudolf Tippelt (Hrsg.): Beltz-Lexikon Pädagogik. Weinheim/Basel 2007 [ND 2012]. Auch im Register von Armin Bernhard/Lutz Rothermel (Hrsg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Weinheim 1997 oder im Register von Hannelore Faulstich-Wieland/Peter Faulstich (Hrsg.). Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 2008 fehlt „Anerkennung“, genauso wie in Klaus-Peter Horn u. a. (Hrsg.): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft. 3 Bde. Bad Heilbrunn 2012 (aber dort gibt es auch weder Bildungsgerechtigkeit noch Gerechtigkeit als Lemmata).
418
21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Fortentwicklung Honnethscher Ideen produktiv und zugleich diskussionswürdig geworden, die Krassimir Stojanov vorgelegt hat.58 Im Versuch, „Bildungsgerechtigkeit“ für die Bildungs- und Erziehungstheorie und auch für die Handhabung in der Praxis zu präzisieren und begrifflich zu bestimmen, hat er den bekannten Varianten und zentralen Themen der Gerechtigkeitstheorie, also den Fragen von Verteilung und Ausgleich, Teilhabe und Befähigung, die für bildungstheoretische Fragen für ihn notwendig zu ergänzende Theorie der „Anerkennungsgerechtigkeit“ hinzugefügt. Eine Diskussion seiner kritischen Analysen und seiner eigenen konstruktiven Vorschläge lohnt vor allem deswegen, weil Stojanov am Ende auch so konkrete prozedurale Fragen behandelt wie die, ob schulische Leistungsbeurteilung moralisch gerechtfertigt sein kann und legitim möglich ist. Ausgangspunkt seiner bildungstheoretischen Kritik an den vorliegenden allgemeinen Theorien der Gerechtigkeit sind zwei Einwände, einer der Ethik, der andere gewissermaßen der empirischen Bildungsforschung entlehnt. Sein ethischer Einwand lautet, dass die zentrale Implikation der Gerechtigkeitstheorien – dass ein Individuum, dessen Benachteiligung man thematisiert, zum Objekt des Ausgleichs nur werden könne, weil und wenn man es als ein autonomes Subjekt behandeln könne und müsse, dem seine Handlungen also auch selbst zurechenbar sind, – in der Pädagogik nicht zutreffe. Hier existiere noch kein autonomes Subjekt, das werde vielmehr in pädagogischen Prozessen unter dem Anspruch der Bildung überhaupt erst erzeugt. In Prozessen von Bildung und Erziehung gehe es deshalb, immer und systematisch und wenn sie Legitimität beanspruchen wollen, überhaupt erst um die „Entwicklung der Autonomiefähigkeit“,59 noch nicht um die Zurechnung von Handlungen und ihren Folgen, etwa von schulisch erbrachten Leistungen, auf bereits autonome Subjekte. Entsprechend spiele auch die Umverteilung von Gütern allenfalls eine sekundäre Rolle (12). Empirisch, in diesem Fall sozialisationstheoretisch, und damit zugleich für die Metaregel eines ethischen Arguments brauchbar – denn „Sollen impliziert Können“ –, wird dieses Argument weiter dadurch zu stützen gesucht, dass Stojanov darauf hinweist, dass man schließlich auch nicht können kann, was man offenbar soll, wenn man der Bildungsgerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen will. Das heißt, man könne den Kindern bzw. Jugendlichen schon deswegen Leistungen nicht zurechnen, weil sie „abhängig“ seien, „von Umgangsformen und Praktiken“ der pädagogischen Interaktion. Sie seien in der Leistungserbringung dagegen nicht von eigenen „Ressourcen“ abhängig, die man ansonsten, in der Logik der Verteilungsgerechtigkeit, ihnen selbst zuweisen könne und zuweisen können müsse, so dass es auch keine „Verteilung … nach dem „Verdienst des Einzelnen“ geben könne, schon weil man nach individueller Leistung im pädagogischen Kontext
58Die
Beiträge sind jetzt gesammelt in Krassimir Stojanov: Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktion eines umfassenden Begriffs. Opladen 2011, danach die Zitationen sowie die Nachweise (in Klammern) im Text, ohne weitere Nennung der Titel der einzelnen Unterabschnitte, denn der Autor will den Text offenbar als Einheit verstanden wissen. 59So bereits Stojanov 2011, im Vorwort, zit. S. 6 f. (u.ö.), auch für das folgende Zitat.
21.3 Anerkennungsgerechtigkeit – die genuin pädagogische Perspektive?
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(noch) nicht zuteilen könne. „Zwei Grundbedingungen jeden Bildungsprozesses“ würden in den bekannten Theorien also „verfehlt“: erstens, „daß die Subjekte noch nicht mündig sind und deshalb nicht als eigenverantwortliche … behandelt werden können“, weil ihre „Vernunftautonomie“ (18) nicht vorausgesetzt werden könne, und zweitens, dass die „Offenheit“ des Bildungsprozesses verletzt werde, weil den Individuen im Bildungsprozess bzw. im schulischen Lernprozess in den Erwartungen und Unterstellungen an „Leistung“ und „Begabung“ – d. h. auch für die Feststellung ihres Status als „Begünstigte“ oder „Benachteiligte“ – feste Fähigkeiten zugeschrieben würden, „genetisch und familiär-sozialisatorisch“ (20, auch 92 u. ö.). In der Schule würde das sogar in einer Weise praktiziert, dass die Lernenden „mit einer essentialistischen Festlegung auf vermeintliche Begabungen“ (6, s. a. 20 f.) konfrontiert würden, d. h. mit einer Zuschreibung quasi nativistischer Natur, die auf naturgegebene Anlagen setze und mit der offenen Logik von Bildungsprozessen „wohl kaum vereinbar sein dürfte.“ Anerkennung, in den Dimensionen von „Empathie, Respekt und sozialer Wertschätzung“ (19, u. ö.) bilde dagegen überhaupt erst „die normative Infrastruktur jener Sozialbeziehungen …, die die Entwicklung der Subjektautonomie aller Educanden ermöglichen“ (7). Sie werde deshalb auch als Kategorie notwendig, um die Voraussetzungen für Bildung und d. h. für ihn auch für „Autonomiefähigkeit“ erzeugen zu können, die Gerechtigkeitstheorien für die Individuen schon voraussetzen. Die „Erfahrung der Beschämung, der Entwürdigung und der Geringschätzung“, die für Stojanov offenbar notwendig mit der Zurechnung von Leistungen auf Individuen verbunden ist, erweise sich dagegen als „Behinderung der Entwicklung ihrer Autonomiefähigkeit“ (21). Die derart entfaltete Logik des Bildungsprozesses schließe dann sowohl technisch und empirisch als auch moralisch aus, dass dieser Prozess in Schulen durch andere Erwartungen und Implikationen überformt und behindert werden dürfe und könne. Vollends schulische Selektion, also die Bewertung individuell erbrachter Leistungen nach universalistischen, in der Schule für alle gleich gehandhabten, in Zeugnissen verfestigten und die Biografie beeinflussenden Kriterien sei nicht nur „moralisch unzulässig“,60 sondern ebenfalls den gewünschten Kriterien nach unmöglich und schädlich. Was ist von dieser eindeutigen und in der Kritik sowohl an der Wirklichkeit von Schule als auch gegenüber den anderen Gerechtigkeits- und Bildungstheorien scharfen und kritisch ambitionierten Argumentation zu halten? Was ist vom Bild des lernenden Kindes zu halten, das hier als Ausgangsdatum für schulische Arbeit gezeichnet wird? So sympathisch natürlich das Plädoyer für Anerkennung ist – wer will schon Kinder beschämen, entwürdigen oder herabsetzen? – so wenig man auch die damit verbundenen prosozialen Verhaltensweisen von „Empathie,
60Stojanov
2011, S. 7, bes. das Kapitel „Darf und soll die Schule selektieren?“ In: ebd., S. 183– 196. Nachweise künftig in Klammern im Text. Stojanov wiederholt seine Argumentation in K.S.: Leistung – ein irreführender Begriff im Diskurs über Bildungsgerechtigkeit. In: A. Schäfer/Ch. Thompson (Hrsg.): Leistung. Paderborn: Schöningh 2015, S. 135–150.
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Respekt und sozialer Wertschätzung“ (19, u. ö.) oder die „Qualität von Sozialbeziehungen“ (39) als Thema einer allgemeinen Sozialtheorie61 abwerten will, für die Klärung der Fragen der Bildungsgerechtigkeit zumal in Referenz zum Bildungssystem halte ich die gesamte Argumentation in ihren theoretischen und empirischen Annahmen über die Bedingungen des Bildungsprozesses, über die förderlichen wie die störenden Bedingungen, für erziehungs- und schultheoretisch unausgewiesen, jedenfalls für zu eng, und auch die damit verbundenen Implikationen der bildungstheoretischen Argumentation für problematisch.62 Für eine Akzeptanz der Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungsgerechtigkeit, gar für einen Ausschluss anderer Konzeptionen von Bildungsgerechtigkeit aus dem Bildungssystem und aus öffentlich organisierten Bildungsprozessen spricht deshalb auch wenig. Bei dieser Kritik, die ich nachfolgend entfalten will, um zugleich ein angemesseneres Konzept von Bildungsgerechtigkeit weiter zu begründen, kann man im bildungstheoretischen Kontext noch ganz von der Tatsache absehen, dass Honneths Referenzkonzept sich einer offenbar nicht unstrittigen Lesart der Hegelschen Anerkennungstheorie verdankt,63 und zugleich, ohne dass diese Kritik hier aufgenommen werden soll, auch in ihrem Status als „kritische Theorie“ scharf problematisiert wird.64
61Eine Übersicht zu denkbaren Interpretationslinien u. a. Alfred Schäfer/Christiane Thompson (Hrsg.): Anerkennung. Paderborn (usw.) 2010. 62Eine systematische, von den spezifischen handlungstheoretischen Problemen und Praktiken der Erziehung ausgehende Kritik an der Übernahme von Honneths Anerkennungskonzept findet sich bei Werner Helsper/Sabine Sandring/Christine Wiezorek: Anerkennung in pädagogischen Beziehungen. In: W. Heitmeyer/P. Imbusch (Hrsg.): Integrationspotentiale einer modernen Gesellschaft. Wiesbaden 2005, S. 179–206 sowie bei Dietrich Benner: Über Anerkennung und Macht in pädagogischen Kontexten. In: C.Thompson/S.Schenk (Hrsg.): Zwischenwelten der Pädagogik. Festschrift für Alfred Schäfer. Paderborn 2017, S. 139–153. 63So argumentiert jedenfalls, sich selbst als „Euphoriebremse“ (113) in der Rede von Anerkennung attribuierend, aber textexegetisch mit guten Argumenten, Martin Sticker: Hegels Kritik der Anerkennungsphilosophie. Die Aufhebung verwirklichter Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Studien 49 (2015), S. 89–122, wobei er v. a. und explizit auch gegen Honneth betont, dass Hegel sich zwar „der Bedeutung von Anerkennung für die soziale Welt bewusst ist, … dass er aber auch skeptisch ist, was das konfliktlösende Potential von Anerkennung angeht.“ (S. 90), also die Erwartung, die u. a. Honneth stark macht. In der Phänomenologie des Geistes werde deshalb auch „die Insuffizenz des Prinzips ‚Anerkennung‘ aufgezeigt.“ (ebd.) Sie zeige sich darin, dass die Anerkennung der Subjektivität der Individuen durch die normative Struktur der Kontexte limitiert ist, in denen sie agieren. 64Für diese Kritik steht jetzt auch nicht mehr nur der eifernde Ton von Heinz Gess und sein kritiknetz.de, sondern auch eine beginnende internationale Debatte, vgl. u. a. Michael J. Thompson: Das Scheitern des Anerkennungsparadigmas in der neuen Kritischen Theorie. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 75, 40(2017)2, S. 116–129.
21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit …
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21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem Der zentrale Einwand, auf den sich meine Kritik stützt, ist schultheoretischer Natur. Die von da aus begründete Kritik, nicht nur an Stojanov, betrifft sowohl die Annahmen über die Funktion der Schule in der Gesellschaft als auch die Zuschreibungen an die Muster, die ihre Organisation prägen. Die Kritik gilt auch den Unterstellungen über die in schulischen Lernprozessen vorausgesetzte bzw. als möglich oder nicht-gegeben behauptete Mündigkeit oder Unmündigkeit des Kindes und der Lernenden insgesamt. Die Kritik gilt aber vollends der Prämisse, schulische Arbeit betrachte heute Kinder mit einem nativistischen Begabungsbegriff, denn davon kann überhaupt keine Rede sein, weder programmatisch noch praktisch. Stojanov, das ist seine erste problematische Prämisse, betrachtet die Schule in ihrer Funktionsweise zwar primär aus der Perspektive des Kindes, also, scheinbar in der Sozialdimension, aber in der Analyse dominiert nahezu monistisch die Rücksicht auf einen einzigen Aspekt der sozialen Dimension des Lernens, die Adressierung auf Individuen und deren Anerkennung.65 Deren Bedeutung wird ja niemand bestreiten, aber in der anerkennungstheoretisch-individualistischen Fixierung auf diese Dimension gerät schon für die soziale Dimension nahezu vollständig aus dem Blick, dass Lernen in Schule immer Lernen in Gruppen bedeutet und zugleich immer ein Lernen in professionell betreuten Gruppen und Lernformen, die ihren Adressaten nur in einer Rolle, der des Schülers, betrachten. Gleichzeitig wird überhaupt nicht thematisiert, dass Schule auch eine Sach- und eine Zeitdimension kennt. Erst in der Einheit der drei Dimensionen des Sozialen, der Sachdimension, die das Curriculum repräsentiert, und der Zeitdimension, die von den Bildungszeiten der Subjekte und der objektiven Zeit der Organisation bestimmt ist, kann man Schule auch bildungstheoretisch verstehen. Erst dann wird sie als ein Ort verstehbar und analysierbar, in dem durch Mechanismen der Vergesellschaftung Prozesse der Individuation eröffnet werden. Blendet man aber die gesellschaftliche Seite der Schule aus, etwa die Präsenz eines obligatorischen Curriculums oder die Tatsache nicht nur individueller oder sozialer, sondern auch sachlicher Gütekriterien oder die Bedeutung der Organisation neben der Interaktion oder die Präsenz professioneller Arbeit, dann verliert Schule die Funktion, die man auch bildungstheoretisch erwartet, die auch erst ihre Legitimation garantiert und dann auch die Möglichkeiten eröffnet, die man sich von Schule – so begründet wie realistisch – erhoffen kann.
65Diese
Perspektive bestätigt sich auch in seinen explizit schultheoretischen Bemerkungen, in denen er sich auf Hegel beruft, dabei aber die Schulreden ebenso marginalisiert wie die Rechtsphilosophie, vgl. Krassimir Stojanov: Schule als Ort der Selbst-Bildung. In: J. Hagedorn (Hrsg.): Jugend, Schule und Identität. Wiesbaden 2014. S. 153–164.
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
Was heißt das, bezogen auf die Vorstellungen von Bildungsgerechtigkeit im Detail? Schließt dieses Kriterium notwendig jede Leistungsbewertung aus, wie Stojanov behauptet, weil sie den Subjekten die Anerkennung verweigert, auf sie Anspruch haben, um mündig werden zu können? Entmündigt Leistungsbewertung, verhindert sie Autonomisierung?66 Die Analyse der grammar of schooling, das ist der erste konkrete Einwand, zeigt, dass organisiertes Lernen eine Einrichtung ist, die listiger und nach einer anderen Logik arbeitet als ihre Kritiker denken. Man muss z. B. auch Leistungsmessung, den bewertenden Vergleich, die Erfahrung des oben und unten, des eigenen Scheiterns und des eigenen Erfolgs oder die Sichtbarkeit von Differenzen nicht in Schulen erst mühsam einführen, dann vielleicht sogar als eine ihrer Logik fremde Tatsache. Diese Phänomene, die asymmetrische Struktur eingeschlossen, sind vielmehr immer schon präsent, sobald man sich unter Bedingungen der Schule auf thematisch gebundene Kommunikation und die in dieser Kommunikation sichtbare Nutzung eines Codes von richtig vs. falsch bzw. besser vs. schlechter einlässt. Ohne eine solche Attribuierung, in der z. B. Lehrpersonen versuchen, dem Adressaten ihrer Arbeit in seiner Leistung „gerecht zu werden“,67 sind schulische Lernprozesse weder möglich noch analysierbar. Dann wird auch beides zugleich zum Thema, Vergesellschaftung und Individualisierung. Die je individuelle Beobachtung der eigenen Gegenwart im schulischen Kontext lehrt nämlich, wie die je individuelle Leistung im Vergleich zu anderen einzuordnen ist, und zwar zwingend, durch die Struktur der Schulklasse, und auch zunächst relativ unabhängig von der Tatsache, ob diese subjektive Leistung zugleich immer auch noch durch eine Lehrperson nach universalen Kriterien
66Besonders
scharf gegen Leistungsmessung nach universalistischen Kriterien Fritz Bohnsack: Wie Schüler die Schule erleben, 2013. In der Kritik an Stojanov und Bohnsack, die hier stellvertretend stehen, nehme ich auch Argumente aus einem älteren Text auf, der bei Bohnsack mehrfach zitiert und scharf kritisiert wird. Das ist ein unpublizierter Text, auf den er sich bezieht, ohne einen Fundort zu nennen (vgl. Bohnsack 2013, bes. S. 83 ff.). Zur Prüfung der Argumente lese man deshalb nicht nur Bohnsack, sondern auch H.-E.Tenorth: Ein Votum für Leistungsuniversalismus auch in Schulen – mit einer Warnung vor dem „antinomischen Blick“. Berlin 2007; der Text ist auf der website der Böll-Stiftung einsehbar: https://www.boell.de/downloads/ bildungkultur/Tenorth_Ein_Votum_fuer_Leistungsuniversalismus_2007-10-10.pdf. 67Diese grundlegende Tatsache unvermeidlicher – und deshalb schwierig zu bearbeitender – Praktiken der Adressierung und die ihnen inhärente „Heterogenität“ und Machtproblematik hat gegen die Dominanz der Ethisierung und Moralisierung vor allem Norbert Ricken betont, vgl. u. a. Norbert Ricken: Erziehung und Anerkennung. Zur Konstitution des pädagogischen Problems. In. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 82(2006), S. 215–230; Nicole Balzer/Norbert Ricken: Anerkennung als pädagogisches Problem – Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In. Schäfer/Thompson (Hrsg.), Anerkennung, 2010, S. 35–88; ders.: Anerkennung als Adressierung. Über die Bedeutung von Anerkennung für Subjektivationsprozesse. In: Alkemeyer/Budde/Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. 2013, S. 69–99; ders.: Was heißt „jemandem gerecht werden“? Zum Problem der Anerkennungsgerechtigkeit im Kontext von Bildungsgerechtigkeit. In: Manitius u. a., Gerechtigkeit von Schule, 2015, S. 131– 149 sowie in systematisierender Diskussion Henning Röhr/Norbert Ricken: Anerkennung. In: Weiß/Zirfaß (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, 2020, S. 513–525.
21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit …
423
recodierend bewertet wird.68 Die Selbstbeobachtung der je eigenen Position in der Gruppe reicht, um die Erfahrung der Differenz zu machen. Angesichts dieser Struktur wäre es eher kurios, diese alltägliche schulische Erfahrung durch professionelle Kommentare und andere Einordnungen, wie sie z. B. die von Leistung abstrahierenden Attribuierungen in der Emphase der „Anerkennung“ darstellen, oder durch den Verzicht auf die auch von Schülern gesuchte Kontrolle der Bewertung an einer objektivierende Außeninstanz, wie den Lehrer, systematisch entwerten, sachlich dispensieren oder kontinuierlich konterkarieren zu wollen. Die Lernenden wissen schon ohne die Aktivitäten der Lehrenden, nicht erst oder gar allein durch die herausgehobenen Akte der Zeugnisse, wo sie stehen. Sie gehen auch – wie man ebenfalls sieht, wenn man schul- und bildungstheoretisch auf die Schule schaut – selbständig mit solchen Erfahrungen um, z. B. in der Konstruktion ihres eigenen Leistungsselbstbildes oder mit Strategien des Selbstschutzes, indem sie z. B. die gute Leistung der anderen als Strebertum sekundär codieren und abwerten, oder die Erfahrung der eigenen Leistung durch neue Anstrengung beantworten. Wenn die empirische Schulforschung in der aktuell eindeutig dominierenden outcome-orientierten Perspektive solche Phänomene schon eher ausblendet, dann sollten Bildungstheoretiker das doch sehen können, behaupten sie doch, sich mit Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt zu befassen. Systematisch kann man solche Prozesse der Differenzerzeugung als notwendiges Element schulischer Arbeit nur vermeiden, wenn man Differenzerfahrung unmöglich macht, den schulischen Code suspendiert und einfach nur so kommuniziert, anerkennend z. B., wieStojanov vorschlägt. Aber warum sollte es dann noch Schulen geben? Wer hätte ein Interesse an einem solchen allein sozial definierten Gerede oder an der Reduktion der Schule auf eine therapeutische, auf die Entwicklung prosozialen Verhaltens reduzierte Struktur? Kinder nicht, Lernende nicht, die wollen nämlich wissen und erfahren, ob sie etwas richtigmachen, und ob es sich lohnt, hier und jetzt und später, also angesichts der Differenz je für sich legitimer Erwartungen. Das erfahren sie aber nur, wenn der schulische Code, also der Code der Differenz, erzeugend, korrigierend und/ oder bestätigend kommuniziert, d. h. selbstverständlich so adressatengerecht wie zugleich sachbezogen und nach ausgewiesenen Gütekriterien praktiziert wird, und wenn die Schule die Lernenden nicht um die spezifische Leistung der Schule betrügt und der Lehrer seines Amtes waltet – und zwar möglichst gerecht. Darauf läuft auch die Rawlssche Frage letztlich hinaus, dass sich erst an den Verfahren der Schule und in ihren Ergebnissen – und an der Arbeit in den anderen Bildungseinrichtungen, die ebenfalls an den Praktiken der Beobachtung und Rückmeldung von Differenz bis zur Bewertung und Zertifizierung beteiligt sind,69 – das Kriterium der Bildungsgerechtigkeit entscheidet. In der Interaktion
68Das
ist auch unabhängig von der Form der Bewertung, ob in Ziffern oder verbal. Varianz der Probleme in der Einheit der prozedural gestellten Aufgabe innerhalb des gesamten Bildungssystems dokumentieren die Beiträge in DLV/Josef Kraus (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit. Fachtagung 2008. Bonn 2009. 69Die
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
unter sachlichen, nicht allein individuell legitimierten Anforderungen ist es deshalb auch die Frage der gerechten Beurteilung, die entscheidend ist und von den Lernenden auch als erstes Kriterium für einen guten Lehrer gefordert wird und ja auch leistbar und bildungstheoretisch diskutierbar ist,70 natürlich in der Varianz, die man für solche herausfordernden Aufgaben sehen muss und zeigen kann.71 Es geht deshalb doch um die „Optimierung“ von Leistungsbewertung, nicht um ihre „Abschaffung“, wie Stojanov fordert (62). Seine Diskussion von „Praktiken der Ungerechtigkeit im Bildungswesen“ (Teil III, 121 ff.) ist bei dieser Problemlage auch deshalb so enttäuschend, weil er keine Praktiken diskutiert, sondern nur „semantische Figuren“ bildungspolitischer Chancengleichheitsrhetorik oder die Reflexion von Selektionspraktiken. Vollständig ausgeblendet werden die Praktiken selbst in ihrer Differenz und in der Fähigkeit, gerechte oder ungerechte Urteile zu formulieren, und zwar nach dem gesamten Set an relevanten Bezugsnormen, nicht nur individuell und sozial, sondern auch sachlich und ipsativ, also sensibel auch für die Prozessdimension individueller Anstrengungen. Anerkennungstheoretisch blind, kann Stojanov sich offenbar systematisch überhaupt nicht vorstellen, dass es so etwas wie „gerechte Ungleichheit“ gibt (er sollte Harry Frankfurt lesen72), und dass das schulische Leistungsurteil ein gutes Beispiel für die „korrektive“, also von einer „distributiven“ unterscheidbare Gerechtigkeit darstellt, weil es „hier.. um ein unparteiliches Urteil und nicht nur um eine Verteilung (geht)“.73 Versäumt man dieses Urteil, müsste man eher sagen, „daß es ungerecht wäre, eine bessere Leistung nicht höher zu bewerten als eine schlechtere. Das lässt sich nicht auf Gleichheit reduzieren“, wie Ernst Tugendhat zu Recht einwendet, oder kompensatorisch diskutieren, aber auch nicht, wie ich hinzufügen würde, anerkennungstheoretisch diskreditieren. Es verlangt schlicht professionelle Kompetenz. Der Vorschlag schließlich, lebenslaufrelevante Zertifizierung erst beim Übergang in die Hochschulen beginnen und sie dann auch
70Eine
auch gerechtigkeitstheoretisch überzeugende schulhistorische und -theoretische Analyse der Probleme, die dann warten, aber auch der Möglichkeiten ihrer Bearbeitung bis hin zur Notengebung, liefern Stephanie Hellekamps/Hans-Ulrich Musolff: Die gerechte Schule. Eine historisch-systematische Studie. Köln/Weimar/Wien 1999. Die Entgegensetzung von „Bildungsgerechtigkeit und Leistungsgerechtigkeit“, die Martin Heinrich praktiziert und dann sogar noch als Einlösung des Inklusionspostulats deklariert, überzeugt dagegen nicht, vgl. M.H.: Inklusion oder Allokationsgerechtigkeit? Zur Entgrenzung von Gerechtigkeit im Bildungssystem im Zeitalter der semantischen Verkürzung von Bildungsgerechtigkeit auf Leistungsgerechtigkeit. In: Manitius u. a., 2015, S. 235–255. 71Im Blick auf die Lehrer und ihre Praxis demonstriert das sehr luzide Kathleen Falkenberg: Gerechtigkeitsüberzeugungen bei der Leistungsbeurteilung. Eine Grounded-Theory-Studie mit Lehrkräften im deutsch-schwedischen Vergleich. Wiesbaden 2020. 72Harry G. Frankfurt: Ungleichheit. Warum wir nicht alle gleichviel haben müssen. (2015) Frankfurt a. M. 2016. 73Ich nehme zitierend ein Argument auf, das Ernst Tugendhat explizit am Beispiel schulischer Leistungsbewertung entwickelt hat, vgl. E. T.: Der Ursprung der Gleichheit in Recht und Moral. In: Ders.: Anthropologie statt Metaphysik. München 2007, S. 136–155, zit S. 153, auch für das folgende Zitat.
21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit …
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nach amerikanischem Muster von den Hochschulen praktizieren zu lassen (191 f.), ist selbst nicht unproblematisch, und zwar systematisch wie empirisch. Gerechtigkeitstheoretisch hat Walzer schon gezeigt, warum Zertifizierung in Phasen „komplexer Gleichheit“ durchaus rechtfertigungsfähig ist, empirisch kann man das in Ländern mit anderen Zertifizierungsmustern sehen. Vor allem die USA-Erfahrungen zeigen, wie eindeutig als „ungerecht“ die Entwertung aller schulisch erbrachten Leistungen durch die letztlich dann doch dominierenden Aufnahmepraktiken der Universitäten erfahren wird und wirkt, und gleichzeitig, dass Variablen der sozialen und der schulischen Herkunft dann stärker durchschlagen als im deutschen System.74 Harmloser oder besser ist seine Alternative jedenfalls nicht, nur wenig durchdacht. Das Curriculum schließlich darf man ebenfalls nicht ausblenden, wie es Stojanov tut, der sich zudem selbst noch in einen Kontext platziert, in dem mit der Ausblendung des Curriculums auch andere sachliche Prämissen des Lernens abgewehrt und abgewertet werden, z. B. Bildungsstandards. Auch er will offenbar einzig solche Maßstäbe für das Lernen akzeptieren, die von den lernenden Individuen selbst generiert und an ihnen gemessen werden.75 Man kann eine solche subjektzentrierte Position in der Begründung des Curriculums natürlich einnehmen, sie ist aus dem Kampf um das Curriculum76 durchaus bekannt, aber sie ist weder bildungstheoretisch noch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten unbestritten oder überhaupt unproblematisch. Bildungstheoretisch bleibt diese Perspektive hinter der traditionellen Reflexionsform zurück, die er meint beanspruchen zu können. Denn „vom Hegelschen Grundgedanken“ (19, auch 72 f.) ist die Ignoranz gegenüber dem Curriculum schon deswegen kaum geleitet, weil neben der Idee der „Anerkennung“ der Person, die sich ja tatsächlich bei Hegel findet, weder dessen Kritik an der notwendig zu überwindenden „Privatheit“ und Subjektivität der Schüler noch die lehrplantheoretische Dimension von Schule berücksichtigt wird. Hier wird ja, bei Hegel, aber nicht nur dort, die Widerständigkeit der Aufgabe, der Prozess der Entäußerung und Entfremdung über die themengebundene Arbeit zu einer wesentlichen Voraussetzung, um das Abstreifen der Subjektivität und Privatheit durch die Konfrontation mit gesellschaftlich legitimierten Herausforderungen möglich zu machen. Diese zentrale Aufgabe und Leistung von Schule finden sich in der Ausblendung der Sachdimension und der Universalität des Curriculums als Bezugsnorm bei Stojanov nun gar nicht wieder. Er lässt auch nicht die Anerkennung der Tatsache erkennen, dass schulisches Lernen ein Prozess ist, der nahezu notwendig
74Man
lese zur Ernüchterung Jerome Karabel: The Chosen. The Hidden History of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton. Boston/New York 2005. 75Besonders nachdrücklich und immer neu wird diese Position z. B. von Ulrich Herrmann oder Susanne Thurn vertreten – ohne damit schon akzeptabel geworden zu sein. 76Die Anspielung gilt Herbert M. Kliebard: The Struggle for the American Curriculum, 1893–1958, Bd. 3. New York/London. 2004; ich wähle Kliebard vor allem deswegen, weil die kindzentrierten Curricula ihre Schwächen gerade im us-System erwiesen haben.
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21 „Gerecht“ – die Legitimität öffentlicher Bildungsprozesse
mit Erfahrungen verbunden ist, die nicht nur beglücken, sondern auch enttäuschen können, schon weil man in allen ernsthaften Lernprozessen unausweichlich auch eigene Inkompetenz erfährt – man muss dafür nicht erst Goethe zitieren. Realitätsbewusste Schulpädagogen wissen nämlich auch, dass „Lernen … schmerzhaft“77 ist und sie definieren die Professionalität des Lehrers u. a. aus der Erwartung, dass er eine eigene Kultur des Umgangs mit den „Fehlern“ der Lernenden entwickelt. Schon die vielbeschworene Ursituation der Bildung, Platos Höhlengleichnis, geht von der Erschütterung der Individuen aus und verlangt Umkehr gegenüber ihrem bisherigen Verhaltensrepertoire. Stojanov aber suggeriert, dass es eine Pädagogik geben könne oder eine Schule, die solche Erfahrung systematisch vermeiden kann. Gerecht, das ist wiederum zu betonen, ist aber erst eine Schule, die mit solchen Erfahrungen umgehen kann und die Ursachen der Schule selbst, nicht Außenbedingungen zurechnet. Erst dann auch, das ist der letzte Punkt der Kritik an der Rhetorik der Anerkennung im pädagogischen Milieu, kann die Schule versprechen, wirklich an der Mündigkeit des Subjekts zu arbeiten. Mündigkeit nämlich, die mit der Theorie der Anerkennung den Lernenden noch abgesprochen wird, hat in der Pädagogik eine eigene Dimension, die auch Stojanov gar nicht bzw. nur unzureichend ins Kalkül zieht. Im pädagogischen Prozess wird nicht nur Bildsamkeit unterstellt oder der Adressat als die zu achtende Person, sondern auch bereits Mündigkeit zugeschrieben. Sie bedeutet hier, operativ, die Zurechenbarkeit für schulisch geforderte Leistungen und für die Performanz im Prozess, systematisch aber auch, in einer seit Fichte ja nicht unbekannten Als-ob-Unterstellung,78 die Mündigkeit der Person insgesamt (und nicht erst mit 1479). Durch diese pädagogische Zuschreibung und in dieser praxisregulativen Unterstellung, besteht die wesentliche kommunikative Bedingung der Ermöglichung von Mündigkeit und ihres Transfers in der Zeit und nach außen. Erst in dieser Struktur wird vom Lernenden auch systematisch gelernt, sich selbst als mündig wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Aus der zunächst probeweisen, ja anfangs vielleicht sogar kontrafaktischen Zuschreibung entwickelt sich ein stabiler Habitus, weil im Probehandeln experimentell erfahren und getestet werden kann, was Mündigkeit bedeutet.
77Fritz
Oser/Maria Spychiger: Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim/Basel 2005. 78Zu Fichte die Hinweise oben in Kap.I.5, I.6; die systematische Bedeutung solcher Als-Ob-Unterstellungen als unentbehrliche, aber höchst „nützliche Fiktionen“ hat v. a. Alfred Treml in seiner Erziehungsphilosophie ausgearbeitet, vgl. A.T.: Philosophische Pädagogik. Die theoretische Grundlegung der Erziehungswissenschaft. Stuttgart 2010. Treml argumentiert nicht nur im Anschluss an Niklas Luhmann, sondern nützt immer wieder auch Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als-Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Leipzig 1918. 79Stojanov, S. 192; aber das Datum gehört ins Strafrecht oder in die Religionsmündigkeit – die erfolgreich wahrzunehmen, grundlegend vollzogene Bildung schon voraussetzt.
21.4 Dem Lernenden „gerecht werden“ – Bildungsgerechtigkeit …
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Schule als Organisation, d. h. die Logik eines professionell betreuten Bildungssystems, ermöglicht genau diese paradoxe Leistung; denn sie ist „Spielraum und Ernstfall“ zugleich. Sie präsentiert und ermöglicht deshalb auch „Systemzwang und Selbstbestimmung“,80 und zwar uno actu, als Organisation, die in der Interaktion lebt. Wer sie auf eine der Dimensionen reduziert, z. B. den Ernstfall ausblendet oder die Organisationsförmigkeit nur kritisiert, wie Honneth das tut, der bringt sie – und die Lernenden – um ihre genuinen Möglichkeiten, deren Förderung sie zu Recht vom Bildungssystem erwarten. Pädagogen sollten deshalb ihren Beitrag zur Realisierung von Bildungsgerechtigkeit aus der prozedural-operativen Dimension heraus entwickeln, also aus der Gestaltung von Lernmöglichkeiten als Opportunitätsstrukturen, aus der Interaktion im Prozess und aus der Eröffnung und Begleitung von Bildungswegen und Lernchancen. Das ist der Beitrag, den sie für alle Lernenden erbringen können und den man ihnen zurechnen kann. Bildungstheoretiker sollten diesen Beitrag nicht dadurch entwerten, dass sie Bildungsangebote, -kriterien und Ergebnisse nur individualisieren und insofern um ihre objektive Geltung und Bedeutung bringen. Das ist eine Forderung der Bildungsgerechtigkeit, aber erst dabei entscheidet sich auch die Frage der Gleichheit im Bildungsprozess.
80Dafür
sind immer noch die Arbeiten Hartmut von Hentigs zur Theorie der Schule relevant, auch wegen der Paradoxa, in die er sich manövriert, die aber anzeigen, dass die Handlungsprobleme der Praxis zur Geltung kommen, vgl. H. v. H: Systemzwang und Selbstbestimmung. Über die Bedingungen der Gesamtschule in der Industriegesellschaft. Stuttgart 1968; ders.: Spielraum und Ernstfall. Gesammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung. Stuttgart 1969.
Kapitel 22
„Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
22.1 Gleichheit – gesellschaftliche Erwartungen, pädagogische Optionen, bildungstheoretische Kriterien Fragen der Gleichheit im Bildungsprozess, das ist die These der folgenden Überlegungen, sind eindeutig zu unterscheiden und auch unterscheidbar von denen der Allgemeinheit und der Gerechtigkeit. Die Kriterien sind zwar aufeinander beziehbar und im Prozess handelnd wie diskursiv aufeinander bezogen, aber sowohl in den Referenzen als auch in den Praktiken sowie in den Kriterien und den Modi ihrer Einlösung und Zurechnung doch different. Dabei lässt sich die Frage der Allgemeinheit über Bildung als Menschenrecht begründen und über den Begriff der Teilhabe und die Kanonfrage im Bildungssystem operationalisieren; sie schließt deshalb neben der Sozial-, auch die Zeit- und die Sachdimension im Bildungssystem mit ein. Der Begriff der Bildungsgerechtigkeit wiederum wird bildungssystemspezifisch letztlich über die Verfahren und Praktiken bestimmt, in denen das Bildungssystem in der Interaktion so operiert, dass es den Individuen, ihren Leistungen und ihren legitimen Ansprüchen nach universalen und individuellen Kriterien zugleich gerecht wird. Fragen der Gleichheit schließlich sind erst angemessen diskutierbar, wenn man neben den Akteuren auch Systemstrukturen mit einbezieht. Teilhaberechte können nur sinnvoll erfüllt und akzeptiert werden, wenn das Bildungssystem auch seine Versprechen einlöst, dass es Bildungsprozesse sind, die eröffnet werden; Verfahren können nur als gerecht gelten, wenn sie tatsächlich innerschulische Praxis gestalten, d. h. wenn je individuelle Performanz zum Gegenstand der Beurteilung nach universalistischen Kriterien wird und zugleich unverdiente Benachteiligung mit und innerhalb der schulischen Möglichkeiten kompensiert wird. In beiden Hinsichten entscheidet erst die Struktur und Qualität des Bildungssystems, ob Teilhabe gesichert ist und gerecht
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_22
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22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
praktiziert wird, damit die Erwartung eingelöst wird, dass es „Gleichheit“ in den Bildungsmöglichkeiten gibt. Welche Perspektive wird aber im Detail und kriterial mit dieser Frage nach der Gleichheit eröffnet, wenn nicht nur die Chance der Teilhabe gemeint ist oder die notwendige für alle Lernenden zu sichernde Bildungsgerechtigkeit im pädagogischen Prozess und seinen Verfahren? Alltagssprachlich und im politischen Diskurs1 wird Gleichheit aktuell meist als Chancengleichheit verstanden und über die für Individuen oder Kollektive gemessenen Teilhabechancen sowie die damit verbundenen Erfolgsraten im Bildungssystem bestimmt. Gleichheit gilt dann als erreicht, wenn es keine nicht legitimierbaren Nachteile, z. B. nach Geschlecht, Herkunft oder Migration gibt. Differenzen gelten als nichtlegitim, wenn sie anderen Faktoren als denen der individuellen Anstrengung und Leistung zurechenbar sind. Als der zentrale Indikator, der vermeintlich evident signifikante, pädagogisch und gesellschaftlich zugleich bedeutsame Unterschiede zur Geltung bringt, wird heute national wie international, z. B. in der OECD, das Abitur bzw. die Hochschulzugangsberechtigung gewählt. Politisch und in der Bildungsforschung sicherlich einfach handhabbar, ist dieser Indikator aber systematisch nicht ohne Probleme. Bei der bildungsphilosophischen Rechtfertigung von Gleichheit muss sich deshalb erweisen, ob Bildungstheorie die ihr eigene Perspektive auch gegenüber einer politisch als nahezu selbstverständlich geltenden Forderung wie „Chancengleichheit“ der Akteure behaupten kann. In der Hierarchisierung der Zertifikate und in der Privilegierung des Hochschulzugangs als Maß für Gleichheit, das zeigt sich dann als erstes Problem, reproduziert dieser Indikator zunächst nur die hergebrachte Hierarchie der deutschen Berechtigungen und die Abwertung nicht-akademischer Tätigkeiten und Ausbildungsformen. Der Indikator ist ferner, wie auch die OECD nach langen Jahren einer am Abitur fixierten Bewertungspraxis in der jüngeren Vergangenheit endlich einräumt, unsensibel gegenüber den national-kulturellen Spezifika der deutschen Bildungsorganisation, und er vernachlässigt schließlich auch die mit Bildungsprozessen verbundenen Lebenschancen, wie sich z. B. manifest an den Differenzen von Jugendarbeitslosigkeit zwischen den westlichen Industriestaaten
1Diese Perspektive dokumentieren die bildungspolitischen Programmtexte, wie sie aus unterschiedlichen Lagern, nicht nur der Parteien vorliegen, vgl. u. a. für die Parteien und aus deren Kommunikation mit Wissenschaft z. B. für die SPD und die Friedrich-Ebert-Stiftung z. B. Ute Erdsiek-Rave/Marei John-Ohnsorg (Hrsg.): Für ein Recht auf Ausbildung. Berlin 2013 oder Annette Fugmann-Heesing: Bildung: Wie wir wieder Spitze werden! Berlin 2011; für die Debatte im Umkreis der CSU und der Hanns Seidel-Stiftung Hans Zehetmair (Hrsg.): Zukunft durch Bildung – Bildung für die Zukunft. Ergebnisse des Bildungsforums I. München 2013, für die Evangelische Kirche z. B. Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2003; im ökumenischen Geist jetzt auch die Bildungspassagen in einem gemeinsamen Text beider Kirchen, vgl. Die Sozialinitiative der evangelischen und katholischen Kirche. EKD/Deutsche Bischofskonferenz 2014, in dem sie die „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ begründen und ausarbeiten und dann u. a. fordern: „durch Bildung die persönliche Entwicklung und gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt fördern“.
22.1 ... pädagogische Optionen, bildungstheoretische Kriterien
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zeigt, die höher ist, wenn der Grad der Akademisierung steigt und damit die Fixierung auf den Hochschulzugang dominiert. Gleichzeitig werden individuell gewählte alternative Bildungsgänge und (Berufs-)Biografien, z. B. der heute vielfach gewählte Weg über eine duale Berufsausbildung, Berufspraxis und nachholende Weiterbildung auch im tertiären System, auch dann als Misserfolg und Verstärkung von Ungleichheit, ja als individuell verfehlte Konstruktion von Bildungsgängen codiert, wenn sie im weiteren Lebenslauf zu Tätigkeiten führen, die z. B. besser bezahlt sind und auch subjektiv höhere Befriedigung verschaffen als etwa eine durchschnittliche Akademikerkarriere. Die Markierung von Gleichheit bzw. Ungleichheit von Bildung mit Hilfe des Abiturs bzw. allein über Bildungsabschlüsse bleibt also, bildungstheoretisch gesehen, innerhalb des Wertehorizontes der Bildungsbürger, monopolisiert deren Optionen, Bildung als Besitz zu reproduzieren, und ignoriert andere Lebenspläne und Berufskarrieren oder materiell und individuell differente Lebensformen. Damit wird aber zugleich und systematisch jede Form von Ungleichheit, das ist der wesentliche Einwand gegen diese Praxis, die aus einer im Bildungssystem codierten und dort beglaubigten Form von Differenz entsteht, als gesellschaftliche Ungleichheit beurteilt und als nicht legitim dargestellt. Aber es ist doch erst einmal nur pädagogische Ungleichheit, auf die man hier trifft, nämlich die unvermeidliche und kriterial auch rechtfertigungsfähige Markierung von Differenzen im Bildungssystem. Diese Verwischung der Differenz von gesellschaftlicher und pädagogischer Ungleichheit wäre unproblematisch, würde sie nicht mit der selbst noch problematischen Forderung oder Erwartung verbunden, dass gesellschaftliche Ungleichheit verschwinden würde, wenn es pädagogisch erzeugte Ungleichheit nicht mehr gäbe. Für das Bildungssystem ist das problematisch, weil es neben der strukturellen Überforderung falsche Annahmen über die Möglichkeiten des Bildungssystems nährt, ja die zentrale Tatsache sowohl vernebelt als auch verkennt, dass die Konstruktion von Differenz – die Individualisierung in der Universalisierung – das Funktionsprinzip des Bildungssystems darstellt. Gesellschaftliche Gleichheit lässt sich so gerade nicht erzeugen, auch wenn seit dem frühen 20. Jahrhundert immer wieder behauptet wird, solche Gleichheit sei z. B. dadurch erreichbar, dass alle Heranwachsenden aus bisher benachteiligten Schichten auf einen „Aufstieg durch Bildung“ hoffen dürfen, wenn sich das Bildungssystem nur genügend anstrengt. Aber die Aufstiegs-Forderung und das Aufstiegsversprechen haben selbst doch nur propagandistisch-politischen Status und verfangen sich in ihren eigenen Paradoxien.2 Wenn z. B. alle aufsteigen, dann kehrt im bekannten Fahrstuhleffekt nur die alte Ungleichheit auf neuem Niveau wieder, und wenn jeder Abitur hat, dann verliert das Zertifikat die sozial
2Zur Genese des Aufstiegs-Versprechens meine Hinweise oben in III.17.6, zur systematischen Kritik klar und eindeutig Helmut Heid: Zur Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 34(1988), S. 1–17, ders.: Aufstieg durch Bildung? Zu den Paradoxien einer traditionsreichen bildungspolitischen Parole. In: Pädagogische Korrespondenz H. 40, 2009, S. 5–24.
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distinktive Qualität und andere Kriterien und Mechanismen als die der schulischen Leistung erzeugen Differenz. Das bedeutet nicht, dass Aufstieg durch Bildung nur Illusion ist, eine Vielfalt von Exempeln widerspricht dem. Aber weder ist kollektiver Aufstieg oder gar die Auflösung gesellschaftlicher Hierarchie und Differenzierung zu erwarten, noch kann man übersehen, dass sozialer Aufstieg z. B. stark von Kohortenkonstellationen abhängig ist, also auch mit Glück und dem Zeitpunkt der Geburt, die man mit dem Bildungssystem nicht konterkarieren kann. Schon gar nicht kann man behaupten, dass durch die Ermöglichung von gleichen Lerngelegenheiten gesellschaftliche Ungleichheit strukturell beseitigt wird.3 Diese in den Prämissen wie in den Folgerungen also falsche Gleichsetzung von „gesellschaftlicher“ mit „pädagogischer“ Ungleichheit bzw. Gleichheit wird in der öffentlichen Diskussion meist noch mit der wie selbstverständlich gemachten Unterstellung verbunden, dass solche pädagogisch und früh im Bildungssystem erzeugte Differenz auch den gesamten Lebenslauf irreversibel prägt und dann auch noch mit der gleichen Ordnung und Hierarchie wie im Bildungssystem, ökonomisch wie politisch, in den Teilhabechancen wie in den kulturellen Praktiken, in den Lebensformen und in Dimensionen von Reputation oder je individuell definierter Lebenszufriedenheit. Davon kann aber keine Rede sein. Die Unterscheidung von Milieus, ihrer Reputation und ihrem Status folgt schon lange nicht mehr allein den bildungsbürgerlichen Kriterien, wie sie bis ins frühe 20. Jahrhundert galten, oder den alten Klassenstrukturen, wie man sie bis ins späte 20. Jahrhundert identifizieren konnte. Bildung – als Zertifikat wie als Modus der Lebensführung4 – spielt zwar für die Konstruktion sozialer Milieus zunehmend mehr eine Rolle, aber sie ist nicht allein deren konstitutives Prinzip.5 Schon die Einkommenshierarchie hat auch andere Wurzeln als die des schulischen Zertifikats, auch stärkere, wenn man nur an das Erbrecht denkt. Für die Verteilung von „Macht und Besitz“ und d. h. für die Konstruktion von Oberschichten bzw. Eliten ist Bildung, selbst die Zertifikathierarchie, vielleicht notwendige, sicherlich nicht hinreichende Bedingung. Nicht dass es ein ‚Oben‘ oder ‚Unten‘ in der gesellschaftlichen Struktur nicht mehr gäbe, im Gegenteil, aber es ist heute anders komponiert als früher, das klassische Bildungsbürgertum ist selbst eine Minderheit geworden.
3Eine
zwischen Skepsis und Emphase nüchterne Diskussion der Problematik findet sich jetzt in Transmission 06. Zwischen Dynamik und Ausgleich: Perspektiven für den sozialen Aufstieg. Düsseldorf 2012. 4Die spezifische Rolle von Bildung neben anderen Faktoren wird diskutiert in Erika Alleweldt/ Anja Röcke/Jochen Steinbicker (Hrsg.): Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität. Weinheim/Basel 2016. 5Informativ für diese Frage sind z. B. die Forschungen über soziale Milieus, die Michael Vester (allein und in Kooperation) unternommen hat, vgl. als Übersicht ders.: Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik. In: APUZ Aus Politik und Zeitgeschichte 44–45(2006), S. 10–17, und für den Zusammenhang von Bildung und Milieus auch die Abb. 1, S. 12; aktuell spiegelt sich das in der Diskussion über die Formierung neuer Mittelschichten, z. B. bei Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a. M. 2017.
22.1 ... pädagogische Optionen, bildungstheoretische Kriterien
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Bildungszertifikate und Berufsabschlüsse bilden aktuell wie historisch allenfalls notwendige, keineswegs mehr hinreichende Bedingungen der Konstitution von Milieus und ihrer Differenzen. Die hergebrachten Unterscheidungen werden vollends problematisch, wenn man sie zum Maßstab der Arbeit des Bildungssystems macht und als Kriterium für „Bildungs-Gleichheit“ bei der Beurteilung schulischer Arbeit und ihrer Effekte nutzt. Die spezifische Leistung, die das Bildungssystem erbringt, wird dabei ebenso wenig präzise bestimmt wie die Dimension der „Gleichheit“, die man im Prozess wie im Ergebnis von schulischer Arbeit als ihr Spezifikum wirklich erwarten kann. Konzentriert auf die Frage nach den Dimensionen und Kriterien einer bildungstheoretisch reflektierten, pädagogisch definierten und im Bildungssystem zu realisierenden Gleichheit ist es deshalb notwendig, nicht den politischen Formeln zu folgen, sondern Bildungs-Gleichheit als ein bildungstheoretisch offenes Problem zu sehen, eigenständig zu bestimmen und als realisierbar auch in die Praxis des Bildungssystems zu übersetzen. Pädagogische Gleichheit als gesellschaftlich erzeugtes und zu bearbeitendes Thema, das ist die These, die im Folgenden erläutert wird, sollte deshalb vom Bildungssystem aus bestimmt und bildungstheoretisch diskutiert werden, und zwar in dreifacher Hinsicht: i) von der Tatsache der Schulpflicht aus, wie sie für moderne Gesellschaften charakteristisch ist; denn dann stellt sich auch die Frage, ob Schulzwang und Bildungsanspruch sich vereinbaren lassen; ii) von den Strukturen der Leistungserbringung aus, weil sie für die Vergleichbarkeit pädagogisch-professioneller Arbeit in den Dimensionen der sachlichen und personellen Ausstattung und der Qualität des professionell betreuten Prozesses als die wesentliche Ermöglichungsform der je individuell erwarteten Bildungsgerechtigkeit betrachtet werden müssen; pädagogische Gleichheit soll schließlich iii) auch ergebnisbezogen diskutiert werden, und zwar soweit, wie man eine Bringeschuld des Bildungssystems, d. h. eine ihm genuin zurechenbare Leistung, wirklich unterstellen und für alle Lernenden wie für die Gesellschaft in den schulischen Referenzsystemen erwarten kann; denn auch unter Gleichheitserwartungen gilt natürlich: Sollen impliziert Können. In der Konzentration auf diese drei Referenzen und Dimensionen der pädagogischen Gleichheit, das sind die Dimension der Organisation, die Dimension der Leistungserbringung und die der Zurechenbarkeit von Ergebnissen, kann man die Debatte nicht nur empirisieren, sondern sie auch an aktuelle Versuche anschließen, einerseits die Qualität von Schule zu bestimmen, u. a. durch die Festsetzung von Standards für Curricula oder die Lehrerarbeit, andererseits ergebnisbezogen zu klären, was man als einzulösende Erwartung an Schule überhaupt formulieren kann. Das wird, wie schon in der Gerechtigkeitsdebatte angedeutet, in der Bestimmung von Suffizienzkriterien für die schulisch zu sichernde Bildung für alle geschehen, wie sie z. B. in der Diskussion von Schwellenwerten, Mindeststandards und kulturellen Basiskompetenzen gesehen werden können, die im Umkreis von PISA oder bei der Erörterung von Bildungsstandards Thema waren und bildungstheoretisch intensiv diskutiert werden.
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22.2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs Wenn Gleichheit in Bildungsprozessen in modernen Gesellschaften gesucht wird, dann existiert sie vor und trotz aller milieuspezifischen Differenz, wie man sie bei Zertifikaten oder in Status und Prestige natürlich ansonsten manifest erkennt, zuerst und für alle Lernenden im Lebenslauf und hier sogar unausweichlich. Als generelle Norm ist nämlich die Schulpflicht weltweit zur obligatorischen Form der Teilhabe am Bildungssystem geworden. Im Ursprung moderner Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert eingeführt und allmählich auch durchgesetzt, als Mechanismus der Nationenbildung und der sozialen Integration zuerst politisch definiert und mit spezifischen Erwartungen an moralische und kognitive Sozialisation verbunden, macht Schulpflicht jeden in gleicher Weise zum Objekt des „Schulzwangs“, wie der historische Begriff zu Recht sagt.6 Als Zwang wird er nicht nur von den Kindern, sondern vor allem von den Eltern erlebt, in deren Erziehungsrechte er eingreift und deren Recht zum Unterricht er vor allem dann beschneidet, wenn die Schulpflicht, wie in Deutschland seit 1918, in den öffentlichen staatlichen Schulen realisiert werden muss und nicht mehr auch im häuslichen Milieu, als Unterrichts- oder Bildungspflicht,7 erfüllt werden kann. Die Schulpflicht ist deshalb auch nicht nur kontinuierlich gefordert, sondern auch als exemplarischer Ausdruck der gesellschaftlich etablierten „erziehenden Gewalten“ von Beginn an und bis heute immer legitimationsbedürftig gewesen, rechtlich, politisch und bildungstheoretisch – denn sie macht gleich, was sich verschieden dünkt, und unterwirft auch Aufgaben dem Zwang, für die Freiheit vom staatlichen Zugriff reklamiert wird. Für Bildungstheoretiker, und das führt unmittelbar zur kritischen Diskussion des Gleichheits-Themas, war und ist „Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung“, wie sie exemplarisch schon von Herbart früh problematisiert wurde, gerade deswegen nicht tolerabel, jedenfalls als problematisch anzusehen, weil sie alle Lernenden gleichmacht, aber die „Anschließung an Individuen“ nicht erlaubt.8 Herbart unterstellt in seiner Kritik an der Schule freilich, dass es ein Elternhaus mit einem starken
6Für
die verfassungsrechtliche Entwicklung und Situation in Deutschland vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Die pädagogische Dimension des Grundgesetzes. Berlin (Verband Bildung und Erziehung) 2009, dort auch die Nachweise im Einzelnen; für die erziehungsphilosophische Debatte von Schulpflicht und ihre Legitimation auch Heinz-Elmar Tenorth: Schulpflicht. Geschichte, Reflexion und Legitimation von Schulzwang. In: Gottfried Schweiger/Johannes Drerup (Hrsg.): Handbuch Philosophie der Kindheit. Stuttgart 2019, S. 419–429. 7Als „Bildungspflicht“ akzeptieren die Befürworter des home-schooling die zwar staatlich kontrollierte, aber nicht im öffentlichen Schulwesen realisierte Unterweisung der Kinder, die sie allerdings in ihrem eigenen Milieu und häuslich erfüllen wollen (vgl. Tenorth, Schulpflicht 2019, bes. S. 424 f.). 8Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung. (1810) In: HerbartWerke, hrsg. von Asmus, Bd. 1, S. 149 f.
22.2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs
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eigenen Engagement und d. h. ein Bildungsmilieu gibt, das der (im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 statuierten) Unterrichtspflicht genügen kann. Schon zu Herbarts Zeiten und bei dem Versuch, diese universalisierte Unterrichtspflicht auch auf dem „platten Lande“ und für die ländliche Bevölkerung und später für die städtischen Unterschichten durchzusetzen, erweist sich aber diese Annahme als Illusion. Die Bauern brauchen die Kinder bei der Arbeit auf dem Hof, Arbeiter setzen auf Kinderarbeit als notwendigen Beitrag zum Familieneinkommen, die Kinder werden jedenfalls nicht oder nur höchst unwillig zur Schule geschickt, weil sie Einnahmen durch Kinderarbeit unmöglich macht und dann auch noch Schulgeld kostet. Der Staat muss einspringen und er legitimiert seinen Eingriff in das Elternrecht dadurch, dass er sich zu Gunsten der Kinder und in ihrem Namen zum „Obervormund“ deklariert, der für sie an Stelle der Eltern handelt und dadurch den Unterricht für alle und die öffentliche Erziehung sichert.9 Von der Rechts- und Staatsphilosophie vorgebildet, findet dieses Argument bald auch Eingang in die bildungstheoretische und pädagogische Reflexion. Im frühen 20. Jahrhundert ist trotz wiederkehrender Kritik letztlich doch unstrittig, dass das System der öffentlichen Erziehung den Schulzwang im Namen der Kinder durchsetzt und der öffentliche Auftrag der Schule wie der Pädagogik, die sie betreut und organisiert, deshalb nur in der „Doppelendigkeit“ ihres Auftrags existiert. Schule wie pädagogische Profession arbeiten zugleich individuell und im Namen des Kindes, d. h. als „Individualpädagogik“, sowie auch gesellschaftlich und im Namen der „objektiven Mächte“, für die der Staat steht, und dann „im Dienst objektiver Aufgaben“.10 In der dialektischen Denkform der Geisteswissenschaften sozialisiert, sieht der Bildungstheoretiker Herman Nohl, Herbarts Einwand ist ihm immer noch vertraut, in den 1920er Jahren in dieser zweiseitigen Referenz zwar auch „die Grundantinomie des pädagogischen Lebens“, die er als „Grenze der Pädagogik“ interpretiert, aber auch ihre spezifische Aufgabe. Der Erzieher ist für ihn nämlich in gleicher Weise dem Kind wie Staat und Kultur verpflichtet, und hat den scheinbar unauflöslichen Widerspruch durch seine eigene Arbeit didaktisch und methodisch11 zu lösen, und zwar in einer Haltung, die Nohl mit großer Emphase als Leistung der „Bildungsgemeinschaft“ formuliert: „Es ist die große Leistung der Pädagogik im Haushalt des geistigen Lebens, daß sie die von Generation zu
9Zur Entwicklung des tatsächlichen Schulbesuchs seit dem 19. Jahrhundert Marion Klewitz/ Achim Leschinsky: Institutionalisierung des Volksschulwesens. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 72–97. 10Exemplarisch für diese Position und die daraus folgenden pädagogischen Konsequenzen die Theorie der Bildung bei Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1933). Frankfurt a. M. 81978, bes. S. 126 ff., dort die zitierten Passagen. 11Für die Formulierung der pädagogischen Aufgabe entwickelt er das „pädagogische Kriterium: was immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muß sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte, und welche Mittel hat dieses Kind, um sie zu bewältigen.?“ (Nohl 1933, S. 127).
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Generation einsetzende Verobjektivierung immer wieder aufhebt in der neuen Jugend, so daß die ‚Bücher leben‘ und die Kultur spontane Bildung wird.“12 Schule ist für ihn Teil dieser Bildungsgemeinschaft. In ihrer spezifischen Praxis löst sie die „Antinomie“ auf, weil sie die Selbsttätigkeit der Lernenden, Bildung also, methodisch und didaktisch ermöglicht und daraus ihre Legitimation gewinnt. Nohl interpretiert diese Leistung der Schule vor allem in der deutschen Tradition, als (Re-) Subjektivierung der Kultur und als Ergebnis pädagogischprofessioneller Arbeit. Im zeitgenössischen Kontext der internationalen Reformpädagogik wird auch schon der kompensatorische, also gerechtigkeitstheoretisch relevante Anspruch gesehen, der damit der Schule zugeschrieben wird, quasi als je aktuell geforderte Modernisierung der vormundschaftlichen Funktion, die sich die öffentliche Erziehung im 19. Jahrhundert zugeschrieben hatte und sozialpädagogisch bis hin zum Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und heute in der Verpflichtung auf das „Kindeswohl“13 fortschreibt. Diesen kompensatorischen Aspekt betont sehr früh vor allem die Erziehungsphilosophie und Schultheorie von John Dewey, entwickelt im demokratischen Kontext der US-Gesellschaft. Dewey sieht die Schule als eine besondere Welt, die ihre spezifische Leistung und Legitimation aus drei Merkmalen gewinnt, die sie gegenüber der Alltagswelt der Lernenden auszeichnet und die ihre genuine „Aufgabe“ charakterisieren: „Die erste Aufgabe des sozialen Organs, das wir Schule nennen, besteht deshalb darin, eine vereinfachte Umwelt bereitzustellen.“14 Das ist die erste und wichtigste didaktische Aufgabe, die Auswahl „derjenigen Züge…, die einigermaßen grundlegend sind“ und ihre Anordnung als Lernsequenz erlauben. Schule, das definiert ihre Form in Prozess, „stellt… eine fortschreitende Ordnung her, indem sie die zuerst angeeigneten Faktoren als Mittel verwertet, um Einsicht in verwickeltere Gegenstände zu gewinnen.“ „Die zweite Aufgabe der Schule“ ist die seit altersher bekannte Kanonisierungsleistung, sie „besteht darin, den Einfluss wertloser und wertwidriger Züge der existierenden Umwelt auf die geistigen Gewohnheiten nach Möglichkeit auszuschalten.“ Das Ergebnis ist „eine gereinigte Atmosphäre des Handelns … eine Vereinfachung, … ein Ausjäten des Unerwünschten.“ Dann kommt die sozial-kompensatorische Funktion, die Nohl und die deutsche Tradition bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in dieser Deutlichkeit nicht hervorheben: „Die dritte Aufgabe der Schule besteht darin, die verschiedenen Faktoren in der sozialen Umgebung gegeneinander auszubalancieren und dafür zu sorgen, dass jeder Einzelne Gelegenheit findet, sich den Beschränkungen derjenigen sozialen
12Nohl
(1933), S. 128, Herv. dort. diese Thematik umfassend Maud Zitelmann: Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Recht und Pädagogik. Münster 2001. 14John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. (1916) Deutsch von Erich Hylla, ND Weinheim/Basel 1993, S. 37–42, Zitate von dort, Herv. H.-E. T. 13Für
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Gruppe, in die er hineingeboren ist, zu entziehen und in lebendige Berührung mit einer breiteren Umgebung zu kommen.“ Schule, das ist die zugleich schulpolitische und schultheoretische Pointe, stellt also nicht allein die Egalität aller her und ermöglicht dadurch soziale Integration, dass sie sie einen jeden unausweichlich als Lernenden definiert, sie eröffnet als Institution zugleich auch einen kognitiven Prozess der Egalisierung, in dem sie Nachteile kompensiert, die sich mit der Herkunft verbinden, ohne im Ergebnis die Differenz der Individuen zu nivellieren. Dafür muss in modernen Gesellschaften die Schule eingerichtet werden, zumal für diejenigen, die in ihrer häuslichen Welt eine solche anregende Umwelt nicht vorfinden. Aber diese Eigenart von Lebenswelt wird in einer verwissenschaftlichten Zivilisation offenbar universell: „Wenn jedoch eine Gesellschaft komplizierter wird, so erweist es sich als notwendig, eine besondere soziale Umwelt zu schaffen, die die Aufgabe der Fürsorge für die Fähigkeiten der Unreifen im Besonderen übernimmt.[…].“15 Erst in der Gesamtheit der Aufgaben ist für ihn die Legitimation der Schule gegeben, als Form der Ermöglichung von Bildung. Dewey vertraut im Übrigen darauf, dass die Schule diese Leistung schon mit und durch ihre Organisation erbringt, also „mittelbar, und zwar durch das Mittel der Umgebung“,16 nicht erst durch die pädagogische Aktion. Die wird allenfalls dann bedeutsam, wenn man sie als Teil der „Umgebung“ denkt oder als den Konstrukteur dieser Umgebung. Schließlich, diese besondere Leistung der schulischen Umgebung erweist sich auch nicht nur in der kognitiven, sondern auch in der sozialen Dimension, als Mechanismus der Integration: „Das Miteinander der Jugend verschiedener Rassen, Religionen und Sitten in der Schule schafft für alle eine weitere und reichere Umwelt.“ Dewey nimmt damit für die USA im frühen 20. Jahrhundert ein Argument vorweg, das zur Rechtfertigung der Obligatorik des Schulbesuchs 2006 auch vom Bundesverfassungsgericht genutzt wurde, zu einer Zeit, als die Heterogenität der Kulturen auch in Deutschland alltäglich geworden war. Angerufen von streng evangelikalen Eltern, die ihr Kind aus religiösen Gründen nicht der öffentlichen Schule aussetzen wollten, hat das Gericht in Fortsetzung älterer Rechtsprechung die Notwendigkeit des Schulbesuchs für alle damit gerechtfertigt, dass nur auf diesem Weg der Entstehung von „Parallelgesellschaften“ entgegen gearbeitet werden könne und dass die Kinder und Jugendlichen auch nur dadurch die
15Dewey,
(1916), 1993, vollständig: „Die tiefere und feinere erziehliche Formung der Anlagen erfolgt, ohne bewusste Absicht, in dem Maße, in dem der Jugendliche schrittweise an den Betätigungen der verschiedenen sozialen Gruppen teilnimmt, zu denen er gehört. Wenn jedoch eine Gesellschaft komplizierter wird, so erweist es sich als notwendig, eine besondere soziale Umwelt zu schaffen, die die Aufgabe der Fürsorge für die Fähigkeiten der Unreifen im Besonderen übernimmt. […]“ (zit. S. 42), auch für das folgende Zitat. 16Dewey, (1916), 1993, zit. S. 37.
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n otwendige Toleranz im Umgang mit dem Fremden lernen könnten, dass sie in der Schule zwingend mit dem Fremden und Anderen konfrontiert würden.17 Im Kontext solcher Überlegungen, in der Gleichsinnigkeit von verfassungsrechtlicher Argumentation und soziologisch informierter Schultheorie, kann man also nicht allein die staatsrechtliche, sondern auch die bildungstheoretische Legitimität von Schule und Schulpflicht eindeutig aufweisen. Schule wird in ihrer Praxis zu einem Ort, der in der Gleichzeitigkeit von Egalisierung der Lernenden, im Status, und von Individualisierung, im Prozess, die notwendige Bildungsgerechtigkeit ermöglicht. Die Verurteilung der Schule als eine „parapädagogische“ Anstalt und die Skepsis zumal kritischer Bildungstheoretiker gegen die von Schule ausgehende DisziplinierungsMacht geht deshalb in einem zweifachen Sinne in die Irre. Einerseits verkennt sie, dass die „erziehenden und lehrenden Gewalten“18 eigene pädagogische Legitimation gewinnen können, und zwar in der als gerecht beurteilungsfähigen und individuell legitimierten pädagogischen Praxis selbst, durch die Praktiken von Erziehung und Unterricht sowie durch die Struktur der Interaktion, und zwar nicht etwa trotz, sondern wegen der Asymmetrie, in der Bildungsarbeit geschieht.19 Andererseits verkennt die von Propagandisten des home schooling vorgeblich bildungstheoretisch begründete Kritik an der vermeintlichen „Kriminalisierung“ der Eltern,20 denen man
17Bundesverfassungsgericht,
2 BvR 1693/04 vom 31.05.2006, u. a.: „(16) aa) Die allgemeine Schulpflicht dient als geeignetes und erforderliches Instrument dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags. … Soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichen Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind (vgl. BVerfG-K 1, 141 ) … (18) Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt; sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Schule. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern (vgl. BVerfG-K 1, 141 ).“
18So
formuliert und legitimiert Wilhelm Flitner: Die Macht in der Erziehung. In: W.F.: Grundlegende Geistesbildung. Heidelberg 1965, S. 166–175, zit. S. 166. 19Jürgen Markowitz: Bildung und Ordnung. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Form der Bildung – Bildung der Form. Weinheim/Basel 2003, S. 171–200. 20So kommentiert der Bonner Erziehungsphilosoph Volker Ladenthin 2007 die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. V. L.: Die Kriminalisierung der Eltern ist ein Skandal. (in: https://www.welt.de/welt_print/article773744/Die-Kriminalisierung-der-Eltern-ist-ein-Skandal. html, zuletzt eingesehen 19.11.2017), umfassend für diese Position: Ralph Fischer, Volker Ladenthin (Hrsg.): Homeschooling – Tradition und Perspektive. Würzburg 2006. Dort räumt Ladenthin allerdings selbst ein, dass nicht alle Eltern fähig seien, ihre Kinder selbst zu unterrichten, – freilich, ohne dass er daraus rechtliche und bildungstheoretische Konsequenzen zieht (vgl. für weitere Details Tenorth 2019, Schulpflicht).
22.2 Schulpflicht – Egalität der Teilhabe und Legitimität des Schulzwangs
439
home schooling vorenthält, dass F reiheit und Zwang gleichzeitig ja auch rechtlich ausbalanciert sind. Die Elternrechte sind vor allem in der kriterienbasierten Sicherung der Privatschulfreiheit in Art. 7 (4) und (5) des Grundgesetzes garantiert, die schon die Verfassungsväter von Weimar, nahezu textgleich, und erneut die des Grundgesetzes, als Gegengewicht zum Schulzwang verstanden haben. Alle organisierte Bildungspraxis gewinnt dennoch ihre Rechtfertigung nicht etwa prinzipiell, sondern immer nur graduell. Denn die Arbeit gelingt besser oder schlechter, die Umgebung z. B., die Schule bietet, ist mehr oder weniger anregungsreich. Pädagogisierung der Schule, ja jeder Lernwelt, die Legitimität beansprucht, bleibt als professionelle Aufgabe immer neu zu leisten. Das gilt auch für die weiteren Formen institutionalisierter Bildung nach der Pflichtschulzeit (die bis zum 18. Lebensjahr reicht und auch Berufsschulen umfasst). Ihre Adressaten unterliegen zwar nicht dem rechtlich definierten Schulzwang, aber sie unterwerfen sich doch dem pädagogisch definierten Formzwang des organisierten und professionell betreuten Lernens, vor allem der Asymmetrie, die aus der Kompetenzdifferenz entspringt, und überhaupt erst der Anlass ist, systematisch organisierte Lerngelegenheiten anzubieten und aufzusuchen. Man unterwirft sich dabei der spezifischen Form der pädagogisch strukturierten Interaktion, die in ihrer Praxis – wie in Schulen – immer von der eigenen zeitlichen, sozialen und sachlichen Logik geprägt ist, die der Prozess von Asymmetrie und Symmetrisierung ebenso impliziert wie die sachliche Strukturierung, die in den Programmen organisierten Lernens liegt. Mag auch die Institution, wie etwa in der Erwachsenenbildung, trotz der unverkennbaren Differenz der Rollen von Lehrenden und Lernenden starke, aus dem Status der Erwachsenen resultierende Praktiken der symbolischen Symmetrisierung zwischen Profession und Klientel aufweisen, es bleiben pädagogische Situationen, vom Schulzwang allerdings durch die Freiheit der Wahl beim Zugang unterschieden. Ungeachtet solcher Differenzen, für die Leistungsfähigkeit und Qualität der pädagogischen Arbeit in Schulen wie in anderen Bildungseinrichtungen ist es deshalb immer zuerst die Form, die solche Ergebnisse ermöglicht, wie schon die Reformpädagogen seit dem 18. Jahrhundert wissen,21 seit sie die Welt der Lernenden auch räumlich ordnen, gut paradox, um durch Begrenzung Bildung zu ermöglichen. Öffentlich-staatlich verantwortete Erziehung, selbstverständlich eine Form der Ausübung von Macht über Menschen, ist dennoch so legitim wie produktiv, wie sich die Kritiker schulischer „Macht“ und „Gewalt“22 vielleicht durch Foucault belehren lassen sollten. Denn Macht „produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“23 21Am
Beispiel der Philanthropen und Salzmann (um nicht immer nur den Emile zu bemühen) vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Geschlossene Welten – Pädagogische Begrenzung als Ermöglichungsform. In: L. Wigger/D. Meder (Hrsg.): Raum und Räumlichkeit in der Pädagogik. Festschrift für Harm Paschen. Bielefeld 2002, S. 228–240. 22Extrem, auch in der Immunisierung gegen Empirie, Ludwig A. Pongratz u. a. (Hrsg.): Nach Foucault. Diskurs- und machtanalytische Perspektiven der Pädagogik. Wiesbaden 2004. 23Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1975, zit. S. 250, s. a meine Hinweise oben II.13.2.
440
22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
Die erste Dimension der Gleichheit in einem pädagogischen Sinne ist deshalb durch die Organisation gegeben, konkret durch die mit dem Schulzwang und mit dem Formzwang der pädagogischen Interaktion gegebenen Implikationen und Chancen, die organisierter Bildung zugesprochen werden können. Der Blick auf die Organisation zeigt zugleich, dass sie zwar eine Ermöglichungsform von Bildung darstellt, sie aber nicht ergebnisbezogen eindeutig garantiert, sondern in ihrer Praxis und in ihren Effekten steigerbar ist, zumal dann, wenn man kompensatorische Effekte, also weitere Egalisierungsleistungen jenseits der puren Präsenz in Schulen und der selbständigen Lernprozesse der Adressaten erwartet. Die sich anschließende Frage ist deshalb, welche Strukturbedingungen im Einzelnen solche Erwartungen unterstützen, was man – egalisierend – z. B. von der obligatorischen Schule über die Schulpflicht hinaus erwarten muss und darf, worin vielleicht sogar ihre systematische Bringeschuld besteht, die es dann auch erlaubt, sie an einem weiteren systemeigenen Kriterium der Gleichheit zu messen.
22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen und die Bringeschuld des Bildungssystems Die im Folgenden präsentierte und zu begründende Erwartung an das Bildungssystem, mit einer Garantie des Bildungsminimums das systemspezifische Egalitätsversprechen zu geben und es auch kriterial als Bringeschuld des Bildungssystems anzuerkennen und einzulösen, mag zunächst ungewöhnlich und nicht einlösbar klingen. Zumal die bildungstheoretisch im Namen der je individuellen Formen der Aneignung von Welt ansonsten so stark gemachte Abwehr eindeutiger und generalisierbarer Ergebnisse von Bildungsprozessen scheint der Möglichkeit und Legitimität solcher Erwartungen direkt zu widersprechen. Erfahrungen mit ähnlichen Programmen, z. B. von No Child Left Behind oder mit der Einführung von Standards in den USA, scheinen zugleich auch nahezulegen, dass solche BringeschuldErwartungen an das Bildungssystem nicht nur nicht einlösbar sind, sondern z. T. sogar systematisch kontraintentionale Effekte erzeugen.24 Allerdings, nicht allein vor dem Hintergrund von politischen Forderungen nach „Chancengleichheit“, auch angesichts der Explikation von Bildungsgerechtigkeit kann man der Frage nicht ausweichen, welche Leistungen man ergebnisbezogen vom Bildungssystem erwarten darf, und zwar aus der Perspektive der Individuen wie aus der Perspektive von Gesellschaft. Auch negative Erfahrungen unter spezifischen Bedingungen können angesichts der Legitimität dieser systembezogenen Erwartungen die Schule nicht von
24Münch,
Der bildungsindustrielle Komplex, 2018 zeigt jedenfalls solche unerwünschten Effekte, aber konzentriert auf die USA kann er nicht belegen, dass diese Effekte zwingend und deshalb auch in allen anderen Kontexten mit solchen Erwartungen verbunden sind.
22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen …
441
der Erwartung entbinden, auch kompensatorische Leistungen zu erbringen. Dabei wird man im Blick auf erwartete Ergebnisse indes immer kategorial beachten und empirisch prüfen, wie Gleichheit und Individualisierung im Prozess ausbalanciert werden. Während Individuen die legitime Erwartung haben, dass sie in der Schule nicht allein für die Schule lernen, sondern Kompetenzen erwerben, die, von der Situation des Ersterwerbs abgelöst, in weiteren Bildungsgängen, auf dem Arbeitsmarkt oder im Leben überhaupt sinnvoll verwendbar sind, muss die Gesellschaft, und zwar in ganz unterschiedlicher Gestalt, auch als Abnehmer des Bildungssystems gesehen werden. Das erzeugt unterschiedliche, je für sich durchaus legitime Erwartungen an die sozialisierende und qualifizierende Leistung des Bildungssystems, die z. B. politisch an das bürgerschaftliche Verhalten, oder qualifikationsorientiert von Ausbildungs- oder Beschäftigungsinstanzen, gleich ob in Betrieben und Universitäten oder an Arbeitsplätzen, formuliert werden. Schulische Zertifikate wurden deshalb ja auch schon in der klassischen Bildungstheorie, liest man nur Humboldts Texte über die Prüfungen, nicht nur als Ausleseindikator für gesuchte Qualifikationen, sondern auch als Schutzmechanismus der Gesellschaft gegenüber unqualifizierten oder auch nur mittelmäßigen (wie Humboldt sagte) Akteuren interpretiert. Bildungssoziologen interpretieren Zertifikate entsprechend bis heute als Ausdruck der „symbolischen Garantiefunktion“,25 die die Schule oder andere Ausbildungseinrichtungen gegenüber allen Akteuren und den weiteren Bildungseinrichtungen übernehmen, die Zeugnisse als institutionell garantierte Beglaubigung von je individuellen Kompetenzen lesen. Die Abnehmer der Schule wissen wiederum auch, dass diese Garantiefunktion nicht immer eingelöst wird, jedenfalls nicht immer so, dass die wiederkehrende Klagen in Berufsausbildung oder Universität über die fehlenden oder unzureichenden Fähigkeiten der Schulabsolventen nicht ihre eigenen Anlässe und gute Gründe haben. Über den Standard, dem schulische Bildung zu entsprechen hat, wird deshalb auch nicht zufällig intensiv gestritten. Die Frage ist allerdings kontrovers, was man von Schule legitimer Weise erwarten darf, und deshalb muss auch die Frage geklärt werden, ob man ihr eine in gleicher Weise auf alle Absolventen ihrer Praxis zielende Garantiefunktion zusprechen kann. Wenn hier die „Garantie des Bildungsminimums“ als eine solche unterschiedslos gegenüber den Lernenden generalisiert notwendige und von Schule immer zu erwartende Leistung vorgeschlagen wird, dann ist bildungs- und schultheoretisch angesichts einer solchen Forderung auch zu klären, ob man das legitimer Weise von Schule erwarten darf. Man muss die Frage prüfen und die Forderung begründen, ob und warum Schule wirklich soll, was hier gefordert wird, aber gleichzeitig auch im Blick auf die Praxis von Schule rechtfertigen, dass sie kann, was sie soll. Das spezifische
25Zu
dieser Funktion von schulischen Zertifikaten bereits Gertrud Nunner-Winkler: Chancengleichheit und individuelle Förderung. Eine Analyse der Ziele und Konsequenzen moderner Bildungspolitik. Stuttgart 1971.
442
22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
galitätspostulat, das hier als Erwartung an die Ergebnisse obligatorischer E Beschulung eingeführt werden soll, bedarf also nicht nur der gerechtigkeitstheoretischen Begründung gegenüber den Lernenden und der politischen Gesellschaft, wie man bei Walzer schon lesen kann, sondern auch der empirischen Prüfung der Bedingungen der Möglichkeit der Einlösung einer solchen Gleichheits-Forderung gegenüber dem Bildungssystem. Dabei kann hier, gerechtigkeitstheoretisch, nur wiederholt werden, dass die Argumentation mit einem zu garantierenden Bildungsminimum in den Kontext der bereits eingeführten Gerechtigkeitsüberlegungen gehört (vgl. Abschn. 21.4 in diesem Kapitel). Hier ist sie zu den suffizienztheoretischen Positionen zu rechnen, zielt also auf die unerlässlichen und für jedes weitere Lernen notwendigen, aber nicht in jedem Fall von Anforderungen biografisch auch schon hinreichenden oder je individuell möglichen Ergebnissen von Bildungsprozessen. Nicht alle denkbaren oder erwartbaren Formen und Ergebnisse von Bildungsprozessen werden also unter die Gleichheitserwartung gestellt und als Kriterium der schulischen Leistungserbringung diskutiert, sondern nur das notwendige Bildungsminimum. Die Erwartung ist insofern zugleich bescheiden, in der Erwartung an die Gleichheit der Ergebnisse der Grundbildung, und dennoch nicht-egalitär, vielmehr freiheitsorientiert und individualisierend, soweit die Möglichkeiten von Bildung überhaupt angesprochen sind. Im Blick auf die Ziele und Praktiken werden mit einer solchen Forderung allerdings dennoch die grundlegenden Formen der Leistungserbringung in Schule insgesamt thematisch. Dann ist auch die Forderung weder selbstverständlich noch trivial gegenüber dem Bildungssystem, sondern breit und umfassend, sowie, und jetzt tatsächlich egalitär, als ein Versuch zu sehen, systematisch einen Maßstab für den Umfang schulischer Leistungserbringung zu begründen, für den man Gleichheit auch im Ergebnis für alle Adressaten erwarten darf. Die Gleichheitsforderung muss also für die Strukturen der Leistungserbringung, das Bildungssystem, und für die Adressaten, die Lernenden, in gleicher Weise sowohl kriterial als auch in ihrer Möglichkeit ausgewiesen werden. Bezogen auf das Bildungssystem kann und muss man dann zuerst eine wesentliche Gleichheitsforderung des Grundgesetzes – dass „die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“ geboten ist, wie Art 72 sagt – auf Schulen übertragen, und auch hier die Gleichwertigkeit der Schulverhältnisse erwarten. Dabei ist aus der Rechtslage eindeutig, dass sich diese Forderung nicht auf die Gleichartigkeit einer Schulverfassung oder von Schulformen beziehen kann (oder auch nur beziehen sollte, denkt man nur an die Kontroversen und die divergenten Befunde, die z. B. über die Effekte gesamtschulischer Systeme und längeren gemeinsamen Lernens bestehen, die vielfach dennoch als die bessere Lösung vorgestellt werden). Die Landesgesetzgeber haben hier die Freiheit, im föderalen System ihre eigene Schulverfassung aufzubauen. Gleich, das bleibt dennoch erwartbar, sollte allerdings die Gesamtheit der materiellen und personalen Bedingungen schulischer Leistungserbringung sein, also die Strukturen der Schule bzw. des gesamten Bildungssystems als Ermöglichungsraum von Bildung. Dabei könnte der Einwand vorgetragen werden, diese Dimensionen schulischer
22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen …
443
Arbeit seien, bildungstheoretisch gesehen, letztlich weitgehend nebensächlich,26 oder, und auch das wäre natürlich hinderlich, gar nicht egalisierend gestaltbar. Solche organisatorischen Bedingungen der Bildungspraxis könnten allenfalls als vielleicht förderliche, nicht immer auch als notwendige, aber in keiner Weise als hinreichende Bedingungen pädagogischer Ermöglichung von Bildungsprozessen angesehen werden, so dass man das Thema rasch als nebensächliches Problem ablegen könnte. Aber auch wenn man einräumen muss, dass institutionellorganisatorische Prämissen nur zum Vorfeld individueller Bildungsprozesse und ihrer pädagogischen Förderung gehören, zur Sicherung pädagogisch notwendiger personaler und organisatorischer Strukturen von Schule und als Ermöglichung von individuellen Lernprozessen überhaupt sind das Faktoren, die eine zentrale Rolle im Bildungssystem spielen, jedenfalls alles andere als belanglos sind. Die Praxis der Beschulung und die Erreichbarkeit von Schule z. B., das zeigt die empirische Bildungsforschung seit langem, hängt entscheidend von diesen Faktoren ab. Regionale Gleichheit der Angebotsstrukturen z. B. ist ein altes Thema in der Analyse von Bildungsdisparitäten, man muss nur an die Stadt-LandDifferenz erinnern und an die Politik der Zentralisierung von Schulen nach 1950 (in der DDR) bzw. nach 1960 (in der BRD). Zu den wesentlichen Dimensionen solcher Angebotsstrukturen gehört deshalb die lokale und regionale Versorgung mit Schulen, und zwar für alle Kinder, in erreichbarer Nähe, in angemessener Ausstattung mit Lehr- und Lernmaterial, mit Gebäude und Hof, in den Neben- und Fachräumen bis zu den Toiletten, mit dem notwendigen Personal, von fachlich ausgewiesenen und der Zahl nach notwendigen Lehrern sowie mit Unterstützungspersonal, z. B. sozial- oder sonderpädagogischer Provenienz bis zu den Hausmeistern. Erst dann kann Unterricht stattfinden, möglichst verlässlich, sowohl über den Tag wie über das Schuljahr, in Erfüllung des Lehrplans, zeitlich und sachlich, als Lernzeit, ohne Unterrichtsausfall, ohne fachfremden Unterricht – auch nicht in der Grundschule, auch nicht in den MINT-Fächern. Das zu betonen ist nicht überflüssig; denn ein Großteil des öffentlichen und elterlichen Ärgers mit dem Bildungswesen hat seine Ursache darin, dass diese Bedingungen nicht bundesweit in gleicher Qualität systemisch gesichert sind. Das gilt auch für die Einzelschule und den Unterricht, für Organisation und Interaktion gleichermaßen, für das Klassenzimmer wie für die Lehrerarbeit. Schon
26Bildungsökonomen
meinen, man dürfe die Ausstattung von Schulen als eigenständigen Faktor der Leistungserbringung und der Differenz ihrer Qualität nicht überschätzen, auch für die Größe von Lerngruppen wird das häufig behauptet oder für die Finanzausstattung. Aber damit wird Kausalität für spezifische Programme nur suggeriert, die Vielfalt der Effekte von Klassengrößen reduziert, zu schweigen davon, dass keine Schwellenwerte für Klassengrößen angegeben werden. Mehr als 50 Kinder z. B., wie im 19. Jahrhundert nicht selten, hat bisher niemand empfohlen – aber warum nicht, wenn Größe irrelevant ist? Comenius hielt sogar, im 17. Jahrhundert, durchaus 100 Kinder in einer Lerngruppe für sinnvoll, empfahl dann allerdings auch eine andere Binnenorganisation, wie nach ihm die Protagonisten des Monitoring-Systems; bei der Finanzierung liegen die Einwände ähnlich nahe. Bildungsökonomen, das zeigt sich hier, sind ökonomische, keine pädagogischen Experten, primär outcome-, zu wenig prozessorientiert.
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22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
deren Qualität ist nicht gleich, sie differiert in zentralen Dimensionen, z. B. zeitlich im unterschiedlichen Maß der verfügbaren Lernzeit, zu schweigen von der time on task, also der Zeit, die nicht durch Störungen oder andere Faktoren dem Lernen genommen wird. In der Zeitdimension wird das Ganztagsmodell als Lernzeitstandard inzwischen weitgehend anerkannt. Dagegen sind einzelschulische Ressourcen für nicht-gebundene Zeit oder individualisierte Lernzeit oder Chancen eigener Rhythmisierung der Lebenszeit eher rar, aber im Sinne von Egalisierung und Individualisierung zweifellos notwendig. Folgenreiche Differenzen existieren auch sozial, nicht nur wegen der unterschiedlichen Komposition von Lerngruppen oder der Praktiken im Umgang mit Diversität, schon um ein gutes Lern-Klima zu sichern, auch über die Zäsuren hinweg, die schlechte „Wetter“-Ereignisse erzeugen. Auch die Differenzen im Blick auf die Profession sind nicht zu übersehen, die Folgen, die von professioneller Ausbildung, einem guten Kollegium, einer funktionsfähigen Fachkonferenz und von der Form der Kooperation mit Eltern und Schülern für die Qualität der einzelnen Schule ausgehen. Aus Studien über den Unterricht und die Variablen seine Qualität weiß man, in der Sachdimension, welche positiven Effekte von einem strukturierten Curriculum ausgehen, von anregenden und herausfordernden, individualisierten Aufgaben oder von transparenten Leistungsanforderungen, einer gerechten Bewertung und förderlichen Rückmeldungen, auch in den ‚überflüssigen‘ Fächern jenseits von PISA und den Fächern der Bildungsstandards. Im Grunde wird in der öffentlichen Debatte heute aber hingenommen, dass – abgesehen vom Unterricht in der Ergebnisdimension – die hier angedeuteten Dimensionen der Gleichheit der institutionell gesetzten Lernbedingungen zwar unterstellt, aber nicht geprüft werden. Das geschieht auch, obwohl man weiß, welche Varianz schon innerhalb einer Schule zwischen unterschiedlichen Klassen oder Lerngruppen sogar im gleichen Fach innerhalb einer Jahrgangsstufe existiert, und zwar folgenreich, nicht nur für die unterschiedliche Bewertungspraxis der Lehrer, sondern z. B. auch für das Anregungspotential der Lerngruppe. Wahrscheinlich werden diese Dimensionen pädagogischer Gleichheit aber auch deswegen weitgehend ignoriert, weil die Gestaltungsmöglichkeiten nicht einfach anzugeben sind, zumindest dann nicht, wenn man Bildungssysteme im Ganzen steuern will. Dann stößt man immer wieder auf die Erfahrung, dass die Einzelschule und ihr Unterricht der entscheidende Ort der Leistungserbringung ist, zugleich aber der Ort, der sich aus der Perspektive eines Gesamtsystems, von oben herab, gegen widerständige Eltern oder Lehrer, am wenigstens zielgenau steuern lässt. Vielleicht ist es deshalb sogar weise, sich der allumfassenden Intervention in das Bildungssystem zu enthalten und zuerst und vor allem der Einzelschule, d. h. einer jeden, also egalisierend, die Autonomie einzuräumen, die auch Bildungsprozesse wahrscheinlicher werden lässt. Die aktuell politisch propagierte paradoxe Form der Steuerung, d. h. die – programmatisch, nicht immer auch in der Praxis – zentral vorgegebene Standardisierung, z. B. auf der Seite der Curricula und der Leistungserwartungen, mit der Freisetzung lokaler Autonomie der Lehrer und Eltern bei der Frage der Leistungserbringung, der Organisation und in den Finanzen verbindet, repräsentiert insofern nicht nur ein Eingeständnis
22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen …
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eigener Steuerungsunfähigkeit auf Seiten der Bildungspolitik, sondern auch die systemisch mögliche Form des gestaltenden Zugriffs in egalisierender Absicht. Koppelt man diese schulische Autonomisierung mit der Qualitätssteigerung in der Lehrerbildung, dann mag damit das Maß an Egalität vorbereitet werden, das man strukturell vorbereiten kann – ohne dass man Varianz in der Leistungserbringung vollständig ausschließen könnte. Die erste, die bildungssystemische Dimension von Gleichheit, die, von der die Sicherung des Bildungsminimums erwartet werden kann, besteht, solcher feinen Unterscheidungen ungeachtet, also zuerst darin, Schulen als Strukturen aufzufassen, die Möglichkeiten des Lernens für alle eröffnen und insofern Chancengleichheit im Ergebnis für die grundlegenden Lernphasen und notwendigen Kompetenzen in der Eröffnung weiteren Lernens ermöglichen. Opportunitätsstrukturen, d. h. Chancen eröffnende Strukturen, kann man deshalb die schulischen Lernangebote und Bildungsgänge nennen und hier, auf der Angebotsseite, Gleichheitsversprechen und Gleichheitserwartungen formulieren.27 Die Notwendigkeit, Nachteile zu kompensieren, ist dabei eingeschlossen. Differenzen im Ergebnis würden nicht primär individuellen Leistungen, Handlungen und Wahlen zugerechnet, sondern zuerst den Strukturprämissen und Praktiken der Schule als zentralem Teil der Sicherung des Bildungsminimums. Aber wie weit muss die Kompensation gehen, wann kann die Bringeschuld als erfüllt gelten, welchen Indikator soll man wählen? Ist die systemische Offenheit und Durchlässigkeit und die über Zertifikate zu sichernde Anschlussfähigkeit von Bildungsgängen, die das Verfassungsgericht fordert, und damit die je individuelle Nutzung der Lernangebote schon gerecht und allgemein, auch gleich, unabhängig vom Ergebnis? Oder sind gleiche Lernmöglichkeiten erst dann gegeben, wenn alle Lernenden die Abiturqualifikation erreichen, wie das die von der OECD bestimmte bildungspolitische Debatte suggeriert? Oder ist die US-amerikanische Debatte über das Prinzip des no-child-left-behind28 (im Kontext auch der
27Die
These vertritt im Grundsatz auch Lesley A. Jacobs: Pursuing Equal Opportunities. The Theory and Practice of Egalitarian Justice. Cambridge (Univ.Pr.) 2004 – ohne sie für das Bildungswesen angemessen auszuarbeiten. 28Dazu No Child Left Behind Act: 2001 im Kongress beschlossen, 08.01.2002 von Präsident G.W. Bush unterzeichnet. Ziel: Förderung der bildungspolitischen Aktivitäten der Bundesstaaten der USA mit dem Ziel, dass alle Kinder in den Basiskompetenzen – u. a. Verkehrssprache, Mathematik – ein Mindestniveau erreichen; Maßnahmen, u. a.: Festsetzung von Bildungsstandards, Stärkung der Rechte der Eltern gegenüber der Schule, outcome-orientierte Leistungsverpflichtung der Schulen, Verbesserung der Lehrerbildung, Förderung evidenzbasierter erziehungswissenschaftlicher Forschung, obligatorische Evaluation der Programm, Realisierung in Kooperation mit den (an sich zuständigen) Einzelstaaten. Die höchst ambivalenten Effekte dieser Strategie, die in den Dimensionen von Leistung und Egalisierung keineswegs gleichsinnig verlaufen und auch nicht-intendierte Rückwirkungen auf das Bildungssystem erzeugt, kann man inzwischen auch schon nachlesen, u. a. bei einer scharfen Kritikerin wie Diane Ravitch (die das Programm ursprünglich selbst propagierte).
446
22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
deutschen oder finnischen Rezeption29) als Referenzrahmen besser geeignet, die noch deutlicher als die deutsche eine Bringeschuld des Bildungssystems befürwortet? Diese Texte und ihre Programme fordern die Generalisierung von Kompetenzen über ein Kerncurriculum der Grundbildung und setzen dafür den erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe I als Maßstab voraus. Dieser Maßstab, der auch den PISA-Studien und ihrem Konzept von literacy als Grundbildung und der Sicherung kultureller Basiskompetenzen zugrunde liegt,30 wird in der deutschen Diskussion aber schon früh, vielfach und sehr stark problematisiert und als Unterschreiten bildungstheoretisch zu fordernder Maßstäbe kritisiert.31 Worin, das ist die kontroverse, aber jenseits von systemischen Opportunitätsstrukturen deshalb dringlich und notwendig zu diskutierende Frage im Blick auf pädagogische Gleichheit, kann eine systematisch erwartbare Bringeschuld des Bildungssystems im Blick auf die Kompetenzen der lernenden Individuen bestehen? Welchen Kriterien müssen Programme genügen, in denen dieses Bildungsminimum definiert wird, und zwar gegenüber Individuen und der Gesellschaft gleichermaßen, also auch bildungstheoretisch begründbar? Was kann man schließlich jenseits der Politik und öffentlicher Kontroversen bildungstheoretisch zur Klärung dieser Frage beitragen? Die Bringeschuld der Schule, das ist der Ausgangspunkt für die bildungstheoretische Explikation der zweiten Gleichheitserwartung, muss als Form der Ermöglichung von Selbsttätigkeit im Lebenslauf begründet werden, und zwar so, dass Schule zugleich organisatorisch, curricular und didaktisch als der am besten geeignete Ort aufgewiesen wird, solche Ermöglichungsform in der heranwachsenden Generation wirklich zu generalisieren, als Grundbildung, wie man bildungstheoretisch sagen muss. Als Grundbildung gilt dabei jene Form der Bildung, die zunächst prozessual-zeitlich grundlegend ist für den Anfang einer jeden Bildungsbiografie, aber auch darin, dass sie alle anschließenden Lernmöglichkeiten und Lebensformen schon autonom eröffnet. Grundbildung betrifft dann, sachlich und in den Kompetenzen, die kulturell notwendigen und unentbehrlichen Basiskompetenzen, solche also, die unser Lernen im Bildungssystem genauso wie unser Verhalten in der Welt fundieren und ermöglichen. Diese Grundbildung gilt im Folgenden als das „Bildungsminimum“, mit einem Begriff also,
29Rainer
Domisch/Anne Klein: Niemand wird zurückgelassen. Eine Schule für alle. München 2012 – hier ist schon Inklusion das entscheidende Stichwort, auch „positive Diskriminierung“ (181 u. ö.) sowie der Primat der lokalen Schulverhältnisse. 30Für die bildungstheoretische Verteidigung der PISA-Position finden sich meine Argumente ausführlicher in Heinz-Elmar Tenorth: Stichwort: „Grundbildung“ und „Basiskompetenzen“. Herkunft, Bedeutung und Probleme im Kontext allgemeiner Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7 (2004), S. 169–182; ders.: Bildungstheorie und Bildungsforschung, Bildung und kulturelle Basiskompetenzen – Ein Klärungsversuch, auch am Beispiel der PISA-Studien. In: J.Baumert/K.-J.Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2016, Sonderheft 19, S. 45–71. 31Für die kritische Gegenposition exemplarisch Lutz Koch: Allgemeinbildung und Grundbildung, Identität oder Alternative? In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7 (2004), S. 183–206.
22.3 „Garantie des Bildungsminimums“ – das Egalitätsversprechen …
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der schon im 19. Jahrhundert als klassische politische Formel der Liberalen wie der Sozialdemokraten32 das von der obligatorisch gemachten Schule erwartete Ergebnis der gleichen und obligatorischen Beschulung für alle bezeichnet hat und als unerlässliche Forderung demokratischer Bildungspolitik in der Weimarer Republik33 bekräftigt wurde. Der Begriff formuliert auch nicht ein Programm der Reduktion und Selbstbegrenzung, wie Kritiker gelegentlich suggerieren, sondern fungiert als notwendig zu erfüllender Maßstab für eine Schularbeit, die diesem Maßstab nicht gerecht wurde. Diese klassische Maxime der zugleich (links-) bürgerlichen und sozialdemokratischen Tradition ist also mit Grundbildung gemeint, sie ist bildungstheoretisch zu begründen und auch begründbar, und sie ist deshalb auch bildungspolitisch als Egalitätserwartung generalisierungsbedürftig und -fähig. Dem Rawlsschen zweiten Prinzip entspricht es aber, dass man Grundbildung nicht allein systemisch vorgibt, sondern eine Hierarchisierung und Priorisierung der Erwartungen an das Bildungssystem von den am meisten Benachteiligten aus entwickelt und begründet. Das sind im Bildungssystem gegenwärtig die gelegentlich als „Risikogruppen“ Bezeichneten,34 Lernende also, die nach Abschluss der Pflichtschulzeit über die kulturellen Basiskompetenzen nicht in einem hinreichenden Masse verfügen, sondern nur auf einem Level, der nicht als „Bildungsminimum“ akzeptiert werden kann. Die Konstanz der Risikogruppen zeigt vielmehr, dass trotz aller Erfolgsdiagnosen über den Fortschritt in den Schulen sich in den für alle Lernprozesse zentralen Kernfächern, in der Lesekompetenz (und als funktionaler Analphabetismus weiterwirkend35), in der Mathematik und
32Für
die Tradition dieses Begriffs Heinz-Elmar Tenorth: „Alle alles zu lehren“. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung. Darmstadt 1994, bes. S. 166 ff.; ders.: Bildungsminimum und Lehrfunktion. Eine Apologie der Schulpflicht und eine Kritik der „therapie“-orientierten pädagogischen Professionstheorie. In: S. Gruehn/G. Kluchert/T. Koinzer (Hrsg.): Was Schule macht. Schule, Unterricht und Werteerziehung. Weinheim/Basel 2004, S. 15–29. 33Dafür steht ein distanzierter Beobachter wie Sergius Hessen, zugleich Jesuit und Komparatist, der 1928 wie selbstverständlich diese Forderung als Erbe der Idee der „positiven Freiheit“ des Westens benannt hat: „Von den Rechten aber, die den positiven Inhalt des erweiterten Freiheitsbegriffes ausmachen, ist das Recht auf Bildung, dem die Verpflichtung des Staates, Jedem ein gewisses Minimum von Bildung zu gewähren, gegenübersteht, eines der alleroffenbarsten.“ S.H.: Kritische Vergleichung des Schulwesens der anderen Kulturstaaten. In: Nohl/Pallat, Handbuch der Pädagogik Bd. IV, 1928, S. 421–510, zit. S. 421). 34Für den Begriff vgl. PISA seit 2001. Das ist nicht etwa nur ein deutsches Phänomen, umfangreiche Daten über die Biografie und die Situation dieser Gruppe im Erwachsenenalter liegen z. B. für Großbritannien in Längsschnittstudien vor, vgl., überblickshaft für Befunde und Hinweise auf die Literatur, u. a. Samantha Parsons and John Bynner (Centre for Longitudinal Studies, Institute of Education): Basic Skills and Social Exclusion: Findings from a study of adults born in 1970. The basic Skills Agency, 2002. 35Das ist ebenfalls ein systematisches Problem moderner Bildungsssysteme, und nicht nur in Deutschland, hier haben es die LEO-Studien nur besonders nachdrücklich gezeigt, jüngst, als knapper Überblick: Anke Grotlüschen/Klaus Buddeberg/Gregor Dutz/Lisanne Heilmann/ Christopher Stammer: LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Hamburg 2019. Online unter: https://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo 2019.
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22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
in den Naturwissenschaften, eine stabile Gruppe von Schulabsolventen identifizieren lässt, deren Lernerfolge sich nach neun Schuljahren allenfalls auf der Stufe I, der untersten Stufe der Kompetenzskala, zur Hälfte aber noch darunter, quasi im sinnvoll nicht mehr messbaren Bereich, befinden.36 Vor allem bedrückend ist aber, dass geringfügiger Verbesserungen ungeachtet die Stabilität dieser Effekte offenbar immer noch zu sehen ist.37 Es sind also nicht Fragen der Schulform, auch nicht die Muster der Zertifikatszuerkennung, die hier entscheiden, es ist die Qualität von Bildungsgängen, auf die es ankommt. Diese Befunde über die konstante Präsenz von Risikogruppen – seit 2001 liegt, bei leichter Varianz bis heute, ca. ein Viertel der Schüler unterhalb des Mindeststandards, (und dabei ist die Frage noch ganz undiskutiert, ob der von der KMK definierte Mindeststandard wirklich hinreichende Kompetenzen zur Bewältigung der Herausforderungen moderner Gesellschaften beschreibt)38 – liefern deshalb auch den Ausgangspunkt, die Garantie des Bildungsminimums mit dem zweiten Rawlsschen Gerechtigkeitskriteriums weiter zu begründen, also im Blick auf die am meisten in der Praxis des Bildungssystems Benachteiligten. Das ist im Übrigen ein Kriterium für die Programme der Grundbildung, das sich auch
36Manfred
Prenzel u. a./PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA `06. Die Ergebnisse der dritten internationalen Vergleichsstudie. Münster (usw.) 2007, Tab. 4.5, S. 241 für die Daten zur Lesekompetenz, S. 269 f.. Der Befund ist insgesamt: Noch immer sind von den männlichen Jugendlichen (bei den weiblichen sieht es geringfügig besser aus) mehr als 20% der 16-jährigen ihren Leistungen nach auf der Kompetenzstufe I oder darunter platziert, also z. B. beim Lesen nicht imstande, Sinnzusammenhänge von Texten zu verstehen oder oberhalb des Niveaus der 4. Grundschulklasse mathematische Operationen zu vollziehen. Die späteren Befunde, wie sie im nationalen Bildungsbericht bis zur jüngsten Version von 2018 resümiert werden, bieten kein wesentlich besseres Bild. 37Für die PISA-Befunde von 2006: In der Lesekompetenz verbleiben 50,1 % der Hauptschüler auf diesem Kompetenzniveau (davon 19.6 % unterhalb von Niveau I), bei der mathematischen Kompetenz sind es 49,5 % (21,2 % unter Stufe I) – mit entsprechend dramatischen Konsequenzen für das alltägliche Leben und den Umgang mit Zahl und Maß. Im Übrigen: die Werte für die vermeintlich bessere Chancen eröffnenden Gesamtschulen sind nicht viel besser: 27,7 % beim Lesen, 29,7 % bei der Mathematik gehören in diese Kompetenzstufe (davon 9,7 % im Lesen, 7,2 % in der Mathematik noch unter Stufe I). 38Bei der Messung der mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen, jetzt gemessen an den bundesweit geltenden Bildungsstandards, „verfehlten“ immer noch „knapp 25 Prozent aller Neuntklässlerinnen und Neuntklässler den KMK-Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss“. Dieser Mindeststandard (d.i. die Kompetenzstufe II) wird von 30,7 % erreicht, den „Regelstandard“, d.i. die Kompetenzstufe III erreichten bundesweit nur 44% der entsprechenden Altersgruppe (jetzt nach Hans Anand Pant u. a. (Hrsg.): IQB-Ländervergleich 2012. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I. Münster usw. 2013, zit. S. 408 und Tab. 6.3, S. 166). Die Daten des IQB-Bildungstrends von 2016 belegen, dass inzwischen auch die Leistungsfähigkeit der Grundschulen so weit abgesunken ist, dass mehr als ein Viertel ihrer Absolventen ohne die erwarteten Fähigkeiten in die Sekundarschulen übergehen.
22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion …
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demokratietheoretisch weiter begründen ließe.39 Wie auch immer die Begründung im Detail entfaltet wird, die Benachteiligung dieser Gruppe, so könnte man systematisch resümieren, besteht darin, dass sie systematisch von „Bildungsarmut“40 bedroht sind, und zwar in einem dreifachen Sinne: als Kompetenzarmut, als Zertifikatsarmut und als Armut der Möglichkeiten am Arbeitsmarkt. Alle Bildungsprogramme, die Bildungsgerechtigkeit beanspruchen und dem Egalitätskriterium für das Bildungssystem entsprechen wollen, müssten entsprechend belegen, dass sie in diesen Dimensionen begründet und realisierbar sind. Die generelle Forderung, ein Bildungsminimum zu garantieren, müsste zugleich also auch so weit begründet werden, dass die Realisierbarkeit für alle nicht nur Illusion bleibt. Als systematisches Zwischenergebnis kann man zunächst aber festhalten: Die Garantie des Bildungsminimums für alle Lernenden und die Kultivierung ihrer Lernfähigkeit zur selbstständigen Gestaltung des Lebenslaufs als Bildungsgang, diese grundlegende Erwartung an schulische Grundbildung definiert in einem bildungstheoretischen Sinne die Bringeschuld der Schule. Sie formuliert zugleich den Standard der Egalität im Ergebnis ihrer Arbeit, dem Schule genügen und den sie sichern muss. Beide Referenzen, das Konzept von Grundbildung und die Konzeption von Mindeststandards, sollen deshalb im Folgenden näher erläutert werden.
22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion in der Einheit und Differenz von Bildungsgängen Bildungstheoretisch, das bildet den Ausgangspunkt, hat es eher Kontroversen ausgelöst, wenn man die schulisch für alle Lernenden zu sichernde Bildung oder literacy, wie im PISA-Kontext gesagt wird, über den Begriff der Grundbildung erläutert und zugleich die Nutzung von Bildungsstandards positiv bewertet hat.
39Eine
einschlägige Argumentation versucht – allerdings ohne bildungs- und erziehungstheoretische Absicherung und Konkretisierung – auch Ulrich Steinvorth: Gleiche Freiheit. Politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit. Berlin 1999, wenn er über ein „demokratisches Mindestmaß“ (277) und „elementare Ausbildung“ spricht und darunter eine Bildung versteht, die einen jeden „zur Mitwirkung an politischen Entscheidungsprozessen befähigt“ (S. 221). Ein Blick in die Debatten der politischen Bildung und in Analysen ihrer Wirkungen könnte ihn darüber informieren, dass man solche Erwartungen jenseits der grundlagentheoretischen Erwartung deutlicher präzisieren sollte und z. B. schon die Frage klären muss, ob Teilnahme an Wahlen hinreichend „Mitwirkung“ definiert, und was darüber hinaus konkret erwartet wird, wenn die „Fähigkeit“ bestimmt wird, „an der Kultur und Politik der eigenen Gesellschaft teilzunehmen“ (ebd., 277).
40Zur
Genese dieses Begriffs Jutta Allmendinger: Bildungsarmut – zur Verschränkung von Bildungsund Sozialpolitik. In: Soziale Welt 50 (1999)1, S. 35–50, zur Diskussion im Kontext von Grundbildung Heinz-Elmar Tenorth: Bildungsarmut als Herausforderung moderner Allgemeinbildung. In: Uta Lange u. a. (Hrsg.): Steuerungsprobleme im Bildungswesen. Wiesbaden 2009, S. 155–173.
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Das verwundert etwas, denn dieses Argument, das heute vielleicht nicht zum Alltag deutscher Bildungstheoretiker zählt, hat historisch durchaus prominente Vorbilder. Eduard Spranger, an Humboldt geschult, hat z. B. schon in der Weimarer Republik vergleichbar argumentiert, wenn er eine Sequenz von „grundlegender Bildung – Berufsbildung – Allgemeinbildung“41 als den biografischen Gang der je individuellen Bildungsanstrengungen unterschieden hat. Spranger hat mit seiner Trias nicht Karriere gemacht, auch nicht mit dem zweiten Argument, das für die Begründung seiner Überlegungen fundamental war, nämlich der Legitimation beruflicher Bildung als notwendiger Vorstufe zur allgemeinen Bildung; denn für Spranger führte der „Weg zu der höheren Allgemeinbildung … über den Beruf und nur über den Beruf“.42 Bei Berufspädagogen akzeptiert,43 sonst wenig gesehen, wird schulische Bildung, wenn nicht sogar Bildung überhaupt, auch bildungstheoretisch weiterhin häufig mit der Form und dem Kanon allgemeiner Bildung gleichgesetzt, die man in Gymnasien findet, verbunden mit der Abwertung beruflicher Bildung.44 Vor diesem Hintergrund kann man deshalb immer noch sagen, dass sich vom Begriff der „Grundbildung“ aus die konfligierenden Positionen des deutschen bildungstheoretischen Diskurses in ihrer Kontinuität bis zur Gegenwart aufzeigen lassen. Von hier aus zeigen sich aber auch die ungeklärten organisatorischen, didaktischen und curricularen Fragen schulischer Allgemeinbildung, wie sie als Systemprobleme der deutschen Schule und als Reflexionsbarrieren ihrer Analyse noch aktuell existieren. Die Konflikte wurden erneut offenbar, als 2003 in einem Gutachten über Bildungsstandards, im sog. „Klieme-Gutachten“,45 und im Kontext der PISAForschungen46 über die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems alternative Bilder dessen vorgelegt wurden, was schulische Bildung bedeuten kann und soll. Von den Opponenten dieser Strategie wurde Standardisierung sogleich als unvereinbar mit der Bildungstradition abgewehrt und angelsächsische
41Eduard
Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918) In: E.S.: Kultur und Erziehung. Leipzig 1925, S. 159–177. 42Spranger, Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. (1918), 1925, zit. S. 162. 43Bei Herwig Blankertz wird Spranger aufgenommen und zu der These radikalisiert, dass „die spezielle oder berufliche Bildung“ selbst „die Wahrheit der Allgemeinbildung“ darstelle, vgl. zur Herkunft und Diskussion der These Ingrid Lohmann/Rudolf Strässer: Bildung und Praxis. Über den Satz: „Die Wahrheit der Allgemeinbildung ist die spezielle oder berufliche Bildung“. In: Günter Kutscha u. a. (Hrsg.). Bildung unter dem Anspruch von Aufklärung. Zur Pädagogik von Herwig Blankertz. Weinheim/Basel 1989, S. 69–83. 44Für die historische Dimension und institutionelle Verfestigung dieser Abwertung Wolf-Dietrich Greinert: Humanistische versus realistische Bildung. Eine Studie zur Ergänzung der Geschichte der „deutschen Sonderwege“. Hohengehren 2013. 45Eckard Klieme u. a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Berlin/ Bonn 2003. 46Dafür Jürgen Baumert/Petra Stanat/Anke Demmrich: PISA 2000: Untersuchungsgegenstand, theoretische Grundlagen und Durchführung der Studie. In: J.Baumert u. a. (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen 2001, S. 15–68.
22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion …
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literacy-Konzepte wurden als Rückfall hinter den alteuropäischen Anspruch der Bildung bewertet. Dabei wurde in nahezu alarmistischer Weise und gelegentlich auch in eigentümlich-polemischer Verzerrung der zitierten Argumente über Bildungsstandards und den Begriff der Kompetenzen diskutiert und prognostisch Bestand oder Untergang schulischen Unterrichts an die Wand gemalt. Nachdem die erste Erregung abgeklungen ist, muss man heute zwar nicht mehr die pejorativen Zuschreibungen des ‚funktionalistischen‘, ‚instrumentalistischen‘ oder ‚pragmatischen‘ Status ernsthaft diskutieren, die dem literacy-Konzept zugedacht wurden.47 Aber die Einordnung in die als krankhaftes Syndrom gezeichneten Phänomene der „Ökonomisierung“ und einer zum Grundübel der Bildungspolitik überzeichneten „neoliberalen Steuerung“, für die das schlechte Vorbild der USA stehe,48 die auch nicht die Ziele erreicht habe, die in der no-child-left-behindKampagne propagiert worden seien,49 sind geblieben. Solche Zuschreibungen verwechseln aber, wenigstens soweit die bundesdeutsche Situation angesprochen wird, Phantasmen mit der Realität, ignorieren die Differenz von Effekten und nutzen nicht einmal die ökonomische Metaphorik angemessen,50 zu schweigen
47Zahlreiche
Belege für überholte und schon damals nicht begründete Vorwürfe liefert Koch, 2004, für die Kritik an den bildungstheoretischen Prämissen der Klieme-Expertise vor allem Andreas Gruschka: Bildungsstandards und der Verbleib der Bildung. In: Pädagogische Korrespondenz H. 36, 2006, S. 5–22 sowie Beiträge in Dietrich Benner (Hrsg.): Bildungsstandards. Instrumente zur Qualitätssicherung im Bildungswesen. Chancen und Grenzen – Beispiele und Perspektiven. Paderborn (usw.) 2007, vor allem Heid und Ruhloff; für die außerdeutsche Thematisierung z. B. Lucien Criblez u. a. (Hrsg.): Lehrpläne und Bildungsstandards. Was Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Bern 2006, für dieganz andere Situation in den USA Münch 2018.
48Für
die immanenten Kontroversen und die Wandlungsprozesse selbst bei den Protagonisten von Schulreform sind die Veröffentlichungen von Diane Ravitch typisch, vgl. die problemsensible Diskussion bei Daniel Tröhler in Zeitschrift für Pädagogische Historiographie H. 2/2010, S. 115– 116 anlässlich von Diane Ravitch: Death and Live of the Great American School System. How Testing and Choice are Undermining Education. New York 2010. 49So argumentiert 2013 erneut in einer knappen, den gängigen alarmistischen Ton nicht meidenden Generalabrechnung Walter Herzog: Bildungsstandards. Stuttgart 2013. Herzog ordnet sich in den allgemeinen Klageton ein, obwohl er z. B. weiß, dass zwischen dem Klieme-Gutachten und der Bildungspolitik Differenzen bestehen und obwohl er auch – wie die KMK – einräumt, dass noch viel Forschungsarbeit notwendig ist, bevor man messbar fachspezifische Kompetenzen diskutieren kann. Seine Gleichsetzung jedweder Operationalisierung von schulischen Lehr-/Lernerwartungen mit behavioristischen Lerntheorien und den ihnen implizierten Handlungsstrategien ist im Übrigen schlicht falsch. 50Über die Schwächen der Argumentation mit „Economization“ belehren jetzt die Beiträge im Diskussionsteil von Heft 2/2016 der Zeitschrift Bildungsgeschichte – International Journal for the Historiography of Education, zumal der Einführungstext von Johannes Bellmann: A Critique of Economization Critiques from the Field of Educational Science (ebd., S. 212–229); im Lichte dieser Kritik sollte man auch die scharfe Kritik von Ingrid Lohmann lesen: I.L.: Der totale Bildungsökonomismus. Schulische und gesellschaftliche Folgen. In: Bank, Wert der Bildung, 2005, S. 251–272. Die erneute Bekräftigung solcher Argumente bei Joel Spring: Economization of Education. Human Capital, Global Corporations, Skills-Based Schooling. New York/London: Routledge 2015 überzeugt auch nicht, vgl. meine Rezension in: Bildungsgeschichte – International Journal for the Historiography of Education 6 (2016), S. 263–266.
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davon, dass das eigene Knappheitsproblem, also das Ökonomieproblem der Bildungspraxis und Pädagogik, schon in der Zeitdimension, selbst gar nicht diskutiert wird.51 Auch der bis heute oft wiederholte Einwand,52 in Kompetenzen – als dem Kernbegriff der Konstruktion von Bildungsstandards – gehe es um ein Können jenseits von Wissen, Inhalten oder fachlich präsenten und definierten Anforderungen, geht schon deswegen ins Leere, weil die Domänenspezifik, also die fachlich gebundene Bestimmung der Kompetenzen, den Ausgangspunkt des Klieme-Gutachtens und das Zentrum der Arbeit an Bildungsstandards darstellt. Die meisten der alten Vorwürfe haben sich heute auch schon dadurch erledigt, dass selbst frühe Kritiker den Sinn solcher Konzepte inzwischen eingeräumt haben und auch zur Kenntnis nehmen, dass es in Gesellschaften wie unseren schon sehr lange und auch wohl unausweichlich Debatten und pädagogisch-politische Versuche gegeben hat, „jenes notwendige Wissen und Können“ zu bestimmen, „das für weiterführendes Lernen unentbehrlich ist“.53 Schon seit Aristoteles werden nämlich solche, von einem jeden Mitglied der Gesellschaft erwarteten54 Kompetenzen der schulisch zu sichernden Grundbildung vorgetragen. Es sind Kompetenzen, die sich deutlich unterscheiden lassen von allgemeiner Menschenbildung, die das Leben insgesamt verlangt und befördert. Sie umfasst die Gesamtheit der „erst in einem fortgeschritteneren Alter zu erlernenden rhetorischen und philosophischen Kompetenzen, nach den Ursachen und Gründen des Kosmos und der Polis fragen sowie ein theoretisches und praktisches Leben führen zu können.“ Der Bedarf an einem gesellschaftlich zu generalisierenden „Orientierungswissen“, für einen „Kanon“, wie man traditionell sagte, für Grundbildung ist diesen Erwartungen relationierbar, aber zugleich davon unterscheidbar, als notwendige Vorstufe und unentbehrliche Propädeutik allgemeiner Bildung. Das Programm der Grundbildung oder der education for all ist deshalb alt, es gilt heute auch in der internationalen sozialphilosophischen Diskussion als gut begründet. Dazu muss man auch keine politischen Texte bemühen, wie sie von der UNO oder der Weltbank geliefert werden, gerechtigkeits- und bildungstheoretisch
51Ausführlich
dazu Heinz-Elmar Tenorth: Wer hat Angst vor der Ökonomie? In: H.-P. Füssel/ G.F. Schuppert (Hrsg.): Bildung im Diskurs. Ingo Richter zum 70. Geburtstag. Berlin 2008, S. 97–109. 52Andreas Gruschka behauptet das, wider besseres Wissen, vgl. A.G.: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011, u. a. S. 39 ff.; fachspezifisch wiederholt das z. B. Wolfgang Sander: Die Kompetenzblase – Transformationen und Grenzen der Kompetenzorientierung. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4(2013), S. 100–124, für die wirklichen Argumente der Expertise und ihre dazu vollständig konträre Position vgl. Klieme u. a., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards, 2003, S. 21 f. 53Dietrich Benner: Schulische Allgemeinbildung versus Allgemeine Menschenbildung? Von der doppelten Gefahr einer wechselseitigen Beschädigung beider. (zuerst ZfE 2005). In: D. B.: Bildungstheorie und Bildungsforschung. Grundlagenreflexionen und Anwendungsfelder. Paderborn 2008, S. 216–228, zit. S. 226 f. sowie für meine Zitate aus seiner Paraphrase von Aristoteles’ „Politik“ S. 223 f. 54Dieses klassische, im Kern politische Argument erneuert im Plädoyer für den „Kanon des Orientierungswissens“ Nida-Rümelin, Bildung, 2013, bes. S. 236 ff.
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sind eigene und selbstständige Begründungsformen verfügbar, nicht nur bei Michael Walzer (s. o.). Exemplarisch kann die Qualität dieser Argumentation an einem Text von Stefan Gosepath gezeigt werden, der im Kontext von Gleichheitsdebatten die Frage beantwortet „What does equality in education mean?“ Gosepath bearbeitet dabei, gut bildungstheoretisch, die Frage nach Einheit und Differenz im Bildungsprozess zugleich. In seinem Vorschlag unterscheidet er drei Level von Bildung und entsprechend drei Gleichheitsforderungen: „(A) basic education for all; (B) the cultivation of individual talents and capacities; and (C) selection for higher education and the job market.“55 Education for all bildet für ihn die basale Ebene, die noch keine Unterscheidung duldet oder allein erzeugen darf. Für diesen Level sieht er als zentrale Themen „capabilities such as literacy, numeracy, and basic knowledge of the natural sciences and humanities“. Mit ihnen sei nicht nur Bildung für alle gesichert, sondern auch Weiterlernen selbständig möglich. Deshalb seien auch nach dieser Stufe die Unterschiede legitim, die im je individuellen Bildungsprozess erzeugt werden, Gleichheit zumal als schulische Bringeschuld nicht mehr begründbar oder gefordert. Gosepath greift zur Rechtfertigung seiner Unterscheidungen auf drei Argumente zurück, die Bildung je eigenen Wert zuschreiben, und zwar „quasi-transcendental“, mit der Erläuterung: „without at least minimal education and knowledge, we would not be able to live our own lives“; Bildung wird dann auch für ihn „the most important resource for coping with the challenges of everyday life.“ Hier regiere Gleichheit, der „outcome“ wird zum Maßstab, die Erwartung heißt: „all members of society should acquire the same basic capacities.“ Dieser Veralltäglichung von Bildung folgt ein zweites Argument, das die „pragmatic values“ von Bildung betont, die in der Eröffnung eines guten Lebens und in der Chance der Individuen lägen, „to enjoy the culture of their society and take part in public affairs.“ Erst in einem dritten Schritt rekurriert er auf den „intrinsic value“ von Bildung, ausdrücklich in Erinnerung an die deutsche Tradition, „in the sense of Bildung, in its own right.“ Sowohl für die Egalitätsforderung als auch für die Eröffnung von Differenzierung nimmt Gosepath, ohne sie zu diskutieren, also exakt die Referenzen der bildungstheoretischen Diskussion auf, selbst das Bildungsminimum kann man in „minimal education“ identifizieren. Erweiterungen wünscht man sich allerdings jenseits der Dimensionen von Wissen für die curricularen und didaktischen Fragen (aber die sind ja auch nicht das erste Problem einer grundlagentheoretischen sozialphilosophischen Diskussion). Die offene bildungs- und schultheoretische Frage heißt deshalb, was denn zu dieser Grundbildung gerechnet werden muss, was die „Elementaria“ ausmacht, mit denen das Notwendige an Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten definiert wird? Bei Aristoteles war es Lesen und Schreiben, Leibesübung, musische Kunst und Zeichnen. Später, im 19. Jahrhundert, postulierte z. B. der liberale Philosoph Friedrich Albert Lange für diese Fächergruppe, deren
55Stefan
Gosepath: What does equality in education mean? In: Kirsten Meyer (Hrsg.): Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system. Oxford, New York (Routledge) 2014, S. 100–112, zit. 102, dort auch die weiteren Zitate.
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„Unentbehrlichkeit“ er „aus dem allgemeinen – für Christen Juden Heiden gleichen – Staatszweck“ begründete, etwas begrenzter: Dann „dürfte die Schule in diesem Falle nichts bieten als Turnen …, Elemente der Gesetzeskunde, Lesen und Schreiben. Letzteres mit Beziehung auf den Gebrauch in Dokumenten, Ersteres mit Rücksicht auf die Wehrpflicht.“56 Aktuelle Vorschläge für „Basiskompetenzen“, die auch für Demokratien taugen, nehmen das z. T. auf, aber sie schlagen im Kontrast und in Erweiterung die folgenden Dimensionen vor, wenn der „Kernbestand kultureller Literalität“ bestimmt werden soll. Als „Basiskompetenzen“ gelten dann z. B.: • Beherrschung der Verkehrssprache • mathematische Modellierungsfähigkeit • Selbstregulation des Wissenserwerbs • Kompetenz im Umgang mit modernen Informationstechnologien und • Fremdsprachliche Kompetenz.57 Die Differenzen in der Bestimmung von Grundbildung und Basiskompetenzen sind zwar unverkennbar, sieht man etwa, dass in vielen Konzepten z. B. das musische Element fehlt oder auch die Leibesübungen, die Aristoteles schon nannte, oder auch Religion oder der historisch-politische Komplex. Aber sichtbar dürfte auch sein, dass die kritisch geäußerte Vermutung, hier gehe es der Messbarkeit wegen um „die Definition funktionaler und invariabler kultureller Basiskompetenzen“,58 so wenig zutrifft wie die im Sinne der Entwarnung geäußerte Unterstellung, die Grundschule sei heute der Ort, an dem solche Basiskompetenzen hinreichend erworben würden. Schon die aktuell notwendige Zurechnung von Fremdsprachenkompetenz spricht dagegen. Innerhalb der bereits diskutierten Frage nach dem Kanon schulischer Allgemeinbildung sieht man andererseits, dass es um die Relationierung dessen geht, was schulische Curricula im Blick auf den Adressaten seit altersher geordnet und aufeinander bezogen haben. Das war nicht nur oder primär Wissen, sondern umfasste „Kulturwerkzeuge“ einerseits, „Modi der Weltbegegnung“ andererseits, wie das z. B. in einem aktuellen Versuch eines Konzepts moderner Allgemeinbildung definiert wurde.59 Die eine Dimension bezieht sich auf die notwendigen „Sprach- und Selbstregulationskompetenzen“, und die repräsentieren mehr als nur einfache Kulturtechniken; die andere Dimension besteht im „kanonischen Orientierungswissen“,
56Friedrich
Albert Lange in einem Brief vom 4. Dezember 1863 an Friedrich Wilhelm Dörpfeld, in: F.A.Lange: Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862–1875. bearb. und hrsg. Von Georg Eckert. Duisburg 1968, zit. S. 127. 57Bildungskommission der Länder Berlin und Brandenburg: Bildung und Schule in Berlin und Brandenburg. Herausforderungen und gemeinsame Entwicklungsperspektiven. Berlin/Potsdam 2003, S. 80. 58Wie Koch 2004, S. 186 unterstellt. 59Jürgen Baumert: (2002): Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: N. Killius/J. Kluge/L. Reisch (Hrsg.). Die Zukunft der Bildung. Frankfurt a. M., S. 100–150, bes. S. 112 ff.
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und zwar in mehreren Dimensionen. In dem genannten aktuellen Beispiel werden die Dimensionen des „kognitiv-instrumentellen“, des „ästhetisch-expressiven“, des „normativ-evaluativen“ und der „Probleme konstitutiver Rationalität“ genannt (und mit denkbaren Schulfächern verbunden, ohne mit ihnen identisch zu sein). In älteren Texten, die auch schon eine kanonische Struktur der Themen von Schule bezeichnet haben, so z. B. bei Wilhelm von Humboldt, werden die schulisch zum Thema werdenden Aufgaben, einfacher, nur als „Kenntnisse“, vorgestellt und in vier Dimensionen geordnet: historisch und linguistisch, mathematisch und ästhetisch, und vom Schulunterricht wird immer erwartet, dass er „philosophisch“ zu sein habe, also reflexiv.60 Grundbildung ist insofern nie als mechanische Einübung verstanden worden, sondern immer als aktive Auseinandersetzung mit der Welt, als elementare Form der Bildung, d. h. immer in der Stufung von Initiation und Reflexion, als sich selbst aufbauende Lernbiografie. „Grundbildung“ bedeutet daher auch nicht nur Einführung in eine kulturelle Überlieferung, oder gar in nur eine spezifische, vielleicht die gymnasiale, Tradition, sondern anderes und mehr, generell: „Ausstattung zum Verhalten in der Welt“, und insofern auch das „zivile Minimum“,61 das man als eine „Minimalmoral“ interpretieren und in ihrer unersetzlichen Funktion als Ziviltugendhaftigkeit auch aufweisen kann.62 In der Debatte über Demokratie und Demokratieerziehung werden solche Vorstellungen jetzt schon genutzt, um die Standarderwartungen an „Zivilität“ festzuhalten, wie man mit Kant sagen könnte. Auch für einen politisch engagierten und an öffentlicher Kommunikation interessierten Linguisten wie José Morais gehören die Schreib- und Lesefähigkeiten, und zwar als Kritikfähigkeit und deutlich jenseits reduziert-minimaler Standards, zu den notwendigen Voraussetzungen einer demokratischen Lebensform und eines legitimen politischen
60Vgl.
meine Interpretation des Kanonproblems, oben in IV.20.1, beim Kriterium des „Allgemeinen“. 61Bei Axel Honneth: Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15 (2012), S. 429–442, zit. S. 434 wird sogar – mit einem m.E. nicht ganz unproblematischen Begriff – von der „Anerziehung eines ‚zivilen Minimums‘“ gesprochen (unter Bezug auf „Gutmann 1999, S. 292–303“, d.i.: Gutmann, A. (1999) Democratic education (revised ed.). Princeton: Princeton Univ. Press.). Honneth erwartet mehr als Zivilität, propagiert aber eine quasi demokratisch legitimierte Indoktrination (was er natürlich viel schöner ausdrückt), ohne Rücksicht auf die Methodik politischer Bildung. 62Gegen die Skepsis von Niklas Luhmann gegenüber der Möglichkeit oder Notwendigkeit einer Moral für funktional differenzierte Gesellschaften hat Gertrud Nunner-Winkler eine solche Moral in ihrer „faktischen Geltung“ nachzuweisen versucht und sie philosophisch und (u. a. mit Rawls) als eine, wenn auch häufig nur implizite Anerkennung im „Modell der hypothetischen Zustimmung aller unter dem Schleier der Unwissenheit“ der Prinzipien der Gleichheit, Unparteilichkeit und Schadensvermeidung rekonstruiert, in: G. N.-W.: Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften und keine Moral? Ziviltugendhaftigkeit als notwendige Bedingung der Stabilisierung demokratischer Gesellschaften. In: Ingrid Plath u. a. (Hrsg.). Kultur – Handlung – Demokratie. Dreiklang des Humanen. Wiesbaden 2008, S. 67–88, für den Verweis auf Rawls und die „grundlegenden Moralprinzipien eines modernen Moralverständnisses“ S. 76 f.
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Fortschritts.63 Da mögen vielleicht die Möglichkeiten schulischer Grundbildung deutlich überschätzt werden, auch wenn Literalität neu ins Recht gesetzt wird. Die Generalisierbarkeit von hoch ansetzenden Erwartungen an die Kompetenzen der Lernenden wird ja auch an anderer Stelle problematisiert, z. B. bei der moralischen Erziehung.64 Die „Höherbildung“ der Gattung, gar gemessen an den hohen Standard der Stufen des moralischen Bewusstseins, die man aus der großen Theorie z. B. von LawrenceKohlberg beziehen kann, sind schon wegen der Zentrierung auf die kognitive Dimension offenbar kaum generell erwartbar. Aber ist Realismus deswegen diskreditiert, wäre es nicht schon viel, wenn man als Minimum „Zivilität“ generell erwarten dürfte oder so altertümliche Maximen wie die Sekundärtugenden?65 Die befreiende Kraft der kompetenten Beherrschung des lesenden und schreibenden Umgangs mit Welt wird zu Recht betont – und die Ängste der regierenden vor dem autonomen Gebrauch der Medien, die sich in der Geschichte belegen ließen, bestätigen das ja auch. Schließlich, auch wenn die Generalisierung eines Moralbewusstseins nicht den großen Vorgaben entspricht, das Bewusstsein der moralisch-ethischen Geltungsdifferenz von Praktiken und Handlungen kann Schule als Lebensform offenbar doch generalisieren, selbst wenn Denken und Handeln dann auch lebensweltlich nicht immer konsistent aufeinander bezogen werden. Grundbildung, das bleibt die bildungstheoretisch notwendige Erwartung, hat ihre eigene Legitimität, zeitlich gesehen, für die Welt hier und jetzt und für die denkbaren Zukünfte, auf die alle aktuell Lernenden treffen werden, sowie, sachlich und sozial, für die Probleme, mit denen uns diese Welt konfrontiert. Nur wer allein von „Höherbildung“ aus denkt oder nur die traditionelle Lebensform alteuropäischer Gelehrsamkeit als seine Welt anerkennt, wird den R atschlag geben,
63José
Morais: Literacy and Democracy. In. Language, Cognition and Neuroscience 33 (2018) 3, 351–372 – und man muss hervorheben, dass er von einem starken Begriff von Demokratie und der Demokratisierung aller Lebensbereiche ausgeht, den er von „pseudodemokratischen“ Praktiken und der Eliteherrschaft auch in westlichen Demokratien deutlich abgrenzt. 64Eine Debatte zwischen Roland Reichenbach und Fritz Oser hat die Möglichkeiten der Moralerziehung zum Thema gemacht, vgl. die skeptische Position bei Roland Reichenbach: Preis und Plausibilität der Höherentwicklungsidee. sowie als Replik Fritz Oser: Chimäre oder Person: Eine Antwort auf Roland Reichenbachs „Preis und Plausibihtät der Höherentwicklung". beide in Zeitschrift für Pädagogik 44(1998)2, S. 205–221, bzw. 223–230. 65Reichenbach hat an anderer Stelle dafür plädiert, vgl. R.R.: Civilty as a Pedagogical Category. In: The Korean Journal of Philosophy of Education 50 (2010), S. 87–104; sogar den seit Heinrich Himmlers Bemerkungen in eindeutigen Mißkredit geratenen „Anstand“ hat er neu diskutiert: Roland Reichenbach. Anstand als Kategorie der Politischen Bildung In W. Herzog; P. Gonon/C. Crotti (Hrsg.), Pädagogik und Politik. Historische und aktuelle Perspektiven. Festschrift für Fritz Osterwalder. Bern 2007, S. 317–333, u. a. mit dem bemerkenswerten Argument: „Aber Anstand ist auch Abstand gegenüber sich selbst.“ (zit. 325). In einem weiteren Text verbindet er „Zivilität und Anstand“ und plädiert für die „unterschätzte“ Rolle von Anstand für die Demokratie, in: Roland Reichenbach: „Von dem erlaubten moralischen Schein“ – zur Bedeutung von Zivilität und Anstand. In: Ingrid Plath u. a. (Hrsg.). Kultur – Handlung – Demokratie. Dreiklang des Humanen. Wiesebaden 2008, S. 89–107.
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die Vorbereitung auf die alltäglichen Beschwerden, die berufliche Arbeit oder rationales ökonomisches Handeln aus dem Kreis der Bildung auszuschließen oder das Thema überhaupt als „technokratisch“ zu diskreditieren. Als pure „Kulturtechniken“ ohne eigenen Bildungswert kann man das nur abwerten, wenn man den enormen Anspruch ignoriert, der in dieser Form der Initiation steckt, und die Bedeutung verkennt, die diesen Kompetenzen dauerhaft für die selbstständige Aneignung von Welt zukommt. Grundbildung ist aber mehr, das Fundament, ohne das die ganze Selbstkonstruktion der Individuen in der Luft hängt. Erstaunlich bleibt deshalb doch, dass auch Pädagogen gegen „Basiskompetenzen“ polemisieren, als würden mit einem solchen Maßstab z. B. schon weitere Anstrengungen verboten. Im Gegenteil, bereits in der Klieme-Expertise wird, im Sinne Sprangers könnte man sagen, ausdrücklich gesagt, dass die Definition des Minimums die Freisetzung für andere und weitere Anstrengungen einschließt und ermöglicht. In dieser Zielvorgabe werden Verallgemeinerungserwartungen und Individualisierungsambitionen von Beginn an systematisch verbunden, Differenzierung, nicht Gleichmacherei ist die Referenz. Aber, wie immer die didaktischen und curricularen Probleme im Einzelnen auch gelöst, die Erwartungen in Schulfächer und Zeitbudgets übersetzt und Bildungsgänge sequenziert werden, schulische Grundbildung ist erst in diesen Dimensionen gegeben, nicht etwa nur in den Kernfächern, für die gegenwärtig Bildungsstandards formuliert oder Leistungen in PISA gemessen werden.66 Diese Grundbildung hat allerdings – und das macht tatsächlich eine ernsthafte politische Schwierigkeit ihrer Realisierung aus – im deutschen Bildungswesen bisher keinen exklusiven institutionellen Ort gefunden. Denn die vier- oder sechsjährige Grundschule reicht nicht aus, die Sekundarstufe I muss hinzugerechnet werden, und zwar in den vielfältigen Formen, die sie gegenwärtig hat und die erst allmählich auf ein zweigliedriges System mit Bildungsgängen gleicher Wertigkeit aber unterschiedlicher Profilierung hin neu strukturiert werden.67 Aber erst hier, in diesem neun- bis zehnjährigen Bildungsgang, wird Grundbildung in differenzierter Form realisiert, kanonisch normiert, dennoch im Fächerspektrum im Einzelnen offen und ebenso nach der Schulart und nach den je besonderen Aufgaben auch zeitlich variabel. Das muss schon deswegen gelten, weil es in keiner der Schularten allein um Grundbildung geht, sie vielmehr immer auch im Blick auf andere Referenzen, z. B. der Berufsfindung oder des immer notwendig zu erwartenden Anschlusses an weitere Bildungswege, spezifikationsfähig und steigerbar gestaltet werden. Keiner dieser Bildungsgänge darf aber reduziert gestaltet sein, wenn man den Anspruch der Grundbildung nicht verfehlen will.
66Aber
die PISA-Forscher sagen selbst explizit, dass sie in der Konzentration auf die Kernfächer und die dort gemessenen Leistungen nicht etwa ein neues Konzept der Allgemeinbildung formulieren wollten, vgl. Baumert/Stanat/Demmrich, PISA 2000, In: Baumert u. a., PISA 2001. 67Für diese schulstrukturelle Linie der Entwicklung vgl. die Beiträge in H. 4/2013 der Zeitschrift für Pädagogik.
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22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
Der jeweilige Bildungsgang und die klientspezifischen Erwartungen gewinnen deshalb organisatorisch den Primat. Der Bildungsgang definiert die Einheit des Lehrgangs und damit auch die Kompetenzen, die von schulischer Allgemeinbildung notwendig zu fordern sind, damit alle Heranwachsenden an unserer Gesellschaft selbstbestimmt teilnehmen können. Bildungsgänge sollte man daher auch von Schulformen deutlich unterscheiden. Als Bildungsgang wiederum lassen sich auch institutionell eröffnete und individuell gewählte, aber prinzipiell revidierbare Optionen von Lernwegen, die biografisch spätere Rückkehr in Bildungsprozesse eingeschlossen, interpretieren, die sich curricular und zeitlich sowie in ihrer aufeinander verwiesenen Wertigkeit und Anschlussfähigkeit je individuell unterscheiden lassen. Schon aktuell spielen Bildungsgänge im Bildungswesen eine große, häufig übersehene Rolle,68 auch keineswegs nur in der Weise, dass man primär institutionelles downgrading oder den Alltag von Abstiegsprozessen erleben muss. Bildungspolitik muss in diesem Feld Prioritäten setzen, d. h. in der Sicherung von Bildungsgängen die Chance der zeitlichen, sachlichen und sozialen Differenzierung, z. B. für Risikogruppen, eröffnen, aber zugleich die Gleichheit der Lernergebnisse erwarten, die man mit der Setzung von Mindeststandards vorgeben kann. Alle Schulen werden daran gemessen, ob sie diesem Maßstab entsprechen, und sollten nicht primär mit Sanktionen, sondern mit Praktiken der Unterstützung rechnen, wenn sie ihn verfehlen – das bedeutet die systemische Garantiefunktion. Schon darin unterscheidet sich die Debatte über Grundbildung von den hehren philosophischen Argumenten, dass sie das Argument ernst nimmt, dass Sollen auch Können impliziert, um gefordert werden zu können. Es ist diese, angesichts der zielmultiplen, nicht nur auf die Grundbildung allein ausgerichteten Schulformen unvermeidliche institutionelle Komplikation, die es sinnvoll, ja attraktiv sein lässt, Mindeststandards zu formulieren. Hier kann das Bildungsminimum seinen institutionellen Ausdruck finden, an ihnen kann die Realisierung der Grundbildung unabhängig vom institutionellen Ort gemessen und beobachtet werden. Die Arbeit an Bildungsstandards hat deshalb auch das Kriterium der Realisierbarkeit – neben sechs anderen – berücksichtigt, an dem sich jetzt die Bringeschuld der Schule klären lässt.69 In den Debatten über Bildungsstandards wiederum, wie sie zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit geführt werden, geschieht der Versuch der Standardisierung nicht nur in einem politisch legitimierten Kontext, hier wird öffentlich diskutiert und durch politische Vereinbarungen zu fixieren gesucht, auf welchem Niveau wir – in unserer Gesellschaft – in diesen Dimensionen Kompetenzen und Orientierung wünschen. Das ist auch die einzig sinnvolle
68Zur
Empirie u. a. Jürgen Baumert/Cordula Artelt: Bildungsgang und Schulstruktur. Einheitlichkeit und Individualisierung. In: Pädagogische Führung 4 (2003)4, S. 188–192. 69Die übrigen Kriterien sind: „Fachlichkeit, Fokussierung, Kumulativität, Verbindlichkeit für alle, Differenzierung, Verständlichkeit“ (vgl. Klieme u. a. 2003) – und sie zeigen, dass den Bildungsstandards die Ablösung vom Wissen nicht unterstellt werden kann.
22.4 Grundbildung – die Kultivierung von Selbstkonstruktion …
459
Funktion der Kritik an Bildungsstandards: Sie zwingt uns zu sagen, was wir in Schulen obligatorisch machen wollen. Das ist weniger als die Kultur der akademisch Gebildeten als normal unterstellt, aber sicherlich mehr als nur von Kulturtechniken bezeichnet wird. Unentbehrlich ist es, einen Mindeststandard zu definieren, den niemand unterschreiten darf. Dieser Mindeststandard ist, ebenso wie die „Regelstandards“, die von der KMK bezeichnet werden, ohne Zweifel selbst kulturabhängig, von unseren Vorstellungen und, vor allem, von der Realisierbarkeit in Schulen, nicht aus Prinzipien deduzierbar. Es ist also ein Problem kultureller und politischer Konventionen, über das beim Bildungsminimum verhandelt wird, keine theoretisch eindeutig entscheidbare, mit richtig vs. falsch codierbare Frage – und selbstverständlich, auch Konventionen bedürfen der Rechtfertigung, wenn sie mit generalisierendem Anspruch auftreten. Das Plädoyer für Mindeststandards ist deshalb nichts anderes als der Vorschlag für eine solche Konvention. Anders als die KMK sollte man diesen Standard aber nicht zu niedrig, also dadurch definieren, dass knapp oberhalb der Stufe I eine neue Standardstufe eingeführt, als Mindeststandard definiert und sogar beim mittleren Schulabschluss noch erlaubt wird, hilfsweise nach unten abzuweichen. Wenn das Bildungsminimum schon in den bekannten Graduierungsstufen definiert sein soll, dann muss man die Stufe II überschreiten und darf die Stufe drei in der Regel nicht wesentlich unterbieten. Das schließt ein, dass Reflexionsfähigkeit generalisiert werden muss, dass Berufsbildungsfähigkeit beim Abschluss der Sekundarstufe I nicht unterboten werden darf, aber der Mindeststandard in der Sekundarstufe I höher sein muss als aktuell. Heute begnügen sich die vom IQB entwickelten und von der KMK akzeptierten Standards damit, den Regelstandard am Ende der Grundschule für das erwartete Ergebnis von 9 Jahren Schulzeit als Mindeststandard zu bekräftigen – und fordern damit zu wenig. Die Argumentation mit Standards hat natürlich Konsequenzen für die Arbeit in Schulen, im Selbstanspruch und in den Folgen beim Unterschreiten der Erwartungen. Das Verlassen der Pflichtschule ohne anschlussfähiges Zertifikat und zugleich ohne garantierte, für weiteres Lernen und/oder die Ausbildung notwendige und hinreichende Kompetenzen,70 darf man politisch im Bildungssystem nicht tolerieren. Innerhalb der Sekundarstufe I muss deshalb auch die Chance zur Erweiterung der Angebotsstruktur explizit verfügbar werden, z. B. in Lernprogrammen für „lernentwöhnte Kinder“71 oder bei Schulabstinenz. Innerhalb der
70Die
aktuell offenbar weithin tolerierte, allenfalls politisch symbolisch brauchbare Tatsache, dass die Zahl der Schulabsolventen ohne Abschluss konstant sinkt, aktuell unter 7% liegt, aber gleichzeitig in derselben Schulkohorte die Zahl der Absolventen mit einem Kompetenzniveau auf Stufe I oder darunter konstant in der Nähe von 20% liegt, signalisiert nur eine für die Lernenden unverantwortliche Senkung von Kriterien bei der Zertifikatsvergabe. Die hohen Scheiterquoten in der beruflichen Bildung belegen aber, dass sich die Sekundarschulen damit über ihren Bildungsmißerfolg bei der Risikogruppe gravierend selbst hinwegtäuschen. 71Anregungen dazu gibt es ja: Neben den schon klassischen Überlegungen von Gotthilf G.Hiller, u. a.: Ausbruch aus dem Bildungskeller. Pädagogische Provokationen. Langenau 1989 aktuell u. a. Magda von Garrel: Instandsetzungspädagogik. Integrationsansätze für lernentwöhnte Kinder. Göttingen 2012; man findet solche alternativen Schulangebote auch in den Programmen „produktiven“ oder „praktischen Lernens“.
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22 „Gleich“ – Organisation und Praxis im Bildungssystem
anschließenden Ausbildungs- bzw. Bildungsphasen sollten bei der Initiation in den Beruf für die Risikogruppen immer auch Programme bereitstehen, die eine nachgehende Vermittlung von Basiskompetenzen mit beruflicher Erstausbildung verbinden.72 Lernmöglichkeiten im Bildungssystem müssen sich, bildungstheoretisch gesehen, auch nach der Pflichtschulzeit vor solchen zugleich an Bildungsgerechtigkeit und Bildungsgleichheit begründeten Erwartungen ausweisen. Wer dagegen Grundbildung missachtet und deswegen Standardisierung oder die Nach-Pisa-Politik kritisiert, der gibt leichtfertig die Chance preis, die Basis für weitere Lernprozesse zu legen, und damit auch Bildungsprozesse nach der Schule und für berufliche Arbeit zu eröffnen. Ungleichheit wird wesentlich hier erzeugt, und zwar pädagogische Ungleichheit, solche, die schulischen Lernprozessen und professionellen pädagogischen Anstrengungen wirklich zurechenbar ist, anders als die gesellschaftliche Ungleichheit, die sich zahlreichen Faktoren, nicht allein oder auch nur primär schulischen Anstrengungen verdankt. Gleich und auch gerecht ist deshalb ein Bildungssystem erst dann, wenn es den Kanon der Grundbildung institutionalisiert, dafür angemessene Lernangebote allgemein erwartbar macht, und zugleich die Verantwortung dafür trägt, dass dieser Kanon an Wissen und Fähigkeiten so generalisiert wird, dass die Subjekte selbstständig über die damit erwarteten Kompetenzen verfügen, sichtbar in der Bewältigung des Alltags, in weiteren Bildungsgängen und in beruflicher Ausbildung und Arbeit.
72Auch
dafür gibt es nachahmenswerte Modellprogramme, vgl. u. a. für das Programm AlphaGrund Marie-Louise Rendant (Hrsg.): Grundbildung. Bildung mit Mehrwert. Frankfurt a. M. (usw.) 2016.
Kapitel 23
„Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
Vor diesem Hintergrund, das eröffnet die Diskussion des vierten Kriteriums des Versuchs, die Gestalt des Bildungssystems bildungstheoretisch zu begründen, ist es gerechtfertigt, den Status dieser Grundbildung als „Humankapital“ zu bezeichnen, d. h. als ein Vermögen, das Individuen je einzeln zurechenbar und nutzbar und zugleich gesellschaftlich präsent, kalkulierbar und erwartbar ist. Aber man hütet sich natürlich sofort, diese Metaphorik der Ökonomie ganz ohne Erläuterung zu nutzen. Der Kapital-Begriff ist nahezu verfemt in der Bildungsdebatte, sicherlich bei Bildungstheoretikern, die sich der Tradition verpflichtet fühlen. Aber inzwischen möchte auch in der öffentlichen Debatte niemand in den Verdacht geraten, Bildung als Ware zu betrachten. Dabei wird aber nicht allein historisch und schon im Ursprung Bildung als bedeutsam für eine Vielfalt von Welten betrachtet, auch in der Erziehungsphilosophie werden Bildung und Erziehung als bedeutsam nicht allein im Blick auf das Subjekt beurteilt,1 und es gilt wohl auch nur für ein Segment dieser Debatte, dass die Referenz auf Ökonomie als irreparabel problematisch beurteilt wird. Schon die öffentliche Debatte dementiert solche Bedenken nämlich ganz eindeutig, denn wie selbstverständlich rechnen Politiker und Ökonomen damit, dass qualifizierte Individuen sich in ihrem Lebenslauf auch ökonomisch besser
1Die außerdeutsche Erziehungsphilosophie kann das offenbar auch mit größerem Selbstbewusstsein tun, wenn sie über „educational goods and values“ in der Absicht der Politikberatung spricht. Ein Exempel für solche mehrperspektive Relationierung sehe ich jedenfalls bei Harry Brighouse/Helen F. Ladd/ Susanna Loeb/Adam Swift: Educational goods and values: A framework for decision makers. In: Theory and Research in Education, 14(2016)1; https:// doi.org/10.1177/1477878515620887 (Chicago 2018 als Buch ausgearbeitet). Sie sehen die „educational goods“ materialisiert in „knowledge, skills, dispositions and attitudes“, sprechen ihnen eine „capacity“ in den folgenden Dimensionen zu: „Economic Productivity, Personal autonomy, Democratic Competence, Healthy Personal Relationships, Treating Others as Equals, Personal Fulfillment“ und diskutieren von da aus Prioritäten der Zuteilung und Kriterien der Bildungspolitik.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_23
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
reproduzieren können. Der Wert schulischer Bildung wird auch immer neu an den Differenzen der Bezahlung relativ zu schulischen Zertifikaten demonstriert. „Bildung lohnt sich“ ist eine gängige These und Bildung wird nicht zufällig und allseits als das beste Mittel angepriesen, diejenigen Nachweise und Kompetenzen zu erwerben, mit denen die eigene Zukunft besser zu gestalten sei. Die unterliegende These ist dabei immer, dass es sinnvoll und aussichtsreich ist, das kulturelle Kapital zu nutzen, das man in Bildungsprozessen erwirbt und das sich im Zertifikat, in „Bildung als Besitz“, symbolisch und zugleich marktfähig niederschlägt. Die gesellschaftsweite Anerkennung dieser Tatsache ist deshalb auch nicht nur für den Bildungshistoriker und Soziologen seit langem als Thema präsent.2 Denn ganz ohne Frage, „Bildung“, als Vermögen von Individuen, manifest dokumentiert im Zertifikat, als gesamtgesellschaftlich verfügbare Struktur von Qualifikationen oder als Erwartung in Schulen oder in Bedingungen der Finanzierung von Weiterbildung, kann in mehr als einem Sinne als eine bedeutsame Ressource beschrieben werden. Mag die Sprache der Bildungsökonomen zu nüchtern sein, so ist die Entrüstung gegen diese Perspektive zu emphatisch; denn auch für die Kritiker der Ökonomisierung von Bildung, das werden sie kaum leugnen können, hat die eigene Bildung unverkennbar einen Wert. Schon Karrieren im Wissenschaftssystem sind, wie die Kritiker aus ihren eigenen Karrieren und Karriereambitionen wissen, nichts anderes als eine Form der Kapitalisierung von Bildungsanstrengungen. Die aktuelle Klage über die den jungen Akademikern drohende „Prekarisierung“3 belegt das auch als allseits unterstützte Erwartung. Distanziert gegenüber der Verweigerung, Bildung auch als ökonomischen Wert und insofern als Humankapital zu betrachten, soll deshalb im Folgenden4 Bildung als Ressource in ihren vielfachen individuellen und gesellschaftlichen Referenzen als ein Wert eigener Art thematisiert werden, in Kompetenzen und Zertifikaten je individuell und kollektiv präsent. Das ist begleitet von der Frage, welche Geltung der Betonung der permanenten Konflikte
2Die
notwendigen Hinweise auf die Literatur folgen in den einzelnen Unterabschnitten, aber natürlich kann man nicht übersehen, dass zumal Pierre Bourdieu die Kapital-Rhetorik mit der von ihm praktizierten Unterscheidung unterschiedlicher kultureller, sozialer, symbolischer, inkorporierter (etc.) Kapitalsorten wesentlich bestimmt hat und inzwischen wie eine Art abgesunkenen Kulturgutes genutzt wird. Das geschieht natürlich auch hier (und für die Literatur zu Bourdieu vgl. Anm. 3 in Kap. IV.19 oben). 3Für die pädagogischen – inzwischen nahezu insgesamt akademisierten – Berufe wird das intensiv diskutiert, und zwar als Diskrepanz zwischen dem Wert des Zertifikats und der Arbeit und dem Marktwert der Beschäftigung, vgl. Fabian Kessl/Andreas Polutta/Werner Thole/ Isabell van Ackeren und Rolf Dobischat (Hrsg.): Prekarisierung der Pädagogik – Pädagogische Prekarisierung? Erziehungswissenschaftliche Vergewisserungen. Weinheim/Basel 2014. 4Im folgenden Abschnitt werden, z. T. auch wörtlich, Auszüge aus einer früheren Veröffentlichung verwendet: Heinz-Elmar Tenorth: Bildung – Ressource im Konflikt. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht – GWU 63 (2012), 9/10, S. 567–581.
23.1 … als Wert in sich selbst
463
zukommt, die in der kritischen Rede von Bildung diesen Prozess der Konstruktion und Verwertung von Bildung konstant begleitet.5 Der strategisch bedeutsamste Ort solcher Konstruktion ist in modernen Gesellschaften das Bildungssystem, und zwar in seiner Gesamtheit. Es wird deshalb auch als Einstieg gewählt, um zu zeigen, wie Bildung als das individuell inkorporierte, symbolisch präsente und gesellschaftlich geforderte Humankapital pädagogisch definiert und konstruiert sowie für die individuelle und gesellschaftliche Verwertung vorbereitet wird. Die Referenzen der Analyse entstammen im Wesentlichen der deutschen Bildungsgeschichte, nicht etwa, weil die angesprochenen Auseinandersetzungen über die Ziele und Formen, Möglichkeiten und Funktionen des Bildungssystems nur hier zu beobachten wären oder Bildung in dieser Dimension allein ein deutsches Thema wäre, sondern nur aus Umfangsgründen. Bildung ist als Ressource in vergleichbarer, auch vergleichbar konflikthafter Funktion als zentrale soziale Tatsache in allen modernen Gesellschaften und Staaten präsent, wie selbstverständlich auch immer in ambivalenter Gestalt, als ein wesentlicher Mechanismus der Konstitution von Differenz und damit der Bestätigung und Beförderung von Ungleichheit, aber auch als ein Faktor der Individualisierung und Egalisierung. Den unterschiedlichen Dimensionen, in denen sich Bildung als „wertvoll“ diskutieren lässt, gelten die folgenden Überlegungen, und natürlich, Bildung muss zuerst als Wert in sich selbst betrachtet werden. Das ist man schon der Tradition und dem dominierenden Gestus der Rede von Bildung schuldig.
23.1 … als Wert in sich selbst Nicht nur in der deutschen philosophischen Tradition und vor allem in der stark subjektzentrierten Rezeption und Exegese der Überlieferung wird Bildung immer neu und zuerst als Wert in sich selbst gesehen. Allerdings, eine solche Qualifizierung als Wert ist dabei schon in der Zurechnung – denkt man an Individuen und/oder Bildungsgüter – keineswegs eindeutig und einfach, sondern verweist auf spannungsreiche Zuschreibungen. Sie sind nicht zuletzt mit den Varianten des Bildungsbegriffs selbst verbunden, und mit den Implikationen, die sich für die Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt verbinden können. Betrachtet man diese Relationen prozessual vom Individuum und seinen Selbstentwürfen aus, dann stellt sich im Blick auf das Ergebnis dieser Relation sogleich die Frage
5Einen breiten und nützlichen Überblick über Theorie und Geschichte, Rezeption und Kritik zum Thema bieten die Beiträge in Volker Bank (Hrsg.): Vom Wert der Bildung. Bildungsökonomie in wirtschaftspädagogischer Perspektive neu gedacht. Bern/Stuttgart/Wien 2005. Auf den spezifisch wirtschaftspädagogischen Theorievorschlag, den der Herausgeber selbst vorlegt, kann ich hier nur verweisen. Er plädiert für eine systematische Zuordnung von Qualifikation, Kompetenz und Bildung, um die Relation von Anstrengung und Nutzen der Bildung zu klären.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
nach dem Status des Produkts zwischen Privatheit und subjektiver Beliebigkeit hier, der Allgemeinheit und Legitimierbarkeit dort. Hier wirkt also, in welchen Schwundstufen immer, die Tradition der Bildungsreflexion nach, und zwar in zweifacher Weise. Sie konnte, vor allem in Hegelschen Bahnen, zunächst für den Status von Subjektivität und Individualität im Begriff der Person zwischen einer zu überwindenden Privatheit und rechtfertigungsfähiger und wünschenswerter Allgemeinheit unterscheiden, wenn sie das Selbst und seine Praxis als Ergebnis der Mensch-Welt-Beziehungen diskutierte und damit den Eigenwert von Bildungsprozessen zurechnete und qualifizierte. Die Tradition konnte zugleich der Kultur und den Bildungsgütern selbst einen eigenen Wert zusprechen, weil sie legitime Bildungswelten als Manifestationen des objektiven Geistes interpretierte, die ihre Geltung, ja ihre Wahrheit und ihren Wert in sich selbst haben, unabhängig von der je subjektiven Aneignung. Kulturtheoretisch sind solche Zuschreibungen heute nicht mehr ganz einfach, wie schon die Kritik an der „Kulturindustrie“ und an den Marktgesetzen belegt, von denen die kulturelle Praxis insgesamt regiert werde. Aber auch trotz aller Krisen des Werkbegriffs und gegen allen literarischen Kritizismus können Literaturtheoretiker z. B. auch heute noch über den Wert der Literatur schreiben und sie in ihrer spezifischen Literarizität als eine Form des Umgangs mit Welt charakterisieren, die sich durch andere Formen des Weltzugangs nicht ersetzen lässt, insofern eigenen Wert hat.6 Diese Argumentation eröffnet wiederum den Anschluss an eine Rechtfertigung des schulischen Kanons, die auch bildungstheoretisch nicht ganz unbekannt ist. Die Spannung in den Zuschreibungen von Wert lösen sich dennoch nicht so einfach auf, auch wenn man nur an die je individuelle Praxis im Umgang mit Welt und den Zumutungen des Bildungssystems denkt. Man findet zwar in der internationalen sozialphilosophischen Debatte z. B. über Bildungsgerechtigkeit Vorschläge zur Unterscheidung des Wertes von Bildung, die Ambivalenz in der Zurechnung auf das Subjekt oder die Kultur bleibt aber bestehen. StefanGosepath z. B. (s. o.) hat drei Argumente genutzt, um den Wert der Bildung zu begründen: „quasi-transcendental“ bestehe ihr Wert darin, dass Bildung je individuell als zentrale und unersetzliche Ressource zur Bewältigung des Alltagslebens bezeichnet und gesellschaftlich auch unterstellt wird; die „pragmatic values“ von Bildung wiederum bestehen für ihn in der Eröffnung eines guten Lebens und in der Chance der Individuen, an ihrer Gesellschaft und Kultur, Politik und Ökonomie verständig und selbstbestimmt teilzunehmen. In einem dritten Schritt
6Darüber
haben mich jedenfalls Gespräche mit meinem anglistischen Kollegen Jürgen Schlaeger immer neu belehrt, vgl. u. a. J.S.: Cultures and Value. In: Journal for the Study of British Cultures 9(2002)1, S. 95–107. Dieser Eigenwert der Literatur wurde auch in der Kritik an der Sozialgeschichte der Literatur artikuliert, wie man mit Karl-Heinz-Bohrer oder Wilfried Barner exemplarisch, aber besonders deutlich belegen kann (vgl. meine Hinweise und den Kontext in H.-E.T.: Wem gehört der Text, was sagt die Literatur? Literatur als Argument in der historischen Bildungsforschung. In: M. Huber/G. Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 409–422).
23.1 … als Wert in sich selbst
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rekurriert er dann auf den „intrinsic value“ von Bildung und sieht in diesem Wert, ausdrücklich in Erinnerung an die deutsche Tradition, „Bildung, in its own right.“ Die Unterscheidung von „transcendental“ – ohne Eigenwert oder doch als unbestreitbar-unhintergehbarer Wert in sich selbst? – und „intrinsic“ – als Wert in sich selbst – erweitert aber eher die Schwierigkeiten. „Intrinsisch“ hat als Begriff innerhalb der Motivationspsychologie seine systematische Bestimmung gefunden, wenn auch nicht ohne kontroverse Debatten.7 Im Dual von „intrinsisch“ und „extrinsisch“ präzisiert, wird damit das Thema beschrieben, wie und mit welcher Motivation Individuen sich u. a. in schulischen Lernprozessen mit Aufgaben, z. B. Lerninhalten, auseinandersetzen, denen sie sich konfrontiert sehen. Mit intrinsisch wird damit eine Motivation bezeichnet, die z. B. eine schulische Auseinandersetzung „mit Lerninhalten ‚um ihrer selbst willen‘ anstrebt“, während „ein extrinsisch motivierter Lerner … dagegen ‚von außen her‘ motiviert“ ist (221), also z. B. von Belohnungen, die in Aussicht gestellt werden, oder von Folgen, die vermieden werden sollen. Die Psychologen sehen dann schon selbst, dass das Dilemma der Tradition wiederkehrt. Die intrinsische Motivation kann sich nämlich zum einen „tätigkeitszentriert“, d. h. je subjektiv auf den Umgang mit der Aufgabe selbst beziehen, die z. B. kognitiv-intellektuelles Vergnügen bereiten kann und darin, je individuell, ihren Wert hat, oder zum anderen „gegenstands-zentriert“, d. h. aus dem „speziellen Inhalt“ der Aufgabe ergeben (221). Die aus der Bildungsreflexion bekannte zweifache Referenz für die Zuschreibung des Wertes wiederholt sich also immanent in der intrinsischen Dimension, ohne die Spannungen zwischen subjektiver und allgemeiner Qualität aufzulösen, die sich z. B. angesichts der Subjektivität in der Wertschätzung des schulischen Curriculums erneut stellen. Zugleich, das erweitert die Unterscheidungen subjektbezogen, sind offenbar Zeitfragen zentral, und zwar Zeiten unterschiedlicher Dauer, die für den Wert Relevanz gewinnen können. Der bildungstheoretisch wohl bekannte „fruchtbare Moment“(Copei) z. B. ist ohne große Mühen im Erlebnis von „flow“ wiederzufinden. Auch das Interesse der Psychologen an einer „Selbstbestimmungstheorie von Motivation“ und ihre Aufmerksamkeit für das „Interesse“, dem sich die Dynamik individueller Lernprozesse verdankt, erinnert an bekannte Schwierigkeiten und die Vielfalt der Referenzen der Bildungsreflexion.8 Die Spannung zwischen ‚Kultur‘ und ‚Subjekt‘ ist offenbar nicht leicht auflösbar, die Vielfalt je subjektiv gewählter Lebensformen und praktizierter Selbstinszenierungen wird aktuell nicht zufällig normativ, z. B. zwischen „authentisch“ und „Bluff“ qualifiziert.9 Die Rede von 7Eine
so knappe wie hilfreiche Übersicht zum Problem geben z. B. Andreas Krapp/Bernd Weidenmann: Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch. 4. Aufl. München/Weinheim 2001, S. 220 ff.; danach z. T. wörtlich die hier folgenden Unterscheidungen, Zitatnachweise in Klammern im Text. 8Details bei Krapp/Weidenmann: Pädagogische Psychologie, 2001, u. a. S. 16, 224. 9Die passenden kulturkritischen Diagnosen fehlen natürlich auch nicht, z. B. Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel seines Lebens. München 2013 oder Manfred Prisching: BluffMenschen: Selbstinszenierungen in der Spätmoderne. Weinheim/Basel 2019.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
Bildung klärt solchen Dissens nicht weiter, sondern verschärft ihn eher, wenn sie z. B. an die Unverfügbarkeit des Subjekts vor aller externen Erwartung erinnert. Die damit bezeichnete Problematik in der Qualifizierung des Wertes von Bildungsprozessen hat auch eine lange und bekannte Tradition, wie man seit Platos Höhlengleichnis wissen oder angesichts der hohen Erwartungen, die Bildung in ihrer wahren Form zugeschrieben werden, auch vermuten kann. Die diversen Beobachtungen von individuellen Bildungsprozessen, literarisch oder autobiografisch, bei forschenden Beobachtern oder distanzierten Kritikern, in Utopien wie Dystopien bieten immer neue Belege für die Tatsache, dass nicht nur Erziehung alltäglich als „Zumutung“ erlebt wird, sondern auch Bildung ein „Angebot“ darstellt, dem man nicht entrinnen kann, obwohl man es wünscht. Wer Bildung einen „Wert in sich selbst“ unterstellt und den Menschen „in den Mittelpunkt“ rückt, wie das schon Humboldt empfahl, und gleichzeitig meint, damit eine privilegierte Position jenseits aller Entfremdung zu bezeichnen, sollte sich, individuell gesehen, vielleicht nur an Erfahrungen seiner Kindheit oder Jugend oder aus Bewerbungsgesprächen erinnern, die hinreichend deutlich belegen, dass das nicht nur eine angenehme Position ist. Große Entfremdungstheorie ist dafür gar nicht erforderlich. Vergleichbar ist der Mensch als „Urheber“ seiner selbst eine Fiktion, die man nur mit dem nüchternen Blick ertragen kann, mit dem Marx im „18.Brumaire“ die Paradoxien der Selbstbestimmung beobachtet. Auch wenn Bildung als Lebensform eigener Art emphatisch beschworen, als alteuropäische kulturelle Praxis idealisiert oder als wünschenswerte „kulturelle“ oder „ästhetische Bildung“ propagiert und theoretisiert wird (wenn auch gelegentlich etwas missverständlich10), bleiben solche Ambivalenzen zwischen Privatheit bzw. Subjektivität und Allgemeinheit, zwischen einer selbstbestimmten kulturellen Praxis und den externen Erwartungen z. B. der „Kulturpädagogik“ oder der Alltagspraxis „kultureller Bildung“11 erhalten. Selbst in der ästhetischen oder kulturellen
10Erst
der Untertitel klärt jedenfalls auf, was Volker Steenblock als „Theorie der kulturellen Bildung“ anbietet: Volker Steenblock: Theorie der kulturellen Bildung. Zur Philosophie und Didaktik der Geisteswissenschaften. München 1999. „Bildung“ wird bei ihm „als Grundbegriff einer Philosophie der Geisteswissenschaften“ (217 ff.) untersucht, also letztlich wissenschaftsphilosophisch, nicht als lebensweltliche Praxis von Individuen. Die „Kulturwissenschaften“ werden schließlich „als Reflexionsinstanzen in globalen zivilisatorischen Prozessen“ (307 ff.) bestimmt, die „Gattung“, wie man in die Tradition übersetzen könnte, bildet dabei die Referenz. 11Eine Übersicht zur ästhetischen Bildung – jenseits der Klassischen Debatte von Schiller bis Adorno – liefern für den schulischen Kontext z. B. Oliver Jahraus/Eckart Liebau/Ernst Pöppel/ Ernst Wagner (Hrsg.): Gestalten und Erkennen. Münster 2014, für die Kulturpädagogik und ihr Subjektkonzept höchst aufschlussreich, vor allem theoriegeschichtlich Max Fuchs: Pädagogik und Moderne. Studien zu kulturellen Grundlagen der Erziehungswissenschaft. München 2013 sowie systematisch Tom Braun/Max Fuchs/Wolfgang Zacharias (Hrsg.): Theorien der Kulturpädagogik. Weinheim/Basel 2015. Für die große Varianz in der Realisierung der insgesamt damit verbundenen Erwartungen und Praktiken sind die Veröffentlichungen signifikant, die der „Rat für Kulturelle Bildung“ seit 2014 vorgelegt hat, und nicht zufällig trägt die erste Expertise den Titel: „Alles immer gut. Mythen kultureller Bildung“. Essen 2014.
23.2 … für Besitz und Status
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Bildung leben die Ambivalenzen fort, gegen alle Hoffnungen und Programme, die man mit und seit Schiller dort vermutet oder realisiert sieht. Solche Ambivalenzen sind mit der Wechselwirkung von Mensch und Welt anscheinend systematisch und unaufhebbar verbunden. Lässt man den Pluralismus der Werte noch ganz außer Acht, von denen individuelle oder kollektive Lebensformen längst jenseits alter Unterscheidungen von hoher und anderer Kultur heute bestimmt werden, offenkundig ist schon, dass man schwerlich davon absehen kann, dass die Möglichkeit zu einer frei und selbstbestimmt gewählten Lebensform sich gesellschaftlichen und ökonomischen Prämissen verdankt, über die vielleicht die vermögenden, von Arbeit frei gesetzten Adligen der Renaissance noch verfügten, die aber historisch oder gesellschaftlich nicht generalisierbar waren und sind. Aktuell gilt gelegentlich sogar schon die Zuschreibung von Selbstverantwortung für den eigenen Lebenslauf eher als neoliberaler Zynismus im Wettbewerbsstaat, denn als Freisetzung und Ermutigung zu eigenem Handeln. Die Bildungserwartung im liberalen Humboldtschen Geist, die ausdrücklich die wohlfahrtsstaatliche Versorgungserwartung ausschloss, hat anscheinend allen Kredit verloren, selbst bei manchen Verehrern Humboldts. Das Plädoyer für selbst verantwortete Bildung wird entweder zum Indiz für die Deformierung einer einstmals solidarischen Gesellschaft oder angesichts ihres offenbar unvermeidlichen Untergangs zum Anlass für nostalgische Reminiszenzen und zum Lob einer privatistisch-eskapistischen Lebensform, dann nicht zufällig kulturkritisch bewertet. So selbstverständlich der Eigenwert von Bildung also auch betont werden mag, wenn er mit Bildern idyllischer Subjektivität oder harmonischer Sozialität parallel geht, nährt er nur erneut den Verdacht, dass er im Grunde doch die Flucht in die Innerlichkeit propagiert, die dem klassischen Bildungsdenken vorgeworfen wurde, aber im Ursprung gerade nicht entsprach. Auch der Eigenwert von Bildung zeigt sich erst in der Wechselwirkung mit Welt, und dann in seiner ganzen Ambivalenz, noch vor aller marktförmigen Verwertung.
23.2 … für Besitz und Status Der Wert von Bildungsprozessen verbindet sich also nicht zufällig mit dem Bildungssystem und den dort gegebenen Versprechen, die es für die Verbindung von innersystemischen Anstrengungen und Leistungen und den außerschulischen Handlungsperspektiven im Lebenslauf gibt. Diese Versprechen haben ihr Fundament in den Kompetenzen und in den sie beglaubigenden, schulisch zu erwerbenden Zertifikaten, in denen sich der Wert manifestiert, der sich mit erfolgreich bestandenen, also zertifizierten, Anstrengungen innerhalb des Bildungssystems, z. B. beim Hochschulzugang, oder außerhalb beim Zugang in den Beruf oder in gesellschaftlichem Distinktionsgewinn verbindet. Die spezifische gesellschaftliche Funktion des deutschen „Berechtigungs“-Wesens spiegelt diese Situation, und zwar in der fortdauernden Bedeutung von Zertifikaten. Sie erweist
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
sich unmittelbar bei der Regelung des Zugangs in Bildungsgänge und Berufe, mittelbar für die damit verbundene Zuordnung in die gesellschaftliche Hierarchie und die davon abgeleiteten Dimensionen von Status und Prestige. Die historische und systemische Schlüsselstellung in diesem bis heute fein ausdifferenzierten Mechanismus von Einschluss und Ausschluss, Offenheit und Geschlossenheit von Bildungsgängen, Karrieren und Lebenschancen kommt in Deutschland dem Abitur zu. Es regelt an sich nur den Zugang in das Hochschulsystem,12 durchaus modern, wenn seit 1834 der Zugang für alle Bewerber13 an das Abiturzeugnis gekoppelt und damit das Leistungsprinzip universell und d. h. historisch auch gegen den laustarken Widerstand des Adels durchgesetzt wird. Leistung, nicht Herkunft sollen den Zugang in das Studium bestimmen. Bis heute, bekräftigt durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1972 zum Numerus Clausus, berechtigt die allgemeine Hochschulreife zur Aufnahme eines jeden Studiums, unabhängig von der Qualität des Abiturs (gelegentlich erst nach einer Wartezeit und nicht immer an der Hochschule eigener Wahl). In der Durchsetzung dieser positiven Bewertung der Funktion des Abiturs hat dasselbe Gericht 2017 aber auch nicht zufällig die Prämissen bekräftigt,14 die solche Bewertung des Abiturs als notwendig fordert, nämlich die schulisch nach gleichen bzw. substantiell vergleichbaren Kriterien praktizierte Beurteilung der Leistungen und der damit zugeteilten Berechtigung. Schon im Vergleich zu Hochschulzugangsprüfungen etwa in den angelsächsischen Ländern, die den Wert schulisch erworbener Zertifikate deutlich geringer einschätzen und den Zugang auch von leistungsfremden Kriterien, sogar von sozialen Vorurteilen abhängig machen,15 wird der berechtigende Status in seinem Wert sichtbar. Schulen und ihr Publikum kämpfen deshalb seit dem frühen 19. Jahrhundert um das Recht, Abiturprüfungen abnehmen zu können, Bildungsverwaltungen messen daran die Qualität von Schule und Lehrerarbeit, Interessengruppen versuchen, ihre eigenen inhaltlichen Interessen an Qualifikation abiturfähig durchzusetzen und tragen dadurch zur Modernisierung der Lehrpläne bei. In den gesellschaftlichen Interessenkonflikten, die bis heute mit den zyklischen Bewegungen auf dem Akademikerarbeitsmarkt verbunden sind,16
12Eine
sehr informative Skizze der Reglements seit den preußischen Ursprüngen von 1788 gibt Rainer Bölling: Kleine Geschichte des Abiturs. Paderborn u. a. 2010. 13Vorher konnte man auch ohne Abitur zum Studium zugelassen werden, das Abitur war nur erforderlich, wenn man von Gebühren befreit werden wollte oder sich um ein Stipendium bemühte. 14Die Einzelheiten finden sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 2017, 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14. In: BverfGE 147, 253 – 364. 15Jerome Karabel (2005) hat nachdrücklich belegt, dass selbst elitäre Einrichtungen wie die Ivy-League Universitäten Harvard, Yale und Princeton noch im ganzen 20. Jahrhundert bei der Zulassungspolitik rassistischen, antifeministischen, regionalen und standesspezifischen Vorurteilen folgen. 16Hartmut Titze: Der Akademikerzyklus. Historische Untersuchungen über die Wiederkehr von Überfüllung und Mangel in akademischen Karrieren. Göttingen 1990.
23.2 … für Besitz und Status
469
wird der Marktwert der akademischen Bildungszertifikate – vom Abitur bis zum Staatsexamen oder Diplom – gegen den Zudrang neuer Interessenten gleichzeitig vehement verteidigt. Das ist im Übrigen eine Strategie, die seit dem frühen 19. Jahrhundert und bis 1933 kontinuierlich und stark antisemitisch grundiert war, bis zum gewaltsamen Ausschluss jüdischer Abiturienten vom Studium und der Entlassung jüdischer Akademiker aus ihren Berufspositionen, wie sie die Nazis unter breiter Zustimmung der deutschen Studenten und Akademiker 1933 durchgesetzt haben.17 Das Abitur war und ist also nicht ohne Grund Objekt der Begierde, es wird auch nicht ohne Grund bis heute zum zentralen Thema im Bildungswettbewerb und zum leitenden Indikator unter dem Aspekt der Chancengleichheit. Nach wie vor symbolisiert es eine zentrale soziale Trennungslinie, vielleicht sogar stärker als früher, seit das Einjährig-Freiwilligen-Privileg nicht mehr existiert. Der damit testierte erfolgreiche Abschluss beim Übergang zur Obersekunda eröffnete ja bis 1918 das Recht, den Militärdienst in einem Jahr (statt der für die Wehrpflicht vorgeschriebenen drei) abzuleisten und den Status des Reserve-Offiziers zu erwerben, vorausgesetzt, man war auch fähig, für seine Ausrüstung selbst aufzukommen. Bildung musste also auch hier mit Besitz zusammenkommen, damit man sich mit dem Volk auch beim Militärdienst nicht gemein machen musste. Solchen Aussichten entsprechend war das Recht, die Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung auszusprechen fast noch attraktiver als das Abiturprivileg.18 Bildung und Besitz mussten aber auch beim Zugang in den Staatsdienst bis 1918 zusammenkommen; denn der Staat setzte nicht nur das Abitur voraus, sondern auch, dass die Anwärter für (höhere) Beamtenlaufbahnen nach dem Staatsexamen fähig waren, mehrere Jahre lang ohne Bezahlung die weitere Ausbildung, z. B. als Referendar, und die Phase des Berufseinstiegs zu überleben, bevor sie auf einer ordentlichen Stelle, und nicht nur als unbesoldeter Überzähliger – „Supernumerar“ – in der Behörde arbeiten konnten. Nicht zufällig war die Rolle des Adels im Auswärtigen Dienst so dominant. ThomasMann konnte deshalb auch mit guten Gründen die Sozialstruktur des Kaiserreiches in der Figur des „General Dr. von Staat“19 ironischkritisch bündeln. 17Die einschlägigen Akten im Preußischen Kultusministerium, die seit dem frühen 19. Jahrhundert den administrativ-politischen Umgang mit dem „Überfüllungs“-Problem dokumentieren, haben nicht zufällig den Titel „Die Vorkehrungen gegen den großen Andrang junger Leute zu den Universitäts-Studien, respective zum Staatsdienst, sowie gegen das Überwiegen des Judentums“, zu finden unter Rep. 76, V a Sekt 1 Tit. I Nr. 7, Bd. 1, Juli 1835–Dezember 1931 im GSTA Preußischer Kulturbesitz Berlin. 18Detlef K. Müller: Sozialstruktur und Schulsystem. Göttingen 1977 analysiert z. B. die Dynamik der Schulentwicklung, die sich aus diesem Zusammenhang von Schulstruktur, Berechtigungen und Sozialstruktur ergibt. 19Thomas Mann: „Als Knabe personifizierte ich mir den Staat gern in meiner Einbildung, stellte ihn mir als eine strenge, hölzerne Frackfigur mit schwarzem Vollbart vor, einen Stern auf der Brust und ausgestattet mit einem militärisch-akademischem Titelgemisch, das seine Macht und Regelmäßigkeit auszudrücken geeignet war: als General Dr. von Staat.“ In: Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1919). Politische Schriften und Reden Bd. 1, Frankfurt/ Hamburg 1960, S. 184.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
Schule und Abitur, das gilt also schon historisch, sind zwar bedeutsam, aber sie waren und sind nicht die exklusive, hinreichend starke und allein entscheidende „zentrale soziale Dirigierungsstelle“,20 als die sie in der Soziologie und Bildungsökonomie der frühen 1960er Jahre übereindeutig gezeichnet wurden. Bildungszertifikate sind für bestimmte soziale Milieus und für den Zugang in bestimmte akademische oder berufliche Karrieren zwar immer noch notwendige, aber meist nicht mehr allein hinreichende Kriterien, wenn man gleichzeitig z. B. hohe Einkommen erwartet. Die „Bildungspanik“,21 die sich heute milieuspezifisch beobachten lässt und sich als „projektive Statuspanik“ erweist, regiert zumal bei der „nervösen Aufsteigerfraktion der Mittelklassen“, die für ihre Kinder die besten Plätze im Wettbewerb um die höheren Abschlüsse und damit für den Zugang in begehrte Berufspositionen und den Statuserhalt sichern wollen. Von Panik kann man sprechen, weil es im Grunde keinen Anlass zu übergroßer Besorgnis gibt, denn die demografischen Daten sind so, dass in Zukunft nicht nur Facharbeiter fehlen und dringend gesucht werden, sondern auch der Zugang in akademische Karrieren schon angesichts des bevorstehenden Generationswechsels der nach 1970 in die akademischen Berufe eingetretenen Personen entspannt sein wird. Gleichzeitig ist der Zugang in die neuen Berufe des Dienstleistungsbereichs oder bei technisch anspruchsvollen Tätigkeiten zunehmend vom Abitur als Zugangsbarriere abhängig, so dass die Konkurrenz aus anderen Bildungsgängen in den Rest der meist schlechter bezahlten und wenig attraktiven Berufe abgedrängt und Abschlüsse v. a. von Hauptschulen entwertet werden.22 Die Panik ist andererseits verständlich, weil den Betroffenen anderes Kapital als das der Bildung fehlt und sie gleichzeitig nur auf diesem Weg ihre eigene milieuspezifische Lebensform reproduzieren und deren kulturellen Mustern zusammen mit dem ökonomischen Status entsprechen können. Die nur relative bzw. abnehmende Bedeutung für den Statuserwerb gilt auch für universitäre Examina, selbst für die höchsten Grade, die Doktorprüfungen. Als notwendiger Nachweis für Kompetenz und Wertorientierungen, z. B. für individuelle Anstrengungsbereitschaft, zugleich angesehen und offenbar bei der Elitenrekrutierung inzwischen nahezu unentbehrlich, wird der mit dem Zertifikat verbundene Leistungsaspekt in konkreten Auswahlprozessen anscheinend
20Klassisch
für dieses Urteil Helmut Schelsky: Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft. Stuttgart 1957. 21So Heinz Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. München 2011; ders.: Das prekäre Gut der Bildung. In: Merkur 771, 67(2013), S. 745–752. 22Diese zunehmende Segmentierung und Hierarchisierung der ehemals allen Schulabsolventen offenen Berufe des dualen Systems bezeichnet deshalb auch den harten Kern der Debatte über „Akademisierung“, die ja nicht den Aufstieg über Bildung versperren, sondern die Abwertung von schulischen Bildungsgängen und Zertifikaten zum Thema machen will. Die Daten zum Phänomen finden sich im Kap. Berufliche Bildung des Nationalen Bildungsberichts, im Bericht 2016, S. 101–122, 2018, S. 128–150. Zur Diskussion jenseits der Leugnung des Problems der Akademisierung u. a. T. Schultz/K. Hurrelmann (Hrsg.): Die Akademiker-Gesellschaft. Müssen in Zukunft alle studieren? Weinheim/Basel 2013.
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung
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national wie international durch andere Kriterien, vornehmlich solche des sozialen Kapitals, z. B. von Indizien für die Zugehörigkeit zur aufnehmenden Schicht, überformt. „Stallgeruch“ etwa, also die Zugehörigkeit zum aufnehmenden Milieu, oder – wie in England, Frankreich, den USA oder Japan – neben dem Zertifikat der Besuch der richtigen Schulen oder Universitäten oder der Nachweis der Zugehörigkeit zu exklusiven Milieus, wie ihn Dress-Codes oder Sprachstile signalisieren, werden wichtiger als Leistung.23 Bildung zählt dann nicht mehr primär als Qualifikation, sondern gewinnt ihre Bedeutung als Indiz für eine Lebensform und als Symbol der Zugehörigkeit zum richtigen Milieu und fungiert in dieser Zuschreibung als zentrale Ressource in der Konstruktion des eigenen Lebenslaufs oder der beruflichen Karriere. Das souveräne Verfügen über die feinen Unterschiede, die mit solchen Erwartungen und Zuschreibungen verbunden sind, definiert den gesellschaftlichen Wert ‚höherer‘ Bildung. Fehlen diese Indizien, aus welchen Gründen immer, wird das als Makel codiert, in der Selbstwahrnehmung genauso wie in der Fremdwahrnehmung.
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung Als konstitutive Form in der Erzeugung und Gestaltung von Modellen der Lebensführung erweist Bildung insofern ebenfalls ihren eigenständigen Wert, zwar gesellschaftlich bestimmt, aber auch in Dimensionen von Besitz und Status nicht schon erschöpfend beschrieben. Lebensführung, interpretiert als Summe der Praktiken, mit denen eigene Muster von Lebensformen erzeugt und stabilisiert, individualisiert und kollektiv tradiert werden, manifestiert sich in vielfacher Weise. Diese Form von Bildung hat ihre eigene Qualität, ihre eigene Geschichte und ihren spezifischen Wandel. Die schöne Literatur hat das schon früh gewusst, „Kleider machen Leute“ fanden, 1874, nicht nur die „Die Leute von Seldwyla“, Gottfried Keller nutzte auch schon den Begriff des Habitus, den die Soziologie am Ende des 20. Jahrhunderts neu ins Recht setzt. In Beschreibungen des Gebildeten um 1900, liest man nur Friedrich Paulsen,24 ist z. B. 1906 nicht diskussionsbedürftig, dass, sondern wie sich Differenzen artikulieren. Man erkennt den Gebildeten „am Rock, vielleicht auch an den Handschuhen, die wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der Bildung sind“, präziser aber noch, ja „zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel“, denn „sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift“. Diese Differenz von Hand- und Kopfarbeit verweist zugleich auf schulisch definierte und erworbene Praktiken und Kompetenzen, „der Gebrauch von Fremdwörtern“ ist differenzerzeugend, wie Paulsen sagt, „das heißt der richtige“, auch, dass der Gebildete „fremde Sprachen kann“, denn „wer
23Ausführlich,
empirisch wie theoretisch, für diese Phänomene der sozialen Platzierung jenseits der Leistung Michael Hartmann: Elitesoziologie. Eine Einführung. Frankfurt/New York 2004. 24Vgl. für Details und Nachweise die Ausführungen oben in Kap. 13.4.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung“. Aber „das letzte und entscheidende Merkmal“ ist institutionell definiert: „gebildet ist, wer eine ‚höhere‘ Schule durchgemacht hat.“ Solche Faktoren der gesellschaftlichen Konstruktion von Differenz, die im Lebenslauf auch über commercium und connubium entscheiden, wie MaxWeber betonte,25 wenn er die konstitutiven Prinzipien der „Lebensführung“ der Stände (in Differenz zu Klassen) analysierte. Schon Weber beschrieb dabei nicht nur die Form der Lebensführung, wie sie sich in unterscheidbaren Modellen von „Lebensformen“26 niederschlägt, sondern verwies auch auf die gesellschaftlichen Prozesse ihrer Konstruktion und damit auf die Praktiken der Konstruktion von Identität im Lebenslauf.27 Die Historische Bildungsforschung hat diese praxeologische Inspiration produktiv aufgenommen und in ihren jüngeren Studien über historische Prozesse des Aufwachsens und Handelns in Gesellschaft, bei der Analyse des Bildungsthemas also, deshalb auch, forschungsmethodisch gesehen, immer stärker den Übergang in der Beobachtung „von Postulaten zu Praktiken“ gewählt, und nicht nur für Zeit der Moderne.28 Die dabei beobachteten Mechanismen sind auch nicht allein in Deutschland relevant, sie zeigen sich in kultureller Varianz u. a. bei der Bedeutung der Schulen, denkt man an Oxford, Cambridge und die elitären public schools in England, in den geltenden Standards der Lebensführung oder des Sprachgebrauchs. Internate z. B. und ihre je spezifische Lebensform spielen, im je nationalen Kontext eine große Rolle, auch hier in den angelsächsischen Ländern mit erkennbar größerer Wirkung für die Reproduktion der Eliten.29 PierreBourdieu hat für Frankreich die souveräne Demonstration und Handhabung der „feinen Unterschiede“,30 angefangen bei Bekleidungsstandards über Wohn- und Möblierungs25Max
Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. (1921) Tübingen 51972, bes. S. 535–540. 26So der Begriff in der Tradition der Geisteswissenschaften, viel rezipiert u. a. Eduard Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. Tübingen 51950, sowie historisch: Wilhelm Flitner: Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländische Lebensformen. (1961), dann als W.F.: Die Geschichte der abendländischen Lebensformen. München 1967 (auch: Ges. Schr. Bd. 7). Flitner hat die Lebensformen als die wirklich folgenreichen Erzieher beschrieben, und er kannte nicht allein die Tradition, etwa nur die der bürgerlichen Kultur, sondern auch den eigenständigen Status der Arbeiterkultur als Lebensform. 27Zumal die historische Bildungsforschung favorisiert deshalb diesen ethnologischen Blick auf die Praktiken der Individuen in der Konstruktion ihres Selbst und ihrer Welt, vgl. u. a. die Hinweise zur Biografieforschung oben in III.16. 28Ein beeindruckendes Dokument dieses Forschungstyps für die Frühe Neuzeit liefern die thematisch weit ausgreifenden Beiträge in Arndt Brendecke (Hrsg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte. Köln/Weimar/Wien 2015. Die Gegenüberstellung „Von Postulaten zu Praktiken“ entnehme ich der Einleitung des Herausgebers (ebd., S. 13–20). 29Für Details, auch in komparativer Betrachtung, Heinz-Elmar Tenorth: Internate in ihrer Geschichte. Zur Historiographie einer Bildungswelt. In: Zeitschrift für Pädagogik 65 (2019) 2, S. 160–181. 30Mit so subtilen wie unterhaltsamen empirischen Analysen für die französische Gesellschaft Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (1979) Frankfurt a.M. 1981.
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung
473
formen, Musikgenuss und kommunikative Praktiken, „Bildungsbeflissenheit“ und distinktive Praktiken, also nicht allein über „Titel und Stelle“, empirisch umfassend analysiert, und dabei nicht nur die Realität des späten 20. Jahrhunderts vorgestellt, sondern eine Kultur der Differenz, die seit der höfischen Kultur existiert. Für Frankreich gibt es auch schon ältere soziologische Analysen, in denen die Mechanismen der Selbstkonstitution der französischen Bourgeoisie und ihr Niederschlag in Mustern der Lebensführung theoretisch analysiert wurde,31 in Indikatoren, die denen Paulsens eng verwandt sind. Hier, in Frankreich, wie bei den Analysen der sozialen Formen und Folgen von Bildung in England oder Deutschland, wird auch immer betont, dass neben den schulischen Qualifikationen, die im Prozess des Aufwachsens selbst noch erworben werden können, der Gebildete früher wie heute, zwar erzogen und nicht allein geboren wird, dass aber das Herkunft und frühe Milieuerfahrungen im Lebenslauf bestimmend bleiben. Biografische Erfahrungen und soziologische Analysen bestätigen vielmehr, dass Bildung auch über andere Mechanismen als die der Zertifizierung oder gar des Wissens32 das Leben bestimmt, Distinktion erzeugen und sozialen Status bestätigen oder, bei falschem Verhalten, auch gefährden kann. Auch Manieren und Verhaltensstandards sind eine Ressource, über die zu verfügen man lernen muss, aber außerhalb der privilegierten Milieus nicht einfach lernen kann. Sie stehen auch nicht in beliebiger Form bereit, sondern verlangen in ihrer Handhabung eigene Voraussetzungen und erzeugen sehr differente Konsequenzen. Über diese Praktiken der Bildung als Form der Selbstkonstruktion und als Modus der Lebensführung – statt über Macht und Besitz, über die die adligen Oberschichten verfügen – konstituiert sich die bürgerliche Kultur Europas, als „Neben-Oben“33 der Gesellschaft. Im Lebensstil von der höfischen Kultur inspiriert, aber in den Medien der Selbstkonstruktion und in den Verhaltenszielen zunehmend autonom, entwickelt sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Lebensform der (in Deutschland zunächst dominant protestantischen)
31Man lese – neben den Romanen z. B. von Balzac – nur Edmond Goblot: Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie. (1925) Konstanz 1994. Mode und Erziehung, Formen der Kommunikation und der Höflichkeit, die Fremdsprachen, vor allem der Gebrauch des Lateinischen, finden sich auch hier. 32Selbst ein Autor, der unter dem Titel „Bildung. Alles was man wissen muss“ sein Thema, Bildung, scheinbar über Wissen organisiert, kommt schließlich zu dem Schluss, dass es hier im Wesentlichen um den „Bluff“ geht, nämlich so zu tun, als wisse man, was den Gebildeten auszeichnet. Er warnt auch vor der Illusion, dass man solche Verhaltensmuster umfassend und stilsicher lernen könne. Sie würden nur durch Zugehörigkeit zur richtigen Schicht von Geburt an und im Aufwachsen erworben, so: Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Frankfurt a.M. 1999, bes. S. 394 ff. 33Die Fragen diskutieren für das ausgehende 18. Jahrhundert bereits Hans Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips. (1930) Bonn 1967 sowie Hans H. Gerth: Bürgerliche Intelligenz um 1800. (1935) Göttingen 1976.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
bildungsbürgerlichen Welt.34 Diese Bildung wird nicht nur gelebt, sondern auch in einer eigenen Form reflektiert, z. T. als Philosophie ausgearbeitet, in einer quasi religiösen Deutung von Wissen und Verhalten als ‚wahre Bildung‘ tradiert und in einem Geschichtsbild symbolisiert, das sich selbst teleologisch als Erfüllung der Zeit und ihrer historischen Mission, z. B. der Nation oder des Deutschtums oder einer besonderen Kultur, interpretierte. Diese Welt ist – in allen nationalen Facetten, die sich dafür in Europa finden lassen35 – nicht identisch mit der Gelehrtenkultur, die zwar auch auf Bildung beruht, aber doch primär auf Wissenschaft und Fachlichkeit setzt und insofern allenfalls ein Segment innerhalb des Bildungsbürgertums repräsentiert. Das gilt ebenfalls für die Kultur der Intellektuellen,36 die zwar bildungsbasiert arbeiten, aber nicht allein oder zwingend in ihrer Lebensform bildungsbürgerlichen Formen oder Zielen verpflichtet sind, sondern auch als Avantgarde und Bohème in der Kritik der bürgerlichen Welt ihre Distinktionspraxis entwickeln. Bildung in der Gesamtheit ihrer Erscheinungsformen war und ist, mit anderen Worten, immer auch prägender Faktor einer eigenen Lebensform, als eigene Realität präsent und als Modus der Lebensführung habitualisiert und wirksam. Das ist eine Form, die auch ihre soziale und zeitliche Reproduktion selbst noch zu kontrollieren sucht und natürlich auch ihre Abgrenzung kontrolliert, nicht nur in der Unterscheidung von Bildung vs. Halb- und Unbildung. Trotz der offenen Vielfalt der Subjektformen überleben auch alte Abgrenzungsformeln, auch nicht nur bei Philosophen wie Nietzsche, die Verfallsformen wahrer Bildung diagnostizierten und den wahren Bildungsbürger z. B. in der Polemik gegen die Bildungsphilister zu retten suchten.37 Das geschieht institutionalisiert, wie in
34Manfred
Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon. Frankfurt a.M./Leipzig 2. Aufl. 1999. K. Ringer: Felder des Wissens. Bildung, Wissenschaft und sozialer Aufstieg in Frankreich und Deutschland um 1900 (1992). Weinheim/Basel/Berlin 2003. 36Christophe Charles: Vordenker der Gegenwart. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert (1996). Frankfurt a.M. 1997; Dietz Bering: Die Epoche der Intellektuellen, 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal. Berlin 2010. 37Zur Konstruktion dieses spezifischen Figur, die (bei biblischer Vorgeschichte) nicht erst Nietzsche als Gegenbegriff zum wahren „Gebildeten“ erfindet, sondern das studentische universitäre Milieu um 1700, den auch Goethe als Gegenbegriff zum Genie nutzt und deren Nutzung in negativer Codierung von kulturellen Praktiken und sozialen Verhaltensweisen bis heute andauert, jetzt Remigius Bunia/Till Dembeck/Georg Stanitzek (Hrsg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011, mit den schönen, die Qualifizierung von Bildung bemühenden Sätzen der Vorrede (und einer fulminant orientierenden Einleitung): „Philister. Zwar kennt die Philologie kein Unkraut. Trotzdem legt die Literaturwissenschaft … doch Wert auf eine gewisse Assoziation mit dem Guten, dem Schönen, dem Wahren. Man befasst sich mit lieber mit dem Erhabenen als mit dem Flachen, besser mit Perfektionswerten und weniger gern mit Fehlern, vorzüglich mit dem ästhetischen Schein statt mit betrüblichen Formularen der Kommunikation. Der Philister ist definitiv ein Oppositions- und Gegen-, ein Abwertungsbegriff.“ (Vorrede, S. 9) Sie verorten dann die Geschichte des Philisters (mit Koselleck) in die „Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe“, und der vorzugsweise im akademischen Milieu identifizierte „Bildungsphilister“ (10) ist ihr prominentes Exempel. 35Fritz
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung
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Gymnasium und Universität mit ihren eigentümlichen Ritualen und Regeln, Hierarchien und Prämien, aber auch lebensweltlich, in den Formen der Geselligkeit, über die sich Bildung im Ursprung organisierte und öffentlich folgenreich wurde, im gebildeten Salon z. B., wie in Berlin um 1800,38 oder im Alltag des Bildungsbürgertums zwischen häuslicher und außerhäuslicher Welt. Eine eigene Lebensform konstituiert sich aber auch in den Milieus der Arbeiterschaft, die in distanzierter Rezeption die bürgerliche Kultur als klassisch und damit von Klassengrenzen nicht kontaminiert sieht und anerkennt und zugleich nicht nur eine politische, sondern auch eine eigene kulturelle Praxis ausbildet (und aktuell wohl schon wieder verloren hat). Die „Macht der Bildung“39 lebte aus solchen Formen der Geselligkeit, nicht nur innerhalb der Literatur und der Wissenschaften, wie das für den GeorgeKreis z. B. breit belegt ist, für den diese Formel in einer Analyse seiner Rolle im Bildungsbürgertum bis 1933 gewählt wurde, sondern auch wissenschafts- und bildungspolitisch, ebenfalls folgenreich bis in die Gegenwart. Die nachkriegsdeutsche Bildungspolitik der Bundesrepublik kann man ohne einen Blick auf diesen Kreis der Gebildeten nicht verstehen, aber auch nicht, wenn man das Fortleben protestantischen Bildungsdenkens ignoriert, das sich z. B. in den entscheidenden Planungsgremien artikulierte, vom Deutschen Ausschuss nach 1955 bis zum Bildungsrat nach 1965. Georg Picht, Plato-Forscher und Schul-Leiter, der 1964 die „Bildungskatastrophe“ beschwor und der bereits in Gang gekommenen Bildungsexpansion die Begleitmusik lieferte, steht dann nicht allein, bildungsbürgerlich-protestantisch bis in den apokalyptischen Ton und den Jargon der Eigentlichkeit. Solche über Bildungsprogramme konstituierten sozialen Netzwerke gibt es auch in anderen Orten und Milieus. Man muss nur auf die Anthroposophen verweisen, die, von Rudolf Steiners Lehre inspiriert, mit den Waldorfschulen die erfolgreichste Privatschul-Gründung im deutschen Sprachgebiet in Gang gesetzt haben, auch eine eigene Universität ins Leben rufen und das Lob privater Initiative singen (dann freilich gern Geld vom Staat nehmen, wenn es kritisch wird) und sich zugleich als fester Zirkel konstituieren. Dieses Milieu und seine politischsoziale Rolle ist in seiner Stabilität und in den Wirkungen unerklärbar, wenn man nicht das einigende Band der Bildung unterstellt und sieht, wie es die Waldorfschulen früh einüben und die Bindung an die anthroposophischen Lehren und
38Für
solche Geselligkeit im Umkreis der frühen Universität zu Berlin und über Bildung als deren lebensweltlichen Imperativ sehr anschaulich Hannah Lotte Lund: Die Universität in der Stadt 1810–1840. Geselligkeit – Kultur – Politik. In: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810–1918. Geschichte der Universität Unter den Linden, 1810 bis 2010, Bd. 1, S. 325–380.
39Unter diesem Titel wird der George-Kreis beschrieben, u. a. auch in seinen Folgen innerhalb der zeitgenössischen Wissenschaft, vgl. Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890–1933. Köln/Weimar/Wien 1997, für die spätere gesellschaftliche, kulturelle und politische Bedeutung des Kreises und seine Nachwirkungen Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben. München 2009.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
ihren umfassenden Erklärungsanspruch für Kultur, Ökonomie und Politik dauerhaft stabilisieren.40 Zu den spezifischen Lebens- und Gesellungsformen, die aus dem traditionellen Bildungsgedanken heraus gegründet wurden und gesellschaftlich wirksam fortlebten, gehören auch die spezifischen Jugendkulturen und -organisationen, in der bürgerlichen Jugendbewegung genauso wie in den parallel gegründeten sozialistischen Organisationen. „Jugendbewegt geprägt“41 sind die Mitglieder nicht allein der „Falken“, wie bei Willy Brandt oder Bruno Kreisky und aus der „Sozialistischen Arbeiterjugend“ oder den „Kinderfreunden“, sondern auch die bürgerlichen Akademiker, die z. B. aus der „Akademischen Freischar“ kamen. Damit ist – um nicht missverstanden zu werden – keineswegs eine einheitliche Gruppierung bezeichnet, sondern durchaus ein sehr heterogenes Milieu, in dem Konflikte zwischen politisch-sozialen Lagern auf der Ebene der jeweils jungen Generation reproduziert werden, und bei denen auch politisch höchst divergente Konsequenzen z. B. angesichts des Nationalsozialismus beobachtbar sind. „Bildung“ ist kein Garant für Resistenz oder politisch erwünschtes Verhalten, aber dennoch prägend. Denn es ist immer auch die Wirksamkeit einer generationsübergreifenden Lebensform und die Wirkung der damit konstituierten Netzwerke, die man hier erkennt, und ohne die weder die Formen politischer Bildung nach 1960 noch bestimmte Formen der Bildungsforschung und der wissenschaftlichen Pädagogik oder Praktiken der Politik und Bildungspolitik etwa innerhalb der Sozialdemokratie erklärbar sind. Die „Neue Gesellschaft“ – sozialdemokratischer Provenienz – wird als eine Gesellschaft gedacht, die sich über Bildung konstituiert, die durch die Bildung aller erreichbar sein soll und dann in neuer Weise human und fortschrittlich agiert. Bildung konstituiert also nicht allein den privaten Raum bildungsbürgerlicher Lebenswelt und deren kulturelle Praxis, obwohl sie hier – und in Sonderformen, wie dem protestantischen Pfarrhaus – besonders intensiv auch in ihrer Praxis untersucht wurde.42 Praktiken, die als Bildungsprozesse interpretiert werden, sind für die Konstitution von Milieus offenkundig unersetzlich. Das ist auch keine Lebensform ohne Risiken, wie schon die ekklesiogenen Neurosen zeigen, die das
40Dazu
umfassend Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. 2 Bde. Göttingen 2007. 41Vgl. Barbara Stambolis (Hrsg.): Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen. Göttingen 2013. 42Die historische Erforschung des Bürgertums als Phänomen der „kulturellen Vergesellschaftung“ (Hettling) wird aktuell schon selbst historisiert und zum Thema der Forschung, vgl. Manfred Hettling und Richard Pohle (Hrsg.): Bürgertum. Bilanzen, Perspektiven, Begriffe. Göttingen 2019. Für die differenten theoretischen Konzepte, die dabei genutzt wurden, auch im Konflikt von Sozialhistorikern Bielefelder Provenienz und einem Soziologen wie M. Rainer Lepsius, Dieter Langewiesche: Bildungsbürgertum. Zum Forschungsprojekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte. ebd., S. 37–57.
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung
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Pfarrhaus erzeugt, wie man schon früh diagnostiziert und lange befürchtet hat.43 Sie legen die Vermutung nahe, dass Religion als prägendes Element bildungsbürgerlicher Lebensformen sowohl als Ermöglichungsform höchster Leistungen als auch in ihren eigenen Gefährdungen das Aufwachsen und Handeln in der Pfarrersfamilie mit bestimmt. In ihren positiven Leistungen hat der Altphilologe Manfred Fuhrmann in seinem Buch über den „europäischen Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters“44 diese Lebensform beschrieben. Bildung konstituiert sich hier in einer Vielfalt von Referenzen, mit spezifischen „Voraussetzungen“, als die Fuhrmann Antikerezeption, humanistische Bildung im Gymnasium und den Fürstenhof des absolutistischen Zeitalters sieht, und sie lebt fort in der Teilhabe an diversen „Sachbereichen“, an Literatur, Geschichte und Philosophie, Theater und Konzert, Museum und Bildungsreise, mit Glück auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist aber schon „ein umstrittenes Grenzgebiet“ der Bildung.45 Mathematiker und Naturwissenschaftler müssen sich deshalb auch seit mehr als 100 Jahren immer neu um die Anerkennung der „anderen Bildung“46 bemühen. Aleida Assmann fügt dem Fundus an Bildungsgütern in Erinnerung an das elterliche Wohnzimmer den „Bücherschrank“ hinzu, der „dort zusammen mit einem Blüthner-Flügel die bürgerliche Bildungsachse (bildete).“47 Diese bürgerliche Bildungswelt ist, wie Fuhrmann schon einräumt, ein „auslaufendes Modell“, von der Konkurrenz im Missverständnis von Bildung als „Konversationskultur“ in den Hintergrund gedrängt, in neuen pluralen und individualisierten Bildungswelten im Rang relativiert, so dass diese quasi klassische Form der Bildung nicht mehr „Leitkultur“, sondern allenfalls „Teilkultur“ darstellt, wie Assmann nüchtern sieht48 und Fuhrmann kulturkritisch beklagt. „Unbildung“ sei das Ergebnis, wenn man Bildung in Dimensionen von Pisa, Bildungsstandards und der OECD verstehe. Aber
43Diese
Neurosen haben jedenfalls Psychiater und Psychoanalytiker seit den 1950er Jahren zu sehen gemeint und den Interaktions- und Erziehungspraktiken des Pfarrhauses zugeschrieben, vgl. u. a. die Arbeiten von Klaus Thomas oder Eberhard Schaetzing. „Religiöse und spirituelle“ Konflikte und ihre Bedeutung für Neurosen werden heute distanzierter als Teil des „ambivalenten Charakters von Religiosität“ analysiert, so Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich: „Ekklesiogene Neurose“. Entwicklung des Konzepts, Befunde und Bewertung. In: Dies. (Hrsg.): Religiosität: die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Münster 2017, S. 41–62. 44Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a.M. 1999, erw. Neuausgabe 2004 mit einem Vorwort und einem neuen IV. Teil: Bildung im nachbürgerlichen Zeitalter (S. 205–251). 45Fuhrmann 1999, S. 183. 46Exemplarisch Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. München 2001, 2. Aufl. 2001. Fischer versucht das allerdings dadurch, dass er letztlich die poetische Kraft der Wissenschaft besonders betont und die Naturwissenschaften so in ihrem Bildungswert zu bestimmen sucht, also jenseits von Maß und Zahl, ästhetisch und quasi sich selbst dementierend. 47Aleida Assmann: Der väterliche Bücherschrank – Über Vergangenheit und Zukunft der Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 50(2004), S. 5–20, zit. S. 7. 48Assmann 2004, S. 18–19.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
noch in solchen Diagnosen und dem sie konstant begleitenden Lamento manifestiert sich primär etwas anderes, nämlich der letzte Triumph eines Bildungsverständnisses, das Bildung und Bürgertum so eng koppelt, dass sie ununterscheidbar werden. Soziologisch und kulturkritisch mag das befriedigen, wenn man solche binären Codierungen zwischen hoher und niederer, anerkannter und ausgeschlossener Kultur schon für soziologisch hält, historisch nicht, aber auch bildungstheoretisch nicht. Bildungstheoretisch kennt der Begriff der Bildung zumindest im Ursprung seiner säkularen Variante, also z. B. bei Wilhelm von Humboldt, solche binären Codierungen oder eindeutige Bindungen an spezifische Lebenswelten nicht, und er kennt auch keine schichtspezifischen oder berufsspezifischen Unterschiede oder gar Hierarchien: „Jedes Geschäft kennt eine ihm eigenthümliche Geistesstimmung, und nur in ihr liegt der ächte Geist seiner Vollendung.“49 „Bildung“ kennt deshalb auch im Grunde keine exklusiv und genuin oder allein ihr zurechenbare Lebensformen oder Bildungsgüter oder Praxen. Sie bestimmt „Lebensführung“ in ihrem genuinen Modus, wenn sie Selbstkonstruktion als prozesskonstituierendes Moment generalisiert, nicht über einzelne Bildungsgüter, sondern in einer selbst verantworteten Praxis, wo immer sie sich artikuliert. Tischlern ist dann so gut und notwendig wie Griechisch lernen,50 vertraut man den Vordenkern, und das klassische Konzert so wichtig wie die szenespezifische kulturelle, künstlerische oder musikalische Praxis. Selbstkonstruktion ist das einigende Band, aber das umfasst die Praxis jugendlicher Graffiti-Künstler in Lichtenberg genauso wie, in Berlin, den Opern besuchenden Zehlendorf-Steglitz-Charlottenburger Großbürger. Und selbstverständlich, zur Konsti tution der eigenen Welt gehört die distinkte Abgrenzung von und Zuordnung zu anderen Welten, horizontal wie vertikal, regional, nicht nur nach Ost und West, sondern auch nach Nord und Süd, konfessionell und politisch, lokal und kosmopolitisch, individuell und sozial.51
49Humboldt,
Theorie der Bildung, Bruchstück, hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, S. 239. Litauischer Schulplan (1809). In: Werke, Bd., IV. S. 189: Hier kommt das zumindest in der theoretischen Antizipation deutlich zum Tragen: „Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“ (ebd.) 51Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt a.M. 2017 kann man deshalb auch als aktuelle Analyse von Bildungsprozessen lesen. Nicht zufällig bildet die Teilhabe an höherer Bildung ein wichtiges Thema dieser Arbeit und die Frage am Ende „Die Krise des Allgemeinen?“ ist geradezu klassisch bildungstheoretisch, auch in seiner Antwort, dass sich das Allgemeine und das Besondere in neuer Formation dialektisch verschränken. Hegel kann man also immer noch brauchen, obwohl er für diese „Doppelstruktur“ der „rationalistischen“ und der „kulturalistischen“ Moderne seine Gewährsmänner schon früh (S. 18) mit Nietzsche, Simmel und Max Weber einführt, die „ein Gespür für diese Doppelstruktur“ hatten. Reckwitz setzt damit dem Thema nach auch eine ältere Studie fort, in der er Theorien zum Subjekt analysiert hat: A.R.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006. 50Humboldt:
23.3 … in Praktiken und Formen der Lebensführung
479
Die bildungsbürgerliche Welt ist dabei eine Realität neben anderen, die aktuell vielleicht vergeht, jedenfalls ihre breite Geltung zugunsten anderer Lebensentwürfe einbüßt, die aber in ihren Leistungen und Funktionen Vorbild funktional äquivalenter Lebensentwürfe geworden ist. Es ist aber offenbar immer noch das „Bildungsbürgertum“, das den Standard setzt, wenn man eine Welt beschreiben will, die von ihren Akteuren selbst konstruiert wurde, familiär basiert und in einem eigenen Wertekosmos zwischen Intimität und Leistung fundiert, die eine eigene Welt haben prägen können, deren Geltung sich nicht primär einer finanziellen Basis verdankt. Diese relative Bedeutungslosigkeit der ökonomischen Prämissen gilt bis heute, obwohl das akademische Bildungsbürgertum historisch auch über angemessene Ressourcen aus seiner staatsgebundenen oder freien Berufstätigkeit verfügte, aber, zumindest als Beamter, den Lebensstil in einer eigenen Melange von Sparsamkeit und Wohlstands-Repräsentation organisierte.52 Haus-Personal z. B., das Dienst- und Kindermädchen wie die Zugehfrau und die Gouvernante, war selbstverständlich, bis nach 1918 die Inflation die Vermögen entwertete und die Gehälter eher nivellierte. Aber noch danach beschäftigten (einige) Universitätsprofessoren Diener, die z. B. als Medium der Sozialisation ihrer Kinder große Bedeutung gewinnen konnten.53 Es sind also nicht primär die ökonomische Lage und der materielle Besitz, sondern kulturelle Stile und eigene soziale Praktiken, mit denen diese Lebensform auch im Generationenwechsel reproduziert wird, freilich gesellschaftlich immer abgestützt in den akademischen Zertifikaten, die als spezifische Form von Besitz Karrieren eröffneten. Dieses Bildungsbürgertum ist in zahllosen Studien begrifflich54 diskutiert und in seinen historischen Erscheinungsformen55 und für die Konsequenzen von
52„Iss
unter deinem Stand, kleide dich nach deinem Stand, wohne über deinem Stand.“, so erinnert Hartmut von Hentig eine zentrale Maxime seiner Kindheit, in: Hartmut von Hentig: Mein Leben – bedacht und bejaht. Kindheit und Jugend. München 2007, S. 104. 53Nicolaus, der Sohn des Soziologen Werner Sombart vermisst den Diener, den er vor 1945 wie selbstverständlich zur Verfügung hatte, nach 1945 sehr, vgl. Nicolaus Sombart: Jugend in Berlin 1933–1943. München 1984, bes. S. 11 f., also gleich zu Anfang, erinnert er an die „Kulturschwelle“, die mit dem „Verschwinden der Dienstboten“ eingetreten ist. Das schon ältere Verschwinden des Salons und des dort kultivierten gebildeten Gesprächs bekämpfte er bekanntlich durch Einrichtung eines eigenen Salons in Berlin, der schon durch selektive Regeln des Zugangs seine Geltung gewinnt. 54Die systematische Pionierstudie: Ulrich Engelhardt: Bildungsbürgertum. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts. Stuttgart 1986. 55Stilbildend und schon in den Themen signifikant für die Weite der Problemdimensionen die vier Bände von: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1985–1990, im Einzelnen: Werner Conze/Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich. 1985; Reinhart Koselleck (Hrsg.). Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990; M. Reiner Lepsius (Hrsg.). Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart 1990; Jürgen Kocka (Hrsg.): Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation. Stuttgart 1989).
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
„Bildung als Besitz“ und „Lebensform“ intensiv untersucht worden.56 Bildung wird hier in ihrer umfassenden Bedeutsamkeit sichtbar, genauso wie die unterschiedlichen – mentalen, kognitiven, sozialen und ökonomischen – Praktiken, in denen sich die Konstitution des Bildungsbürgertums, dann nicht mehr nur protestantisch, sondern auch katholisch57 oder jüdisch,58 als einer eigenen sozialen Formation verdankt. Darin manifestiert sich eine primär kulturell bestimmte Praxis, mit der sich die Lebensmöglichkeiten ihrer Mitglieder in zahlreichen Fraktionierungen umfassend definieren59 – hier wie in der historisch ebenso präsenten, in Elementen vergleichbaren wie differenten „Arbeiterkultur“, die ebenfalls ihre eigenen Praktiken der Selbstkonstruktion kannte und tradierte. Diese Welten haben natürlich auch ihre nationalen und ideologischen Idiosynkrasien, hier reicht das Fazit, dass solche Lebensformen zeigen, dass und wie sich Bildung als Konstituens sozialer Formation, so statusdefinierend wie identitätsstiftend, in der Praxis zeigt und damit ihren Wert im Lebenslauf beweisen kann. In der Praxis der Bildung finden die Individuen eine Form, in der sie in Distinktion und Anerkennung, individualisiert und vergesellschaftet leben und sich sozial wie ökonomisch und kulturell reproduzieren können.
23.4 … für die „Bildung der Nation“ – Demokratie als Lebensform, Integration durch Bildung Angesichts der Vielfalt der Welten und Milieus, die sich in Praktiken der Selbstkonstruktion der gesellschaftlichen Akteure bilden und dadurch zugleich reproduziert, erneuert und tradiert werden, stellt sich die Frage, ob es in der Pluralität dieser Welten auch so etwas wie eine übergreifende Einheit gibt, und ob der Wert von Bildung sich auch darin erweist, diese Einheit konstituieren zu helfen. Der klassischen Reflexion war diese Frage nicht fremd, hatte doch Humboldt schon in der Grenzen-Schrift im Begriff der „Nation“ eine spezifische Einheitsform als zentrale Referenz seiner Bildungsreflexion eingeführt. Die „Nation“, nicht der Staat, schon gar nicht die in vielfacher Konkurrenz konfligierende Welt der Gesellschaft, stellte den E rmöglichungs- und Wirkungsraum individuellen Handelns dar,
56Für
die Geschichte der Erforschung des Bürgertums jetzt Hettling/Pohle (Hrsg.): Bürgertum. Göttingen 2019. 57Zur Übersicht u. a. Martin Huber/ Gerhard Lauer (Hrsg.): Bildung und Konfession. Politik, Religion und literarische Identitätsbildung. Tübingen 1996. 58Dafür beeindruckend Simone Lässig: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004. 59Inspirierend dargestellt in einer souverän die Forschung resümierenden Übersichtsdarstellung von Jürgen Kocka: Bildung und Bildungsbürgertum. In: Andreas Schlüter/Peter Strohschneider (Hrsg.): Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. Berlin 2009, S. 132–142.
23.4 … für die „Bildung der Nation“
481
legitimiert durch die Bildung der Individuen, beide zugleich als Voraussetzung dafür, dass der Staat eine legitime Form und die Verfassung eine sie verbürgende Instanz finden konnten. In der „moralischen Cultur der Nation“ artikulierte sich das selbstverantwortliche Individuum in der Mannigfaltigkeit seiner Praxen. In der Nation war zugleich die Form gegeben, die der Vielfalt einen Rahmen gab und die Möglichkeit der Verständigung über die zentralen Fragen der Menschen eröffnete. Abgelöst von der Emphase der frühen Bildungstheorie hat sich diese Erwartung in der Bestimmung der Funktion allgemeiner Bildung bis heute erhalten. „Bildung“ ist jenseits aller institutionellen und curricularen Konstruktionen und großer Ziele immer als gesellschaftliches Programm erkennbar, mit dem im Wechsel der Generationen die grundlegenden kognitiven und normativen, instrumentellen und reflexiven Prämissen der Kommunikation so generalisiert werden sollen, dass über die Befähigung aller zur Teilhabe an der jeweiligen Gesellschaft – als dem übergreifenden Kommunikationszusammenhang – die Handlungsmöglichkeiten der Individuen und die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zeitlich, sachlich und sozial zugleich gesichert werden. Im politischen Kontext ist diese Funktion kontinuierlich in der Erwartung präsent, dass Bildung auch ein Medium der Stabilisierung des politischen Systems darstellt, schulisch in eigenen Fächern wie „Staatsbürgerliche Erziehung“ oder „Politische Bildung“ oder „civic education“ oder „social studies“ abgesichert, aber auch in Maßnahmen der ideologischen Kontrolle des Curriculums oder der Lehrer selbst in Demokratien alltäglich geworden. Diese bekannte Verbindung von Staat, Nation und Bildung gewinnt besondere Bedeutung und Beachtung in Situationen, in denen die (wie immer konkret gedachte und realisierte) Einheit und damit auch die Funktionsfähigkeit von Kultur und Gesellschaft bedroht erscheinen. Zusammenhalt gilt jetzt als notwendig und unentbehrlich und auch Bildung wird als das Medium gesucht, solche Gefahren abzuwehren und Einheit neu zu sichern. Im Begriff der „Integration“ wird diese Aufgabe seit der Weimarer Republik diskutiert,60 seit einer Zeit also, in der die Einheit von Staat und Nation angesichts der Vielfalt konkurrierender Werte und Lebenswelten als stark bedroht wahrgenommen wurde, wie die dominierenden Krisendiagnosen belegen.61 Es überrascht deshalb auch nicht, dass der Begriff aktuell erneut Konjunktur hat. Die seit langem zunehmende Vielfalt von Kulturen erscheint, wenn nicht als Bedrohung, so doch als große Herausforderung. Zumal die „Integration“ der Geflüchteten wird als zentrale Aufgabe in einer erneut als Krise interpretierten Situation propagiert, und „Bildung“ gilt,
60Zu
Herkunft, aktuellem Kontext und Interpretationsmöglichkeiten von „Integration“ nutze ich hier auch Argumente, die ich an anderer Stelle ausführlicher entfaltet habe, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: „Integration“ – Erwartungen an die Schule, Möglichkeiten der öffentlichen Erziehung. In: H. Günther/G. Kniffka/G. Knoop/Th. Riecke-Baulecke (Hrsg.): Basiswissen Lehrerbildung: DaZ unterrichten. 2017, S. 22–36. 61Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
erwartbar, als ein wesentlicher Faktor in der Lösung dieser Integrationsaufgabe. Natürlich, auch Juristen und die Polizei, sowie die Zivilgesellschaft, sichtbar in Aktivitäten von Kirchen oder Ehrenamtlichen, sind beteiligt. Das Ausländer- und Asylrecht sind ebenso Thema wie die Ordnung des Zugangs und die Sicherung der Grenzen, finanzielle Ressourcen, nicht nur für die unmittelbare Hilfe zum Leben und ein menschenwürdiger Aufenthalt auf Dauer. Wie bei allen Fragen von öffentlicher Brisanz, die irgendwie mit Menschen und ihrem Verhalten zu tun haben, verlangt aber die öffentliche Debatte gleichzeitig und immer neu nach „Bildung“. Dann wird dem Bildungssystem in all seinen Zweigen, von den Grund- und Sekundarschulen über die berufliche Ausbildung bis zu Hochschulen und Weiterbildung, die Aufgabe der „Integration“ zugewiesen. Aber was darf man erwarten und, bildungstheoretisch noch wichtiger, mit Aussicht auf Erfolg überhaupt versprechen? Gibt es Lebensformen, über Bildung konstruiert, die der Integration zur Wirklichkeit und der Demokratie, unserer Staatsform, zur Realität verhelfen können, so, dass auch die milieu-, standes- und klassenspezifische Varianz der Kulturen in ihrer vielfach bestimmten Differenz und Partikularität durch allgemeine Prinzipien der Lebensführung überwölbt werden? Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit Integration und politischer Bildung zur Demokratie, auch in Kenntnis der Eigenlogik je individueller Bildungsprozesse wird man diese Fragen nicht rasch und einfach positiv beantworten, aber natürlich auch nicht abweisen können. Vor allem gilt, dass schon der Begriff der „Integration“ selbst klärungsbedürftig ist, genauso wie die Möglichkeiten politischer Bildung. Die Geschichte und öffentliche Karriere des Begriffs „Integration“ setzt im frühen 20. Jahrhundert folgenreich mit dem Verfassungsrechtler Rudolf Smend ein.62 Für ihn stellte die Weimarer Republik eine Welt dar, der die Merkmale von Integration – „unversehrt, ganz, heil“ – nahezu vollständig fehlten. Im Plädoyer für Integration formulierte er, in einer allerdings normativ umgedeuteten Lesart der Kulturphilosophie Theodor Litts und dessen bildungsphilosophischen Analysen von „Individuum und Gemeinschaft“,63 die für ihn zentrale politische Aufgabe. Angesichts einer konfligierenden Vielfalt von Normen und Werten, Milieus
62Rudolf
Smend: Verfassung und Verfassungsrecht. München/Leipzig 1928. Zur rechtswissenschaftlichen Diskussion in der deutschen Staatsrechtslehre zwischen dem demokratischpluralistisch argumentierenden Hans Kelsen sowie den Kritikern des parlamentarisch-demokratischen Systems, die zugleich Vertreter eines überhöhten Staatsbegriffs sind, z. B. Smend, Schmitt u. a., vgl. Roland Lottha (Hrsg.): Die Integration des modernen Staates. Zur Aktualität der Integrationslehre von Rudolf Smend, Baden-Baden 2005, sowie R.C. van Ooyen: Integration. Wiesbaden 2015 (hier zit. nach https://doi.org/10.1007/978-3-658-03662-1_7, zuletzt eingesehen am 25.08.2016). 63Litt betont explizit im Vorwort zur 2. Aufl. 1924 von „Individuum und Gemeinschaft“, S. VI, dass er bestrebt ist, seine Analyse „reinlich herauszulösen aus jeder Verflechtung mit solchen Ausführungen, die dem Tag, seinen unmittelbaren Nöten und seinen praktischen Forderungen gehören“, so dass er auch „die Struktur der sich in organisatorischen Formen zusammenfassenden Verbände“ (S. VII), also auch den Staat, nicht thematisiert.
23.4 … für die „Bildung der Nation“
483
und Gemeinschaften, Parteien und Verbänden, parlamentarischer Praktiken und sozialer Ordnungen sollte die fehlende Einheit neu gestiftet und die „Gegenüberstellung und objektivierende Isolierung beider Sphären“, also von Individuum und Gesellschaft/Staat überwunden werden.Smend suchte diese Integration über einen idealen Staat, der oberhalb der streitenden Parteien und der Pluralität der Meinungen mit seinen Machtmitteln64 neue Einheit stiften sollte, allerdings gegen die Prinzipien der Demokratie, wie schon seine zeitgenössischen Kritiker, zumal der Wiener Staatsrechtlehrer Hans Kelsen,65 kritisch eingewandt haben. Staatspädagogen wie Spranger nahmen allerdings Smends Intention auf und definierten Bildung entsprechend als „Durchseelung des Staates und Durchstaatlichung der Seele“. 1933 wurde sichtbar, wie diese neue Einheit aussehen konnte, hoch integriert, in radikaler Exklusion des Fremden in der „Volksgemeinschaft“ vereint. Es ist diese Hypothek, die offene Aversion gegen Parlamentarismus, Demokratie und Pluralität, die den Begriff der Integration im späten 20. Jahrhundert angesichts zunehmender und nicht mehr zu leugnender kultureller Heterogenität stark belastet hat. Auch die positive Besetzung von „Multikulturalität“ war als Abwehr von Einheitszumutungen vor diesem Hintergrund intuitiv verständlich, trotz der problematischen Konsequenzen; denn schon die Durchsetzung von Deutsch als Verkehrssprache gegen die Vielfalt der Mutter- und Herkunftssprachen galt als verdächtig, drohten die Migranten doch der eigenen Identität entfremdet zu werden. Der (damalige) türkische Ministerpräsident (und heutige Staatspräsident) Erdogan setzte z. B. 2012, in einer Rede in Köln, Integration polemisch mit „Assimilation“ gleich, also der völligen Aufgabe der Herkunftskultur und dem Aufgehen in der neuen Kultur, und nannte das ein „Verbrechen gegen das Menschenrecht“.66 Kritik gegenüber der Integrationserwartung gab es aber auch andernorts, z. B. innerhalb der interkulturellen Pädagogik oder 64Smend
sah Integration „als grundlegende(n) Lebensvorgang des Staates“ (1928, S. 18), als „seine Kernsubstanz“. Dabei unterschied er drei voneinander abgrenzbare, aber zusammengehörige „Integrationstypen“, „persönliche“, „funktionelle“ und „sachliche Integration“, manifestiert im „Führertum“ (25), in den „kollektivierenden Lebensformen“ (32) und in der „Verwirklichung gemeinsamer Zwecke“ durch den Staat (45). Die „Einheit des Integrationssystems“ (56 ff.) sieht er in der Verfassung und ihrem „integrierenden Sachgehalt“ (158 ff.) sowie in den „Staatsfunktionen“ (S. 149 ff.). 65Besonders scharf und eindeutig in Hans Kelsen: Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung. Wien 1930. Zur Relation von Smend und Litt und gegen die fälschliche Beanspruchung Litts durch Smend bes. S. 14 ff. Kelsen hält überhaupt wenig von Smends „Staatslehre – wenn man seine aphoristischen Bemerkungen so nennen darf“ (9). Ihre „Eigenart“ sei „ein völliger Mangel systematischer Geschlossenheit, eine gewisse Unsicherheit der Auffassung, … ein dunkler … Sprachstil“ (8). Letztlich habe er sich zwischen der normativen Staatstheorie der Wiener Schule (also Kelsen selbst) und „Litts Kulturphilosophie wie zwischen zwei Stühle gesetzt“ (15). 66„Sie haben hier einerseits gearbeitet, andererseits aber haben Sie sich bemüht, Ihre Identität, Ihre Kultur, Ihre Traditionen zu bewahren. Ihre Augen und Ihre Ohren waren immer auf die Türkei gerichtet. Die Tatsache, dass Sie seit 47 Jahren Ihre Sprache, Ihren Glauben, Ihre Werte, Ihre Kultur bewahrt haben, vor allem aber, dass Sie sich gegenseitig stets unterstützt haben, diese Tatsache liegt jenseits aller Anerkennung. Ich verstehe die Sensibilität, die sie gegenüber
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
in Teilen der grün-alternativen Bewegung und ihrer politischen Organisationen. Sie befürchteten eine Abwertung von Kulturen und verlangten statt Integration die Anerkennung multikultureller Realität. Von diesen Referenzen hat sich die Integrationsdebatte inzwischen aber gelöst. Das hohe Lied der Multikulturalität ist angesichts unerwünschter Folgen erheblich leiser geworden, ohne dass Homogenisierung propagiert wird. Gleichzeitig sind Standarderwartungen, etwa Kompetenz in der Verkehrssprache oder die Abwehr von Parallelgesellschaften, inzwischen unbestritten. In der Tradition der Bildungstheorie schließlich kann man Integration auch anders als in den Einheitsvisionen von Smend lesen, nämlich – etwa mit Kant – als Teil des Prozesses der „Zivilisierung“, der hier eröffnet wird. Integration ist dann der Einführung in die Kultur und ihre Lebensweise gleichzusetzen, die, wie bei Humboldt oder Adam Ferguson (vgl. oben Teil I), als Zivilgesellschaft, als moralische „Nation“, ganz ohne einen idealisierten Staat oder gar radikalen Nationalismus, verstanden werden kann. Das bedeutete die Erprobung von Freiheit und eigener Handlungsfähigkeit, vertraut zu werden mit den kulturellen Traditionen und Selbstverständlichkeiten, um Litts Erwartungen zu nennen, die in der Schule wie nirgends sonst im Lebenslauf für alle in gleicher Weise alltäglich gefordert werden: die Ordnung von Zeiten und Räumen, Rituale der sachlichen und sozialen, den Individuen gerecht werdenden, legitimen Ordnung der Welt, die Gleichzeitigkeit der individuellen Zurechnung von Leistungen und kollektiver Sichtbarkeit der eigenen Praxis. Von „Regierung“ der Individuen und von „Zucht“ als Prämisse für Bildung sprach die Tradition. In der Eigenlogik der Schule, ihrer Formen der Kommunikation und Interaktion zeigt die aktuelle Schulforschung, was Sozialisation und Enkulturation hier leisten, als Ermöglichung von Individualisierung, nicht als Vereinheitlichung. Allerdings, man muss regelhaft anwesend sein und sich an den Erwartungen der Schule abarbeiten, um sich selbst zu bilden, frei zu werden für autonomes Handeln auch gegen das eigene Milieu – das kann nicht stellvertretend geschehen. Insofern kann man bildungstheoretisch auch behaupten: Wer Integration propagiert, sucht die Schule und ihre institutionelle Logik aus guten Gründen, aber sie bietet nur Integration in eine Kultur der Pluralität, der Offenheit und Gestaltbarkeit. Bewusstsein und Anerkennung von Differenz kann man als Ergebnis aber sicherlich erwarten, wenn ausgefeilte Programme, professionelle Kompetenz und Unterstützung von außen und keine Separation der zu Integrierenden gegeben ist, angefangen im vorschulischen Bereich, eingebunden in eine realistische Perspektive, die den
Fußnote 66 (Fortsetzung) Assimilation zeigen, sehr gut. Niemand kann von Ihnen erwarten, Assimilation zu tolerieren. Niemand kann von Ihnen erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. … Denn Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Erdogan 2012, Köln (zit. nach dem vollständigen Abdruck der Rede in https://www.welt.de/debatte/article1660510/Das-sagteMinisterpraesident-Erdogan-in-Koeln.html, letzter Zugriff 27.03.2017).
23.4 … für die „Bildung der Nation“
485
gesamten Bildungsgang umfasst, also auch den Übergang in Beruf und Studium, Arbeit und Weiterbildung. Kann man auch Bildung zur Demokratie erwarten? Wird mit dieser Integrationsleistung von Schule und mit der Initiation in plurale Welten auch das Problem des Staates – das ja auch ein Problem der Demokratie ist – gelöst, das der Verfassungsrechtler Ernst Wolfgang Böckenförde formuliert hat: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“67 Religion als Ressource, die das früher geleistet habe, wie Böckenförde unterstellt, sei nicht mehr präsent oder beanspruchbar, der freiheitliche Staat, die Demokratie setze nach dem Bedeutungsverlust von Religion deshalb auf Bildung (vielleicht auch, weil selbst der Jurist Böckenförde erstaunlich wenig von der Polizei hält68). Aber ist das Bildungssystem in seinen unterschiedlichen Komponenten nicht nur als „embryonic society“, wie John Dewey meinte, sondern auch als Muster einer „demokratischen Lebensform“ präsent, wie die Texte zur Demokratieerziehung und zur Gestaltung einer demokratischen Schulkultur heute propagieren, die Demokratie als eigene „Lebensform“ realisiert sehen wollen? Die Ausgangsprämisse ist dabei durch und durch pädagogisch: „Zu Demokrat_innen werden wir nicht geboren, zu Demokrat_innen werden wir durch Erziehung und Bildung, durch nachhaltige Prozesse in Kindheit und Jugend, die unsere Kompetenzen prägen und unseren Erfahrungen ihre Bedeutung verleihen. Wir müssen junge Menschen durch das Angebot einer demokratisch strukturierten Erfahrungswelt zu Demokrat_innen erziehen.“69 Stellt die Schule eine solche Erfahrungswelt dar, leistet sie, was man erwartet? Im Lichte der zahllosen Programme, bis hin zu dem von der Kultusministerkonferenz aktuell geförderten Programm „Demokratie lernen“, aber auch angesichts der starken Forderungen der diese Programme begleitenden Wissenschaftler ist das gegebene Schulsystem eine solche „Erfahrungswelt“ offenbar noch nicht, sie muss erst zu einer „demokratischen Lebensform“70 gemacht werden – und 67Ernst
Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. (1967) In: E.W.B.: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und sein Problem im 21. Jahrhundert. München 2006, 43–72, zit. S. 71. 68Böckenförde unterstellt nämlich, dass „mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots“ nichts zu erreichen sei. Ein anderer Verfassungsjurist setzt dagegen apodiktisch auf „Polizei und Schule“, denn „im vielschichtigen Problemfeld der Integration gibt es einen schlichten Befund: Alltags- und Leitkultur lebt von Polizei und Schule.“ So Bernhard Schlink: Alltagskultur als Leitkultur. In: FAZ vom 28.09.2017, S. 6. 69Wolfgang Edelstein: Demokratie als Praxis und Demokratie als Wert. In: Ute Erdsiek-Rave/ Marei John-Ohnesorg (Hrsg.): Demokratie lernen – Eine Aufgabe der Schule?! Berlin 2015, S. 17–30, zit. S. 19. 70Exemplarisch dafür ist das Programm des prominentesten Theoretikers, Wolfgang Edelstein: „Zusammenfassend können Kontexte eines demokratieförderlichen Lernens und Lebens in der Schule als die schulischen Erfahrungsbereiche bestimmt werden, die Information über Demokratie, Kompetenzen für Demokratie und Erfahrung durch Demokratie vermitteln. Deshalb sollten die Strukturen des Lernens und des Lebens in der Schule als Gelegenheitsstrukturen für die Erfahrung demokratischer Verhältnisse gestaltet werden. Wer in einer demokratischen Lern- und Lebenswelt aufwächst, wird in der Regel einen demokratischen Habitus erwerben. Die Schule soll
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das ist keine geringe Aufgabe. Aber sie ist wohl auch konstant notwendig, weil die Praxis der politischen Bildung bisher nicht den engagierten Demokraten und Aktivbürger befördert hat, den sich die Demokratiepädagogik wünscht. Das Ergebnis langer Mühen in der politischen Bildung ist nämlich eher enttäuschend,71 vor allem angesichts der hohen Erwartungen.72 Dabei überrascht nicht so sehr, dass die empirische Forschung die erwartbare Varianz zeigt, dass sich also Wirkung und Praxis schicht- und genderspezifisch, altersabhängig, schulform- und unterrichtsabhängig unterscheiden, das zeigt ja auch Gestaltungsspielräume für pädagogische Anstrengungen. Konstant trotz aller Anstrengungen scheint dagegen die Differenz von Wissen und Urteilen bzw. Handeln, die ja auch in Studien zur moralischen Entwicklung immer neu belegt wird. Politisch brisant und unerwünscht ist auch die nicht zu leugnende Tatsache, dass sich offenbar eine Restgruppe stabil erhält, die nicht nur als antidemokratisch in Werten und Verhalten bezeichnet werden kann, sondern auch stabile antisemitische Vorurteile und extremistische Meinungen und Handlungsbereitschaften zeigt. Für die Dimensionen von Wirkung gibt es im Einzelnen auch weiter differenzierende Befunde: Im Blick auf Wissen sind Lücken an zentralen und bedeutsamen Stellen historisch wie politisch immer neu festzustellen, z. B. für die Kenntnis der deutschen Diktaturen. Bei Einstellungen und Motiven zeigt sich, dass
Fußnote 70 (Fortsetzung) einen überschaubaren Erfahrungsraum darstellen, der Gelegenheit bietet, im Kleinen – durchaus als Ernstfall – einzuüben, was hernach im Grossen die zivilgesellschaftliche Praxis bestimmen soll.“ (Edelstein, 2015, S. 21) 71Für die Wirkung der Politischen Bildung resümiere ich sehr gerafft die Befunde jüngerer Studien, wie sie u. a. bei Dirk Lange/Holger Onken/Tobias Korn: Politikunterricht im Fokus. Politische Bildung und Partizipation von Jugendlichen. Berlin 2013 resümiert wurden; für die außerschulische politische Bildung auch die Befunde bei Nadine Balzter/Yan Ristau/Achim Schröder: Wie politische Bildung wirkt. Wirkungsstudie zur biographischen Nachhaltigkeit politischer Jugendbildung., Schwalbach/Ts. 2014. Komparative Befunde liefern IEA-Studien zur civic education (vgl. zum Konzept dieser Studien u. a.: Wolfram Schulz/Julian Fraillon/ John Ainley/Bruno Losito/David Kerr: International Civic and Citizenship Education Study. IEA 2008) und die Ergebnisse der wiederkehrenden IEA-Analysen oder die Untersuchungen von Wilhelm Heitmeyer. Für die internationale Diskussion vgl. „Think global, act local. Neue Literatur zum Thema Global Citizenship Education“, diskutiert von Johannes Drerup in Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (2017) (https://doi.org/10.1007/s11618-017-0738-2). Für diese thematische Referenz ist auch die eher programmatisch ansetzende Studie von Julian Culp einschlägig. J.C.: Democratic Education in a Globalized World. A Normative Theory. New York/ Oxford 2019. Sie kann man auch als Indiz dafür lesen, dass große Konstruktionen und starke normative Erwartungen kein deutsches Privileg sind. Für weitere Informationen gibt es das einschlägige Handbuch: Wolfgang Sander (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach/Ts., 3., völlig überarb. Aufl. 2005. 72Nicht zufällig sind deshalb wohl auch die Erwartungen an Bildung zur Demokratie eher nüchtern-skeptisch grundiert, die ein politisch so engagierter wie theoretisch reflektierter Beobachter wie Micha Brumlik zu diesem Thema in seinem souveränen Durchgang durch die Bildungsphilosophie und die einschlägige Wirkungsforschung formuliert, vgl. M.B.: Demokratie und Bildung. Berlin 2018.
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die Befragten eher an sozialen Problemen und Bewegungen als an der alltäglichen Praxis des Politikbetriebs selbst Interesse zeigen, Engagement und Partizipationsbereitschaft, auch nur die Bereitschaft zu wählen oder die aktive Mitwirkung in Parlamenten und Parteien findet sich nur als Thema von Minderheiten, es gibt kaum mehr als 5 % Aktivbürger. Zum Trost der Pädagogen kann man wiederum sagen, dass es durchaus Schuleffekte gibt, z. B. positive Korrelationen des demokratischen Verhaltens mit der Dauer des Schulbesuchs, auch nach Abschluss und Schulform (je höher desto demokratischer) und selbst Nachwirkungen des je erfahrenen Lehrstils lassen sich identifizieren. Man kann insgesamt durchaus demokratisches Bewusstsein feststellen, z. B. eine hohe Zustimmung zu den Grundwerten der Verfassung oder Interesse an einzelnen politischen Themen, etwa der Ökologie- und Klimafrage. Aber das korreliert außer mit dem Schulbesuch stark mit der Wahrnehmung der eigenen Lage, soziale Desintegration und Desintegrations-Angst befördern demokratisches Urteilen nicht. Der Eindruck ist also ambivalent, erneute Anstrengungen finden ihre Begründung in den bekannten Defiziten. Schultheoretiker bezweifeln inzwischen allerdings auch systematisch, dass die Interpretation der schulischen Lebensform als einer demokratischen Lebensform systematisch wirklich gerechtfertigt ist,73 und ob man wirklich erwarten darf, was die schönen Programme versprechen und erwarten. Neben der Schule wird dann das Gewicht der synchron wie diachron ebenso bedeutsamen Lebenswelten gesehen, z. B. bei einem so kritischen Beobachter der politischen Realität wie Oskar Negt. Er betont die Bedeutung der politischen Bildung für die Demokratie, aber über die Perspektive der Pädagogen und die Konzentration auf Schule hinaus bekräftigt er vor allem die unentbehrliche Rolle autonomer Bildungsprozesse und die Erfahrungen, die in der je eigenen Lebenswelt gemacht werden: „Die Ansatzpunkte liegen dort, wo die Menschen leben und arbeiten, im Beruf, in der Nachbarschaft, in der Familie, in der Schule. In diesen Zwischeneinheiten lässt sich gesellschaftliche Verantwortung sinnlich erfahren, weil sie an das eigene Verhalten zurückgebunden werden kann.“74
73Roland
Reichenbach: Warum pädagogische Theorie der Schule? In: Ders./Patrick Bühler (Hrsg.): Fragmente zu einer pädagogischen Theorie der Schule. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf eine Leerstelle. Weinheim/München 2017, S. 10–31 erneuert hier seine bekannte Skepsis gegen eine demokratieaffine Interpretation der Schule: „Doch die Schule ist wahrscheinlich weder als Polis … noch als … embryonic society … angemessen zu verstehen“, wie er gegen Argumente Hartmut von Hentigs und John Deweys einwendet (zit. S. 17). Aber er unterbietet dabei m.E. die spezifische Gesellschaftlichkeit von Schule, wenn er sie nur als „Teil der Gesellschaft“ (ebd.) sieht, aber nicht ihre eigene Sozialform und damit auch nicht die Transferfähigkeit der Erfahrungen in schulischer Sozialität, die Dewey der „embryonic society“ zuspricht. 74Oskar Negt, Interview, In: Der Spiegel 32/2010, 09.08.2010, zit. S. 99–100; und Negt bezieht sich auch auf eine eigene frühere Schrift: Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen 2010. In dieser Akzentuierung lebensweltlicher – pluraler! – Erfahrungen gibt es einen Konsens von Negt bis zu Brumlik 2018, und natürlich viel Bestätigung in der Analyse der Bedingungen politischer Sozialisation.
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Diese „Zwischeneinheiten“ gewinnen also größere Bedeutung als diejenigen Praxen, denen sich Integration vermeintlich zuerst verdankt. Im Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erinnert das zugleich an ein Kriterium gelingender Bildung, das schon Wilhelm von Humboldt genutzt hat. Er forderte ja, dass der gebildete Mensch zum Maßstab wird, so dass „die … Bildung des Menschen überall vorangehen“ müsse, und betont dann, dass als Kriterium, dass „der so gebildete Mensch … in den Staat treten, und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm prüfen. Nur bei einem solchen Kampfe würde ich wahre Verbesserung der Verfassung durch die Nation hoffen.“75 Ein distanzierter bildungstheoretischer Beobachter übersetzt dieses historische Kriterium in die These: „Die Frage scheint weniger zu sein, wie viele Menschen aktiv partizipieren, als vielmehr, ob eine politische Kultur vorhanden ist, die diesen Namen verdient.“76 Beide Referenzen, die „politische Kultur“ wie die „Zwischeneinheiten“, machen damit gleichzeitig bewusst, dass sich Integration nicht in einer eigens strukturierten Welt vollzieht, auch nicht in Schulen, sondern allein als Ergebnis der aktiven Auseinandersetzung mit der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und im Alltag selbst, in dem die Individuen aufwachsen und ihre eigene berufliche und soziale, kulturelle und politische Praxis organisieren. Hier, in diesen Zwischenwelten, hat die „Nation“ ihren aktuellen Ort, prozedural und emergent, hier ereignen sich die Prozesse der Zivilisierung, im Umgang mit diesen Welten kultivieren wir unsere Lernbereitschaft und werden kompetent, eine Welt gewaltfrei zu gestalten. Dafür die Ausgangsvoraussetzungen zu schaffen, ist Schule offenbar eine geeignete Welt (wenn basale Standards ihrer pädagogischen Organisation gegeben sind), Ergebnisse, gar nur die erwünschten, kann sie nicht garantieren. „Moralisierung“ vollzieht sich hier ja auch, die Erwartungen müssen insgesamt aber offenbar realistisch sein. In Schule wird nicht primär, gar immer und zuverlässig z. B. starke Empathie sozialisiert, aber anscheinend doch das Bewusstsein der Differenz und, wie man hoffen muss, der Indifferenz gegenüber Differenz, die Mindestform der Toleranz des Alltags also. Das kann man dann auch als gelingende Integration bezeichnen. Solche realistischen Erwartungen an Integration könnte man sogar mit der problematischen Rede weiter illustrieren und präzisieren, die Erdogan 2012 gehalten hat. Er hat ja nicht nur gegen vermeintliche Assimilationsforderungen agitiert, sondern seine Zuhörer auch aufgefordert. „Sie können sich im heutigen Deutschland, in Europa von heute, in der heutigen Welt, nicht mehr als ‚der Andere‘, als derjenige, der nur vorübergehend hier ist, betrachten, Sie dürfen
75Wilhelm
von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. (1792), hrsg. von Flitner/Giel, Bd. I, S. 106. 76Roland Reichenbach: Die Ironie der politischen Bildung – Ironie als Ziel politischer Bildung. In. Ders./Fritz Oser (Hrsg.): Zwischen Pathos und Ernüchterung. Zur Lage der politischen Bildung in der Schweiz. Freiburg (CH) 2000, S. 118–130.
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sich nicht so betrachten.“ Und er hat sogleich ergänzt. „Es genügt, dass wir solidarisch sind. Es genügt, dass wir uns nicht als Fremde, nicht als Gast, nicht als der/die Andere sehen, dass wir uns als ein wesentliches Element dieses Landes betrachten.“77 Zumindest die Nähe zur Erwartung der Kanzlerin von 2016, dass man „Loyalität“ erwarten dürfe, ist hier nicht zu leugnen, und auch nicht die Vereinbarkeit mit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, dass keine „Parallelgesellschaften“ entstehen dürfen. Anerkennung der Zivilgesellschaft und damit Zivilisierung, um an Kant zu erinnern, ist also die wesentliche Forderung. Auch „politische Bildung“ sollte deshalb ihre eigenen Möglichkeiten reflektierter beurteilen und formulieren, auch die Differenz von „Bürgermodellen“78 realistisch sehen, damit sich ihr „Minimalziel“, der reflektierte Beobachter, realisieren lässt, und ihr großes politisches Ziel, der interventionsfähige und interventionsbereite politische Aktivbürger, fähig zu Kritik und Selbstkritik, zu Perspektivenübernahme und demokratiekompetentem Handeln zumindest nicht ausgeschlossen wird. Aber pädagogisch kann er nicht erzeugt werden, er muss sich schon selbst konstruieren. Hilfreich ist es dann, auch „Politik“ bildungstheoretisch offener zu verstehen, z. B. als die „situative Freiheit des Kollektivs das Notwendende zu erfinden“.79 Der „Gebildete“ findet sich dann zuerst und zumeist in der Rolle des alltagskompetenten Laien, als ein „Dilettant“, also als Liebhaber der Politik, aber mit der Freiheit zur Ineffizienz und Inkompetenz, weil die organisierten Sozialsysteme dem nicht-professionellen Akteur sowieso keine andere Rolle lassen. Aber der Gebildete ist in den hier bezeichneten Grenzen bereit und fähig zur Eigenverantwortung im Lebenslauf, teilhabefähig an Politik und Gesellschaft, Kultur und Ökonomie – allerdings auch, wie man nicht vergessen sollte, zur Negation der Erwartungen, mit denen er konfrontiert wird. Wird diese Fähigkeit und Option nicht toleriert, wird seine Autonomie negiert.
77An
anderer Stelle wird das bekräftigt: „Wir möchten insbesondere, dass Sie, sowohl als Einzelpersonen als auch als zivilgesellschaftliche Organisationen bei Ihrem Einsatz für Ihre Rechte entsprechend den nationalen und internationalen Regelungen, beim Ausdrücken Ihrer Reaktionen, wie bis heute schon immer gewesen, immer respektvoll gegenüber dem Recht des Landes, in dem Sie leben, besonnen und maßvoll vorgehen.“ (Erdogan 2012) 78Solche Bürgermodelle diskutiert, mit der angesichts der großen Ambitionen politischer Bildung notwendigen ironischen Distanz und zugleich kritisch gegenüber hohen Erwartungen an eine „eine kritische Theorie politischer Bildung“, Carsten Bünger: Von erschöpften Künstlern und prekären Dilettanten. Gegenwärtige Subjektivität und kritisch-politische Bildung. Überarb. Fassung eines Vortrags, gehalten am 28.09.2006 im Rahmen der Tagung „Gerechtigkeit und Bildung“ der DGfE-Kommission für Erziehungs- und Bildungsphilosophie in Mühlheim (Ruhr), 2007 In: M.Wimmer/R.Reichenbach/L.A.Pongratz (Hrsg.): Gerechtigkeit und Bildung. Paderborn 2007, S. 159–176. 79So Reichenbach 2000, zit. S. 127, auch für die folgenden Paraphrasen und Zitate.
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23.5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotential Die ökonomische Bedeutung von Bildung, jetzt nicht primär im Sinne einer kulturellen Voraussetzung ökonomischer Rationalität,80 sondern als eigenständiger Produktionsfaktor in seiner Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum analysiert in einem theoriespezifischen Sinne die Bildungsökonomie, wie sie als wissenschaftliche Disziplin spätestens seit den 1950er Jahren in der Rezeption USamerikanischer Studien auch in Deutschland präsent ist.81 Dabei interessieren hier nicht so sehr die einzelnen, z. T. schon älteren82 theoretischen Zugänge, Annahmen und methodischen Verfahren,83 die vor allem bis in die 1980er Jahre Konjunktur hatten, sondern die Empirie. Dann stellt sich in der gegenwärtigen Bildungsökonomie84 neben der Prüfung zahlreicher Detailannahmen auch schon die grundlegende Frage, ob der in ihrer disziplinären Gründungsgeschichte als zentral behauptete Zusammenhang von „Bildung und Wirtschaftswachstum“, also der gesamtwirtschaftliche ökonomische Wert der Bildung, wirklich so stark war, wie einige der Bildungsökonomen behauptet haben. Schon einer nachgehenden Analyse der einschlägigen Daten für das 19. Jahrhundert85 hatte sich ja u. a. gezeigt, dass die autonomen Effekte von Bildung für das Wirtschaftswachstum 80Für
dieses Thema – quasi nach und mit Max Weber – Hansjörg Siegenthaler, vgl. u. a. ders. (Hrsg.): Rationalität im Prozess kultureller Evolution. Tübingen 2005. 81Für die Bildungsökonomie vor 1945 und bei den ökonomischen Klassikern Valerie Canals/ Claude Diebolt: Die Bildungsökonomie vor dem Zweiten Weltkrieg: Ein Bestandteil moderner Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik? In: Historical Social Research 38(20003)2, S. 315– 323. Für die wissenschaftliche Biografie von Friedrich Edding, der bedeutsamste frühe Bildungsökonom in Deutschland, und seine wissenschaftliche Arbeit seit der NS-Zeit Anne Rohstock: Vom NS-Statistiker zum bundesrepublikanischen Bildungsforscher: Friedrich Edding und seine Verstrickung in den Nationalsozialismus. In: M. Rieger-Ladich/A. Rohstock/K. Amos (Hrsg.): Erinnern, Umschreiben, Vergessen. Die Stiftung des disziplinären Gedächtnisses als soziale Praxis. Weilerswist: Velbrück 2019, S. 120–157. 82Nicht selten wird Adam Smith zitiert, der in „Wealth of Nations“ (1776) den Menschen mit einer „Maschine“ vergleicht, der „mit großem Aufwand an Mühe und Zeit für eine Beschäftigung“ ausgebildet wurde, aber auch erwarten darf, dass er für das „investierte Kapital“, das aufgewendet wurde, „aus seinem erlernten Beruf einen Ertrag erzielen kann, der … ihm den gesamten Ausbildungsaufwand, nebst einem normalen Gewinn für ein gleichwertiges Kapital ersetzt“, hier zit. nach Klaus Klemm: Bildung: ein öffentliches und ein privates Gut. In: Essener Unikate 9/1997, S. 57–64, zit. S. 58. 83Als Überblicke Dirk Zacher: Die Ursprünge der Bildungsökonomie und die bildungsökonomische Renaissance. sowie François Grin: Grundzüge der volkswirtschaftlichen Bildungsökonomie. Beide in: Bank, Vom Wert der Bildung, 2005, S. 41–60; 61–148; thesenhaft: Dieter Timmermann: Bildungsökonomie. In: Heinz-Elmar Tenorth/Rudolf Tippelt (Hrsg.): BeltzLexikon Pädagogik. Weinheim/Basel 2007, S. 102–105. 84Als Einstieg Manfred Becker: Bildungsökonomie. In: Deutscher Lehrerverband (Hrsg.): Wozu Bildungsökonomie? Berlin 2012, S. 7–20. 85Peter Lundgreen: Bildung und Wirtschaftswachstum im Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts. Methodische Ansätze, empirische Studien und internationale Vergleiche. Berlin 1973.
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sehr viel geringer ausfallen, als theoretisch unterstellt wurde. Mehr als theoretische Modellierung zählt also auch hier die empirische Forschung, und sie zeigt vor allem Varianz und das relativiert die Rolle von Bildung, auch für das wirtschaftliche Wachstum.86 Unbeschadet solcher Relativierungen und unverkennbarer Kritik, die zentralen Themen87 der Bildungsökonomie sind erhalten geblieben. Aber man kann jetzt im Detail, wenn auch nicht immer schon mit hinreichenden Daten für alle Aspekte im Einzelnen, sagen, welche Bedeutung der Ressource Bildung in einem engeren Sinne ökonomisch zukommt. Dann sind mehrere Dimensionen von Bedeutung: a) Die erste und augenfälligste Dimension ist mit den „Ertragswirkungen von Bildungsaktivitäten“ gegeben: Je nach den Referenzsystemen, für die man solche Wirkungen misst, sind sie so eindeutig wie variabel. Bezogen auf das ökonomische System und das Wirtschaftswachstum sind, trotz der Skepsis der Historiker, Organisationen wie die OECD nach wie vor eindeutig vom positiven Zusammenhang von Bildung und Wirtschaftswachstum überzeugt. Im Lichte der eigenen Indikatoren der OECD, z. B. des immer neu propagierten Anteils der Hochschulzugangsberechtigten an der Altersgruppe, zeigt sich aber, dass der Zusammenhang nicht einfach oder linear ist: die höchsten Abiturientenquoten in der EU, jedenfalls höhere als z. B. die Bundesrepublik, haben die südeuropäischen Länder, die gleichzeitig große ökonomische Probleme und ernsthafte Schwierigkeiten bei der Beschäftigung von Jugendlichen und jungen Akademikern haben. Vergleichbar eignen sich Alphabetisierungsquoten allein nicht, um zuverlässig wirtschaftliches Wachstum zu prognostizieren und zu befördern. Bezieht man solche Fragestellungen dagegen auf individuelle Lebensläufe, kann man, andererseits, sehr eindeutig sagen, dass hohe Investitionen in vorschulische bzw. frühkindliche Bildungsaktivitäten mehr Effekte auf schulische Bildungskarrieren und Chancenausgleich haben als spätere, nachholende Investitionen.88 Und natürlich gibt es Zusammenhänge zwischen kognitiven Fertigkeiten und Wirtschaftswachstum89 – und den 86Eine
so übersichtliche wie pointierte und ernüchternde Zusammenfassung für diese These gibt Alison Wolf: Does Education matter? Myths about Education and Economic Growth. London 2006. Schon der Waschzettel resümiert, in einem Plädoyer für Grundbildung, sehr deutlich akzentuierend die politisch vielleicht bessere Konsequenz für künftige Bildungsinvestitionen: „The conclusion of this devastating book is that a large proportion of the billions poured into vocational training and university provision might be better spent on teaching the basics at primary school.“ 87Ich folge hier Timmermann, Bildungsökonomie, 2007 in der Benennung und Zählung der zentralen Themendimensionen von (a) bis (f), die Erläuterungen im Detail sind von mir, H-E.T. 88Vgl. u. a. Martin Schlotter/Ludger Wößmann: Frühkindliche Bildung und spätere kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten: Deutsche und internationale Evidenz. München 2010 (Ifo Working Paper No. 91). 89Dafür Eric A. Hanushek/Ludger Wößmann: The role of cognitive skills in economic development. In: Journal of Economic Literature 46 (2008), 3, S. 607–668. Aber bevor man diese viel zitierten Befunde (und vergleichbare weitere Arbeiten: Eric A. Hanushek Paul E. Peterson/ Ludger Wössmann: Endangering Prosperity. A Global View of the American School.
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kritischen Diskurs über die Generalisierbarkeit und Handlungsrelevanz dieser Befunde. Der Nationale Bildungsbericht in Deutschland hat das Thema der Erträge von Bildung von Beginn an, also seit 2006, in seine Darstellung aufgenommen und 2018 als das zentrale Thema seiner Berichterstattung ausgewiesen. Dabei hat der Bildungsbericht versucht, auch im Blick auf die OECD-Analysen in „Education at a Glance“, eigenständige Indikatoren zu entwickeln,90 „Erträge“ auch von den „Wirkungen“91 zu unterscheiden, die man z. B. auf der Ebene der individuellen oder kollektiven Kompetenzkonstruktion dem Bildungssystem in seiner genuinen Praxis zuschreibt. 2006 waren das für die individuelle Seite Indikatoren für den Zusammenhang von Bildung mit Erwerbstätigkeit und Einkommen sowie von Bildung mit „Lebensführung und gesellschaftlicher Teilhabe“. Für die „sozialen Erträge“ wurde als Indikator der „Zusammenhang von Bildung und Wirtschaftswachstum“ dokumentiert, den die Bildungsökonomie bis heute in ihren Modellrechnungen thematisiert,92 und der z. B. auch im Fußnote 89 (Fortsetzung) Washington: Brookings Institution Pr. 2013; James Heckman/Tim D. Kautz: Hard Evidence on Soft Skills. Cambridge, Mass.: National Bureau of Economic Research 2012) zu rasch generalisiert und vorschulische Erziehung zum Allheilmittel der Bildungspolitik erklärt, sollte man sehen, dass die methodische Anlage der Studie für eine Generalisierung nicht unproblematisch ist, dass sich ihre Geltung in manchen Dimensionen auch eher Zitatkartellen und den Programmen internationaler Organisationen wie der OECD und der Weltbank als allein der Qualität der Daten verdankt und dass die Differenz und Qualität der vorschulischen Programme, von denen man positive Effekte erwarten darf, nicht hinreichend für eine unmittelbare praktische Nutzung geklärt ist, vgl. für die methodische Kritik Joel Spring: Economization of Education. Human Capital, Global Corporations, Skills-Based Schooling. New York/London: Routledge 2015. 90Konsortium Bildungsberichterstattung (Im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung): Bildung in Deutschland. Bielefeld 2006 (und weiter im Zweijahresabstand). Neben den wiederkehrenden Standardthemen waren die jeweils wechselnden Schwerpunktthemen: Bildung und Migration (2006), Übergänge im Anschluss an den Sekundarbereich I (2008), Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel (2010), Kulturelle Bildung im Lebenslauf (2012), Bildung von Menschen mit Behinderungen (2014), erneut Bildung und Migration (2016) und 2018 dann Wirkungen und Erträge von Bildung. 91In dem ersten „Bildungsbericht für Deutschland“, einer Vorarbeit zum Nationalen Bildungsbericht, wurden 2003 im Teil „C. Wirkungsqualitäten“ noch Abschlüsse, Kompetenzverteilung, Verteilung von Bildungschancen und die Konstruktion politisch relevanter Einstellungen zusammen mit „Erträgen schulischer Bildung“, unterschieden nach „interne“ vs. „externe Erträge“, dargestellt (vgl. Bildungsbericht für Deutschland, erste Befunde, Opladen 2003, A. 167 ff., für die Systematik der Erträge Abb. C5/1 S. 243). 92Ein jüngeres Beispiel liefern Marc Piopiunik/Ludger Wößmann: Volkswirtschaftliche Erträge wirksamer Bildungsreformen zur Reduktion der Zahl der Risikoschüler. In: Kai Maaz/Marko Neumann/Jürgen Baumert (Hsrg.): Herkunft und Bildungserfolg von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Forschungsstand und Interventionsmöglichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive. Wiesbaden 2014, S. 393–416 (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sh 24) – wobei allerdings die angenommene Zielperspektive, mittelfristig, aber auch bis ins Jahr 2090, zunächst nur die Vermutung nährt, dass auch diese Prognose die Schwierigkeiten ignoriert,
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Nationalen Bildungsbericht in der Debatte von Erträgen behandelt wird.93 2018 wurden „Arbeitsmarktbezogene Erträge“, „Monetäre Erträge und Bildungsrenditen“ sowie „Nichtmonetäre Erträge außerhalb des Arbeitsmarktes“ unterschieden und bei den „Wirkungen“ auch die Folgen von „Struktur- und Steuerungsentscheidungen“ auf das Bildungssystem betrachtet.94 Die Daten belegen, seit 2006 und bis 2018 immer neu, „dass sich Bildungsanstrengungen individuell und gesellschaftlich lohnen“95 – und zwar ganz eindeutig im Lebenseinkommen,96 in der Beschäftigungssicherheit, in der Absicherung gegenüber Risiken im Lebensverlauf, immer in der erwartbaren Varianz der unterschiedlichen Abschlüsse (oder des fehlenden Abschlusses). Aber auch Bildung schützt nicht generell z. B. vor Arbeitslosigkeit, oder sichert zuverlässig die mit der Zertifikathöhe als gekoppelt erwarteten hohen Einkommen, sondern nur mit höherer Wahrscheinlichkeit, ein Fünftel der Hochschulabsolventen ist z. B. „unterwertig beschäftigt“ (so die Bildungsberichte konstant, schon 2006, S. 185 sowie 2018, S. 215). Die Autoren des Bildungsberichts warnen deshalb vor zu einfachen Interpretationen oder Wirkungsannahmen: „Die empirische Evidenz hinsichtlich der Wirkungen von Bildung
Fußnote 92 (Fortsetzung) die mit dieser Literaturgattung verbunden sind, vor allem dann, wenn die Autoren einräumen, dass noch zu klären ist, welche Reformmaßnahmen im Detail anzusetzen sind. Es empfiehlt sich jedenfalls parallele Lektüre, die zur Vorsicht mahnt, u. a. Joachim Radkau. Geschichte der Zukunft: Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. München 2017. 93Seit 2008 werden im Bildungsbericht im Abschnitt „Wirkungen und Erträge“ nur noch die beiden Dimensionen „Bildung, Wirtschaft und Arbeitsmarkt“ sowie „Individueller Nutzen von Bildung“ unterschieden (mit den erwartbaren Indikatoren), verbunden jeweils mit einem eigenen Abschnitt „Chancengleichheit“, der bilanziert, wieweit soziale Disparitäten im Zugang zu Bildung abgebaut werden konnten. Indikatoren für die „Entwicklung individueller Regulationsfähigkeit“, die einleitend z. B. 2012 versprochen werden (2012, S. 199) fehlen allerdings. 2018 werden die Wirkungen aber u.a auch für politische Teilhabe oder die Wahrnehmung von Ehrenämtern diskutiert. 94Bildungsbericht 2018, S. 191–246. 95Bildungsbericht 2006, S. 181; und erneut der Bildungsbericht 2018. Sein Fazit über „Erträge und Wirkungen“ bündelt die Generalthese und unterschlägt nicht die Varianz und die sie erzeugenden Bedingungen: „Der bekannte und oftmals zitierte Satz „Bildung lohnt sich“ lässt sich mit den Analysen in diesem Schwerpunktkapitel ein erneutes Mal bestätigen. Gleichzeitig konnte verdeutlicht werden, dass Bildungserträge stark von individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Kontextmerkmalen beeinflusst sind.“ (S. 245) – und d. h. auch die Erträge verdanken sich Bildungsprozessen, sind offenkundig weder zuverlässig planbar noch für alle Adressaten oder für alle Kontexte in gleicher Weise lohnend. 96Wenngleich sich hier auch die langfristige Tendenz einer zunehmende „Konvergenz“ der Einkommen zwischen akademischen und nicht-akademischen Berufen zeigt (Julian Nida-Rümelin: Der Akademisierungswahn. Die Krise beruflicher und akademischer Bildung. Hamburg 2014, S. 33). Signifikant ist dafür auch die Angleichung der Gehälter in Lehrberufen und gleichzeitig eine zunehmende Divergenz innerhalb der akademisch qualifizierten Beschäftigten (öffentlicher Dienst vs. private Beschäftigung) sowie nach Branchen und Sektoren, z. B. MINTBereich vs. Kulturarbeit oder geisteswissenschaftliche Tätigkeiten; selbst die Entstehung eines „akademischen Prekariats“ wird notiert (vgl. Kessl u. a. 2014).
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ist bei vielen Aussagen uneindeutig. Auch lassen sich Effekte oft nicht kausal unmittelbar zuordnen. In der Regel sind nicht nur mehrere aufeinander folgende Bildungseinrichtungen, sondern auch andere Lernkontexte (z. B. die Familie) und informelle Lernprozesse an einem Lernergebnis beteiligt.“97 Man wird hinzufügen müssen, auch individuell differierende Anstrengungen und Praktiken oder – konterkarierend – die Zugehörigkeit zu benachteiligten Milieus oder das Geschlecht, z. B. bei Bezahlung und Beschäftigungschancen, sind bedeutsam. Auch optimistische Zusammenstellungen der „Social and Personal Benefits of Learning“,98 wie sie z. B. aus England vorliegen,99 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bildung als universale Spezialfunktion zwar in nahezu alle Prozesse der Organisation moderner Gesellschaften – irgendwie, wahrscheinlich nicht selten auch in förderlicher Weise100 – immer auch eingebunden ist, Korrelationen also nicht überraschen, dass sie aber deswegen nicht immer auch die einzige, wesentliche und kausal primär zu berücksichtigende Variable ist, wenn es um Gesundheit und Wohlbefinden, Einkommen oder Beschäftigungssicherheit, politisches Verhalten oder soziale Tugenden geht. Schon die meist genutzte Operationalisierung der schulisch vermittelten, nicht selten auch nur der schulisch zertifizierten Bildung dürfte davor warnen, hier einfache Zusammenhänge zu unterstellen und dann auch einfach zu steuernde z. B. präventive Prozesse zu fingieren (wie das die Bildungsökonomen gegen alle, auch eigene Erfahrung dennoch immer wieder propagieren101). Die eigenständige 97Nationaler
Bildungsbericht 2006, S. 181; vergleichbar formuliert der Bericht 2018, S. 220, dass sich z. B. die Erträge in der Dimension der politischen Teilhabe „nicht einfach auf Bildung zurückführen (lassen)“ und betont generell, dass sich „kausale Evidenz“ nicht behaupten lässt, und zwar für alle Erträge und Wirkungen nicht (S. 197). Nicht zufällig wird weiterer „Forschungsbedarf“ reklamiert (2018, S. 240). 98Vgl. Leon Feinstein/David Budge/John Vorhaus/Kathryn Duckworth (Hrsg.): The Social and Personal Benefits of Learning. The Centre for Research on the Wider Benefits of Learning/ Institute of Education, Univ. of London, London 2008 sowie für frühere Befunde u. a.: The benefits of learning: the impact of education on health, family life and social capital. London 2004, oder John Bynner/Tom Schuller/Leon Feinstein: Wider Benefits of Education: Skills, Higher Education and Civic Engagement. In: Zeitschrift für Pädagogik 49(2003), S. 341–361. 99Kriminalität war hier sogar ein Referenzthema und die Korrelationen sind eindeutig: Abnahme bei höherer Bildungsbeteiligung. 100Bynner/Schuller/Feinstein: Wider Benefits of Education, (2003), resümieren etwa: „Taking part in education … is closely associated with changes in people’s lives – their health, their wellbeing, their social attitudes and their levels of civic participation.“ Zit. 358) und ihre „policy conclusion“ heißt: „that education is not so much an option for government but an absolute prerequisite for the promotion of personal well-being and a cohesive society.“ (359). 101Die Skepsis gegen die von Bildungsökonomen z. B. für die USA propagierten Programme ist bei einem Bildungssoziologen wie Richard Münch (2018) deshalb auch mit guten Gründen ziemlich groß. Es überrascht deshalb auch, dass selbst angesichts des gelegentlich selbst eingestandenen Misserfolgs ihrer Programme, mit denen sie die USA seit 50 Jahren überzogen haben, die prominenten Bildungsökonomen ungerührt erneut für die bei ihnen beliebten, längst in ihrer Problematik bekanntens Strategien plädieren, vgl. jüngst Eric A. Hanushek, Paul E.
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Rolle der Familie ist so wenig zu unterschätzen wie materielle und finanzielle Rahmenbedingungen. Schon für die Rahmenbedingungen kann man wissen, dass sie, gegen intuitiv vermeintlich eindeutige Evidenz, nicht immer so wirken wie man erwartet: mehr Geld macht jedenfalls nicht einfach auch bessere Schulen so wenig wie z. B. kleinere Klassen bessere Schulleistungen garantieren. Sie befördern allerdings das Wohlbefinden der Lehrer, das man wiederum als Bedingung guter Schule natürlich auch nicht unterschätzen darf. Einerseits heißt das insgesamt, „that the field is wide open for better research“, wie ebenfalls englische Forscher formulierten, als sie Befunde für die Rolle der Familie in Lernprozessen untersuchten.102 Andererseits warnen die bisherigen Befunde davor, aus solchen Studien einfach linear Konsequenzen abzuleiten, etwa den OECD-Empfehlungen für Deutschland zu folgen und einseitig den Hochschulzugang und die Abiturientenrate als zentrales Ziel und Steuerungsdimension zu behandeln.103 Die aktuell neu entflammte Debatte über den „Akademisierungswahn“104 hat also durchaus realistische Anlässe und entspringt nicht allein dem Statusinteresse von Akademikern, die sich vor Konkurrenz schützen wollen. b) Die „gesellschaftliche Verteilung von Bildung“ und die „persönlichen Erwerbseinkommen“: Nach wie vor besteht ein positiver Zusammenhang zwischen dem Lebenseinkommen und der Qualifikation bzw. den Zertifikaten. Höhere Bildungsabschüsse gehen immer noch mit höheren (Lebens-) Erwerbseinkommen parallel, obwohl sich die Differenzen gegenüber dem 19. Jahrhundert deutlich verringert haben, zumal im öffentlichen Dienst – dank der gewerkschaftlichen Interessenpolitik, die allerdings in ihren Tarifvertragsprämissen die Hierarchie der Qualifikationen nach den Ebenen von Schulabschlüssen definiert und wie selbstverständlich erwartet, dass sich höhere formale Qualifikationen auch in der Bezahlung auszahlen müsse. Das Prinzip des öffentlichen Berechtigungswesens ist also in die privatwirtschaftlichen Vertragsverhandlungen eingedrungen. Unbestritten ist auch, dass
Fußnote 101 (Fortsetzung) Peterson, Laura M. Talpey, Ludger Woessmann: The Unwavering SES Achievement Gap: Trends in U.S. Student Performance. NBER Working Paper No. 25648, March 2019. 102Department for Business, Innovation and Skills/Olga Cara-Greg Brooks: Evidence on the Wider Benefits of Family Learning: A Scoping Review. Research paper number 93, London November 2012. 103Eine vergleichbare Warnung findet sich auch bei Feinstein/Budge/Vorhaus/Duckworth (Hrsg.): The Social and Personal Benefits of Learning. 2008: „The findings in this report also support the argument that a narrow focus on academic achievement is ill-advised. It limits the capacity of the education system to encourage children to engage in learning and to experience it in ways that will encourage lifelong participation. It may even limit attainment levels in terms of narrowly defined cognitive skills. This point is now generally well-understood within policy-making circles but it bears re-iteration.“ (S. 25) 104Vgl. dazu Nida-Rümelin 2014 – zu Unrecht scharf kritisiert, sowie die Beiträge in Tanjev Schultz/Klaus Hurrelmann (Hrsg.): Die Akademiker-Gesellschaft. Müssen in Zukunft alle studieren? Weinheim/Basel 2013.
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ildungsabschlüsse, zumal höhere, deutlich stärker gegen Erwerbslosigkeit B und andere Beschäftigungsrisiken absichern,105 ohne sie auszuschließen. Das alltäglich genutzte Bild des Taxi-fahrenden Hochschul-absolventen oder des Jungakademikers auf Hartz-IV-Niveau ist ja nicht nur eine Chimäre, aber zum Glück berufsbiografisch meist auch nur eine Etappe. c) „Bildungsfinanzierung“: Hier stellen sich der Bildungsökonomie in einer primär auf das Bildungssystem bezogenen Perspektive „vier normative Fragen“: „(1) Wie viele gesellschaftliche Ressourcen sollen für das Bildungssystem und seine Bereiche bereitgestellt werden? (2) Wer soll die Ressourcen bereitstellen? (3) Wer soll die Dispositionskompetenz über die Ressourcen haben und über welche Wege soll die Verteilung und Verwendung geschehen? (4) An welchen Kriterien sollen sich die Dispositionen orientieren?“ – und man kann wissen: „Keine dieser Fragen ist ohne empirische Analysen zu klären.“106 Diese Analysen zeigen dann, neben der unverkennbaren Varianz für Detailprobleme, in denen sich die dauerhaften Konflikte in der Bereitstellung von Ressourcen und damit der Bedeutungsgehalt der Bildungspolitik spiegeln, auch die unterschiedlichen Strategien der Bildungspolitik: eher staatszentriert oder privat, zivilgesellschaftlich unterstützt, wie im Hochschulsystem der USA und den großen Stiftungsuniversitäten, oder in Mischformen. Die Chancen des Zugangs zu Bildungskarrieren stellen sich jeweils unterschiedlich dar. Tendenziell haben Muster der Privatisierung von Bildungsausgaben und stärker marktförmige Elemente höhere Ungleichheitseffekte als staatsgetragene Formen der Bildungsfinanzierung, wie man für Bildungsgutscheine sehen kann.107 Der übliche Indikator für die nationalen Leistungen im Bildungsbereich – der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt – ist deshalb auch wenig geeignet, die Unterschiede zu zeigen oder die Effekte zu erklären. Für Deutschland z. B. wird zu wenig berücksichtigt, das hier bei geringeren Bildungsausgaben gleichzeitig sehr viel höhere öffentliche Investitionen in der Förderung von Familien getätigt werden oder dass vorschulische Erziehung privat finanziert werden muss, Hochschulbildung aber sehr intensiv staatlich bezahlt wird (usw.), ohne dass man solchen Finanzierungsformen bis jetzt präzise Effekte zurechnen könnte. Die Einführung von Studiengebühren in einigen deutschen Bundesländern hat z. B. die Studierwilligkeit nicht wesentlich gemindert, und die Wirkungen auf die Qualität der Abschlüsse oder die langfristigen Folgen für das Wirtschaftswachstum
105In der aktuellen Arbeitslosigkeitsstatistik sind z. B. Beschäftigte ohne Schulabschluss und Ausbildung mit mehr als 30% vertreten, deutlich stärker als ihr Anteil an den Beschäftigten insgesamt, Hochschulabsolventen mit unter 5%, deutlich geringer als ihr Anteil an den Beschäftigten. 106So Timmermann, Bildungsökonomie, 2007, S. 104. 107Die Schwierigkeiten der Realisierung und die hohe Varianz der Effekte verdeutlichen Jürgen Oelkers/Max Mangold/Heinz Rhyn: Zur Problematik der öffentlichen Finanzierung von Bildung am Beispiel des Bildungsgutscheines. In: Bank, Vom Wert der Bildung, 2005, S. 289–330 (die Analyse ist jedenfalls distanzierter als Lohmann, der totale Ökonomismus, ebd., S. 251.272).
23.5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotential
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wurden gar nicht präzise untersucht. Dennoch wurden Studiengebühren wieder zurückgenommen und die Ungleichheit in der Finanzierung von Vorschulerziehung oder Studium blieb bestehen. d) „Die Abstimmung von Bildungs- und Beschäftigungssystem“: Vor allem hier haben sich ältere Illusionen im Kontext von Bildungsplanung deutlich abgebaut, die relative Hilf- und Ratlosigkeit der Bildungspolitik, auch ihre mangelnde Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den Anbietern von Arbeitsplätzen, ist immer neu offenbar geworden. Demografische Faktoren – z. B. die Stärke von Alterskohorten – und betriebswirtschaftliches Kalkül spielen nach wie vor die zentrale Rolle, und im Notfall wird Qualifikation von außen eingekauft. e) „Die praktische Bildungspolitik“: Sie ist einerseits nicht hinreichend und umfassend auch in Details und für langfristige Prozesse steuerungsfähig, wie die breite Governance-Forschung belegt. Sie kann jedenfalls unerwünschte wie unerwartete Nebenwirkungen bisher nicht vermeiden. Die Bildungspolitik kann sich andererseits auf die klassischen bedarfs- bzw. nachfrageorientierten Ansätze der Bildungsökonomie nicht hinreichend stützen. In nachgehenden Analysen zeigen die auf „einer sozialwissenschaftlichen Erweiterung“ basierenden „bildungsökonomische(n) Analysen“, welche Mechanismen regieren: „begrifflich u. a. in der Trias von Koppelung, Entkoppelung und Flexibilität bzw. Subordination“ gefasst und „theoretisch und empirisch in der Frage nach relativer Autonomie und Interdependenz“ diskutiert. Die Forschung gewinnt mit solchen Annahmen an Problemnähe und zeigt mehr an Varianz, gleichzeitig ist sie von unmittelbar handlungsrelevanten Empfehlungen, nach denen Politiker fragen, aber noch weit entfernt.108 f) „Effizienz und Effektivität“, mit der Frage der „Mikrobildungsökomomie …, ob in den Bildungseinrichtungen die verfügbaren Ressourcen so miteinander kombiniert und genutzt werden, dass die Bildungsziele erreicht werden“: Auch das ist ein Thema, das notorisch ungeklärt ist, so dass das Bildungssystem „stets mit der Vermutung leben muss, der Ressourceneinsatz in den Bildungsinstitutionen sei ineffizient“. Gegenüber den immer neuen FinanzForderungen der Akteure im Bildungssystem kann man immerhin systematisch sagen, dass „angesichts der Technologievagheit des Bildungsprozesses bisher offen [geblieben ist], wie sich Ressourcen pädagogisch in Lernleistungen transformieren“. Im Detail heißt das z. B.: Die nach 1960 deutlich gestiegenen Ausgaben für das Bildungssystem sind im Wesentlichen als Personalausgaben wirksam geworden, haben aber nicht unmittelbar und kausal eindeutig zurechenbar zu einer Qualitätssteigerung geführt. Auch bessere sachliche Ausstattung führt nicht per se zu besseren Leistungen der Schulen – aber deshalb kann man das Elend der sehr ungleichen Ausstattung von Schulen ja nicht fortschreiben.
108Einige solcher Analysen in Manfred Weiß (Hrsg.): Evidenzbasierte Bildungspolitik: Beiträge der Bildungsökonomie. Berlin 2006; ders.: Beitrag der Bildungsökonomie zur Sicherung der Qualität von Schule. In: Jörg-Dieter Gauger/Josef Kraus (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. St Augustin/Bonn 2010, S. 71–83.
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23 „Wertvoll“ – Bildung als individuelle und gesellschaftliche Ressource
Am Ende bekräftigt die Bildungsökonomie die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung der Ressource Bildung, ernüchtert zugleich aber das gelegentlich nahezu unbegrenzt starke Vertrauen auf Bildung und auf die positiven Effekte einer Steigerung von Bildungsausgaben im Blick auf individuelle oder gesellschaftliche Erwartungen. Die scharfe Kontroverse über die Frage, ob Bildung nicht primär als öffentliches, dagegen nicht als privates Gut betrachtet werden muss,109 verdeckt aber nicht nur begriffliche Unschärfen in dieser Gegenüberstellung, sondern auch die Varianz in den Strategien, die sich zwischen privater und staatlicher Finanzierung von Bildungsprozessen empirisch ergeben haben. Etatistische Bildungspolitiken, wie in Deutschland oder Frankreich, haben keineswegs mehr Gleichheit in der Teilhabe an Bildung und in der Verfügung über das eigene Humankapital erzeugt als Gesellschaften, die auch private Bildungsfinanzierung kennen. Andere Formen der Bildungsfinanzierung, z. B. über Bildungsgutscheine, haben aber auch nicht, wie versprochen, Egalität, sondern verstärkte Ungleichheit erzeugt. Staatssozialistische Gesellschaften wiederum, die neben der Ökonomie auch die Bildung zentralistisch bewirtschaftet haben, zeigten weder in der Bildungsplanung Rationalitätsgewinne noch haben sie ein Wirtschaftswachstum initiieren können, das stärker oder auch nur gleich stark war wie in den konkurrierenden kapitalistischen Gesellschaften. Unter dem Aspekt der Gleichheit der Zugangschancen haben sie sogar eher einen Prozess der Privilegierung der Privilegierten befördert, also keine Demokratisierung, sondern eine Refeudalisierung der Bildung (A. Meier). Insgesamt, Bildung als Habitus und erworbene Kompetenz hat ihren eigenen Wert, nicht nur für die Lebensführung von Individuen, sondern auch ökonomisch und in der Stabilisierung der Erwartung, auf gesellschaftlich konstruierte Kompetenz in basaler Gleichförmigkeit und je individueller Differenz zurückgreifen zu können. Bildung hat deshalb als Präsenz von gesellschaftlich nutzbarer Kompetenz, im Vertrauen auf Selbstlernen, Selbstkonstruktion und individuelle Verantwortung als je subjektiv generalisierter Modi der Lebensführung den Status einer sozialen Tatsache. Sie dominiert in dieser Funktion aus guten Gründen die öffentliche Rede von Bildung, in der nicht selten verkürzenden Form der Rezeption der Bildungsforschung oder im etwas naiv-propagandistischen Zugriff auf die großen Versprechen zumal der Bildungsökonomen. Aber sie wird in allen Sozialsystemen, auch politisch und lebensweltlich im Umgang von Menschen zugeschrieben und in der Erwartung grundlegender kultureller Kompetenzen zu Recht vorausgesetzt, aber auch durch diese Praxis zugleich stabilisiert und in ihrem Wert bekräftigt. Trotz solch manifester Relationen und funktionaler Referenzen muss man gleichzeitig betonen, dass der Zusammenhang von Bildung mit den Funktionsmechanismen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme
109Dazu Klaus Klemm: Bildung: ein öffentliches und ein privates Gut, 1997 sowie die sehr kritische Diskussion der Differenz in Ingrid Lohmann/Rainer Rilling (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen 2002.
23.5 … als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotential
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relativ offen ist, ambivalent und spannungsreich zugleich. Diese Beziehung kann als Störung wie als Unterstützung wirksam werden, individuell wie kollektiv. Noch der Rückzug aus gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen kann als Realisierung eines Bildungsideals, z. B. der Zweckfreiheit, individuell wie milieuspezifisch gefeiert werden. Wer den Wert der Bildung allein in kritischen Thesen von der „Ökonomisierung“ und der Dominanz des Tauschwertes von Zertifikaten und der Marktgesetzlichkeit von Lernprozessen sehen und problematisieren kann, der verkennt diese in sich schwierige Relation von Bildung als eigenständigem, immer auch individuell bestimmten Modus der Lebensführung mit den gesellschaftlichen Systemen und den sie regierenden Funktionsprämissen.
Kapitel 24
Zwischenfazit – wahre Bildung oder Bildung als Ware – ein Reflexionsdilemma
Bildung, das lehrt dieser Blick auf die Praktiken und Effekte der Selbstkonstruktion von Individuen angesichts einer entfalten Bildungsinfrastruktur, behält offenbar ihre relative Autonomie auch dann, wenn man sie als Ressource in unterschiedlicher Referenz nutzt oder betrachtet. Politisch und pädagogisch, zum Glück, nicht eindeutig oder gar hinreichend kontrollierbar, entwickeln sich zugleich auch die individuellen wie kollektiven Formen der Verwertung eher naturwüchsig als geplant. Die Befürchtung, dass Bildung angesichts ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Bedeutung ihr humanes, auf die Persönlichkeit des Einzelnen zielendes Potential systematisch verliert, ist deshalb auch so naheliegend wie übertrieben, wenn man sie generalisiert. Bildung behält die Ambivalenz und Vielfalt der Bedeutungen und Wirkungen, die sie wie alle universalen Spezialfunktionen von Gesellschaft besitzt. Als soziale Tatsache unausweichlich und als individuelle Ressource mental, kognitiv und moralisch nicht substituierbar, als konstitutiver Faktor gesellschaftlicher Ungleichheit in Status und Prestige, Einkommen und Lebensrisiken machtvoll wirksam (auch wenn sich die Soziologen noch über die Erklärung manifester Tatsachen streiten1), kann sie dennoch allein Gesellschaft nicht gestalten. Die Rede von der „Bildungsgesellschaft“ – nicht nur ein deutscher Mythos2 – ist angesichts der Allpräsenz des Phänomens und vor allem angesichts der Entgrenzung des pädagogischen Zugriffs auf den Menschen zwar verständlich, aber dennoch falsch, weil sie einen funktionalen Imperativ als dominant suggeriert, als der Bildung in der Formierung und Reproduktion von Gesellschaft eindeutig nicht funktioniert. Macht und Recht werden durch Bildung nicht dispensiert, und letztlich gilt, „it’s the economy
1Für diese Diskussion Rolf Becker/Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden 2004. 2Für die USA vergleichbar David F. Labaree: School syndrome: Understanding the USA’s magical belief that schooling can somehow improve society, promote access, and preserve advantage. In: Journal of Curriculum Studies 44 (2012), 2, S. 143–163.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_24
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stupid“, schon ein schlagendes Wahlkampfargument Bill Clintons. Auch auf einen „Imperialismus“ der Bildung, wie die Tradition befürchtete, kann man Gesellschaften nicht gründen. Emphase allein reicht sowieso nicht. Das Schwierigste scheint für Pädagogen, zumal für kritische, aber auch für eine besorgte Öffentlichkeit zu sein, das ökonomische Prinzip, das Prinzip der Knappheit und des an Leistung orientierten Wettbewerbs, auch für die eigene Arbeit und im Blick auf die Bildungspraxis anzuerkennen. Dabei muss man beide Prinzipien ganz entschieden zur Geltung bringen, auch monetär: Wir geben in den öffentlichen, privaten und betrieblichen Haushalten z.Zt. (Zahlen für 2018) deutlich mehr als 270 Mrd. € im Jahr für Bildung, Forschung und Wissenschaft aus, davon die öffentlichen Haushalte insgesamt mehr als 150 Mrd. €, 20 % der Nettoausgaben der öffentlichen Haushalte, wie der Bildungsbericht 2018 feststellt (S. 28). Angesichts solcher Investitionen darf und muss man an Ergebnissen und Leistungen mehr erwarten, als das, was man im Augenblick bekommt. Vor allem die Kontinuität von Risikogruppen und Bildungsarmut belegt dieses Leistungsdefizit in der öffentlichen Organisation von Bildungsprozessen. Deshalb muss man auch fragen, ob der Mitteleinsatz effektiv war und die richtigen Allokationslösungen bietet. Angesichts der Tatsache, dass wir z. B. weit mehr als vergleichbare Staaten in die sekundäre und tertiäre Bildung als in die primäre investieren und sehr viel mehr als andere, relativ zu unserem Gesamtbudget, aber auch in absoluter Höhe, in Gehälter des Personals statt in Sachausgaben, dann sind das ja keine Naturgesetze, sondern Anstöße zur Frage nach der Effektivität und nach Alternativen zur Ausgabenpraxis, also noch bei gegebenem Bildungsetat und noch vor allen, wie immer begründbaren, Forderungen zu seiner Erhöhung. Die Verteilung der Gelder stellt auch keine Regelung dar, die etwa der Weisheit der Pädagogik oder der Logik der Bildungstheorie entsprungen wäre, sondern ist ganz offenbar Ausdruck von Interessenkonstellationen, z. B. der Lehrerverbände, aber auch derjenigen, die von Abitur und Studium profitieren und ohne Klage akzeptieren, dass Kindergärten ihre Nutzer viel Geld kosten, Studienplätze aber nicht. Freiheit für Wettbewerb kann da nur hilfreich sein. Die Vorbilder für einen solchen Wettbewerb kann man sich auch bei den Pädagogen der Aufklärung suchen: die haben jedenfalls vorgeschlagen, die Lehrereinkommen an die Lehrerleistung zu binden, messbar an den Leistungen der Schüler. „Knappheit“ hat in Bildungsprozessen schließlich noch eine andere Bedeutung, die von Pädagogen gleich mit attackiert oder auch nur verschwiegen wird, wenn sie die „Ökonomisierung“ an den verfügbaren Finanzressourcen kritisieren, und das ist die Knappheit der Zeit, die für Bildungsprozesse zur Verfügung steht. Nicht mehr als zehn Jahre für die obligatorische Schulzeit in allgemeinbildenden Schulen, nicht länger als bis zum 18. Lebensjahr für die obligatorische Schulund Ausbildungszeit, am Tag selten mehr als fünf- bis sechsmal 45 min, meist nur an fünf Tagen in der Woche. Die tatsächliche Lehr-/Lernzeit ist schon in den deutschen Bundesländern unterschiedlich. Berliner Kinder z. B. erhalten erheblich weniger wirkliche Lehr- und Lernzeit in Schulen als z. B. die bayerischen. Die offenkundig zwischen den Ländern stark variierende „time on task“, die wesentliche wirkliche Lernzeit also, erklärt deshalb wahrscheinlich mehr von der Varianz
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der PISA-Leistungen, zumindest von der leicht gestaltbaren Varianz, als die soziale Herkunft oder die regionale ökonomische Lage oder die Schulstruktur, die jetzt z. B. von der GEW – durch die Daten von PISA aber nicht bestätigt – primär ins Feld geführt werden. Die Pädagogen müssen deshalb nicht nur über begrenzte Zeit klagen (denn unbegrenzte Zeit gibt es nicht, auch das lebenslange Lernen hat ein Ende), sondern Rechenschaft ablegen, wie sie die Zeit nutzen, in der ihnen die Kinder und Jugendlichen überantwortet sind. Sie sollten sagen, wo die Rechtfertigung für Sitzenbleiber und Wiederholer liegt, ob sie die Zeit verschwenden, intensiv oder nachlässig nutzen, insgesamt also, ob sie die Zeit in der richtigen Weise nutzen. Pädagogen pflegen sich darüber zu beklagen, dass in 45 min nicht gut Unterricht zu halten sei und klagen dann über die negativen Folgen der „linearen“ Zeit, der „Uhrenzeit“, die der Logik der Betriebe folge und die zeitlose Muße und Anstrengung der Bildungsarbeit zerstöre.3 Aber solche idyllischen, ja utopischen Bilder der Zeitlosigkeit oder der nicht vergehenden Gegenwärtigkeit des Bildungsprozesses kann sich nur erträumen, wer Lernzeit nicht als bemessene, knappe, vergehende, irreversibel sich entwickelnde Zeit versteht4 (oder nicht bezahlen muss) – und dann sogar meint, dass schon in einer Doppelstunde oder in anderer Portionierung alles besser wäre. Das ist aber nicht nur utopisch, sondern a-chronisch, weil es keine Zeit gibt, die nicht vergeht. Es ist zugleich unhistorisch und gesellschaftsfern, weil beliebige Zeit nicht finanzierbar und den Lernenden auch nicht zuzumuten ist. Schon jetzt beansprucht Bildungszeit mehr von der Lebenszeit aller Heranwachsenden als je in der Bildungsgeschichte. Solche Fragen sind dennoch nicht beliebt, weil sie als bildungsökonomisch gelten, den wahren Wert der Bildung, ihren Wert in sich selbst, vermeintlich nicht kennen oder falsch messen. Fragen nach Effektivität und Effizienz gelten als ungehörig in der Welt der Bildung. Klassische sozialphilosophische und bildungstheoretische Oppositionsformeln, wie man sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert schon in der Konfrontation von „Bildung“ vs. „Ausbildung“ kennt, bilden auch heute noch den systematischen Hintergrund für „Technokratie“und „Ökonomisierungs“-Vorwürfe, die man immer neu hören kann, wenn die gesellschaftliche Seite der Bildung thematisch wird. Diese Rhetorik, die konstant auch „Widersprüche“ zwischen Bildung und Gesellschaft aufzudecken meint, beruft sich auf eine alte Tradition des bildungstheoretischen und pädagogischen Denkens, aber es ist erkennbar eine Tradition, die der Bildungswirklichkeit nicht gerecht wird. Diese Pseudokritik wird auch wohl nur so emphatisch akzeptiert,
3Der Sammelband von Sabine Schmidt-Lauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung. Münster/New York/München/Berlin 2012 nimmt dieses Thema zwar auf, aber eher grundlagentheoretisch als empirisch, und wenn empirisch, dann zuerst für die Weiterbildung, wenig oder gar nicht im Blick auf Handlungskonsequenzen und operativ. 4Mit einem klaren Blick für dieses Problem Jürgen Diederich: Bemessene Zeit als Bedingung pädagogischen Handelns. In: N. Luhmann/K.-E. Schorr (Hrsg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1982, S. 51–86.
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nicht weil sie analysiert, sondern weil sie „Subjektivität gefällig codiert“.5 Hier werden Gegensätze für die Analyse des Aufwachsens und Handelns in Gesellschaft konstruiert, die falsch sind. Sie verdecken, dass wir unter Bedingungen aufwachsen, in denen „Vergesellschaftung“ und die Bildung von „Individualität“ immer koexistieren, in – selbstverständlich – spannungsreicher Symbiose, auch in der Symbiose von Lebensformen und Idealen, die selbst nicht harmonisierbar sind. Viele Philosophen, empirische Bildungsforscher oder Soziologen räumen das auch ein, sie sehen die pädagogische Rhetorik mit Erstaunen. Aber diese Rhetorik erzeugt problematische Folgen, wenn sie sich mit der Analyse und Konstruktion schulischer Bildung verbindet und dann z. B. angesichts der Botschaft der PISA-Daten wahre „Bildung“ in einen Gegensatz zu der mit PISA eingeforderten schulischen Grundbildung bringt. Die Bildungsinfrastruktur, die inzwischen mit Schulzwang oder als begleitendes Angebot lebenslang präsent ist, hat ihre Logik aber eher darin, dass sie Spannungen ausbalanciert als sie einseitig oder gar allein zu Lasten der Individuen zu lösen. Das ist im Übrigen eine Tatsache, die auch die Kritiker des Bildungssystems einräumen, sonst würden sie nicht konstant ihre Kritik der gegebenen institutionalisierten Lernangebote mit dem Entwurf alternativer Modelle institutionalisierten Lernens verbinden, also auf den Mechanismus schulförmigen, systemgebundenen Lernens setzen, den sie doch zugleich als Wurzel aktueller Übel kritisieren. Man tut deshalb gut daran, sich auch in der Bildungstheorie auf Lernen in befristeter, organisationsförmig normierter und nicht beliebig finanzierbarer Zeit einzustellen, schon weil sich Bildung für alle nur unter solchen Bedingungen realisieren lässt. Wir haben nicht die Muße der von Arbeit und Erwerbszwang freigesetzten Oberschichten von Antike und Renaissance, die Bildung in einen Gegensatz zu Arbeit bringen konnten, weil sie die Arbeit den anderen überließen. Bildung ist heute immer eine für alle, individuell und gesellschaftlich notwendige und unentbehrliche Ressource, insofern wertvoll, und zwar in mehrfacher Referenz, als Fundament einer eigenen Lebensführung, zur Sicherung der materiellen Reproduktion im Lebenslauf, als eigene kulturelle Praxis, als gesellschaftlich notwendige Kompetenz zur Sicherung von individuellem wie gesellschaftlichem Wohlstand, Wohlfahrt und sozialer Sicherheit. Schließlich, auch ausgleichende Gerechtigkeit bedarf der Ressourcen, der personalen wie der ökonomischen. Bildung als Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt ist dafür notwendig. Das gesellschaftliche Bildungssystem organisiert diesen Prozess nach eigenen Kriterien, allgemein, gerecht und gleich, wertvoll, aber im Ergebnis in unterschiedlichen, subjektiv differenten, nicht allein systemabhängigen Dimensionen. Es eröffnet den Akteuren Welten, die in Konkurrenz zu anderen, ebenso legitimen Funktionsimperativen – sei es Recht oder Ökonomie, Politik oder Wissenschaft – gestaltet werden müssen. Aber wir leben nicht in einer geschlossenen, allein traditionellen Bildern folgenden Bildungswelt, sondern in
5Markowitz,
Bildung und Ordnung, 2003, zit. S. 30.
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einem Alltag multipler Referenzen, spannungsreicher Herausforderungen und konkurrierender Werte in der Gestaltung der Lebensformen sowie in ambivalenten, je nach sozialer Lage eher offenen oder geschlossenen, engen oder weiten, leicht zugänglichen oder milieuspezifisch versperrten Handlungsoptionen. Bildung in dieser Welt zeichnet sich deshalb primär dadurch aus, dass sie individuelle und gesellschaftliche Erwartungen nicht negiert oder subjektivistisch auflöst, sondern einander konfrontiert und dazu zwingt, sie aneinander abzuarbeiten. Die Rede von Bildung, das ist offenkundig und gleichzeitig ein weiterer unabweisbarer Befund, erweist sich angesichts dieser Situation als ein Faktor, der vor allem in der kritischen Zuspitzung auf die Frage nach ‚Bildung als Ware‘ vs. ‚wahre Bildung‘ die Wahrnehmung wie die Gestaltung öffentlich organisierter Bildungsprozesse so erschwert wie verzerrt. Das Reflexionsdilemma, das die Rede von Bildung sich damit offenkundig selbst bereitet, gehört offenbar auch zu der spezifischen Gattung von Problemen, als deren Therapie sie sich darstellt und selbst versteht. Das gilt für die Rede von Bildung zumal in ihrer kritischen Form, gleich ob revolutionär oder konservativ begründet. Im abschließenden Teil soll diese, als Fazit und Problem der bisherigen Rekonstruktionen gewonnene generelle These über den Status der Rede von Bildung geprüft und weiter diskutiert werden, orientiert an der Hoffnung, vielleicht doch noch eine Theorie der Rede von Bildung oder zumindest die sie strukturierende Form zu identifizieren.
Teil V
Gibt es eine „Theorie der Bildung“?
Vor dem Hintergrund der hier rekonstruierten Tradition und der höchst differenten Segmente der Rede von Bildung, wie sie sich in und seit der klassischen Moderne entwickelt haben, im Blick auf typische Formen ihrer Argumentation und vor dem Hintergrund der breiten interdisziplinären Forschung über die Vielfalt der Themen der Bildung, auch angesichts der Möglichkeiten, die gesellschaftliche Organisation von Bildung im Referenzraum ihrer normativen Ansprüche zu verstehen, kehrt selbstverständlich eine Frage wieder, die schon zum Ausgangspunkt der hier vorgelegten Beobachtungen gehörte: Gibt es in der Vielfalt der Rede von Bildung auch einen systematischen Zusammenhang? Gibt es ihn auch jenseits der Stabilität themen-typischer Argumente oder der immer neuen Konstruktion wünschenswerter Bildungswelten? Gibt es diesen Zusammenhang vielleicht sogar analytisch und d. h. in einer Gestalt, die man auch als allgemein anerkannte, eigenständige und forschungsfähige Theorie der Bildung ansprechen kann? Solche Hoffnungen klingen eher wie Rufe der Verzweiflung, sie scheinen jedenfalls unrealistisch, denn die hier vorgelegten Befunde über die Tradition und die dominierenden Argumentationsmuster stimmen doch eher skeptisch: Die Rede von Bildung präsentiert sich als eine eher ungeordnete als klar strukturierte Vielfalt von Themen und Argumenten, aktuell wie historisch. Ja, man muss dieser Diagnose wahrscheinlich – und erschwerend – noch hinzufügen, dass die Rede von Bildung nicht nur vielgestaltig, sondern in sich auch heterogen und heteronom ist, weder einen Konsens über zentrale Begriffe kennt noch eine Verständigung über Redeformen oder auch nur über die Frage, wo zwischen der Konstruktion von Bildungsidealen und der Frage nach ihrer Realisierung, d. h. nach der Möglichkeit von Bildung, die Chance einer übergreifenden Kommunikation liegt. Die Redeweisen sind offenbar irreduzibel vielfältig, nicht selten polemisch gegeneinander abgegrenzt, eher politisiert als theoretisch reflektiert. Das gilt auch deswegen, weil immer neu alltagssprachliche und untheoretische, auch allein oder primär politisch oder lebensweltlich gebundene Argumente in diese Rede eindringen und selbst Bildungsphilosophen gelegentlich mit dem erstaunlichen Anspruch auftreten, über die Wirklichkeit von Bildung und über zentrale Kategorien ihrer Bestimmung unabhängig von Forschung sprechen zu können. Aber, auch diese
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Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung“?
kritischen Befunde haben ihre eigene Tradition.1 Sie indizieren nicht allein ein kontinuierendes Problem der Rede von Bildung, sondern auch Einheit, wenn auch nur in der paradoxen Kontinuität der argumentativen Fixierung, in der Wiederkehr der bekannten Idiosynkrasien und der problematischen Redeformen. Das ist natürlich keine zufriedenstellende Situation. Sie ist auch deswegen unbefriedigend, weil selbst ambitionierte Versuche der Verbesserung der Lage bisher anscheinend wenig erfolgreich waren. Aktuell ist z. B. nicht zu übersehen, dass zahlreiche Vertreter der „empirischen Bildungsforschung“ in ihrer Forschungspraxis explizit und nicht selten in polemisch formulierter Abwehr auf den Bildungsbegriff ganz verzichten, aber dennoch „Bildungs“-Fragen thematisieren, während Vertreter der meist philosophisch elaborierten „Bildungstheorie“ empirische Forschung über ihr Thema für unmöglich halten. Gelegentlich beanspruchen sie sogar für den Kern dessen, was für sie Bildung bedeutet, einen Ort jenseits von Wissenschaft.2 Wird hier der Bildungsbegriff nur noch zum Platzhalter für das wissenschaftlich Unsagbare, reduzieren andere, sehr distanzierte Beobachter seine Funktion entsprechend reduktionistisch-kritisch auf ein Indiz für „bestimmte Kommunikation über Unbestimmtes“, in der sich die spezifische, zugleich epistemische wie soziale Funktion der Rede von Bildung spiegele: „Als Evokation eines Abwesenden diskreditiert und transzendiert die Bildungssemantik jede Gegenwart und immunisiert gegen Enttäuschungen“.3 Aber die Funktion, „die prinzipielle Unbestimmtheit der Welt in Bestimmtheit zu transformieren“, schreiben andere Theoretiker, ebenfalls aus dem Kontext der Systemtheorie, auch oder allein der Rede über Religion zu und analysieren sie dann primär im Kontext des Politischen.4 Wie auch immer, man müsste zur Prüfung dieses ja sehr weitreichenden Vorschlags also zumindest die Differenz der Reden über Religion und Bildung markieren oder sie über die Zuschreibung als „Bildungsreligion“ in eins setzen – aber das ist schon historisch falsch. Kein Wunder, dass „die Metaphorik der Bildung“ angesichts solcher Schwierigkeiten in eine Zeit „nach dem Ende ihrer Theorie“ platziert wird – aber immerhin, es scheint auch eine Zeit ihrer Theorie gegeben zu haben. Man wundert sich allenfalls, dass nicht auch „Bildung“,
1Kritische Diagnosen über die Rede von Bildung haben ihre eigene Kontinuität, von Hauber (1847) bis zu Lenzen aktuell (vgl. die Detailhinweise in den einleitenden Bemerkungen zu Teil II). 2In der Nachfolge von Herwig Blankertz wird immer noch dessen These vertreten, dass sich das Thema „Bildung“ aller szientifischen Rede entzieht, weil sie „einen analytisch prinzipiell nicht ausschöpfbaren Sinn“ besitze (Herwig Blankertz: Kritische Erziehungswissenschaft. In: Klaus Schaller (Hrsg.): Erziehungswissenschaft der Gegenwart. Bochum: Kamp, 1979, S. 28–45, zit. S. 41). 3Dirk Rustemeyer: Erzählungen. Bildungsdiskurse im Horizont von Theorien der Narration. Stuttgart 1997, S. 126, auch für das folgende Zitat. Rustemeyer vermutet sogar darin die Funktionalität der pädagogischen Rede von Bildung: als einer „Aufgabe, die sich … konkreter Bestimmung entzieht und vielleicht gerade dadurch normativen Zuspruch gewähren kann. Was auch immer es ist, das Bildung ist – es ist weder dies noch das.“ (S. 127). 4Armin Nassehi: Strategisch. Religiös. Reden. In. Kursbuch 196, Hamburg 2018, S. 42–58, zit. S. 48.
Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung“?
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wie bereits schon „Mündigkeit“,5 das andere Schibboleth nicht nur kritischer Pädagogik, längst als „Pathosformel“ beschrieben und zur Analyse der Ausweglosigkeit der einschlägigen, zumal pädagogischen Semantik benutzt wurde. Aber es gilt natürlich auch, dass man sich mit dieser Situation nicht in distanzierter Beobachtung zufriedengeben muss, sondern auch die Erwartungen problematisieren kann, aus denen sich die kontinuierliche Kritik und die kühle Bobachtung zugleich nähren. Statt an bekannte oder an paradoxe Einheitsformen zu denken, gar eine einzige und allseits anerkannte Theorie zu erwarten, könnte es realistischer und produktiver sein, differente Formen von Einheit zu akzeptieren, solche z. B., in denen sich der Zusammenhang der Rede von Bildung anders darstellen lässt, nicht als Einheit in einer einzigen z. B. theoretischen oder begriffslogischen oder ethischen Dimension, sondern als Relationierung distinkter Formen des Zusammenhangs, also als Einheit in der Differenz. Drei solcher Optionen sollen deshalb abschließend präsentiert werden, als Versuch, die Vielfalt der hier präsentierten Rede von Bildung nicht nur als Vielfalt bestehen zu lassen, sondern auch Zusammenhänge zu zeigen, die systematische Anschlussarbeit eröffnen: (i) Die erste Option orientiert sich an der Frage, ob es so etwas wie einen thematischen und argumentativen Kern in der Rede von Bildung gibt, quasi eine Substratversion,6 der sich die historische Vielfalt so zuordnen lässt, dass sich Gemeinsamkeiten eines Zusammenhangs zeigen, die zugleich die Ausgangspunkte für die Vielfalt der weiteren Konstruktionen begründet ausweisen. In gewisser Weise kann man sich für diesen Strukturierungsversuch von Marx inspirieren lassen, der die Funktion der Philosophie, die man heute als Diskursbeobachter bezeichnen könnte, bekanntlich nicht in der „Darstellung der Wirklichkeit“ sah. Er interpretierte „ihr Existenzmedium“ und Recht sehr begrenzt, aber systematisch nützlich als „eine Zusammenfassung der allgemeinsten
5Für die damit gegebene Argumentationschance Markus Rieger-Ladich: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik. Konstanz 2002 – der immerhin Heydorns Bildungstheorie und den ihr impliziten Emanzipationshoffnungen einen Abschnitt widmet (S. 180 ff.). 6Ich schließe dabei auch an eigene Arbeiten an, zuletzt systematisch in H.E. Tenorth: „Bildung“ – ein Thema im Dissens der Disziplinen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 14 (2011), S. 351–362 sowie an das schon früher versuchte Programm, innerhalb der zahlreichen Varianten der Rede von Bildung einen „Minimalbegriff“ von Bildung zu identifizieren, „mit dem sich für die Vielfalt der Diskurse wenn auch nicht systematische Ordnung stiften, so doch eine Grenze ziehen läßt“ in: H .-E.Tenorth: „Bildung“ – Thematisierungsformen und Verwendungsweisen in der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik 43(1997), S. 969–984, zit. S. 975, schließlich an meine Versuche, die Humanwissenschaften als Ort zu bezeichnen, in dem Bildung als Thema der „Subjekt-Welt-Relation“ bearbeitet wird, allerdings „in ganz differenter Weise“, so in H.-E.Tenorth: Bildung – was denn sonst? In: C. Dietrich/H.-R. Müller (Hrsg.). Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken. Weinheim/München 2000, S. 87–101, zit. S. 90. Und natürlich habe ich mit Vergnügen gesehen, dass Thomas Rucker (Komplexität der Bildung. Bad Heilbrunn 2014, S. 61 f.) auch von diesen Zitaten aus seinen eigenen Abstoßpunkt für methodisch vergleichbare, aber im Ergebnis, wegen des Anschlusses an Theorien der Komplexität, so differente wie höchst gewichtige Analysen gesucht hat.
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Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung“?
Resultate“ der Forschung, „die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen.“7 (ii) Neben diese erste Form des Zusammenhangs der Rede – eine abstrahierende Zusammenfassung – soll aber auch die Frage nach der spezifischen Form eines systematischen Zusammenhangs noch einmal aufgeworfen werden, die mit dem Anspruch einer expliziten Theorie der Bildung verbunden ist. Schon angesichts der Tradition und der bis heute vorgelegten Arbeiten mit diesem Titel kann man solche Ambitionen der Systematisierung nicht gut ignorieren. Dabei sollen und können nur prominente Exempel dieser Theorie erneut aufgenommen werden, und auch nur in spezifischer Perspektive: Die Theorien werden zwar in ihrer je historisch vorliegenden Gestalt skizziert, systematisch und primär aber für die Frage diskutiert, welchen Preis die jeweils gesuchte – und theoretisch ja unvermeidliche – systematische Reduktion in diesen Versuchen einer Theorie der Bildung angesichts der Vielfalt der historisch präsenten Rede für den Anspruch der Systematisierung und Einheit zahlen muss (iii) Die dritte Option, Einheit in der Vielfalt zu sehen, geht vom Thema der Rede von Bildung aus, dem Mensch-Welt-Verhältnis und seiner Erforschung, berücksichtigt jetzt aber die (in Teil III) bereits ausführlicher demonstrierte Situation, dass jenseits der historischen Rede von Bildung und ohne explizite Nutzung des Bildungsbegriffs selbst, ja sogar in bewusster Distanz zur Vielfalt seiner Traditionen eine umfassende Forschung identifizierbar ist, die sich dem Thema der Bildungsreflexion zuordnen lässt, ohne den Begriff zu gebrauchen. Es gibt, das ist der Ausgangspunkt für diese dritte Option in der Suche nach Zusammenhängen in der Rede von Bildung, innerhalb der Humanwissenschaften offenbar auch funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung. Darunter kann man theoretische Anstrengungen verstehen, in denen die Forschungen über das Thema, das mit Bildung bezeichnet und unter den Begriffen von Entwicklung und Lernen, Sozialisation oder Praktiken der Selbstkonstruktion (usw.) theoretisiert und reichhaltig untersucht wird, mit einem eigenen systematischen Anspruch, aber unter Verwendung anderer Leitbegriffe analysiert und systematisch zusammengeführt werden. Solche funktionalen Äquivalente können als Versuche verstanden werden, bei aller Distanz gegenüber den semantischen Irritationen, die der Bildungsbegriff unverkennbar bereithält, dennoch den theoretischen Zusammenhang des Themas aufzunehmen und in neuer, vielleicht sogar alternativer und besserer Methodik und Begrifflichkeit zu bearbeiten. Dabei interessiert im Folgenden nicht noch einmal die Frage, welche Forschungsleistungen dabei erbracht werden, denn das Potential konnte schon demonstriert werden, sondern primär, ob, wie und zu welchem Preis sich in
7Karl
Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. (1845/1846), Frankfurt a. M. 1971 [d. i. der Raubdruck der Ausgabe Berlin 1953, die den Nachdruck von Bd. 5 MEGA darstellte], S. 23, auch für die beiden folgenden Zitate, Herv. H.-E. T.
Teil V Gibt es eine „Theorie der Bildung“?
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diesen funktionalen Äquivalenten die dauerhaft präsenten argumentativen Belastungen – des normativen Überhangs, der binären Schematisierung und der Versöhnungsrhetorik in der Triadisierung der Argumentation – vermeiden lassen, die mit dem historischen Bestand der Rede von Bildung unverkennbar verbunden waren und sind Im Ergebnis soll in diesem dreifachen Zugriff die These entfaltet und begründet werden, dass der Zusammenhang der Rede von Bildung sich nicht als theoretische Einheit und Konsistenz, gar in einer einzigen ‚Theorie der Bildung‘ darstellen lässt, sondern allein als distinkte Relationierung eindeutig differenter, aber argumentativ aufeinander beziehbarer Redeformen. Das heißt auch, dass „Bildung“ nicht den Status eines exklusiven Grundbegriffs der Erziehungswissenschaft hat, die ihn gelegentlich so reklamiert, sondern nur als basale Kategorie der Humanwissenschaften insgesamt sinnvoll diskutiert, aber auch, z. B. für einen Beobachter, höchst produktiv genutzt werden kann. Dabei erweist sich zugleich, dass „Bildung“ als Begriff dann doch nur als kulturell spezifische Semantik gebraucht wird und interpretierbar ist. Aber für das dabei behandelte Thema lassen sich funktional äquivalente Redeformen in anderen kulturellen Kontexten, ja nahezu universal, zeigen, die wiederum wechselseitige Rezeption und insofern auch einen internationalen Zusammenhang der Kommunikation ermöglichen.
Kapitel 25
Historische Konstanten in der Rede von Bildung
Die „Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate“ der in den vorherigen Kapiteln präsentierten historischen und aktuellen Praxis der Rede von Bildung konzentriert sich auf drei Aspekte: auf die historisch-sozialen Adressaten, die in der Rede von Bildung gesucht wurden, auf die Argumentationsformen, die in der Entfaltung der Rede von Bildung praktiziert, und auf die theoretischen Annahmen, die dabei systematisch gemacht wurden. Offengelassen wird hier also noch, ob diese historisch genutzten Elemente und Praktiken auch schon als in sich konsistente Formen von „Systematizität“1 in der Rede von Bildung identifizierbar sind, also als Strukturen, die man als Indikator für Theoriequalität lesen könnte. Über Versuche zu einer „Theorie der Bildung“ wird danach zu reden sein.
25.1 Adressaten und Referenzen Blickt man zunächst auf die Adressaten, die in der Rede von Bildung bis heute gesucht werden, dann lassen sich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis heute zumindest vier unterscheidbare und nicht aufeinander reduzierbare, aber miteinander in unterschiedlicher Gewichtung je situativ relationierte Referenzkontexte dieser Rede identifizieren.2 Dabei will ich hier nur eher nebenher daran
1Diese Kriterien, Systematizität und den Grad an Systematisierung, nutzt z. B. Paul HoyningenHueyne für die Qualifizierung von Wissen als Erkenntnis und für die Möglichkeit, auch Erkenntnisfortschritt festzustellen, vgl. jüngst noch einmal: P. H.-H.: Erkenntnisfortschritt aus der Perspektive der Wissenschaftsphilosophie. In: T. Rucker (Hrsg.): Erkenntnisfortschritt in der Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017, S. 17–33. 2Dabei kann ich im Folgenden – der Gattungsspezifik einer ‚Zusammenfassung‘ entsprechend – auf Einzelnachweise verzichten, denn die wurden in den bisherigen vier Teilen der Analyse hinreichend ausgebreitet.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_25
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
erinnern, dass die Semantik von „Bildung“ zwar einen primär deutschsprachigen Status hat, v. a. in der Unterscheidung von „Bildung“ und „Erziehung“, dass es aber in allen vergleichbaren Kulturen thematisch gesehen funktionale Äquivalente für das Thema und für die damit verbundenen Unterscheidungen gibt, wie sich für die westlichen oder östlichen Kulturen leicht zeigen lässt.3 Das gilt auch, theoretisch gesehen, für die weltweite Arbeit an der Analyse des Mensch-Welt-Verhältnisses und, funktional gesehen, für die öffentliche und politische Nutzung von Semantiken der Bildung und Erziehung in der Analyse und Gestaltung von Bildungssystemen und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Bildung wird im Blick auf die Referenzen, die diese Rede, jetzt deutschsprachig, sucht und bedient, (1) zuerst und bis heute dominierend als specimen humanum betrachtet, als die Eigenart, in der sich die „Bestimmung des Menschen“ zur Geltung bringt, in welchen Konkretisierungen immer: Sie gilt als Praxis und Leistung, als Form und Ziel der Arbeit des Menschen an sich selbst. Bildung als Formel für die Konstitution des Subjekts ist die zentrale Referenz, sie wird vom Individuum her als Selbstkonstruktion des Menschen im Lebenslauf interpretiert, als eine Praxis, die dabei einer definierten kulturellen Norm folgt, der sie sich konfrontiert sieht und die sie zur Geltung bringen muss. In der Rede von Bildung findet sich diese Norm in den diversen Bildern und Konstruktionen des „gebildeten Menschen“ bzw. seiner Äquivalente, wie sie seit der Renaissance und ihrem Leitbild des „cortegiano“ in Europa und in den westlichen Kulturen als Modell des Gebildeten und seiner Bildung und Selbstvollendung in eigner Lebensführung ausgearbeitet worden sind. Diese Bilder finden sich vom „gentilhomme“ bis zum „educated man“, sie existieren aber auch in sozialen Leitbildern der östlichen Kulturen und in einem Schrifttum von Buddha bis Konfuzius und Xun Zi, das die angemessene Lebensform reflektiert und normiert.4 „Bildung“ bezeichnet in diesem Prozess zugleich die bevorzugte historische Form und das gesuchte Ergebnis einer Praxis, die als Aneignung von ‚Welt‘ verstanden wird (wobei ‚Welt‘ selbst noch der argumentativen Präzisierung und Spezifikation unterliegt – wie noch zu
3Neue
Belege für diese These lieferten jüngst für Japan Jun Yamana: Wie ‚Bildung‘ die pädagogische Semantik in Japan bildet. Eine Beobachtung des Herumtollens von Bedeutungen in Übersetzungen. Sowie Akio Ogawa: ‚Bildung‘ vs. ‚Kyoyo‘. Ein deutsch-japanischer Sprachund Kulturverbleich. Beide in: Ruprecht Mattig/Miriam Mathias/Klaus Zehbe (Hrsg.). Bildung in fremden Sprachen? Pädagogische Perspektiven auf globalisierte Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2018, S. 257–273, 275–286. 4Diese fernöstliche Reflexionsliteratur wird aktuell im Blick auf die Bildungsproblematik vermehrt gelesen und stark beachtet, z. B. für Konfuzius und in der Differenz von Herz/Geist u. a. bei Roland Reichenbach: Das Suchen lernen. In: Merkur 812, 71(2017), S. 53–61. Ein im Westen wahrscheinlich weniger bekannter Theoretiker wie Xun Zi (d. i. in früherer Schreibweise Hsün Tzu) wird in der Reihe „Klassiker des chinesischen Denkens unter dem Titel „Die Bildung des Menschen“ ediert, vgl. Xun Zi: Die Bildung des Menschen. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Wolfgang Kubin. Freiburg/Basel/Wien 2015 (Klassiker des chinesischen Denkens Bd. 6). Man kann diesem Kontext aber auch nahöstliche, arabische Literatur zuordnen, z. B. Ibn Khaldun: Das Buch der Beispiele. Einführung in die Weltgeschichte. Aus dem Arabischen übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Mathias Pätzold. Stuttgart 2016.
25.1 Adressaten und Referenzen
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zeigen ist). In dieser Referenz ist die Rede von Bildung als Medium der Selbstbeobachtung und -aufklärung der Menschengattung interpretierbar. So dominierend diese Referenz auch ist, „Bildung“ fungiert (2) seit der klassischen Moderne zugleich auch als Leitidee des Bildungssystems. Die Rede von Bildung, wissenschaftlich oder politisch-gesellschaftlich, entwickelt und tradiert für diese Referenz bis heute wesentliche Unterscheidungen, die auch Differenzen markieren, in denen das Bildungssystem je national oder kulturell gestaltet, beobachtet und bewertet wird. Für die Funktion der unterschiedlichen Bildungseinrichtungen und als basale qualitative Unterscheidung hat sich in der deutschen Debatte die binäre Codierung von „Bildung“ vs. „Ausbildung“ durchgesetzt. Ihrer bis heute nahezu unbestrittenen Geltung ungeachtet, ist das zunächst eine Unterscheidung, die primär aus dem Gebrauch in der öffentlichen Debatte beglaubigt wird und dort auch sinnvoll, nämlich im Sinne der politischen Konstruktion von bildungspolitischen Lagern und vermeintlich eindeutigen Präferenzordnungen, gehandhabt wird. Die Differenz kann dagegen nicht durch klare Unterscheidungen der gemeinten und implizierten Praktiken präzisiert werden, so sehr das gelegentlich versucht wird. Der Code von Bildung vs. Ausbildung wird vielmehr schon historisch nicht eindeutig als Bezeichnung konträrer und insofern klar ausgewiesener Positionen in der Ordnung und Gestaltung von Bildungseinrichtungen konkretisiert, sondern eher als eher diffuse Schnittmenge von Zuschreibungen, die im politischen Kampf brauchbar sind.5 Institutionell folgenreich und sogar rechtlich abgesichert ist dagegen die Unterscheidung von Bildungsgängen im Dual von „allgemeiner“ oder „spezieller“ Bildung. Humboldt unterscheidet schon so, seine späteren Interpreten, Spranger zuerst, ordnen das Thema in einer lebenslaufbezogenen Sequenzierung dann triadisch, als Abfolge von „grundlegender“, „beruflicher“ und „allgemeiner“ Bildung, wobei Letztere dem Leben selbst und nicht dem Bildungssystem zugeordnet wird, dann also doch binär schematisierend zwischen System und Lebenswelt. Auch das ist eine Qualifizierung, die mehr in der politischen Ordnungsleistung klassifizierend stabilisiert wird, als aus der theoretisch klaren Unterscheidung von Merkmalen der Bildungsgänge, wie spätestens die Debatten über die Möglichkeiten der „Integration von Allgemeinbildung und Berufsbildung“ nach 1969 belegt haben. Eindeutig ist allerdings die Legitimation von Bildungsgängen nach ihrer Hierarchie, auch in der unterschiedlichen Zuschreibung auf Individuen und in ihrer Funktion im Lebenslauf, die mit diesem Dual verbunden war und ist. Allgemeine Bildungsgänge, z. B. der klassische Königsweg der Elitenrekrutierung vom Gymnasium über Abitur und Studium zu den bekannten Privilegien akademischer Bildung und Tätigkeit, haben bis heute mehr Prestige als „berufliche“. Verbunden mit dem Dual von Bildung vs.
5Belege für den changierenden Begriffsgebrauch seit dem frühen 19. Jahrhundert finden sich in H-E.Tenorth: Bildung oder Ausbildung? In: A. Schlüter/P. Strohschneider (Hrsg.): Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. Berlin 2009, S. 173– 182.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
usbildung erzeugt die Unterscheidung von allgemein und beruflich insofern A zugleich eine folgenreiche soziale Distinktion von Lebensformen und Kulturen und legitimiert deren Bewertung und Reputation als ‚hoch‘ oder ‚niedrig‘. Differenzen im Bildungssystem eröffnen und rechtfertigen, reproduzieren und bekräftigen also Unterscheidungen im gesellschaftlichen Leben und sind als eigene „Konventionen“ von Bedeutung und in Geltung.6 „Bildung“ macht deshalb heute als Effekt der Zuschreibung über Institutionen und ihre Klientel, z. B. die „Eliten“,7 sowie über ihre Symbole und Zertifikate Gleichheit und Ungleichheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit individuell und kollektiv zurechenbar und diskutierbar, und zwar so weit, dass „Aufstieg durch Bildung“ im 20. Jahrhundert zu einer Herausforderung für die Bildung der Subjekte und zu einer nahezu universal gebrauchten Pazifizierungsformel im Kampf um Status und Positionen werden konnte. Bildung wird damit (3) in der weiteren Referenz sichtbar, die sie seit Beginn mit bedient, und das ist ihre Funktion als national-kulturelle Identitätsformel. Diese Funktion hat die Rede von Bildung in mehreren Varianten, nicht nur als Versöhnungsslogan im Klassenkonflikt wie bei Aufstieg durch Bildung oder bei „Bildung für alle“, die als Zielformeln für die institutionelle Ordnung und gesellschaftliche Funktion von Lehr- und Lernprozessen nahezu unbestritten gesellschaftliche Anerkennung haben. Zunächst ist im historischen Prozess die gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Funktion im Dual von „Bildung und Nation“ präsent, mit dem Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert seine eigene Form auch in Abgrenzung zu den Nachbarstaaten suchte. Bildung wird dann, wie bei Humboldt, in Referenz auf „Nation“ und in Abgrenzung vom „Staat“ als zivilgesellschaftliche Einheitsformel bestimmt. Ähnlich prominent wird später das Dual von „Bildung und Kultur“, auch jetzt noch als Indiz dafür, dass die Einheit der Nation für lange Zeit eher als Kulturnation als in der Form der Staatlichkeit gefunden oder in der gegebenen Staatlichkeit akzeptiert wurde. Immer aber transportieren diese Duale ein Bild der deutschen Gesellschaft von sich selbst, eine Konstruktion ihrer favorisierten Traditionen und Zukunftsvorstellungen, von erwünschten Verhaltensweisen und Lebensformen. Es sind dann nicht nur die protestantischen ‚Bildungsbürger‘, sondern auch laizistische
6Im
Blick auf die „Economie des conventions“ hat sich, kritisch auch gegen die seit Bourdieu dominierenden Annahmen und -praktiken, eine eigenständige Forschung über die Differenzen von Bildung und Lebensformen entwickelt, die gelegentlich zu wenig beachtet wird, vgl. jetzt Christian Imdorf/Regula Julia Leemann/Philipp Gonon (Hrsg.): Bildung und Konventionen. Die „Economie des conventions“ in der Bildungsforschung. Wiesbaden 2019. 7Das Thema wird, quasi nachholend zur außerdeutschen Diskussion und Forschung von Bourdieu bis Karabel, inzwischen auch in Deutschland intensiv studiert, für einen besonders prosperierend-produktiven Forschungskontext stehen die Arbeiten und Ergebnisse der Hallenser Forschergruppe, jüngst Werner Helsper/Heinz-Hermann Krüger/Jasmin Lüdemann (Hrsg.): Exklusive Bildung und neue Ungleichheit. Ergebnisse der DFG-Forschergruppe „Mechanismen der Elitebildung im deutschen Bildungssystem“. Weinheim/Basel 2019 (Zeitschrift für Pädagogik 65. Beiheft).
25.1 Adressaten und Referenzen
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Arbeiter, die im Rückgriff auf kulturelle Traditionen ihr Selbstverständnis über ‚Bildung‘ artikulieren. Das geschieht ganz explizit auch in Abgrenzung von anderen Nationen und Kulturen. Um 1900 und bis 1945 werden mit dem Dual von „Zivilisation“ vs. „Kultur“ die westlichen Gesellschaften den deutschen konfrontiert, ganz ohne Rücksicht auf die Tradition, die ja noch „Zivilisierung“ und „Zivilität“ zum universalen Kern der Bildungsidee rechnete und auf die Menschengattung, nicht auf Staaten oder Gesellschaften attribuierte. Das verweist darauf, dass die Rede von Bildung in den bisher genannten Referenzen nicht nach theoretischer Konsistenz oder in Übereinstimmung mit den Intentionen der Tradition oder des Ursprungs der Bildungsidee beurteilt werden kann, sondern allein in einem politisch-gesellschaftlichen Sinne Geltung hatte und hat. Erst die letzte Referenz, „Bildung“ als interdisziplinär genutzter Theoriebegriff (4), löst sich von der Historizität der Rede und führt theoretische Ambitionen und Gütekriterien ein. Hier artikuliert sich die Rede von Bildung aber auch in mehreren Gestalten, die für die Analyse von Mensch-Welt-Verhältnissen z. B. philosophisch oder in der empirischen Forschung, historisch oder sozialwissenschaftlich, verfügbar sind. Das spiegelt sich in der kontinuierlichen Auslegung und Tradierung, Erneuerung und Entwicklung von Aussagen, wie sie mit dem philosophischen Ursprung der Bildungsidee in den Geisteswissenschaften oder Humanities bis heute beansprucht und gepflegt werden. „Bildung“ macht auch hier einen Form- und Funktionswandel durch. Zunächst präsentiert sich damit disziplinübergreifend das Thema der Selbstkonstruktion des Menschen, das traditionell in Philosophie und Pädagogik, Geschichte, Psychologie oder Soziologie, Staatswissenschaften oder Ethnologie bis heute präsent ist – in unterschiedlicher begrifflicher Gestalt, wie sich bald zeigte. Das ist auch eine Antwort auf die Tatsache, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der explizite Begriff von „Bildung“ zunehmend ins Revier der Erziehungsphilosophie und der praktischen Pädagogik abgedrängt oder dort in spezifischer Redeform okkupiert wird, so dass die sich ausdifferenzierenden Humanwissenschaften ihre eigenen theoretischen Begriffe von Lernen bis Sozialisation, Praxiskonstruktion oder Psychogenese (usw.) entwickeln müssen. Interdisziplinär bleibt der Begriff der Bildung vor allem dann in Funktion, wenn die Einheit der Geisteswissenschaften oder ihre spezifische Funktion innerhalb der Wissenschaften und für die Gesellschaft gerechtfertigt werden muss. „Bildung durch Wissenschaft“ z. B., eine der wesentlichen Leitideen der Universität deutschen bzw. Humboldtschen Musters, spiegelt diesen Funktionswandel des Begriffs innerhalb der Universität und für die Wissenschaften besonders deutlich.8 Zuerst bestätigt diese Formel ja, dass sich die Praxis der Wissenschaft selbst nicht mehr der Praxis von Bildung gleichsetzen lässt, sondern dass hier unterschiedliche Funktionsimperative und Handlungslogiken relationiert werden
8Zu den Varianten im Verständnis dieser Formel von „Bildung durch Wissenschaft“ vgl. meine Hinweise in H.E.Tenorth: Wilhelm Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Paderborn 2018, S. 201–216.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
müssen. Dann zeigt die Formel, dass die Theoriereferenz von Bildung selbst noch zwischen dem eigenen Thema und der metatheoretischen Referenz offen changiert und dass sich aus der Klärung der Referenzen allein keine präzise oder eindeutige Bestimmung des theoretischen Status von Bildung mehr ergibt, sondern nur Vielfalt belegt wird, wie sich im zweiten Bereich der hier versuchten Zusammenfassung ebenfalls bestätigt, in den dominierenden Argumentformen der Rede von Bildung.
25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen In der Rede von Bildung, auch das kann man über ihren historischen Bestand zusammenfassend sagen, werden spezifische und konstant wiederkehrende Argumentationsformen praktiziert. Sie sind nicht beliebig, sondern haben systematische Funktion, denn sie verdanken sich der Arbeit am Thema, d. h. den unausweichlichen Implikationen der Analyse von Mensch-Welt-Verhältnissen: Argumente über den Menschen, in welcher Anthropologie immer, sind dann ebenso notwendig wie Annahmen über die Welt und ihre Struktur, schließlich muss die Relation von Mensch und Welt bestimmt werden, um zu zeigen, wie man den expliziten oder impliziten normativen Erwartungen zur Wirklichkeit verhelfen will, die in der Rede von Bildung zugleich mit der Deskription und Analyse von Mensch-Weltverhältnissen parallel gehen. In ihrer konkreten Gestalt dokumentieren diese Argumente immer auch die spezifische Zeitlichkeit und Historizität der Rede von Bildung. Es gibt deshalb – quasi überzeitlich und nicht nur für die abendländische Kultur – Bildung als Argument in der gesamten Breite von Texten, die sich dem Mensch-Welt-Verhältnissen widmen. In der Auslegung der dafür einschlägigen Überlieferung von Plato bis Konfuzius, von der Bibel bis zum Koran, in Theorien der Demokratie oder in Diskursen über Gerechtigkeit und ‚das gute Leben‘ ebenso wie in den als apokryph ausgegrenzten Lebenslehren mittelalterlicher Ketzer oder neuzeitlicher Pseudotheorien wie der Anthroposophie wird kontinuierlich über Bildung geredet. Diese lange Dauer der Reflexion von Mensch und Welt kennt aber auch Zäsuren, vor allem die mit der klassischen, westlichen, Moderne gemachte Zäsur ist bis heute folgenreich. Hier erfährt die Argumentation über Mensch und Welt eine radikale Verzeitlichung und Empirisierung, die Ablösung von kirchlichen Glaubenslehren und deren Versuchen der „Bestimmung des Menschen“, eine Säkularisierung bis zur radikalen Verweltlichung, in der aber dennoch am Anspruch der Universalität von Bildung festgehalten wird. Die lange Dauer spiegelt sich material zuerst in der großen Breite und Vielfalt von Quellen, wie sie jetzt auch schon für die moderne Variante von Bildung präsent ist. Hier wird in der Rede von Bildung bereits historisch und explizit auch die Differenz von Konstruktion und Selbstbeobachtung, Affirmation eines Programms und Distanz gegenüber anderen ebenso eingeführt und praktiziert wie der Umgang mit den eigenen Erfahrungen bei der Auseinandersetzung
25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen
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mit dem Thema. Die frühen Formen der Verwissenschaftlichung der Humanwissenschaften seit 1800 gehören in diesen Kontext, auch die parallel entstehende „Bildungs“-Philosophie, genauso wie die Literarisierung von Bildung im „Bildungsroman“, gelegentlich sogar bei denselben Autoren, denkt man an Karl-Philipp Moritz, der nicht nur das „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ ediert, sondern auch den „Anton Reiser“ als „psychologischen Roman“ schreibt. Zugleich ist die Rede in der Gesamtheit der historischen Kommunikation nicht nur beobachtend, sondern in hohem Maße normativiert. „Bildungsideale“ werden je neu konstruiert, die Ästhetisierung wünschenswerter Bilder des Menschen wird erprobt, Wirklichkeit und Möglichkeit, Praxis und Geschichte werden als „Fortschritt“ oder „Verfall“ bewertet und binär codiert oder in utopischen Antizipationen anderer Welten harmonisiert. Je nach dem Material der Rede und nach den Referenzen, natürlich auch kontext-spezifisch, entwickelt sich die Rede von Bildung in einer eigenen Methodik und orientiert an eindeutig unterscheidbaren, erneut nicht aufeinander reduzierbaren Leitfragen: Die Traditionsbestände der Reflexion werden zunächst primär reflexiv-normativierend behandelt, die Leitfrage heißt auch nicht nur „was ist Bildung?“, sondern stärker: „was ist wahre Bildung?“. Die Rede macht es sich damit zur Aufgabe, der Gesamtheit des Erbes, also der Totalität der diskursiven Überlieferung, eine für die Gegenwart bewahrenswerte Tradition abzugewinnen, um zu zeigen, was Bildung wirklich ist und sein soll. Entsprechend bilden sich diverse Thematisierungsformen: Traditionalisierung und Kanonisierung dominieren, strikte Historisierung ist eher selten, die thematische Focussierung liegt – jetzt in der Moderne – auf den Idealen der „Individualität“, konstant auf der Idee des guten Lebens, der erwünschten Gesellschaft oder des idealen Staates, meist verbunden mit einer kritischen Abwertung der politisch-sozialen und institutionellen Realität. Präsentistische Moralisierung und Politisierung ist die Konsequenz. Gilt die Rede von Bildung dem Bildungssystem oder Staat und Nation und der Funktion, die Bildung in diesem Kontext zukommen soll, dann wird in der Moderne zugleich mit der Entstehung der Humanwissenschaften, ja als eine der für sie signifikanten Praktiken, die normorientiert-kontrafaktische Leitfrage mit der Aufklärung der tatsächlichen Bedeutung von Bildung verbunden. Jetzt gewinnt auch die zweite zentrale Leitfrage ihr eigenes Recht und fortdauernde Bedeutung: „Wie ist Bildung möglich?“ Angesichts der damit verbundenen Probleme entwickeln sich zwischen wertbezogener Aufgabenkonstruktion und beobachtender Analyse von Funktion und Wirkung auch schon Argumentformen, wie sie für die Sozialwissenschaften bis heute typisch geblieben sind. Sie schwanken in ihrem Selbstverständnis und in der Thematisierung ihrer Themen bis heute allerdings selbst immer noch zwischen „Engagement und Distanzierung“ (N. Elias), haben also die andere Leitfrage nicht vollständig abgelegt. Die Rede von Bildung präsentiert sich entsprechend in der langen Dauer einerseits als ein nationalspezifisches „Deutungsmuster“ von Mensch und Kultur, das wie ein „semantischem Gefängnis“ der Deutschen wirkt (Bollenbeck), zugleich aber auch als Kritikinstanz und gültige Norm beansprucht wird, und
520
25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
andererseits als forschende Beobachtung, die der Frage nachgeht, wie möglich werden kann, was wirklich werden soll. Konstant und dominant wird diese Rede von Bildung mithin als standes- und milieuspezifische Selbstbeschreibung und Ideologie genutzt und charakterisierbar. Aber sie referiert auch damit noch auf eine soziale Tatsache, die im Bildungssystem als eines der „Gehäuse der Hörigkeit“ wie Recht oder Wissenschaft institutionalisiert ist (Max Weber), denen die moderne, bürokratisierte Gesellschaft ihre Rationalität und Leistung verdankt. Bildung funktioniert – und wird interpretiert und erforscht – als institutionalisiertes Formierungsprinzip, in dem die Anpassung von Individuen und Gesellschaft und die Erfüllung der Erwartungen der anderen Sozialsysteme, von Politik bis Ökonomie, Arbeit und Kultur, kunstvoll und steigerbar gelingt, geeignet, mit den immer drohenden Formen von Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne umzugehen. Bei kritischen Beobachtern wird diese Integrationsleistung zu einer wahren Bedrohung, die von „funktionalisierter Bildung“ zu Lasten der mündigen „Person“ ausgeht. Solche Diagnosen inspirieren ein anderes Segment der Rede, die eine andere Bildung zum Medium der Erlösung aus Entfremdung und Unterwerfung stilisiert, wenn man nur den Impulsen und Erwartungen folgt, die in der Kritik konstruktiv enthalten sind und kontrafaktisch beansprucht werden. Alles das gehört aber zum öffentlich-politischen Teil der Rede von Bildung. Bildung als Thema von Theorie und einer ihr zugeordneten Forschungspraxis basiert insofern zwar auf eigenen Praktiken und Prämissen der Argumentation, aber hier finden sich keine für sie spezifischen oder gar in der Rede von Bildung exklusiv identifizierbaren Praktiken, sondern die Gesamtheit der Methoden, die für die neuzeitlichen Humanwissenschaften ausgebildet worden sind: Die Analyse von „Bildung“ manifestiert sich heute in der ganzen Breite der verfügbaren Forschungspraktiken und Methodenoptionen, historisch, hermeneutisch oder diskursanalytisch, kritisch oder exegetisch, empirisch und dann sowohl prozess- wie outcomebezogen, biografisch oder an Organisationen orientiert, in der Auswertung und Präsentation von Daten quantifizierend oder qualifizierend, seriell oder kasuistisch, korrelativ oder mit kausalen Ambitionen (usw.). In dieser themenspezifisch noch nicht reduzierten methodischen Vielfalt sind diese Analysen zugleich Indiz für das Theorie-Problem der Rede von Bildung; denn in diesen breit und offen genutzten Praktiken und Verfahren der Analyse und Konstruktion von Mensch und Welt gibt es keine bildungstheoretisch spezifische Analyseform. Man kann zunächst offenbar jede untersuchte Wirklichkeit, methodisch gesehen, als Form von „Bildung“ interpretieren. Aber wenn es auch keine systematisch, theoretisch oder methodisch exklusiven Redeformen gibt, in der Vielfalt von Praktiken und Methoden hat sich historisch ein konstanter und kontinuierlich tradierter Kern von Argumentationen entwickelt, mit dem man die Rede von Bildung in ihrer Eigenart als spezifisches Gefüge innerhalb der Praxis der Humanwissenschaften identifizieren kann. Zumindest fünf Dimensionen der Argumentation werden als Forschungsthemen und -hypothesen jeweils kombiniert (ohne in konkreten Forschungen weitere auszuschließen) und bei der Betrachtung von Bildung in ihrer ganzen Weite
25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen
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argumentativ zur Einheit gebündelt, wenn sie zum Objekt der distanzierten Analyse wird. Sie gewinnen ihren historisch identifizierbaren Zusammenhang und ihre Spezifik durch die genuine systematische Leitfrage der Bildungstheorie: „Wie ist Bildung möglich?“ – ohne nur eine Antwort auf diese Frage zu geben. Ihre Kontinuität hat die bildungstheoretische Argumentation (i) zunächst darin, dass sie sich in der Regel auf Prozesse und Produkte zugleich bezieht, wenn sie „Bildung“ zum Thema macht. Dabei werden, wenn sie denn expliziert werden, zur Erklärung der Logik des Prozesses und für die Ermöglichung der Produkte starke erklärende Annahmen über die darin wirksamen Relationen gemacht, letztlich ein eigenes Konzept von Kausalität entwickelt. Bereits um 1800 gehören zwei Annahmen über die Mechanismen dieser Prozesse in diesen Kontext, die bis heute Bedeutung behalten. Als erste spezifische Annahmen wird die Idee einer „ästhetischen“ Kausalität entworfen und tradiert, konzipiert als zwanglos-zwingende Nötigung des spezifisch adressierten Weltverhältnisses, also erneut paradoxierend. Davon unterscheidbar sind Thesen über Selbstbestimmung und Selbstorganisation als fundierende Logik im Prozess der Bildung, die heute z. B. den Anschluss der Bildungstheorie an Theorien der Autopoiesis eröffnet. Abgrenzend und spezifizierend wird auch die Eigenlogik von Bildung in Differenz zu „Erziehung“ als der gesellschaftlichen Reaktion auf das Aufwachsen betont, im Vertrauen auf einen Prozess, der selbstaufbauend Bildung möglich macht. Differenzen in der Nutzung dieser Argumente sind aber unverkennbar, weil es z. B. schon sehr lange dauert, bis der Prozess auch nicht-teleologisch gedacht und von der Bindung an vorab fixierte, gesellschaftlich oder von Natur aus definierte Zustände abgelöst konzipiert wird. Das führt bereits zum zweiten Argument über die Möglichkeit von Bildung: Die Antworten auf diese Frage kommen (ii) ohne einen starken Bezug auf „Natur“ nicht aus9 und sie entwickeln dabei, im Konkreten nicht immer einheitlich, eine spezifische, in „Bildungstrieb“ und „Bildsamkeit“ manifeste hypothetische Anthropo logie. Hier werden die „Natur“ des Menschen, als Gattung und Individualität, seine „Bestimmung“ und die Möglichkeiten seiner Entwicklung nicht von Natur aus als gegeben, gar biologisch gegeben, und dann vielleicht auch als begrenzt gedacht, sondern als Möglichkeit einer Praxis, die selbst erst konstruiert und entwickelt werden muss. Das in der Theoretisierung von Bildung genutzte Argument mit Natur stützt sich also nur auf einen minimalen Naturbegriff, unterstellt nicht mehr als Kompetenz zur Entwicklung von Kompetenz. Der sich bildende Mensch erscheint hier als Urheber seiner selbst, der seine Form in der Differenz der Geschlechter und der Subjekte in eigener Praxis erst ausarbeitet, und dabei Natur und Kultur, erste und zweite Natur, Gesellschaftlichkeit und Individualität in Auseinandersetzung mit „Welt“ zur Einheit der je subjektiven Form bringt. Das wird konstant mit der so provokanten wie herausfordernden Annahme
9Auch hier sieht man, wenn man „Natur“ als thematische Referenz betrachtet, schon bei der Lektüre von Ralph Waldo Emerson und den amerikanischen Transzendentalisten, um das noch einmal zu betonen, dass Bildungstheorie keine europäische oder gar deutsche Angelegenheit ist.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
v erbunden, dass in der „Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt“ die Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Vergesellschaftung in der Menschwerdung des Menschen artikuliert wird. Irritierend an der Bildungstheorie und als Spannung tradiert ist auch die (in sich ungeklärte) Referenz, ob es dabei um die „Höherbildung“ der Gattung geht, wie meist unterstellt wird, oder doch eher und nur um die Perfektibilität des je konkreten, einzelnen „wirklichen Menschen“, wie am ehesten noch der frühe Marx gegen seine Zeitgenossen postuliert hat. Aber wahrscheinlich gibt es immer noch Distanz gegen die These, dass nur noch eine historische Anthropologie begründungsfähig ist. Einen Beleg für die Gegenposition kann man z. B. in der Rede von der „Person“ finden, die sich im Umkreis katholischer Sozialphilosophie bis heute erhält. Gleichwie, das dritte kontinuierliche Argument (iii) sucht zu klären, wie denn die für Prozess wie Produkt beanspruchten „Bildungswelten“ zu verstehen sind. Die konkreten Antworten fallen wiederum unterschiedlich aus. Die Welten werden einerseits material, körperlich und sozial, andererseits ideell und geistig gedacht. Bei einigen Theoretikern, Humboldt z. B., wird keine dieser Welten als exklusive Bildungswelt ausgezeichnet, nur generell unterstellt, dass es eine andere Welt darstellt, die als „Nicht-Mensch“ gelten kann, also die Differenz zur puren Konfrontation mit der eigenen Welt betont. Auf der anderen Seite gibt es früh Theoretiker, Fichte z. B., die nur soziale Welten, Gemeinschaften oder Individuen, theoretisch als Bildungswelt zur Geltung kommen lassen. Gemeinsam ist diesen Positionen wiederum, dass die Bildungswelt erst in den Praktiken ihrer Aneignung die Bedeutsamkeit entfalten kann, die man ihr zuschreibt. Erst in der Einheit von Prozessen und Naturprämissen, Bildungswelten und Annahmen über die den Prozess ermöglichende Natur kann also die Praxis von „Bildung“ erklärt werden. Zu den konstanten Argumenten gehört (iv) aber auch die Referenz auf die weiteren Umwelten, die zwar auch ihre eigene Logik haben, z. B. Macht in der Welt der Politik, Wahrheit in der Wissenschaft, deren Gestaltung aber zugleich auch von Prozess und Produkt der Bildung als abhängig, jedenfalls als relationiert gedacht wird. In den Annahmen über diese Umwelten zeigen sich erneut systematisch bedeutsame Differenzen. „Nation“ und „Staat“ werden – neben dem Konfliktbereich von Ökonomie und Gesellschaft – bei Humboldt unterschieden, Bildung wird der Nation zugeordnet. Gesellschaft und Staat, aber auch Arbeit und Ökonomie werden von Hegel unterschieden und als Referenzraum konzipiert. Bildung findet ihre Erfüllung erst darin, dass die „Person“ (mit Hegel gedacht) handlungsfähig in diese Welten insgesamt eintritt. Dominant sind hier wie dort offenkundig die Ebenen organisierter Gesellungsformen. Bildung wird aber auch in ihrer Bedeutung für die Einheit von Interaktion und Organisation thematisiert. Dann steht, wie bei Knigge, der „Umgang mit Menschen“ in einer von Unterschieden geprägten und von der Verlässlichkeit der Traditionen des Verhaltens und Handelns und der Pflichten der Stände nicht mehr regierten Welt im Zentrum der Überlegungen. Die Erwartbarkeit des Handelns von Individuen für Individuen wird dabei die zentrale Referenz und das Qualitätsmerkmal von Bildung. Die Konstruktion von Zivilität ist, schon bei Kant, in dieser Perspektive
25.2 Argumentationsformen, -themen, -hypothesen
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das erste Ziel, damit Gesellschaft als civil society agieren kann. Politik als Bezug sieht dagegen den „Menschen als Bürger“, in einer spezifischen Rolle, dem Staat zugordnet, aber in gebrochener Bindung, zwischen selbstbestimmter Zivilität und staatsbürgerlicher Unterwerfung, zwischen Integration und Subversion, wie die jüngere kritische Bildungstheorie das formulierte. Trotz solcher Spannungen und Differenzen, Staat als Form wird bildungstheoretisch nicht mit subjektivistischer Selbstbehauptung relationiert, sondern immer in überwundener Privatheit, die sich in der Allgemeinheit von Politik und Arbeit, in der Praxis des Berufs oder der Ämter darstellt, und im „legitimen Staat“ auch bildungstheoretisch gerechtfertigt ist. Aber erst dieser Staat kann auch, wie die „Nation“, als Erzieher akzeptiert werden. „Gesellschaft“ jedenfalls, als Ort der konkurrierenden Vertretung der eigenen, privaten Interessen, gilt konstant als Problem, erst die „Gemeinschaft“ als Lösung in Solidarität und wechselseitiger Bindung. Das ist erneut und eindeutig eine Erwartung, die angesichts der Realität je nationaler politischer Ordnungsformen zuerst und systematisch Differenzen zur alltäglichen und wissenschaftlichen Erfahrung erzeugt. Die Rede von Bildung antwortet (v) auf diese historisch relativ stabile Erfahrung von Differenz durch kontrafaktische Argumentation, und zwar in mehreren Varianten. Normkonstruktion ist die eine Variante dieser Argumentation, konstant beliebt, auch allseits praktiziert, im Ergebnis aber primär in einer unreduzierten Vielfalt konkurrierender Normen, Positionen und Werte präsent, die allenfalls einen Überbietungswettbewerb in der Beschreibung wünschenswerter Welten organisieren, aber Differenzen zwischen Erwartung und Realität nicht auflösen. In den schon historisch beliebten Entwürfen von Versöhnungsszenarien findet sich die zweite Form kontrafaktischer Argumentation und des Umgangs mit den offenbar unausweichlichen Differenzen und der Pluralität der Bilder von Mensch und Welt. Versöhnungsszenarien finden sich u. a. in staatsutopischen Texten, in philosophischen Entwürfen modo Hegel oder in romantisch-ästhetischen Reflexionen, mit eigenen Konjunkturen, ohne allgemeine Anerkennung oder eine mehr als außenseiterische Geltung. Die Beobachtung der Wirklichkeit und der historischen Formen ihrer Beobachtung im Modus der Kritik ist deshalb nicht zufällig die dritte Form der kontrafaktischen Rede und des Umgangs mit den Differenzen von Erwartungen und Realitäten, die sich in der Rede von Bildung findet. Diese Kritik ist auch nicht allein positionsspezifisch zu finden und dann etwa nur den politisch-sozialen Lagern parallel zu ordnen, sondern nahezu universell anzutreffen, wenn Mensch und Welt zum Thema werden. Die Rede von Bildung und der kritische Umgang mit der Differenz von Erwartungen und Erfahrungen werden dann gelegentlich als synonym gedacht. Gleichzeitig ist die Möglichkeit der Kritik und ihrer Begründung selbst höchst strittig, und zwar systematisch, nicht erst im historischen Streit der sozialen Lager. Ein etwa ausführlicherer Blick auf Kritik als Argument ist deshalb auch so notwendig wie aufschlussreich, weil er in der Analyse dieser Redeform zugleich weitere Implikationen und Praktiken der Rede von Bildung sichtbar macht, auch unter der Frage, welche Qualität ihre Einheitsformen annehmen können.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
25.3 Exkurs: Kritik als Argument „Kritik“ ist natürlich eine ganz alte und gängige argumentative Praxis, öffentlich wie wissenschaftlich, nicht etwa in der Rede von Bildung erst erfunden. Ganz generell kann sie als die Ambition und Fähigkeit bezeichnet werden, Welten und Wissen kriterienbezogen zu unterscheiden.10 Sowohl in der Gesellschaft wie in der Philosophie oder den Wissenschaften ist es seit der Antike üblich und alltäglich, dass Denkformen und Argumente, Lebenswelten und Praktiken, Weltbilder und Zukunftsvorstellungen, Erziehungsideale und Bildungssysteme von außen oder von innen als unterscheidbar beobachtet und auch als zustimmungsfähig und akzeptabel oder, und häufiger, als kritikbedürftig beurteilt werden. Theoretische oder soziale Praxen, also die Gesamtheit der in der Absicht der begründet-begründenden Unterscheidung jeweils adressierten Welten, gelten als kritikbedürftig, wenn ihre Formen, Praktiken und Wirkungen als falsch, unangemessen oder verbesserungsfähig beurteilt werden, aber auch schon, wenn ihre Selbstbeschreibungen oder Selbstrechtfertigungen dem Kritiker als unzureichend oder nicht akzeptabel erscheinen. Vergleichbar werden Aussagen in der Philosophie oder in den Wissenschaften in Dualen von richtig vs. falsch, belastbar vs. unbegründet (usw.) beurteilt und eigene Wissenschaftslehren entwickelt oder die Logik bemüht, um die hinreichenden Kriterien für gute und/oder richtige, wahre und/oder falsche, brauchbare oder unnütze Aussagen und Theorien darzustellen und selbst auch wieder gegen metatheoretische Einwände zu begründen. Mehrere Bedeutungen von Kritik lassen sich entsprechend historisch identifizieren, in denen Kritik als „Aufklärung“ sowie als „historische“, „emanzipatorische“ oder „philosophische“ Kritik entfaltet wird, und die zugleich unterscheidbare Referenzen der Kritik, der Ambitionen des Kritikers und der Begründbarkeit der Urteile implizieren.11 Die „Kritik“ – der jeweiligen „Vernunft“ – ist seit Kant auch der Name für die metatheoretische Diskussion der Einlösbarkeit solcher Ansprüche, wie sie ‚kritisch‘ in theoretischer, praktischer oder ästhetischer Hinsicht erhoben werden (und natürlich kann man Kant und seine transzendentalkritische Argumentation selbst wieder kritisieren, wie die Geschichte der Philosophie in ihren jüngeren Positionskämpfen belegt12).
10So
auch die Ausgangsthese bei Rahel Jaeggi/Tilo Wesche: Einführung: Was ist Kritik? In: Dies. (Hrsg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, 3. Aufl. 2013, S. 7–20. 11Die „vier Bedeutungen von Kritik“ bei Jaeggi/Wesche: Einführung: Was ist Kritik? 2009, S. 10 f. 12Einen beeindruckend konzisen Überblick gegen die Stichworte „Kritik“ und „Philosophie“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976, Sp. 1249–1282, und dann folgen noch „Kritik, Literaturkritik“ (1282–1292), „Kritik, immanent“ (1292–1293), „Kritik, kritische“ (1293–1294) und „Kritizismus“ (1294–1299), sowie „Philosophie“ – jetzt extensiv – in Bd. 7, 1989, Sp. 572–881. Dem Hauptbeitrag folgen die spezifizierten Unterkapitel, „Philosophie, arabische; christliche, immerwährende, jüdische“ (bis Sp. 904), also noch ohne afrikanische, asiatische oder feministische, die man heute sicherlich ergänzen würde.
25.3 Exkurs: Kritik als Argument
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Auch in der Rede von Bildung – als gesellschaftliches Programm und individuelle oder kollektive Praxis, pädagogische Aktivität, eigenständige Theorie oder Lebensform – war und ist „Kritik“ kontinuierlich als Argument präsent, als Form der Beurteilung von Praktiken und von Redeformen. Dieses Argument ist indes bis heute sowohl innerhalb wie außerhalb des pädagogischen Milieus und der expliziten Bildungsreflexion von ungeklärt-vielfältigem, jedenfalls nicht konsensual präsentem Status. Konsens, vielleicht auch nur Klarheit mag man deshalb innerhalb der Rede von Bildung bei aller Vielfalt noch für die Themenstruktur, d. h. z. B. für den Bezug auf Prozess und Produkt, in den diversen Varianten des Naturbegriffs oder in der Orientierung an Bildungs- und anderen Welten feststellen können. Für die mit „Kritik“ verbundenen Argumente gibt es diese basale Übereinstimmung nicht. Es gibt zwar eine „Kritische Bildungstheorie“, die sich aktuell meist als „materialistisch“ in ihren Grundannahmen bezeichnet, aber das ist in der Gesamtheit der Reflexion von Bildung doch nur eine besondere Spezies, auch besonders kontrovers in ihrer Geltung. „Kritik“ als Argument existiert in der Bildungsreflexion auch nicht erst im 20. Jahrhundert und im politischen Kontext. Das Argument war – bleibt man zunächst nur in Deutschland – schon präsent in der politischen Kritik an der Weimarer Republik in der vermeintlich so unkritischen geisteswissenschaftlichen Pädagogik, also nicht erst, als die 68er Erben der Weimarer Traditionen Rousseau gegen spätere Theorievarianten ins Recht setzten.13 Aber Kritik als Argument in der Rede von Bildung ist sehr viel älter. Der Rekurs auf Rousseau und die weitere historische Rekonstruktion erinnern eher daran, dass Kritik schon um und seit 1800 vielfältig präsent war. Hier wurde Bildung philosophisch, etwa mit der Rezeption von Kant z. B. bei Schiller, in ihren Möglichkeiten – theoretisch, praktisch, ästhetisch – kritisch reflektiert. Auch Humboldt und konservative Romantiker sind genauso wie die Erben von Marx von kritischen Urteilen über die Welt der Bildung beflügelt, wenn sie über die ‚Bildung des Menschengeschlechts‘ und die Konstruktion des Subjekts reflektieren. Aber es sind doch deutliche Differenzen, die schon hier die Kritik inspirieren oder begründen. Mit anderen Worten, Kritik als Argument in der Rede von Bildung verdient einen eigenen, nicht nur positionsspezifischen Blick oder die rasche Verpflichtung auf eine einzige Tradition. Das kann, schon angesichts der ehrfurchtgebietenden Tradition, hier nur in einem knappen Exkurs geschehen, ganz ohne Anspruch auf Vollständigkeit der
13Klaus
Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. (1964) In: K.M.: Erziehung und Emanzipation. München 1968, S. 55–74. Unter dem Titel „Rationalität und Bildung“ (S. 65 ff.) stellt er die klassische, von Rousseau inspirierte Version des Bildungsbegriffs (er nennt Herder und Humboldt) späteren Varianten gegenüber, die nicht mehr zugleich „normativ und kritisch“ (65) argumentiert und die Bestimmung von „Erziehung in kritischer Distanz zu Gesellschaft und Staat“ (65) aufgegeben hätten. Als Beleg nimmt er u. a. seine geisteswissenschaftlichen Väter, deren unbezweifelbare Kritik an den Bildungsverhältnissen ihrer Zeit er offenbar als richtige Kritik nicht ernstnehmen kann, obwohl in der Gedenkschrift für Erich Weniger (Geisteswissenschaftliche Pädagogik im Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger. 1968) sein Doktorvater geegentlich auch zu einem frühen Vorläufer kritischer Theorie stilisiert wird.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
Referenzen oder abschließende Systematik in den Analysen, allein in der Absicht, dominierende Praktiken der „Kritik“ in der Bildungsreflexion zu zeigen und zu fragen, ob angesichts der dabei sichtbaren positionsspezifischen Konfrontation, ja argumentativer Blockaden konsensuale Überlegungen zum Status, zur Form und zur Möglichkeit von Kritik überhaupt noch erwartbar sind. Eine Ahnung von der Stabilität dieser schwierigen Lage geben die im Diskurs der Bildungstheoretiker dominierenden binären Denkfiguren, in denen die Erwartungen an und die Unterstellungen von Leistungen der Bildung zu abgrenzenden Oppositionsformeln verdichtet werden (womit sich im Übrigen früh zeigt, dass es historisch eine reiche Fülle an Gegenbegriffen zu „Bildung“ gibt14). „Bildung des Menschen“, um die Details der Kritik einzuführen, fungiert schon im Ursprung, z. B. bei Niethammer 1808, als positiv besetzter Begriff gegenüber „Bildung für seine künftige Bestimmung in der Welt“. Bildung des „Geistes“ oder Ausbildung zur „Brauchbarkeit“ dienen ihm zugleich als disjunkte Zielformeln und als systematische Unterscheidungen zur Qualifizierung der prozesstypischen Praktiken in ihrer schlechten Realität und in ihrer besseren – und in der Kritik als so erwünscht wie möglich unterstellten – alternativen Gestalt.15 Schillers „Briefe“ wiederum sind durch den Ausgang von „Antagonism“ geprägt, das „Schöne“ und das „Spiel“ sind allein als ästhetische Praxis realisierbar, „Entfremdung“ bleibt das Merkmal der kritikbedürftigen Realität. Hegel wiederum schematisiert über die Opposition von „Privatheit“ und „Allgemeinheit“. Sehr bald kommt gesellschaftsweit die Erfindung des „Gebildeten“ und die Entgegensetzung zum „Philister“ sowie die Kontrastierung von „Bildung“ und „Unbildung“ oder „Halbbildung“ hinzu. Spätestens mit Nietzsche verbindet sich die Kritik der institutionalisierten Bildung mit der Kritik der Kultur, in der man bis heute die wahre von der falschen Bildung unterscheidet und zugleich die „Bildungsanstalten“ oder die „Kultur“ oder die „Gesellschaft“ als Verursacher solcher Differenzen meint kritisieren zu können. Mit Tönnies (wenn auch ohne seine distanzierte Analyse) bindet sich die Rede von Bildung bis zur Rezeption des Kommunitarismus16 an normativ besetzte Gegensatzpaare wie „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, meist ohne die Implikationen distanziert zu sehen, die z. B. mit dem pädagogisch so beliebten Begriff der Gemeinschaft verbunden sind. Andere Denker bewahren, mit Hegel, die Differenz von gegebenem
14Hans-Peter
Müller: Bildung. Idee, Funktionen und Folgen eines positiv asymmetrischen Grundbegriffs. In: Klaus Vieweg/Michael Winkler (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn (usw.) 2012, S. 213–224, nennt den Bildungsbegriff einen „einen positiv asymmetrischen Grundbegriff“, weil er keinen Gegenbegriff sinnvoll zu formulieren erlaube – das scheint mir schon historisch nicht zutreffend, wie die alten Oppositionsformeln belegen. 15In diesem knappen Exkurs verzichte ich auf Belege zur historischen Semantik, die sich im Einzelnen bereits in Teil I und für die Typik der Argumentation in Teil II finden. 16Für eine erste, stark liberalismuskritische Präsentation und Diskussion der Probleme des Kommunitarismus Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1993.
25.3 Exkurs: Kritik als Argument
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und idealisierten Staat und konkretisieren wahre Bildung als „Durchseelung des Staates und Durchstaatlichung der Seele“ (Spranger). Erst spät wird Bildung im Bekenntnis zur pluralen Demokratie mit der Wirklichkeit versöhnt und gewinnt ihre Legitimität rechtlich und politisch durch die Verfassung. Aber das Plädoyer für Einheitsformen und alternative Lebenswelten gegen die schlechte Wirklichkeit bleibt erhalten, nicht allein in der utopischen Literatur. Auch in der Kritik von Parteiprogrammen an der schlechten Bildungswirklichkeit, selbst in den Texten von UNO oder OECD regiert das Muster der Bewertung von Zuständen, nicht die Deskription. Wenn sich die Kritik nicht allein an erwünschten Sozialfiguren und Prozesslogiken festmacht, dann antizipiert sie die Funktion, die Bildung in Gesellschaft erfüllen soll, und kritisiert die Realität, die man ihr je historisch, sagt die Kritik, zuschreibt. Dann gibt es zumal im 20. Jahrhundert und bis heute und von rechts bis links neue Duale: „Anpassung und Widerstand“, „Integration und Subversion“, „Unterwerfung und Befreiung“, „Abrichtung und Emanzipation“, „Unmündigkeit oder Mündigkeit“, „Befreiung oder Sozialdisziplinierung“, Bildung der „Person“ oder Durchsetzung einer „Funktion“. Kritik, das ist der erste systematische Befund, zeigt sich in der Rede von Bildung vor allem in der Konfrontation von Positionen, die als sich ausschließende Alternativen vorgestellt werden, in denen nur die eigene Position als begründet, wünschenswert und ohne negative Folgen realisierbar gedacht wird. Beobachter in der Erziehungsphilosophie sehen bald, welche Begründungsprobleme diese Form der Codierung aufwirft. Aber auch in der kritischen Diskussion der Kritik kehrt nicht selten, jetzt als Metaproblem, der Zirkel von Begründung und Rechtfertigung, Kritik und neuen Begründungen selbst noch einmal wieder und dupliziert in der Kritik der Kritik erneut die Lagerbildung. Radikal skeptische Beobachter z. B., die sich dem Neukantianismus zurechnen, können in den meisten, zumal den am Menschenbild und der ‚Bestimmung des Menschen‘ ansetzenden Begründungen nichts anders als „positionelle Metaphysik“ erkennen,17 essentialistische Argumente, wie Beobachter in der Popper-Nachfolge sagen könnten. Diese Kritik wird wiederum durch eine Gegenkritik, gelegentlich sogar aus dem eigenen Lager, problematisiert,18 oder durch den generellen Einwand, dass radikale Skepsis sich selbst ad absurdum führe, im Allgemeinen und im Bildungskontext insbesondere, so dass Begründungserwartungen und Kritikambitionen dann auch im skeptischen Lager neu diskutiert werden müssen.
17Das
ist die These von Wolfgang Fischer, für die Tradition und Geltung dieses Arguments Heinz-Elmar Tenorth: Skepsis und Kritik. Über die Leistungen kritischer Philosophie im System des Erziehungswissens. In: D.J. Löwisch/J. Ruhloff/P.Vogel (Hrsg.): Pädagogische Skepsis. Wolfgang Fischer zum einundsechzigsten Geburtstag. St. Augustin 1988, S. 23–34. 18Im pädagogischen Neukantianismus gibt es neben der Position von Fischer die von Marian Heitger, der immer noch daran glaubt, dass er mit Kant, sogar mit der Kritik der reinen Vernunft, solche Skepsis abwehren und eine transzendentalkritische Pädagogik begründen kann – und natürlich selbst scharf kritisiert wird, vgl. die Repräsentation der differenten Positionen in Jürgen Oelkers/Wolfgang K.Schulz/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Neukantianismus. Kulturtheorie, Pädagogik und Philosophie. Weinheim 1989.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
Das geschieht z. B. durch den Verweis auf „immanente Kritik“19 als einzig legitime und begründbare Praxis und Argumentform. Man kann allerdings nicht erkennen, dass sich alle Opponenten von der hinreichenden Selbstbegründung immanenter Kritik schon überzeugt zeigen. Der Einwand wird vielmehr vorgetragen, dass ein „Standort“ in der Welt unverzichtbar, aber allein immanent nicht ausweisbar sei. Gegen die wissenschaftslogische Begründung immanenter Kritik, dass sowohl die begründende wie die kritische Rede zumindest „widerspruchsfrei“ sein müsse, wird schließlich eingewandt, dass es keine „widerspruchsfreie Sozialität“ gäbe.20 Dieser Rekurs auf den „Widerspruch“ als soziale Tatsache und auch die argumentativ so fatale, aber erneut praktizierte Konfundierung aussagenlogischer und realitätsbezogener Annahmen findet sich, schon früher, auch in der sog. „kritischen Bildungstheorie“.21 Die auch metakritisch und beobachtend letztlich nur als offen, ja z. T. aporetisch zu bezeichnende Situation würde noch deutlicher, wenn andere, z. B. gegen die dominierende Subjektemphase skeptische Positionen nicht selten übersehen würden.22 Dann würde nämlich sichtbar, dass das beliebte politische Codierschema von links vs. rechts gleich kritisch vs. affirmativ überhaupt nicht zutrifft, wenn die Begründbarkeit und Begründung von Kritik thematisch werden.
19So
schon Jörg Ruhloff: Das ungelöste Normproblem der Pädagogik. Eine Einführung. Heidelberg 1979, mit einem „Exkurs über immanente Kritik“ (S. 20–23), der schließlich für eine „legitimationsanalytisch-kritische statt normativ-metaphysische Pädagogik“ (188 ff.) votiert. Ich versage es mir hier, sein Konzept der immanenten Kritik mit den Bemerkungen Schlegels „Vom Wesen der Kritik“ zu vergleichen, die in der Literaturtheorie auch als Modell immanenter Kritik interpretiert wurden (vgl. u.a die kritische Diskussion bei Robert Leventhal: Gattungen und System der Kritik beim jungen Friedrich Schlegel. In: Athenäum. Zeitschrift für Romantik 24 (2014), S. 99–145, bes. S. 128 f., im Ausgang von Walter Benjamins einschlägiger These und ihrer Rezeption). 20Dieses Argument wird jüngst gegen die Überlegungen zu Status und Möglichkeiten der Kritik, wie sie von Rahel Jaeggi ausgearbeitet werden, erneut vorgetragen, und zwar bei Martin Weißmann: Wie immanent ist die immanente Kritik? Soziologische Einwände gegen Widerspruchsfreiheit als Ideal der Sozialkritik. In: Zeitschrift für Soziologie 46(2017)6, S. 381–401. 21Besonders intensiv (auch gegen Argumente, die ich gegen die Rede vom Widerspruch vorgetragen habe, H.-E.T.) bei Peter Euler: Die neuen Menschenfreunde in der Erziehungswissenschaft: Paradoxie statt Widerspruch – eine Alternative zur Bildungstheorie? In: Pädagogische Korrespondenz (1993) 12, S. 26–35; ders.: Das Subjekt zwischen Hypostasierung und Liquidation. Zur Kategorie des Widerspruchs für die modernitätskritische Revision von Erziehungswissenschaft. In: P.Euler/L.A. Pongratz (Hrsg.): Kritische Bildungstheorie. Zur Aktualität Heinz-Joachim Heydorns, Weinheim 1995, S. 203–221. 22Vor allem Theodor Ballauff ist hier zu nennen, u. a. mit seiner radikalen Kritik der Anthropologie und seiner „antithetischen Bildung“, in der – gegen die klassische These – „niemand das Werk seiner Selbst“ ist (zit. S. 149), so in T.B.: Pädagogik als Bildungslehre. Weinheim 21989. Es käme vielmehr darauf an, „in die Welt hinein zu finden, nicht sich in der Welt zu finden“, wie er an anderer Stelle schreibt (T.B.: Über Bildung und ihr Maß. In: Perspektiven der Philosophie 10(1984), zit. S. 84), und zwar „in der Freisetzung oder Freigabe der Dinge, Wesen, der anderen Menschen, der Verhältnisse zu deren eigenen Möglichkeiten, ohne diese ‚Tat‘ zur Selbstbehauptung und Selbstbestätigung zu nutzen“. Auch die Arbeiten von Käte-Meyer Drawe gehören in diesen Kontext.
25.3 Exkurs: Kritik als Argument
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Zumal die von Heidegger aus begründete Kritik, die in der Rede von Bildung sehr präsent ist, muss ja wohl politisch eher als konservativ gelten, genauso wie die am Personalismus katholischer Provenienz orientierten Versuche der Darstellung der wahren Bildung und der Kritik der dazu alternativen Positionen.23 Solche traditionalistischen Begründungen wurden wiederum schon – rettungslos? – zum Opfer der postmodernen Kritik der großen Erzählungen von ‚Vernunft‘ bis ‚Natur‘, und der verbliebene Rest der Tradition sieht sich durch die Attacken auf den ethnozentrischen und antifeministischen Charakter der dominierenden westlichen Handlungsoptionen schwer belastet. Vor diesem Hintergrund ist es daher schon paradox, dass feministische Texte nicht nur „kritische Theorie“ fordern, sondern auch den Anschluss an die alten Männer der Frankfurter Schule suchen.24 Diese kontrovers-offene Situation hat sich auch nicht dadurch systematisch zum Guten gewendet, dass bildungstheoretische Reflexion von außen und von distanzierten Beobachtern kritisch so diskutiert wurde, dass auch andere Unterscheidungen und Referenzen eingebracht wurden als die in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft üblichen. Hier ist vor allem die Unterscheidung von „affirmativ“ vs. „kritisch“ prominent geworden,25 auch weil sie gleichzeitig eine generalisierte Unterscheidung von „Erziehung“ und „Bildung“, also der systemprägenden Praktiken und Möglichkeiten in der gesellschaftlichen oder individuellen Organisation des Aufwachsens, damit verbunden hat. Aber im Ergebnis wird damit auch eine „Allgemeine Pädagogik“ begründet, samt der Paradoxien, die für den Erziehungsprozess relevant sind, keine Bildungstheorie. Für die Beurteilung des theoretischen Status der Rede von Bildung und der Geltung ihrer Kritik war es jenseits solcher Positionskontroversen auch aufschlussreicher, dass sie an den Gütekriterien von Wissenschaft und Forschung gemessen wurden. Meist wird der Bildungsreflexion dann von kritischen Beobachtern attestiert, nicht hinreichend in den Forschungspraktiken der Sozialwissenschaften fundiert zu sein, zu wenig soziologisch, empirisch, psychologisch, historisch oder praxeologisch (usw.) zu argumentieren, deshalb eher als „Ideologie“ oder als „Luftgebäude“ qualifizierbar sei, als diffuses Gerede oder als dogmatische Ableitungsliteratur, gleich ob von Marx oder Foucault aus inspiriert.26 Vergleichbar scharf wurde die Anhänglichkeit an Kulturkritik als Problem gesehen, oder die enge Bindung an Referenztheorien für Kritik, die selbst schon scharf kritisiert wurden oder sich über die frühen Referenzen hinaus selbst stark verändert haben, die hier und dort dennoch bildungstheoretisch beansprucht
23Winfried
Böhm steht dafür, zu seinem Programm: Walter Eykmann/Winfried Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. Würzburg 2006. 24Das Thema von „feministische studien“ H. 1 (2018) ist jedenfalls „Mehr feministische und kritische Theorie!“. 25Dietrich Benner: Bruchstücke zu einer nicht-affirmativen Theorie pädagogischen Handelns. (1982) In: D.B.: Studien zur Theorie der Erziehung und Bildung. Pädagogik als Wissenschaft, Handlungstheorie und Reformpraxis, Bd. 2., Weinheim/München 1995, S. 51–75. 26Detaillierte Belege dazu in Teil II, besonders in Kap. 13, Abschn. 2.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
werden. Das gilt z. B. für die ihrerseits schon wieder kritisch diskutierten27 Varianten der kritischen Theorie, z. B. bei Habermas oder Honneth, deren Orientierung an Kommunikation oder Anerkennung selbst problematisiert wird, aber auch für Versuche, Ideologiekritik zu erneuern.28 Im Notfall werden ganze Wissenschaftstheorien neu erfunden, um erneut und auch jetzt wieder mit einem Handstreich die ontologischen, kritischen und praktischen, auch die dialektischen, Ambitionen von einem Ansatz aus zu bearbeiten und sogar definitiv gegen Kritik immun zu werden, natürlich im Namen der Kritik wie beim „critical realism“.29 Alle diese Praktiken der Begründung, ja Rettung der Möglichkeit von Kritik, die auch nicht etwa exklusiv für die Rede von Bildung beobachtbar sind, reagieren im Grunde auf dasselbe Problem, das sich auch in der bildungstheoretischen Rede verstetigt hat und sie aporetisch macht, nämlich die Allpräsenz von Kritik als Anspruch und das offene Geltungsproblem, für die Geltung von Sätzen wie für die praktischen Ansprüche von Bildungswelten und -programmen. Kritik wird als Argument und als soziale Tatsache zu einem Problem, das immer neu metakritische Anstrengungen provoziert. Zur weiteren Diskussion wird z. B. eine „Soziologie der Kritik“ von der „Kritik der Soziologie“ unterschieden und als je besondere Analyse- und Praxisform (dann auch wieder in ihrer Relation) beobachtet.30 Auch hier gibt es, wie in der iterierenden Argumentation der Bildungsreflexion, die Kritik an solchen Renaissancen und z. B. den Anspruch, die Soziologie in ihre Grenzen zu verweisen, nicht ganz unerwartet aus dem Lager der Systemtheorie. Hier werden zwar auch – ohne Angst vor der contradicito in adiecto? – Versuche einer „kritischen Systemtheorie“ erzeugt,31 ansonsten aber, und überzeugender, eine energische Soziologisierung der soziologischen Vernunft
27Die Beiträge z. B. in Philip Hogh/Sven Ellmers (Hrsg.): Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien. Weilerswist 2017 dokumentieren das, schon in den Autoren, denn auch Hartmut Rosa schreibt hier zu den bei ihm behandelten Themen, u. a der Resonanz, die ja explizit die Referenz auf und die kritische Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie suchen. 28Zu diesen Möglichkeiten, im Rekurs auf Adorno und am Exempel der Kunst: Ruth Sonderegger: Wie diszipliniert ist (Ideologie-)Kritik? Zwischen Philosophie, Soziologie und Kunst. In: Jaeggi/Wesche, 2009/2013, S. 55–80. 29Roy Bhaskar stilisiert sich so zum „Philosopher of critical realism“ und informiert seine Gemeinde über das Internet: http://internationalcentreforcriticalrealism.wordpress.com/. Das Programm wird auch schon erziehungswissenschaftlich rezipiert, jetzt als Epistemologie und für die themenspezifische Forschung u. a. bei David Scott: Education, Epistemology and Critical Realism. Routledge: Abingdon 2010, aber auch bereits soziologisch kritisch diskutiert, u. a. bei Johanna M. Müller: Kritik im Critical Realism – Zwischen Diskursethik und formaler Anthropologie. In: Philip Hogh/Sven Ellmers (Hrsg.): Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien. Weilerswist 2017, S. 340–364. 30Stephan Lessenich: Zu einer kritischen Soziologie der Kritik. In: Soziologie 43(2014)1, S. 7–24. 31Kolja Möller/Jasmin Siri (Hrsg.): Systemtheorie und Gesellschaftskritik. Perspektiven der Kritischen Systemtheorie. Bielefeld 2016.
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praktiziert.32 Armin Nassehi z. B. setzt in einer Verbindung von anerkennendem Anschluss und distinkter Abgrenzung bei jüngeren Varianten der kritischen Theorie ein, zumal bei Jürgen Habermas,33 dekonstruiert dann aber, in kritischer „Fortsetzung“, wie er selbst sagt, alle tradierten Ambitionen kritischer Humanwissenschaften in einer mit kantischem Anspruch selbstbewusst auftretenden „Kritik“, und zwar als Kritik der „handelnden Vernunft“, der „authentischen Vernunft“, der „operativen“ und schließlich der „gesellschaftlichen Vernunft“. Dann bleibt nur noch die beobachtende, systemtheoretisch inspirierte Soziologie, jedenfalls keine „Kritik“ in einem normativen Sinne, schon gar nicht „Bildung“ als Rettung. Sie ist systemtheoretisch nicht mehr als eine „Kontingenzformel“,34 in der das Unbekannte und allein kontrafaktisch Bestimmte im Dual von Programm (Bildung) und Code (Selektion) prozediert wird und allein dort, im Prozess, seine Realität und Möglichkeit findet. Für die Problematik dieser Situation, ja ihre Aporie, ist typisch, dass trotz der umfassenden Kritik der Rede von Bildung vor allem Positionen der „kritischen Bildungstheorie“ immer neu Anhänger im pädagogisch-politischen Milieu finden, und zwar in jeder politisch-sozialen Orientierung, rechts wie links, auch nicht nur in einer Variante. Auf diese Diskussionslage will ich im Folgenden näher eingehen, mit der Annahme, dass man vielleicht am ehesten über die überhaupt noch bestehenden Möglichkeiten von Kritik als Argument in der Rede von Bildung lernt, wenn man sich dieses erstaunliche Phänomen der Resistenz gegen alle Kritik näher anschaut. Wie erzeugt man Stabilität der kritischen Ambition gegen alle Einwände, das ist also die Frage, und die Hoffnung ist, dass das Ergebnis einer solchen Analyse für Kritik als Argument erhellend und jenseits positionsspezifischer Blockaden weiterführend sein kann.
32Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 2006; ders.: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg 2015. 33Nassehi lobt „Das Großartige an Habermas’ Denken“ (2006, S. 14) und platziert sich selbst in Differenz und als „Fortsetzung“ [quasi wie Marx zu Hegel, H.-E.T.] und zwar „in dreierlei Hinsicht: einerseits in dem Sinne, dass zu rekonstruieren ist, wie der soziologische Diskurs der Moderne, in den der philosophische mit Habermas mündet, an/diesen anschliesst; andererseits in dem Sinne, dass ein soziologischer Diskurs sich weniger für Gründe interessiert als für den Kontext der Begründung. Fortsetzung ist es aber schliesslich darin, die Idee der Soziologisierung zu radikalisieren. Hatte Habermas noch vom Hochsitz des philosophischen Beobachters die Soziologisierung des philosophischen Blicks besorgen können, muss die Rekonstruktion des soziologischen Diskurses der Moderne radikaler nach den Bedingungen der Soziologisierung fragen. Sie muss sich fragen, was die Soziologie bzw. der soziologische Blick sieht und worauf diese Sicht beruht. Kybernetisch, inzwischen: klassisch-kybernetisch gesprochen geht es um den blinden Fleck der Soziologie, nicht mehr um den des Subjekts, das die Soziologie längst dekonstruiert hat.“ (S. 15/16). 34Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, bes. S. 186– 191; dazu auch meinen Versuch einer Verortung seiner Reflexionen zum Bildungsbegriff in Luhmanns Werk selbst, vgl. meine Rezension in Canadian Journal of Sociology 29(2004)2, S. 319–321.
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Konzentriert man sich dabei, nur arbeitspragmatisch, auf die in einem weiten Sinne an Marx oder der klassischen kritischen Theorie orientierten Bildungsreflexionen, dann überrascht zunächst, dass sie sich offenkundig von den philosophischen oder historischen Einwänden nicht entmutigen lassen, die es gegen eine „materialistische“ Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Bildungsverhältnisse gibt. Die Reaktion ist zunächst nur, dass die Gewährsmänner ausgetauscht werden, von denen die eigene Kritik beglaubigt werden soll. Kritische Bildungstheoretiker (die den Theoriestatus für sich reklamieren) suchen, wenn sie sich nicht in Marx-Renaissance üben,35 insofern neue Bekräftigung zum einen in den Arbeiten von Heinz-Joachim Heydorn und seiner Schule.36 Sie orientieren sich zum anderen (und gelegentlich gleichzeitig) an einer erziehungs- und bildungstheoretischen Adaptation von Adornos „Negativer Dialektik“, seiner Metapher von der „bürgerlichen Kälte“ und ihrer als allpräsent beurteilten und als fatal unterstellten Folgen für Schule und Bildungsverhältnisse in spätkapitalistischen Gesellschaften.37 Schließlich werden auch international verfügbare kapitalismus- und gesellschaftskritische Analysen rezipiert, die ihre Referenzen in unterschiedlichen Theoriekontexten und Kritikambitionen haben. Die in den USA vertretenen Positionen einer „critical pedagogy“38 z. B. speisen sich nicht allein aus der klassischen Lehre von Marx 35Dafür
stehen kontinuierlich die Arbeiten von Wolf-Dietrich Schmied-Kowarzik. Aktuell finden sich auch weitere Aneignungsversuche, z. B. schon im Titel mit einer Anspielung auf Antonio Gramsci, also gestützt auf eine nicht staatssozialistisch kontaminierte M arx-Rezeption: Armin Bernhard/Lukas Eble/Simon Kunert (Hrsg.): Unser Marx. Potenziale und Perspektiven seiner Theorie für die Pädagogik. Weinheim/Basel 2018. Die Marx-Renaissance wird jetzt auch mit dem bei Marx vermeintlich anzutreffenden Analysepotential angesichts von Neo-Liberalismus und Globalisierung neu begründet, mit dem belegt werden soll, wie sich die Krise des Kapitalismus universal und in neuer Konkretion zugespitzt hat. Die Erziehungswissenschaft und auch die Bildungsphilosophie, das kommt in diesen Texten als Argument hinzu, hätten diese Situation nicht nachvollzogen, weil die Disziplin sich selbst zu ihrem Schaden verändert habe: „In dem Maße, wie Erziehungswissenschaft sich fast ausschließlich noch als technologische Anwendungswissenschaft für gesellschaftliche Optimierungspraktiken verstand, wurden das Prinzip der Gesellschaftskritik ebenso wie das der wissenschaftlichen Selbstkritik über Bord geworfen.“ (ebd., 2018, zit. S. 8) Das eigene Ziel ist dann erwartbar: „Es geht darum, die konstitutive Bedeutung dieser Geschichts- und Gesellschaftstheorie für die Grundlegung und Konzeptionalisierung von Pädagogik als einer gesellschafts-kritischen und zugleich praktischeingreifenden Disziplin herauszuarbeiten.“ (S. 11). 36Armin Bernhard/Lutz Rothermel (Hrsg.): Handbuch kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Weinheim 1997, auch unter Berufung auf und Beteiligung von H ans-Jochen Gamm, der im Westen früh Marx für die Pädagogik rezipiert hat. 37Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar 1988; ders.: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung. Wetzlar 1994 – und für die laufende Diskussion die Präsentation von „Kältestudien“ in der „Pädagogischen Korrespondenz“, aktuell H. 2018. Für eine Kritik des epistemologischen Status der Kälte-Metapher Heinz-Elmar Tenorth: Adorno, das Wetter und wir. In: Pädagogische Korrespondenz H. 7, 1990, S. 41–49. 38Peter McLaren und Heinz Sünker propagieren kontinuierlich die Argumente der „critical pedagogy“ und der „Radical Pedagogies“. Eine den referierten Positionen sehr nahe Diskussion jüngerer Literatur findet sich z. B. bei Trond Solhaug: Radical pedagogies in neo-liberal times.
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oder aus der kritischen Theorie Frankfurter Provenienz, sondern auch aus Texten von Befreiungsbewegungen, z. B. von Paolo Freire. Aktuell werden schließlich auch für die Bildungstheorie Kritikchancen genutzt, die sich aus den Arbeiten Pierre Bourdieus, aus einer kritisch engagierten Foucault-Rezeption39 und weiteren Texten der französischen Sozialphilosophie40 ergeben. Exemplarisch wird dabei auch die sozialphilosophische und normorientierte Begründung der Ziele und der erwünschten Funktion von Bildung mit der empirischen Forschung in den Sozialwissenschaften eng verknüpft. Dazu wird sehr stark ein Segment der Forschung genutzt, das in der Analyse von Ungleichheiten scheinbar unmittelbar den zentralen Themen deskriptiv und analytisch folgt, die in der Bildungstheorie normativ angesprochen werden. Auch die Geltung dieses Bündnisses steht daher auf dem Prüfstand, wenn man nach den Geltungsgründen von „Kritik“ in der „kritischen Bildungstheorie“ fragt. Es sind also zahlreiche Ansatzpunkte für die Frage nach den Geltungsgründen der Kritik relevant, exegetische wie normative, wissenschaftslogische und theoriestrategische.41 Alle denkbaren Referenzen können und sollen an dieser Stelle nicht behandelt werden, es muss ausreichen, an
In: Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau H. 2, 2005, S. 53–56. Vorgestellt werden Michael Apple: The State and the Politics of Knowledge. 2003; Gustavo E. Fishman/Peter McLaren/Heinz Sünker/Collin Lankshear (Hrsg.): Critical Theories, Radical Pedagogies and Global Conflicts. 2005; Joe L. Kinchelo. Getting beyond the Facts. Teaching Social Studies/ Social Sciences in the Twenty-First century 2001. 39Als neuen Klassiker und im Geiste der Klassiker wird Foucault bei Otto Hansmann rezipiert: Die Bildung des Menschen und des Menschengeschlechts. Eine herausfordernde Synopse vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2014, für die weitere Diskussion u. a. zu Foucault vgl. meine Bemerkungen und die weiteren Literaturhinweise oben in Teil II. 40Die Arbeiten von Alfred Schäfer, für die Rezeption französischer Autoren von Derrida und Lyotard bis heute, oder die von Jan Masschelein, der auch die angelsächsische Erziehungsphilosophie nutzt, kann man dafür exemplarisch lesen. Für die internationale – dort meist skandinavische – Rezeption des Begriffs der Bildung u. a. H. 3, 2002 des Journal of Philosophy of Education und dort, zur Übersicht, Lars Løvlie/Paul Standish: Introduction: Bildung and the idea of a liberal education. 317–340, sowie, in der Theoriefrage sehr aufschlussreich, Michael Uljens: The Idea of a Universal Theory of Education- an Impossible but Necessary Project. S. 353–375, der mit Adornos Bemerkungen zur Halbbildung einsetzt und die damit verbundenen Ansprüche bewahren und ihre Probleme lösen will. 41Wissenschaftslogisch und forschungsmethodisch wäre es z. B. reizvoll, den Begriff der „Erfahrung“ zu diskutieren, der bei Armin Bernhard als Kern der „Praxisphilosophie“ entfaltet wird, u. a. in A.B.: Allgemeine Pädagogik auf praxisphilosophischer Grundlage, Baltmannsweiler 2011, unter dem Titel „Praxisphilosophische Pädagogik: Wissenschaftstheoretische und methodologische Standortbestimmungen“ auch in Topologik 11, 2012, sowie jetzt auch im Netz abrufbar unter http://www.praxisphilosophie.de/bernhard_praxisphilosophische_paedagogik.pdf. Bernhard schreibt der von ihm propagierten Form von Erfahrung einerseits „futurologische Elemente“ zu (S. 16, Anm. 4), traut ihr andererseits in der Beobachtung der Wirklichkeit das „Erspüren ihrer nicht-verwirklichten Möglichkeiten“ zu. Bernhard propagiert diese Option freilich, ohne sich für die Kriterien der systematischen Prüfung und Begrenzung solcher unterstellten oder antizipierten oder auch nur phantasierten Argumentation in dieser „phantasievollen Forschung“ (ebd., Anm. 4) zu interessieren. Da vertraut er Marx.
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einem zentralen Argument die Prämissen von Kritik als Argument in der Rede von Bildung aufzunehmen und in seiner Geltung zu prüfen. Für die Spezifik und die Qualität der Kritik soll ein Argument exemplarisch näher untersucht werden, das im Zentrum der kritischen Analysen kritischer Bildungstheorie selbst steht, nämlich die Kritik des „Kapitalismus“. Diese Referenz auf „Kapitalismus“ (wie immer er dann näher attribuiert wird) bildet ohne Zweifel das Zentrum dieser Theorien, den Möglichkeiten dieser Kritik gehen deshalb die folgenden Überlegungen, metakritisch, nach. Sie sind inspiriert von einem argumentativ höchst provokanten Vorbild,42 nämlich der Frage, die ein belgischer Sozialphilosoph bereits 1984 gestellt und beantwortet hat: „What (if anything) is intrinsically wrong with Capitalism?“43 Seine Antwort wurde in der deutschen Version 1988 publiziert, in der sozialphilosophischen Debatte über die Formen der Kritik des Kapitalismus erst jüngst erneut intensiv rezipiert,44 und ein Blick auf die Frage und die nachfolgende Diskussion lohnt bis heute. Seine Frage, „Was ist eigentlich falsch am Kapitalismus?“, hat Philippe van Parijs vom Merkmal der „Ausbeutung“ aus formuliert, das in der gängigen Debatte als schlagendes, die Kritik des Kapitalismus und damit die Alternative zugleich eindeutig rechtfertigendes und wirklich „intrinsisches“ Merkmal für den Kapitalismus gilt. Ausbeutung ist für ihn aber auch deshalb ein ernsthafter Kandidat zur Prüfung seiner Frage, weil dieses Merkmal die strengen Bedingungen erfüllt, die für ihn wesentlich sind, wenn seine Frage auch als ein ethisch zu diskutierendes Thema systematisch beantwortet und aussagekräftig für Kritik werden soll. Die Legitimierbarkeit von Ausbeutung ist also zentral für die Beweisführung, quasi wie ein experimentum crucis, weil „ganz klar zu sein (scheint)“ daß Ausbeutung „1. Dem Kapitalismus inhärent ist, 2. Ethisch inakzeptabel ist, 3. Im Sozialismus mit zwingender Notwendigkeit fehlt und daher 4. Nicht mit Notwendigkeit in allen Gesellschaften vorkommen muß.“45 In einer subtilen und präzisen Analyse zeigt er für die verschiedenen Varianten, in denen der Begriff der „Ausbeutung“ bei und seit Marx existiert, dass es keine Variante gibt, auf die alle seine Kriterien zugleich und als Fundierung einer Kritik des
42Andere
Kandidaten stehen ja ebenfalls reichlich zur Verfügung, von alten Texten bei Arthur Koestler bis zum Archipel Gulag und dessen philosophischer Rezeption in Frankreich (etc.). Für die Analyse von Kritik in der bildungstheoretischen Argumentation reicht mein Exempel. 43Philippe van Parijs: What (if anything) is intrinsically wrong with Capitalism? In: Philosophica 34 (1984)2, S. 85–102 (eine deutsche Version P.v.P.: Was eigentlich ist falsch am Kapitalismus? In: Freibeuter 35, 1988, S. 72–84). 44Rahel Jaeggi: Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? Drei Wege der Kapitalismuskritik. Working Paper 01/2013 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften, Jena 2013. Sie zit. nach Parijs 1984. 45Ich zitiere hier nach Parijs 1988, S. 72, weitere Nachweise im Text aber mit zwei Seitenzahlen: aus dieser Version/aus der Version 1984: Im englischen Text (1984, 86) werden die Merkmale anders gezählt, als (i), (ii), (iii‘) bis (iii) – was mir etwas intransparent erscheint. Gleichzeitig muss man hinzufügen, dass er vom „(idealen) Sozialismus“ spricht, wenn er Sozialismus sagt (ebd.).
25.3 Exkurs: Kritik als Argument
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Kapitalismus systematisch zutreffen. „Denn“, so resümiert er, „entweder gehört es nicht notwendigerweise zur Standardausbeutung (Disproportionalität, ungleiche Chancen) oder es ist nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden (Enteignung, ungleicher Tausch) – oder es gilt sogar beides (im Falle der Einkommensungleichheit, die von einer Ungleichheit der Grundausstattung herrührt).“ (82/97). In der Konsequenz hält er fest, „wir müssen ehrlicherweise die Möglichkeit ins Auge fassen, daß an der Ausbeutung als solcher nichts falsch sein kann“, jedenfalls dann, wenn man die Frage stellt, „was an der Ausbeutung intrinsisch“ für den Kapitalismus ist. Insofern lautet sein Ergebnis: „Wenn die Ausbeutung der gewichtigste Gegenstand ist, um aufzuzeigen, was am Kapitalismus falsch ist, dann müssen wir uns mit der Möglichkeit vertraut machen, daß am Kapitalismus als solchem nichts falsch sein könnte.“ (ebd.) Und ganz im Stile der analytischen Philosophie fügt er hinzu: „Auch das würde wiederum nicht ausschließen, daß der gegenwärtig bestehende Kapitalismus ethisch inakzeptabel sein könnte … aber … [dann] liegt es nicht an seiner kapitalistischen Natur.“ Das ethische Problem ist mit seinem Befund also nicht erledigt, „dessen sollte man sich bewusst sein, und zwar aus Gründen, die über ein rein akademisches Interesse weit hinausreichen.“ (ebd.). In der aktuellen Rezeption, und zwar im Kontext eines Forschungsprogramms über „Postwachstumsgesellschaften“ an der Universität Jena, dem man jede Nachsicht für den Kapitalismus absprechen kann, stimmt Rahel Jaeggi, nachdem sie seine Frage ausdrücklich als „nicht zynisch“46 gegen eine antizipierte Kritik ins Recht gesetzt hat, seiner Diagnose zu, fragt aber im Wesentlichen von den Schlussbemerkungen aus weiter. Für die Möglichkeit der Kritik des Kapitalismus, die sie nicht aufgeben will, unterscheidet sie zunächst „drei Argumentationswege der Kapitalismuskritik“47: (i) einen funktionalen, mit der Annahme, dass der Kapitalismus als Gesellschafts- und Wirtschaftssystem nicht funktionieren kann, er „intrinsisch“ (womit sie das Kriterium von Parijs aufnimmt) dysfunktional ist und notwendig krisenhaft; (ii) eine moralische oder gerechtigkeitsorientierte Argumentation: Kapitalismus beruht auf Ausbeutung und beruht auf oder produziert eine ungerechte Gesellschaftsstruktur, und (iii) die ethische Kritik: Das durch den Kapitalismus geprägte Leben ist ein schlechtes – z. B. ein verarmtes oder entfremdetes – Leben. In ihrer kritischen Prüfung der Kritikleistung dieser drei Argumentationsformen zeigt sie jeweils, in argumentativ kühler Distanz, ganz wie van Parijs, auf welch unsicherem Boden die Kritik insgesamt steht: Unverkennbar sei, dass und wie die Kritik – durchgängig und schon seit Marx – von unpräziser Begrifflichkeit lebt, sich u. a durch die Vermischung deskriptiver und normativer Aussagen, wie im Weg (i), die Begründung ihrer Kritik vielfach
46Jaeggi: Was (wenn überhaupt etwas) ist falsch am Kapitalismus? 2013, S. 1 – weitere Zitationen im Klammern im Text. 47Ich paraphrasiere nah am Text von Jaeggi 2013, S. 273 und verweise auch auf die Ankündigung einer Vorlesung, die Rahel Jaeggi im Sommersemester 2010 an der Humboldt-Universität zum Thema „Wege der Kapitalismuskritik“ gehalten hat.
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nur „erschlichen“ hat. Eindeutig sei ferner, dass die moralische Kritik von der „normativen Uneindeutigkeit des Ausbeutungsbegriffs“ (12) lebt und auch deshalb die „Maßstäbe der Kritik … in Bezug auf ihren Gegenstand unspezifisch“ (14) bleiben. Die ethische Kritik kann schließlich ihre Schwäche nicht verbergen, dass es angesichts der „Ambivalenz der geschilderten Phänomene … gar nicht so leicht ist, die ethischen Kriterien auszuweisen, anhand derer bestimmte Aspekte der kapitalistischen Lebensform mit Gründen abgelehnt werden können.“ Das gelte jedenfalls dann, wenn die „Kritik des Kapitalismus … nicht in einen weiteren reinen (und abstrakten) Tugenddiskurs (den Appell an Werte)“ münden soll, denn das sei „alles vielleicht richtig, aber doch eher hilflos.“ (17) Jaeggi hält also kriterial daran fest, „dass Kritik immer auf das Etablieren und Ausweisen normativer Maßstäbe angewiesen ist, im Gegensatz zu Positionen, die allein auf die erschütternde Kraft von Neubeschreibungen etc. setzen.“ (18, Anm. 25). Allerdings, sie verzichtet selbst nicht auf „Neubeschreibungen“ und bescheidet sich auch nicht mit der Kritik der Kritik, sondern will an der Möglichkeit der Kritik festhalten. Ihr Vorschlag setzt darauf, die drei „Wege der Kritik“ als „Dimensionen“ einer neuen Kritik in ihrer „Einheit“ und in ihrem Zusammenhang aufzufassen und den Kapitalismus als „Lebensform“ zu kritisieren, ausgehend von ihrem, jetzt neu gefassten „Begriff des Kapitalismus“: Er „soll … ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem bezeichnen, also die Gesamtheit von ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Dimensionen umfassen, die die Lebensweise kapitalistisch verfasster Gesellschaften prägen“ (2013, 2). Für diese „Gesamtheit“ diagnostiziert sie zugleich, parallel zu den drei von ihr eingeführten Kritikdimensionen, „das funktionale, das moralische, das ethische Defizit“ des Kapitalismus als Indikatoren für die defizitäre Verfassung seiner gesamten „Lebensweise“. Für die weitere Kritik kann sie nur noch „Stichworte“ liefern, aber die sind schon signifikant; denn sie zeigen, dass erst die zu konstruierende Einheitsform der Kritik der komplexen Einheitsform des Kapitalismus gerecht werden kann, funktional, moralisch und ethisch: „Es ist das Ineinandergreifen von Funktionsstörungen im Sinne von praktischen Krisen und Verwerfungen und normativen Defiziten, das als Hinweis für die Irrationalität und Falschheit des Kapitalismus als Lebensform gelten kann. Zwar scheitert eine Lebensform wie der Kapitalismus immer schon normativ. Dass aber wir so nicht leben wollen, ist nicht einfach eine vom Himmel (oder aus der Tradition) kommende ethische Wertentscheidung. Es hängt seinerseits mit funktionalen Defiziten und den mit diesen einhergehenden praktischen Verwerfungen und Krisen zusammen. Das Entscheidende ist nun, die Durchdringung beider Momente richtig aufzufassen.“ (19/20). Hier, das ist leicht zu sehen, handelt sie sich ein erstes, und ungelöstes, Problem der Analyse ein, denn die alten Versuche, diese „Durchdringung der Momente“ z. B. mit dem Argument der Dialektik beantworten zu können, und zwar „richtig“, sind bekanntlich nicht allgemein anerkannt, nicht einmal in den kritischen Theorien selbst, auch nicht in der kritischen Bildungstheorie. Es gibt bereits offene Forschungsfragen in der ersten, der „funktionalen“ Dimension, methodisch wie konzeptionell ist das Urteil über den „Kapitalismus“ historisch
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wie aktuell konstant offen und kontrovers.48 Das zweite Problem besteht in der ethischen Begründung, die gelöst werden muss, um „der Zufälligkeit der substanziellen ethischen Positionen“ zu entgehen. Da bietet sie zumindest einen Weg der argumentativen Bearbeitung an: „eine Art Meta-Kriterium“, um die insgesamt offenen Fragen nach einem guten, richtigen oder gar wahren Leben – auch „im Falschen“? – prüfbar zu machen. Damit nähert sich Jaeggi, zwanglos, auch der hier in Rede stehenden Problematik, also den Fragen der Bildungstheorie und den Begründungsmöglichkeiten ihrer kritischen Diagnosen: „Eine gelingende Lebensform wäre dann eine, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gelingende kollektive Lernprozesse – Lernprozesse, die zum Teil ausgelöst sein mögen durch Krisen funktionaler Art – nicht behindert, sondern ermöglicht. Ob der Kapitalismus dies tut, ist mehr als fraglich.“ (20) Sie greift gleichzeitig, das kann man hinzufügen, auf einen zeitgleich vorgelegten und schon systematisch ausgearbeiteten Vorschlag zurück, Kritik als „Kritik von Lebensformen“ zu verstehen und damit den Schwächen der alten Kritikformen zu entgehen.49 Bevor man diesen Vorschlag für die Möglichkeit der Kritik von Bildung als Lebensform prüft, ist es indes, als Zwischenfazit gewissermaßen, zuerst aber möglich und notwendig, vor dem Hintergrund der Analysen, die van Parijs und Jaeggi vorgelegt haben, die Qualität der kapitalismuskritischen Argumente der kritischen Bildungstheorie erneut zu betrachten. Man kann dann relativ einfach festhalten, dass in dieser Reflexionstradition Fragen der Art von Jaeggi oder gar von van Parijs überhaupt nicht gestellt werden, und dass auch Methoden, wie sie dabei demonstriert wurden, für die Begründung von Kritik nicht benutzt werden. Kritik an der tradierten Kritik des Kapitalismus kommt nicht vor. Die klassischen Annahmen von Marx werden vielmehr – in der „funktionalen“ Dimension – meist nur wiederholt, alle Schwächen z. B. der Begrifflichkeit von Ausbeutung werden ignoriert, „Bildung“ wird – in der moralischen wie ethischen Dimension – im utopischen Ausgriff auf eine andere Praxis als Lebensform propagiert, die eine bessere Zukunft herbeiführen kann, wenn man sie nur richtig, nicht staatssozialistisch wie im 20. Jahrhundert,
48Aus
der internationalen Diskussion könnte man die Kontroversen im Anschluss an das Buch von Thomas Piketty nennen: T.P.: Das Kapital im 21. Jahrhundert. (Paris 2013) München 2014, für die Kontroversen der Historiker u. a. die konträren Positionen, die Werner Plumpe und Friedrich Lenger vertreten: Werner Plumpe: Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin 2019, sowie als kritische Rezension dazu, auch unter Einbeziehung der weiteren internationalen Diskussion zum Thema, Friedrich Lenger: Eine eurozentrische Geschichte des Kapitalismus. Gefangen in der Kritik der Kapitalismuskritik. In: Merkur 838, 73(2019), S. 59–67 und ders.: Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien. Tübingen 2018. 49Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 2013. Meine nachfolgenden Bemerkungen zu diesem Werk profitieren auch von der Rezension dieser Arbeit durch Johannes Drerup in: EWR 14 (2015), Nr. 3 (Veröffentlicht am 11.06.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ ewr/978351829587.html.
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sondern als Praxis einer „Befreiungspädagogik“ realisiert.50 Die Alternative in den Möglichkeiten und Optionen für gesellschaftliche Zustände und Zukünfte wird immer noch in der alten Formel von Rosa Luxemburg formuliert: ‚Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei‘. Es ist kein Zufall, dass die Antithese zu diesem gängigen Urteil kritischer Theorien – nämlich „Kapitalismus oder Barbarei?“51 – nicht einmal in Erwägung gezogen wird, so wenig wie die These, dass alle kritische Kritik dem Risiko nicht systematisch entgehen kann, allein ein „Ressentiment“52 zu propagieren. Gegen alle denkbaren und sehr gut auch empirisch, historisch wie aktuell, zu fundierenden Einwände werden die in der Kritik gewünschten Zustände also primär positiv, ja höchst emphatisch stilisiert. Heinz-Joachim Heydorn wird immer neu zum verbindenden Denker, in einer Argumentform, die zwischen kritischer Theorie, sozialistischer Programmatik und religiöser Grundierung ihre eigene Geltung sucht.53 Explizit von der These aus argumentierend, dass die Arbeit der Pädagogik nur als „Erlösung“ angemessen verstanden ist,54 und die Arbeit
50Meine Belege finde ich u. a. (aber leicht vermehrbar) in Armin Bernhard/Lutz Rothermel (Hrsg.): Handbuch kritische Pädagogik. Eine Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Weinheim 1997, dort zumal in der „Einleitung“ der Herausgeber und in dem Text von Hans-Jochen Gamm: Allgemeine Pädagogik. S. 28–38, u. a. S. 37: „die Methode der Kritik zu erlernen und zu verbreiten, mit der die … Kapitalbewegungen … identifizierbar werden. Die Möglichkeit jeglichen Eingriffs in die Verhältnisse läßt sich als nachfolgender Prozeß denken.“ Und programmatisch: „die verworrenen Weltumstände lassen sich nur verändern, wenn sie zuvor im Bewußtsein von Zeitgenossen aufgeklärt sind, und das kann geschehen, sofern die Bildung aller Menschen vorankommt.“ Das notwendige Wissen ist da, wie er fest behauptet, ohne jede Distanz zur „funktionalen“ Beweisführung. Systematisch und programmatisch einschlägig auch Armin Bernhard, unter Mitarbeit von Sandra Schillings: Bewusstseinsbildung. Einführung in die kritische Bildungstheorie und Befreiungspädagogik Heinz-Joachim Heydorns. Hohengehren 2014. 51Sonderheft, Merkur 653/654, Stuttgart 2003. 52Ressentiment! Zur Kritik der Kultur. In. Merkur H. 9/10. Stuttgart 2004; Ahnherr dort: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Nietzsche Vorwort von 1887 (KSA, Bd. 5, S. 245 ff.), Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“, dort Abschnitt „10.“: „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment [gesperrt] selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Aussserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-Selbst‘: und dies/nein ist ihre Schöpferische That“ (270/71) (S. 270). Und natürlich gibt es Gegenstimmen: Jeanne Riou, Mary Gallagher (Hrsg.): Re-thinking Ressentiment: On the Limits of Criticism and the Limits of its Critics. Bielefeld 2016. 53Meine Interpretation folgt erneut der Arbeit von Ewald Titz: Bilderverbot und Pädagogik. Zur Funktion des Bilderverbots in der Bildungstheorie Heydorns. Weinheim 1999. 54Deshalb ist es verwunderlich, dass in dem Band von Patrick Bühler/Thomas Bühler/Fritz Osterwalder (Hrsg.): Zur Inszenierungsgeschichte pädagogischer Erlöserfiguren. Bern 2013 in der Diskussion von „Erlöserfiguren“ Heydorn und seine pädagogisch-bildungstheoretischen Gefolgsleute ignoriert werden; aber die Belege für Erlösungsdenken bei braven Reformpädagogen zeigt natürlich die Breite dieser Denkform im pädagogischen Milieu.
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des Lehrers nur als aktuelle Form der Leistung des biblischen Moses, der das Volk Israel aus dem Exil ins gelobte Land führte, wird Exodus zur HintergrundMetapher, in der Religion und sozialistische, ja alle utopische Politik der Neuzeit zur Einheit finden. Die Konstruktion des „Neuen Menschen“55 ist das Ziel und der Weg, mit dem sich Mensch und Welt aus der Verblendung lösen und zum wahren Bewusstsein geführt werden. Oder, in Heydorns Worten: „Mit dem Begriff der Bildung … begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber, versteht er, dass ihm die Ketten, die das Fleisch aufschneiden, von Menschen angelegt sind, dass es eine Aussicht gibt, sie zu zerreißen. Bildung ist eine neue, geistige Geburt, kein naturalistischer Akt; mit ihr muß sich der Mensch noch einmal über sein Bewußtsein einholen, sich selbst repetieren.“56 Distanz und Skepsis, kritische Prüfung und die Unterscheidung von Geltungsgründen in Theorie und Praxis haben hier so wenig Platz wie dazu konträre sozialphilosophische und bildungstheoretische Grundüberzeugungen der Moderne. Schon die liberale Grundprämisse, dass Menschenrechte die Rechte des je individuellen Menschen sind, nicht die von Kollektiven oder von sozialen Bewegungen als Basis der Veränderung, wird als liberalistisch abgewertet. Es sind, so kann man resümieren, zentrale normative Referenzprobleme, die in kritischer Bildungstheorie ausgeblendet werden. Zugleich sind es empirische Referenzen, gegen die sich kritische Bildungstheorie immunisiert, vor allem die Erfahrung, die mit den Alternativen zum Kapitalismus historisch gemacht wurden. Aber, wie man ergänzen könnte, in der gleichen Weise immunisieren sich konservative Bildungstheorien in ihrer Kritik der Schule oder der aktuellen Bildungspolitik gegen die Veränderungen im Bildungssystem der letzten 200 Jahre und reden – kritisch – so, als stünden wir immer noch allein bei Schillers Diagnosen und in seiner Welt oder in der Schule des Obrigkeitsstaates um 1900.57 Eine kritische Prüfung der Realisierungsbedingungen, -formen und -folgen jedenfalls, wie sie – zu Recht in kritischer Distanz – den Plänen staatlicher Bildungsakteure gewidmet werden,58 die wird auf die schönen Bildungsambitionen nicht angewandt. Aber
55Gottfried
Küenzlen: Der Neue Mensch. Ein Kapitel der säkularen Religionsgeschichte (1982); die Buchversion: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. 2. Aufl. München 1994. Dort finden sich neben Nietzsche u. a auch die Psychoanalyse und die „Revolution“. 56Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt a.M. 1970 (jetzt: Bildungstheoretische Schriften, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1979), bes. S. 9–10. 57Zu der, meist fehlenden, historischen Lernfähigkeit der Bildungsreflexion im pädagogischen Milieu Heinz-Elmar Tenorth: „Bildung“ – die Zeitlichkeit von Theorie und Lebensformen. In: A. Dörpinghaus/B. Platzer/U. Mietzner (Hrsg.): Bildung an ihren Grenzen. Zwischen Theorie und Empirie. Darmstadt 2014, S. 235–247. 58Exemplarisch, und ganz ohne zelotischen Eifer, nur kalt und nüchtern destruiert z. B. Helmut Heid alle Versprechen der Qualitätssteigerung, die von politischen Akteuren mit der Einführung von Bildungsstandards verbunden werden: Helmut Heid: Was vermag die Standardisierung wünschenswerter Lernoutputs zur Qualitätsverbesserung des Bildungswesens beizutragen? In: Dietrich Benner (Hrsg.): Bildungsstandards. Instrumente zur Qualitätssicherung im Bildungswesen. Chancen und Grenzen – Beispiele und Perspektiven. Paderborn 2007, S. 29–48.
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wer, ebenfalls auf der konservativen Seite, mit einem katholisch-philosophisch aufgeladenen Begriff wie dem der „Person“ operiert oder meint auf „Vernunft“ oder „Wahrheit“ erneut und ganz unschuldig als Beglaubigungsinstanzen für die Notwendigkeit und Möglichkeit, die Praktiken und die schulische Lernform von Bildung zugreifen zu können, der zieht sich den Vorwurf des Dogmatismus genauso zu wie die Zieldiskussion innerhalb der kritischen Bildungstheorie. Die drei Dimensionen der Kritik, die Jaeggi fordert, sind hier ebenfalls nicht eingelöst. Wird die kritische Argumentation in der kritischen Rede von Bildung begründeter und informierter, wenn sie sich auf die Propagierung von Bildung als „Lebensform“ einstellt? Bei der Prüfung dieser Frage kann man die Schwierigkeit ganz außer Acht lassen, die komplexen Realitätsformen, die Jaeggi oder ihre Mitstreiter und Vorläufer als „Lebensformen“ bezeichnen,59 hier empirisch und historisch zu klären. Ihre Argumente sind schon systematisch relevant, weil sie in der Orientierung an der Kategorie des „guten Lebens“ eine explizite Schnittmenge in den Referenzen und Begründungserwartungen auch mit der bildungstheoretischen Diskussion60 liefern und deshalb als Bezugspunkt der Begründungsprobleme gewählt werden können (und man entgeht in dieser offenen Relationierung auch der Schwierigkeit, die gleichzeitige Verwendung von „Lebensformen“ und „Lebensweise“ bei Jaeggi vorab begrifflich zu klären). Jaeggis „Meta-Kriterium“ kann man dann als ein Angebot lesen, die bis heute kontrovers geführte, jedenfalls nicht konsensuale oder in Kriterien wie Befunden einheitliche bildungstheoretische Debatte über das gute Leben – und die Kritik am ‚falschen‘ – endlich zu einem guten Ende zu führen. Dieses Metakriterium, ausdrücklich an „Lernprozessen“ orientiert und sie eindeutig spezifizierend, sieht ja zunächst auch aus wie die lange gesuchte gute Lösung: „Eine gelingende Lebensform wäre dann eine, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gelingende kollektive Lernprozesse – Lernprozesse, die zum Teil ausgelöst sein mögen durch Krisen funktionaler Art – nicht behindert, sondern ermöglicht.“ (20) Bis zu diesem Punkt könnten sich Bildungstheoretiker sehr gut einklinken (sieht man jetzt einmal davon ab, dass es nur um „kollektive Lernprozesse“ geht), sehen sie doch Bildungsprozesse als „Praxis“ mit einer eigenen Logik, wie das in der Tradition und selbst in der kritischen Bildungstheorie eingeräumt wird. Hier wird sogar
59Historisch
gesehen wäre eher Spranger mit seinen „Lebensformen“ eine Vergleichsreferenz, systematisch am ehesten der für die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts entwickelte Begriff der „sozialmoralischen Milieus“ (M.R. Lepsius), dann auch der Milieubegriff und die darüber geführte Diskussion, um die Referenzen in den Blick zu nehmen, die Jaeggi im Blick hat, wenn sie den Kapitalismus in der „Gesamtheit von ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Dimensionen“ thematisieren will, „die die Lebensweise kapitalistisch verfasster Gesellschaften prägen“ (2013, 2). 60Für das Thema und seine internationale Diskussion u. a. Kirsten Meyer: Bildung. Berlin/ Boston 2011, bes. S. 81 ff.; vgl. auch die Ausführungen oben in Teil IV im Kontext von „Bildungsgerechtigkeit“.
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für die Spezifik dieser Praxis eine Annahme formuliert, von der aus die Einheit von Pädagogik und Kritik theoretisch (und theologisch, wenn es doch um ein Glaubensbekenntnis geht?) wie ein „Credo“ propagiert werden kann: „Der Kritik inhäriert ein gesellschaftliches Prinzip, das der Negation, das in ihr theoretisch wird und gerade als konsequent Durchgehaltenes, auch vor sich selbst nicht halt machen kann. Es bestimmt die gesellschaftliche Reproduktion als diese verändernde und bringt damit Pädagogik im ‚judiziösen‘ (Kant) Sinne hervor. Pädagogik und Kritik sind insofern systematisch und historisch untrennbar verbunden, eine Einsicht, die als Darmstädter Credo gelten kann.“61 Dann stellt sich freilich hier wie bei Jaeggi die Skepsis über die tatsächliche Wirkung und die Realisierbarkeit solcher Formen eigenlogisch-emanzipatorischer Praxen62 in den gegenwärtigen Gesellschaften ein: „Ob der Kapitalismus dies tut, ist mehr als fraglich.“ (ebd.) – aber deshalb erzeugt es Begründungs- und Beweisbedarf, wenn es fraglich ist. Das berührt die Historizität der Annahmen, ist also zuerst „funktional“ begründungsbedürftig.63 Alle empirische Forschung über Bildungsverhältnisse belegt aber aktuell doch nur die bekannten „Ambivalenzen“, die Jaeggi selbst als Erschwerung für Kritik bei anderen Programmen bezeichnet hat. Die Forschung belegt jedenfalls nicht, dass die Alternativen z. B. frei von Nebenwirkungen sind. Ein negativer oder kritischer Befund über die Realisierbarkeit von Lebensformen im Kapitalismus, die den für Jaeggi rechtfertigungsfähigen Kriterien wie Reflexivität, Lernfähigkeit, Selbstdurchsichtigkeit (als vertieftes und angemessenes Problemverständnis) oder den Grad an Einsicht in die Gestaltbarkeit der jeweiligen Lebensverhältnisse, auch im Umgang mit „Lernblockaden“, belegen, ist deshalb auch nicht unmittelbar zugleich moralisch und ethisch folgenreich. Mit anderen Worten, Jaeggis Vorschlag löst die Probleme nicht, sondern eröffnet eine neue Runde in der Diskussion über die Validität, Möglichkeit und Legitimität der Kritik. Dann erinnert man sich einerseits und systematisch
61Das
formuliert für die kritische Bildungstheorie, die in Darmstadt eines ihrer Zentren hatte und hat, Peter Euler: Kritik in der Pädagogik: Zum Wandel eines konstitutiven Verhältnisses der Pädagogik. S. 9–28 in: Ludwig A. Pongratz/Wolfgang Nieke/Jan Masschelein (Hrsg.). Kritik der Pädagogik – Pädagogik als Kritik. 2004, zit. S. 9/10. 62Herwig Blankertz hat in seiner „kritischen Erziehungswissenschaft“ eine vergleichbar starke These vertreten und eine bis heute offene Debatte losgetreten, auch weil der empirische Nachweis der unterstellten Effekte strittig blieb (vgl. Blankertz: Kritische Erziehungswissenschaft. 1979), zur Diskussion vgl. unten (25.4) bei der Erörterung von Wirkungsannahmen. 63Ich stütze mich auch auf die Rezension zu Jaeggi: Kritik von Lebensformen, von Johannes Drerup in: EWR 14 (2015), Nr. 3 (11.06.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ ewr/978351829587.html. Er bezeichnet schon einige der Schwierigkeiten ihrer ethischen Argumentation: „Auch wenn Jaeggi darauf besteht, dass eine „Kritik von Lebensformen […] ohne ein Metasprachspiel, ohne einen neutralen ‚archimedischen Punkt‘ auskommen“ muss (257), basiert auch ihr auf gelungene Transformationsdynamiken ausgerichtetes Rekonstruktionsmodell auf normativ-evaluativen Schwerpunktsetzungen, die sich nicht ohne Weiteres im Rahmen der theoretischen Vorgaben einer rein immanenten Kritik unterbringen lassen.“
542
25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
des „Münchhausen-Trilemmas“, das Hans Albert64 angesichts eines jeden Versuchs von Letztbegründungen diagnostiziert hat, und andererseits, historisch, der unseligen Neigung in Bildungstheorie und Pädagogik für ihre Programme neben dem Ruhm der „Reform“ auch die Unterstützung in zahllosen, vermeintlich kritikimmunen Formen des „absoluten Wissens“65 zu suchen oder sich in Utopien zu begründen, die frei von unerwünschten Effekten sein sollen. Solche historischen Befunde signalisieren als Ergebnis dieses Exkurses deshalb eher so skeptische wie distanzerzeugende Botschaften über Kritik als Argument in der Rede von Bildung, über ihre Möglichkeiten und Formen, über ihre Begründbarkeit, ihren Realitätsgehalt und ihre Prognosefähigkeit. Deshalb überwiegt im Grunde auch Skepsis, nicht zufällig auch in der Selbstvergewisserung der Erziehungswissenschaft jenseits des Lagers der Kritiker, wenn „Kritik“ thematisiert wird, z. B. in den etwas verzweifelten Versuchen, bekannt schwache Positionen wieder zu beleben,66 oder in der distanzierten Beobachtung die Möglichkeit von Kritik dennoch auszuweisen.67 Selbst dann werden primär Risiken und Verfallsformen für Kritik als Argument in der Rede von Bildung und Erziehung eingeräumt, wenn auch in unterschiedlicher Richtung. In der „Domestizierung von Kritik“ (Heid) und in der „Immunisierung gegen Kritik durch Methodisierung der Kritik“ (Merkens) mit den Praktiken der Bildungsforschung würden, so der besorgte Einwand, Möglichkeiten der
64Hans
Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 21969, S. 13 versteht darunter eine Begründungsfigur, die (allein oder verbunden) den Anspruch einer – wie er sagt systematisch unmöglichen – zureichenden Begründung zu erreichen versucht, ohne den dreifach drohenden Fehler (einzeln oder in der Trias aller Fehlschlüsse) des (i) „infiniten Regresses“, des (ii) „logischen Zirkels in der Deduktion“ und (ii) einen „Abbruch des Verfahrens … in einer willkürlichen Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung“ zu vermeiden.
65Für
dieses Argument umfassend Eberhard Skiera: Erziehung und Kontrolle. Über das totalitäre Erbe in der Pädagogik im ‚Jahrhundert des Kindes’. Bad Heilbrunn 2018. 66Diese Renaissancen überzeugen nur lagerspezifisch, vgl. u. a. Heinz Sünker/Heinz-Herrmann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! Frankfurt a. M. 1999 – aber die Herausgeber haben meine Kritik ihres Versuchs zumindest mit abgedruckt: HeinzElmar Tenorth: Die zweite Chance. Oder: Über die Geltung von Kritikansprüchen „kritischer Erziehungswissenschaft“. In: Sünker/Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?!, S. 135–161. Bei anderen Versuchen ist das Ergebnis nicht anders: Karl Heinz Dammer/ Thomas Vogel/Helmut Wehr (Hrsg.): Zur Aktualität der Kritischen Theorie für die Pädagogik. Wiesbaden 2016. 67Dafür sehr lehrreich: Dietrich Benner/Michele Borrelli/Frieda Heyting/Christopher Winch (Hrsg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 2003 (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft; 46). Die von mir hier aus diesem Band zitierten Thesen, Indizien für die auch selbstkritische Beobachtung des Themas in diesem Band, werden in Klammern dem jeweiligen Autor zugeordnet. Die thematisch ebenfalls einschlägigen Beiträge in Ludwig A. Pongratz/Wolfgang Nieke/Jan Masschelein (Hrsg.): Kritik der Pädagogik – Pädagogik als Kritik. 2004 erreichen dieses Maß an Selbstdistanz und -kritik meist nicht.
25.3 Exkurs: Kritik als Argument
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Problematisierung von Wissen und Überzeugungen verschenkt. Gleichzeitig werden die Begründungsprobleme der Kritik durch die „Relativierung“ (Heyting), „Trivialisierung“ (Masschelein) und „Problematisierung“ (Ruhloff) der Grundlagen von Kritik nur umso sichtbarer, so dass nur ganz mutige Autoren in der „Pluralisierung“ (Benner) von Kritik noch neue Möglichkeiten identifizieren können, andere sie sogar erneut in der „Utopisierung“ suchen (Borelli), aller schlechten Erfahrungen ungeachtet, aber dialektisch gerechtfertigt. Erstaunlicherweise bieten die kritischen Kritiker letztlich die Praxis von Bildung, selbst in der sonst so verachteten Schule, als Lösung an, denn sie schreiben ihr als Aufgabe und offenbar auch als Möglichkeit zu, den Prozess der Bildung von Urteilskraft so zu konzipieren, dass Heranwachsende in einen problematischen Vernunftgebrauch zur Befähigung von Kritik eingeführt werden (Ruhloff). Die positive Seite der hier resümierten Prüfung der Möglichkeitsbedingungen und Praktiken von Kritik sollte man aber auch nicht geringschätzen, denn in der Kritik der Kritik haben sich Unterscheidungen bewährt, die man nicht aufgeben sollte. In den drei Dimensionen der Kritik, die z. B. Jaeggi unterschieden hat, kann man solchen Ertrag sehen (man muss ja die Einheit nicht unbedingt wieder dialektisch suchen, weil Relationierung schon ausreicht). Auch die Praktiken „immanenter Kritik“, die mit der Prüfung aussagenlogischer Strukturen einsetzt und über die methodisch-theoretische Kritik und die Historisierung und Soziologisierung von Forschung bis zum praktisch-ethischen Begründungsdiskurs weitergeht, kann man schwerlich verzichten. Vor dem Hintergrund solcher Unterscheidungen lassen sich schon die essentialistischen Fallstricke und der Dogmatismus bei den Antworten auf die „Was ist Bildung?“-Frage erkennen und vielleicht auch vermeiden, sowie die Spannweite der Antworten auf die Frage zeigen, wie denn Bildung möglich ist. Schließlich, man kann sich vor diesem Hintergrund erneut, wie schon in der emanzipatorischen Pädagogik, die Zähne daran ausbeißen, in Forschung und Reflexion historisch-gesellschaftlich „notwendige“ von „überflüssigen“ oder „vermeidbaren“ Restriktionen in Bildungspraxis und Gesellschaft zu unterscheiden. Handlungsorientierung, daran sollte man aber vielleicht auch erinnern, trägt das nur begrenzt ein. Es gibt eher Bestätigung für die Paradoxierungen, die den Prozess selbst kennzeichnen, in der Unplanbarkeit der Ergebnisse und in der Widerständigkeit der Subjekte (mit denen man auch nicht mehr überzeugend fertig wird, wenn man ihre Praxis als Ausdruck „falscher Bedürfnisse“ erklärt und abwertet68). Ironie angesichts aller Einheitserwartungen ist dann eher zu
68Die
Argumentation mit „Bedürfnissen“ hat seit der Antike eine lange Tradition, denn sie werden spätestens seit Rousseau auch außerhalb der Theologie und bildungstheoretisch als Argument genutzt, vgl. Jana Swiderski: Die Bildung der Bedürfnisse. Bildungstheoretische, sozialphilosophische und moralpädagogische Perspektiven. Paderborn (usw.) 2008 – aber eine Unterscheidung der ‚wahren‘ von den ‚falschen‘ Bedürfnissen, und dann noch für die Gattung, ist mit Anspruch auf Anerkennung bisher nicht gelungen.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
empfehlen als Planungs- und Begründungswut, auch das Vertrauen auf „Bildung“ selbst ist anzuraten, die ja den Umgang mit Differenz und Unbestimmtheit als ihr zentrales Thema hat und Formen zeigen kann, wie sich in Initiation und Reflexion mit solchen Problemen umgehen lässt. Die eigenen Erwartungen und die an Bildungsprozesse wird man deshalb auch kriterial anders ordnen, statt des Duals ‚richtig vs. falsch‘ eher das Dual von ‚besser vs. schlechter‘ nutzen, um Lernfähigkeit gegenüber der Wirklichkeit und gegenüber den Akteuren, gegenüber den Erwartungen und auch gegenüber den nicht erwarteten Ergebnissen zu bewahren. „Kritik“ wird dabei eher zu einer Form von Reflexivität, in der Bildungsprozesse und ihre Beobachtung beobachtet werden, an ausweisbaren Kriterien von selbstkritischen Akteuren und Beobachtern. Schließlich, es mag ja sein, dass Bildung nicht anders als kontrafaktisch konzipiert werden kann. Das liegt an ihrer Funktion, wie sie als Erwartung der auf Zukunft bezogenen Selbstoptimierung schon mit den Klassikern in die Welt getreten ist und sich offenbar auch, manchmal nur trivialisiert, erhalten hat, seit der Prozess nicht mehr teleologisch gedacht wird, sondern offen, aber doch als unabschließbar im Lebensverlauf. Aber deswegen muß Bildung nicht allein im Modus der Normativität diskutiert werden, also in der Form von „Erwartungen, die etwaigen Enttäuschungen nicht angepaßt, sondern aufrechterhalten werden“.69 Man darf und kann aus der distanzierten Wahrnehmung der Bildungswirklichkeit auch lernen und im Modus von Erfahrung und Versuch selbstkritisch agieren und denken – kritisch natürlich, also der Erfahrungen bewusst, die man macht, und sensibel für die Geltungsmodi der Argumente, die man gebraucht. Die positionsspezifischen Blockaden über Bildung wird man damit nicht überwinden, aber doch die Breite der unversöhnlichen Referenzen sehen und mit ihnen zu leben lernen. Die Fragen nach Einheit und Zusammenhang in der Rede von Bildung wird durch den Verweis auf Kritik ja auch nicht gelöst.
25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung – Themen, Relationen, Kausalitäten Die letzte Dimension, in der sich Einheit in der Vielfalt abstrahierend identifizieren lässt, gilt dem Zusammenhang in der Struktur der Argumentation, in der das Thema der „Bildung“ behandelt wird, und hier der Frage, wieweit sich dabei Praktiken identifizieren lassen, in denen die Transformation des Themas zum
69So Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 638 – sowie in Anm. 68, S. 638 erläuternd. „Aufrechterhalten werden sollen, könnte man sagen, wenn man in Rechnung stellt, daß das normative Erwarten seinerseits normativ erwartet wird.“ (Herv. dort).
25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung …
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theoretischen Problem systematisch entfaltet wird, wie rudimentär immer.70 Im Blick auf das Thema und seine systematische Beobachtung und Ausarbeitung werden, so die zugrundeliegende These, Referenzen und Adressaten sowie die spezifischen Formen der Argumentation zusammengeführt, und zwar argumentativ zumindest dann unausweichlich, wenn man nicht essentialistisch argumentiert, sondern die zweite Leitfrage, ‚Wie ist Bildung möglich?‘, beantworten will. Damit tritt man nämlich in die Form der theoretischen Konstruktion ein, ob man will oder nicht, systematisch oder pointillistisch. Im Blick auf die dabei benutzten und weiter entfalteten argumentativen. Grundstrukturen wird auch bewusst, welchen Faktoren und ihrer je spezifischen Verknüpfung sich die Differenzen verdanken, die in den vielfachen Formen der Theoretisierung bis heute unverkennbar sind und immer neu entstehen. Mit diesem Schritt der abstrahierenden Zusammenfassung, das ist die weitere Annahme, werden zugleich auch die Forschungsaufgaben sichtbar, die sich in diesem Feld ergeben (ohne dass die Vielfalt der dabei beteiligten Disziplinen und ihre aktuellen Konstrukte hier auch nur annähernd vollständig erwähnt werden können). Die offenen und lohnenden Forschungsfragen entstehen ja erst aus den spezifischen Annahmen, in denen unterschiedliche Theorieakteure die Elemente der argumentativen Grundstruktur zum Thema der Bildung aufnehmen und vernetzen, Zusammenhänge, vielleicht sogar kausaler Art, hypothetisch unterstellen oder Zielgrößen für die Messung von Prozessen in ihre Modelle imputieren. Im Blick auf diese Praxis der Arbeit am Thema kann der Begriff der Bildung deshalb auch nicht mehr, wie aktuell vielfach unterstellt, primär oder gar allein als Thema der praktischen Philosophie oder mit seinen „normativen Implikationen“ für die Beobachtung der Bildungswirklichkeit behandelt werden. Er muss vielmehr als eigenes Forschungsproblem, -konzept und -konstrukt gesehen werden, d. h. auch mit seinen eigenen empirischen Implikationen, also z. B. den Realitätsmodellen und Wirkungsannahmen, die in der Forschung zu einem Problem werden, das der Bearbeitung bedarf. Für diesen Strukturierungsvorschlag zu theoretischen Grundfiguren der Bildungsreflexion darf man keinen umfassenden Konsens erwarten, aber die Elemente und Probleme können zumindest markiert werden, auf die sich die Theoriearbeit in ihren Strategien schon jetzt bezieht, an denen sich deshalb auch die Konflikte entzünden können und entzündet haben, die zum Thema der Bildung in einem theoretischen Sinne gehören. In der Analyse dieser Grundstruktur, das zeigt die geltungstheoretische Begrenzung dieser Perspektive in der Beobachtung der Rede von Bildung, sind noch nicht explizite Theorien Gegenstand der
70Im
Folgenden nehme ich z. T. wörtlich Argumente aus einer früheren Abhandlung auf: Heinz-Elmar Tenorth: Bildungstheorie und Bildungsforschung, Bildung und kulturelle Basiskompetenzen – Ein Klärungsversuch, auch am Beispiel der PISA-Studien. In: J. Baumert/ K.J.Tillmann (Hrsg.): Empirische Bildungsforschung. Der kritische Blick und die Antwort auf die Kritiker. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2016, Sonderheft 19, S. 45–71, bes. S. 55–60.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
Beobachtung. Leitend ist vielmehr die Frage, ob sich gemeinsame Bezugspunkte der Theoriebildung identifizieren lassen, die dann auch einen Vergleich von unterschiedlichen Varianten einer ausgearbeiteten Theorie erlauben, und zwar in einer zunächst nur historisch-epistemologisch interessierten Analyse der Rede von Bildung. Im Sinne eines Minimalkonzepts, nicht als Definition, kann man dann – für das Thema und die theoretische Grundstruktur vielleicht doch in der Erwartung von Konsens – sagen, dass der Titel der Bildung seit der klassischen deutschen Philosophie, in den Texten von Humboldt bis Hegel, Fichte bis Marx, Nietzsche bis Adorno und in den systematisch als äquivalent interpretierbaren Arbeiten von Mead bis Dewey, Emerson bis Foucault (et al.),71 die moderne Auffassung über die Menschwerdung des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt als Thema der Reflexion fixiert wird. Dabei wird Bildung als ein Prozess interpretiert, der sich je individuell und innerweltlich ereignet, sich von der religiöstheologischen und christlichen Geschichte der Erbsünde und Erlösung des Menschen ebenso unterscheiden lässt wie von biologischer Evolution oder dem Aufwachsen in ständischen Gesellschaften. Dieser Prozess hat seine eigene historisch-gesellschaftliche Logik, denn er wird erst in einer je kulturell konstituierten Praxis der Menschen möglich. Erste und zentrale Unterschiede in der Theoretisierung dieses Themas ergeben sich allerdings aus der Selektion und Komposition der Elemente sowie aus den Relationen, die zwischen den berücksichtigten Elementen unterstellt werden, und aus den Wirkungszusammenhängen, die dabei angenommen werden. Erneut nur im Sinne eines Minimalprogramms gedacht: Die Bezeichnung der Gemeinsamkeiten – jetzt: der theoretischen Grundstrukturen72 – in der Rede von Bildung führt zu den theoretisch (und insofern hypothetisch) wie argumentativ unterstellten, teils erforschten, teils offenen Annahmen über diesen Prozess. Konsens ist dann, dass mit Bildung ein spezifisches Mensch-Welt-Verhältnis bezeichnet wird, theoretisch ein Verhältnis der „Wechselwirkung“ in Selbstbestimmung und Freiheit, wie Humboldt schrieb und moderne Gesellschaften unterstellen, so dass Bildungstheorie auch sehr gut an soziologische und
71Für diese theoretischen Äquivalente z. B. Pauli Siljander, Ari Kivela, Ari Sutinen (Hrsg.): Theories of Bildung and Growth. Sense Publishers (Rotterdam) 2012, vgl. auch die Hinweise auf die universale Thematisierung des Themas unten in 27. (1). 72Für die Explikation dieser „Grundstrukturen“ verweise ich nachdrücklich auf Thomas Rucker: Komplexität der Bildung: Beobachtungen zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn (Klinkhardt) 2014. Rucker versteht Theorien von Bildung als Sonderfall von Theorien der Komplexität (das lasse ich hier dahingestellt), präpariert aber in der Analyse des Materials überzeugend die folgenden Theorieannahmen heraus, die sich an dem von mir explizierten historischen Referenzen ebenfalls bestätigen: „Relationale Selbstbestimmung“, „Vielseitigkeit“, „Achtung der Würde des Menschen“, sowie als „Parameter der Komplexität“: „Wechselspiel“, „Selbstreferentialität“, „Dynamik“, „Emergenz“, „Offenheit und Ungewissheit“ sowie „Nichtplanbarkeit und Nichtsteuerbarkeit“.
25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung …
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sozialpsychologische Theorie anschließen kann73 oder zum Ausgangspunkt für ambitionierte Versuche wird, das alte Bildungsthema über eine allgemeine Theorie von „Relationen“74 aktuell ganz neu zu dimensionieren. Aber schon die Annahmen über die Struktur der „Wechselwirkung“ und die Spezifik der relevanten „Welt“ unterscheiden sich ebenso wie die Hypothesen über die Mechanismen, denen dieser Prozess seine Dynamik verdankt, und auch über die Ergebnisse, die man dabei erwarten kann. Konsens mag es allenfalls noch sein, zumal unter Pädagogen und zur Abgrenzung von Erziehung als einer Struktur asymmetrisch-fremdbestimmter, aber auf Symmetrisierung angelegter sozialer Ordnung, dass Bildung seit dem Ursprung in der Moderne als „Selbstbildung“ aufgefasst wird, ohne dass damit schon bezeichnet ist, welchen Faktoren sich dieser Prozess der Selbstbildung verdankt. Neben handlungstheoretischen Prämissen, u. a. der klassisch unterstellten Wechselwirkung von ‚Selbsttätigkeit‘ und ‚Empfänglichkeit‘, spielen Naturannahmen eine Rolle. Das bestätigt der Verweis auf „Bildsamkeit“ ebenso wie die Argumentation mit den „Kräften“ und dem „Bildungstrieb“, denen sich bei Humboldt die Bildung verdankt und die sie zugleich entwickelt. Aber man muss diese Naturprämisse, die implizite Anthropologie von Bildung, und die unterschiedlichen Bestimmungen von Bildsamkeit so wenig klären wie die Differenzen im Begriff der „Welt“, die aus der Tradition vorliegen, um auch sagen zu können, dass es eine ‚Anthropologie‘ nur noch als historische geben kann,75 und dass auch die Realität der Wechselwirkung nicht vorab oder gar systematisch als deterministisch – aus der Perspektive von ‚Welt‘ – oder als autark – aus der Perspektive der Individuen – gedacht werden kann (obwohl das immer wieder versucht oder Theorien kritisch unterstellt wird76). 73Ein
frühes, so prominentes wie höchst reflektiertes Exempel dafür stellt Theodor Litt dar, inspiriert von Georg Simmel, in kritischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Sozialforschung, so dass Litt auch im Ausland als Soziologe codiert wird, vgl. H.E.Tenorth: Soziologie als Bildungstheorie. In: J. Aderhold/O. Kranz (Hrsg.): Intention und Funktion. Probleme der Vermittlung psychischer und sozialer Systeme. Wiesbaden 2007, S. 175–187. 74Ortfried Schäffter z. B. und seine Mistreiter legen dazu erste Forschungsergebnisse vor, vgl. u. a. O.S.: Die Kategorie der Relation – der paradigmatische Kern und einzelwissenschaftliche Anwendungsfelder. Working paper 2014, https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/ de/ebwb/team-alt/schaeffter/katrel_16; Kerstin Meißner: Relational Becoming – mit Anderen werden. Soziale Zugehörigkeit als Prozess. Bielefeld 2019; oder Malte Ebner von Eschenbach: Relational Reframe. Einsatz einer relationalen Perspektive auf Migration in der Erwachsenenbildungsforschung. 2019 – Aber diese Perspektive wirft auch Fragen auf, wie man schon dem Waschzettel zu Ebner von Eschenbach entnehmen kann (und die ich hier zum Glück nicht lösen muss). „‚Alles was ist, ist Beziehung, und alles was nicht ist, ist ebenfalls Beziehung.‘ Mit dieser apodiktischen Zuspitzung hat der Philosoph Julius Jakob Schaaf schon vor fünfzig Jahren umrissen, was sich heute als relational turn in der Erkenntnistheorie immer deutlicher abzeichnet.“ 75Vgl.
dazu meine Sammelbesprechung: H.-E.T.: „Vom Menschen“ – Historische, pädagogische und andere Perspektiven einer „Anthropologie“ der Erziehung. Eine Sammelbesprechung neuerer Literatur. In: Zeitschrift für Pädagogik 46 (2000), S. 905–925. 76In der Debatte über Pierre Bourdieu und sein Habitus-Konzept kehren in der Erziehungswissenschaft solche konfrontativen Strategien wieder.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
Dieser Prozess, das führt zu den konkreten Forschungsaufgaben, ist letztlich erst aufklärbar durch die empirische Beobachtung der Wechselwirkung mit Welt selbst, nicht philosophisch, sondern auf der Basis klar bezeichneter Hypothesen über Wirkungszusammenhänge: Wie immer diese Beobachtung dann methodisch aussieht, der prinzipientheoretisch explizierende oder ein allein an der Analyse von Aussagen interessierte Philosoph ist dafür nicht der richtige Beobachter, wie man spätestens seit der Zeit weiß, als die Selbstbeobachtung als Methode der Erforschung des Selbst ausgedient hat und auch die Humanwissenschaften empirisch wurden, programmatisch und historisch um 1800, laborbezogenexperimentell um 1900, auch mit Massendaten gegenwärtig. Vor allem das Wirkungsproblem ist komplexer als die großen Begriffe suggerieren, zumal dann, wenn man die leitenden Annahmen und impliziten Hypothesen, die in der Rede von Bildung über Wirkungszusammenhänge tradiert werden, als Forschungsthema ernstnimmt. Schon die Abgrenzung von Bildung und Erziehung ist eine weithin ungeklärte Frage, damit auch die im geisteswissenschaftlichen Kontext immer wieder propagierte These, dass „Bildung“ als „pädagogisches Werk“77 interpretierbar sei. Das ist gerade angesichts der Kritik der Erziehung im Kontext der Bildungsreflexion eine höchst klärungsbedürftige Annahme. In der Präzisierung und Kontextualisierung dieser Annahme, das ist ihre produktive Provokation, werden aber bildungstheoretische Annahmen über die Mechanismen der Wechselwirkung und über die Bildungswirksamkeit von Welten, exemplarisch auch der „Erziehungswirklichkeit“ so intensiv sichtbar, dass auch die bis heute offenen Forschungsfragen sichtbar werden. Die zugleich höchst provokante wie theoretisch produktivste These über die spezifische Struktur der „Erziehungswirklichkeit“ und die ihr deshalb zuschreibbaren besonderen Leistungen und Wirkungen für den Aufbau von Mensch-Welt-Verhältnissen wird in der Nachfolge der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelt. Einer ihrer prominentesten Erben, Herwig Blankertz, Schüler des Nohl-Schülers Erich Weniger, hat in überraschend starken Thesen und an vielleicht unvermuteter Stelle, nämlich in der Begründung kritischer Erziehungswissenschaft, den Strukturen des Pädagogischen derart starke Wirkungen zugeschrieben, dass sie hier als Indiz für die Eigenlogik von Bildung und Erziehung eingeführt werden. Bei Blankertz kann man jedenfalls lesen: „Denn emanzipativ im pädagogischen Sinne ist die Eigenstruktur der Erziehung selbst, sofern und insofern sie sich gegen alle überformenden und überwältigenden, nicht-pädagogischen Normauflagen durchsetzt.“ Ist das schon erstaunlich genug formuliert, weil die alte These von der Autonomie der Erziehung gerade von einem der kritischen Erziehungstheoretiker wiederbelebt wird, die sie bis hin zu
77Das
findet sich bei dem Dilthey-Schüler und Urvater der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Herman Nohl: Theorie der Bildung. (1933) jetzt in: H.N.: Die pädagogische Bewegung und ihre Theorie. Frankfurt a. M. 81978, S. 105–220, zit. S. 140 und die Ausarbeitung der These S. 140– 145.
25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung …
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Heydorns disjunkten Konstruktionen nicht genug tadeln konnten, erhebt Blankertz diese These sogar in den Status der basalen Annahme aller Theorie der Erziehung, die zugleich damit auch erklärt, wie individuelle Bildung möglich ist: „Darin sehe ich eine Geschichtsphilosophie der Erziehung, ja die grundlegende Wahrheit einer jeden Wissenschaft von der Erziehung, die diesen Namen verdient.“ Und gegen alle naheliegenden Einwände, die gerade die Geschichte von Bildung und Erziehung im 20. Jahrhundert und z. B. in zwei deutschen Diktaturen angesichts von Indoktrination und Überwältigung der Lernenden bereithalten, legt Blankertz noch nach, und das eröffnet die bildungstheoretische Fragestellung: „Der emanzipatorische Charakter der Erziehung ist auch dann gegeben, wenn die Erwachsenen, wenn unter politischem, religiösem oder anderem weltanschaulich bedingten Druck die Pädagogen, Erzieher und Lehrer, gehalten sind, nur die Bewahrung des Vorgegebenen zu wünschen, nur Gehorsam, Einübung, Nachahmung und Nachfolge zu verlangen. Denn auch dann liegt das Ziel darin, daß der Nachwuchs schließlich das Tradierte selbständig, auf sich selbst gestellt, in eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung der dann durch Außenwirkung eintretenden, im einzelnen nicht vorhersehbaren strategischen Lagen verwaltet, interpretiert und verteidigt.“ Allerdings, die empirische Identifikation dieses so dramatisch akzentuierten eigenständigen Potentials von Bildungs- und Erziehungsprozessen ist nicht einfach, jedenfalls dann, wenn man Blankertz liest: „Wie das inhaltlich aussehen wird, kann niemals vorhergesagt werden,“ – das wird noch Zustimmung finden, weil es ja die bekannte Tatsache der Unplanbarkeit von Bildungsprozessen noch einmal bekräftigt. Aber die Fortsetzung dieser These, dass dieser Prozess „darum prinzipiell nicht operationalisierbar“ sei, unterschätzt die Kreativität humanwissenschaftlicher Forschung. Blankertz selbst ist sich, der methodischen Probleme der Forschung ungeachtet, aber dann über die Wirkung der von ihm stilisierten Prozesse aber ganz sicher: „Gleichwohl ist ebenso eindeutig festzustellen, daß, wer in die pädagogische Verantwortung eintritt, unter den jeweiligen historischen Bedingungen für die Mündigkeit des Subjekts arbeitet – ob er das will, weiß, glaubt oder nicht, ist sekundär.“78 Selbstorganisation bleibt offenbar auch hier, wie in der Tradition, eine weiterhin höchst aufklärungsbedürftige Wirkungshypothese. Dabei muss man den aus den starken Annahmen über die Eigenlogik der pädagogischen Interaktion gespeisten pädagogischen Optimismus nicht unbedingt teilen, aber die Grundüberzeugung kann man sehen und als
78Blankertz: Kritische Erziehungswissenschaft. 1979, zit. S. 39–40, Herv. von mir, H.E.T.; zur Diskussion der Thesen auch Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar 1988, bes. S. 53 ff. Gruschka liest diese Behauptungen aber primär als Indiz für das Empiriedefizit einer gegenüber der Erziehungswirklichkeit immer noch zu optimistischen Pädagogik, die „trotzig auch gegen widrige Bedingungen zu versöhnen“ (S. 60) suche, was im Lichte kritischer Theorie, also für Gruschka, nicht zu versöhnen sei.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
empirisch zu prüfende Hypothese lesen,79 dass selbst pädagogisch konstruierte, insofern auch fremdbestimmte Welten die Selbstkonstruktion des Subjekts nicht per se unmöglich machen, wie man das bei anderen Vertretern kritischer Bildungstheorie lesen kann, sondern eher produktiv provozieren. Blankertz hat die besonderen Qualitäten der Erziehungswirklichkeit nicht weiter diskutiert, aber im Rückblick auf seine Theorietradition, konkret auf Nohl, kann man deutlich erkennen, dass hier auch Annahmen über die Selbstorganisation einer spezifischen Welt regieren, der schließlich Kausalität zugeschrieben wird. Bei Nohl ist die „Erziehungswirklichkeit“, wie er schon 1933 erläuterte, „der wahre Ausgangspunkt für eine allgemeingültige Theorie der Bildung.“80 Nohl erläutert „die Tatsache der Erziehungswirklichkeit“ dann freilich nicht in der Radikalität wie Blankertz. Einerseits beschreibt er sie nach ihrer Systemlogik, also höchst modern, wenn er sie als ein ausdifferenziertes „Kultursystem“ betrachtet, das als „Zusammenhang von Leistungen“ in eigenen „Einrichtungen, Organen und Gesetzen“ selbstreflexiv in seiner Praxis bedeutsam und wirksam ist, und zwar „unabhängig von den einzelnen Subjekten, die in ihm tätig sind, und von einer eigenen Idee regiert, die in jedem echt erzieherischen Akt wirksam ist und doch wieder nur faßlich wird in ihrer geschichtlichen Entfaltung.“ Ein wesentliches Strukturmerkmal dieser Welt ist für ihn die „Doppelseitigkeit von pädagogischem Erlebnis und pädagogischen Objektivationen“, also nicht allein die Form der Interaktion, sondern eine, wie man übersetzen könnte, emergente Realität, die immer schon die Ebenen von Interaktion, Organisation und Gesellschaft präsent hält, und damit ermöglicht, wie er unterstellt, was die gesellschaftliche Erwartung an dieses System ist, die Gleichzeitigkeit von Individuierung und Vergesellschaftung im Prozess des Aufwachsens. Nohl charakterisiert diesen Zusammenhang als die „Grundantinomie des pädagogischen Lebens“ (127), die bei ihm – anders als bei Blankertz – allerdings erst durch die bewusste Praxis des „pädagogischen Verhaltens“ zu einem wünschenswerten Ergebnis führt, wenn und weil der Erzieher das „pädagogische Kriterium“ zur Geltung bringen kann, die Erwartungen von Welt so zu transformieren, dass sie die aktuellen Handlungsmöglichkeiten des lernenden Individuums erreichen und zugleich erweitern. Es ist deshalb doch die pädagogisch-professionelle Kompetenz des Lehrers/Erziehers durch die Bildung möglich wird, auch wenn Nohl weitere „Bildungsformen“ nennt, u. a. die „Selbstausbildung durch das Leben“ (180). Bei Blankertz dagegen wird dieser
79Dafür
plädiert jetzt, u. a. im Rückgang auf Blankertz, Johannes Drerup: (Re-)Konstruktion praxisinhärenter Normen. Zur Eigenstruktur pädagogischer Rechtfertigungsverhältnisse. In: Zeitschrift für Pädagogik 62 (2016). S. 531–550. 80So Nohl: Theorie der Bildung. (1933), 81978, zit. S. 119, auch für die im Folgenden zitierten Bemerkungen Nohls.
25.4 Elemente einer theoretischen Grundstruktur der Rede von Bildung …
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pädagogisch-professionelle Aspekt im Begriff der „pädagogischen Verantwortung“ zwar angedeutet, aber die Eigendynamik der Struktur doch stärker gedacht als in der Tradition. Das Kausalitätsproblem kennt damit mehrere Lösungen, die Eigenlogik der pädagogischen Situation und die Kompetenz des Pädagogen und die ihm zuschreibbaren Konsequenzen seines Handelns, aber auch die Praxis der Individuen selbst und ihre Formen des lernenden Umgangs mit Welt. Entsprechend werden in aktuellen Debatten auch weitere Formen der Kausalität unterschieden. Für Bildungsprozesse gelten dann immer neu die historisch schon behaupteten Formen der „praktischen oder ästhetischen Kausalität“ als zentral. Sie folgen der Logik einer Praxis und ihrer je individuellen Erfahrung und Aneignung, abgegrenzt und unterscheidbar von der naturhaften, der „wissenschaftlich-theoretischen“, und „moralischen“ Kausalität.81 Die unter schiedlichen Handlungsfelder der organisierten Pädagogik wiederum, z. B. in Didaktik oder Unterrichtsforschung setzen auf andere Strategien, etwa das je individuelle Lernen in einem Lehr-Lern-Kontext, selbst noch unterscheidbar von den systematischen Annahmen im dominierenden Modell der empirischen Bildungsforschung, das in einem Angebots-Nutzungs-Modell denkt, aber die Ko-Konstruktion des Prozesses zwischen Lehrenden und Lernenden ebenso ausblendet wie die autonome Logik von Bildungsprozessen. Bildungstheoretisch oder subjekt- und biografiebezogen denken diese auf organisierte Pädagogik fixierten Theorien also nicht. Sie erreichen auch nicht die Radikalität der Blankertzschen Hypothesen oder der Herbartschen Annahmen über die „ästhetische Anschauung“ – aber sie haben den Vorzug der leichten Messbarkeit und der korrelativen Analysen. Insgesamt werden aber mit einer primär erziehungstheoretischen Modellierung und in der Praxis der Pädagogisierung Wirkungsfragen in mehrfacher Hinsicht reduktionistisch gefasst, jedenfalls dann, wenn man in bildungstheoretischer Perspektive fragt und an den subjektiven Formen des Umgangs mit Welt interessiert ist. In der Supposition ihrer Wirkung fingieren die Pädagogen nicht selten ja auch nur die Erfahrung ihrer eigenen Machtlosigkeit. Dabei räumen sie in ruhigen Stunden die Grenzen ihres eigenen Handelns durchaus ein, pointiert:
81Schon
früh dazu Dietrich Benner: Die Pädagogik Herbarts. Eine problemgeschichtliche Einführung in die Systematik neuzeitlicher Pädagogik. Weinheim/München 1986, bes. S. 58 ff. mit Betonung der „praktischen oder ästhetischen Kausalität“. Benner hat das jüngst noch einmal aufgenommen und auf aktuelle Forschungsprobleme bezogen, vgl. D.B.: Über drei Arten von Kausalität in Erziehungs- und Bildungsprozessen und ihre Bedeutung für Didaktik, Unterrichtsforschung und empirische Bildungsforschung, In: ZfPäd 61(2018)1, S. 107–120, parallel erschienen zu einer Rekapitulation der angelsächsischen handlungstheoretischen Debatte und systemtheoretischer Überlegungen bei John Bednarz, Jr.: Causality, Technology and Instruction. In: Zeitschrift für Pädagogik 64(2018)1, S. 394–410.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
„Lernen ist resistent gegen Erziehung.“82 Das wiederum ist eine Erfahrung, die im Rekurs auf Bildungsprozesse der Subjekte sehr gut erklärbar ist. Bildungstheoretisch kommen Pädagogen deshalb eher zu ihrem Recht als nur in der Fixierung auf die pädagogische Organisation und deren Erwartungen auf spezifische Ergebnisse und den meist nur gemessenen engen outcome im Prozess. Wenn sich die Erziehungstheorie der Problematik der Form der Erfahrung im Prozess erinnert, lernt sie deshalb nicht nur, dass Bildung ihre eigene Form hat, sondern auch, dass im Prozess der Konstruktion von Bildung eine eigene Form erzeugt wird, und dass dann auch gilt: „Form erzieht“. Bildungstheorie und Erziehungsforschung können sich insofern wechselseitig befruchten, wenn sie die Eigenlogik von Bildungsprozessen beobachten und nicht zu rasch der pädagogischen Praxis Wirkungen zuschreiben, die sich erst der Aktivität der Subjekte verdanken. Die Defizite in den Wirkungsannahmen zeigen sich auch, wenn die Dynamik im Prozess naturhaft erklärt wird, z. B. über „Begabung“. Aber Bildungsprozesse verdanken sich mehr als einem Faktor und die Konstitutionsprozesse einer Biografie lassen sich erst in der Formel angemessen verstehen, die sich schon bei Pestalozzi findet, wenn er den Menschen als Produkt „seiner Natur, seines Geschlechts und seiner Selbst“83 interpretiert. Diese triadische Referenz – immer empirisch interpretierbar – hat bis heute auch gegenüber dualen Schematisierungen, wie sie für die Determinanten des Aufwachsens selbst in den Humanwissenschaften durchaus im Schwange sind, eindeutige Vorzüge. Dualisierend wird der Mensch z. B. im Spannungsfeld von ‚Anlage vs. Umwelt‘ konstruiert. Zumal im Kontext von Debatten über „Begabung“ – als die im Prozess des Aufwachsens vermeintlich zur Geltung kommende Natur des Menschen – ist diese binäre Codierung beliebt gewesen, bis hin zu dem politisch instrumentalisierten Versuch,84 die Anteile von ‚Erbe‘ und damit von 82Diese
Formulierung des ersten Grundgesetzes der Erziehung verdanke ich den immer belehrend-bildenden Gesprächen mit Klaus Prange! Zum Thema: Klaus Prange: Provoziertes Lernen. Zu den Aufgaben des Erziehens und der Intransparenz des Lernens. In: Gabriele Strobel-Eisele/Albrecht Wacker (Hrsg.): Konzepte des Lernens in der Erziehungswissenschaft. Phänomene, Reflexionen, Konstruktionen. Bad Heilbrunn 2009, S. 45–55. Dort bekräftigt er erneut und mit sehr guten Argumenten, „dass wir mehr und anderes lernen, als sich unsere Erzieher für uns ausgedacht haben“ (S. 55) – und dass weder die pädagogisch-psychologische Lernforschung noch die Neurologie oder gar die Neurodidaktik dieses Problem aufgelöst haben oder gar Strategien zu seiner systematischen Vermeidung anbieten können. Schließlich, an die Stelle der „Erzieher“ kann man mit gutem Recht und in aller Ruhe auch das „gesellschaftliche Curriculum“ setzen, dem wir biografisch ausgesetzt sind. 83Johann Heinrich Pestalozzi: Abendstunde eines Einsiedlers. – im Übrigen: „Geschlecht“ bedeutet hier ‚Gesellschaft‘, nimmt nicht etwa das gender-Thema vorweg. 84In den bildungspolitischen Kämpfen Großbritanniens nach 1945 wurden vom Psychologen Cyril Burt, der ideologisch den Konservativen nahestand, sogar Daten der Zwillingsforschung gefälscht, um gegen Umwelt-Argumente die Rolle von Natur und Vererbung stark zu machen; aber Begabungsdebatten waren auch später ideologisch anfällig, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Begabung – eine Kontroverse zwischen Wissenschaft und Politik. In: D. Lemmermöhle/M. Hasselhorn (Hrsg.): Bildung – Lernen. Humanistische Ideale, gesellschaftliche Notwendigkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse. Göttingen 2007, S. 117–145.
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‚Anlage‘ und ‚Natur‘ gegenüber der Rolle von Umwelt zu quantifizieren und gegen pädagogisch-politische Reformprogramme die vermeintlich unausweichlich dominierende Rolle der Gene zu bekräftigen. Solche Gewichtungs- und Erklärungsversuche für die Wirksamkeit der Natur sind inzwischen überholt, weil sich erst aus der „Interaktion“ von ‚nature‘ und ‚nurture‘ die Genese und Form individueller Fähigkeiten erklären lassen, und auch, weil wir aus der bildungstheoretischen Tradition wissen, dass das „Selbst“ ein eigener Faktor in diesem Spiel ist. Die Wechselwirkung mit Welt als eine Herausforderung eigener Art für das Subjekt wird, im Ergebnis, mit all diesen Erklärungen eher rhetorisch beansprucht als schon – jenseits der pädagogisch-psychologisch dominierenden, lerntheoretisch fundierten Forschung – auch in einer eigenen Forschungspraxis methodisch überzeugend nachgewiesen und erklärt. In der Diskussion der theoretischen Annahmen und forschungsmethodischen Prämissen der biografischen Forschungen zumal innerhalb der erziehungswissenschaftlich engagierten Bildungstheorie hatte sich schon gezeigt85 dass „Welt“ für die Individuen immer neu zwingende Anlässe für neue Formen der Selbstkonstruktion präsentiert, und auch die immer neue Überprüfung der bereits erworbenen Muster der Konstruktion des Selbst herausfordert. Man wundert sich allerdings, warum kritische Bildungstheoretiker nur die von ihnen erwünschten und/oder akzeptierten Veränderungen als legitime, auch der Qualität von Bildung zurechenbare Veränderungen anerkennen wollen. Die Vielfalt der Erfahrungen lässt sich nicht systematisch vorab nach Positivität oder Negativität als wünschenswert oder problematisch sortieren, wie es Pädagogen auch versuchen, denn Lernprozesse, unausweichlich Anlass für Verhaltensänderungen, finden immer statt – wenn auch mit ungewissem Ausgang. Die Praxis von Bildung ereignet sich als Zumutung und Herausforderung durch die Welt und sie wird auch als Leiden an der Welt erfahren. Die „Welt“ und ihre je eigene Wirkungsweise, das zeigen diese Forschungen ebenfalls, ist aber in der offenkundig hoch bedeutsamen Varianz, in der sie den Subjekten begegnet, selbst noch bestimmungs- und erklärungsbedürftig. Sie ist weder wie selbstverständlich präsent noch konsensual bestimmt. Humboldt erwartete von „Welt“ vor allem, dass der Mensch auf das ganz Andere, auf den „Nicht-Menschen“ als den „Gegenstand“ der Wechselwirkung trifft, z. B. auf Sprache; denn sie gilt ihm als eine solche Welt, zwar vom Menschen erzeugt, aber zugleich eigenlogisch ihm gegenüber existent. Fichtes Bildungswelt dagegen war eine Sozialwelt, denn für ihn konnte der Mensch nur in Wechselwirkung mit dem Menschen gebildet werden. Die späteren Weltbegriffe von Bildungstheorien schließen soziale Welten, die Idealität und Materialität von Kultur und die Eigenwelt von Herausforderungen, wie sie z. B. „Arbeit“ bedeutet, d urchaus ein. Sie indizieren
85Zur
Diskussion dieser Arbeiten im Einzelnen und zum Nachweis der Literatur verweise ich hier pauschal auf die Ausführungen in Kap. 16 sowie die Detailangaben zur Literatur, die dort genant wird.
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25 Historische Konstanten in der Rede von Bildung
damit ebenfalls, dass sich die Wirklichkeit der Bildung – als Wechselwirkung mit differenten Welten – nicht schon prinzipientheoretisch erschließt, sondern erst in der Erfahrung der Geschichte des Menschen selbst. Diese Offenheit gilt auch für die erwarteten Ergebnisse des Bildungsprozesses. Auch die „Höherbildung der Menschheit“, Kants vielzitierte Formel, wurde durchaus in großer Variation gedacht, schon für die Gattung anders als für die einzelnen Subjekte. Für Humboldt war unbestreitbar, dass jedes „Geschäft“ seine eigene „Vollkommenheit“ kennt. Goethe erwartete in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ auch nicht große Visionen, das waren für ihn nur „Narrenpossen“ der erhabenen Rede über „allgemeine Bildung“. Er erwartet ganz konkrete Kompetenzen, „daß ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein anderer in der nächsten Umgebung“.86 Insofern gilt auch: Es gibt keinen Konsens in den Erwartungen an Bildungsprozesse, wissens-, und themen- oder prozessund aufgabenbezogene Fähigkeiten sind ebenso gemeint wie Kompetenzen, die sich, von der ursprünglichen Erwerbssituation abgelöst, auf neue Situationen und Herausforderungen übertragen lassen. Zwar wird immer dauerhafte Veränderung des Menschen erwartet, Arbeit an seiner Individualität, aber das impliziert, wie die Forschung bestätigt, z. B. nicht schon die eindeutige Bevorzugung „allgemeiner“ gegenüber „spezieller“ oder beruflicher Bildung, sondern nur Vielfalt. Sie reicht von der Beförderung des Glücks aller durch revolutionäre Veränderungen bis zu Stilisierungen des Wahren, Guten und Schönen, von Anmut und Würde, Innerlichkeit und ästhetischer Erfüllung im Spiel. Vom Ergebnis her gedachte Optionen über wahre Bildung müssen also forschend und theoretisch vorab so wenig entschieden werden wie die unterschiedlichen, auch die diversen kulturkritischen, Annahmen über die Welt und die damit gegebenen oder ausgeschlossenen Möglichkeiten der Bildung des Menschen. Das gehört selbst zu den theoretischen und empirischen Fragen der Geschichtlichkeit der Bildung und der Lernfähigkeit ihrer Theorie – auch wenn sie sich gelegentlich dagegen sperrt, die Veränderungen der Bildungs-Wirklichkeit zu sehen. Die Bedeutsamkeit und Wirkung der Welt und die Ergebnisse der Bildung lassen sich nicht philosophisch oder gar in Bildungskritik bestimmen, sondern bedürfen der Realitätsvergewisserung. Zu den in der Forschung so offenen wie faszinierenden Problemen gehört dann die überlieferte bildungstheoretische Überzeugung, dass es – in ästhetischer Erfahrung – so etwas wie zwanglos-zwingende Nötigung gibt, nicht nur als philosophische Spekulation, sondern als beobachtbares Phänomen, dem man Wirkung auch begründet, also – in welchen Praktiken immer – auch ‚messbar‘, wie in Forschung zu zeigen wäre, zuschreiben kann. Die Beobachtung der Bildungsprozesse und ihre Erklärung sind also unentbehrlich, Theorie und Empirie der Bildung gehören zusammen. Diese Einheit findet sich auch in der Rede von Bildung von Beginn an, sie hat immer – beobachtend und erklärend, kontrafaktisch oder normativierend – einen deutlichen Bezug
86Goethe:
1821/1829, Hamburger Goethe-Ausgabe, Bd. 8, S. 282.
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zu ihrer jeweiligen Gegenwart und sie existiert immer, eingestanden oder nicht, in Aussagensystemen mit dem Anspruch des Realitätsbezugs und der empirisch prüfbaren Geltung. Man muss dafür nur Humboldt über das 18. Jahrhundert oder Marx, Simmel oder Max Weber lesen, um sich zugleich auch von der Illusion zu verabschieden, dass mit Bildung allein die Individualität des Menschen und die je einzelne Subjektivität zum Thema wird. Nicht nur dass Marx mit der These provoziert, dass der Mensch nicht mehr sei als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, aber dennoch seine Geschichte selbst macht (wenn auch nicht immer aus freien Stücken). Die Wechselwirkung von Mensch und Welt hat seit Beginn in ihrer Realität und Reflexion neben der individuellen Seite eine gesellschaftliche Form und Normativität, in einem Set von kollektiv geltenden Erwartungen und normativen Ordnungen, Institutionen und Organisationen, Zeitmustern und sozialen Strukturen, die den Lebenslauf des Menschen als Bildungsgang überhaupt erst konstituieren. Diese biografische Seite, in der sich die gesellschaftliche Form des Bildungsprozesses in der individuellen Dimension ereignet, ist selbst soziale Struktur und in Institutionen mit ihren je eigenen Herausforderungen präsent, diachron z. B. in der Sequenz von Familie, Schule, Arbeit und Beruf oder synchron in der Gleichzeitigkeit individueller und ‚allgemeiner‘ Artikulation des Weltbezugs z. B. in der Sprache. In ihrer Dynamik wird Bildung in der Beziehung von Mensch und Welt als ein sich selbst aufbauender Prozess gedacht, in der klassischen Theorie z. B. systemund funktionsspezifisch als Stufung von Elementar-Bildung, Schulbildung und Universitäts- bzw. beruflicher Bildung, die basierend auf Unterscheidungsfähigkeiten und Kenntnissen über das Lernen des Lernens zur ‚Reife‘ des autonomen Weltzugangs führt. Auch die Unterscheidung der allgemeinen und speciellen Bildung haben hier ihre Deutung gefunden, gelegentlich biografisch umfassend in der Trias von grundlegender, beruflicher und lebenslanger allgemeiner Bildung geordnet. Ihrer Funktion nach bezeichnet diese gesellschaftliche Dimension der Bildung die soziale Tatsache, dass Gesellschaften wie unsere die Erwartung institutionalisiert haben, dass allgemeine – kognitive, soziale, moralische, instrumentelle, habituelle – Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation generalisiert werden müssen, beginnend bei Kulturtechniken über kulturelle Basiskompetenzen bis zu spezifischen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Tugenden und Haltungen, wie sie sich in einem fest institutionalisierten „gesellschaftlichen Curriculum“ manifestieren. Auch das ist ein Thema, das empirischer Forschung zugänglich und bedürftig ist, nicht allein um die historisch-gesellschaftlich variierenden Erwartungen zu identifizieren, sondern auch, um die Wirkungen dieses Prozesses zu kennen und, in ethischer Perspektive, die Legitimität der damit implizierten Normen zu diskutieren. In diesen Theorie-Dimensionen – in den systematischen Annahmen über ein spezifisches Mensch-Welt-Verhältnis, die Formen seiner Determination und seinen Ort in der Welt, in ihrer Geschichte und in individuellen Biografien – kann man also einen Bildungsbegriff durchaus analytisch explizieren, im Anschluss an eine lange Reflexionspraxis und insofern vielleicht sogar mit dem Anspruch auf Konsens über einen trotz aller theoretischen Verzweigungen gemeinsam geteilten
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Bestand an Annahmen und Problemen. Das führt zugleich zu dem Befund, dass Bedarf an empirischer Erforschung so sichtbar wie unbestreitbar ist und damit auch die Anschlussfähigkeit einer solchen Theorie an weitere Forschung und an die Diskussionen der praktischen Philosophie, wie sie z. B. im Kontext von Bildungsgerechtigkeit aktuell intensiv geführt werden. Das zentrale Forschungsproblem dieses Konzepts ist ebenfalls eindeutig: „Wie ist Bildung möglich?“, das ist seit dem Ursprung der Humanwissenschaften die zentrale Frage, und zwar als Frage in allen Dimensionen, die das Modell impliziert: in der individuellen Konstruktion, biografisch, in und an spezifischen Welten, im Blick auf die Varianz von Prämissen und Ergebnissen, die erwarteten und die erwünschten, die nichtintendierten und kontraintentionalen. Die Form der Frage deutet zugleich an, dass nicht selbstverständlich ist, was erwartet wird und sich ereignen kann – und schon deshalb sind Theoriebildung und Forschung für jede ernsthafte Bildungstheorie notwendig. Als Resümee dieser Zusammenfassung theoretisch-thematischer Annahmen, systematischer Argumente und Hypothesen kann man deshalb festhalten: Bildung bezeichnet den Prozess der Selbstkonstruktion von Subjekten, in Gesellschaften wie unseren unter der scharfen Erwartung, Individualität – eine historisch-kulturell spezifische Subjektform – auszubilden, nicht etwa ‚Privatheit‘ zu kultivieren. Bildung bedeutet im Prozess – wie das Aufwachsen überhaupt – insofern immer einen Prozess der Selbstorganisation, denn Lernen und Verhaltensänderung können nicht stellvertretend, durch andere geschehen. Auch „Transformation“ als Merkmal von Bildungsprozessen, wie es z. B. bei Koller vorgeschlagen wird, ist deshalb angesichts der Konfrontation mit etwas Allgemeinem, dem Subjekt noch Äußerlichen, „in Wechselwirkung mit der Welt“ so alltäglich wie unausweichlich. Das bedeutet zugleich, dass Vergesellschaftung notwendig die andere Seite der Bildung darstellt, in der Varianz der Welten und der Aneignungsformen der Individuen. Diese Gleichzeitigkeit von Individuierung und Vergesellschaftung bezeichnet insofern auch die zentrale, explizit, schon in Gesetzen, artikulierte wie implizite, den Praktiken inhärente Normativität dieses Prozesses, eine Normativität, die man dem Prozess nicht erst philosophisch oder kritisch-beobachtend hinzufügen muss, die vielmehr gesellschaftlich schon präsent ist und unausweichlich zu einer Stellungnahme herausfordert, mit der moralische Bildung dann beginnt. Das ist auch in Gesellschaften wie unseren eine Norm, die ohne Widerspruch zum Bild eines selbstbestimmten Subjekts ihre Legitimität darin hat, dass die gesellschaftliche Erwartung an die Handlungsfähigkeit ihrer Mitglieder selbst und jenseits aller Emphase ebenfalls von einem autonomen Subjekt, z. B. einer zurechnungsfähigen, selbstverantwortlichen „Person“ im rechtlichen Sinne, ausgeht. Kritische Philosophen, die solche Normativität allein ihrer eigenen Reflexionspraxis als exklusives und genuines Thema zuschreiben, zeigen deshalb im Grunde nur, dass sie selbst gut vergesellschaftet sind, also an der Norm reflektierend teilhaben, die gesellschaftlich schon gilt. Das hier explizierte Verständnis des Themas, der Grundstruktur und der offenen Zonen der theoretischen Argumentation mit „Bildung“, ihrer Annahmen und Prämissen, liefert die Elemente, die einer weiteren Systematisierung und d. h. dann
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auch einer Theoretisierung in vereinheitlichender Absicht zugänglich sind. Die in ihrer eigenen Vielfalt schon existente und der Analyse zugängliche Grundstruktur der Reflexion über Bildung in ihrer großen Vielfalt belegt deshalb auch, dass in der Rede von Bildung nicht etwa die Explikation des Unsagbaren versucht wird, und dass hier auch nicht die Programmatik von Erlösungsformeln und -formen der Gattung oder die Moralisierung oder Verdammung der Welt oder die Konstruktion politischer Programme z. B. vor dem Hintergrund marxistischer Formeln oder utopischer Erlösungsphantasien das alleinige Thema sind. Man kann, theoretisch, auf Bildung als eine soziale Tatsache rekurrieren, auf eine in modernen Gesellschaften unausweichliche Tatsache, der sich Individuen und Kollektive, aber auch Institutionen gegenübersehen, eine Tatsache, die man aus der Distanz und d. h. ohne einen normativen Vorabkonsens in ihrer Struktur und Wirkung auch methodisch kontrolliert beobachten kann. Dann kann man immer noch im Modus praktisch-philosophischer Fragen erwägen, was denn die erwünschte, die wahre Bildung ist, und allerdings auch prüfen, ob allein „Kritik“, als Befähigung der Individuen oder Struktur einer Praxis, das entscheidende Unterscheidungsmerkmal von „wahrer Bildung“ ist. Das gehört zur Systematisierungsarbeit, der man die Rede von Bildung zugänglich machen kann und angesichts ihrer so häufig nur irritierenden Vielfalt auch zugänglich machen muss. Können „Theorien der Bildung“, wenn es sie denn gibt, auch darauf eine Antwort geben, umfassend, einheitsstiftend, einem theoretischen Gedanken auch in den Details der Forschung unterworfen? Kann man das als Kriterium für die Qualität der Theorie nicht nur vorschlagen, sondern auch eingelöst finden? Gibt es diese Theorie der Bildung heute schon?
Kapitel 26
„Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
Die Frage, ob eine „Theorie der Bildung“ möglich und vorhanden ist, mag angesichts der historisch verfügbaren Literatur zunächst einen eher rhetorischen Charakter haben. Es gibt allein in der einschlägigen deutschen Literatur (erst später auch außerdeutsch) seit dem frühen 20. Jahrhundert und bis heute immer neue Exempel, die eine solche „Theorie“ explizit versprechen, noch ungeachtet der zahlreichen Anstrengungen zu einer „Philosophie“ von Bildung, die ja ebenfalls als Theorieversuche rekonstruierbar sind.1 Die Gattung existiert also, die Ambition ist präsent, im Allgemeinen oder in spezifischen Attribuierungen des Theorietypus, z. B. als „kritische Bildungstheorie“, oder über die unterstellte Spezifik von Bildung selbst qualifiziert, dann z. B. als „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“. Es gibt also die Praxis des Versuchs, die Reflexion über Bildung als Theorie in spezifischen Systematizität zu präsentieren. In dieser Praxis wiederum, deshalb lohnt die scheinbar nur rhetorische Frage nach der Theorie doch, gibt es nicht nur unterschiedliche Grade von Systematizität und Theoretizität, sondern in der Vielfalt der Versuche erneut auch eine Fülle an Kontroversen. „Theorie der Bildung“ ist zwar als Praxis existent, aber zugleich der distanzierenden Beobachtung bedürftig.
1Diesen
Begriff nutzt z. B. ein Sammelband mit bildungsphilosophischen Analysen seit der idealistischen Epoche: Andreas Dörpinghaus/Andreas Poenitsch/Lothar Wigger: Einführung in die Theorie der Bildung. Darmstadt 2006. Erst aktuell wird erneut eine „Einführung“ vorgelegt, die ihr Thema allerdings im Plural aufnimmt: Markus Rieger-Ladich: Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg 2019.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_26
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26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt Anstrengungen zur expliziten Konstruktion einer Theorie der Bildung lassen sich zunächst von den breiten Versuchen einer Analyse, Kritik oder Rekonstruktion der Bildungsreflexion unterscheiden, die es z. B. im Kontext der Historischen Semantik2 gibt, geordnet nach Epochen und Autoren, Themen und Referenzen. Vergleichbare Ordnungsversuche bietet auch die Kulturphilosophie, selbst wenn Bildung dort nicht mehr wie selbstverständlich als eigener Begriff vertreten ist.3 Das ist er erwartbar schon anders in den eher traditional orientierten Handbuchbeiträgen zur Erziehungswissenschaft,4 in denen Bildung in breiter Referenz und als „Grundbegriff der Erziehungswissenschaft“ präsent ist, oder ganz intensiv als Thema der „Bildungs- und Erziehungsphilosophie“ selbst dann behandelt wird, wenn der Begriff als Begriff selbst nicht geklärt wird.5 Bildung wird allerdings
2Schon früh Ernst Lichtenstein: Bildung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, 1971, Sp. 921–937; Rudolf Vierhaus: Bildung. In: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508–551, aus jüngerer Zeit u. a. Gerrit Walther: Bildung. In: F.Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 223–242. Er unterscheidet für den „Begriff“ die folgenden „Grundzüge“: „Elitephänomen … Zwischen Religion und Säkularisierung … weibliche Bildung … Institutionalisierung“, nach den Epochen die Zeit vom „Humanismus“ bis ins „Bürgerliche Zeitalter“; „Bildungsbürgertum“ wird separat behandelt (A. Fahrmeir, Sp. 242– 246), ebenso wie „Bildungspolitik“ (G. Walther, Sp. 246–252), „Bildungsreise“ (T. Grosser, Sp. 252–254), „Bildungsroman“ (Sp. 254–256) und „Bildungsverein“ (W. Hardtwig, 256–258). 3Bei Ralf Konersmann (Hrsg.): Handbuch der Kulturphilosophie. Stuttgart/Weimar 2012 wird „Bildung“ weder bei den thematischen Schwerpunkten noch bei der „Systematik der Übergänge“ oder in den „Begriffen“ behandelt, zu denen u. a. so alte Bildungsthemen wie „Entfremdung“ oder „Identität“ gerechnet werden, auch nicht in der „Einleitung“ des Herausgebers. Aber der Begriff findet sich natürlich im Sachregister und dann bei der Behandlung der klassischen Themen der Bildungsreflexion (u. a. Kultur, Kulturkritik, Philosophische Anthropologie, Rhetorik, Sprache, Erinnerung, Tradition, objektiver Geist, Identität, zweite Natur), zwar jenseits des grundbegrifflichen Status, aber als Bestätigung für die enge Verbindung von Bildung und Kultur. 4Exemplarisch: Winfried Böhm u. a. (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. 1, Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn usw. 2008, Teil II, Erziehungs- und Bildungsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Verankerung. 1. Abschnitt Begriffe: Kap. 2. Bildung, S. 209–311. Die Themen und Autoren sind dort: Bildung – Theorie der Menschenbildung (Benner/Brüggen); B. und Geschichtlichkeit (Böhm/Seichter), B. und Vernunft (Ruhloff), B. und Entfremdung (Koch), B. und Alterität (Lippitz), B. und Leiblichkeit, Körper und Leib (Molzberger), B. als pädagogischer Grundbegriff (Frost). 5Dieser zunächst etwas erstaunliche Befund gilt für Gabriele Weiß/Jörg Zirfas (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie. Wiesbaden 2020. Hier wird der Versuch unternommen, die Gesamtheit der Philosophie in der Bedeutung für Bildung und Erziehung zu erschließen und der „Konzeption des Handbuchs“ entsprechend ist die Binnengliederung über die Forschungsfelder der Philosophie strukturiert, konkret über Anthropologie, Ästhetik, Erkenntnistheorie, Ethik, Kulturphilosophie, Metaphysik, Politische Philosophie, Sozialphilosophie, Technikphilosophie, Wissenschaftstheorie, denen dann jeweils zentrale Begriffe zugeordnet sind. „Bildung“ und „Erziehung“ werden nicht separat begrifflich behandelt, aber sie sind natürlich als Thema präsent, wie eine Volltextsuche belegt, die für Bildung und Komposita mehr als 1500 Nennungen ergibt (mehr als zwei pro Seite) und für Erziehung nahezu 1100 – das Handbuch insgesamt macht das Thema zum Thema, allerdings nur in der Pluralität von Bestimmungen, nicht in einer systematisierenden Zentrierung.
26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt
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auch in anderen Abhandlungen nicht selten weniger systematisch geklärt als in der wiederkehrenden Form von „Bildung und …“ im Vertrauen auf die scheinbar hinreichend ordnungsstiftende Kopula eher zu anderen Begriffen relationiert und damit überlastet, als systematisch in seiner Eigenständigkeit entfaltet. Solche Ordnungsversuche finden sich auch im Kontext aktualisierter Bildungsforschung, dann z. B. in der „Philosophischen Bildungsforschung“6 oder bei „Handlungstheorien“.7 Der Begriff der Bildung wird auch in Einführungen und Lehrbüchern der Pädagogik und ihrer Subdisziplinen8 immer neu, wenn auch in variierender Bestimmung aufgenommen.9 Aber er ist sogar, wenn auch disziplinär modifiziert, also meist in Komposita, in Lexika oder Einführungen der Soziologie10 oder in
6Yvonne Ehrenspeck: Philosophische Bildungsforschung: Bildungstheorie. In: R. Tippelt/B. Schmidt (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. 3. Aufl. 2010, S. 155–169. In Barbara Friebertshäuser/Antje Langer/Annedore Prengel (Hrsg.): Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München 3. vollst. überarb. Aufl. 2010 fehlt dagegen der Begriff mit einem eigenen Lemma. 7Jochen Gerstenmaier: Philosophische Bildungsforschung: Handlungstheorien, In: Tippelt/ Schmidt 2010, S. 171–184. 8Anschauungsmaterial liefern Übersichtsdarstellungen und Handbücher, z. B. Winfried Marotzki/ Sandra Tiefel: Bildung. In: Fachlexikon Soziale Arbeit. Baden-Baden 72011, S. 117–120 (und der Begriffsraum reicht hier von „Bildungslandschaften“, „Bildungsökonomie“ und „Bildungspaket für Kinder → Regelbedarfsermittlungsgesetz“ bis zu „Bildungsurlaub“); auch Heinz Sünker: Bildung. sowie Michael Winkler: Bildung und Erziehung. Beide in: Hans-Uwe Otto/ Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Sozialarbeit Sozialpädagogik. 2., völlig überarb. Auflage Neuwied/Kriftel 2002, S. 162–168 bzw. 169–182 (in der ersten Auflage dieses Handbuchs fehlten beide Stichworte noch); oder – in signifikanter Koppelung – Georg Antor/Ulrich Bleidick: Bildung, Bildungsrecht. In: Dies. (Hrsg.): Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis. Stuttgart 2001, S. 6–14. 9In einem jüngst erschienenen „Lehrbuch der Erziehungswissenschaft“ werden Bildungsprobleme einerseits (4.3.) unter den Titeln „Die ‚gebildete Gesellschaft‘ und der ‚vergesellschaftete Mensch‘“, also durchaus in kontraintuitiver Attribuierung, als „Grundfragen der Erziehungssoziologie“ (S. 530 ff.) diskutiert (Norbert M. Seel/Ulrike Hanke: Erziehungswissenschaft. Lehrbuch für Bachelor-, Master- und Lehramtsstudierende. Heidelberg 2015). Aber eingangs werden auch, ganz traditionell, Erziehung und Bildung als die „Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft“ behandelt, und der Bildungsbegriff dann über die aus der allgemeinen Didaktik seit Klafki bekannten Spezifikationen erläutert, als „materiale“, „formale“ und „kategoriale Bildung“ (Schema, S. 19). 10Schon das „Lexikon zur Soziologie“ (W.Fuchs, u. a., Hrsg., 21978) kennt nur noch die gesellschaftlich relevanten Komposita, nicht mehr den Begriff allein. An anderer Stelle gibt es in der Soziologie nur noch den Verweis „Bildung → Pädagogische Soziologie“, z. B. bei W. Bernsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Reinbek 1972, Bd. 1, S. 117, äquivalent dem Verweis auf „Bildungssoziologie“ bei R. König (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 14, Religion-Bildung-Medizin. Stuttgart 1979, S. 85–237. G. Hartfiel: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1972 (u. ö.) ist auch hier mit einem eigenen Lemma „Bildung“ eine Ausnahme.
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26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
den Handbüchern der Pädagogischen Psychologie11 oder der Sozialisationsforschung12 vertreten. Jenseits solcher eher lexikalisch-semantischen Behandlung liegt aber z. B. aus der Perspektive der Soziologie auch ein Versuch der systematischen Dimensionierung der zentralen inhaltlichen Annahmen über Bildung vor. Dieser Versuch lohnt die Diskussion, weil er nicht nur die Nähe und Differenz zu pädagogischen Anstrengungen deutlich macht, sondern auch die Herausforderungen der Theoriearbeit erkennen lässt. Hans-Peter Müller,13 in seiner eigenen Arbeit als Kultursoziologe nah an Bourdieu und Weber und deshalb schon sensibel für das Bildungsthema, sieht in der Diskussion von „Idee, Funktion und Folgen“ von Bildung zunächst „einen positiv asymmetrischen Grundbegriff“. Er sei asymmetrisch, weil sich der Gegenbegriff nicht sinnvoll formulieren lasse, aber da könnte man nicht allein auf die Karriere der Rede von „Un“- oder „Halbbildung“ oder andere dichotome Konstrukte verweisen, sondern auch eine zu frühe Akzeptanz der Normativierung des Diskurses sehen. Gleichwie, die Dekomposition des Begriffs ist bei Müller grundlagentheoretisch angelegt, und – wie sich zeigen lässt – in einer Matrixstruktur operationalisierbar (wie nicht selten bei Soziologen). Müller unterscheidet „Momente“, und nennt dafür – die Argumente der Bildungsreflexion finden sich wieder – z. B. „etwas Gutes, etwas Wichtiges, etwas Wertvolles, etwas Distinktives“ (218), ferner „Dimensionen“, und dafür bemüht er ebenfalls eine vierfache Referenz, die sich ebenfalls den Überlegungen der Tradition sehr gut zuordnen lässt: „konstitutiv“ sei Bildung bezogen „auf Kultur“, „kognitiv auf Wissen“, „evaluativ auf Erziehung“ und „expressiv … in Erfahrung und Ausdruck“ fundiert. Schließlich werden „Funktionen“ unterschieden, und zwar, erneut in den bereits bekannten Referenzen vierfach geordnet, „konstitutiv“ für allgemeine Menschen- und individuelle Persönlichkeitsbildung, „kognitiv“ für Fach- und Berufsbildung, „evaluativ“ auf „komplexe und kritische Professionsmoral“ hin orientiert, u. a. auf „Zivilität, Toleranz und Anerkennung … Religionen, Moralen, Lebensführungsweisen“, „expressiv“ erneut auf Lebensführung, und aktuell jetzt auch als
11Andreas
Krapp/Bernd Weidenmann (Hrsg.): Pädagogische Psychologie. 4. vollständig überarb. Aufl. Weinheim 2001 nennen im Register zwar Komposita von Bildungsaspiration bis Bildungssystem, aber nicht Bildung allein. 12Früh: Klaus Hurrelmann/Dieter Ulich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel 1980; erw. bei Klaus Hurrelmann/Matthias Grundmann/Sabine Walper (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel 7. vollständig überarb. Aufl. 2008, 8. Aufl. 2015. 13Hans-Peter Müller: Bildung. Idee, Funktionen und Folgen eines positiv asymmetrischen Grundbegriffs. In: Klaus Vieweg/Michael Winkler (Hrsg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn (usw.) 2012, S. 213–224, Nachweise daraus in Klammern im Text.
26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt
563
Tab. 26.1 Bildung – Vorschlag für den „Kern“ des Begriffs. (In Anlehnung an Müller 2012) Momente Dimensionen Funktionen
Konstitutiv „Gut“ Kultur
Kognitiv „Wichtig“ Wissen
Evaluativ „Wertvoll“ Erziehung
Menschen- und Persönlichkeitsbildung
Fach- und Berufsbildung
Komplexe und kritische Professionsmoral
Expressiv „Distinktiv“ Erfahrung und Ausdruck Vorbereitung auf Lebensführungsweisen
orbereitung auf eher „nomadische14 Lebensführungsweisen“, d. h. orientiert an V dem Ziel, Mobilität, Diversität und Frustrationstoleranz als Verhaltensstandards anzuerkennen. Stellt man Müllers Vorschlag in einer Mehrfeldertafel dar (vgl. Tab. 26.1), wird einerseits belegt, dass eine theoretische Konzeptualisierung des Begriffs ohne disziplinäre Bindung an das pädagogische Milieu durchaus möglich ist, auch so, dass sich in den Zellen der Matrix die Themen spezialwissenschaftlicher Forschung identifizieren lassen. Die Matrix belegt allerdings auch, dass andere Systemreferenzen neben Kultur und Erziehung, etwa Prozesse der Selbstkonstruktion im Lebenslauf, also informelle Bildung oder Lernen, kaum hinreichend gewichtet sind. Arbeit kommt nur über Professionen vermittelt vor, Macht gar nicht, Politik ebenfalls nicht, Medien allenfalls implizit. Hier dominiert, ganz traditional, die – historisch konstante? – Referenz auf die Konstruktion einer wünschenswerten Person, insofern ein klassischer, wenn natürlich auch nicht alternativloser,15 Vorschlag zur Verwendung des Begriffs und Konzepts der Bildung.
14Weil
der Begriff vielleicht nicht allseits in Gebrauch ist: Nomadische Lebensführungsweisen sind im Gegensatz zu gemeinschaftlichen, solche, die, zunehmend stigmatisiert, bestimmten Gruppen zugeschrieben und mit Unzuverlässigkeit, eingeschränkter Bildung, unklaren Einkommensquellen bis zum Verdacht der Kriminalität, hygienischen Defiziten (etc.) versehen werden, so Ingrid Breckner: Wohnen und Wandern in nachindustriellen Gesellschaften. In: P.Döllmann/R.Temel (Hrsg.): Lebenslandschaften. Zukünftiges Wohnen im Schnittpunkt zwischen privat und öffentlich. Frankfurt a. M. 2002, S. 145–153. 15Dieter
Thomä: Nachwort des Herausgebers. In: Ders. (Hrsg.): Gibt es noch eine Universität? Zwist am Abgrund – eine Debatte in der Frankfurter Zeitung 1931–32. Konstanz 2012, bes. S. 183 f. plädiert z. B. für nur „zwei Paarungen“, die leicht als die traditionell bekannte Verknüpfung der Produkt- mit der Prozessdimension erkennbar sind. Als Produkt erwartet er „Kompetenzen“, und zwar in zwei Dimensionen, in der ersten „epistemisch“, als „Reflexion“ kognitiv ausgewiesen, und in der zweiten „moralisch“ qualifiziert, u. a. in der Referenz auf „Charakterbildung“ (etc.), insgesamt als „Orientierung“ durch Bildung verstanden. Die zweite „Paarung“ bezieht sich auf „den Bildungsprozess allgemein“ und die Bedeutung für die „Person“. Dann erwartet er vom Prozess, ganz klassisch, einerseits “Perfektibilität“, als „Entfaltung individueller Begabungen im weitesten Sinne“, und andererseits „Experimentalismus“, die Erfahrung und Erprobung der eigenen Möglichkeiten an und in der Welt.
564
26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
Aber, Müller spart vor allem die klassische Frage aus, wie Bildung möglich ist, er referiert auch nicht mehr auf ‚Natur‘ und auf anthropologische Argumente und auch der Anschluss an das gesellschaftliche Curriculum und die damit geforderte und zu sichernde Allgemeinheit, Gleichheit und Gerechtigkeit von Bildung wird ausgespart. Die Dekomposition der Bildungspraxis und -organisation überlässt er anscheinend den Pädagogen. Bildungsbegriffe, diese Differenz markiert Müller aber auch schon deutlich, haben ihre eigene historische Dynamik und damit identifizierbare Differenzen. Müller platziert sie aber nicht in dem „Kern“, den er hier expliziert (ohne die offenbar unterstellte Zeitlosigkeit zu begründen), sondern in einem Bereich, den er (mit Imre Lakatos) den „protective belt“16 des Begriffs nennt und konkret in einem semantischen Bestand platziert, den er als „angelagertes Bildungsgut“ bezeichnet. Solch historisch variables Bildungsgut stellen z. B. „kritischnormative Bildungsideen“ und „zeitdiagnostisch relevante Bildungsideen und Bildungsbegriffe“ dar (222), die auf die Frage antworten „Bildung wozu?“. Sie verdanken, so seine These, ihre „Entstehung“ je historischen Kontexten, einem dezidierten „‚Lebens‘-Rahmen“, der über Lebensformen, Chancen, Lebensführung und Lebensstil entscheidet und in eigenen „Sozialfiguren und Sozialpathologien der Gebildetheit“ (222) mündet. Müller nennt – mit Max Weber – die „Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz“ oder die „Bildungsphilister“, wie sie bei Nietzsche und seinen philosophischen und literarischen Zeitgenossen und Nachfolgern von Friedrich Paulsen bis zu Thomas Mann zum Objekt der Kritik geworden sind. Aktuell biete „der flexible Mensch“ ein solches Bild, und zwar je nach Perspektive als Sozialfigur und Sozialpathologie zugleich, wie auch „das unternehmerische Selbst“, das heute universell, selbst dem arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger, als Lebensform angesonnen wird, oder „der Netzwerkmensch“, der in Gesellschaft und Wissenschaft in vielfältigen Beziehungen lebt und arbeitet. Allerdings, Müllers Ordnungsversuch hat nicht nur seine Leerstellen, er ist auch in der Soziologie nicht konkurrenzlos. In einem Handbuch der Bildungsund Erziehungssoziologie, das eine Reihe klassischer Texte aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen mit neueren grundlagentheoretischen Überlegungen vereint, wird der Bildungsbegriff eher sozialpsychologisch bestimmt, nämlich als „Oberbegriff für Lern – und Entwicklungsprozesse, in denen Individuen ihre
16Imre
Lakatos hat damit (im Kontext der von Thomas Kuhn ausgelösten Debatte) erklären wollen, wie Theorien z. B. bei empirischen Einwänden gegen ihre Annahmen oder sogar bei Falsifizierung überleben. Lakatos hat dann, wie ich ergänzen will, eine Vermutung ausgesprochen, die auch für die Bildungstheorie zutreffen könnte: „Mit genügend Einfällen und etwas Glück lässt sich jede Theorie ‚progressiv‘ für lange Zeit verteidigen, selbst wenn sie falsch ist.“ (I.L.: Die Geschichte der Wissenschaft und ihre rationalen Rekonstruktionen. In: W. Diederich (Hrsg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 1974, S. 55–119, zit. S. 71).
26.1 Ordnungsversuche in pluridisziplinärer Vielfalt
565
Fähigkeiten und ihre Autonomisierungspotenziale entfalten“.17 Aber das ist in der Konzentration auf die „Autonomisierungspotenziale“ auch schon Theoriebildung in einem spezifischen normativen Referenzrahmen, näher an der kritischen Bildungstheorie als an der Beobachtungsperspektive der Kultursoziologie. Die allseits anerkannte Theorie der Bildung findet man offenkundig nicht so leicht. Status und Leistung, Probleme und offene Fragen der explizit als „Theorie der Bildung“ antretenden Literatur werfen ungeachtet solcher Ordnungsversuche immer noch eigene Fragen auf. Sie sollen im Folgenden an zwei prominenten Beispielen diskutiert werden, an Georg Kerschensteiners „Theorie der Bildung“18 von 1926 und an der „Theorie der Bildung“,19 die Erhard Wiersing 2015 vorgelegt hat, an nahezu einhundert Jahren Theoriearbeit also, die als typisch für das zweite Jahrhundert nach dem Ursprung der Bildungsreflexion gelesen werden kann. Kerschensteiners Arbeit kann dabei, zusammen mit seiner Schrift über „das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen für die Schulorganisation“,20 als Exempel für die Leistungen und Probleme gelesen werden, die Anfang der 1920er Jahre im Kontext der dort dominierenden geisteswissenschaftlichen und pädagogischen Reflexion des Bildungsproblems präsent waren, deren Theorieprobleme spiegeln und deshalb auch bis heute diskutiert wurden.21 Dabei wird Kerschensteiner als Exponent der geisteswissenschaftlichen Tradition gewählt (und nicht etwa Nohls „Theorie der Bildung“ von 1933), weil er sich selbst als schulentypischer Versuch verstanden hat und auf diesen Anspruch hin auch historisch schon intensiv diskutiert worden ist, bis bin zu der theoriestrategisch bis heute zentralen Frage „Ist Theorie der Bildung als Wissenschaft
17Ullrich
Bauer/Uwe Bittlingmayer/Albert Scherr (Hrsg.): Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie. Wiesbaden 2012 – erkennbar in der Tradition kritischer Bildungstheorie gearbeitet, wie es schon die „Einleitung der Herausgeber“ mit einer expliziten Abgrenzung von Bildung und Erziehung in den bekannten Dichotomisierungen bstötigt: „Der Erziehungsbegriff akzentuiert so betrachtet Erfordernisse der gesellschaftlichen An- und Einpassung, der Bildungsbegriff Prozesse der Individuierung zum selbstbestimmten Subjekt“, mit ausdrücklicher Berufung auf nachfolgend präsentierte Texte von Adorno und Oevermann. 18Georg Kerschensteiner: Theorie der Bildung. (1926) Leipzig: Berlin: Teubner, 2. Aufl. 1928. 19Erhard Wiersing: Theorie der Bildung. Eine humanwissenschaftliche Grundlegung. Paderborn 2015. 20Georg Kerschensteiner: Das Grundaxiom des Bildungsprozesses und seine Folgerungen für die Schulorganisation. I. Pädagogische Blätter 46(1917), S. 293–314, 341–379. 21Kerschensteiner selbst nennt in der 2. Auflage vor allem die kritische Diskussion bei Georg Reichwein: Georg Kerschensteiners „Theorie der Bildung“. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 3(1927), S. 350–361, für die aktuelle Diskussion jüngst Reinhard Mehring: Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, der stark auf den individualistisch-liberalen Ansatz abhebt und ihn gegen eine primär politisch motivierte Kritik verteidigt; für das „Grundaxiom“ zuletzt die Explikation von Kerschensteiners These, samt Verweis auf weitere Literatur, bei Andreas Nießler: Georg Kerschensteiner: Das Grundaxiom des Bildungsprozesses … in: W.Böhm/B.Fuchs/S. Seichter (Hrsg.): Hauptwerke der Pädagogik. Paderborn 2009, S. 223–225.
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26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
möglich?“22 Die „Theorie der Bildung“ von Wiersing wiederum zeigt schon in ihrem Untertitel, „eine humanwissenschaftliche Grundlegung“, den umfassenden Anspruch, die Theorie der Bildung nicht mehr der philosophischen Tradition und Reflexion allein oder nur der Erziehungswissenschaft zu überlassen, sondern sie in der Gesamtheit der humanwissenschaftlichen Forschung neu und dann systematisch als umfassende und eigenständige „Bildungswissenschaft“ zu entwerfen.
26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet Was sagen und leisten diese Theorie-Entwürfe? Kerschensteiner,23 um mit den frühen Systematisierungen zu beginnen, legt zweifellos mit hohem systematischen Anspruch eine Reflexion über Bildung vor, die sich der aus der Tradition bekannten thementypischen Argumente bedient und zugleich seine eigene Theorie als angemessene Ordnungsform des Themas versteht. Mensch und Welt in ihrer ‚Natur‘ und Spezifik sowie in ihrer Beziehung zueinander werden ebenso diskutiert wie die operativen Probleme der Realisierung von Bildung. Die zugleich definitorisch wie normativ orientierte Frage „Was ist Bildung“ und die auf Erklärungen und Kausalitäten zielende Frage, „Wie ist Bildung möglich“, sind zugleich präsent, Theorieansprüche und Orientierungserwartungen der Praxis werden gleichgewichtig aufgenommen.24 Es geht nicht allein um die Konstruktion wünschenswerter Welten, sondern auch um das theoretische Problem der Ermöglichung von Bildung. Allerdings, Kerschensteiner fragt schon früh und dann systematisch allein nach der Möglichkeit der „wahren Bildung“ (21 u. ö). Er diskutiert also nicht generell die Praktiken der Selbstkonstruktion des Subjekts in Wechselwirkung mit der Welt, sondern konzentriert sich allein auf spezifische
22Das
ist das Thema von Fritz Blättner in der kritischen Rezension von Kerschensteiners Theorie der Bildung, in F.B.: Ist Theorie der Bildung als Wissenschaft möglich? In: Die Erziehung 5 (1930), S. 329–351. Mehring 2018 argumentiert erstaunlicherweise über die Bildungstheorie, ohne auf diese Kontroverse Blättners mit Kerschensteiners auch nur irgendwie einzugehen. 23Nachweise im Einzelnen aus Georg Kerschensteiner: Theorie der Bildung. (1926) Leipzig: Berlin: Teubner, 2. Aufl. 1928 im Folgenden in Klammern im Text. 24Den kriterialen Rahmen für die Erwartungen an „eine in sich geschlossene Theorie der Bildung“ formuliert K. gleich zu Beginn seines Vorworts, dass sie „einesteils den Ansprüchen des philosophischen Denkens genügt, andernteils aber auch den großen Fragen des praktischen Bildungsverfahrens Antworten liefert“, sogar solche, wie er hinzufügt, „die sich unmittelbar anwenden lassen“ – und dann folgen natürlich Formulierungen aus der Rhetorik der Bescheidenheit, die jedem Autor bei solchen Ambitionen vertraut sind, denn „das wenige, was er leisten konnte,“, wird einem jeden „kümmerlich genug vorkommen“. Gleichwie, dann folgen mehr als 400 Seiten.
26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet
567
Praktiken und auf das von ihm als erstrebenswert ausgezeichnete Ergebnis der Selbstkonstruktion, zudem auch nur in Welten, die vorab schon als ergebnisaffin, ja ermöglichend ausgezeichnet werden. Das sind allein die als werthaft akzeptierbaren Welten, die – so seine Unterstellung – auch allein „wahre Bildung“ möglich machen können, zudem, wie das Natur-Argument dann im „Grundaxiom“ spezifiziert wird, wenn Welt und Mensch harmonisch zueinander passen.25 Die bekannte und allgemeine Leitfrage wird innerhalb seiner Theorie also auf ein Erklärungsmodell zugeschnitten, in dem die Annahmen über Mensch und Welt und über die wirksamen Mechanismen des Bildungsprozesses sehr eng gefasst werden, enger, wie man im Blick auf die Tradition insgesamt sagen kann, eindeutiger enger z. B., als es der Welt-Begriff bei Humboldt impliziert, zugleich in den Naturannahmen spezifischer, als es die Annahmen über die Bildsamkeit des Menschen um 1800 sagten, allerdings so teleologisch, wie die Rede von der Bestimmung des Menschen historisch auch Mitte der 1920er Jahre meist noch vertreten wurde. Neben dieser spezifischen systematischen Focussierung hat sein Entwurf also erkennbar auch eine eigene Historizität. Schon im Vorwort zur ersten Auflage von 1926 grenzt sich Kerschensteiner ausdrücklich gegen „eine Auffassung“ ab, „die glaubt, als entscheidende Tatsache und Ausgangspunkt einer Theorie der Bildung die Geschichtlichkeit des Bildungswesens ins Auge fassen zu müssen“ (iv/v, Herv. dort). Willmann (dem frühen) und Dilthey schreibt er, durchaus zu Recht, eine solche These zu, und er präzisiert sogleich, dass in diesem Kontext nicht nur die Geschichtlichkeit des Bildungswesens, sondern auch die der „Bildungsideale“ behauptet werde – aber das, die historischen Ideale, sind für ihn nicht „das Grundlegende einer Bildungstheorie“ (v). Für ihn ist nicht ein historisches „Ideal, sondern „die Idee der Bildung“ zentral, und die sei „ebenso zeitlos … wie die Ideen der Wahrheit, Schönheit, Sittlichkeit, Heiligkeit, in denen sie ja ihre Wurzeln hat.“ (v) Durch „Wesensschau“ meint er, „die Idee der Bildung in ihrer allgemeinen Wesenhaftigkeit erschaut“ zu haben (v), und zwar in der „Einheit der Idee“ jenseits der historisch-kulturellen „Gestalt“, die sie in „ungezählten Bildungsidealen“ angenommen habe. Eindeutig ist also die neukantianische Philosophie der Hintergrund solcher Annahmen über Idee und Begriff der Bildung. Das gilt für die antihistoristische Betrachtungsweise, aber auch für das starke Gewicht, das Kerschensteiner in seiner kulturphilosophischen Argumentation der „Theorie der Bildungswerte der Kulturgüter“ (v) widmet, und zwar der „objektiven Werte“. Immer neu, zumal in der späteren Antwort auf seine Kritiker und für die Klärung des Zusammenhangs von Historizität und Geltung des Begriffs der Bildung, beruft er sich auf die einschlägigen Lehren von Heinrich Rickert und den Kontext der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus.
25In
Kurzfassung: „Die individuelle geistige Struktur eines Kulturgutes und die individuelle Aktstruktur eines Zöglings müssen sich ganz oder teilweise decken, wenn das Kulturgut Bildungsgut werden soll.“ (474) Insofern gilt für ihn das „Individualitätsprinzip“ (479), auch für die Schulorganisation, Adressat und Angebot müssen zueinander passen.
568
26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
Der Bildungsbegriff wird deshalb gerahmt vom „Wertbegriff“, in der Realisierung gebunden an den Begriff des „Interesses“ und der „geistigen Struktur (der Bildungsmittel wie des Bildungsobjektes)“ (iv). Dabei diskutiert er Bildung – auch hier in den tradierten Argumentformen – einerseits als „Zustand“, andererseits als „Verfahren“. Für den Zustand unterscheidet er „drei Seiten der Bildung“, die axiologische, auf die Wertfrage zielende Seite, die psychologische – auch als „formale“ Seite bezeichnet – und die teleologische, die er wiederum als „berufliche“ und „soziologische“ intern untergliedert und die für ihn auch als „staatsbürgerlicher Beruf“ präsent ist. Auch das „Verfahren“ wird triadisch geordnet, „als Technik“, „als Kunst“ und als „pädagogischer Akt“, womit neben dem „Wesen des Verfahrens“ auch „Bildungsobjekt“, „Bildungsmittel“ und Bildungssubjekt“ bestimmt werden. Und das Letztere, das „Bildungssubjekt“ ist für ihn, deutlich unterscheidbar von den traditionellen Vorstellungen der Selbstkonstruktion der Subjekte, nicht der sich bildende Akteur, sondern der Lehrer bzw. Erzieher. Er ist der Herr des Verfahrens. Schon das rechtfertigt es, Kerschensteiners Variante als ein Exempel des pädagogisierenden Typus der Theorie der Bildung zu bezeichnen, denn Bildung des Subjekts wird, wie bei anderen Zeitgenossen, als „das pädagogische Werk“26 konzipiert. Das spiegelt sich auch in der Konstruktion der Bildungsmittel oder in der Strukturierung der Verfahren sowie in den Praktiken, die dort gelten. Kerschensteiner betont das auch noch einmal in der Replik auf seine Kritiker. Dabei sieht er die Aufgabe des Erziehers als Einführung „in die geistige Struktur dieser überindividuellen Güter mit den Mitteln seiner pädagogischen Kunst“,27 und er sagt dann klar und eindeutig: „Dabei wird das Bildungsverfahren in sehr vielen Punkten nicht ohne Zwang auskommen. Es ist ja doch zugleich auch ein Erziehungsverfahren.“ Zugleich räumt er ein, dass – ergebnisbezogen – wenig bleibt als „abzuwarten, ob der Zögling jene geistige Werte tatsächlich erlebt, denen sie ihren Sinn und ihre Werte in der erziehenden Gesellschaft verdanken.“ Für die Aufklärung der je individuellen Logik von Bildung bleibt dem Pädagogen neben dem Vertrauen auf die „sittliche Gemeinschaft“,28 in der die Werte leben, nur diese resignative Position, ohne eine systematisch zu sichernde theoretische oder operative Lösung, aber immerhin die Achtung vor dem Subjekt: „Aber gerade im Hauptpunkte, im Kern und Wesen der Bildung, ist jeder Zwang nutzlos, ja sinnlos.“ Auch in der Klärung der „sieben Grundprinzipien des Verfahrens“ regiert in der „Theorie der Bildung“ eindeutig der Primat des Pädagogischen, aller
26So
formuliert es, durchaus in der Annahme, einen Konsens auszudrücken, ja auch Nohl: Die pädagogische Bewegung … 1933, S. 140 im Kapitel „Die Theorie der Bildung“. 27In der Replik auf Blättner in Kerschensteiner 1930, S. 540, auch für die folgenden Zitate. 28In der Selbstdarstellung seiner Pädagogik betont er das sehr stark: „Wer also sittlich autonome Persönlichkeit als Ziel der Bildung setzt, setzt damit zugleich die Forderung der sittlichen Gemeinschaft. Das bedeutet aber, … daß das Bildungsverfahren sein Ziel nur dann erreicht, wenn es von vorneherein den Einzelnen in den Dienst der Versittlichung der Gemeinschaft stellt.“ (G.K. In: E. Hahn, Hrsg., Pädagogik der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1926, S. 45–96, zit. S. 88).
26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet
569
Skepsis gegen ihrer zielbezogenen Handlungsmöglichkeiten zum Trotz. In „ihrer funktionellen Einheit“, die die Grundprinzipien im Bildungsprozess finden, werden „Autorität [und] … Freiheit“ als Ziele genannt, aber Bildung als die „Idee der Freiheit selbst“ gilt natürlich nicht, ohne dass vorab die Geltung der „Autorität“ anerkannt und durchgesetzt wurde. „Totalität … Aktualität und Individualität“ gelten für das Bildungsobjekt, „Aktivität … Sozialität“ für die Bildungsmittel (479 f.). Diese Konstruktion hinterlässt das „Bildungssubjekt“ wie die „Bildungsanstalt“ erkennbar ohne eigenes Prinzip. Die Theorie belastet nur das „Amt des Erziehers“ – für Kerschensteiner, um das zu erinnern, das „Bildungssubjekt“ – mit den höchsten Erwartungen. Für diese operative Lücke im Verfahren kann er, ersatzweise, auf das „Grundaxiom des Bildungsprozesses“ rekurrieren, das Kerschensteiner schon früher für die Passung von Bildungsmittel und Objekt vorgegeben hat und jetzt für die „Anstalt“ wiederholt: „Die Organisation jeder Schule hat in ihrer Lehrplangestaltung der besonderen Gruppe von Lebensformen gerecht zu werden, für deren Bildung sie bestimmt ist.“ (481) „Bildungssubjekt“ und „Bildungsanstalt“ müssen damit curricular und im Prinzip den jeweiligen „Lebensformen“ der verschiedenen Individuen „gerecht … werden“, um Bildung möglich zu machen. Kerschensteiners Begriff der Bildung selbst hält fest, was die Theorie im Ergebnis erwartet: „Bildung als Zustand ist jenes individuelle geistige Sein, das, durch das Erleben der in den immanenten Sinngehalten der Kulturgüter objektivierten geistigen Werte geweckt, selbst ein einheitliches, von geistigen Werten durchsetztes Sinngefüge geworden oder doch innerlich genötigt ist, ein solches Sinngefüge zu werden.“ (18) Oder, und in „der kurzen praktischen Formel“ knapp resümiert: „Bildung ist ein durch die Kulturgüter geweckter, individuell organisierter Wertsinn von individuell möglicher Weite und Tiefe.“ (18) Diese Bildung gilt ihm als „wahre Bildung“, „völlig verschieden“ – so jetzt die Abgrenzungen – „vom Zweckorgan, dem nüchternen, kalten, berechnenden Verstande“ (19, Herv. dort). Kerschensteiner formuliert das von „axiologischen Gesichtspunkt“ aus, um damit zugleich den Aspekt des Wertes und den des „denkwürdigen“ (18) zu fixieren. Dabei muss man aber schon beachten, dass für ihn alle wahren geistigen Werte in gleicher Weise zählen, theoretische nicht etwa höher als ästhetische (23 f.).29 Den „konstitutiven Merkmalen“ von Bildung – u. a. Weite des Horizonts, Lebendigkeit für die Erfassung neuer Werte, Bedürfnis nach Wertwachstum, Einheitlichkeit des Sinngefüges, Verbundenheit von Mittel und Zweck
29K.
gibt an späterer Stelle eine „Einteilung der Bildungswerte gemäß dem Bildungsbegriff“ (S. 95 ff.), nah an Sprangers Unterscheidung der „Geistesakte“ (nach individuell und gesellschaftlich) sowie der „Ichkreise und Gegenstandsschichten“ und der „Grundtypen der Individualität“ in den „Lebensformen“, in denen Spranger schließlich den theoretischen, ökonomischen, ästhetischen, sozialen, religiösen und Machtmenschen unterscheidet (Spranger, S. 121–278). Kerschensteiner räumt selbst die Schwierigkeiten ein, z. B. den Bildungswert der Wissenschaften eindeutig zu bestimmen – und die ganze Geschichte der Begründungsprobleme der curricular und schulisch orientierten Bildungstheorie der Folgezeit liefert dafür die Bekräftigung.
570
26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
– stellt er gegenüber, was „nicht aufgenommen ist“, aber „gemeinhin“ – und in der Tradition, wie man wissen kann – auch dazu gezählt wurde (ohne je darauf reduziert worden zu sein): „Wissen und Können“ nämlich, d. h. „Wissen auf möglichst vielen Gebieten, „Leistungsfähigkeit … vor allem im beruflichen“ sowie – Knigge wäre wohl betrübt – auch „ein mehr oder weniger gewandter Gebrauch der in einer Gemeinschaft positiv bewerteten und darum gepflegten Umgangs- und Verkehrsformen“ (21). Diese Dimensionen werden von Kerschensteiner nicht ignoriert, aber sie stellen sich, wie er unterstellt, als „konsekutive … Merkmale der Bildung“ (21) mit wahrer Bildung quasi von selbst ein. Kann diese Konstruktion einer Theorie der Bildung überzeugen? Dabei muss man in den Erwartungen sicherlich fair bleiben und ihn zuerst nur in seiner eigenen Zeit diskutieren. Das erleichtert die Antwort nicht, denn die Zeit nach 1918 war politisch und pädagogisch, philosophisch und humanwissenschaftlich in ihrer Rede von Bildung nicht weniger heterogen30 als die nach 1945 oder aktuell. Für Kerschensteiner selbst war die erwartete Ordnungsleistung natürlich gegeben und ihre Einlösung durch seine Theorie unbestritten, aber schon die frühen Leser sahen das anders. Sein Buch löste zeitgenössisch eine intensive Diskussion aus, und die ist – ganz ohne die weitere Debatte bis zur Gegenwart31 – auch bereits geeignet, den Status seiner „Theorie der Bildung“ auch historisch angemessen zu diskutieren. Das führt insgesamt zu dem Ergebnis, dass seine Reflexionen den Status der Theorie nicht verdienen bzw. allein als Exempel einer pädagogisierenden, auf praktische Wirksamkeit zielenden, aber nicht einer wissenschaftlichen Theorie der Bildung zu gelten haben, die ihre Geltung wesentlich der Beobachtung und Analyse der Möglichkeit von Bildung verdankt. Einige dieser Einwände verdanken sich der historisch selbst schon bekannten Kritik derjenigen philosophischen Diskussion über Bildung und Kultur, der sich Kerschensteiner verpflichtet fühlte. Er nennt z. B. mehr als einmal Eduard Spranger als Gewährsmann und den Neukantianismus als Hintergrundphilosophie. In diversen Schriften hatte Spranger auch durchaus vergleichbare Ordnungsformen für die Reflexion von Bildung und die Erklärung des „Bildungsprozesses“ genannt, wie man sie auch bei Kerschensteiner wiederkennen kann: „Bildungsideal, Bildsamkeit, Bildner und Bildungsgemeinschaft“ galten ihm
30Einen
subtilen Einblick in diese Diskussion gibt Ernst-Peter Wieckenberg in der bescheiden als „Nachwort“ betitelten umfassenden Analyse anlässlich eines anderen Bildungstextes der Zeit: E.-P.W.: Nachwort. In: Ernst Robert Curtius. Elemente der Bildung. Aus dem Nachlass herausgegeben von Ernst-Peter Wieckenberg und Barbara Picht. München 2017, S. 221–450. Kerschensteiner gehört im Übrigen nicht zu dem Referenzraum, in dem Curtius argumentierte. 31Eine immer noch treffsichere Kritik lieferte Theodor Wilhelm, u. a. in T.W.: Pädagogik der Gegenwart. Stuttgart 1967, S. 179–181, wo er die Theorie einerseits „das imposanteste Denkmal der Kulturpädagogik“ nennt (179) und trotz aller Kritikwürdigkeit als eine „Fundgrube tiefer pädagogischer Weisheit“ würdigt (181), gleichzeitig aber auch „die Schwächen seiner Grundposition“ betont, die er vor allem in der engen Bindung an die Wertphilosophie sieht sowie im Naturkonzept, wie es sich in seiner Begabungstheorie niederschlage, dann in der Methode seiner Analyse, die von Blättner schon hinreichend klar kritisiert worden sei (181).
26.2 Theorieform 1: Pädagogisierung der Bildung, wertthematisch begründet
571
als „Hauptgesichtspunkte“,32 das Übergewicht pädagogisierender Annahmen findet sich also schon hier. Spranger war auch mit seinen „Lebensformen“33 für Kerschensteiner bedeutsam, denn er ordnete schon seit dem „Grundaxiom des Bildungsprozesses“ sowohl die innere Ordnung des Bildungswesens als auch die unterschiedlichen Begabungstypen den von ihm unterstellten Bildungs bedürfnissen der „Lebensformen“ zu. Spranger war schließlich auch bedeutsam für Kerschensteiners Denkform; denn seine Lesart der Geltung von Bildung und Kultur, von Werten und Lebensformen ist außer von den Neukantianern selbst wesentlich durch Spranger mitgeprägt worden, der in seiner Stellung zwischen geisteswissenschaftlicher Pädagogik und Neukantianismus seine eigene philosophische Reflexion für den Zusammenhang von Historizität und Geltung von Begriffen und Werten entwickelt hatte.34 Schon im Blick auf Spranger verliert Kerschensteiners Theorie deshalb auch viel von der Originalität, die man ihr wegen des „Grundaxioms“ durchaus zuschreiben kann. Im Kontext anderer, Dilthey näherstehender, geisteswissenschaftlich argumentierender Autoren wird seine Theorie auch nicht zufällig als bestenfalls etwas bemühtes Alterswerk gewürdigt,35 ansonsten wird Kritik formuliert. Georg Reichwein, aus dem Nohl-Weniger-Kreis, zeigte sich schon 1927 enttäuscht,36 vor allem angesichts der geringen praktischen Bedeutsamkeit der begrifflichen Konstruktionen. Aber Reichwein kann „das ganze Unternehmen, eine ‚Theorie der Bildung‘ zu schreiben“, im Grunde nicht akzeptieren, weil für ihn die Geltung von Bildung überhaupt nicht „aus der Erkenntnis der geistigen Wirklichkeit“ entsteht, weil ihr „Wahrheitsbeweis doch schließlich nur ihre praktische Fruchtbarkeit sein kann.“37 Fritz Blättner dagegen liest die Theorie der Bildung ganz entschieden als Produkt eines Prozesses der Erkenntnis. Blättner, 1891 geboren, 1923 in München bei Aloys Fischer promoviert und vertraut mit dessen Argumenten aus dem Kontext der pädagogischen Psychologie und der Phänomenologie, der Soziologie der Erziehung und der zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Debatten, 1937 in Hamburg bei Wilhelm Flitner
32Schon
früh E.S.: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Pädagogik für das Volksleben. (1922). In. E.S.: Bildung und Kultur. 2. Aufl. 1925, S. 138–158, zit. S. 153. 33Eduard Spranger: Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit. (1921) Tübingen 51950. Spranger sieht in diesem Buch den „Weg“, durch den er „den Zugang zu den Voraussetzungen einer wissenschaftlichen Bildungstheorie finden konnte“ (S. X), und er versteht seine Bemerkungen über „Bildungsideale und die Psychologie des Bildners“ als „eine unmittelbare Anwendung der ‚Lebensformen“ (X). 34Dafür: Werner Sacher: Eduard Spranger 1902–1933. Ein Erziehungsphilosoph zwischen Dilthey und den Neukantianern. Frankfurt a. M. 1988. 35Bei Nohl, Die Theorie der Bildung. 1933, wird Kerschensteiner mit seiner Theorie zwar im Literaturverzeichnis genannt, kommt argumentativ aber allenfalls nebenher vor, ausführlich erst im Kontext der Arbeitsschule, also als Praktiker. 36Georg Reichwein: Georg Kerschensteiners „Theorie der Bildung“. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 3(1927), S. 350–361. 37Reichwein: Georg Kerschensteiners „Theorie der Bildung“. 1927, zit. S. 351. Herv. dort.
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26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
habilitiert, widmete Kerschensteiner 1930 eine fulminante Kritik. Sie wird in ihrer Bedeutung auch sogleich gesehen und an prominenter Stelle publiziert, nämlich in der „Erziehung“, dem Zentralorgan der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Zeit, d. h. also im Organ der Gruppe, der sich Kerschensteiner selbst zurechnete. Kerschensteiner hat die Bedeutung der Kritik auch dadurch anerkannt, dass er noch im gleichen Jahrgang replizierte. Für die Frage, ob es eine Theorie der Bildung gibt und ob Kerschensteiner ein legitimer Anwärter auf diese Zuschreibung darstellt, stehen im Folgenden die systematischen Probleme seiner Theorie der Bildung im Zentrum, in Blättners Kritik zuerst und d. h. vor allem in der wissenschaftslogischen Dimension. Blättner, man kann es nicht anders sagen, liefert einen veritablen Verriss, ohne jede Rücksicht auf Reputation, Alter und Würde des prominenten Gelehrten. Er diskutiert die theoretische Ordnungsleistung für die Reflexion über Bildung, die Kerschensteiner vorlegt, und seine so richtige wie, für Kerschensteiner provokante, Frage lautet: „Ist Theorie der Bildung als Wissenschaft möglich?“38 Seine Antwort ist eindeutig – sie ist als Wissenschaft möglich, aber nicht so, wie Kerschensteiner sie ausarbeitet, und, wie man generalisieren kann, vor allem dann nicht, wenn man die eigentümlichen Fehler macht, die der pädagogische Kontext nahelegt. Blättners Einwände sind konzentriert auf „das Verfahren Kerschensteiners“, wie er sagt (329). Er geht von der Differenz von „Wissen“ und „Erkenntnis“ aus, um den Theoriebegriff zu präzisieren, schreibt der Theorie zwischen Beschreibung und Analyse ganz präzise Aufgaben zu und unterscheidet im Ergebnis zwei Formen des „Denkens über Bildung“: „erkennend-wissenschaftliches“ und „wollend-gestalterisches Denken über Bildung“ (344), denen auch zwei unterschiedliche Modi der „Geltung“ zukommen, „erzieherische Geltung“, die in der Pädagogik und bei Kerschensteiner dominiere, und „Erkenntnisgeltung“ (332), die beiden fehle. Die gewichtigsten Indizien findet Blättner dafür in Kerschensteiners Methode, zumal in dem Anspruch, über „Wesensschau“ den wahren und überzeitlichen Gehalt von Bildung identifizieren zu können, ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass alle „Idealbilder der Bildung“ unrettbar historisch seien. Man müsse aber ausführlicher erläutern und besser begründen, zu welchen Leistungen und auf welchem Wege eine „Wesensschau“ den Anspruch einlösen könne, einen überzeitlich gültigen Begriff von Bildung zu formulieren. Aber dazu fände sich nichts. Blättner konstatiert im Ergebnis deshalb nur scharf und lapidar die „Irrtümer“ Kerschensteiners, und das sind „im Wesentlichen“ zwei: „erstens, dass sein Bildungsideal ein ewig allgemeingültiges und zweitens, daraus sich ergebend, daß sein Werk Wissenschaft sei.“ (345) Beide Irrtümer hält Blättner für vermeidbar, Theorie der Bildung sei als Wissenschaft möglich – aber nicht mit Kerschensteiners Prämissen.
38Fritz Blättner: Ist Theorie der Bildung als Wissenschaft möglich? In: Die Erziehung 5 (1930), S. 329–351. Kerschensteiners Replik: Ist Theorie der Bildung als Wissenschaft möglich? Eine Erwiderung auf die Kritik meiner Theorie der Bildung durch Friedrich Blättner. ebd., S. 526–541. Nachweise aus diesen Texten in Klammern im Text.
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Jenseits dieser radikalen und mit allgemeinen Kriterien begründeten wissenschaftslogischen Kritik fragt Blättner, offenkundig verzweifelt, allerdings auch noch: „Wie aber … ist es möglich, daß auf dem Gebiete der Erziehungswissenschaft Irrtümer möglich sind, die von anderen Wissenschaften längst überwunden sind? Besteht vielleicht hier ein Zwang, der immer und immer wieder auch die gewissenhaftesten Denker in diese Bahnen treibt?“ (345) Was schon seine Unterscheidung der Wissensformen zwischen „Pädagogik“ und „Erziehungswissenschaft“ andeutet, nutzt Blättner – disziplinspezifisch – als Erklärung für diesen Befund: Offenbar sei im Kontext der pädagogischen, also einer auf die Erziehungspraxis zielenden Reflexion die Nötigung groß, die Distanz zur Beobachtung und zur theoretischen Analyse rasch zugunsten einer historisch-konkreten Konstruktion von Bildungsidealen aufzugeben und exakt auch das von einer „Theorie der Bildung“ zu erwarten, die im pädagogischpraktischen Kontext anerkannt werden will. Kerschensteiners Replik im selben Jahrgang der Zeitschrift ist eher indigniert im Ton als lernbereit oder auf Verständigung angelegt. Er erinnert an die Thesen des „trefflichen Lichtenberg“ über die Effekte, wenn Buch und Kopf zusammenstoßen,39 äußert seine „Verwunderung über den Mut solcher Ansprüche“ (538) des Kritikers und ist insgesamt wenig aufnahmefähig für Blättners Kritik. Er liefert stattdessen auch eher eine Wiederholung seiner bereits publizierten Argumente als eine Diskussion der Kritik. Ganz offenkundig stoßen hier alternative Konzepte von Theoriearbeit aufeinander, die zur Kommunikation nicht fähig sind, aber darin auch noch einmal die Spezifik der Theorie der Bildung zeigen, die Kerschensteiner vorgelegt hat. Er betont, um die Differenzen zu markieren, zunächst, dass Blättner „beständigen Verwechslungen“ erliege, u. a. „von Werten und Gütern“ (533), vor allem aber von historischen „Bildungsidealen“ und der überzeitlichen „Idee der Bildung“, von definierbaren „Begriffen wie Sein, Wirklichkeit, Leben, Wert“ und anderen theoretischen Referenzen und nicht der „Realdefinition“ zugänglichen „Ideen wie Wahrheit, Schönheit, Weisheit, Bildung, Persönlichkeit“ (527, Herv. dort). Eine Verwechslung konstatiert er auch zwischen dem soziologischen Begriff des „Individualismus“ und der Idee der „Individualität“ (529), so dass Blättner auch kein richtiges Verständnis dafür entwickeln könne, was „allgemeine Geltung“ bedeute (527). Für dessen zentrale, an der Methode orientierte Kritik aber räumt er einerseits ganz offen ein, dass er seine Methode der „Wesensschau“ auch nicht weiter erklären könne,40 hält das
39Sein
Argument, mit dem er Lichtenberg-paraphrasierend, eröffnet, lautet: „Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, muß dann immer das Buch daran schuld sein? Jeder wird das verneinen. Aber es kann auch ein kluger Leser und ein kluges Buch beim Zusammentreffen einen hohlen Klang geben.“ So in Kerschensteiner 1930, S. 526, weitere Nachweise aus dieser Replik in Klammern im Text. 40Zur Methode, die Blättner als „Wesensschau“ bezeichnet hat, referiert er – zugleich resignativ und trotzig – nur Blättner und räumt dann die Differenz selbst ein: „Er vermag nur nicht anzugeben, in welcher Weise ich sie angewendet hätte (S. 337). Ich auch nicht.“ (531).
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andererseits aber auch nicht für notwendig, weil sie sich angesichts der Ergebnisse selbst rechtfertige. Im Blick auf seine Theorie erläutert er dann doch, dass er von der Entwicklung des Menschen aus argumentiert habe, also den „genetischen Weg“ (531) der Konstruktion eines Allgemeinen gewählt habe. Anders als in der „genetisch-konstruktiven“, also „willkürlichen“, Begriffsbildung, für die er die Mathematik als Beispiel nennt, sieht er seine genetische Beweisführung als eine „aus inneren Gründen zwangsläufige, wenn auch nicht von äußeren Einflüssen unabhängige,“ jedenfalls als eine „zu objektiv geltenden Begriffen“ (532) führende Methode. Ihre Grundlegung finde sie bildungstheoretisch in der Betrachtung der Entwicklung des Menschen als Weg „von seinem animalischen zu seinem geistigen Sein“ (528), ihre Dynamik habe diese „Entwicklung“ in der „Betätigung der physischen, der psychischen und der geistigen Funktionen“ (532). Und Kerschensteiner resümiert methodisch kurz und knapp: „Das ist eine einfache Feststellung von Tatsachen der Entwicklung.“ (532) Die Theorie, so muss man ihn wohl lesen, hat ihr Fundament in der Anerkennung der Realität, ganz ohne konstruktive Vorannahmen. Begriff und Tatsache, Wesen und Erscheinung, so könnte man seine Unterstellung auch deuten, fallen zusammen, Begründungsbedarf existiert nicht. Dieses Ergebnis bekräftigt er als „objektive Erkenntnis“. Die festgestellten Tatsachen der Entwicklung „vom animalischen zum geistigen Sein“ artikulieren für Kerschensteiner zugleich einen zentralen, objektiven Wert, „die objektive Erkenntnis, daß die Bildungsidee … irgendwie [! – HET] durch die Aktualisierung von objektiv geltenden Werten … gekennzeichnet werden muß.“41 Entsprechend könne „die Idee der Bildung … nichts anders im Auge haben, als den Sinn für objektive Werte zu wecken.“ (537) Das geschehe je individuell und erzeuge – systematisch gesehen – das je konkrete „Wert-Zweck-Interessensystem“ (538), das sich – historisch – u. a. in den differenten „Lebensformen“ artikuliere, wie Spranger gezeigt habe. „Persönlichkeit“ aber, Indikator für „wahre Bildung“ statt historisch beliebiger Ergebnisse des Aufwachsens von Menschen, zeige und erweise sich „nur im Dienste eines Überindividuellen und Außerindividuellen“ (549, Herv. dort). Dafür wird dann auch Natur als Argument genutzt, die „Veranlagung zur Gestaltung“ (539), die der Mensch habe, und nicht nur zum „Erlebnis“; auch wenn das für Kerschensteiner eine Kompetenz ist, die offenbar geschlechtsspezifisch verteilt ist, denn die Gestaltungskompetenz spricht er Frauen ab (539).
41An
anderer Stelle (533) hatte er sogar Georg Simmels kultursoziologische Argumentation über „jene objektiven geistigen Gebilde“ (aus „Begriff und Tragödie der Kultur“) für sich reklamiert und daraus historisch-soziale funktionale Konstanten des Mensch-Welt-Verhältnisses abgeleitet, allerdings werttheoretisch umgedeutet. Er zitiert (wobei er eine längere Passage, unmarkiert, auf einen Satz reduziert) aus Simmel: „Stationen, über die das Subjekt Mensch gehen muss, um den besonderen Eigenwert, den seine Kultur heißt, zu gewinnen“. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass er dabei weder die Hinweise erwähnt, die Simmel an dieser Stelle auf „das Paradoxon der Kultur“ und die Bedingungen ihrer Entstehung gibt, und auch nicht auf die Probleme eingeht, die „Subjekt-Objekt-Gleichung“ (Simmel, 185) aufzulösen (vgl. dazu Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur (1911). In: G.S.: Philosophische Kultur. Berlin 1983, S. 183–207).
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Ein Problem ist für Kerschensteiner in dieser Reflexion der Frage, „was ist Bildung“ (527) und wie wird sie möglich, allein die Abgrenzung von Erziehung und Bildung. Er rekurriert auf die begrifflichen Unterscheidungen, die dafür der Erziehungsphilosoph und Altphilologe Ernst Hoffmann eingeführt hat.42 Für Hoffmann ist nun nicht Bildung, sondern Erziehung die Manifestation der „Idee der Freiheit selbst“, weil sie universal und seit der Antike auch reflexiv bewusst den Weg vom animalischen zum geistigen Sein eröffne, also im Weg von der ‚ersten‘ zur ‚zweiten‘ Natur des Menschen „das Menschliche im Menschen befreien“43 kann. Bildung dagegen bedeutet für Hoffmann immer, so zitiert Kerschensteiner zutreffend, die „Bindung an ein Ideal“ (536), das je historisch gefunden wird, griechisch, christlich-mittelalterlich oder humanistisch. Kerschensteiner bemerkt dazu dann aber nur lapidar, dass man das auch ganz gut umgekehrt sehen könnte, Bildung und Freiheit, Erziehung und Bindung also koppeln könnte (536). Aber die Pointe von Hoffmann nimmt er damit nicht auf, der ja ebenfalls die Historizität der Bildungsideale und die konstante Funktionalität des als Erziehung zu bezeichnenden, je konkret organisierten Aufwachsens in allen Gesellschaften betont und vor allem keinen Gegensatz, sondern „eine funktionelle Differenzierung“44 der Praktiken und ihrer Implikate einführen wollte, die mit den Begriffen bezeichnet werden. Das sieht Kerschensteiner nicht, zum Schaden der empirischen Geltung seiner Theorie. Allerdings, in der Bekräftigung seiner Theorie werden von ihm auch einige der Einwände aufgenommen, die von seinen axiomatischen Vorannahmen ausgelöst worden waren. Spranger z. B. hatte schon gegenüber dem Axiom betont, dass Bildung nicht allein möglich sei, wenn sie „nur der der gegebenen individuellen Seelenstruktur des Zöglings kongruent“ sei. Notwendig sei vielmehr, dass „jede Individualität … ferner zu ihrer Bildung der ‚Gegengewichte‘ (bedarf)“, wie sie z. B. die Schule als „Mittelpunkt eines bestimmten Bildungstypus zu entwickeln hat.“45 Das verstärkt aber nur den Pädagogismus
42Kerschensteiner
nennt als Referenz vier, von 1928 bis 1930 veröffentlichte Abhandlungen von Ernst Hoffmann: Zur Philosophie der Erziehung [1929]; Der philosophische Charakter der Hochscholastik [1929]; Vom griechischen und christlichen Erziehungsgedanken [1928]; Sophistik und Sokrates [1930]. Die Abhandlungen finden sich gesammelt, z. T. mit anderen Überschriften, in Ernst Hoffmann: Pädagogischer Humanismus. 22 Pädagogische Vorträge und Abhandlungen. Aus dem Nachlass herausgegeben von Walter Rüegg und Arthur Stein. Zürich/ Stuttgart: Artemis-Verlag 1955. 43Ernst Hoffmann: Philosophie der Erziehung. (1919) In: E.H., Pädagogischer Humanismus, 1955, S. 39–62, zit. S. 43. 44Ernst Hoffmann: Begriff der Erziehung. (1927/1948) In: E.H., Pädagogischer Humanismus, 1955, S. 74–86, zit. S. 76. 45Schon in Eduard Spranger: Grundlegende Bildung, Berufsbildung Allgemeinbildung. (1918). In: E.S.: Kultur und Erziehung. Gesammelte Pädagogische Aufsätze. Leipzig 31925, S. 159–177, zit. S. 170; erneut in E.S.: Berufsbildung und Allgemeinbildung. In: Kühne (Hrsg.): Handbuch für das Berufs- und Fachschulwesen (1923)21929, S. 27–42, zu Kerschensteiners Axiom u. a. S. 35 f., wo die Erzeugung von Handlungsfähigkeit in der Kultur (und im Beruf) der Entfaltung der individuellen Möglichkeiten vorangestellt, aber auch als schulisch gestaltbar gedacht wird.
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26 „Theorie der Bildung“ – Optionen ihrer Konstruktion
in den Prämissen dieser Bildungstheorie und zeigt letztlich noch einmal die geisteswissenschaftlich-kulturphilosophische Konsenszone, in der Kerschensteiner und seine gleichgestimmten Kommunikationspartner denken, und zwar bis heute, wenn sie den „Idealismus“ zur Basis einer philosophischen Bildungstheorie, ja der wissenschaftlichen Pädagogik insgesamt machen.46 Die Abwehr empirischer, soziologischer oder historischer Argumentationen und die Konzentration auf normative Konstruktionen sind die Konsequenz einer solchen Theoriestrategie. Die Einwände Blättners werden damit aber ebenso wenig ausgeräumt wie die Frage nach den empirischen Bedingungen der Möglichkeit von Bildung. Man erhält eine Theorie als normativ basierte und die eigene petitio principii auslegende Konstruktion, aber keine Theorie mit Erklärungskraft für die Realität der Bildung oder ihre je historischen Möglichkeiten der Konstruktion und Vergesellschaftung des Subjekts. Für die Frage, wie Theorie der Bildung als Wissenschaft möglich ist, ist Blättners Kritik deshalb auch noch bis heute und gegenüber vergleichbaren pädagogisierenden Versuchen aktuell und wohl begründet. Für die praktischen Ambitionen der Orientierung steht es nicht besser – es sei denn, man versteht Reformpädagogik als die Antwort, wie das Kerschensteiner historisch wohl selbst sah, ohne sich die Schwierigkeiten einzugestehen, die mit dieser Konfundierung von Erziehungspraktiken und Bildungsprozessen systematisch und mit der Praxis der Reformpädagogik für das Aufwachsen der Individuen historisch verbunden sind.
26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet Die „Theorie der Bildung“ von Erhard Wiersing zeigt schon in ihrem Untertitel – „eine humanwissenschaftliche Grundlegung“ – den umfassenden Anspruch, die Theorie der Bildung nicht mehr der philosophischen Tradition und Reflexion oder nur der Erziehungswissenschaft zu überlassen, sondern sie in der Gesamtheit der humanwissenschaftlichen Forschung neu zu verorten und systematisch erstmals als umfassende „Bildungswissenschaft“ neu zu entwerfen.47 Das bedeutet nicht, dass Wiersings Theorieversuch einen radikalen Bruch mit der Tradition vollzieht, im Gegenteil, wie es schon der Bezug auf Herder im Motto
46Mehring
2018, passim, plädiert noch aktuell für eine solche, vom ihm „idealistisch“ genannte Argumentation der Philosophischen Pädagogik. 47Nachweise aus Wiersings Theorie im Klammern im Text. In den folgenden Überlegungen zu Wiersing, Theorie der Bildung, nehme ich gelegentlich wörtlich auch Argumente auf, die ich in meiner Rezension in der Zeitschrift für Pädagogik 62(2016) 6, S. 908–912 im Kontext der Diskussion weiterer bildungstheoretischer Literatur bereits vorgetragen habe.
26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet
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seines Vorworts andeutet.48 Seine Analysen beginnen mit einer Rekapitulation der klassischen deutschen Bildungsidee, die Themen der Bildungsreflexion, zumal die Referenz auf Natur und ihre Thematisierung in der Anthropologie, werden hier schon eingeführt, sein Begriff der Bildung umfasst die zentrale Perspektive der „Selbstbildung“ ebenso wie den Bezug auf Welt: „Unter Bildung wird dabei jener alles umfassende Wirkungs- und Handlungszusammenhang verstanden, in dem das menschliche Individuum vom Anbeginn seines Lebens bis zu seinem Tode geformt wird und sich selbst formt.“ (11) Aber nicht allein die Referenz auf den gesamten „Lebenslauf“ (228) bis zum Tode, auch die sogleich eingeführten theoretischen Referenzen der Humanwissenschaften zeigen an, dass er von „Bildung im denkbar weitesten Sinne des Begriffs“ (11) handeln wird, keineswegs eingeengt auf ein Konzept etwa von ‚wahrer‘ Bildung, wie es für Kerschensteiner leitend war oder auch die aktuelle „kritische Bildungstheorie“ prägt. Im Unterschied zu solchen Positionen betont Wiersing auch sogleich ausdrücklich, dass man von seiner Theorie „keine Ratschläge“ erwarten darf und dass er auch „nicht Stellung zur gegenwärtigen Bildungspraxis und -politik (nimmt)“ (11). Er verspricht praxisdistanzierte Theoriearbeit, konkret nicht weniger als das theoretische „Grunddokument einer neuen Bildungswissenschaft“ (12), wie er mit selbstbewusstem Prioritätsanspruch ankündigt. Diese neue, die Wissenschaften vom Menschen „integrierende“ Wissenschaft, von ihm selbst auch ironisierend-distanziert als „Superwissenschaft“ (40) bezeichnet, soll die „Grundphänomene von Bildung“ vorstellen und „historisch-systematisch zu begründen“ suchen, mit dem Anspruch, den „Weg zu einer allgemeinen Theorie der Menschenbildung“ zu bahnen und zwar „im Horizont des ganzen Wissens über den Menschen“. In diesem weiten Horizont will er die „Individualentwicklung des Menschen“ (84) vorstellen, zentriert auf das Thema der Konstitution einer handlungsfähigen und moralisch selbstverantwortlichen „Person“, wie er die angezielte Sozialfigur einführt. Wiersing rezipiert und diskutiert für die Bestimmung dieses Begriffs u. a. die „personalistische Theorie“ der Pädagogik, die im deutschen Sprachraum v. a. von Winfried Böhm vorgestellt worden ist.49 Er akzeptiert die darin fixierten Grundgedanken und das alteuropäische Bild des Menschen als „Person“, freilich ohne ihre katholisch-konfessionelle Begründung
48Er
zitiert aus Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“: „die Vorzüge des Menschengeschlechts [sind] ihm nur als Fähigkeiten angeboren, eigentlich aber durch Erziehung, Sprache, Tradition und Kunst erworben und herab geerbt worden …“ (11). 49Wiersing bezieht sich auf zahlreiche Schriften von Böhm, systematisch relevant sind u. a. W.B.: Entwürfe zu einer Pädagogik der Person. Bad Heilbrunn 1997 sowie die ideengeschichtliche Ableitung, die mit Ideen einer überzeitlich gültigen Paedagogia perennis operiert, in W.B.: Geschichte der Pädagogik. Von Plato bis zur Gegenwart. München 2004, wo der der Mensch „im Schnittpunkt von Natur, Gesellschaft und Person“ das Thema ist. Zur weiteren Entfaltung des Konzepts u. a. die Mehrzahl der Beiträge in: Eykmann/Böhm (Hrsg.): Die Person als Maß von Politik und Pädagogik. 2006 sowie, zur kritischen Distanz gegenüber dieser Verwendungsweise des Personbegriffs, H.E.Tenorth: Person im historischen Prozess. Methodologische Optionen pädagogischer Historiographie. ebd., S. 175–188.
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mit zu übernehmen, aus der sich Böhms Überlegungen vor allem speisen. Dennoch, über Person wird Bildung – so Wiersing – als der „klassisch-deutsche Begriff umfassender personaler Selbstbildung“ neu ins Recht zu setzen gesucht. Das Argument mag noch der Tradition verwandt sein, die klassische Philosophie des Subjekts oder die Kulturphilosophie des ausgehenden 19., frühen 20. Jahrhunderts sind so wenig wie die Wertphilosophie seine zentralen Referenzen. Wiersing dekomponiert sein Thema, das ist unverkennbar, durch intensiven Bezug auf die Humanwissenschaften insgesamt. Die systematischen Themen, die seine Theorie der Bildung integrieren soll, werden deshalb auch in einem Strauß zentraler Begriffe der modernen Humanwissenschaften eingeführt und vor dem Hintergrund der jeweiligen Forschung, nicht etwa prinzipien-theoretisch oder nur philosophisch oder kritisch, ausführlich präsentiert und diskutiert: Diese Kapitel reichen von Anthropogenese über Entwicklung, Personalisation, Erkennen-Denken-Handeln, Spracherwerb, Sozialisation, Kulturation bis zu Ethnizität und Zivilisation. Das sind je für sich höchst lesenswerte Forschungsberichte, wenn er z. B. bei Sprache und Spracherwerb ausführlich die einschlägige Forschungslage referiert, also von Humboldt über die Behavioristen und Chomsky bis zu den Positionen der Gegenwart seine Position wohl begründet entfaltet. Hier wie auch bei den anderen Begriffen und Themen geschieht das in einer nicht harmonisierenden, sondern klug abwägenden Relativierung zu scharfer Positionen, unbegründeter Annahmen und falscher Eindeutigkeiten. Bei Wiersings Präsentation und Diskussion der Forschung dominiert eindeutig auch die international anerkannte, reputierliche Forschung – und das ist zunächst kein Nachteil. Pädagogik, dann auch die systemische Seite der Bildungsorganisation, wird erst danach eingeführt, zusammengefasst unter dem nicht unproblematischen Begriff des „Bildungshandelns“ (853 ff.), immer aber als deutliches Indiz dafür, dass das Thema der Bildung nicht etwa exklusiv den Pädagogen oder ihrer Wissenschaft zurechenbar ist, obwohl es dort natürlich intensiv diskutiert wurde und wird. Wiersing nimmt aber die für die Bildungstheorie zentralen thematischen Referenzen – von Natur bis Welt, von Prozess bis Produkt – nicht aus der vielfach normativ verengten Perspektive der Pädagogik wahr, sondern vor dem Hintergrund von ca. 200 Jahren internationaler humanwissenschaftlicher Forschung. Das Thema der Natur bildet den Einstieg zu seiner „natur- und kulturgeschichtlichen Theorie der allgemeinen Menschenbildung“, die „Anthropogenese“ wird von hier aus dargestellt. Anders als in manchen anderen pädagogischen Anthropologien spielen für ihn evolutionstheoretische und naturgeschichtliche, biogenetische und kulturgeschichtliche Argumente in ihrer Relationierung eine je für sich gewichtige Rolle. Immer neu werden sie in ihrem Erklärungsanspruch eingeführt und immer neu wird, und mit guten Gründen, als eigene Position des Autors das Zusammenspiel natürlicher, kultureller und individueller Faktoren betont. Viel diskutierte und kontroverse Fragen werden dabei berücksichtigt, die bildungsphilosophisch unter der allgemeinen Formel der „Bildsamkeit“ in ihrer Brisanz noch nicht sichtbar waren, z. B. die starken Kontroversen über die Rolle von ‚Erbe‘, als Platzhalter für Natur, und ‚Umwelt‘, als Platzhalter für die Welten
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des Aufwachsens. Wiersing resümiert die in diesem Themenbereich inzwischen gut bekannten Debatten und Kontroversen, kritisch gegen naturalistisch-genetische Fixierungen. Am Ende steht auch in dieser „kultur- und biowissenschaftlichen Bildungswissenschaft“ dann doch wieder die klassische bildungsphilosophische Formel, dass der Mensch – wie man an Pestalozzis These aus den „Abendstunden“50 erinnern darf – das ‚Werk der Natur, seines Geschlechts und seiner Selbst‘ sei oder, bei Wiersing, von „Natur, Kultur und Ich“ (77), jenseits aller falschen Dualisierung, wie sie etwas das Anlage-Umwelt-Schema darstellt. In dieser insofern immer noch die traditionalen Denkweisen bekräftigenden Analyse finden sich auch eindeutige Abgrenzungen z. B. gegen eine radikale Historisierung der Anthropologie, wie man sie z. B. im Umkreis von Christoph Wulf in Deutschland findet. Integration unter dem Gedanken der Bildungsentwicklung bedeutet offenbar immer auch Kritik an einseitigen Stilisierungen der Entwicklung wie der Handlungsmöglichkeiten der Individuen. Diesen Ertrag der humanwissenschaftlichen Erweiterung des Blicks erkennt man auch, wenn man danach fragt, wie Wiersing die alte Frage nach den Bildungswelten aufnimmt. Wie die Tradition versteht er die Bildungswelten als eine dem Subjekt gegenüberstehende eigene „objektive Seite“ der Realität. Ein Beleg für die Nähe zur Tradition ist auch, wie er Kultur einführt und Kulturation, ganz im Sinne der Kulturpädagogik, als „subjektive Aneignung objektiver Kultur“ bestimmt (622 ff.). Von „sozialen Tatsachen“ könnte man mit Durkheim sprechen, den er religionssoziologisch und im Kontext des Sozialisationsbegriffs neben anderen Autoren zitiert (756). Anders als in der Tradition gibt es auch kein eigenes, gar wertthematisch orientiertes Kapitel über exklusiv ausgewiesene oder auszuwählende Bildungsgüter oder Bildungswelten, auch nicht die Fixierung auf „Kultur“, obwohl die natürlich nicht fehlt, schon weil „Kulturation“ intensiv zum Thema wird (625–730). Die für Wiersing relevanten Welten ergeben sich im Kontext der unterschiedlichen Referenzräume, in denen Entwicklung oder Personalisation, Erkennen und Handeln, Spracherwerb und Sozialisation oder Kulturation sich vollziehen. Das sind die Welten, die den Lebenslauf des Menschen sequenzierend rhythmisieren und prägen: von der Kindheit in der Familie über die peer groups und die Sozialisationsinstanzen wie Familie oder Beruf (obwohl Arbeit relativ wenig beachtet wird) bis hin zu „Ethnizität“, d. h. die komplexen Lebensformen, wie sie in traditionalen Gesellschaften oder in Hochkulturen den Prozess der Vergesellschaftung bestimmen. Wiersing interpretiert sie in ihrer Praxis immer auch als Anlass für Bildungsprozesse, mit Sinn für die Eigenaktivitäten des Subjekts, die auch hier ihre Geltung und Bedeutung im Konzept des „produktiven Realitätsverarbeiters“ behaupten können, auch wenn Wiersing der Begriff der „Selbstsozialisation“ nicht zusagt (596). Die Anschlussfähigkeit der klassischen Bildungstheorie und ihrer These der Wechselwirkung
50Als
so knappe wie luzide Einführung in dieses unendliche Thema Fritz Osterwalder: Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827). In: H.-E.Tenorth (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik, Bd. 1: Von Erasmus bis Helene Lange München 2003, 2. Aufl. 2010, S. 101–118.
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von Mensch und Welt bestätigt sich auch hier, im Zentrum der empirischen Forschung über die Konstruktion des Lebenslaufs in der je individuellen Biografie. Wiersing konzentriert sich dabei eher auf die Ontogenese und die Entwicklung von Individuen. Die so klassischen wie immer noch aktuellen Analysen von kollektivbiografischen Karrieren, die Reproduktion von gesellschaftlichen Klassen und sozialer Ungleichheit, die Folgen von Herrschaft und Macht spielen für ihn keine zentrale Rolle. Wiersing sieht durchaus die Varianz in den Welten, in denen die Akteure ihre Bildung konstruieren, aber er beschreibt doch immer eher ihre Möglichkeiten als die Bedingungen struktureller Einschränkung, d. h. insofern eher – im klassischen Sinne gedacht und explizit ja auch angezielt – die „Individualentwicklung“, aber nicht die Geschichte der „Gattung“. Er thematisiert damit auch nicht eine Differenz, wie sie bei Kant erörtert wird, dass die Gattung der Vervollkommnung fähig ist, deshalb auch die „Nation“ eine eigene Bildungsgeschichte kennt, die Individuen aber aus „krummem Holz“ geschnitzt bleiben. Das hat zunächst Folgen für die Frage, wie er die Wirkfaktoren dimensioniert, denen diese Prozesse der Wechselwirkung ihre empirische Gestalt, ihre Qualität und ihre Folgen verdanken. Die Frage, wie denn ‚Bildung möglich ist‘, ist ihm vertraut, er verweist auf die einschlägige Diskussion innerhalb der Pädagogik, aber meist nur soweit, dass überbordende Ansprüche der Neurowissenschaften abgewehrt werden können,51 systematisch kaum weiter, denn die Antwort auf die Frage sei ungelöst (73). Im Blick auf die klassischen Annahmen im Konzept der „Bildsamkeit“ ignoriert er damit auch die Diskussion von Mechanismen der Selbstorganisation oder historische wie aktuelle Annahmen über die autopoietische Logik von Wechselwirkungsprozessen. Im Grunde dominieren lerntheoretische Erklärungen, wie sie im Kontext der Lern- und Entwicklungspsychologie vorliegen, nicht zufällig spricht er eher von „Lernfähigkeit“ und „-bedürftigkeit“ als von Bildsamkeit. Auch Modelle von Internalisierung oder der Vielfalt der Praktiken der Konstruktion des Selbst, gar von mimesis oder embodiment, wie sie in der historischen Anthropologie oder der Praxissoziologie diskutiert werden und auch für biografische Analysen genutzt werden, kommen nicht vor. Hier bleibt seine interdisziplinär ambitionierte Bildungstheorie höchst konventionell in sozialwissenschaftlichen Denkvorstellungen, ignoriert aber auch Kausalitätsmodelle, wie sie aus der Tradition selbst vorliegen und z. B. in ästhetisch begründeten Annahmen zwanglos-zwingender Wirksamkeit bei den Klassikern entfaltet wurden. Die Wirkungsfrage für Bildungsprozesse und Bildungswelten ist für ihn, und zu Recht, auch bedeutsam im Blick auf das erwartete Ergebnis, die Konstitution der moralisch handlungsfähigen Person und die Erzeugung eines „richtigen“ oder „einsichtigen Verhaltens“, wie er einmal sagt (156 und ff.). Diese Eindeutigkeit der normativen Codierung von Verhalten praktiziert Wiersing ziemlich unbekümmert, die sozialwissenschaftliche und bildungskritische Debatte über
51Explizit
erwähnt er die Abhandlung von Gisela Miller-Kipp: Wie ist Bildung möglich? Die Biologie des Geistes unter pädagogischem Aspekt. Weinheim 1992.
26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet
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die Ambitionen und Folgen der Zuschreibung und Praxis von „Normalisierung“ und „Normalitätskonzepten“ kommt jedenfalls nicht vor. Wiersing zweifelt nicht daran, dass die historisch und gesellschaftlich identifizierbaren Prozesse der Menschwerdung immer noch mit Recht erlauben, von der Konstitution des Subjekts auch in einem emphatischen Sinne einer verantwortungsvoll handelnden und moralisch zurechnungsfähigen Person zu sprechen. Sicherlich, er kennt Varianz, nach gesellschaftlich konkreten Welten und historischen Zeiten, aber keine postmodern genährten Zweifel an der Möglichkeit des Subjekts. Gegen postmoderne Kritik am Subjektdenken, wie sie aus Frankreich bekannt ist, hält er kritische Distanz; Foucault ist jedenfalls kein Denker, von dem sich Wiersing Erhellendes für eine Theorie der Bildung verspricht. Solchem Denken wird vielmehr „ganz entschieden widersprochen“ (56) Auch von praxeologischen Theorien, die aktuell ja nicht mehr nur in der Nachfolge Bourdieus die Empirie der Bildung speisen und eher die Illusion der Autonomie oder der Person verkünden, findet sich nichts, so wenig wie von den Theorien der Differenz, die z. B. mit Judith Butler Karriere machen. Das kann man verstehen, aber die mit dem Personbegriff ja auch positiv zu verbindende Erwartung, dass eine empirisch orientierte Theorie der Bildung auch besonderes Augenmerk auf die Gelingensbedingungen einer normativ hoch bewerteten Personalität legen könnten, werden nicht erfüllt, ja nicht einmal als Desiderata für das eigenen Theorie- und Forschungsprogramm bezeichnet. Während die Tradition der Bildungstheorie in wertthematischer Fixierung die Illusion genährt hat, dass die ‚guten‘ und ‚wertvollen‘ Bildungswelten und Bildungsgüter auch den wünschenswerten Menschen erzeugen, wird diese Frage nach der systematischen Differenz zum erwünschten Menschen und der ihn erzeugenden Bildungspraxis hier gar nicht mehr behandelt, auch nicht gegen die Behauptung, dass es allein „negative Empirie“ geben könne, wenn man wirklich Bildung zum Thema der Forschung mache.52 Man erfährt deshalb bei Wiersing im Grunde auch nichts über die bildungstheoretisch zentrale Frage, wie die „Person“ in seinem spezifischen Verständnis möglich ist, sondern – wie in allen Humanwissenschaften erwartbar – nur, wie sich Menschen in ihrer Vielfalt in Wechselwirkung mit ihren Welten im Lebenslauf konstruieren. Schon die wichtige Frage, ob sich nicht vielleicht die Konstruktion abweichenden Verhaltens oder sogar die Moralität des Bösen den gleichen Mechanismen verdanken, wie die der zurechnungsfähigen Person, wird vollständig ausgeblendet. Nicht zufällig
52Diese
These vertritt Giancarla Sola in ihrem eher kryptisch als klar formulierten Teilbeitrag „Zur Deutung der Bildung: Rückblicke, Untersuchungen und Projektionen“ in: Jutta Breithausen/ Rita Casale/Andreas Dörpinghaus/Giancarla Sola/Egbert Witte: Der Begriff der Bildung in Deutschland zwischen Philosophie und Pädagogik. In: Studi sulla formazione 1(2016) S. 55–85, für den Teilbeitrag S. 55–63, zit. S. 60. Sie behauptet die Tatsache der negativen Empirie, weil sich Bildung „als direkter, unmittelbarer Forschungsgegenstand in seiner Reflexivität der Erfahrung wissenschaftstheoretisch versagt“, denn die „negative Empirie ist im Kern der Gehalt von Bildungsprozessen, in denen die Erfahrung selbst zum Tribunal wird.“ Aber nicht Tribunale sind das Problem, sondern die Frage, wie Bildungsprozesse methodisch kontrolliert beobachtet werden können.
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ist deshalb wohl auch Kriminologie keine der Disziplinen, die hier berücksichtigt werden, obwohl sie doch zweifellos auch zu den Humanwissenschaften zählt. Werden solche Desiderata im Blick auf das „Bildungshandeln“ und damit im Rekurs auf die Pädagogik und ihre Arbeit geklärt, wird sie letztlich doch zur Instanz, die das Gute am Menschen für die Gesellschaft zur Geltung bringen soll? Wiersing geht erst am Ende seiner Überlegungen auf die alten Fragen der pädagogisch orientierten Bildungstheorie zurück, etwas unglücklich unter dem Begriff des „Bildungshandelns“. Das ist bildungstheoretisch und systematisch unglücklich, weil damit der „Zwang“, den Erziehung im Namen der Gesellschaft und – wie sie sagt und Wiersing bestätigt – zum Besten der Heranwachsenden ausübt, derselben Kategorie subsummiert wird, wie die Selbstkonstruktion der Subjekte (und nebenher ein wenig überzeugender Begriff wie „Fremdbildung“ benutzt wird). Erziehung, Unterricht und Selbstbildung (853 ff.) sind aber kategorial unterschiedliche Handlungs- und Praxisformen, mit differenter Kausalität, so dass es vereinfachend ist, „Pädagogik als Theorie und Praxis des Bildungshandelns“ zu stilisieren. Innerhalb der Tradition der Theorie der Bildung wird damit eine schon historisch geforderte „funktionelle Differenzierung“53 der Praktiken und ihrer Implikationen, die schon in der Diskussion von Kerschensteiners Theorie zum problematischen Thema geworden war, erneut ignoriert und zugunsten einer Einheitsformel des „Bildungshandelns“ übersprungen. Damit fehlt in dieser aktuellen Theorie der Bildung zugleich auch eine bildungstheoretisch orientierte Analyse des Bildungssystems, die wirklich von den Selbstkonstruktionen der lernenden Akteure ausgeht und nicht, wie gehabt, pädagogisch denkt, nämlich das Bildungssystem primär als eine gesellschaftlich inszenierte und pädagogisch-professionell gestaltete Lernwelt betrachtet. Das hat auch Konsequenzen für die Erziehungswissenschaft selbst. Die Paradoxa der Pädagogik verlieren so ihre Schärfe, die jüngeren ethnografischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die Schule als Orte der Bildung des Selbst z. B. praxeologisch zeigen, gehen unter. Letztlich, auch die scharfe Kritik der Schule als eines Ortes, der Bildung nicht ermöglicht, sondern verhindert, weil Bildung gesellschaftlich, so die Kritiker, nur als Ware existiere, die kommt gar nicht vor. Erziehung als „Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (um an Bernfeld zu erinnern) stellt, so würde ich einwenden, doch ein eigenes theoretisches Problem dar, von Bildung als Selbstkonstruktion des Subjekts deutlich unterscheidbar. Pädagogisierung, die auch nicht thematisiert wird, bezeichnet wiederum eine Dynamik moderner Gesellschaften, die sich nicht umstandslos dem Anspruchskreis einer Bildung der Person zurechnen lässt. Das heißt auch, dass eine eigenständige Erziehungswissenschaft selbständige Forschungsprobleme hat, die sich nicht mit erledigen, wenn man die Humanwissenschaften meint integrieren zu können. Die Erziehungsthemen verlangen spezialistische Theoriearbeit und Forschung.
53Um noch einmal an Hoffmann: Begriff der Erziehung. (1927/1948), 1955, zit. S. 76, zu erinnern.
26.3 Theorieform 2: Bildung als Menschwerdung, interdisziplinär betrachtet
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Bildung wiederum ist zweifellos ein Thema aller Humanwissenschaften, auch von Pädagogik und Erziehungswissenschaft als Referenzfeld nicht zu ignorieren, aber sie wird als Spezialdisziplin überbeansprucht, wenn man ihr gar die Leitfunktion in diesem interdisziplinären Forschungskontext zuspricht. Das führt zum abschließenden Problem, der Frage, ob der Begriff der Bildung geeignet ist, das von ihm berücksichtigte Spektrum des Wissens über den Menschen zu integrieren? Wirsing fragt selbst, ob diese neue Bildungswissenschaft, erkennbar eine „Superwissenschaft“ mit sehr hohem Anspruch, auch in ihrer integrativen Leistung „begründbar“ sei (40)? Konkreter müsste man wohl eher fragen, ob der Bildungsbegriff, der der ganzen Theorie ja den Namen gibt, geeignet ist, diese Integrationsleistung zu erbringen. Dann ist wohl eher Skepsis angebracht. Als Bildungsbegriff „im weitesten Sinne“ kann er bei Wiersing vielleicht das Thema festhalten, die Menschwerdung des Menschen, nicht den umfassenden Theorieanspruch tragen. Die deskriptive Kapazität muss er sich aus den Referenztheorien und ihren Forschungen borgen, denn nur die können jeweils im Detail sagen, wie sich die Individualentwicklung und die Vergesellschaftung des Menschen oder seine Enkulturation und Zivilisierung vollziehen. In den Kontext von Bildung kann Wiersing das nur integrieren, indem er die Differenzen in den Erklärungen zugunsten eines Bildungsbegriffs harmonisiert, der so allgemein bleibt, dass die generalisierte Perspektive – triadisch statt dyadisch zu denken, wie z. B. beim Anlage-Umwelt-Streit – die Forschungen nicht mehr stört, sie aber auch nicht eigenständig methodisch inspirieren kann. Nicht zufällig muss er, nicht nur im Blick auf die Ergebnisse, sondern auch für Prozesse, „Kontingenzen“ (876 f.) einräumen, die sein Leitbegriff nicht integriert. Andere Ordnungsangebote, z. B. „Bewußtsein als „Integrationskonstrukt“ (350), sind präsent, tragen aber nicht über die gesamte Breite des von ihm berücksichtigten Wissens. Andere disziplinäre Konzepte, z. B. der Begriff der „Psychogenese“ sind für ihn wiederum „zu komplex“ (259), um sie zu nutzen. Die Komplexitätstheorie selbst, die andere Autoren für die Analyse von Erziehung oder Bildung und ihre Wirkungsmechanismen nutzen,54 greift Wiersing nicht auf, so wenig wie die Systemtheorie oder andere Großtheorien der Sozialwissenschaften, wohl zu Recht, weil sie das zu lösende Problem der Vielfalt der Referenzen und Wissensformen nicht selten eher klug beschreiben oder kritisch kommentieren als lösen. Im Ergebnis bleibt die mit seiner „Theorie der Bildung“ erwartete Erklärungsund Systematisierungsleistung für die Logik von Bildungsprozessen und für die Antwort auf die zentrale Frage, wie Bildung möglich ist, deshalb dann doch aus. Sie bleibt notwendig aus, weil der Bildungsbegriff auch in seinem weiten Verstande diese Leistungen nicht erbringen kann. Neben einer semantischen Verbindung disparater Befunde hat er selbst nicht das theoretische Auflösungs- und Integrationsvermögen, um das Wissen, das in den Referenzwissenschaften forschend präsent ist, distinkt theoretisch zu relationieren oder neue Forschung
54Mein
Hinweis gilt den Arbeiten von Elmar Anhalt (Komplexität der Erziehung, Bad Heilbrunn 2012) und Thomas Rucker (Komplexität der Bildung, Bad Heilbrunn 2014).
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methodisch gesichert zu inspirieren. Nicht zufällig bleibt deshalb auch bei Wiersing und in seiner neuen Bildungswissenschaft die Antwort, die Forscher immer kennen, die Vertagung auf die Zukunft: more research is needed. Die Zukunft der „Bildungswissenschaft“ resümiert Wiersing als eine „Riesenaufgabe“, die „ohne einen institutionellen Rückhalt“ (42) bearbeitet werden muss. Das freilich kann man sagen, ohne jenseits zusammenfassender Sätze die systematische Form der Integration jetzt schon zeigen zu müssen, die in Zukunft erwartet wird. Die hier diskutierten Varianten von Theorien, die explizit den Begriff der Bildung als integrative Leitformel benutzen, das ist also der Befund, lösen das Problem der Systematisierung der vielfältigen Rede von und der Forschung über Bildung offenbar nicht. Ihr Theoriestatus bleibt prekär, sie können in der praktizierten Rezeption der Humanwissenschaften Zusammenhänge, aber nicht systematisch Einheit und distinkte Relation stiften. Ihre Leistung ist einerseits, wie bei Wiersing, die der ‚Zusammenfassung‘, von der schon Marx sprach, jetzt nicht philosophisch, sondern wissenschafts- und forschungsbasiert, aber nicht selbst forschungsleitend, oder andererseits, wie bei Kerschensteiner, die einer wertphilosophisch begründeten Konstruktion einer allein als wahr ausgezeichneten Bildung. Im Modus der Pädagogisierung werden das Thema und die theoretische Aufgabe normativierend reduziert; im Anspruch der nicht allen deskriptiven, sondern systematisierend-eigenständigen Integration der einschlägigen Gesamtheit des Wissens über die Entwicklung des Menschen im Lebenslauf, wie es in den Humanwissenschaften vorliegt, ist der Bildungsbegriff offenbar überfordert. Er kann dieses Wissen und die es strukturierenden Theorien, Annahmen und Hypothesen, wie Wiersing belegt, zwar narrativ resümieren, aber nicht forschungsfähig, also auch erklärend, integrieren. Das gelingt jedenfalls nicht so, dass auch die offenen Fragen und divergenten Erklärungsansätze der Humanwissenschaften in einer neuen, systematisch ausweisbaren Theorie aufgehoben werden, also, gut hegelianisch, zugleich bewahrt und in ihren Differenzen in einer neuen und weiterreichenden Gestalt aufgehoben und aufgelöst werden.
Kapitel 27
Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Man könnte es bei diesem ernüchternden Befund belassen, dass die Suche nach einer akzeptablen Theorie der Bildung auch aktuell ergebnislos ausgeht. Pädagogisierung des Themas ist anscheinend keine angemessene Theoriestrategie und in einer integrativen Bildungswissenschaft wird offenbar die zusammenfassende Funktion der Philosophie nur wiederholt, jetzt in der aktuellen Gestalt einer forschungsresümierenden „Superwissenschaft“, die sich aber nicht als genuine neue Theorie mit eigenem Forschungspotential ausweisen kann. Das wäre ein abschließender Befund für die Frage nach der Systematizität des Denkens über Bildung, wenn es nicht Arbeiten gäbe, und zwar im außerdeutschen Kontext, aber auch außerhalb des pädagogisch-bildungsphilosophischen deutschsprachigen Milieus, die mehr versprechen. Sie nehmen das Thema der Bildungstheorie, Mensch-Welt-Verhältnisse, anders auf, schon dadurch, dass sie die mit dem Bildungsbegriff gegebenen Restriktionen meiden und in der Arbeit am Thema auf diesen Begriff ganz verzichten, aber das Thema selbst neu und, wie sie behaupten, anders, aber theoretisch angemessen dimensionieren. Es gibt, mit anderen Worten, funktionale Äquivalente zur Bildungstheorie, Theorien des Mensch-Welt-Verhältnisses, die auch begrifflich für die Analyse dieses Verhältnisses und für die notwendigen theoretischen und methodischen Aufgaben einen eigenständigen Zugang wählen. Solche Formen der alternativen Thematisierung müssen auch geprüft werden, wenn die Frage nach der Systematizität und Theoretizität des Denkens über Mensch-Welt-Beziehungen, also über Bildung, wie man jetzt umgangssprachlich die bekannte Rede aufnehmen könnte, angemessen beantwortet werden soll. Diese andere Thematisierung findet sich in mehrfacher Gestalt und einige, auch systematisch relevante Varianten dieser funktional äquivalenten Thematisierung sollen im Folgenden vorgestellt werden. Das geschieht zunächst überblickshaft, zum Beleg der These, dass es so etwas wie eine weltweite, disziplinär und kulturell universale Thematisierung von Mensch-Welt-Beziehungen gibt, die, nicht nur im außerdeutschen Kontext, auf den Begriff der Bildung offenbar © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_27
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relativ gelassen ebenso verzichten kann wie auf Einheitsambitionen. Betrachtet man sie näher, dann lernt man über die Möglichkeiten und Risiken anderer Theoretisierungsversuche und der sie inspirierenden Einheitsformeln und zugleich etwas über die Lernfähigkeit und Rezeptionspraktiken, die in der deutschen Bildungsreflexion, und nicht nur zu ihrem Vorteil, praktiziert werden.
27.1 Mensch, Welt, Selbst – die Universalität und Offenheit der Thematisierung des Themas Die Breite der Thematisierung der Phänomene, die in den deutschsprachigen Humanwissenschaften sowie in der Sozial- und Erziehungsphilosophie unter dem Titel der „Bildung“ behandelt wurden und werden, konnte schon in der historischen Rekonstruktion des Themas gezeigt werden. Auch in der Analyse der spezifischen Formen der Argumentation konnte hier und da, etwa für die Reflexion von Lebensformen und Praktiken der Lebensführung, darauf verwiesen werden, dass diese Themen in der internationalen Philosophie von Plato bis heute, in West und Ost, ebenfalls eine reiche Tradition haben, die sogar unter dem Titel der „Bildung“ rezipiert – und übersetzt – wird, auch wenn der Titel im Original z. B. nur auf „Erziehung“ rekurriert. Dass es gleichzeitig eine aus der z. T. bewusst gewählten Distanz zum Bildungsbegriff praktizierte intensive Forschung über die mit dem Bildungsbegriff bezeichneten Themen gibt, konnte exemplarisch bereits an den Studien nachgewiesen werden, die dem Lebenslauf der Individuen folgen und dabei untersuchen und demonstrieren, dass und wie sich Teilhabe- und Handlungsfähigkeit von Individuen in Wechselwirkung mit Gesellschaft aufbauen, innerhalb und außerhalb von Erziehungseinrichtungen, und natürlich in großer Varianz. Die Auseinandersetzung mit Kritik als Argument hat zumindest auch das Ergebnis erbracht, dass man die vielfach behaupteten systematischen Restriktionen auch nicht umstandslos mit dem häufig bemühten weltweit relevanten Konstrukt „Kapitalismus“ verbinden kann, obwohl sich wiederum weltweit Bildungssysteme herausgebildet haben, die auch die inner- und nachschulische Verwertung von Zertifikaten und schulisch erworbenen Kompetenzen ermöglichen. Bildungsprozesse haben offenbar ihre eigene Logik, auch Widerständigkeit, die sich gesellschaftlich nicht einfach dispensieren lässt, aber weltweit gesucht wird. Das Thema der Bildung, die Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt, ist deshalb auch nicht nur im deutschen Verweisungszusammenhang zwischen Philosophie und Forschung, sondern universal präsent. Semantisch zeigt sich das Phänomen dann je kulturell und disziplinär zwar in eigener Begrifflichkeit, aber von der systematisch rekonstruierten thematischen Grundstruktur aus ist es zugleich auch auf die hierzulande dominierende Bildungsreflexion und Bildungsforschung sehr gut beziehbar. „Mensch“ und „Welt“, das „Selbst“, seine „Selbstbestimmung“ und die Autonomie des Subjekts, die Konzepte von Individualität und Sozialität, „Identität“ und „Interaktion“ sind in den Forschungen über den Menschen und die Bedingungen seines Aufwachsens
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angesichts eines je historisch definierten gesellschaftlichen Curriculums auch dort präsent, wo es die begriffliche Unterscheidung von Bildung und Erziehung nicht gibt. Auch in den meisten der auf das Bildungssystem oder auf „Weltkultur“ und „kulturelle Bedeutungswelten“ bezogenen, global geführten „Bildungsdiskursen“1 werden in je kulturspezifischer Grundierung und Begründung die normativen und/ oder empirischen Differenzen berücksichtigt, die aus der deutschen Diskussion bekannt sind. Solche Unterscheidungen betreffen auch international die Begrifflichkeit und die Form der Thematisierung, die Muster der untersuchten Prozesse und die Differenzen in ihren Ergebnisse genauso wie die öffentlichen und wissenschaftlichen Kontroversen, die auch bei anderer Begrifflichkeit, z. B. „growth“ statt „Bildung“ theorierelevante Varianzen erzeugen, die so wenig harmonisiert sind wie in deutschen Debatten.2 Diese Texte und ihre Referenzwelten markieren also ebenfalls theoretisch wie gesellschaftlich die feinen Unterschiede, die zwischen Erziehung und Bildung im deutschen Kontext und seiner Reflexion gemacht werden können. In westeuropäischen Debatten über digitale Bildung wird aktuell sogar „the german notion of ‚bildung‘“ bemüht, um die eigenen Ansprüche an die Ganzheitlichkeit, Individualität und Reflexivität von Lehr-/Lern-Prozessen jenseits des Trainings von ‚skills‘ darzustellen und zu begründen. Auch wenn die Weltbank oder die UNESCO über „Education for all“ schreiben, fehlen weder die normativen Referenzen auf universale Rechte noch die Berufung auf Forschungen, in denen die Bedeutung von Erziehung für die Konstruktion von Lebensläufen und die Teilhabefähigkeit der Individuen dargestellt wird. Zwischen den deutschen und europäischen Debatten über Erziehung und Bildung und dem internationalen Diskurs gibt es also bei aller begrifflichen Differenz hohe thematische Übereinstimmung, schon im Problembezug der Analysen. Das mag vielleicht schon deswegen gelten, weil sich ein eigener Diskurs über diese Themen, der sich dann z. B. in nationalen Bildungsberichten über OECD-Texte bis zur UN in gattungsspezifischen Dokumenten niederschlägt, in einem relativ kleinen Kreis eng vernetzter Akteure ausgebildet hat, die solche Papiere erzeugen, Themen und Methoden der Forschung vorgeben, Diskurse mit und über Expertenmacht3 strukturieren oder sich sogar als ‚comparative
1Meine
Anspielungen gelten Jürgen Schriewer (Hrsg.): Weltkultur und kulturelle Bedeutungswelten. Zur Globalisierung von Bildungsdiskursen. Frankfurt a. M./New York 2007. 2In Pauli Siljander, Ari Kivela, Ari Sutinen (Hrsg.): Theories of Bildung and Growth. Rotterdam 2012 betonen die Herausgeber in ihrem Nachwort jedenfalls zu Recht, dass man nicht allein die Differenzen zwischen den großen, traditional, regional oder sprachlich eher kontingent zu einer (Pseudo-)Einheit gefügten Konzepte schauen, sondern auch die gravierenden Differenzen innerhalb der jeweiligen erziehungsphilosophischen Konzepte beachten sollte. (Näheres zu diesem Buch in meiner Rezension 2013 in http://www.socialnet.de/rezensionen/14498.php). 3Für die Funktion dieses Reflexionsestablishments, wie man im Anschluss an Niklas Luhmann sagen könnte, in historischer Perspektive und national Heinz-Elmar Tenorth: Politikberatung und Wandel der Expertenrolle oder: Die Expertise der Erziehungswissenschaft. In: R.Fatke/J.Oelkers (Hrsg.): Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft: Geschichte und Gegenwart. Weinheim/Basel 2014, S. 139–171, im aktuellen Politik- und Wissenschaftsraum Richard Münch: Der bildungsindustrielle Komplex. Schule und Unterricht im Wettbewerbsstaat. Weinheim/Basel 2018.
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education‘ disziplinär verselbständigt haben.4 Komparatistische Analysen zeigen die Gemeinsamkeit eines reflexiven Anspielungsraumes auch an der Tatsache, dass einige wenige Texte als quasi internationale Klassiker den kulturübergreifenden Diskurs zentrieren, wie das eine Zeit lang für die Texte von Jean Piaget oder, und anscheinend auch dauerhafter, z. B. für die Schriften von John Dewey gesagt werden kann.5 Diese Autoren verbinden offenbar die politisch-gesellschaftlichen und theoretischen Erwartungen an Bildung und Erziehung in einer Weise, dass sie sich weltweit verbreiten und dabei in den je eigenen Kontext übersetzt und transformiert werden können, aber zugleich übergreifend als theoretische Beiträge zu einem gemeinsamen Thema verstanden werden, wenn auch ganz ohne den Bildungsbegriff, aber in einer Kommunikation, die distinkte Relationen zur Bildungsreflexion stiftet. Auch die jeweiligen ‚Nationen‘, Sprachgemeinschaften, Ethnizitäten, politische Systeme oder Staaten, fungieren in diesen Diskursen, wie in der deutschen Bildungsreflexion, als Adressaten und Referenzsysteme, auch hier selbstverständlich in je spezifischer kultureller Referenz. Krisendiagnosen belegen das in Gemeinsamkeit und Differenz, wenn z. B., wie in den USA, „A nation at risk“ zu einer Zeit beobachtet wird, zu der in der gesamten westlichen Welt Krisendiagnosen im Zeichen der Bildung formuliert werden. Die Situation wird aber, auch ungeachtet vergleichbarer ökonomischer Strukturen, je spezifisch beobachtet, denn in den USA gelten z. B. die Demokratie und die Versprechen der Leitkultur von ökonomischer Prosperität, Chancengleichheit und sozialem Aufstieg als bedroht, so dass Abhilfe geboten ist, um die eigenen Versprechen zu beglaubigen und zu stabilisieren. In Deutschland werden in der Koppelung von „Auslese und Förderung“ dagegen in den 1950er Jahren Bildungsprozesse und -systeme noch eher selektionsorientiert beobachtet. Nationale Selbstbilder und Wertmuster spielen auch andernorts eine kollektiv folgenreiche Rolle, z. B. in der skandinavischen Selbstwahrnehmung der Funktion von Bildung, in der bis heute „Schwedischeit“ oder der Bezug auf „das Dänische“ immer noch praktiziert werden kann.6 Das ist meist auch mit der starken Annahme verbunden, dass die gemeinsame grundskola die Form von Identität konstruieren kann und soll, die damit gemeint ist, und diese Referenz auf das Bildungssystem sorgt dafür, dass z. B. ein Autor wie Grundtvig, ungeachtet seiner – vor dem Hintergrund deutscher Erfahrungen – so irritierend stark auf Formeln wie ‚Volk‘ oder ‚Heimat‘ bezogenen Rhetorik, als Theoretiker von Bildung und Schule in hoher Achtung
4Disziplinbezogen
hat das Jürgen Schriewer früh belegt, in: J.S.: Discourse Formation in Comparative Education. Frankfurt am. (usw.) 2000. 5Rosa Bruno-Jofré/Jürgen Schriewer (Hrsg.): The Global Reception of John Dewey’s Thought. Multiple Refractions through Time and Space. New York 2012. Die Beiträge belegen das für eine weltweite Varianz von Kulturen, Nationen und Konfessionen, zwar nicht für Afrika, aber auch für Latein-Amerika, das nicht immer gleichgewichtig angesichts der dominierenden Ost-WestPerspektiven, die hier natürlich auch nicht fehlen, im Blick ist. 6Bei dem Skandinavisten Bernd Henningsen habe ich das gelernt.
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steht.7 Dagegen wird in Deutschland, und aus sehr guten Gründen, niemand mehr mit ‚Volk‘ oder ‚Deutschtum‘ argumentieren, so wie man „Italianitá“ nach Mussolini auch nicht mehr problemlos propagieren kann. Auch die Frage nach einer „Leitkultur“ wird eher indigniert abgewehrt oder, dann wieder gut bildungstheoretisch begründbar, im Blick auf Zivilität oder die kulturellen Selbstverständlichkeiten beantwortbar gemacht. Dass „Bildung“ also auch hierzulande dazu beitragen soll, die Demokratie zu fundieren und hinzukommende neue Bürger zu integrieren, das gilt trotz aller Konflikte unbestritten – und hat ja auch historische Plausibilität, wenn man die Ansprüche realistisch setzt, wie schon die Migrationsgeschichte von Ost nach West um 1900 oder die Einwanderungsgeschichten weltweit und aktuell – trotz aller Konflikte – belegen. Anderen Kulturen haben für die Konstruktion und Reflexion ihrer kollektiven Identität ihre eigenen Begriffe. „Negritude“8 z. B. wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Begriff, in dem der afrikanische Kontinent seine Geschichte und Identität, seine Selbstwahrnehmung und den Anspruch der Selbstbestimmung seit Aimé Cesaire, Lepold Sedar Senghor oder Frantz Fanon jenseits des Kolonialismus artikuliert hat. Auch die aktuelle Präsentation einer afrikanischen Philosophie und die Kontroversen über ihren Status9 belegen diese zur Tradition des Bildungsbegriffs funktional vergleichbare Problematik und Referenz, wenn man z. B. die deutsche Debatte über „Nation“ und ihre politischen und kulturellen, philosophischen und ästhetischen Referenzen im historischen Kontext um 1800 sieht. In der internationalen Debatte über kulturelle Leitbilder oder Leitkulturen werden ja die „kulturellen Selbstständlichkeiten“ beobachtet und begründet, die z. B. Theodor Litt als zentrales Thema von Bildung benannt hatte, und deren Funktion er an der Schnittstelle von „Individuum und Gemeinschaft“ als Mechanismen sozialer Integration analysiert hat.10 Solche kulturellen
7Zu Grundtvig historisch, jetzt für die Pädagogik und für Erwachsenenbildung und ‚Volk‘Bildung, z. B. Norbert Vogel: Grundtvigs Bedeutung für die deutsche Erwachsenenbildung. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn 1994. 8Souleymane Bachir Diagne: „Négritude“. In: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2018 Edition); https://plato.stanford.edu/archives/ sum2018/entries/negritude/ (zuletzt: 30.07.2019). Das Thema dieser umfangreichen Debatte des Begriffs lautet: „„Négritude“, or the self-affirmation of black peoples, or the affirmation of the values of civilization of something defined as „the black world“ as an answer to the question „what are we in this white world?““. 9Einen Eindruck von dieser Diskussion geben Andreas Eckert: Afrikas Morgenröte. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 11(2017)2, S. 117–119 anlässlich einer Besprechung von Achille Mbembe: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Berlin 2016, sowie, im Kontext von Kolonialisierung und Dekolonialisierung, erneut Souleymane Bachir Diagne: Afrikanische Philosophie und die Sprachen Afrikas. In: Merkur 843, 73(2019), S. 94–99 – mit einem Plädoyer für eine „Haltung der Vielstimmigkeit“. 10Theodor Litt: Individuum und Gemeischaft. Leipzig 2. Aufl. 1924 – aus dem Kontext der zeitgenössischen Debatte über „Integration“ (vgl. die Hinweise in IV.23.4 oben).
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elbstbilder und Selbstbeschreibungen gehören also in den Bildungskontext, S denn sie sind immer Konstrukte, sie referieren auf eine historisch identifizierbare Praxis, in der sie sich in Wechselwirkung mit Welt entwickeln, lehrbar und der Reflexion zugänglich werden, folgenreich bis in die alltägliche Lebensführung und die große Politik zugleich. Ihre gesellschaftliche Anerkennung verdanken solche Leitbilder, Denkformen und Begriffe, wie sie in der Reflexion über Bildung oder die civil society vorliegen, auch eigenen Trägergruppen, die einerseits den Diskurs erzeugen und tradieren und dabei auch die Kontinuität der Thematisierung sichern, andererseits und zugleich aber auch ihren sozialen Status der Institutionalisierung solche selbstverständlich werdenden Muster von Reflexion über Formen sozialer Reproduktion verdanken. Selbst das deutsche Berechtigungssystem, vermeintlich der stärkste Indikator für Singularität, ist kein Unikat, wie man im Vergleich zur langen Tradition der chinesischen Mandarin-Kultur und der damit etablierten Funktion von Prüfungen für den Erwerb von Status und Prestige ebenso sehen kann wie an den Klagen über die Entstehung einer credential society,11 von der die vermeintlich einmal gegebene Offenheit der Gesellschaft negativ überformt wird. Die Nähe solcher Diagnosen über die USA und ihr Bildungssystem zu deutschen Debatten über die „Überfüllung“ der akademischen Berufe ist hier ebenso zu greifen wie die Kontroversen über die Folgeprobleme von „Akademisierung“ und „Bildungswahn“. Die Universalität des Themas ist schon angesichts der weltweiten Relevanz institutionalisierter Bildungsprozesse also am wenigstens zu bezweifeln. Diese Universalität der Thematisierung des Themas lässt sich auch für die weitere systematische Reflexion jenseits der Bildungssoziologie und ihrer Forschungen und Analysen belegen. Das gilt für die öffentliche politische und intellektuelle Debatte über Akademisierung oder kulturelle Leitbilder, aber auch für die philosophische Diskussion über Mensch und Welt und die historische oder gesellschaftliche Konstruktion des Selbst und seine Identität. Ein starker Beleg für die kulturübergreifende Nähe und Anschließbarkeit, wenn nicht sogar für die Identität der Themen zumal der deutschsprachigen Bildungsreflexion und der außerdeutschen sozialphilosophischen Praxis liefert die deutschsprachige Bildungsreflexion selbst, in ihrem nicht erst heute gepflegten Rezeptions- und Kommunikationsverhalten nämlich. Ohne Angst um ihre eigene Identität und ohne Rücksicht auf die vermeintlich starke Differenzen stiftende deutsche Debatte, die von einem vermeintlich singulären Begriff wie „Bildung“ unheilbar, weil separierend regiert werde, kann sie nämlich von Beginn an auch immer intensiv rezipieren und in ihre eigenen Überlegungen integrieren, was ihr in dem
11Dazu
gibt es für die USA schon die klassische Studie von Randall Collins: The Credential Society. An Historical Sociology of Education and Stratification. (1979). Aktuell auch die Neuauflage, mit einem New preface to the Legacy Edition von R.Collins selbst, sowie den Vorworten von Tressie McMillan Cottom und Mitchell L. Stevens. New York 2019.
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„vielstimmigen Diskurs“12 thematisch als verwandt und relevant erscheint (nicht selten um den Preis, eine wiederkehrende Folge von Theoriekonjunkturen und Theorieverschleiß zu inszenieren, ohne die eigene Theorie stark zur Geltung zu bringen). Die Spezifik der deutschen Rede über Bildung bleibt aber auch in diesen breiten Rezeptionsprozessen sichtbar, denn sie sind alles andere als beliebig, sondern haben schon eigene Muster. Sie zeigen sich z. B. an den bevorzugten Referenzen und an den deutlichen Lücken gleichermaßen, denn im Grunde regiert doch die selbstkultivierte Vorliebe für normativ anspruchsvolle Prozesse der Selbstkonstruktion des Subjekts. Es erscheint mir deshalb kein Zufall, dass solche Lücken auch und vor allem gegenüber solchen sozialwissenschaftlichen Forschungstraditionen manifest sind, die sich mit der alltäglichen Lebensführung von Individuen und den dabei beobachtbaren Prozessen des Umgangs mit Welt befassen. Ohne hier eine vollständige Rezeptionsgeschichte geben zu wollen, gilt diese Defizitdiagnose z. B. für die Rezeption der Studien über „alltägliche Lebensführung“, wie sie sich z. B. soziologisch im Umkreis um G. Günther Voß breit und höchst produktiv entfaltet haben.13 Man kann darin deshalb auch einen weiteren und starken Beleg für die Ignoranz gegenüber dem Selbstverständlichen in der Bildungstheorie14 sehen, die sich auch in anderen Kontexten und für die Distanz gegenüber Prozessen von Anpassung und Vergesellschaftung in der Rede von Bildung belegen lassen. Der Anschluss an große Theorie und große Ambitionen der Konstruktion des Menschen gelingt offenbar immer noch leichter, schon historisch. Die Übersetzungen von Adam Ferguson im ausgehenden 18. Jahrhundert oder die intensive Lektüre von Rousseau belegen das historisch genauso wie die aktuelle Aneignung französischer Sozialphilosophie oder amerikanischer Kommunitaristen (und ihrer Kontroversen) oder von Judith Butler oder von „queertheoretischen Perspektiven auf Bildung“.15 Die „Perspektiven der
12So die Ausgangsannahme bei Rieger-Ladich, Bildungstheorien, 2019, S. 20, der explizit auf den Begriff der Bildung in der Rezeption und Diskussion aktueller Theorien westlicher Sozialphilosophie auch deswegen meint verzichten zu können, weil die Rede von Bildung nicht den theoretischen Status habe, der „für Spezialdiskurse charakteristisch ist“ (zit. S. 21) – aber er zahlt dafür auch den Preis, dass sein Thema uferlos wird und die Rede von „Bildungstheorien“ ihre klare Referenz verliert. 13Exemplarisch, schon wegen des Erscheinungsortes und der dort behandelten Thematik, nenne ich nur den systematischen Einblick in diese Forschungen bei Karin Jurczyk/G. Günther Voß/ Margit Weihrich: Alltägliche Lebensführung – theoretische und zeitdiagnostische Potenziale eines subjektorientierten Konzepts. In: Erika Alleweldt/Anja Röcke/Jochen Steinbicker (Hrsg.): Lebensführung heute. Klasse, Bildung, Individualität. Weinheim/Basel 2016. S. 53–87. 14Tenorth, Heinz-Elmar: Basiskompetenzen – Über die Ignoranz gegenüber dem Selbstverständlichen in der Bildungstheorie. In: K.F. Wessel (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung und die Bildung für die Zukunft. Bielefeld 2007, S. 32–41. 15Das ist Thema bei Jutta Hartmann/Astrid Messerschmidt/Christine Thon (Hrsg.): Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität. Wiesbaden 2017.
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Erziehungs- und Bildungsphilosophie“ werden deshalb, ohne alle Distanz oder Besorgnis, aktuell auch durch die Arbeiten von Charles Taylor16 oder Richard Rorty erweitert und neu inspiriert.17 Die gleiche Leistung erbringen, z. T. schon früher, jedenfalls ganz intensiv, die amerikanischen Pragmatisten, gleich ob William James oder George Herbert Mead, historisch wie aktuell,18 zu schweigen von der Dauerkonjunktur, die John Dewey hat, der noch aktuell neu ediert wird und Grundsatzkontroversen zumindest bei Pädagogen auslöst.19 Zumal im Milieu der Erziehungs- und Bildungsphilosophie kann man alle diese Autoren rezipieren und in die Klärung des eigenen Themas, sei es Bildung und Widerständigkeit, Widerspruch oder Subjektivität,20 und in die Modernisierung der eigenen Theorieanstrengungen integrieren, ohne die eigene theoretische Identität oder den Begriff der Bildung bedroht zu sehen. Und man wartet förmlich darauf, dass auch die sich aktuell entfaltende „Soziologie des Lebens“21 in die Rede von Bildung integriert wird, werden hier doch Theorietraditionen von Simmel bis Bergson, Plessner und französische Debatten über Anthropologie breit aufgenommen und neu thematisiert.
16Charles
Taylor: Perspektiven der Erziehungs- und Bildungsphilosophie. Hrsg. Von Nicole Balzer, Jens Beljan und Johannes Drerup. Münster 2019 (i.Dr.). 17Stephanie Hellekamps: Selbsterschaffung und Bildsamkeit. Bildungstheoretische Überlegungen zu Rortys Konzept des „creation of self“. In: Zeitschrift für Pädagogik 42(1996), S. 767–779. 18Für die bildungstheoretische Rezeption schon die Arbeiten von Micha Brumlik, zur jüngeren Mead-Rezeption z. B. George Herbert Mead: Philosophie der Erziehung. Hrsg. und eingel. von Daniel Tröhler und Gert Biesta. Bad Heilbrunn 2008. 19Dewey ist z. B. erst jüngst wieder Thema geworden, in einer Kritik der schönen Bilder, die im Kontrast zur Realität von der Praxis der Labor-Schule in Chicago existieren, bei Michael Knoll: Anders als gedacht. John Deweys Erziehung zur Demokratie. In: Zeitschrift für Pädagogik 64 (2018) 5, S. 700–718, sowie in der Metakritik an Knoll bei Fritz Bohnsack: Noch einmal „Anders als gedacht“. Ein Kommentar zu Michael Knolls Dewey-Aufsatz …In: Zeitschrift für Pädagogik 65 (2019)3, S. 445–450. 20Zu diesen Themen in der Offenheit der Rezeption und der Referenzen u. a. Christiane Thompson/Gabriele Weiß (Hrsg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung. Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld 2008; oder Norbert Ricken/Rita Casale/Christiane Thompson (Hrsg.): Subjektivierung. Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim/Basel 2019. 21Man betrachte nur die Referenzen und Themen in einem aktuellen Sammelband: Heike Delitz/Frithjof Nungesser/Robert Seyfert (Hrsg.): Soziologien des Lebens. Überschreitung – Differenzierung – Kritik. Bielefeld 2018. In der Einleitung der Herausgeber finden sich Sätze, die geradezu als Einladung für eine affirmative oder kritische Rezeption durch Bildungstheoretiker gelesen werden können: „Für eine lebenssoziologische Denkweise ist das Leben Subjekt und ebenso Objekt des Sozialen – Subjekt und Objekt von Gesellschaft. Diese lebenstheoretische Kernidee findet sich in ganz unterschiedlichen Ansätzen.“ (zit. S. 7). Aber man kann vielleicht schon jetzt erinnern, dass diese „Kernidee“ angesichts der Tradition des Bildungsdenkens zumindest keinen Originalitätsanspruch mit sich führt, selbst „Leben“ als Referenz ist eine romantische Kernidee z. B. in der Bildungs- und Erziehungsreflexion von Friedrich Fröbel. Aber weder Bildungsphilosophie noch Fröbel bilden aktuell, erwartungsgemäß, eine Referenz für die soziologische Theoriebildung.
27.1 Mensch, Welt, Selbst – die Universalität ... der Thematisierung des Themas
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Dieses Rezeptionsverhalten und die darin sichtbar werdende kommunikative Praxis der Bildungsreflexion, das kann man auch nicht übersehen, zeigt dabei deutlich mehr einseitige als symmetrische Wege der Kommunikation und Rezeption. Die deutsche klassische Philosophie war für die Genese z. B. der pragmatischen amerikanischen Philosophie in Anschluss und Abgrenzung noch bedeutsam. Auch die kritische Theorie Frankfurter Provenienz im 20. Jahrhundert und bis hin zu Habermas wird systematisch studiert und rezipiert und beein flusst dann auch z. B. die critical pedagogy stark. Mit der Bildungsreflexion und -philosophie ist es anders. Schon für Heydorn gilt diese zweiseitige Richtung in der Rezeption nicht und die in der Bildungsreflexion rezipierte französische Philosophie mag von Heidegger und Husserl inspiriert worden sein oder sich von kritischer Theorie in den klassischen Autoren abgrenzen, sie hat sich weder als Humboldt-Interpretation entfaltet noch überhaupt die deutschsprachige Bildungsreflexion als zentrale Inspirationsquelle gesucht. Auch wenn deutsche Philosophen über „Selbstbestimmung“ schreiben, kommen deutschsprachige Bildungstheoretiker nicht vor, und das theoretische Problem der Bildung selbst, also der eigenlogische Prozess, in dem Selbstbestimmung möglich wird, wird überhaupt nicht zum Thema.22 Es gibt sicherlich hier und da gemeinsame philosophisch-erziehungsphilosophische Rezeptionslinien und wohl auch einige kommunikative Netzwerke, sogar über nationale Kulturen hinweg, z. B. mit der frankophonen Phänomenologie sehr lokal und personal oder mit der japanischen Erziehungsphilosophie. Hier z. B. gibt es Traditionen wechselseitiger Kommunikation in der Erziehungsphilosophie seit der Zwischenkriegszeit und z. B. bei Eduard Spranger, mit allen Risiken der Kommunikation mit einer Kultur, deren Sprache man schon nicht versteht.23 Später wird z. B. der Begriff der „Humanität“ zum Focus der Kommunikation.24 Aktuell wird solcher Kontakt nicht zufällig bei einem Begriff wie „Person“
22Mein
Hinweis zur Distanz gegenüber der Bildungsreflexion trotz thematischer Nähe gilt Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999. 23Die Irritation über Sprangers Japan-Reise und seine Japan-Wahrnehmung dokumentiert schon die Autobiografie von Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Frankfurt a. M. 1989. Zu den Spezifika dieser Rezeption im Ganzen jüngst die Beiträge zum Thema „Die Wahrheit über Japan“, in denen sich alle Fallstricke dieser wechselseitigen Aufmerksamkeit studieren lassen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 13(2019)2. Für die Rezeption im Kontext von Überlegungen zum Thema „Nationalerziehung“, wie sie aus der Weimarer Republik und der Lehrerbildung als Instrument der „Volkbildung“ präsent waren, u. a. der Beitrag von Hans-Joachim Bieber: Das Spannen des völkischen Bogens. Graf Dürckheim in Japan. Ebd., S. 53–61. 24Das Thema liegt in der Erziehungsphilosophie vor: Daisaku Ikeda/Josef Derbolav: Auf der Suche nach einer neuen Humanität- München 1988. Einer der Ausgangspunkte ist „Bildung und Wissenschaft“ (S. 26), Japan wird hier als „ein ermutigendes Experiment“ wahrgenommen, u. a. weil die „Naturtradition der Menschheit“ hier überlebt habe, wie schon damals an Diagnosen für die ökologische Problematik angesichts der „Ausbeutung der Erde“ (276) belegt wird.
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
gesucht,25 der selbst eine ganze eigenen internationale Geschichte hat, aber sonst regiert auch hier die Einseitigkeit von Rezeption und Kommunikation. Das gilt auch für die intellektuelle und öffentliche Debatte des Themas Bildung, nicht ganz unerwartet oder überraschend angesichts der Differenz der Thematisierungsformen. In der deutschsprachigen Bildungsreflexion überwiegen Bilder des wohlerzogenen Menschen, aber dass es auch so etwas wie die „verwilderte Selbstbehauptung“ geben kann, das sieht wohl nur ein Autor wie Alexander Kluge. Er vermag darin auch noch die autonome Leistung der Subjekte und die Ambivalenzen der Kritiker zu identifizieren, wie sie selbst in der kritischen Theorie sichtbar sind.26 Kritischer Bildungstheorie sind solche Stilformen doch eher fremd. Letztlich bestätigt sich auch hier, dass dem Thema die Universalität nicht abgesprochen werden kann, dass aber die pluralen kulturellen, disziplinären und intellektuellen Formen der Thematisierung unverkennbar dominieren, ohne bisher systematisch integriert zu werden. Kann es aber, das ist das systematische Anschlussproblem, angesichts solcher kulturellen Heterogenität eine Theorie der Bildung überhaupt geben oder doch nur die Beschreibung eines gemeinsamen Bezugsproblems, das in höchster kultureller Varianz von Reflexionen und Lebensformen bearbeitet wird? Vielleicht ist es deshalb auch kein Zufall, dass die Versuche einer Theorie der Bildung, die aus der Einheit von Bildung und Erziehung heraus argumentieren und an einem kulturell geprägten Begriff wie Bildung festhalten, letztlich doch scheitern. Das mag an der kulturellen Fixierung liegen, wie sie normativ die Wertphilosophie einträgt, und an der pädagogischen Orientierung, die aus der Verpflichtung auf das nationale Bildungssystem und die Bindung an die Praxis und ihre Traditionen zugleich entsteht, wie bei Kerschensteiner, der deshalb die Erwartungen an Theorie systematisch unterbietet. Das kann aber auch, und das ist offenbar der andere Irrweg, aus einer interdisziplinären Orientierung herrühren, die mit dem Begriff der Bildung keine begriffliche Reduktionsleistung mehr organisieren kann und auch über den Ersatzbegriff, die „Person“, die Vielfalt der Theorien nicht mehr zu systematischer Einheit zu fügen vermag. Gibt es andere Lösungen, solche, die bisher zu wenig beachtet wurden? Man sollte vielleicht nicht beim Begriff und tradierten Theorien, sondern beim Thema suchen, denn über Mensch-Welt-Beziehungen wird auch jenseits des bildungsphilosophischen und -theoretischen Milieus mit großen und integrativen Theorieambitionen gestritten. Das geschieht zwar mit anderen Leitbegriffen, aber durchaus in Kenntnis der Bildungsreflexion. Zwei solcher Versuche sollen
25Aktuell
z. B. Michael Quante/Hiroshi Goto/Tim Rojek/Shinge Segawa (Hrsg.): Der Begriff der Person in systematischer wie historischer Perspektive. Ein deutsch-japanischer Dialog. Münster 2019 (i. Dr.). 26Alexander Kluge: Chronik der Gefühle, Bd. I, Frankfurt a. M. 2000, S. 795–892. Kluge stellt dem Kapitel diese Sätze voran: „In uns sitzt ETWAS, das will spielen. … Dieses ETWAS gilt als ‚verwildert‘. Und es ‚behauptet sich selbst‘. Es hat ein Auge darauf, daß nichts so ist, wie es definiert wird.“ Dann folgen „Geschichten über das verstreute Front-Theater, kritische Theorie, Menschenpark und ‚Feigheit als Mutter der Grausamkeit‘“ (S. 797).
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie
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abschließend vorgestellt und diskutiert werden, um auch Theorieoptionen zum Thema zu prüfen, die zwar im deutschsprachigen Kontext, aber mit eigener Begrifflichkeit argumentieren. Das erste Exempel operiert mit dem Begriff der „Resonanz“. Er bildet in Hartmut Rosas viel diskutierter und auch öffentlich stark beachteter Analyse den Leitbegriff einer „Soziologie der Weltbeziehung“.27 Das zweite hier zu behandelnde Exempel entstammt der Philosophie und den inzwischen schon sehr lange und intensiv betriebenen Arbeiten an einer Analyse der „Humanontogenese“, die Karl Friedrich Wessel in einer monumentalen Studie unter dem Titel „der ganze Mensch“28 jüngst zusammenfassend vorgelegt hat. Beide Theoriestücke werden unter der Frage diskutiert, ob sie besser leisten, was die Theorie der Bildung nicht vermag, und auch, wie und ob es ihnen gelingt, sowohl die Fallstricke der pädagogisierenden Theorie zu vermeiden als auch die Integrationsaufgabe in eigener Systematik und Forschung zu lösen, ohne die Erfahrungen von 200 Jahren Reflexionstradition am Thema zu ignorieren oder zu unterbieten. Aus dem distanzierten Vergleich dieser Arbeiten mit der bekannten Reflexions- und Forschungstradition von Bildung, das ist die These, die dabei expliziert und belegt werden soll, kann nicht nur der aktuelle Stand der Analyse von Mensch-Welt-Verhältnissen weiter erhellt werden, auch die spezifische Leistung der Arbeit mit dem Bildungsbegriff wird systematisch deutlicher sichtbar. Leisten die funktionalen Äquivalente mehr? Können sie vielleicht sogar deswegen mehr leisten, weil sie die argumentativen Fallstricke, die sich mit der Tradition der Bildungsreflexion verbinden, explizit meiden?
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie Hartmut Rosas Studie29 ist viel diskutiert, viel kritisiert, aber auch, selbst in einer breiteren Öffentlichkeit, viel beachtet und zustimmend rezipiert worden.30 Rosa hat selbst zu der Kritik auch schon intensiv Stellung genommen, bereits im
27Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. Suhrkamp 2016. (Zitate im Folgen nach der Sonderausgabe 2018). 28Karl-Friedrich Wessel: Der ganze Mensch. Eine Einführung in die Humanontogenetik oder Die biopsychosoziale Einheit Mensch von der Konzeption bis zum Tode. Berlin 2015. Das früheste Dokument der damit verfolgten Ambitionen bietet Karl-Friedrich Wessel: Vorwort. In: Biopsychosoziale Einheit Mensch. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe 36(1987)6, S. 547–549. 29Nachweise aus Rosa, Resonanz, 2016, im Folgenden in Klammern im Text. 30Ich nenne hier neben dem Sammelband von Christian Helge Peters/Peter Schulz (Hrsg.): Resonanzen und Dissonanzen. Harmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion. Bielefeld 2017 nur die folgenden Arbeiten (in alphabetischer Folge): Sebastian Bandelin: Resonanzverlangen oder Kampf um Anerkennung? Überlegungen zum normativen Gehalt der
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Schlusskapitel seines Buches, „gewissermaßen im FAQ-Stil“, also in der Reaktion auf früh im Arbeitsprozess bereits gestellte und weitere Fragen, hier antizipiert als ‚Frequently Asked Questions‘ (740). Sie werden auch schon mit einigem systematischem Aufwand beantwortet, zudem in einer rhetorisch provokant als contradictio betitelten Selbstapologie: „Affirmative Revolution“.31 Dabei werden implizit und explizit auch die Vorarbeiten und Kontexte beansprucht, denen seine Analyse ihre Entstehung verdankt,32 und auch diese Arbeiten muss man natürlich berücksichtigen, wenn man seine Theorie diskutiert. Dabei will ich, um eine zu Recht geäußerte Sorge des Autors vorab auszuräumen, meine Absichten klarstellen: Ich habe nicht vor, wie das nach Rosas wohl zutreffendem Eindruck viele Kritiker getan haben, seine Arbeiten in Differenz zur Bildungstheorie zu lesen, ihm Abweichungen von einer als gültig unterstellten Theorie vorzuhalten, gar „Devianzen“ etwa zur Bildungstheorie vorzuwerfen33 und ihn von da aus zu kritisieren. Meine Absicht ist anders, ich will Rosa, und zwar seine „genuine Theorie“ (ebd.), im Kern ihrer Argumente und Annahmen als eine Variante von
esonanztheorie. In: Peters/Schulz (Hrsg.), (2017), S. 129–144; Micha Brumlik: Resonanz R oder: Das Ende der kritischen Theorie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 60 (2016), 5, Seite 120–123; Marie-Kristin Döbler,: Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp Verlag 2016. In (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ rezensionen/2016-3-112); Holger Schulze: Klangkolumne. Resonanz. In: Merkur 808 70(2016), S. 75–80; Dieter Thomä: Hartmut Rosa: Soziologie mit der Stimmgabel. Mehr Resonanz, bitte! Hartmut Rosa will die Gesellschaft, deren Beschleunigung er immer beklagt, durch zwischenmenschliche Anerkennung heilen. In: DIE ZEIT Nr. 26/2016, 16. Juni 2016; Johannes Twardella: Rezension von: Rosa, Hartmut/Endres, Wolfgang (Hrsg.): Resonanzpädagogik, Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim und Basel: Beltz 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (29.09.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340725751.html; Sonja Witte: In Liebe gebor(g)en. Heilsversprechen der Resonanz als Symptom für das Unbehagen in der Kultur. Psychoanalytisch-kulturtheoretische Anmerkungen zu Hartmuts Rosas Theorie der Weltbeziehungen. In: Peters/Schulz (Hrsg.), 2017, S. 291–307. 31Hartmut Rosa: Affirmative Revolution. In: Peter/Schulz (Hrsg.) (2017), S. 312–329. 32Vor allem: Hartmut Rosa (2009): Kritik der Zeitverhältnisse Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik. In: R.Jaeggi/T.Wesche (Hrsg.): Was ist Kritik? Frankfurt a. M., S. 23–54; ders. (2012). Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne. Aus: Von Krise zu Krise. Transformation ohne Ende. SFB 580, Jena, Tagung 14./15.06.2012; ders. (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. (Zuerst englisch 2010) Aus dem Englischen von Robin Celikates. Frankfurt a. M.; ders.: (2016): Politik ohne Resonanz. Wie wir die Demokratie wieder zum Klingen bringen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 60 (2016), 5, S. 89–100. 33Rosa (2017, S. 311) formuliert das nach der Lektüre seiner Kritiker so: „Die Idee, die Soziologie der Weltbeziehung vergleichend zum je eigenen Ansatz in Beziehung zu setzen, verleitet die Autor_innen dazu, diese Aufgabe im Sinne einer ‚Abstandsvermessung‘ anzugehen. Die Resonanztheorie wird dann für all das gelobt, was sie mit der eigenen Position und Herangehensweise teilt, und getadelt, für alles, was sie anders macht. Differenz wird dann nahezu automatisch zur methodischen, konzeptuellen oder normativen Devianz: Wo immer sich zeigt, dass die Resonanztheorie eben keine Systemtheorie, Praxistheorie, Anerkennungstheorie, Ausbeutungstheorie, Körpersoziologie etc. ist, wird sie genau dafür getadelt – dabei will sie all das ja gar nicht sein.“
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie
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Bildungstheorie aufweisen, als eine Theorie, die diese Verwandtschaft zwar nicht theoriestrategisch als zentralen systematischen Referenzraum exponiert, sie allerdings selbst – in einer dann sehr signifikanten, wenn auch knappen Weise – sogar explizit reklamiert, sonst aber ignoriert, weil er völlig selbstständig mit seinem eigenen Grundbegriff der „Resonanz“ operiert. Allerdings, und darauf beruht meine Zuschreibung von Verwandtschaft, ja vielleicht sogar die Identität mit einem spezifischen Typus von Bildungstheorie, Themen wie Referenzen, Ambitionen und Eigenheiten der Argumentation, auch die Gleichzeitigkeit von Analyse und Kritik und der praxisbezogene, auf Veränderung zielende Anspruch weisen sie als Theorie im Traditionskontext von Bildungsreflexion aus, und zwar in der Tradition einer zugleich kritischen und pädagogisierenden Bildungsreflexion, nur dass er seine eigene Praxis als „soziologische“ Theorie der Weltbeziehung bezeichnet. In dieser eigenständig und breit entfalteten Orientierung, das muss man zugleich betonen, zeigen sich auch eindeutige Vorzüge gegenüber dominierenden Richtungen und Argumentationen der bildungstheoretischen Tradition. Aber es bleibt für seine Gesamtkonstruktion ebenso eindeutig auch die Hypothek erkennbar, die aus der – systematisch nicht vermiedenen, vielleicht sogar nicht bewussten – Nähe zu den kritischen und pädagogisierenden Argumentformen der bildungstheoretischen Tradition resultiert. Vor dem Hintergrund der Rekonstruktionen der Argumenttypik, die ich in Teil II vorgelegt habe, bietet Rosas „Resonanz“-Studie – das ist die These meiner folgenden Darstellung und Diskussion – einen erneuten, aktuellen und systematischen Beleg für die problematischen Konsequenzen, die mit normativer Fixierung, binären Weltkonstruktionen und triadischem Erlösungsdenken innerhalb der Thematisierung von Mensch-Welt-Verhältnissen schon historisch aufweisbar waren und aktuell wirksam bleiben.
27.2.1 … Resonanztheorie als Programm einer „Kritischen Theorie der Weltbeziehungen“ „Resonanz“, der leitende Begriff seiner Theorie, wird bei Rosa aus Plessners Anthropologie rezipiert, nicht etwa, das hat Micha Brumlik in seiner Rezension zu Recht eingangs betont, in Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie (in Adornos Musiktheorie spielt er auch keine zentrale Rolle34), die für seinen Zugriff auf Welt und Subjekt sonst von großer Bedeutung ist. Aber er bezieht den Begriff auch nicht, was ebenfalls möglich gewesen wäre, aus der Soziologie von Niklas Luhmann, obwohl er dort für die Frage zentral ist, wie moderne Gesellschaften
34„Dissonanzen“
sind dort das Thema, die Kritik von Kulturindustrie und Populärmusik dominiert, Musik, ja Kunst generell wird nicht (mehr) das Potential zugesprochen, den allgemeinen Verblendungszusammenhang aufzuheben.
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
auf „Gefährdungen“ eingehen.35 Angesichts der intensiven zeitdiagnostischen Bedeutung, die „Krisen“ – ökologisch, demokratisch, psychisch – für seine Option von „Resonanz“ haben, wäre das auch bei Rosa eine verständliche Referenz, und sei es für distinkte Abgrenzung gewesen. Theoriegeschichtlich und -konstruktiv ist für seinen Zugang zum Thema und seine detaillierte Auseinandersetzung mit Mensch-Welt-Beziehungen aber die Phänomenologie und ihre philosophische Tradition in der deutschen und französischen Ausprägung, also von Plessner bis Waldenfels und Merleau-Ponty, von zentraler Bedeutung. Das schließt von daher erwartbar auch die explizite Abwehr eines primär „wissenschaftlich rationalistisch“ und „wissenschaftlich-technisch“ (290) verstandenen Zugangs zur Welt ein. Für den Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist neben der theoretischen Herkunft und Vernetzung aber zugleich, vielleicht sogar primär, die eigene Zeitdiagnose entscheidend, die Rosa mit seinen Thesen über „Beschleunigung“36 vorgelegt hat. Mit der „Kernthese“ zum Resonanzbuch stiftet er selbst diesen Zusammenhang: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht [sic! HET] die Lösung.“ (13) Dieser Zusammenhang zeigt sich auch darin, dass in der Zeitdiagnose schon im Titel „Beschleunigung und Entfremdung“ analytisch verbunden waren, und jetzt die „Dialektik von Resonanz und Entfremdung“ (316 ff.) die zugleich deskriptiv-analytische und normative Ambition dieser „Soziologie der Weltbeziehung“ fundieren soll. Dabei bildet „Entfremdung“ die Klammer, die kritische Diagnosen und optimistische Perspektiven verbindet. Bedeutsam ist das auch deswegen, weil Rosa den ja keineswegs konsensual geklärten Begriff der Entfremdung beziehungstheoretisch umdeutet, und zwar als „Beziehung der Beziehungslosigkeit“.37 Das verstärkt den allgemeinen Eindruck, dass er jetzt neben eine an der Zeitlichkeit ansetzenden Theorie ergänzend eine an der Sozialität orientierte Analyseperspektive stellt, alte klassentheoretische Ansätze aber ausdrücklich negiert. Für diese Theorieoption ist auch die normative Referenz zentral. Sie wird sowohl mit dem Grundbegriff als auch mit der
35Niklas
Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? (1986) Opladen 21988 diskutiert „Resonanz“ begrifflich (S. 40–50), und zwar als Irritation im System durch System-Umwelt-Beziehungen, allerdings ohne diese Irritation vorab normativ zu qualifizieren, denn sie gewinnt ihren Status als systemrelevante Kommunikation erst in der Reflexion im System und nach dessen Operationen. Später fragt er unter dem Titel „Beschränkung und Verstärkung. Zu wenig und zu viele Resonanz“ (S. 218 ff.), und kommt zu dem Ergebnis: „Der Begriff Resonanz weist daraufhin, daß Systeme nur nach Maßgabe ihrer eigenen Struktur auf Umweltereignisse reagieren können“ (269) – und es gibt wenig Gründe anzunehmen, dass er die Umwelt-Beziehungen von Person-Systemen anders beurteilt als ebenfalls ergebnisoffen, letztlich kontingent. Auch hier wird er sicherlich auf der Differenz von „Angst, Moral und Theorie beharren“ (ebd., S. 237–248), anders als in normativ fixierten Bildungstheorien und ihren Äquivalenten. 36Hartmut Rosa: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin 2013. 37Diese Qualifizierung des Entfremdungsbegriffs übernimmt er von Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt a. M./New York 2005.
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie
599
z eitdiagnostischen These und dem argumentativen Status der Theorie verbunden und schließlich explizit mit der Frage nach dem „Guten Leben“ ins Zentrum gerückt. Rosa will eine „Soziologie des guten Lebens“ vorstellen, in deutlicher Abgrenzung gegen die dominierende Soziologie, die sich nach seinem Urteil zwar kritisch geriert, wenn sie z. B. Fragen der Ungleichheit oder von Macht behandelt, aber in der Orientierung an Ressourcen die zentrale Frage nach dem guten Leben nicht angemessen beantworten kann. Das sei, so seine These, nur in der Hinwendung zu der „Art und Weise“ möglich, „in der die Menschen in die Welt gestellt sind“ (14). Resonanz und Entfremdung werden deshalb für ihn zu Basiskategorien einer „Weltbeziehungstheorie“, die in der Dimensionierung des Begriffs der Resonanz und in der Präzisierung seines Verständnisses von Entfremdung ihren allgemeinen theoretischen Rahmen hat. Es sind fünf „Kernmerkmale der Resonanzbeziehung“,38 die er benennt: „1) Affizierung im Sinne der Fähigkeit und Erfahrung eines ‚Berührtwerdens‘ durch ein Anderes, ohne durch dieses Andere dominiert oder fremdbestimmt zu werden. 2) Selbstwirksamkeit im Sinne der Fähigkeit und Erfahrung ein Anderes zu berühren oder es zu erreichen, ohne über dieses zu verfügen oder es zu beherrschen. 3) Wechselseitige Anverwandlung, nicht im Sinne einer Aneignung, einer Einverleibung oder einer Nostrifizierung, sondern im Sinne einer Selbsttransformation (in ein sich öffnendes Gemeinsames hin). 4) Unverfügbarkeit in einem doppelten Sinne: Zum einen lässt sich Resonanz nicht und niemals erzwingen (und ebenso wenig absolut ausschließen), weshalb sie in ihrem Auftreten, ihrer Intensität und ihre Dauer nicht kontrollierbar ist, und zum anderen – was vielleicht noch wichtiger ist – lässt sich niemals vorhersagen, was das Ergebnis der Transformation ist. Eine Resonanzbeziehung ist grundsätzlich ergebnisoffen. ….39 5) Ein entgegenkommender Resonanzraum im Sinne resonanzaffiner Kontextbedingungen: Das Zustandekommen der Resonanzbeziehungen hängt nicht nur von der Beschaffenheit der beteiligten Körper oder Entitäten ab …, sondern auch von der Qualität eines entgegenkommenden Resonanzraumes ….“
38So
die Bezeichnung in der gegen die Kritik bekräftigten Version der Bestimmung von Resonanz in Rosa, Affirmative Revolution, 2016, S. 315 f., (Herv. von mir, H.-E.T.), nach der ich hier zitiere, weil er hier den Begriff an einer Stelle und kondensiert wiedergibt, auch für die Diskussion deutlicher als in den umfangreichen Debatten in Rosa 2016, dort z. B. S. 281–291. Aber die umfangreiche Ausdifferenzierung der Nachweise von Resonanz und ihren Komposita – das sind: „Resonanz-achse; -beziehung, -blockade, -draht, -dreieck, -erwartung, -fähigkeit, -hafen, -katastrophe, -killer, -oase, -pathologie, -sensibilität, -simulation, -sphäre, -unterdrückung, -verdinglichung, -verlangen, -verlust, -versprechen, -vertrauen, -verweigerung“ – belegen, dass der Begriff seine Bedeutung jenseits der „Kernelemente“ erst im Buch insgesamt findet. 39In der hier ausgelassenen Passage räumt Rosa dann ein, dass angesichts dieses Merkmals das von ihm zur Veranschaulichung von Resonanz vielfach genutzte Exempel der resonanten Stimmgabeln nicht mehr trägt.
600
27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Außer über diese „Kernmerkmale“ (deren unverkennbare Nähe zu grundlegenden Annahmen der Bildungsreflexion ich hier doch wenigstens anmerken will) werden die „Grundelemente menschlicher Weltbeziehungen“ nach dem „Grad der Verbundenheit mit und der Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen)“ (53) auch als graduierbar gedacht, aber zunächst in ihrer Modalität beschrieben, und zwar in der denkbar umfassendsten Weise als „leibliche und psychische, existentielle und emotionale, kognitive und evaluative Aspekte“ (56) des Weltzugangs. Diese Modi werden im Detail und so subtil, wie es aus phänomenologischen Studien nicht unvertraut ist, präsentiert und diskutiert. Zu dieser Theorietradition gehört auch, dass die „körperlichen Weltbeziehungen“ zuerst erörtert werden (83 ff.), auch in der Differenz zu „medialen“ Formen, wie sie z. B. die Sprache darstellt oder die neuen Medien (der „Bildschirm“ und die Folgen der dadurch kontrollierten Weltwahrnehmung treiben ihn kritisch um). In der Unterscheidung von „Weltaneignung und Welterfahrung“ und mit den Kategorien „aktiv“ (angeeignet) vs. „passiv“ (erfahren), „weltbejahend“ bzw. „weltverneinend“ werden sie weiter klassifizierend, dann binär, systematisiert.40 Zusätzliche Klarheit gewinnt die Theorie von Resonanz als „Modus des Inder-Welt-Seins“ (285) durch die, ebenfalls phänomenologisch gewonnene, Bestimmung von „Welt“ und „Subjekt“. Die gewählten Duale für gelingende vs. misslingende Resonanz werden nicht zufällig in Metaphern der Sprachlichkeit gewählt, also über die Form, in der die Welt „antwortet“. „Welt“ ist, generell und erwartbar im phänomenologischen Kontext, „unhintergehbar“, schlicht „alles, was begegnet“, das „Ganze der Erfahrbarkeit“ (65), wie er mit Blumenberg resümiert, und, mit Waldenfels, sieht er in „Antwortlichkeit“ (67) eine wesentliche Qualität von Welt. Die „Subjekte“ wiederum sind „als Subjekte … immer schon in einer Welt“ (63) und d. h. auch „immer schon in Resonanzbeziehungen“ (740). Deshalb kann man auch, anders als bei ‚Anerkennung‘ (und bei Axel Honneth), nicht von einem „Kampf um Resonanz“ sprechen (ebd.). Rosa sieht sie als „Entitäten, die Erfahrungen machen“ bzw. als den „Ort, an dem sich psychische Energie motivational materialisiert“ (65). In der Relationierung von Resonanz und Entfremdung wird für die grundlegende theoretische Orientierung nicht allein die Dialektik ihres Zusammenhangs bezeichnet, auch die normative Komponente kommt erneut zu ihrem Recht, und zwar im Blick auf die Aufklärung der Bedingungen und Formen des „guten Lebens“ und als Voraussetzung für eine „Kritik der Resonanzverhältnisse (57). Für dieses übergreifende Thema werden weiter „gelingende und misslingende Weltbeziehungen“ (52) unterschieden, codiert im wertenden Dual von „resonant vs. stumm“, oder auch „tönend“ bzw., für die negative Seite, als „abweisend“ bzw. „repulsiv“ oder „indifferent“, aber ausdrücklich im Verweis auf die „kaum entwirrbare Verflochtenheit“ (57) dieser Formen der Weltbeziehung. Dieser Offenheit entsprechen auch die Bestimmungen des guten Lebens, dass z. B. „das Leben
40Die
Tab. 2: Vier kulturelle Formen der Weltbeziehung (S. 222) entsteht aus einer kritischen Auseinandersetzung mit einschlägigen Theoriestücken von Max Weber bzw. Jürgen Habermas.
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie
601
gelingt, … wenn wir es lieben“ (24). Resonanz ist dann, wie Rosa abschließend noch einmal die normativen Annahmen fixiert, nichts anderes als „das Andere von Entfremdung“ (739), der „Sehnsuchtsanker“ (739), die für ein gutes Leben notwendige „Ausbildung der eigenen Stimme“ (750). Orientiert an diesen allgemeinen Bestimmungen werden die Resonanzverhältnisse empirisiert und historisiert, beobachtet an „Resonanzsphären und Resonanzachsen“, die horizontal, diagonal und vertikal die Subjekte und denkbaren Welten verbinden, als „markante Verbindung zwischen mentaler Kopräsenz von Innen- und Außenwelt“, vergleichbar, und ebenfalls „metaphorisch gesprochen“ (573 f.), wie er hier und öfter das Bild sucht, dem „Vibrieren eines dazwischen aufgespannten Resonanzdrahtes“ (ebd.). Dabei werden die „Weltbilder“ erzeugt, die je individuell diesen Beziehungen Stil und Profil geben. ‚Welt‘ meint dabei immer die Einheit der Welten, die sich als „objektive Welt der Dinge … soziale Welt der Menschen … subjektive Innenwelt der Gefühle, Wünsche und Empfindungen“ (69) präsentiert. Auch diese Unterscheidung hat ihre normative Komponente: In der horizontalen Ache sieht er die Familie, als „Resonanzhafen“ so positiv besetzt wie die „Freundschaft“, neben der in sich ambivalenten Politik. In den „vier Stimmen der Demokratie“ lebt sie zwischen instrumentalistisch und stumm, partizipativ und ‚hörend‘, als „vitale Resonanzsphäre der Moderne“ (369), die ihre „antwortende“ Rolle aktuell nicht mehr finden kann. Diagonal diskutiert er „Objektbeziehungen“, auch die „Arbeit“ und die „Schule“ sowie „Sport und Konsum, als Versuche sich zu spüren“, also zwischen der Verdinglichung, die diesen „Entfremdungszonen“ eigen ist, und der Möglichkeit, zu wünschenswerten „Resonanzoasen“ zu werden. Damit wird die Bestimmung der Resonanzverhältnisse wieder eingebunden in die Zeitdiagnose, jetzt in eine Diagnose, die sich nicht weniger als eine „resonanztheoretische Rekonstruktion der Moderne“ vornimmt. Unter dem Titel „die Angst vor dem Verstummen der Welt“ beschreibt er die Moderne in ihrer Geschichte einerseits als „Geschichte einer Resonanzkatastrophe“, die in Literatur und Philosophie das Weltverstummen zugleich spiegelt und beobachtet, ohne es angemessen zu verstehen, andererseits als „Geschichte gesteigerter Resonanzsensibilität“. Die findet er am ehesten in den „vertikalen Resonanzachsen“, d. h. in Religion, Natur und Kunst, die für „die Welt im Ganzen“ (500) stehen, auch für „Erfahrungen der Selbsttranszendenz“, wie er Hans Joas zitiert (501), und nicht zufällig, wie auch Freundschaft und Liebe, im „Modell Romantik“ (601) ideengeschichtlich erstmals präsent und selbst im „Mantel der Geschichte“ erfahrbar sind. An den Welten kann er, anders gesagt, „Wüsten und Oasen“ (615 ff.) unterscheiden, selbst in den „modernen Alltagspraktiken“, denn sie folgen „tendenziell inkompatiblen Prinzipien: dem der Reichweitenvergrößerung und Ressourcenmaximierung einerseits und dem der Resonanzsteigerung andererseits“ (617/618). Seine abschließende „kritische Theorie der Weltbeziehung“ diskutiert zum einen „soziale Bedingungen gelingender und misslingender Weltbeziehungen“, zum anderen „dynamische Stabilisierung“ als die problematische „Steigerungslogik der Moderne“, sichtbar auch in „Resonanzkrisen der Spätmoderne“, in der er dennoch „Konturen einer Postwachstumsgesellschaft“ erkennen und damit auch
602
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die Hoffnung nähren kann, dass eine andere Welt möglich ist. Sein Ziel jedenfalls, „den Machtlosen Selbstwirksamkeit zurückzugeben“ (757), und den damit verbundenen „Optimismus“ verteidigt er gegen alle „Skeptiker“, so wie die Resonanztheorie gegen ihre Kritiker.
27.2.2 … Resonanztheorie als „Bildungstheorie“ Es mag fremd, vielleicht sogar zudringlich erscheinen, diese so kühne wie elaborierte, kritisch wie begrifflich eigenständige Konstruktion einer Soziologie der Weltbeziehungen den braven alten Debatten der Bildungsreflexion und -theorie zu- und einzuordnen. Aber Rosa lädt einerseits selbst dazu ein, wenn er in der Diskussion von „Schule als Resonanzraum“ sich zustimmend auf einige Argumente aus Wilhelm von Humboldts Fragment einer „Theorie der Bildung“ beruft (402 ff.), und an anderer Stelle, ganz selbstverständlich, „Weltbeziehung“ als „Grundbegriff“ der Resonanz-Theorie und des „Bildungsgeschehens überhaupt“ bezeichnet und in ihrem gemeinsamen normativen Anspruch an „Bildungsprozesse“ zusammenführt.41 Man praktiziert also immanente Kritik, keine Zuschreibung von „Differenz“ als „Devianz“, wie Rosa Kritikern vorwirft, wenn man in dieser Weise vergleichend argumentiert. Diese Unterstellung der Gemeinsamkeit, samt der damit verbundenen kritischen Diskussion, geschieht schließlich, wie ich erinnern darf, auch deswegen, weil die These geprüft werden soll, dass die Themen der Bildungstheorie sich vielleicht besser behandeln lassen, wenn der Begriff der Bildung gemieden wird. Dass es sich in seiner „Welt-Beziehungs-Theorie“ um eine – im Ergebnis natürlich so selbstständige wie im Duktus wie in vielen Argumenten auch singuläre Anstrengung, aber dennoch um eine in der Tradition verortbare – bildungstheoretische Reflexion handelt, sieht man zuerst daran, dass Rosa in der Erläuterung der Grundelemente seiner Theorie dieselben Themen zuordnet, die auch für die Tradition der Bildungsreflexion typisch waren und sind: Welten und Subjekte, Praktiken und Prozesse, Ergebnisse und Folgen, individuell und kollektiv, für Subjekte und Gesellschaften, Medien der Relationierung, zumal die Sprache und die Leiblichkeit, aber auch Kunst und Arbeit. Bildungstheoretisch nicht unbekannt sind auch die Thesen über die spezifische Zeitform von „Resonanz“, zumal der gelingenden, die als kurzes „Aufblitzen der Hoffnung“42 bezeichnet wird. Dann klingt das zumindest für den mit Copei vertrauten Leser wie der „fruchtbare Moment im Bildungsprozess“. Ganz generell nahe bei bildungstheoretischen Argumenten ist auch die Semantik der „Aneignung“ oder „Anverwandlung“ oder der „Transformation“. Bekannt ist auch seine Annahme,
41So
im „Glossar“ zu Hartmut Rosa/Wolfgang Endres; Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim/Basel 2. Aufl. 2016, S. 127. 42Rosa, Affirmative Revolution, 2016, S. 759).
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dass gelingende Weltbeziehungen vom „Passungsverhältnis zwischen Subjekt und Weltausschnitt“ (36) abhängen, Kerschensteiner dachte ursprünglich so, bis man ihn über die Konsequenzen belehrte, wenn man das Gelingen von Bildung – oder Resonanz – „nur in einander entgegenkommenden Resonanzräumen“ (294) für möglich hält. Aber Rosa (der natürlich Kerschensteiner nicht kennen muss) favorisiert diese Prämisse und notiert gelegentlich, nahezu thomistisch, sogar erfreut, dass „Sein und Sollen überein (stimmen)“ (292), also ens et bonum im Wahren, Schönen und Guten zur Einheit finden, wie auch die alte Bildungstheorie hoffte. Dann handelt man sich freilich das Problem der „negativen“ Welt und Erfahrung (291) ein, generell das Thema der „Negativität“. In dieser Fixierung, erstaunlich bei einem Theoretiker, der so stark die Unverfügbarkeit, Nicht-Kontrollierbarkeit und N icht-Planbarkeit der Weltbeziehungen betont, wird man aber unsensibel für die Paradoxien je individueller Erfahrung von Welten, die als negativ gelten und nicht nur Pädagogen irritieren, z. B.: „Ich hatte schlechte Lehrer, das war eine gute Schule“ – Aphorismen sind ja offenbar starke Argumente, dann müssen sie auch bei Rosa-Kritikern erlaubt sein. Die Beobachtung dieser Weltbeziehungen geschieht bei ihm, wie in der Mehrzahl der Bildungstheorien, auch nicht allein aus der Beobachterposition, sondern zugleich deskriptiv und normativ. Man könnte vielleicht eine gravierende Differenz darin sehen, dass er ausdrücklich die alten Referenzen von Aufklärung und Idealismus, also „Natur, Vernunft und Gemeinwohl“ (38 f.), für die moderne Form der Weltbeziehungen nicht mehr für relevant hält, aber Vernunft, zumindest als begründbare und begründungsbedürftige Rationalität, und Gemeinwohl, als Differenz von partikularen und begründbaren Referenzen des Handelns, kehren, vielleicht auch nur implizit, in den normativen Unterscheidungen wieder, die Rosa praktiziert. Allein Natur, das bekräftigen seine wiederholten Abgrenzungen seiner Theorie von Philosophischer Anthropologie und Philosophie, scheint keine Rolle zu spielen, denn er betont immer neu den „soziologischen“ Status seiner Analysen. Aber, man darf dabei seine Naturprämissen nicht übersehen, schwache Naturprämissen, wie man vielleicht sagen könnte, nicht die starken Annahmen, die im Streit über nature vs. nurture thematisch waren, aber doch Naturprämissen, die den – ebenfalls schwachen – Annahmen über die Natur im Prinzip der „Bildsamkeit“ in der Tradition ebenfalls inhärent waren. „Natur“, das ist die These meiner Rekonstruktion seiner dafür einschlägigen Argumentation, hat auch bei Rosa, wie in der Bildungsreflexion, den Status einer Historischen Anthropologie. Sie erhebt keinen Universalitätsanspruch, wie in der Philosophie oder der Anthropologie, sondern unterstellt generell „Variabilität und Veränderbarkeit“ sowie „gesellschaftliche Prägung“ (70) der vermeintlich biologischen Tatsachen. Aus verständlichen Gründen kann Rosa Michael Tomasello zustimmend zitieren (372 oder 394), und zwar im Kontext von Arbeit und zugleich in Bezug auf die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx. Es ist dann, wie bei Tomasello, der Rekurs auf einen „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“, wenn z. B. erklärt wird „Warum wir kooperieren“. Man wundert sich allenfalls, dass es überhaupt keinen Bezug auf die breit entfalten Studien zur Historischen Anthropologie gibt, die ja die Themen und
604
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Annahmen Rosas schon vor Rosa intensiv diskutiert und dabei auch die geltungstheoretischen Fragen kühner phänomenologischer Thesen sichtbar gemacht hat.43 Aber das gehört offenbar generell zu seiner Argumentstrategie, eher auf die eigene phänomenologische Reflexion und die immer neue Interpretation von Gedichten und Exempeln zu setzen als auf die vorhandene Forschung; denn auch die einschlägigen (und bei Wiersing breit dargestellten) Forschungen zu Themen von Kommunikation bis Sozialisation, Anthropogenese oder Enkulturation, Evolution oder Entwicklung kommen explizit nicht vor.44 Gleichwie, schwache Naturprämissen lassen sich dennoch nicht übersehen. Resonanz, so liest man, hat ihre Basis in den „existentiellen Sensibilitäten“ (54), in der „Leiblichkeit unserer Existenz“ (71). Auch „das primäre Weltverhältnis“ (741), das am Exempel der Säuglinge und kleinen Kinder diskutiert wird, ist ohne eine schwache Naturprämisse, wie sie im Bildsamkeitsbegriff als Kompetenzkompetenz und konkret als Wahrnehmungsfähigkeit unterstellt wird, nicht diskutierbar. Gleichzeitig sind die „Basisfiguren … Angst und Begehren“ (68) nicht allein gelernt, sondern biologisch verankert und evolutionär diskutierbar. Nicht zufällig ist für Rosa selbst der „Mensch als resonanzfähiges Wesen“ (68) zu verstehen, er sei „gleichsam anthropologisch zur Resonanz disponiert“ (419), und das gilt auch bei ihm nicht essentialistisch, aber doch in dem naturhaften, für die Entwicklung als funktionale Prämisse erkennbaren Sinn einer „Angewiesenheit auf Resonanz“ (53) und auf ein „resonanzfähiges Gegenüber“ (456) – genauso wie in der Unterstellung von „Bildsamkeit“. Er argumentiert also wie die Entwicklungspsychologie und mit ihr die Bildungsreflexion, die „Lernbedürftigkeit“ als Motor der menschlichen Entwicklung unterstellen und als notwendige Folge die Ausbildung eines „Urvertrauens“ zur Welt als Basis der weiteren Entwicklung bei Kleinkindern einführen (aber auch René Spitz hat den Weg in die Literatur
43Man lese z. B. schon früh Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Lachen – Gelächter – Lächeln: Reflexionen in 3 Spiegeln. Frankfurt a.M 1986 (dessen erstes Kapitel mit „Der Ausbruch des Körpers“ einsetzt, dem „das Artistische Spiel“ folgt und schließlich „der enigmatische Weg“) oder, später, Christoph Wulf/Dietmar Kamper (Hrsg.): Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie. Berlin 2002 und dort die Kapitelüberschriften, um die Nähe zu Rosa zu sehen: „Die Wiederkehr des Körpers und das Schwinden der Sinne“ (mit einem resonanztheoretisch nicht ganz uninteressanten Beitrag von Michael Wimmer: Verstimmte Ohren und unerhörte Stimmen), „Die Gewalt in der Geschichte und die erloschene Seele, „Das Heilige und das Gelächter“ (Klaus Heinrich schreibt dort über ‚Theorie‘ des Lachens), oder „Der Schein des Schönen und das Schicksal der Liebe“ (auch hier resonanztheoretisch offenbar sehr gut anschlussfähig: Christina von Braun: Das Weib als Klang. Die Frauengestalten im Werk Richard Wagners). Ergänzt man diesen Band durch die Themen der jährlichen Hefte von „Paragrana“ ist der Gleichklang der Themen, vom „Ohr als Erkenntnisorgan“ (1993) über „Medien – Körper – Imagination“ (2008) und zu den dort beanspruchten, für die zünftigen Historiker immer prekären Argument- und Beweisfiguren noch deutlicher. Im jüngsten Heft: „Balance – Rhythmus – Resonanz“ (2018) spielt allerdings, anders als der Titel erwarten lässt, Rosas Resonanzbegriff keine Rolle. 44Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die Begriffe im Register nicht auftauchen, auch nicht Kommunikation (etc.).
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und das Register nicht gefunden, aller Liebe zur Psychoanalyse ungeachtet). Die Kovarianz von Natur und Entwicklung unterstellt Rosa schließlich auch in den für ihn wichtigen, weil als Krisenindikatoren bedeutsamen, psychopathologischen Phänomenen von Depression oder burnout, denn offenbar ist hier der „Resonanzbedarf“ nicht gestillt, auf den Individuen angewiesen sind. Rosa nimmt aber nicht nur die Themen und die Semantik der Bildungsreflexion auf, er rezipiert auch selbst den klassischen Bildungsbegriff, ausführlich im Schulkapitel (408–412), explizit Herder und Humboldt sowie, über das Thema Religion eingeführt, intensiv auch mit – freilich ganz kritiklos rezipierten45 – Überlegungen von Martin Buber. Das geschieht jeweils in sehr selektiver, aber in theoretisch eindeutiger Weise, eindeutig auch für seine Verortung in der Bildungsreflexion. Aus dem Gesamtkomplex der Humboldtschen Reflexionen zum Thema wählt er z. B. allein das als „Theorie der Bildung“ bezeichnete Fragment, aber nicht den bildungspolitischen Humboldt, der mit guten Gründen Prüfungen einführt und Schulwissen kanonisiert, also – in Rosas Perspektive – „Entfremdungszonen“ konstruiert und ihre Notwendigkeit begründet. Bildung wird bei Rosa allein in ihrer bildungsbürgerlichen Stilisierung als Selbst- oder Weltbildung rezipiert und in der Kritik an der „ökonomistisch-instrumentalistischen Verengung“ (408), seine eigene Position demgegenüber als „Weltbeziehungsbildung“ in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt. Aber das ist eine mutwillige Reduktion der Gesamtheit der Bildungsreflexion der Tradition. „Weltbeziehungen“, wie er an anderer Stelle selbst einräumt, sind ja ihr Thema, deren Konstitution über Prozesse der Wechselwirkung mit Welt waren schon bei Humboldt zentral. Nicht zufällig kann Rosa die bessere, auch die ihm vermeintlich unmittelbar nahe Seite dieser Überlieferung dann später doch sehen, wenn er Humboldt selbst mit den Sätzen über „die Verbindung unsres Ichs mit der Welt“ zitiert, und zwar „zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (411). Das nimmt er als frühen Beleg für seine These, dass „in der wechselseitigen Durchdringung und Berührung von Selbst und Welt“ (ebd.) die Idee der Resonanz schon früh, eben bei Herder und Humboldt artikuliert wurde, vor allem aber, wie er später immer neu betont, in der bildungstheoretischen Reflexion, wie sie sich in Schillers ästhetischen Briefen oder in der Romantik finden lässt, also in den an der Erfahrung von Kunst, Natur und, wie bei Buber, an der Religion ansetzenden Reflexionen. Das treffen sich dann Verwandte des Geistes, denn auch der Begriff der „Entfremdung“ ist ja schon
45Brumlik
hat die Rezeption von Bubers Reflexion über „Ich und Du“ und das dialogische Prinzip zu Recht entsprechend scharf kritisiert, pointiert gestützt auf Adorno, der „Buber in den 1920er Jahren als „Religionstiroler“ verspottet (hatte)“ (Brumlik 2016, S. 123). Aber Buber wird auch anderer Stelle kritiklos-emphatisch und zusammen mit dem Resonanzbegriff und den Neurowissenschaften (sic!) neu entdeckt, z. B. bei Joachim Bauer: Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München 2019. Der Verlag preist diesen Text als Basis für „ein völlig neues [! – HET] Verständnis von der Natur des Menschen“, weil der Autor erkläre, „warum unser Selbst nur im Einklang mit anderen entstehen und gedeihen kann“. Aber solche naiv-emphatischen Harmonietheorien darf man Rosa nicht zuschreiben.
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dieser Tradition nicht fremd.46 Aber es ist doch nur eine Seite der klassischen Bildungsreflexion, die subjektfixierte. Rosa stößt auch auf die andere Seite, rezipiert sie aber eher in seinem Sinne. „Verblüffenderweise“ (412), so codiert er seine eigene Überraschung, die ihm die Lektüre der Klassiker (statt der Einleitungen in Florilegien) gebracht hat, wird bei Humboldt der Bildungsprozess „auch … als eine beide Seiten transformierende Anverwandlung beschrieben“, in einer Relation, so liest er Humboldt, „wo beide Seiten, Material und Subjekt, in ein Widerspruch zulassendes Antwortverhältnis geraten“ (412). Aber ich würde schon die Bemerkungen zur „Welt“, die Humboldt macht, nicht mit „Material“ übersetzen, und auch die Hinweise auf die „unabhängige Selbstständigkeit“ anders lesen, so, dass die Funktion von Welt deutlicher wird, dass sie nämlich „dem Eigensinn unsres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt“, wie er Humboldt zitiert. Diese Seite, die positive Seite der „Entfremdung“, geht in der Fixierung auf das „‘Modell Romantik‘“ (601) und die immer neue Berufung auf Schiller und Hölderlin, auf Natur und Kunst und auf die Beglaubigung der eigenen Argumente durch zahllose Gedichtinterpretationen eher verloren. Nur an einer Stelle, eher verschämt, räumt er, mit Hegel, dann doch ein, dass es im Lebenslauf auch „unvermeidliche Durchgangsstadien“ (323) gebe, die überhaupt erst Resonanzerfahrungen möglich machen. Aber die Schärfe von Hegels Argument, sein Lob der positiven Seite der Entfremdung,47 dass sie erst den Menschen frei und zur Person macht, die gehen dabei eher unter. Für Hegel war das aber der notwendige und legitime Prozess, in dem die „bloße Subjektivität“ und „Privatheit“ überwunden wurde, also auch nicht eine „privatistische Ethik“ (Rosa) zum Kennzeichen der Moderne wird, sondern universalistische Prinzipien sich zur Geltung bringen, nämlich Zivilisierung, Moral, Bildung. Hegel entwirft von hier aus auch seine Theorie der Schule und ihrer legitimen Herrschaft über das private, noch nicht zur Freiheit vergesellschaftete Subjekt, und man erinnert sich in diesem Kontext auch des Paradoxons, das Kant als „Problem“ der Pädagogik formuliert hat, dass sie nämlich mit der Frage zu tun hat, „wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange“. In Rosas Bemerkungen zur Schule kommt das nicht vor (und seine meist reformpädagogisch enthusiasmierten Rezipienten beseitigen dieses
46Humboldt
sieht z. B. die Risiken des Umgangs mit Welt, dass die „Natur“ des Menschen ihn „dringt … beständig von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen“, freilich mit dem Risiko, dass er „in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere.“ (237) Humboldt findet die Lösung in den von Kant und Schiller bekannten Dualen von „Stoff“ und „Form“, in der Wechselwirkung von „Empfindsamkeit“ und „Selbsttätigkeit“, die den Gegenstand „in verschiedenen Gestalten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne“ zeigt. Die Aufgabe des Menschen ist dann eindeutig und klar, „er (muss) die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, die diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlich machen.“ Das ist mehr als „Resonanz“. 47Jüngst intensiv und klar herausgearbeitet bei Lars Osterloh: Die Bildung der Person. Eine ideengeschichtliche Analyse über Umfang und Grenzen des Bildungsbegriffs. Würzburg 2015.
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Defizit nicht, wenn sie der Theorie der Resonanz eine „Resonanzpädagogik“ abgewinnen). Rosa konstruiert seine Resonanzbetrachtungen und seine Kritik wie sein Bild von Schule also auf der Basis einer Theorie, in der die bei Kant und Hegel schon präsente und später bekräftigte Differenz von Bildung und Erziehung keine Rolle spielt, deshalb auch die provokante Tatsache des legitimen Zwangs der Schule nicht thematisch werden kann. Die Funktion der Schule im Bildungsprozess wird bei ihm, primär beobachtend, soziologisch gedacht. Rosa erneuert sogar (ungeachtet aller bekannten Kritik) die Kategorie des „hidden curriculum“48 und unterstellt der „Schule als Resonanzraum“ einerseits ziemlich viel, nämlich die „Modellierung der Normalen Existentiellen Problemdefinition (NEP)“49 (403, Herv. dort), und kann von da aus, wie alle reformorientierten Schulkritiker, ihre aktuelle Praxis nicht scharf genug als „Entfremdungszone“ kritisieren (417 ff.). Andererseits erwartet er, gegen alle Warnungen vor der Planungseuphorie und trotz seiner eigenen Betonung der „Unverfügbarkeit“ von Resonanz, die Ermöglichung der wahren Bildung, die Konstruktion von Resonanzfähigkeit und die Eröffnung von Resonanzerfahrungen in schulisch organisierter Arbeit. Auch dann wird wieder binär codiert, in zwei Schemata, in denen „die misslungene [Schul-] Stunde“ über „das Entfremdungsdreieck“ (409) und „die gelungene Stunde“ über „das Resonanzdreieck“ (411) erklärt werden. Alle hübschen reformpädagogischen Annahmen kehren hier wieder und die positiv bewerteten Praktiken und Ergebnisse werden der „Resonanz“ zugeordnet, die sich als eigene „Resonanzpädagogik“ entfaltet50 (rezeptiv also, wie andere das von wahrer Bildung aus
48Eine
Detailanalyse dazu findet sich in Hartmut Rosa: Leading a Life. Five Key Elements in the Hidden Curriculum of Our Schools. Nordic Studies in Education 2(2013) 2, S. 97–111. 49Rosa (vgl. S. 238) übernimmt den Begriff aus Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (1997) und dessen Analyse von, wie er typisiert, fünf „milieuspezifischen Existenzformen“. Das sind: Bedrohung, Bewährung, Stimulation, Selbsterfahrung und Anpassung, modifiziert über die „primäre Perspektive“ und das „Basisinteresse“, in denen sich – so zitiert Rosa S. 239, Anm. 196 – „die Gesamtheit des Handelns, Denkens und Fühlens eines Menschen“ repräsentiert, und zwar – so Rosa – „unhintergehbar und gegenüber kognitiven Einsichten gleichsam immunisiert“ (238). 50Sogar in zwei Varianten, allgemein und für Schulleiter: Hartmut Rosa/Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. 2. Aufl., mit einem Nachwort von Reinhart Kahl. Weinheim/Basel: 2016; ders./Claus G. Buhren/Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik und Schulleitung. Neue Impulse für die Schulentwicklung. Weinheim/Basel 2018 sowie, handlich aufbereitet, in Hartmut Rosa/Wolfgang Endres/Jens Beljan: Resonanz im Klassenzimmer. 48 Impulskarten zur Resonanzpädagogik mit 16-seitigem Booklet. Weinheim/ Basel 2017. Eine Rezension dieser Arbeiten zur Rosa-Rezeption in der Pädagogik habe ich in der Zeitschrift für Pädagogik 65(2019), 3, S. 453–458 gegeben. Die Nutzung von Rosas Vorgaben für eine Theorie der Schule bei Jens Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung. Weinheim 2017 findet auch nicht nur Zustimmung, liest man etwa die Rezension von Wilfried Lippitz in EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ ewr/978377993671.htmls. Lippitz gehört im Übrigen zur phänomenologischen Reflexionstradition der Erziehungswissenschaft und mit Recht notiert er, dass es Beljan wie Rosa in den Überlegungen zur Schule nicht geschadet hätte, auch deren Arbeiten zur Kenntnis zu nehmen.
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schon immer getan haben oder heute über „Anerkennung“ und „Anerkennungspädagogik“51 zum Schaden der eigenen Theorieanstrengungen ebenfalls tun). Das geschieht im Übrigen, ohne eine irgendwie erkennbare Differenz zu den seit langem wohl bekannten reformpädagogischen Praktiken zu zeigen, obwohl sich doch schon Anerkennung und Resonanz, sagt Rosa, so deutlich unterscheiden. Die alte Frage aber, wie das denn systemisch möglich ist, was so wünschenswert erscheint, die schon die ganze Reformpädagogik nur durch listige Technologien praktisch und in emphatischer Rede rhetorisch überdecken konnte, wird wiederum nicht gestellt. Der Soziologe weiß, wie das NEP produziert wird, „und zwar vermittelt über Anerkennungs- und Distinktionsprozesse, über die explizite und implizite (zum Beispiel durch Gesten oder Kleidung) Artikulation starker Wertungen und in unzähligen praktischen Erfahrungen, welche die (Re-) Formulierung oder besser: Modellierung der Normalen Existentiellen Problemdefinition (NEP) bewirken“ (403). Offenbar kann die Schule als Institution das schlicht „bewirken“, höchst folgenreich für die gesamte Biografie, wie auch die Pädagogen sagen. Der „Weg zur Ausbildung einer ‚Persönlichkeit‘“ und die Teilhabe an Musik, Sport, Literatur, Mathematik, Politik oder Religion (404) entscheide sich „im und um das Klassenzimmer“ (403) und im Umgang mit den „Gleichaltrigen“ (404), primär von den Formen und Folgen der fachlichen schulischen Arbeit. Zumal in der „Pubertät“ werde die Schule „zum entscheidenden Konstitutionshintergrund für die Ausbildung oder Schließung und die Blockade von horizontalen, diagonalen und vertikalen Resonanzachsen zugleich.“ (ebd., 403). Dann wiederholt er auch die aus diesen Debatten bekannte These – „Der Lehrplan spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.“ (403) Er macht dagegen in seinen eigenen positiven Gegenbildern dennoch die durch den Lehrer verdeutlichte Faszination durch die Inhalte zum zentralen Hebel schulischer Arbeit, erneut aber auch hier, ohne die Komplexität schulischer Arbeit zu erreichen. Es wundert deshalb nicht, dass kritische Bildungstheoretiker, die selbst jeden pädagogischen Pessimismus tadeln, von dieser Art Schulpädagogik nicht begeistert sind, schon weil sie nicht nur die Unentbehrlichkeit fachlich zentrierten Unterrichts, sondern auch seine Schwierigkeiten kennen.52 51Wolfgang
Geisler: Anerkennung. Über den Umgang mit Menschen in der Schule. Schwalbach 2017; Benno Hafeneger/Peter Kenkenborg/Albert Scherr (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts. 2013. Aber die Referenz wird auch für die Erwachsenenpädagogik gesucht, z. B. Wolfgang Müller-Commichau: Anerkennung in der Pädagogik. Ein Lehrstück. Hohengehren 2014. Die Karriere von Honneths Konzept setzt bekanntlich früh mit der „Pädagogik der Vielfalt“ in den Arbeiten von Annedore Prengel ein und ist heute kaum mehr zu überschauen. 52Johannes Twardella hat einerseits, reforminteressiert, den „pädagogischen Pessimismus“ scharf kritisiert (in J.T.: Pädagogischer Pessimismus. Eine Fallstudie zu einem Syndrom der Unterrichtskultur an deutschen Schulen. Frankfurt a. M. 2008), er liefert andererseits eine höchst ungnädige Rezension z. B. von Hartmut Rosa/Wolfgang Endres (Hrsg.): Resonanzpädagogik, Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim und Basel 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 5 (Veröff. am 29.09.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978340725751/html. Dort liest man u. a.: „Der romantische Impuls, so sympathisch er auch ist, schießt letztlich über das Ziel
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Die modellhaft angedeutet andere Schulwirklichkeit, in seinen Erfahrungen mit „Schülerakademien“ scheinbar beglaubigt, prüft sich selbst aber nicht an den legitimen gesellschaftlichen Erwartungen an Schule, der Sicherung der Grundbildung und der erfolgreichen Arbeit am Curriculum, auch nicht an ihrer Form, u. a. an ihrer Universalität für alle Heranwachsenden, der Notwendigkeit der Schulpflicht und an der Unhintergehbarkeit als Erfahrungsraum, um auch ein phänomenologisches Argument zu gebrauchen, oder an der Differenz und Vielfalt von Interessen und Neigungen schon in der kleinsten Lerngruppe. Es verwundert schon, wie Rosa alle durchaus problematischen Lernsituationen in einem schlichten Dual von richtig vs. falsch auflösen kann, ohne auch nur die Frage zu stellen, ob seine Unterstellungen über die ‚richtige‘ Lösung auch jeweils für die ganze Lerngruppe gelten. Und schon gar nicht ist ihm offenbar bewusst, dass paradoxe Situationen wie schulisches Lernen sich allenfalls im Dual von besser vs. schlechter gestalten lassen. Mit anderen Worten, die Schule als eine „gewöhnliche Institution“53 kommt mit den ihr eigenen Zwängen und Chancen nicht in den Blick. Alltagspädagogik und Schule werden, scheinbar Alternativen eröffnend, mit einer illustrativ-kasuistisch präsenten Lernsituation – jetzt von Rosas Schülerakademien – konfrontiert, die schon in ihrem setting, u. a. der Freiwilligkeit des Zugangs, der selbstbegrenzten, als Freizeit gestalteten Zeit, luxuriösen Relationen von Lehrenden und Lernenden, bei 13 Dozenten für weniger als 100 Lernende (usw.), mit Schule nichts zu tun hat. Sie erinnert vielmehr, schon im Namen der „Akademie“ an die privilegierten Lebens- und Lernsituationen der von Arbeit und Verdienstzwang entlasteten und sich in Muße bildenden Oberschichten aus Antike und Renaissance. Im Ergebnis, nicht nur die Rede von Bildung in der pädagogischen Tradition und in der Reformfraktion in Pädagogik und Politik, auch emphatische Soziologen entwickeln eine Vorliebe für versöhnungsorientierte, pädagogisierende, romantische und primär an der Konstruktion wünschenswerter Welten orientierte Theorien der Weltbeziehung und versprechen von hier aus die neue Welt. Es reicht offenbar aus, mit dem Resonanzbegriff einschlägig normativ gestimmt zu sein. Eine akzeptable Theorie der Bildung liefert offenbar auch diese kritische Soziologie der Welt-Beziehungen nicht, und offenbar reicht es auch nicht aus, allein den Begriff zu meiden, um den Fallstricken zu entgehen, die für diese Reflexionstradition prägend waren und bekannt sind. Die Bildungsreflexion und -theorie, das muss man gleichzeitig einräumen, könnte aber dennoch an anderer Stelle
hinaus. Und er ist mit dem Risiko verbunden, dass die Pädagogik ins Irrationale abrutschen könnte.“ Für Twardella ist die Analyse der schulischen Arbeit bei Rosa also theoretisch nicht angemessen fundiert, weil Bildungsarbeit und Schulfach in ihrem untrennbaren Zusammenhang nicht systematisch genug und die Praxis der Schule nicht realitätsnah und hinreichend kritisch gesehen werden. 53Meine Anspielung gilt dem nüchternen Blick bei Roland Reichenbach: Für die Schule lernen wir. Plädoyer für eine gewöhnliche Institution. Seelze 2013. Reichenbach kann auch, ohne leichtfertige Kritik oder Entrüstung, die Schule als „Täuschung“ beschreiben und zeigen, was man dabei lernt, wenn man in einer solchen Institution unter diesen Prämissen lebt.
610
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von Rosa und über sich auch kritisch lernen, wenn sie ihn als Verwandten im Geiste liest, freilich nicht ohne die ambivalenten Konsequenzen zu sehen, die mit Rezeptionsprozessen verbunden sind. Als phänomenologischer Beobachter von Resonanzverhältnissen demonstriert er durchaus anregend, welche Erweiterung des Blicks auf die Modi von Weltbeziehungen möglich ist. Die Selbstbegrenzung auf eine primär kognitive Perspektive, die er bei Habermas schlicht „defizitär“ (591) nennt, ist ja auch Bildungstheorien im pädagogischen Milieu nicht fremd, wenn sie allein auf „kritische Urteilskraft“ setzen. Zugleich fordert seine Abwehr szientifisch-sozialwissenschaftlicher Kritik an der Beweiskraft der phänomenologischen Methodik auch die Freunde dieser Methode in der Bildungstheorie heraus, ohne dass man aktuell sehen kann, dass sie die Schwächen vermeiden können, die Rosa gleichzeitig kennt, ironisch eingesteht, aber systematisch nicht meidet. Auch hierin ist er offenbar Bildungstheoretiker. Immer geneigt, dem eigenen Begriff und normativen Anspruch zuliebe, die Frage auszublenden, ob es denn wahr ist, was er behauptet, und welchen Status als belastbare Theorie seine Reflexionen haben. Da überzeugt es auch nicht, wenn er betont, dass „mimetische, charismatische, auratische, erotische oder ‚organische‘ Beziehungsformen … möglich,“ seien, wie selbst „die beinahe verzweifelt herausgeschriene Botschaft“ (597) bei Habermas und Honneth lautet, er ihnen aber sogleich vorwirft, dass sie „oftmals eher in raunender als in argumentierender Form“ (ebd.) darüber reden. Aber wenn er selbst „die Dinge“ reden lässt und behauptet, dass in der Arbeit, „das Material zu antworten beginnt“ (393), dann ist das vielleicht nicht geraunt, aber auch nicht gegen die methodische Einrede gewappnet oder schon intuitiv nur überzeugend. Stellt man das freilich in den Kontext anderer phänomenologischer Theorien der Weltbeziehung, dann können auch Pädagogen, die sogar über den „Einspruch der Dinge“ reden können,54 nicht wirklich helfen, diese Rede zu verstehen oder kritisch zu prüfen. Das führt, letztlich, zur systematischen Prüfung des Theoriestatus seiner Überlegungen, und zur Frage, ob er damit die pädagogisierenden und rromantisierenden Bildungstheorien überbieten kann. Sein Anspruch ist eindeutig, er will eine „empirisch gesättigte, sozialtheoretisch fundierte und normativ gehaltvolle Kritik der Resonanzverhältnisse“ (58) vorlegen. Aber er kennt seine Grenzen, räumt ein, dass es vielfach noch eher eine „spekulative Theorie“ (161) sei, die er bietet, betont häufig, dass er nur „metaphorisch gesprochen“ hat (noch 313). Aber das birgt schon grundbegrifflich eigene Risiken. Die musikwissenschaftlichen Experten für „Resonanz“ halten schlicht fest, dass er „Resonanz tatsächlich überwiegend naiv (nutzt)“ und dass „eine differenzierte Arbeit am Begriff … nicht statt(findet)“.55 Das bestätigt sich auch im Detail. Schon im Dual von tönend vs.
54Käte
Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. München 2008, zum „Einspruch der Dinge“ S. 159 ff.) – mit M erleau-Ponty, und im Übrigen im ganzen Band ganz ohne „Resonanz“, dafür gelegentlich mit „Rückkoppelung“. 55Schulze, Merkur 2016, S. 79.
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stumm misslingen ihm gelegentlich die Metaphern, wenn er z. B. die „die blinden – oder besser: taubstummen Flecke westlicher Verdinglichungsverhältnisse“ (753) kritisiert, dann kennt er offenbar die Gebärde nicht, mit der die Gehörlosen eine eigene Sprache für sich erzeugt haben (sie heute noch als „Taubstumm“ zu stigmatisieren, ist wirklich ahnungslos). Auch sein mehrfach beanspruchtes Bild vom „vibrierenden Draht“ (24, 296, 307, 513 f.) und die These, dass sich „das Vibrieren eines dazwischen aufgespannten Resonanzdrahtes“ als Veranschaulichung der Verbindung zwischen den R esonanz-Achsen eigne, ist zu mechanisch, um zu überzeugen. Sie klärt jedenfalls nicht wesentlich über die zentrale Formel für Beziehungsverhältnisse56 auf, die er ebenfalls nutzt. Hier und da sagt er explizit, dass es empirische Befunde einfach nicht gibt (158), beansprucht stattdessen „alltagssprachliche Plausibilität“ (71), eher anekdotische Evidenz oder die Beweiskraft der Literatur oder eines Gedichts, immer skeptisch gegen die Standards der empirischen Sozialforschung. Dabei wüsste man z. B. schon bei seinen wiederholten, stark generalisierenden Diagnosen über den zunehmend pathologischen Charakter der Spätmodere doch gern, welche Validität und Repräsentativität diese Daten haben. Ihm genügt offenbar die klinische Evidenz der Therapeuten, die natürlich von Depression und Burnout begründet reden können. Aber reicht das für eine Zuschreibung solcher Zustände an die „Gesellschaft als Ganzer“? Eine „tendenzielle Pathologie“ (14) zu diagnostizieren lebt mit der Schwäche des Attributs „tendenziell“, so wie die starken Unterstellungen z. B. über die negative Wirkung des Bildschirms und der elektronischen Medien (155 f.). Schließlich gibt es ja auch, ebenfalls von Therapeuten, energische Gegenreden gegen solchen Alarmismus.57 Aus dem Umgang mit kritischer Bildungstheorie belehrt, wird man auch die Selbstwahrnehmung und -präsentation als „kritischer Theorie“ eher mit Skepsis betrachten. Brumlik hat die Differenzen zur Frankfurter Tradition schon d eutlich
56Seine
Form der Modellierung von Zusammenhängen ist, in der Nutzung von Verweiszeichen, aus sozialwissenschaftlichen Denkmodellen nicht ganz unbekannt: „“Af ← ekt und E → motion, also durch die doppelseitige Bewegung des Affiziertwerdens und der (aktiven) Bezugnahme“ (296). Aber in der Konzentration auf Affekt und Emotion wird im Schema die von ihm selbst reklamierte Vielfalt der Weltbeziehungen deutlich reduziert, die komplexe Form von Wechselbeziehungen so wenig angedeutet wie die Prozessdimension oder gar Kausalitäts- und Wirkungsfragen. Man studiere z. B. nur die grafische Modellierung von Angebots-Nutzungs-Modellen in der Bildungsforschung oder die Arbeiten an „MoAbiT“, also am „Model of Ability Tracking“ bei Hartmut Esser, um sich mit den Komplikationen vertraut zu machen, die hier warten, im Kern des Themas, das Rosa vermeintlich klärt. 57Martin Dornes: Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 2016 – der die Zuschreibung generell bestreitet. Wie man selbst die Resonanzbegrifflichkeit auch begründet optimistisch sehen kann, belegt psychoanalytisch argumentierend und als Ergebnis langer Studien, Martin Altmeyer: Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der Moderne verändert. Göttingen 2016. Er liefert „eine Zeitdiagnose der digitalen Moderne“, mit der man Rosas „Bildschirm“-Diagnosen absolut bestreiten kann, weil sie nur die „apokalyptischen Reiter eines medientechnologischen Totalitarismus“ spiegeln (so im Spiegel 22, 2016, S. 132). Rosa zitiert keinen dieser Autoren.
612
27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
markiert58 und das Spiel mit dem Paradox der „affirmativen Revolution“ entwertet diese Kritik nicht. Auch die Argumentation mit „Dialektik“ gilt ja nicht unbestritten, sondern überzeugend nur im Kreise der Theoretiker, die die Möglichkeiten dieses Arguments ebenfalls nutzen. Ob Rosa das zu Recht tut? Er stellt seinem Buch ein Motto aus Adornos „Negativer Dialektik“ voran und sucht damit nicht nur die Nähe zu kritischen und dialektischen Begründungsfiguren der „klassischen kritischen Theorie“, er reklamiert auch, implizit, durch das Zitat, die philosophische Tradition seit Kant und Hegel zugleich genutzt und überboten zu haben. Das Adorno entlehnte Motto entstammt nämlich dem abschließenden Kapitel der „Negativen Dialektik“ und setzt mit einer These ein, die man bei einer „Negativen Dialektik“ erwartet: „Nichts auf der Erde und nichts im leeren Himmel ist dadurch zu retten, daß man es verteidigt.“59 Die Sätze stammen aus dem letzten Abschnitt in Adornos Analyse, die als „Meditationen zur Metaphysik“ betitelt sind. Offenbar sucht Rosa diese Nähe zur kritischen Tradition als Qualifizierung für seine eigene Reflexion und ihren Anspruch, Argumente zu bieten, die dem Metaphysik-Verdacht entgehen. Aber das gelingt schon nicht ganz widerspruchsfrei, wenn er gleichzeitig seine Theoriearbeit gegen die Kritik und den „Pessimismus“ Adornos allein mit einem abschließenden Plädoyer für „Optimismus“ verteidigt. Geht das, ist das mit „Dialektik“ wirklich gut begründet? Die Intention seiner „Meditationen zur Metaphysik“, um die von Rosa selbst gesuchte Referenz zu nutzen, beschreibt Adorno in der „Vorrede“ so: „Das letzte Kapitel umkreist tastend die metaphysischen Fragen im Sinne einer Achsendrehung der Kopernikanischen Wendung durch kritische Selbstreflexion.“ (10). Kants Umgang mit der Metaphysik, das war bekanntlich die Kopernikanische Wendung der Philosophie, sie „im Sinne einer Achsendrehung“ zu überbieten und „kritische Selbstreflexion“ an die Stelle von Metaphysik zu setzen, das sollte der Rekurs auf „Dialektik“ bekanntlich tragen. Stellt Rosa sich in diesen Kontext, will er in dieser Weise auch seine Ambition rechtfertigen, empirische und normative, distanzierte Analyse und Kritik in eins zu geben, ungeachtet der Tatsache, dass der Empirie nicht mehr als der „Schein“ zugänglich ist, weil sich das „Wesen“ der Forschung versperrt? Aber, und wieder Adorno: „im Schein verspricht sich das Scheinlose“ (397), denkt man nur dialektisch. Denn „Dialektik“ ist für ihn „in eins Abdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik“ (397), und „mit dem Verdikt über den Schein bricht die Reflexion nicht ab“, sagt Adorno und das beansprucht Rosa wohl auch für seine Analysen. Dann nämlich, so fährt Adorno fort, bricht die Reflexion nicht ab, „wenn er sich vorab diese Überlegungen
58Brumlik
titelt seine Rezension als „Resonanz oder das Ende der kritischen Theorie“ und resümiert schlicht, dass Rosa die kritische Theorie „um ihr Bestes gebracht hat, um ihre theoretisch informierte, kalt auf die Gesellschaft schauende Unversöhnlichkeit“ (Brumlik 2016, S. 123). 59Bei Rosa ohne Angabe der Seitenzahlen zitiert. Die Zitate hier aus T.W.A.: Negative Dialektik. (1966) tb-Ausgabe, 3. Aufl. 1982.
27.2 „Resonanz“ – ein Angebot der Soziologie
613
aneignet.“ Und Rosa tut das schon im leitenden Motto der gesamten Arbeit. Denn, wie er weiß, „daher hat die Rettung des Scheins, Gegenstand der Ästhetik, ihre unvergleichliche metaphysische Relevanz.“ [386] Sieht man jetzt nicht deutlich, warum die Theorie des Mensch-Welt-Verhältnisses von Rosa schließlich in der ästhetischen Tradition der bildungstheoretischen Reflexion seit Schiller mündet, die ebenfalls den Ausweg aus der Entfremdung in triadischen Erlösungsformeln suchte, im „schönen Schein“ und im ‚ästhetischen Staat“? Rosa reiht sich immer wieder in diese Tradition ein, selbst demokratietheoretisch. Damit liefert er aber letztlich nicht Soziologie, sondern kritische, dialektische Reflexion oder, wie man sein Adorno-Zitat auch lesen kann, legitime Metaphysik. Gegen Kritik ist diese Reflexion immun, weil jede szientifische Kritik, das weiß die kritische Theorie, doch immer dem Verblendungszusammenhang unkritisch verbunden bleibt. Aus der kritischen Bildungstheorie sind das vertraute Argumentfiguren. Aber ist das noch oder auf neuem Niveau tatsächlich kritische Theorie, wenn sie schließlich alle Dialektik nur im Optimismus und in ästhetischen Versöhnungsformeln enden lässt? Adorno war schon im Blick auf die Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung „radikaler Pessimist“ (585). Er und Horkheimer haben jedenfalls den „Ausweg“ (756) nicht akzeptiert, den die Resonanztheorie jetzt empfiehlt. Dafür gibt es allenfalls in der Literatur und in der ästhetisierenden Bildungstheorie Mitstreiter. Adorno hätte sich wohl auch gewundert, wenn am Ende allein das liebe alte Dual von Optimismus vs. Pessimismus bleibt und ein mutig-schlichtes Bekenntnis für den Optimismus: „Eine bessere Welt ist möglich“ (762). Die Schülerakademien müssen dann wieder die Beweislast tragen, denn sie zeigen die Macht von „Hören und … Antworten“ (762). Das ist sicherlich keine „Heilslehre“,60 denn diese Lehren versprechen Rettung erst im Jenseits, aber offenbar doch eine spezifische Variante von Bildungstheorie, denn die versprechen die Rettung durch kritische Bildung schon im Diesseits. Aber im Dual von Optimismus und Pessimismus kehrt auch die Rhetorik der alten Sonntagspredigt61 wieder, die den Einzelnen daran erinnerte, dass seine gute Tat der erste Schritt ist, die Welt zu retten. Das kann man auch literarisierend sagen, gebildet quasi, mit Hölderlin, der natürlich auch zitiert wird: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (78), selbstverständlich nicht ohne eine selbstironische Reserve – „mit dieser zugegebenermaßen überstrapazierten Hölderlin-Referenz“ (ebd.) –, die schon als Selbstschutz gegenüber dem Naivitätsvorwurf notwendig ist, wie der Gebildete weiß. Aber wer wird bestreiten, dass „eine andere Art des In-der-Welt-Seins … möglich (ist)“? Das würde selbst Luhmann in seinen Resonanz-Überlegungen einräumen, aber noch nicht für die systematische, differenzstiftende Pointe einer Theorie der Weltbeziehungen erklären. Rosas Angebot ist deshalb letztlich doch nichts anderes als gute alte Pädagogik, die aus der Rede von Bildung bekannte
60Gegen
diese Zuschreibung, die sich ja bei Witte 2016, findet wehrt sich Rosa zu Recht. (2016, S. 80) erkennt den „Ton scholastischer Vorlesung“ und „ein audiopietistisches [!, H.-E.T.] Vademecum zur Selbstoptimierung“ (80). 61Schulze
614
27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Rhetorik des Wünschenswerten, soziologisch und phänomenologisch transformiert und semantisch camoufliert. Nur, nach der langen Predigt für die zentrale Rolle der Beziehungsverhältnisse ist es letztlich dann doch wieder überraschend, wenn der Propagandist der Resonanz nach seinem Plädoyer für die Möglichkeit der „anderen Art des In-der-Welt-Seins“ unmittelbar fortfährt, sogar mit einem eindeutigen „nur“ argumentativ verstärkt (im Unterschied zum behutsamen „vielleicht“ der Eingangsthese), über die Möglichkeit einer anderen Welt schließlich doch sagt, im Ton, der aus kritisch-materialistischer Bildungstheorie nur zu bekannt ist: „aber sie wird sich nur als das Ergebnis einer simultanen und konzertierten politischen, ökonomischen und kulturellen Revolution realisieren lassen.“ (56) Was ist das, Dialektik oder doch wieder, wie einer der Kritiker seine zentrale Schwäche bezeichnet hat, eine Argumentation, „mit der Rosa der eigenen guten Sache schadet: seine Neigung zum Wischiwaschi.“62 Vielleicht ist es ja nur die Rede von Bildung, die hier latent fortwirkt und die Macht beweist, die sie offenbar auch in der expliziten Vermeidung von Eindeutigkeit als deutsches Deutungsmuster für die Analyse von „Weltbeziehungen“ dennoch einträgt, wenn man nur schöne neue Welten konstruiert, sie in binären Schemata zeitdiagnostisch bewertet und in Versöhnungsformeln die Rettung sucht. Zu solchen funktionalen Äquivalenten muss man deshalb aber wohl auch nicht flüchten, wenn man eine Theorie der Bildung sucht.
27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik 27.3.1 „Eine humane Bildung soll den ganzen Menschen in den Blick nehmen …“63 Ein anderes, ebenfalls höchst diskussionswürdiges Angebot eines funktional äquivalenten Theorieprogramms zu expliziten Theorien der Bildung ist in den Arbeiten identifizierbar, in denen Karl-Friedrich Wessel eine Theorie der
62So Dieter Thomä: Hartmut Rosa: Soziologie mit der Stimmgabel. In: Die Zeit Nr. 26/2016, 16. Juni 2016. 63Julian Nida-Rümelin: Philosophie einer Humanen Bildung. Hamburg 2013, Waschzettel. Sein Thema ist entsprechend umfangreich, wenn er klären will, „was Bildung ist?“ und belegt, welche Themen die Rede von Bildung auch bei ihm hat, der Humboldt und Dewey als seine zentralen Referenzautoren nennt: „Um was geht es eigentlich? Welches Menschenbild liegt unseren Bemühungen zugrunde? Was ist Bildung und welche Rolle spielt dabei die Persönlichkeitsentwicklung? Um welches Wissen und welche Fähigkeiten sollte es uns gehen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Bildung und Gerechtigkeit? Auf solche Fragen versucht dieses Buch Antworten zu geben. Im Mittelpunkt steht dabei die Idee der Einheit – der Person, des Wissens und der Gesellschaft.“ (S. 8) Die zweite Frage, wie solche Bildung möglich ist, überlässt er kluger Weise anderen, z. B. den Pädagogen, gibt als Philosoph nur die „drei Prinzipien einer humanen Bildungspraxis“, die erneut mit den starken Einheits-Formeln der Einleitung vorgestellt werden: „die Idee der Einheit – der Person, des Wissens und der Gesellschaft.“
27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik
615
„Humanontogenetik“ vorgelegt hat. In Überlegungen zum Verhältnis von „Philosophie und Pädagogik“64 früh – und v. a. auch dort schon sehr kritisch gegen die theoretische Qualität von Erziehungswissenschaft und Erziehungsphilosophie – begonnen, liegen von ihm explizite Überlegungen zur „Humanontogenetik“ seit den 1980er Jahren vor.65 Eine voluminöse „Einführung in die Humanontogenetik“ unter dem schlichten Titel „der ganze Mensch“66 dokumentiert 2015 den vorläufigen Abschluss dieser Arbeiten. Die Rezeption dieses Programms war schon zu DDR-Zeiten breit. Sie hat sich in einem sehr heterogenen Kreis von Akteuren aus ganz unterschiedlichen Disziplinen von der Sexualmedizin bis zur Krankenpflege, in Pädagogik und Sonderpädagogik, in der Kinder- und Jugendhilfe, in der Sportwissenschaft und in der Medizin, in Biografieforschung und Bildungssoziologie,67 auch in Kooperation mit der Verhaltensforschung,68 bis heute intensiv entwickelt.69 Das Ergebnis dieser interdisziplinären Kommunikation ist in aktuell mehr als 30 Bänden einer eigenen „Schriftenreihe“ dokumentiert, entstanden in einem kooperativ-kommunikativen Zusammenschluss der beteiligten Forscher,70 auch nicht nur begrenzt auf ehemalige DDR-Wissenschaftler.71 Dabei sind vor allem der DDR-spezifische Entstehungskontext der Theorie von Wessel und ihre weitere Ausarbeitung von systematischer Bedeutung für die Möglichkeit, die Fragen des „Bildungs- und Erziehungsprozesses“ zum Thema distanzierter, theoriegeleiteter
64Karl-Friedrich Wessel: Pädagogik in Philosophie und Praxis. Berlin (DDR) 1975, eine unveränderte „Neuherausgabe“ erschien mit Epilog und Anhang herausgegeben von M. Ketting/F. Kleinhempel und P.Tittel Berlin/Basel 2015. 65Karl-Friedrich Wessel sowie Projektrat BIPSEM/Rolf-Dieter Hegel/Friedrich Kleinhempel (Hrsg.): Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik: Beiträge und Berichte der Berliner Konferenz 1989 „Biopsychosoziale Einheit Mensch“ (BIPSEM). Berlin 1991. Wessel gibt selbst 2015, S. 28–38 eine Skizze der Geschichte seines Projekts. 66Karl-Friedrich Wessel: Der ganze Mensch. Eine Einführung in die Humanontogenetik. Berlin 2015. 67Thomas Diesner/Dieter Kirchhöfer/Friedrich-Karl Wessel (Hrsg.): Biografieforschung und Bildungssoziologie. Berlin 2017. 68Man muß einfach den Ethologen Günter Tembrock in seiner Bedeutung für Wessel eigens hervorheben. 69Thomas Diesner/Michael Ketting/Olaf Scupin/Andreas Wessel (Hrsg.): Humanontogenetik. Interdisziplinäre Theorie und Brücke in die Praxis. Berlin 2016. 70Sie haben sich im „Projekt Humanontogenetik der Humboldt-Universität zu Berlin und der Gesellschaft für Humanontogenetik e. V.“ organisiert. Mir liegt – mit Diesner/Kirchhöfer/Wessel (Hrsg.): Biografieforschung und Bildungssoziologie. Berlin 2017 – Bd. 36 ihrer Schriftenreihe vor. 71Dieter Lenzen z. B. übernimmt den Begriff in seine Rezeption der Überlegungen von Niklas Luhmann zum Erziehungssystem, konzentriert sich allerdings auf den Versuch, „Autopoiesis“ als Ersatz für „Bildung“ zu propagieren, vgl. D.L.: Lebenslauf oder Humanontogenese? Vom Erziehungssystem zum kurativen System – von der Erziehungswissenschaft zur Humanvitologie. In: Ders./Niklas Luhmann (Hrsg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M. 1997, S. 228–247.
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Analyse und Beobachtung zu machen. Anlass und Gang seiner Überlegungen lassen sich nämlich als ein Prozess beschreiben, die Theoretisierung dieses Themas aus den alltäglich-schulischen und bildungspolitischen Kontexten zu lösen und in einer theoretisch eigenen Systematik zu verstehen. Erst im Blick auf die von Wessel gewählte kritische Referenz gegenüber der philosophischen, erziehungs- und bildungstheoretischen sowie bildungspolitischen Situation der DDR Anfang der 1970er Jahre kann man verstehen, warum er sich der Mühe unterzieht, nicht weniger als eine Theorie des „ganzen Menschen“ zu entwerfen, obwohl ihm bewusst war und ist, welche Aporien und Paradoxien solche Totalitätsansprüche aufwerfen.72 Aber er musste offenbar so weit ausgreifen, um seine Theorie zu etablieren und sich aus den Traditionen zu befreien, die dieses Thema belasten, wenn man es angemessen theoretisch konzipieren will. Diese eher belastende Situation war, politisch, von der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft bestimmt, die meinte im Sozialismus Wissenschaft und Weltanschauung, Wahrheit und Dogma versöhnt zu haben und zugleich mit der Logik der Geschichte bei ihrer eigenen Entwicklung im Bunde zu sein. Zu seiner Situation gehörte ferner eine Tradition der Reflexion von „Bildung und Erziehung“, immer in dieser Kopula, die sich vor allem auf das öffentliche Bildungssystem, nicht selten sogar nur auf das Pflichtschulsystem konzentrierte, wenn sie den Prozess und die Möglichkeiten von Bildung und Erziehung analysieren und politisch in ihrem Sinne gestalten wollte. Zur Ausgangssituation gehörte schließlich die Tradition einer Philosophie, die nicht als kritische epistemische Instanz fungierte, sondern eher wie der Hüter des Dogmas auftrat und ihre Aufgabe nicht aufklärend, sondern eher kontrollierend, nicht selten sogar zensierend wahrnahm. Im gesamten Kontext der Reflexion über Bildung kann man deshalb Wessels Anstrengungen auch als Exempel für den Versuch lesen, die schon immer philosophisch wie gesellschaftlich, pädagogisch wie politisch fixierte und normativ aufgeladene Reflexion des Mensch-Welt-Verhältnisses aus der Distanz neu zu konstruieren, und zwar als Thema einer theoretisch geklärten und methodisch eigenständigen Analyse. Seine Arbeit macht dann nicht weniger als den „ganzen Menschen“ zum Thema einer neuen Disziplin und handelt sich damit erneut, jetzt aber auf einem anderen Niveau und neu kontextualisiert, die Fragen ein, die für den Theoriestatus und die Möglichkeiten der Bildungsreflexion signifikant sind, denn auch sie will ja seit ihrem Ursprung nicht weniger als die Menschwerdung des Menschen insgesamt und umfassend klären.
722015
ermahnt er sich schon im Vorwort seiner Arbeit, man müsse „nur die Überzeugung bewahren, dass der Mensch nie in Gänze zu erkennen ist“ (S. 5) – und man wundert sich bei seiner Vorliebe für Zitate und Argumente seit Lukrez allenfalls, dass er nicht „Individuum est ineffabile“ als Motto gewählt hat. Aber auch das Diktum kennt ja unterschiedliche Übersetzungen: bei wikipedia kann man aktuell lesen: „Individuum est ineffabile (lateinisch für „Das Individuum ist nicht zu fassen“)“, bei Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften. Bonn 1947, S. 122: „Das Persönliche ist unwiderlegbar“ – und natürlich diskutiert Rothacker dann grundlagentheoretisch, was der Satz bedeutet.
27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik
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27.3.2 … Theoriebildung als Distanzierung gegenüber Politik und Pädagogik Geht man zunächst der Genese der Theorie nach, dann ist Wessels Analyse der Situation von „Pädagogik in Philosophie und Praxis“ von 1975 der erste signifikante Text, nicht zufällig in einer Reihe zum Thema „Weltanschauung heute“ erschienen.73 Sein philosophischer Blick auf die Pädagogik entstammt den Ambitionen eines Kreises von Philosophen der Berliner Humboldt-Universität, die „Probleme der weltanschaulich-philosophischen Bildung im naturwissenschaftlichen Unterricht“ (7) behandeln wollten, also ein durch und durch bildungstheoretisches Thema, aber znächst auch noch sehr schulnah. Sie sahen bald, dass angesichts der Lage der Welt und der Schule diese Engführung nicht ausreicht und näherten sich deshalb dem gesamten Bildungsthema und damit dem „allgemeinen Zusammenhang von Philosophie und Pädagogik“ (7). Man kann diese thematische Orientierung sehr gut im bildungs- und gesellschaftspolitischen Kontext der DDR historisch verorten,74 wie das für Bildungsfragen ja immer geht. Interessant für die Frage nach den Möglichkeiten einer Theorie der Bildung ist aber vor allem die Tatsache, dass ein Philosoph sich vornimmt, der Pädagogik nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der „Praxis“ zu zeigen, wie sie ihre Aufgaben bearbeiten kann. Wessel geht dabei, nicht ohne palliative Formeln der rhetorischen Absicherung gegen den Vorwurf der Einmischung in die Arbeit eines fremdes Reviers (14), in der Argumentation auch immer in prekärer Balance zwischen eindeutiger Kritik an und Rückversicherung in den Argumentationsritualen des Wissenschaftssystems der DDR,75 von Befunden aus, die den Pädagogen in Selbst- wie
73Nachweise
aus diesem Buch von 1975 in Klammern im Text. „wissenschaftlich-technische Revolution“ und damit die naturwissenschaftliche Bildung spielten hier eine große Rolle, aber, seit Honeckers Machtübernahme, auch die Möglichkeiten des Erziehungssystems im Allgemeinen. Die Chancen einer „kommunistischen Erziehung“ und der Konstruktion der „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ waren Anfang der 1970er Jahre zentrale politische und theoretische Themen der D DR-Erziehungswissenschaft und der 1970 neu errichteten Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, vgl. für die damit verbundenen Forschungsprobleme, in denen Wessel ebenfalls eine Rolle spielte, Heinz-Elmar Tenorth: Die „Erziehung gebildeter Kommunisten“ als Aufgabe und Problem. Erziehungsforschung in der DDR zwischen Theorie und Politik, Wissenschaftssystem und Praxis. In: S.Reh/E.Glaser/B.Behm/T.Drope (Hrsg.): Wissen machen. Beiträge zu einer Geschichte erziehungswissenschaftlichen Wissens in Deutschland zwischen 1945 und 1990. Weinheim/ Basel: Beltz, 2017, S. 207–275 (63. Beiheft der ZfPäd). 75Deshalb fehlen weder die Rückgriffe auf Marx und Lenin noch die Erwähnung von Beschlüssen der SED-Parteitage; auch kritische Bemerkungen gegen themenverwandte Denker in der bürgerlichen Wissenschaft zumal der BRD finden sich und kühne Behauptungen, dass die richtige Theorie und die richtige Praxis „nur in der sozialistischen Gesellschaft zu realisieren sei“ (z. B. 92). In der Substanz seiner Argumentation ist Wessel aber schon 1975 bemerkenswert unabhängig gegenüber solchen Argumentationsritualen und eindeutig in der Kritik nicht nur der wissenschaftlichen Pädagogik der DDR (eine Kritik, die nicht nur bei Philosophen, sondern z. B. auch in der Akademie der Wissenschaften gang und gäbe war), sondern auch gegenüber der zeitgenössischen Bildungspolitik. Kurz, man muss Wessel als Außenseiter im Wissenschaftssystem einstufen. 74Die
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27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
Fremdbeschreibungen nur zur Genüge bekannt waren. Auch Wessel betont, dass die Pädagogik als Wissenschaft schon im Allgemeinen einen problematischen wissenschaftlichen Status habe, „eine recht junge Wissenschaft“ sei,76 theoretisch gesehen noch nicht über eine „hinreichend gesicherte Menge von Elementen“ zur Bildung eines systematischen Theoriegebäudes verfüge (11) und in der Praxis, die DDR und ihr Bildungssystem konnte er als gutes Beispiel nutzen, primär „der Schule verpflichtet“ sei (12). Dann liefert der Philosoph, so stellvertretend wie bevormundend, wie er weiß, um es am Ende mit dem Angebot eines „Bündnisses“ von Philosophie und Pädagogik prospektiv zu heilen (171), der unreifen Disziplin ihr genuines Theorie- und Forschungsprogramm: Zunächst klärt er den theoretischen „Gegenstand der Pädagogik“ (35 ff.) und damit die grundsätzlichen Referenzen ihrer Forschungspraxis, dann die zentralen offenen Forschungsthemen, die der „Bildungs- und Erziehungsprozess“ (51 ff.) aufwirft, und die auch mit dem dabei gewünschten Ergebnis, der „Persönlichkeit“, verbunden sind. Wessel verweist auf die „Dialektik“ ihrer „Entwicklung“, die in der pädagogischen Theorie analysiert werden soll. Für die Relation von „Persönlichkeitsentwicklung und Allgemeinbildung“ diskutiert er schließlich auch die Konsequenzen für Bildungssystem und Gesellschaft. Dabei muss man doch eigens hervorheben, dass es ihm gelingt, selbst dieses Thema einzuführen und zu behandeln, ohne die politischen Leitbegriffe von der „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ oder von der „allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule“ auch nur peripher für seine theoretischen Anstrengungen zu berücksichtigen. Diese primär theoretische Focussierung versteht man schon angesichts der durchgängigen Kritik an der Praxis der Thematisierung dieser Themen in der Pädagogik sehr gut. In der Konzentration auf die Schule, ja auf die Pflichtschule, ignoriere die Pädagogik, so Wessel, dass Bildung und Erziehung sehr viel weiter zu fassen seien. Die Pädagogik müsse, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden – Wessel rekapituliert dann die Grundannahmen der klassischen bürgerlichen Bildungstheorie, ohne es explizit einzugestehen – von der Tatsache ausgehen, dass der Mensch ein „natürliches Wesen ist“ (32), immer im Kontext von „Individuum und Gesellschaft“ (31) zu sehen, so dass auch das primäre Funktionsproblem nicht „Bildung“ oder Schule sei, sondern „soziale Vererbung“ (32) und „Reproduktion“ im Lebenslauf, auch und zuerst ökonomisch und in Referenz auf „Arbeit“ (32). Das „Verhältnis“ zur Welt sei deswegen auch ein „doppeltes“, von Mensch und Natur (die auch über Arbeit Thema werde) und von Mensch und Mensch, die sich in der Sozialität zeige, und zwar ein Leben lang, in einer eigenen Form von „Entwicklung“ (31 f.). „Persönlichkeit“ verdanke sich dieser spezifischen Beziehung mit Welt, wie sie sich in eigener Zeitlichkeit ausbilde. Die Analyse dieser Entwicklungsmuster bezeichnet Wessel als weitgehend offene, von der Pädagogik in ihrer Analyse der Bildungs- und Erziehungsprozesse nicht beachtete
76Was Wessel nur für die „marxistisch-leninistische Pädagogik“ behauptet (11) – aber der Vorwurf trifft eine argumentative Tradition in Deutschland, zumal in Verbindung mit den anderen Defizitdiagnosen, die Wessel vorträgt.
27.3 „Der ganze Mensch“ – Humanontogenetik
619
oder nicht hinreichend geklärte Forschungsprobleme. Er deutet die Themen an, die dabei zu bearbeiten sind, die bekannten „einfachen Momente“ von Prozess und Struktur, von Praxis, Zielsetzung und Produkt, von Praktiken, wie „Einwirkung“ und schulischer Bildung und Erziehung, in den Ergebnissen zwischen „Erfahrung“ und „Fertigkeiten“. Er diskutiert weiter die systematischen Fragen der Entwicklung zwischen „Geschichte“ und „Evolution“ (58), legt besonderen Wert auf die Aufklärung der „Ontogenese“ (66), erklärt also nicht die Gattungsgeschichte zum Thema der Pädagogik, denn der „Gegenstand ist der Mensch“ (54), wie er für Bildungs- und Erziehungsprozesse grundsätzlich festhält. Die Analyse des „genetischen und strukturellen Zusammenhangs“ (88) dieses Prozesses und seiner signifikanten „Phasen“ sei deshalb das Thema, die pädagogische Theorie der „Persönlichkeit“ für diese Fragen aber noch völlig unzureichend. Sie habe die Dialektik des gesamten Prozesses (116) so wenig analysiert wie z. B. die typischen Formen der „Anpassung“ der Individuen an ihre je spezifischen Welten, also weder die Differenz von „aktiver“ vs. „passiver“ Anpassung hinreichend berücksichtigt noch, und hier sieht man doch den politischen Kontext, den von „positiver“ Anpassung, die in sozialistischen Gesellschaften dominiere und nur hier möglich sei, und „negativer“ Anpassung, die für den Kapitalismus typisch und der sozialistischen Gesellschaft fremd sei (120 ff.). Die Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe gegenüber der dominierenden Pädagogik und Politik der DDR zeigt sich am deutlichsten am Ende, wenn Wessel auf „Allgemeinbildung“ zu sprechen kommt und in diesem Kontext sein Konzept von „Bildung“ definiert. Dabei präsentiert er einen Begriff von Bildung, der sich einerseits – wie in der bildungstheoretischen Tradition bis ins 20. Jahrhundert – als quasi ‚objektiver Geist‘ verstehen lässt, denn „Bildung ist“, so formuliert er, die „Gesamtheit des lebendigen Wissens, des Könnens und der Normen menschlichen Handelns und Verhaltens einer historischen Epoche“ (136), d. h. eine Realität mit der spezifischen „Funktion“ (137) der generationsübergreifenden, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindenden „Vermittlung“ von je individuellen „Kenntnissen, Fertigkeiten usw.“ mit der „Gesamtheit des menschlichen Wissens, Könnens usw., welche der Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gegenwärtig ist“ (139). Auch hier entfaltet er also eine Denkfigur, die klassischer, auch geisteswissenschaftlicher Bildungstheorie entspricht, für die Bildung ja auch die Resubjektivierung der objektiven Kultur in den Individuen darstellt. In diese Tradition ordnet sich Wessel auch dadurch ein, dass er der Schule und der dort institutionalisierten Form schulischer „Allgemeinbildung“ zwar eine große Rolle in diesem Prozess zuschreibt (145 f.), aber für die Sicherung von „Bildung“ auch die je individuelle Realisierungsform der allgemeinen und die dadurch und über berufliche Praxis definierten „speziellen Bildung“ einräumt (149). „Allseitig gebildet“, im Sinne einer „gleichmäßig“ (154) alle Dimensionen der Gesamtheit von Bildung repräsentierenden Gestalt, seien aber die je einzelnen Individuen nicht – Kants alte Unterscheidung von Individuum und Gattung findet sich erneut. Im Blick auf die spezifische Funktion von Schule in diesem Prozess verliert sich Wessel dann aber in immer neuen Unterscheidungsversuchen von „Bildung“ in ihrer „Gesamtheit“, „Allgemeinbildung“ generell und der spezifischen
620
27 Funktionale Äquivalente zu Theorien der Bildung
schulischen „Allgemeinbildung“. Hier wäre gegen die Abgrenzungsfragen innerhalb von „Allgemeinbildung“ die Aufnahme von Unterscheidungen hilfreich gewesen, wie sie aus der Bildungstheorie des 20. Jahrhunderts ja auch vorliegen, z. B. in Sprangers Unterscheidung und Sequenzierung von „grundlegender Bildung“, die der Schule zugerechnet wird, „beruflicher Bildung“, die immer „spezielle Bildung“ ist, nach der Pflichtschule und beruflich, und „allgemeiner Bildung“, die der Praxis der Individuen im Lebenslauf insgesamt zugerechnet wird. Man erkennt aber analoge Unterscheidungen, wenn Wessel der Schulzeit die Ausbildung der für den Lebenslauf „strukturbestimmenden Merkmale der Allgemeinbildung“ (159) zurechnet, die weiteres Lernen im Lebenslauf ermöglichen und prägen, also auch als sequenzeröffnende Prämissen individueller Aneignung von Welt gesehen werden. Letztlich interessieren ihn aber die Fragen der „Aneignung der Weltanschauung“ sehr viel mehr, ohne dass er die für ihn dabei offenen Fragen der schulischen Didaktik und Methodik noch systematisch klärt. Aber die Fähigkeiten der anzustrebenden Persönlichkeit kann er durchaus zusammenfassen, im Grunde aber politisch-ideologisch, für die „sozialistische Persönlichkeit“ nämlich, die fähig sei, auch die „Bedingungen“ zu gestalten, die Bildung begrenzen oder unterstützen, und zwar im „Bündnis von Pädagogik und Philosophie“. Bei solchen Losungen ist man auch eingestimmt auf Programmsätze wie diesen: „Dies erfordert allseitigen Einsatz der sozialistischen Persönlichkeit, Parteilichkeit, Mut, Beharrlichkeit, Ausdauer, Streben nach Souveränität bei der Lösung der von der Gesellschaft gestellten Aufgaben“, vereint „zur Lösung gesellschaftlich relevanter Probleme des Bildungs- und Erziehungsprozesses.“ (176). Schließlich, mit „Souveränität“ scheint hier schon der übergreifende Zielbegriff auf, der aktuell den Schlussstein der Überlegungen in Wessels Theorie der Humanontogenetik abgibt. Den Begriff der „Bildung“ und auch die konstruktiven Überlegungen zu „Allgemeinbildung“ benutzt er in theoretisch relevanter Weise dagegen später so gut wie nicht mehr. In der Zieldimension werden ihre Fragen in seinem eigenen Nachfolgekonzept „Souveränität“ bzw. der „souveräne Mensch“ behandelt.77 Seine eigene Theorie wird unter dem Titel der Humanontogenetik
77Karl-Friedrich
Wessel: Bildung zwischen Selbstregulation und Fremdbestimmung. (1993) In: K.-F. Wessel u. a. (Hrsg.): Bildungstheoretische Herausforderungen. Beiträge der Interdisziplinären Sommerschulen 1990 bis 1993. Bielefeld 1996, S. 201–213. Der Text beginnt mit der bekannten humanontogenetischen Frage: „Wie kann man das Verhältnis des Individuums zur Umwelt charakterisieren?“ – und das Hauptargument des Buches gilt seiner bekannten These von den „Grenzen der schulischen Bildung“, die er, wie schon früher, humanontogenetisch aufhebt. Für die Verbreitung des Nachfolgekonzepts, jetzt auch in einem Band über „Bildung“, KarlFriedrich Wessel: Vorwort. In: K.F. Wessel (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung und die Bildung für die Zukunft. Bielefeld 2007, S. 7–8 – sein eigener Beitrag zu dieser Festschrift für Dieter Kirchhöfer (dem er quasi die Referenz auf Bildung und die Pädagogik als Disziplin überlassen hat) gilt dem von ihm selbst eingeführten Nachfolgebegriff: Der souveräne Mensch – Souveränität in der Humanontogenese. (S. 93–101).
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621
ausgearbeitet, ihre Referenz ist „der ganze Mensch“ und die Menschwerdung des je individuellen Menschen von der Geburt bis zum Tode, also das klassische bildungstheoretische Thema.
27.3.3 … „Der ganze Mensch“: Bildungstheorie in beobachtender Perspektive Dabei zeigen seine Überlegungen trotz der neuen Bezeichnung, die er seiner Theorie als „Humanontogenetik“ gibt, zugleich Kontinuität in der Thematisierung seit den 1970er Jahren, gepaart mit Erweiterung und Innovation. Konstant finden sich auch 2015, in dem aktuellen systematischen Referenztext,78 als zentrale Themen der Bezug auf Entwicklung, auf den gesamten Lebenslauf, auf die Bedeutsamkeit von Phasen und Übergängen, von Natur und Gesellschaft. Auch die Konzentration auf das Individuum und die Ontogenese bleibt erhalten, genauso wie Fragen von Weltanschauung und Denksystemen zum „Wesen“ des Menschen. Begrifflich vollständig unberücksichtigt ist jetzt aber die Debatte über Allgemeinbildung, die in der intensiven Analyse von „Kompetenzen“, ihrer zeitlichen und systematischen Ordnung in einem hierarchischen System und ihrer Referenz auf den Erwerb in je spezifischen Welten ihre neue Form gefunden hat, quasi als theoretisches Äquivalent der Produktdimension von Bildung. Dabei zeigt sich zugleich, dass auch der Bezug auf Gesellschaft präzisiert und radikal theoretisiert wird, denn die alte Dichotomie von ‚bürgerlich‘ vs. ‚sozialistisch, die er 1975 noch gelegentlich zur Qualifizierung von Gesellschaften und ihrer Implikationen für den Bildungsprozess benutzt hatte, ist ebenfalls verschwunden. In der „Ökologie der Humanontogenese“ sucht Wessel vielmehr explizit Anschluss an westliche Theoriekonzepte, wie sie von Bronfenbrenner u. a. entwickelt worden sind, um in den Erklärungen für Formen und Bedingungen, Funktionen und Folgen des Aufwachsens auch umweltspezifisch aussagekräftige Aussagen über ‚Bildungswelten‘ machen zu können. Das Theoriegebäude hat also insgesamt eine neue Gestalt gewonnen, aber das Erklärungsproblem ist konstant geblieben, die Menschwerdung des Menschen. Der Titel der neuen Wissenschaft, die Wessel dafür ausarbeiten will, „Humanontogenetik“, und der zentrierende Begriff für die interdisziplinäre Arbeit, die er propagiert, ist die „biopsychosoziale Einheit Mensch“ – kürzelhaft als BPSEM präsent. Insgesamt belegt seine Begrifflichkeit eindeutig, dass er nach wie vor eine Verengung auf Fragen der Schule und der Pädagogik vermeiden will, aber dennoch im Kontext von Bildungstheorie bleibt. Denn man kann ja nicht übersehen, dass in der biotisch-psychisch-sozialen Einheit Mensch nur die alte Pestalozziformel für den Menschen wiederkehrt, dass er Produkt der Natur, seiner
78Nachweise
aus Wessel, Der ganze Mensch, 2015 nachfolgend in Klammern im Text.
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Gesellschaft und seiner selbst sei. Wessels weitere Arbeit an dieser Theorie, so kann man sein erstes Zwischenfazit 2015 auch lesen, gilt einerseits der Klärung der theoretischen Ambitionen, dann der methodologischen Selbstvergewisserung und schließlich der Detaildiskussion der theoriebildenden Elemente vor dem Hintergrund der gesamten humanwissenschaftlichen Forschung. Das Ergebnis zeigt, welche Aufgaben in Forschung und Theoriebildung „der ganze Mensch“ aufwirft, und vielleicht auch, dass der normativ beschwerte und mit eigenen Traditionen belastete Begriff der Bildung die dann notwendigen Integrations- und Reduktionsleistungen nicht mehr vollbringen kann. Das Thema bleibt erhalten, aber die Form der Theoretisierung wird neu gewählt. Ist sie leistungsfähig genug, die Ambitionen einzulösen? Die systematische Einführung in die Thesen, Grundannahmen und Referenzen seiner „Humanontogenetik“ setzt ein mit Überlegungen zum theoretischen Status seines Entwurfs. Angesichts der Absicht, eine neue Disziplin für ein neu definiertes Thema einzuführen, das mit Totalitätsansprüchen – Analyse des „ganzen“ Menschen – auftritt, ist das sehr verständlich. Wessel wehrt auch gleich alle falschen Erwartungen und Zuschreibungen ab, sondern betont ausdrücklich, dass er keine „Überwissenschaft“ (21) präsentieren will und auch keinen „Philosophieersatz“ (ebd.), sondern eine disziplinär organisierte Arbeit. Er kritisiert, eher im Vorübergehen, noch einmal die Pädagogik, die diese Arbeit – die sie an sich leisten müsste? – versäumt habe und aktuell noch versäumt,79 und präsentiert dann gleich die „Grundannahmen“ seines Zugangs zum „ganzen Menschen“ (28). Sie stellen das „System Mensch“ ins Zentrum der Analyse, und zwar von der Konzeption bis zum Tode, schreiben ihm als „Existenzweise … Entwicklung“ zu, und zwar in einem „strukturellen Zusammenhang“, in dem alle Bereiche der Entwicklung vermittelt seien, wobei die „Struktur der … Einheit“ in jeder Phase „spezifisch“ sei. Erforschbar sei die Dynamik und Struktur dieses Systems, indem man das gesamte Wissen über den Menschen auf die Prozesse von Selektion und neuer Konstruktion beziehe, am Besten in einer Längsschnittstudie, wie er schon 1989 gefordert habe (die sich aber bis zur Gegenwart, aus unterschiedlichen, auch wissenschaftspolitischen Gründen nicht realisieren ließ). Insofern wird eher sein Konstrukt präsentiert, die biopsychosoziale Einheit Mensch, noch nicht dessen Bild in der eigenen Forschung. Sein Bild der Einheit Mensch wird von Wessel zunächst gegen andere denkbare Bilder des Menschen abgegrenzt, vor allem natürlich gegen die und innerhalb der Vielfalt
79Die
Kritik wiederholt 2015 noch einmal die These von 1975, dass „die Pädagogik bisweilen (vergisst), das ihr Gegenstand einerseits die Voraussetzungen für das Werden der menschlichen Individuen einschließlich der genetischen Voraussetzungen missachtet und andererseits den lebenslangen Prozess der Entwicklung bis ins hohe Alter übersieht“ (2015, S. 24) Aber inzwischen muss man wohl die Pädagogen suchen, die diese Fehler machen, und gegenüber der Gesamtheit der bildungstheoretischen Reflexion ist das auch schon historisch falsch. Zu seiner generellen Kritik an der Pädagogik der DDR Karl-Friedrich Wessel: Über Realitätsund Theorieverlust in der Erziehungswissenschaft der DDR. In: Die Deutsche Schule 83 (1993), S. 505–51.
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der Anthropologien, die philosophisch und als spezifische Anthropologien seit langem verbreitet werden (107–171). Systematisch weist er zunächst jeden Verdacht ab, es ginge erneut darum, das „Wesen“ des Menschen zu präsentieren. Aber er beansprucht systematische Sichtbarkeit gegenüber allen Anthropologien, und d. h. impliziert dann doch eine Allgemeinaussage, schon darin präsent, dass er immer neu „defizitäre Annahmen“ über den Menschen diagnostiziert (9, 42, u. ö.), und das sind solche, die seinem eigenen Modell nicht entsprechen. Die Forschungsbefunde der Anthropologien, von der philosophischen bis zur kulturanthropologischen, von der politischen bis zur historischen, von der Geschlechteranthropologie bis zur psychologischen nimmt er in ihren Befunden zum Forschungsstand dagegen intensiv auf, aber selektiv; denn er bezieht sie in ihren Befunden jeweils auf sein Modell, dann auch kritisch. Sobald die Einheit des Biotischen, Psychischen und Sozialen nicht hinreichend berücksichtigt wird, setzt seine Kritik an falschen Annahmen ein, denn diese Einheit sei „unlösbar“ (20) und notwendig zu berücksichtigen. Nur knapp wird die Pädagogische Anthropologie berücksichtigt, dann noch mit einem etwas kryptischen, weil im Detail unbelegten, Hinweis auf den „Reichtum“ (157) der einschlägigen Arbeit in der DDR verbunden. Aber hier hätte er, z. B., ja auch die Pädagogische Anthropologie von Heinrich Roth diskutieren können, die 1971 schon vorlag und in manchen Aspekten als eine Anthropologie in seinem Sinne gelesen werden kann.80 Auch Roth argumentiert, wie Wessel, mit dem Begriff und den Forschungen zur „Persönlichkeit“, um die Prävalenz von Zielfragen und Normproblemen in der Bildungstheorie in einen empirischen Forschungskontext aufzuheben und diese zentralen Fragen nachprüfbar und empirisch diskutierbar zu machen. Auch Roth argumentiert mit dem Begriff der „Entwicklung“, ihren Phasen und je spezifischen Leistungen, um die Menschwerdung zu beschreiben. Wessel ignoriert das (rezipiert aber als psychologische Anthropologie und für die von Roth resümierte Forschung stark die Arbeiten von Hans Thomae), vielleicht auch, weil Roth seine Befunde nicht theoretisch vereinheitlicht und in ein Forschungsprogramm übersetzt, sondern immer wieder in eine „Entwicklungs-Pädagogik“ einbringt, also letztlich doch wieder pädagogisiert, wenn er kontinuierlich primär die Frage stellt, wie gesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse pädagogisch erzeugt werden können. Die historische Anthropologie rezipiert Wessel dagegen explizit, und zwar aus den westdeutschen Debatten (150 f.), wehrt aber alle „radikale Historizität“ ab (151) und diskutiert intensiver die Entwicklung „temporaler“ Kompetenz. Damit findet er wiederum die Nähe zu Lebenslauf-Analysen und biografischen Studien, die in der Bildungsforschung und auch in der Rezeption von Wessels Theorieprogramm intensiv praktiziert werden.81 Das anthropologische Theoriekonzept,
80Heinrich Roth: Pädagogische Anthropologie, Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung; Bd. 2: Entwicklung und Erziehung. Hannover 1969/1971. 81Thomas Diesner/Dieter Kirchhöfer/Friedrich-Karl Wessel (Hrsg.): Biografieforschung und Bildungssoziologie. Berlin 2017.
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dem sich Wessel am ehesten systematisch zuordnen lässt, könnte man in den Forschungen und Debatten über „Epigenese“ sehen, auf die Wessel auch selbst referiert (397). Das ist ein klassischer Begriff, schon bei Kant und Blumenbach zu finden, der aktuell neu aufgenommen wird, um Entwicklungsprozesse der Lebenswissenschaften quasi postdarwinistisch z. B. in der Trias von „Gen – Organismus – Umwelt“ (398) zu erforschen. Alle Humanwissenschaften sollen jetzt, so liest man an anderer Stelle, „Evolution in four Dimensions“ analysieren „genetic, epigenetic, behavioral and symbolic“,82 um Individuation zu verstehen und evolutionstheoretisch auch mit Sprache und Kultur argumentieren zu können,83 damit selbst zum Theorieangebot für Historiker zu werden und damit so wichtige Fragen wie die Geschichte des Selbst zu behandeln.84 Wessel selbst argumentiert triadisch, denn er wählt Entwicklung, Kompetenzen und die Ökologie als zentrale Erklärungsdimensionen der Humanontogenetik – und unschwer erkennt man erneut die zentralen Themen der Bildungstheorie wieder: Prozesse, Produkte, Bildungswelten. Die szientifische Deutung, Klärung und Präzisierung klassischer Annahmen der Bildungstheorie kann man deshalb auch als Leitfaden der Lektüre seiner dichten und intensiven Diskussion der Forschungslage zu diesen drei Dimensionen nutzen. Dabei überrascht es bei „Entwicklung“ (173–309) zunächst, dass Wessel so viel Wert auf die Unterscheidung von „Phasen“ legt, denn die Kritik an Phasenmodellen ist ihm nur zu bekannt. Aber seine drei Phasen – Reife, Leistung, Erfahrung, den Lebensaltern Kindheit/ Jugend, Erwachsenenstatus und Alter nachgebildet – gewinnen bei ihm – das ist bildungstheoretisch wiederum sehr plausibel – ihre Bedeutung nicht allein, aber doch sehr stark aus dem Problem der „Übergänge“ und der „Krisen“, die diese Übergänge biotisch, psychisch und sozial, je im Zusammenhang bedeuten und in ihrer Logik charakterisieren, abhängig von den systematisch den Phasen zuschreibbaren Merkmalen in ihren jeweiligen Kontexten. Schon 1975 hatte er die Merkmale, „die für alle Phasen zutreffen, aber in jeder qualitativ anders in Erscheinung treten und überdies noch meßbar und im Einzelfall
82Ich
zitiere Eva Jablonka/Marion J.Lamb: Evolution in four dimensions: Genetic, epigenetic, behavioral and symbolic variation in the history of life. Cambridge, Mass./London: MIT-Pr., ²2014. Man könnte auch interdisziplinär angelegte Arbeiten aus der Leopoldina zitieren, u. a. Onur Güntürkün/Jörg Hacker (Hrsg.): Geist – Gehirn – Genom – Gesellschaft. Wie wurde ich zu der Person, die ich bin? Halle/Saale 2014 (Nova Acta Leopoldina N.F. Nummer 405, Bd. 120). 83Sehr informativ zur Einführung in diese Diskussion Nessa Carey: The Epigenetics Revolution. How Modern Biology is Rewriting our Understanding of Genetic Disease and Heritance. London: Icon Books 2012. 84Zu dieser Diskussion und v. a. im Blick auf die lange Gattungsgeschichte des Menschen und die offenen Forschungsfragen für Historiker ist höchst aufschlussreich das Kontroversen repräsentierende Roundtable in American Historical Review 2014 „History meets Biology“ (AHR 2014, S. 1492–1620; dort u. a. John L. Brooke/Clark Spencer Larsen: The Nurture of Nature: Genetics, Epigenetics and Environment in Human Biohistory. In: American Historical Review (2014), S. 1500–1513, Lynn Hunt: The Self and Its History. S. 1576–1586 sowie der abschließende Kommentar von Norman MacLeod: Comment. Historical inquiry as a Distributed, Nomothetic, Evolutionary Discipline. 1608–1620.
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psychologisch interpretierbar sind“,85 in sieben Dimensionen gelistet, als „Einheit gegensätzlicher Seiten“ bezeichnet und jeweils benannt als „Maß. 1. des Verhältnisses von Spontaneität und Bewußtheit … 2. … des Zeitbewußtseins … 3. Von Fremd- und Selbstregulation … 4. … von Labilität und Stabilität … 5. … von persönlich Bedeutsamem und gesellschaftlich Bedeutsamem …6. … von Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung … 7. … (in) der Festlegung der persönlichen Identität.“ In diesen Relationsbegriffen (die sich je einzeln auch leicht in der Bildungsreflexion identifizieren lassen) findet sich der Kern der Erklärung, die Wessel für die Frage gibt, wie Entwicklung möglich wird, in welcher Varianz man sie zu sehen hat, was Individuation dabei bedeutet und warum in der Ontogenese das Ergebnis dieses Prozesses letztlich unprognostizierbar und nur individuell bestimmbar bleibt – wie er sagt und wie man bildungstheoretisch resümieren könnte. In der „Humanontogenetik“ führen die Erläuterungen zu den Phasen und zumal zu den „sensiblen Phasen“ (2015, 513 ff.) diese Analysen von Ursachen, Formen und Folgen der Entwicklung weiter, jetzt auf den gesamten Lebenslauf bezogen. Phasen und vor allem sensible Phasen werden also nicht etwa eingeführt, um Montessori zu rehabilitieren, sondern um den zeitlichen und sozialen Zusammenhang in den Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs und den irreversiblen (aber nachholend kompensierbaren) und krisenhaften Verlauf der Entwicklung nach Ursachen und Folgen zu kennzeichnen. Die generelle Annahme dafür ist „die Einheit von Zeit und Komplexität“ (86, 271 ff.). Erst sie können „die Individualentwicklung“ (224) erklärbar machen, natürlich nach Ursachen und Folgen immer bezogen auf die Einheit in den biotischen, psychischen und sozialen Ebenen, je für sich und in ihrem Zusammenhang. Die Zeitdimension ist vor dem Hintergrund der Erläuterungen zu Evolution, Entwicklung und Geschichte unmittelbar plausibel, im Blick auf „Komplexität“ werden Relationen nach dem Zusammenspiel von Wirkfaktoren diskutiert, d. h. auch in ihrer Nichtplanbarkeit, in der Eigenlogik der jeweiligen Phasen und für das Zusammenspiel von „Gen – Organismus – Umwelt“ (398). Vor allem der Rückgriff auf den Begriff der „Komplexität“ verbindet Wessels Annahmen über die Dynamik des Prozesses mit jüngeren Theorien im bildungstheoretischen Kontext, in denen die spezifische Wirkungsweise von Erziehung und Bildung ebenfalls im Rückgriff auf Theorien der Komplexität (und gegen triviale Annahmen über Wirkungsketten und Kausalzuschreibungen) erklärbar gemacht werden soll.86 Im Blick auf die besondere Rolle von Übergängen,
85Wessel,
Pädagogik in Philosophie und Praxis, 1975, S. 126–127, im Abschnitt „Dialektik der Persönlichkeitsentwicklung im Bildungs- und Erziehungsprozess“. 86Für die Komplexitätstheorie selbst, ihr Weltmodell und ihre Aussagekraft für das schwierige Problem der Wirkung in der Erziehung Elmar Anhalt: Komplexität der Erziehung. Geisteswissenschaft – Modelltheorie – Differenzierung. Bad Heilbrunn 2012, für die Reintepretation der Bildungstheorie innerhalb dieses Modells, vor allem für die Annahmen über „Wechselwirkung“, „Selbstorganisation“ und „Selbstreferenz“ Thomas Rucker: Komplexität der Bildung. Beobachtungen zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn 2014.
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Krisen und sensiblen Phasen wird man gleichzeitig – und jenseits der Literatur seit Erikson – auch an uralte Bildungsreflexion erinnert, an Plato z. B., der im Höhlengleichnis die basale Erschütterung, Zäsuren also, als genuine Form und individuellen Ort von Bildungsprozessen verstand und damit überhaupt das Thema Bildung theoretisch einführte. Gleichzeitig erkennt man in den Beschreibungen zur je spezifischen Zeitlichkeit der individuellen Entwicklung die aktuellen Theorien transformatorischer Bildungsprozesse als späte Konzepte in dieser langen Geschichte, in der Prozesse der Selbstkonstruktion der Individuen erst als Leistungen angesichts der Herausforderungen von Natur, Gesellschaft und eigener Praxis verstanden werden. In diesen Prozessen werden, das ist die zweite zentrale Referenz, „Kompetenzen“ erworben, nicht einfach Fähigkeiten oder Fertigkeiten, sondern die basalen und systematisch im Lebenslauf notwendigen „Voraussetzungen für die Entfaltung“ (314) des Individuums in der gesamten Ontogenese. Das ist also ein Bildsamkeitskonzept, denn Wessel unterstellt – naturhaft – Kompetenzkompetenz, und indiziert zugleich die im Prozess gesellschaftlich gemachte Unterstellung solcher Dispositionen als Folge wie Voraussetzung der Ausbildung von Kompetenzen. Unmittelbar überzeugend ist auch, dass die Ordnung der Kompetenzen geklärt sein muss, biografisch naheliegend dann die Annahme, dass die Kompetenzen sich in einem zeitlichen und hierarchischen System ordnen lassen, insgesamt in vier Klassen, die „enkaptisch“, d. h. sich je einschließend, einander zugeordnet sind und im Lebenslauf selbstaufbauend aufeinander verwiesen bleiben. Ausgehend von den „Basiskompetenzen“ (316), die elementar in den Sinnen präsent sind, also motorisch, optisch, haptisch, taktil, olfaktorisch und gustatorisch, bilden sie zusammen mit kognitiven und sozialen, sexuellen, kommunikativen und volitiven, emotionalen, ästhetischen und temporalen Kompetenzen das System, das die Akteure gesellschaftlich und je phasenspezifisch handlungsfähig in ihren Welten macht. Erworben und ausgebildet, verfeinert und genutzt sowie artikuliert in performatorischen Akten werden diese Kompetenzen in Wechselwirkung mit den varianten Umwelten. Die Ökologie der Humanontogenese (397 ff.) kann man spätestens seit Bronfenbrenners einschlägigen Arbeiten (auf die Wessel natürlich rekurriert) nicht ignorieren. Das sind jetzt auch Bildungswelten, die nicht mehr den simplen und zugleich normativ besetzten Klassifikationen von ‚bürgerlichen‘ oder ‚sozialistischen‘ Gesellschaften folgen, wie noch 1975, oder binär vorab systematisch codiert werden in förderliche oder bedrohliche Welten, in gute Bildungswelten und schlechte andere (und auch nicht in „Entfremdungs-“ oder „Resonanzzonen“), sondern selbst wieder komplexe Welten. Sie können theoriespezifisch und je nach Kompetenzdimension in ihrer Feinstruktur und Leistungsfähigkeit, in ihren Restriktionen und Ermöglichungsformen historisch und systematisch dimensioniert und analysiert werden, damit der Aufbau von Kompetenzen und die Logik der menschlichen Entwicklung erklärbar wird. Spätestens dann, das muss man mit leichtem Bedauern natürlich auch hinzufügen, möchte man auch die Ergebnisse der theoriespezifischen empirischen Analysen sehen, damit man prüfen kann, ob und wie sich die subtilen
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nterscheidungen über die Mechanismen der Entwicklung in komplexen Welten U auch empirisch bewähren – und ob sie mehr zeigen als die übliche Varianz sozialwissenschaftlicher Beobachtungen und Messungen. Das steht noch aus, auch insofern typisch für die großen Theorien der Menschwerdung des Menschen, die seit ihrem modernen Ursprung viel von Selbstorganisation, Anregung zur Selbsttätigkeit, vom Wechselspiel von Spontaneität und Einwirkung oder von zwanglos-zwingender Notwendigkeit geredet haben, aber doch nur selten die Logik dieser Prozesse auch in entsprechenden Messprozeduren der Wirkungsmechanismen und -formen jenseits biografischer Fallanalysen zeigen konnten. Humanontogenetik und Bildungstheorie bleiben auch darin verwandt. Unbeschadet solcher Erwartungen, Struktur und Prozess der Humanontogenese diskutiert Wessel in diesen Dimensionen von Entwicklung, Kompetenzen und Ökologie, immer bezogen auf die „Einheit Mensch“, und am Ende dann doch nicht ohne generalisierende Aussagen. Erstens akzentuiert er mit besonderem Nachdruck und herausgehoben „das Zeitwesen Mensch“, dessen spezifische Kompetenz im Umgang mit Zeit und Geschichte er zum „homo temporalis“ verdichtet (571–635). Zeit wird zu der zentralen, in der Ontogenese je individuell historisch und prozessual bestehenden Herausforderung an den Menschen, in der Erwartung, seine Welt und sich selbst in der Zeit, d. h. in den je unterschiedlichen biotischen, psychischen und sozialen Zeiten, handelnd zu verstehen und sie u. a. im lebenslangen Lernen in der Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft je phasenspezifisch neu zu bewältigen. Dabei kehren auch alle bildungstheoretischen Probleme im Umgang mit Zeit wieder, ihre normative Recodierung, wenn Vergangenheit als Tradition verstanden oder Zukunft zwischen Utopie und Illusion (597 ff.) konzipiert wird (aber „Beschleunigung“ kommt nicht vor, den Begriff überlässt er Rosa). Aber noch diese Kompetenzdimension behandelt Wessel beobachtend, distanziert in der Analyse der Praktiken, die dabei historisch und empirisch beobachtbar sind, ja er weist hier und da explizit die naheliegende Erwartung ab, angesichts seiner Befunde „Folgen für erzieherische oder pädagogische Prozesse“ (so z. B. 395) zu erörtern. Seine Argumentation ist auch hier nicht wertend, sondern distanziert; denn die Normen und Werte, zu denen sich der Mensch in der Entwicklung verhalten muss, hält der historische Prozess in seinen Welten selbst schon bereit. Wessel räumt sogar ganz nüchtern ein, dass auch die Entwicklung zum ‚Bösen‘ den Mustern folgt, die er generell für die Entwicklung und den Aufbau der Kompetenzen gezeigt hat, dass es also keiner anderen Theorie zu ihrer Erklärung bedarf. Beobachtend bleibt er auch, wenn er die „Einschränkungen“ diskutiert, die im gesellschaftlichen Kontext für die Entwicklung individuell und kollektiv für keinen Beobachter zu übersehen sind. Zunächst betont er, dass diese Einschränkungen sich auch, der Einheit Mensch gemäß, immer biotisch, sozial und oder psychisch (89 ff.) beobachten lassen. Er betont aber auch, dass die Varianz in den erwartbaren Befunden zunächst keinen Indikator für systematische Defizite der Entwicklung darstellt, sondern quasi normal und erwartbar sei (unbeschadet der Tatsache, dass sich Bedingungen und Welten der Entwicklung historisch verändern und damit auch Entwicklungsmöglichkeiten historisch
628
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variabel sind). Alle Entwicklung sei immer und zugleich Kompetenzkonstruktion und „Reduktion“ (101).87 Nicht zuletzt wegen solcher Offenheit spricht er auch immer vom „Individuum“ synonym mit „Person“ oder „Persönlichkeit“ (17), meidet also die normativ überladenen Begriffe der bildungstheoretischen Tradition, die meinen schon sprachlich ganz differente Klassen von Entwicklungsprozessen und Ergebnissen empirisch unterscheiden und bewerten zu können.
27.3.4 … der „ganze Mensch“ und das „Maß“ der Humanontogenese Normativ, und dann doch nah am dominierenden Duktus der Bildungstheorie, wird die Klärung des Status und der theoretischen Annahmen über die Humanontogenese erst im letzten Schritt. Hier führt Wessel „Souveränität“ und den „souveränen Menschen“ als einen Wert und eine Sozialfigur ein, denen offenbar seine normative Präferenz gehört, auch kontrafaktisch (637–675). Auch das macht er noch sehr behutsam, im Wesentlichen, um ein offenes und noch zu erledigendes Forschungsthema zu markieren, aber unverkennbar doch in der Darstellung des Idealbildes eines in der Gesellschaft handelnden individuellen Akteurs, der mit sich selbst und seinem Verhältnis in der Welt eigenbestimmt umgeht. Bis in die Sprache hinein erkennt man dann die Bilder des Gebildeten wieder, der sich, schon klassisch, als Urheber seiner Welt versteht und handelnd bewährt. Souveränität wird als „Maß für die Verhaltensmöglichkeit des Individuums“ verstanden, und zwar als ein Maß, „welches auf alle Aufgaben und Ziele der Persönlichkeit/anwendbar ist“, und dabei nicht über die „Inhalte“, „sondern über die Mittel“ aufklären soll, „über die es verfügt, um sich zu verwirklichen“ (639/640). Als „Verfügungsgewalt über die inneren Angelegenheiten“ erläutert Wessel Souveränität und grenzt sie ausdrücklich von Autonomie und Mündigkeit ab. In der näheren Erläuterung dieses Maß-Begriffes (im Übrigen und erstaunlicherweise ganz ohne auch nur einmal Carl Schmitt zu erwähnen) platziert er Souveränität in die einzelnen Dimensionen seiner gesamten Theorie. Dann ist sie im Prozess erwartbar „an die Entwicklung gebunden“ (651), manifestiert sich „als Beherrschung der Zeit“ (655) in der Ausbildung einer „ontogenetischen Zeitkultur“ (657), ist zugleich als „Resultat und Voraussetzung“ an „Sensibilität“ gebunden, die jetzt auch als Merkmal des Individuums stark betont wird. In der
87Bei
Wessel kann man deshalb nicht zufällig auch die Argumente gar nicht finden, die für kritische Bildungstheorie so signifikant waren und sind, z. B. „daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der Möglichkeiten des Menschen ist“, und zwar deswegen, weil „die gesellschaftlichen Implikationen des Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte.“ (Klaus Mollenhauer: Pädagogik und Rationalität. (1964) In: K.M.: Erziehung und Emanzipation. München 1968, S. 55–74, zit. S. 65).
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Erläuterung dieser wechselseitigen Verhältnisse argumentiert Wessel sogar in Anspielung auf „Bildung“, die einerseits auch „der Sinnlichkeit, der Empfindsamkeit, der Aufnahmebereitschaft (bedarf)“, wie andererseits „die Sinnlichkeit der Bildung zur Ordnung und Orientierung.“ (660) Relativ zur Umwelt entfaltet sich Souveränität zwischen „Einordnungs- und Distanzvermögen“ (663), im Blick auf das Subjekt als „Beherrschung des Verhältnisses von Innen und Außen“ (670) und im „Vergleich der Individuen miteinander“ – kein Dual der Bildungstheorie seit Rousseau fehlt also. Allerdings, Souveränität „ist keine moralische Kategorie“, sagt er ausdrücklich, denn „der moralische Mensch ist schwach, wenn er keine Souveränität besitzt. Der unmoralische sehr erfolgreich, wenn er souverän ist.“ (666) Denn, so treibt Wessel die Distanz zur Moral auf die Spitze: „Gerade der Mensch, der die Verfügungsgewalt über seine inneren Angelegenheiten besitzt, vermag zu täuschen, eine Maske aufzusetzen.“ (666). Auch das erinnert, allerdings im Modus der Distanzierung, an bildungstheoretische Reflexionen, vor allem daran, dass die Differenz von Gattung und Individuum zu häufig ignoriert wurde und damit meist auch schon Kants deutlicher Hinweis auf das Individuum, dass aus „krummem Holz“ geschnitzt sei und dass man „Höherbildung“ allenfalls von der Gattung erwarten dürfe. Bei Wessel überrascht angesichts seiner kühlen Analyse am Ende aber dann doch, dass er seine Überlegungen zur Souveränität mit einer sehr starken, offenkundig weder ironischen noch zynischen These enden lässt: „Das Maß an Souveränität und die Bedingungen für ihre Entstehung und Entwicklung bestimmen letztendlich den Zustand der Gesellschaft.“ (675) Aus der Bildungsreflexion sind solche Diagnosen bekannt, ihren Ort innerhalb der Humanontogenetik versteht man aber wohl nur, wenn Ontogenese und Phylogenese, individuelle und kollektive Entwicklungen, gesellschaftliche Zustände und je individuelle Befindlichkeiten zugleich relationiert werden – also ganz anders als das Programm sonst seine Absichten deklariert. Eine solche Relationierung der Analyse gelingt aber nur, wenn explizit auch ethische Fragen in die Debatte mit eingeführt werden, d. h. nicht allein die historische Varianz von Lebensformen und ihren Moralen, sondern das Problem universaler Normen und Werte. Ganz ohne praktische Philosophie kann man offenbar doch nicht über die Humanontogenese reden, auch wenn Wessel es versucht. Am Ende muss man deshalb in einem theoriesystematischen Sinne und reflexiv nicht allein die Frage klären, wie Entwicklung – oder Bildung – möglich ist, sondern auch, und in einem selbstständigen Argumentationsgang, welche Entwicklung des Menschen, gleich ob Individuum oder Gattung, wünschenswert und legitimierbar und mit den geringsten Folgeproblemen realisierbar ist. Ein einziges und schon gar ein einheitliches Theorie- und Reflexionssystem ist offenbar aber nicht verfügbar, das allein und konsistent in allen dann zu diskutierenden Dimensionen, also erklärend und beobachtend, normreflektierend und weltgestaltend, befriedigende Antworten für das Thema der Bildung geben kann. Die Rede von Bildung zeigt damit insgesamt, historisch wie aktuell und offenbar auch in ihren funktionalen Äquivalenten, eher die Desiderata und Probleme der dominierenden Antworten, sie gibt keine Lösung. Das bedeutet aber auch, wenn man nicht mit Einheitserwartungen operiert, dass sich die Rede
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von Bildung in ihrer Vielfalt und in der Eigenständigkeit der öffentlichen und pädagogisch-professionellen Argumentation, der philosophischen Reflexion und der distanzierten Analyse relativ stabil behaupten kann. Aber stiftet das mehr Sinn als den der Verwirrung, die ja nicht nur aus der Vielfalt folgt, sondern auch aus der irritierenden Tatsache, dass die Rede der Bildung zwar in dieser Vielfalt ihre eigene historische Form zwar als Theorie und System nicht gefunden hat, sich aber dennoch gegen alle Versuche ihrer themenbezogenen Systematisierung, theoretischen Organisation und philosophischen Sicherung in konstanter Rezeption und immanenter Innovation hat behaupten können? Die ungelöste Frage bleibt wohl doch bestehen, Form und Funktion der Rede von Bildung jenseits von Kritik und Irritation angesichts dieser Situation selbst noch zu bestimmen, damit auch den Ort von Bildung als reflexives Thema und soziale Tatsache noch einmal zu betrachten. Die Schlussüberlegungen nehmen diese Frage auf, im Versuch einer Rekapitulation des Ertrags, den die hier vorgelegten Überlegungen insgesamt erbracht haben.
Kapitel 28
Epilog – Bildung: Redeform und Lebensform
Die Rede von Bildung, das ist der erste und zentrale Befund der hier vorgelegten Rekonstruktionen und Analysen, bleibt trotz aller rekonstruktiven Anstrengungen und epistemischen Analysen ein offenes Problem, im Wesentlichen doch eine systematisch unklare Textmenge, nicht Theorie, sondern multireferentielle Kommunikation. Ihre Komponenten sind identifizierbar und unterscheidbar, auch ihr theoretischer Status – und zwar als problematisch – sowie die Besonderheiten ihrer Argumentation, also die Vorliebe für die Konstruktion wünschenswerter Welten, die binäre Codierung gegebener Welten und die Suche nach Versöhnung in anderen Welten. Die reflexive Tradition stabilisiert sich in diesen Formen und lebt damit zwischen Politik und öffentlichen Debatten, humanwissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflexion. Aber die Formen der Argumentation erweisen sich auch als immanent erzeugte Schwierigkeiten der Rede von Bildung, schon daran zu erkennen, dass sie bisher nicht in der Einheit einer Theorie konsensual geordnet werden konnte. Der aktuelle Status der Rede von Bildung, das erklärt diesen Befund, ist deshalb allein als Ergebnis ihrer eigenen Praxis zu verstehen, historisch und kulturell also, nicht theoretisch und systematisch, sondern nur als Produkt der Ausdifferenzierung des modernen Diskurses über „Bildung“ selbst, in seiner eigenen, durch das Thema erzeugten und forcierten Dynamik. Damit ist ein bis heute so brisantes wie aktuelles Thema bezeichnet – die Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt –, das seinen Ursprung und sein modernes Verständnis zwar kontingenten Bedingungen verdankt, politischen, sozialen und reflexiven, wie sie den Prozess der gesellschaftlichen Transformation in Europa um 1800 bestimmt haben, das aber systematisch herausfordernde Qualität gewonnen hat. Freiheit und Selbstbestimmung sind zu reflexiven und normativen Referenzen des Umgangs mit Welt geworden, weil die Gegenwart und die denkbaren Zukünfte in Gesellschaften unseres Musters so offen wie unsicher geworden sind. Das war in den revolutionären Umwälzungen um 1800 u. a. im Denken über Bildung zwar zunächst eher philosophisch antizipierbar als alltägliche © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6_28
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irklichkeit, diese Situation ist heute aber als Freiheitserwartung universell und W zugleich zur Last der Autonomie geworden. Bildung wurde für diese Situation in Reflexion und Programmatik, aber auch in der gesellschaftlichen Praxis als Lösungsformel konzipiert. Im Blick auf diese historische Problemlage kann man sagen, „was Bildung bedeutet“, und zwar in der Breite ihrer Reflexion und in der Vielfalt ihrer Bestimmungsversuche. Von hier aus wird zugleich die Frage zum immer noch ungelösten Problem, „wie Bildung möglich ist“, wenn sie auch als emphatisch gedachte Selbstkonstruktion in Freiheit wirklich werden soll. Die Rede von Bildung ist insofern Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses, inspirierend und begleitend, kritisch und konstruierend präsent, manchmal auch nur in der Position des hilflos-resignierenden Beobachters. Aber sie bewahrt und reflektiert die Themen und Probleme, die mit der Selbstkonstruktion des Menschen in Wechselwirkung mit der Welt um 1800 entstehen. Das sind Fragen nach der „Natur“ des Menschen, Fragen der Ordnung des gesellschaftlichen und politischen Lebens, der zivilgesellschaftlichen Lebensform und der Sicherung der Erwartbarkeit unseres Verhaltens für andere, der Konstruktion des Lebenslaufs und der Möglichkeiten, diese Konstruktion durch die Institutionalisierung von Lernprozessen für alle Heranwachsenden einer Generation zu sichern, und zwar so, dass die Bedingungen des Aufwachsens sich vor generalisierbaren Kriterien rechtfertigen können. Im Umgang mit diesen Themen und Herausforderungen hat die moderne Rede von Bildung seit ihrem Ursprung die ihr eigene Form der Argumentation gefunden, zwischen Politik und Philosophie, utopischer Antizipation neuer Welten und kritischer Beobachtung der Wirklichkeit. Dominierend ist dabei bis heute die kontrafaktische Rede geworden, in der Konstruktion wünschenswerter individueller und kollektiver Zukünfte, in der Externalisierung von Misserfolg auf die Widrigkeiten der Welt (und nicht auf die eigene Praxis) und in der Hoffnung auf Versöhnung in besseren Welten statt im Hier und Jetzt. In solchen Konstrukten dominiert zugleich eine dritte, meist zuerst gestellte Frage: „Was ist Bildung?“ Aber diese Frage hat der Rede von Bildung nur eine der Schwierigkeiten eingehandelt, von denen sie bis heute belastet ist: die Vorliebe für essentialistische, nach dem ‚Wesen‘ fragende Bestimmungen, mit denen die Fiktion genährt wird, als könne man die Historizität der Bildungsreflexion selbst überspringen. Aber die „Was-ist“-Frage kann man systematisch nicht mehr beantworten, weil diese Frage von Erwartungen – metaphysischer und quasi-religiöser Provenienz – lebt und sie nährt, die heute, nach dem Ende der sich scheinbar selbst beglaubigenden großen Erzählungen, nicht mehr einlösbar sind: ‚wahre‘ von ‚falscher‘ Bildung eindeutig und für alle Zeiten und Akteure konsensfähig unterscheiden zu können. Versucht man es trotzdem, bleiben – wie die Tradition der Rede von Bildung belegt – meist doch nur binäre Codierungen, Kampfformeln statt Klärungen, Überwältigungspraktiken in bester Absicht, oder nur erneute Exegesen der Klassiker, die vermeintlich das Wesen der Bildung schon endgültig bezeichnet haben. In der Regel wird dabei nur behauptet, die „wahre“ von der „falschen“ Bildung unterscheiden zu können. Tatsächlich verliert sich aber die Rede entweder in der petitio principii, in allein positional begründete
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Konstruktionen erwünschter Formen der Bildung oder in der perennierenden Aufstellung von Bildungszielen und -idealen. Theoretische und politische Ansprüche, Forschungsfragen und ethische Reflexionen werden damit konfundiert, zum Schaden des Erkenntnispotentials der Rede von Bildung. Ihre analytische Kapazität hat die Rede von Bildung insofern nicht zufällig an die empirisch forschenden Humanwissenschaften abgeben müssen – und aus deren Perspektive ist diese Rede von Bildung undiszipliniert und chaotisch. Die zentrale Frage nämlich, ob und wenn ja wie „Bildung möglich ist“, und damit die hehren Ziele wie ‚das gute Leben‘, die ‚Emanzipation der Subjekte‘ oder die ‚gerechte Gesellschaft‘ verwirklicht werden können, und zwar systematisch und nicht nur zufällig, die kann man ohne Forschung über Bildung nicht beantworten, dazu bedarf es der Distanz der Beobachtung, nicht prinzipientheoretischer Selbstvergewisserung. Die Humanwissenschaften, nicht etwa nur die empirische Bildungsforschung, haben jenseits der normativen Konstrukte die Forschung über den Menschen und sein Aufwachsen in Gesellschaft zum Glück ebenfalls seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv betrieben. Sie haben dabei zwar den mit Emphase belasteten Begriff der Bildung gemieden, aber weder sein Thema ignoriert noch die Erwartungen nur enttäuscht, die mit der Rede von Bildung verbunden waren und sind. Im Gegenteil, vor dem Hintergrund der humanwissenschaftlichen Forschung kann man sichtbar machen, wie Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit der Welt gelingt, sogar zeigen, dass die vielfach nur kritisierten ‚Gehäuse der Hörigkeit‘ zumindest in ihrer Ambivalenz gesehen werden müssen, d. h. auch als Orte der Konstruktionen eigenständiger und selbstbewusster Personen, selbst unter Bedingungen der Diktatur. Allerdings, die in konstruktiven Allmachtsphantasien von Pädagogen gewünschten Menschen und Welten, die mit ihrer Praxis die besseren, vielleicht sogar die utopisch antizipierten Welten herbeiführen, sind so wenig das Ergebnis dieser Prozesse der Selbstkonstruktion gewesen wie universale Verblendung oder Halbbildung. Bildung ist insofern tatsächlich von den Individuen bestimmt, selbstbestimmt, so unkalkulierbar wie nicht steuerbar, allpräsent, aber in ihren Prozessen und Wirkungen so offen wie irritierend, vielleicht sogar anarchisch, weil zu oft als Dementi der Erwartungen präsent, die man mit ihr verbindet. Es sind diese Befunde, mit denen die Rede von Bildung auch zu einem theoretischen Problem jenseits der Wünschbarkeit besserer Welten geworden ist. Mit der Bildungsforschung, die zunehmend intensiv die Realität von Bildungsprozessen beobachtet, hat sich zwar die „Erkenntnis“ unabweisbar verbreitet, „dass Bildung für alle Bereiche des Lebens notwendig ist“, gleichzeitig haben selbst Bildungsforscher und nicht allein die Propagandisten besserer Welten diesem Ausgangsbefund die These hinzugefügt, daß Bildung auch „für alle Bereiche des Lebens“ nicht nur „notwendig“, sondern sogar „zuständig geworden ist: für die Politik, für die Wirtschaft, für die Technik, für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, für alle Bevölkerungsschichten.“1 1963, als der
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Lemberg: Von der Erziehungswissenschaft zur Bildungsforschung: Das Bildungswesen als gesellschaftliche Institution. In: Ders.: Das Bildungswesen als Gegenstand der Forschung. Heidelberg 1963, S. 21–100, zit. S. 22.
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oziologe Eugen Lemberg diese These formulierte, war das einerseits noch als S Kritik einer traditionalen, philosophischen, wertthematisch argumentierenden Bildungsphilosophie zu lesen. Andererseits antizipierte Lemberg die Expansion des Bildungssystems und die zunehmende Bildungsbeteiligung, die er zugleich als historisch legitimen Ausdruck des gesellschaftlich gegebenen „Bildungsbedarfs“ interpretierte. Aber er gab auch einem gesellschaftlichen Bewusstsein Ausdruck, in dem Bildung zum universalen Instrument stilisiert wurde, die bessere individuelle und kollektive Zukunft herbeizuführen, in einer Gesellschaft, die sich als „Bildungsgesellschaft“ jenseits aller Schranken ausgab, die mit Herkunft und Geschlecht, Konfession und Region damals noch gegeben waren. Bildung wurde insofern und wird bis heute in der Tradition dieses Arguments nicht nur als „notwendig“ für die Konstruktion von Mensch und Welt, sondern auch als „zuständig“ für die Herstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit von Individuen und Gattung betrachtet. Mehr als ein halbes Jahrhundert später kann man wissen, dass Bildungsprozesse und das Bildungssystem solchen Erwartungen nicht wie erwartet gerecht geworden sind. Man kann aber auch systematisch sagen, dass Bildungsprozesse zwar „notwendig“ in alle gesellschaftlichen Prozesse – irgendwie – auch eingebunden sind, schon weil man die Subjekte nicht ausblenden kann, dass aber Bildung, gleich ob in individuellen Konstruktionen des Selbst oder in systemisch organisierter Praxis wohl kaum systematisch und schon gar nicht allein „zuständig“ ist für die Herbeiführung der gewünschten Zustände von Individuen und Welten. Als universale Spezialfunktion sind individuelle und kollektive Prozesse der Selbstkonstruktion in Wechselwirkung mit Welt je alltäglich zwar immer präsent, aber weder allein wirksam noch mächtig genug, die anderen gesellschaftlichen Funktionsimperative – z. B. Macht und Recht oder die Prämissen der Ökonomie – zu dispensieren oder sie der Logik von Bildungsprozessen zu unterwerfen. Im Gegenteil, ohne die institutionell, rechtlich und politisch, gesicherte Garantie der Freiheit der Selbstkonstruktion können sich, wie zuletzt die Diktaturen des 20. Jahrhundert belegt haben, je individuelle Bildungsprozesse allenfalls subversiv entfalten, in ihren Möglichkeiten immer bedroht, ohne die Chance das Potential umfassend zu demonstrieren, das mit Bildungsprozessen verbunden ist. Kann man dieses Potential jenseits der übersteigerten Erwartungen der Allzuständigkeit aber überhaupt für eine Gesellschaft wie unsere konkret bezeichnen? Haben Bildungsprozesse dazu beigetragen, die Lebensform zu verwirklichen, die im Ursprung ihrer modernen Reflexion und Programmatik unter dem Anspruch von Freiheit und Selbstbestimmung mit der Idee der Bildung von Mensch und Welt verbunden waren? Betrachtet man die lange Dauer der modernen Gesellschaftsgeschichte nicht aus der Perspektive utopischer Antizipationen, sondern wirklich nur als eine Bildungsgeschichte, dann kann man durchaus einen Ertrag jenseits von Enttäuschung oder Emphase formulieren. Das setzt voraus, dass man das Bezugsproblem distanziert formuliert und auch die Funktion von Bildung in modernen Gesellschaften abstrakter fasst, auch beobachtbar und empirisch diskutierbar. Bildung, das ist die für eine solche, ja immer prekäre Bilanzierung im Folgenden unterstellte Interpretation des Referenzproblems, hat sich als Erwartung und Struktur
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moderner Gesellschaften verselbständigt und als eigenständige soziale Tatsache etabliert, um im Prozess der sozialen Reproduktion den Umgang mit den alltäglich gewordenen, gelegentlich nur als Freiheit idealisierten Zwängen von Unsicherheit und Offenheit der zeitlichen, sozialen und sachlichen Gestaltung von Welt nach gesellschaftlich allgemein anerkannten Normen zu gestalten und zugleich in der öffentlichen und philosophischen Reflexion über den Menschen und über die historisch geltenden Normen und Möglichkeiten seines Verhaltens zu beobachten. In diesem Prozess werden Individuen als Individuen konstruiert, aber nicht in beliebiger Form, sondern in der unvermeidbaren Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich präsenten Curriculum zugleich vergesellschaftet, damit sie handlungs- und zurechnungsfähige Teilhaber an Kultur und Gesellschaft, Politik und Ökonomie werden. Diese höchst kunstvolle und historisch nicht alltägliche Anstrengung ist notwendig, weil es in Gesellschaften wie unseren, anders als in traditionalen, weder naturwüchsige noch gesellschaftliche Mechanismen mehr gibt, die solche Gleichzeitigkeit von Individuierung und Vergesellschaftung erwartbar möglich machen. Im Ursprung des Bildungsdenkens im ausgehenden 18. Jahrhundert und dann bei den Klassikern bis zum frühen 19. Jahrhundert wurden vor allem drei Aspekte hervorgehoben, um die neuartigen Herausforderungen in dieser Situation und angesichts ihrer Offenheit und Unbestimmtheit als die grundlegenden Herausforderungen an Bildung als neuen historisch-gesellschaftlichen Faktor zu charakterisieren: 1. Zeitlich und historisch-normativ: der Geltungsverlust der Tradition, und zwar nicht nur der Lebensformen, sondern auch des Wissens, wie es sich im Fortgang und unabschließbaren Prozess der Erzeugung von Wissen, d. h. in der Erfindung von Forschung als Prinzip der Wissenserzeugung manifestiert, 2. die Unentschiedenheit der „Natur“ des Menschen, die sich erst in Selbstkonstruktion zu dem macht, was als Möglichkeit offensteht, 3. die Offenheit von Gesellschaft, d. h. die Tatsache, dass in der Gesellschaft nicht mehr die soziale Herkunft, sondern „Leistung“, die eigene Anstrengung, das Lernen sowie die institutionalisierte Bildung über den zukünftigen Platz in der Gesellschaft zentral mitentscheiden. Bildung ist die historische Antwort auf diese dreifache – normative, soziale und historisch-biografische – Unsicherheit. Sie erzeugt dafür eine eigene Lebensform, „Bildungsprozesse“, in denen i) Unsicherheit über Zukunft und über Wissen verzeitlicht und als Lernaufgabe präsentiert wird; sie nimmt ii) nicht Natur, wie sie ist, sondern ist fixiert auf die „zweite Natur“ als Selbstkonstruktion des Menschen in der Zeit; und sie antwortet iii) auf die Offenheit der Zukunft durch die Generalisierung einer Form, in der Lernen und kognitive Orientierung dominieren, statt eines primär normativen Umgangs mit Welt oder gar Fatalismus und Gewalt. Als universale Spezialfunktion ist Bildung dabei zwar allgegenwärtig, aber nicht allzuständig und schon gar nicht allmächtig, sondern eingeschränkt auf ihre Funktion, über die Wahrnehmung von Lerngelegenheiten in Kompetenzen und Erwartungen habitualisiert zu werden und den Lebenslauf individuell oder kollektiv so weit zu strukturieren, dass die Akteure selbst immer neu handlungsfähig werden, fähig, ihren Lebenslauf als Bildungsprozess
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zu gestalten. Dabei kann man historisch wissen, dass sich diese Erwartung nicht von selbst erfüllt, sondern besser oder schlechter, also nur in Varianz gelingen kann, schon deshalb, weil Individuen mit je eigenen Interessen, Erfahrungen und Möglichkeiten daran beteiligt sind. Gesellschaften verlassen sich deshalb auch, das muss man Bildungsphilosophen und Pädagogen ab und an doch in Erinnerung rufen, nicht allein auf Bildungsprozesse, wenn sie über die Reproduktion von Gesellschaft nachdenken, sondern haben immer auch auf das Recht, auf soziale Kontrolle und die legitime Ausübung von Macht und Gewalt gesetzt. Gleichwie, auch Rechtsphilosophen bevorzugen die Logik von Bildung, aber sie wissen, mit Kant, dass „die Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“ und die Internalisierung des Gesetzes, d. h. seine freiwillige Anerkennung, die wirkliche Leistung darstellt, die man von gesellschaftlich organisierten Bildungsprozessen erwartet. Vor und nach aller Problematisierung, Historisierung, Theoretisierung und Soziologisierung, Ästhetisierung und Politisierung bedarf die Rede von Bildung deshalb wenigstens gelegentlich der Erinnerung an etwas Selbstverständliches, Alltägliches, Unentbehrliches, aber dennoch nicht sicher Leistbares: Wir bedürfen der Bildung elementar, als Lebensform, und zwar als eine Form, die Alternativen kennt, aber immer Offenheit und Freiheit braucht, sich bei der Konstruktion dieser Welten aber auch von der Tradition inspirieren lassen darf. Kann man solche Wirkungen als Ergebnis von 200 Jahren der modernen Bildungsgeschichte sehen und behaupten? Gelingen Individuierung und Vergesellschaftung inzwischen erwartbar so, wie es die Vordenker erhofft und konzipiert haben? Im Versuch einer Antwort auf diese Frage, das macht sie schwierig, werden Redeform und Lebensform von Bildung zugleich thematisch, denn die Wirklichkeit von Bildungsprozessen ist nicht unabhängig von den Kriterien und Erfahrungen diskutierbar, die in der Tradition der Rede von Bildung ebenso aufbewahrt sind wie in den Konstrukten der Bildungsforschung. Es ist deshalb notwendig, die Dimensionen des Prozesses selbst noch weiter zu unterscheiden, um die spezifische Leistung und die Risiken von Bildungsprozessen zu sehen. Im Folgenden soll deshalb die Bildungsgeschichte nur auf drei Dimensionen und strukturelle Entwicklungen hin betrachtet werden, nicht noch einmal z. B. im Blick auf die so intensiv untersuchte und ja durchaus für Wirkungsannahmen beweiskräftige Lebensform der Bildungsbürger, sondern auf systemische Referenzen hin: Zuerst im Blick auf das Bildungssystem, als die gesellschaftlich verantwortete Form der je neuen Konstruktion von Zukunft für die je neu heranwachsenden Generationen; dann im Blick auf die zivilgesellschaftliche Dimension von Bildungsprozessen, schließlich für die politische Seite der individuellen und kollektiven Existenz. Bildungsprozesse, das ist die These, werden dabei in ihrer Bedeutung und Leistung ebenso sichtbar wie in den Grenzen, die ihnen gesteckt sind, vor allem aber wird bewusst, dass wir in der Beobachtung und Beurteilung dieser Entwicklungen die Kriterien selbst fortentwickelt und historisiert haben, die im Ursprung mit diesen Dimensionen individuellen und gesellschaftlichen Lebens verbunden waren.
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Das Bildungssystem als eine öffentliche, allgemeine, professionell betreute, in den Zielen und in seiner Praxis bald auch rechtlich legitimierte Form der Konstruktion der nachwachsenden Generation wird parallel zur reflexiven Konstruktion von Bildung in modernen Gesellschaften erfunden und auch allmählich zu einer erwartbaren, ja unausweichlichen Etappe im Lebenslauf. Hier verbinden sich Bildung und Erziehung, Selbstkonstruktion und pädagogische Zumutungen.2 In der Vorgabe von Unterrichts- bzw. Schulpflicht rechtlich abgesichert, manifestiert sich im Curriculum der Schulen die öffentliche Erwartung, gesellschaftlich notwendige – kognitive, normative, emotionale, motivationale – Prämissen für die Teilhabe an Kommunikation, also an Gesellschaft, durchzusetzen, d. h. „Allgemeinbildung“ zu garantieren, und damit zugleich die Voraussetzungen für alle weiteren, speziellen und beruflichen, bald lebenslang währenden Bildungsprozesse zu legen. Dieses moderne Bildungssystem hat sich in mehreren, systematisch unterscheidbaren Etappen (in regional und national unterscheidbarer Dynamik) zu der Form entwickelt, die wir heute haben, und die historisch seine Funktion verdeutlichen. Es sind im Wesentlichen die drei Etappen und Funktionen der universalen Beschulung aller, der Scholarisierung des Lebenslaufs und der zunehmenden Pädagogisierung aller Lebensbereiche, die das Bildungssystem und ihre Adressaten und Akteure mit ihm durchlaufen. Dabei werden, selbstverständlich in der Varianz, die solchen komplexen Prozessen eigen ist, Leistungen erbracht, die keineswegs selbstverständlich, sondern auch historisch eher singulär und überraschend sind: Mit der Beschulung aller geht die Generalisierung der Kulturtechniken und der Formen des Umgangs mit Wissen parallel, die Gesellschaften wie unseren eigen sind, vor allem das Verständnis für die universalen Sprachen, die unsere Kulturen regieren, linguistisch, wie es v. a. die weithin vollzogene Alphabetisierung dokumentiert, und m athematisch-naturwissenschaftlich, wie es sich in der Tatsache der Anerkennung der Eigenlogik von Zahl und Maß im Umgang mit Welt niederschlägt. In dem mit der universalen Beschulung in einer zweiten Etappe verbundenen Prozess der Scholarisierung, der sich vor allem in der Zertifizierung niederschlägt, verbinden sich individuelle Bildungsprozesse mit gesellschaftlichen Funktionssystemen und ihren Erwartungen: das System der beruflichen Bildung erwartet, heute, Ausbildungsreife, das Hochschulsystem setzt darauf, dass mit dem Abitur auch studierfähige Lernende in das Wissenschaftssystem eintreten, die Zuteilung von Gratifikationen und ihre hierarchische Differenzierung wird mit schulischen Leistungsniveaus legitimiert, Karrieren im Lebenslauf in der Anbindung an schulische Praxis organisiert und legitimiert (und natürlich wird geklagt, dass Bildung dabei zur Ware werde, das System also in seiner Funktion bestätigt). Im Prozess der Pädagogisierung oder, international, der
2In den folgenden Überlegungen nehme ich Argumente aus einem früheren Text auf: HeinzElmar Tenorth: „Bildung“ – Reflexionen, Systeme, Welten. Aspekte ihrer Struktur und Dynamik am deutschen Exempel. In: O. Köller/M. Hasselhorn u. a. (Hrsg.): Das Bildungswesen in Deutschland: Bestand und Potenziale. Bad Heilbrunn 2019, S. 49–84.
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educationalization wird der Zusammenhang von institutionalisierten Lernprozessen, die den Zugriff auf Menschen eröffnen, und gesellschaftlichen Problemen generalisierend erweitert, das Bildungssystem als Institution interpretiert, Lösungen für alle irgendwie diagnostizierten Schwierigkeiten zu liefern, bis hin zu der Erwartung, dass auch Gleichheit und Gerechtigkeit, Glück und Zufriedenheit des Menschen durch institutionalisierte Bildung ermöglicht, ja garantiert werden. „Bildung für alle“ wird zur universalen Heilsformel. Das Bildungswesen wird daran gemessen, ob es diese Erwartung erfüllt, und aktuell meist getadelt, dass es weder Gleichheit noch Gerechtigkeit hinreichend zuverlässig garantiert. Das ist offenkundig eine Überforderung des Bildungssystems, auch eine Umdeutung der klassischen Bildungsformel, die nicht allein die Gesellschaft, sondern auch den Akteur selbst für seinen Lebenslauf verantwortlich machte. Wie immer man solche Tendenzen auch beurteilt, zunächst sind sie ein Indiz dafür, welche Leistungsfähigkeit das Bildungssystem beweist, und zwar in unterschiedlichen Dimensionen, und dass es als eine Instanz betrachtet werden kann, die sich auf die Steigerbarkeit ihrer Leistungen hin beobachten und vielleicht auch zielbezogen gestalten lässt. Das geht wahrscheinlich aber nur bis zu dem Punkt, dass seine Eigendynamik sich bemerkbar macht3 und letztlich der Erfolg zur Ursache seines Scheiterns wird, weil die genuinen Funktionsprämissen ignoriert oder dispensiert werden, dass nämlich schon pädagogische Gleichheit, etwa in der Praxis der Schule, nie gesellschaftliche Gleichheit erzeugen kann, weil sich schon die je individuellen Formen der Aneignung von Welt im Bildungssystem nicht dispensieren lassen. Lernen ist nicht nur resistent gegen Erziehung, schulische Bildungsprozesse vergesellschaften nicht nur und zuverlässig, als Bildungsprozesse bleiben sie letztlich auch je individuelle Konstruktionen, deren Negationspotential pädagogisch, zum Glück, nicht dispensiert werden kann – und in dem sich die Eigenlogik von Bildungsprozessen zuerst manifestiert. Diese Reserve wird man auch in der zweiten Dimension nicht ignorieren, für die man die Leistung und Wirkung universal gewordener Bildungserwartungen diskutieren kann, in der zivilgesellschaftlichen Dimension, die im Ursprung vielleicht zentrale Dimension. Bildung wurde als das Medium der „Politur“ des Menschen, seines Körpers und seines Geistes gesehen, wie der jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn gesagt hat, als Form der „Kultivierung“ und „Moralisierung“ des Menschen, wie man bei Kant lesen kann.4 Bildung galt im Ursprung als die Form, in der die „Zivilisierung“ des Menschen wie der Gesellschaft geschieht, die Erziehung zum „Bürger“, damit die bürgerliche Gesellschaft in zivilgesellschaftlicher Qualität möglich wird. Denn der Mensch ist einerseits „das Tier …, das diszipliniert werden muss“ (eine Formulierung, für die natürlich auch Kant 3Exemplarisch
für diesen Mechanismus: Bernd Zymek: Ungleiche Bildungschancen trotz Bildungsexpansion – warum? Schul- und sozialgeschichtliche Implikationen der Bildungsexpansion in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. In: P.Drewek u. a. (Hrsg.): Politische Transformation und Eigendynamik des Schulsystems im 20. Jahrhundert. Weinheim 2001, S. 255–271. 4Immanuel Kant: Über Pädagogik. (1803) In: Kant-Werke, hrsg. von Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1975.
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verantwortlich ist), andererseits aber, damit es „kultiviert“ werden kann, auch „Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit“ erwerben muss, „Weltklugheit“ vor allem, „die Kunst, unsere Geschicklichkeit an den Mann zu bringen“ (746), und schließlich „Gesinnung …, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle“ (Kant S. 707). Hat sich diese, die vornehmste Erwartung erfüllt? Sind die Menschen fähig geworden, verständig, d. h. mit Urteilskraft und im Blick auf die moralischen Grundlagen der Gesellschaft, d. h. auf das „Gesetz“, an der öffentlichen Handhabung aller Geschäfte teilzunehmen, und zwar von der Politik bis zur Ökonomie, von Kultur bis Kunst. Das war das Ziel und auch für die Praktiken gab es Konsens, selbstverantwortlich und selbsttätig sollte es geschehen, freiwillig der Herrschaft des Gesetzes unterworfen. Bildung in diesem Sinne habitualisiert in den Individuen in jeder Generation neu ihre „Ausstattung zum Verhalten in der Welt“.5 Das umfasst Bereitschaften und Fähigkeiten, Kompetenzen und Überzeugungen, die jedes gesellschaftliche Teilsystem und natürlich auch die Politik voraussetzen müssen, ohne sie selbst hinreichend garantieren oder gar erzeugen zu können (um das Böckenförde-Diktum auch zur Erläuterung der Funktion von Bildung zu nutzen). Fundierung der Zivilgesellschaft, das ist Bildung zuerst, bevor alle Debatten über hohe Kultur und Literatur, die Künste und „das Wahre, Gute und Schöne“ oder über Zertifikate und Karrieren beginnen. Leben wir aber in einer solchen Welt, wie sie die Aufklärer von Bildung als Medium der „Zivilisierung“ und „Moralisierung“ erhofft haben? Anders als beim Bildungssystem sind dafür die Indikatoren nicht so einfach und messbar zu diskutieren. In der langen Dauer zumal der deutschen Geschichte wird man vor jedem Lobgesang sehr behutsam sein, auch angesichts von Diagnosen der aktuell zunehmenden „Verrohung“, offener Gewalt und gesellschaftlicher Fraktionierung wird Skepsis genährt, ob Zivilität im Umgang wirklich universal erwartbar ist. Vielleicht darf man aber doch als Erfolg registrieren, dass die Wertschätzung von Zivilität alltäglich ist, dass zumindest offene Plädoyers für Intoleranz oder Gewalt oder die Abwertung von Minderheiten sich auf minoritäre Milieus beschränken, dass es also ein Differenzbewusstsein für die Praktiken und Erwartungen gibt, die mit Zivilisierung verbunden werden. Ob es eine „Erziehung zur Persönlichkeit“ (Kant) aussichtsreich geben kann, die alles besser macht. und vor allem jenseits der eigenen Alltagserfahrungen, das ist durchaus die Frage. Wilhelm von Humboldts Kriterium, dass sich der Staat der Bildung als würdig erweisen muss, die der Bürger mitbringt, kann man für die Zivilgesellschaft generalisieren, und auch nicht nur auf politische Teilhabe beziehen, wie das aktuell schon formuliert wurde: „Die Frage scheint weniger zu sein, wie viele Menschen aktiv partizipieren, als vielmehr, ob eine politische Kultur vorhanden ist, die diesen Namen verdient.“6
5Das war die Formel von Saul B.Robinsohn: Bildungsreform als Revision des Curriculum und ein Strukturkonzept für Curriculumentwicklung. 4. Aufl., Neuwied/Berlin 1969, S. 13. 6Roland Reichenbach: Die Ironie der politischen Bildung – Ironie als Ziel politischer Bildung. In. Ders./Fritz Oser (Hrsg.): Zwischen Pathos und Ernüchterung. Zur Lage der politischen Bildung in der Schweiz. Freiburg (CH) 2000, S. 118–130.
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Das führt in die dritte Dimension, die der Politik. Unter dem Stichwort der Integration ist das schon erörtert worden, auch in der Ambivalenz der Befunde, die sich für die demokratische Stärkung der zivilgesellschaftlichen Praxis oder das Lernen von Demokratie in Schule oder Lebenswelt aufweisen lassen. Die allseits wahrscheinlich doch anerkannte Prämisse, dass Demokratie auch eine Lebensform darstellt und dass sie der stützenden Zivilgesellschaft bedarf, die von der Bildung ihrer Bürger lebt, unterstellt zugleich die Erwartung, dass auch die Partizipationsformen allgemein sein müssen. Aber der politische Aktivbürger stellt, wie alle Untersuchungen immer neu zeigen, nur eine Minderheit dar. Mobilisierungsbereitschaft ist ungleich verteilt, wie noch die aktuellen Jugendproteste bei „Fridays for Future“ bestätigen. Sie belegen zwar auch den Zusammenhang von schulischer Bildung und Protestbereitschaft, aber doch nicht zwingend, sonst müssten die Beteiligungsraten deutlich höher sein als sie gegenwärtig sind. Das politische System, und das macht offenbar seine Stabilität jenseits der Forderungen und Leistungen politischer Bildung aus, setzt nicht allein auf die aktive Mitwirkung der Bürger, sondern kennt auch weitere institutionelle Garanten seiner Stabilität und Dauerhaftigkeit, auch als Sicherung gegen regierende Akteure, deren Verhalten nicht als Ausdruck der demokratischen Kultur gesehen werden kann. Bildung für die Demokratie ist insofern eher ein Modus der Steigerung der Reflexivität und Handlungsfähigkeit der Akteure in der politischen Kultur, sicherlich nicht der erste oder gar der einzige Garant für die Stabilität der Institutionen des politisch-adminsitrativen Systems. Auch hier bleibt Bildung eine Spezialfunktion, bedeutsam, aber nicht allein wirksam, wie es die hohe Rhetorik der Demokratieerziehung gelegentlich suggeriert. Politische Bildung kann man auch daran erkennen und wertschätzen, dass die Institutionen der Demokratie geachtet und ihre Verfahren im Alltag anerkannt werden. Mobilisierungsemphase und engagierte Teilhabe darf man in Krisenphasen erwarten, aber der Alltag der Demokratie ist nicht die Dauerkrise, sondern der alltägliche Gestaltungszwang. Dann wäre es schon gut, gebildete Politiker zu haben, fähig zur Gestaltung nach universalen Prämissen der Kommunikation. Bildungsprozesse, das ist letztlich der Befund, sind in eine Vielfalt von Kontexten und Referenzen gestellt und mit Konflikten konfrontiert, die unverkennbar stark sind. Bildung als Redeform und Lebensform sind zugleich miteinander verschränkt. In der Wechselwirkung mit Welt treffen die gesellschaftlichen Akteure nicht nur auf die Unverträglichkeiten von Welt- und Lebensentwürfen, sondern auch auf ihre eigenen Programme und auf paradoxe Positionen, weil die allfälligen Wertkonflikte in pluralistischen Gesellschaften die Realisierungsfrage – wie die biografische Konstruktion des eigenen Selbst möglich ist – in großer Dringlichkeit immer neu aufwerfen. Deshalb, das kann bei so großen Themen gar nicht anders sein, ist Bildung selbstverständlich etwas, das misslingen kann, als „Halbbildung“ verwirklicht wird, wenn man den Kriterien des einen Beobachters folgt, nur „philisterhaft“, wenn allein Zertifikate die Maximen der Selbstkonstruktion werden – und was die kulturkritischen Bemerkungen auch immer nahelegen. Schon deshalb ist Bildung auch immer steigerbar, und ihre Realität weckt Wünsche nach dem ganz Anderen: Die „höchste und proportionierlichste
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Bildung der Kräfte zu einem Ganzen“, das wollte Humboldt. Hegel hoffte, der Vernunft zur Realität zu verhelfen, andere der Kritik, der Humanität, der Gerechtigkeit und Toleranz. Dabei werden leicht expansive Ansprüche entwickelt, wenn alle Probleme der Welt als Bildungsprobleme erscheinen, und dann ist das Scheitern endgültig, weil es andere Spezialfunktionen ja auch noch gibt, die sich nicht leicht dispensieren lassen: Verrechtlichung, Ökonomisierung, Wahrheitsfindung, Macht. Spätestens angesichts hypertropher Phantasien von Pädagogen, Utopisten oder Revolutionären muss man skeptisch nach den Grenzen der Wirksamkeit der Bildung fragen, über ihre Realität distanziert forschen und mit der Ambivalenz der Forschungsbefunde zu leben lernen. Selbstkritik darf dann so wenig fehlen wie Distanz gegenüber der Emphase und Ironie gegenüber der eigenen Ambition. Sich der allfälligen Forderung nach den Bildungsidealen zu verweigern, das wird selbst eine moderne Erwartung an Bildung und den Gebildeten.
Literatur
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Personenregister
A Adorno, Theodor Wiesengrund, 171, 183, 186, 216, 217, 219, 261, 532, 546, 597, 612, 613 Ainsworth, Mary Dinsmore Salter, 302 Albert, Hans, 542 Althusser, Louis, 243 Aristoteles, 98, 180, 452–454 Assmann, Aleida, 477 B Bacon, Francis, 209 Ballauff, Theodor, 165 Basedow, Johann Bernhard, 103, 192 Beckedorff, Ludolph von, 195 Benner, Dietrich, 543 Bergk, Johann Adam, 328, 331, 333 Bergson, Henri-Louis, 592 Berlin, Isaiah, 372 Bernfeld, Siegfried, 264, 371, 582 Bernhard, Armin, 187–189 Bieri, Peter, 173, 175 Blankertz, Herwig, 548–551 Blättner, Fritz, 571–573, 576 Bloch, Ernst, 184 Blumenbach, Johann Friedrich, 37, 57, 149, 624 Blumenberg, Hans, 600 Bock, Wilhelm, 312 Böckenförde, Ernst Wolfgang, 485 Böhm, Winfried, 577 Bohrer, Karl Heinz, 347 Bollenbeck, Georg, 379, 519
Bollnow, Otto Friedrich, 76 Bourdieu, Pierre, 173, 272, 354, 472, 533, 562, 581 Bowlby, John, 302 Brandt, Willy, 476 Brezinka, Wolfgang, 157, 264 Brumlik, Micha, 597 Buber, Martin, 605 Buddha, 514 Bülow, Vicco von, 123 Butler, Judith, 581, 591 C Campe, Joachim Heinrich, 58, 68, 328, 332 Cesaire, Aimé, 589 Clinton, Bill, 502 Comenius, Johann Amos, 390 Copei, Friedrich, 77, 465 D Defoe, Daniel, 332 Dewey, John, 436, 437, 485, 546, 588, 592 Diez, Heinrich Friedrich, 133 Dilthey, Wilhelm, 157, 567, 571 Dohm, Christian Wilhelm Konrad, 62, 132, 134 Dornes, Martin, 297 Durkheim, Emile, 30 E Elias, Norbert, 122, 160, 283, 519 Emerson, Ralph Waldo, 546
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-E. Tenorth, Die Rede von Bildung, Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05669-6
693
694 Engels, Friedrich, 220 Enzensberger, Hans Magnus, 334 Erasmus von Rotterdam, 122 Erdogan, Recep Tayyip, 483, 488 Erikson, Erik, 300, 301, 626 Evers, Ernst August, 203 F Fanon, Frantz, 589 Ferguson, Adam, 140, 484, 591 Feuerbach, Ludwig, 240–243, 247, 269 Fichte, Johann Gottlieb, 36, 43, 67, 71–74, 79, 87, 114, 203, 224, 226, 426, 522, 546, 553 Fischer, Aloys, 571 Flitner, Wilhelm, 184, 199, 571 Forst, Rainer, 407 Foucault, Michel, 8, 11, 196–198, 200, 202, 205, 244, 529, 533, 546 Freire, Paolo, 533 Freud, Sigmund, 296 Fuhrmann, Manfred, 477 G Gadamer, Hans-Georg, 176 Gamm, Hans-Jochen, 317 Garaudy, Roger, 243 Gedike, Friedrich, 95, 103 Gehlen, Arnold, 171 Giesinger, Johannes, 410 Gleim, Betty, 61 Goethe, Johann Wolfgang von, 38, 68, 113, 114, 148, 171, 176, 294, 328, 426 Gosepath, Stefan, 410, 453, 464 H Habermas, Jürgen, 187, 530, 531, 593, 610 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 43, 52–54, 67, 118, 147, 149–151, 159, 174, 176, 203, 220, 223, 230, 231, 233, 235–238, 240, 253, 273, 279, 280, 420, 425, 464, 522, 523, 526, 546, 606, 612, 641 Heidegger, Martin, 165, 529, 593 Herbart, Johann Friedrich, 39, 101, 103, 114, 157, 163, 164, 393, 434, 551 Herder, Johann Gottfried, 43–46, 48, 49, 51, 52, 54, 67, 68, 81, 92, 94, 212, 576, 605 Herzog, Roman, 1 Hesse, Hermann, 310
Personenregister Heydorn, Heinz-Joachim, 186–189, 200, 259, 397, 532, 538, 539, 548, 593 Heyting, Frieda, 543 Hippel, Theodor Gottlieb von, 62, 64 Höffe, Otfried, 412 Hoffmann, Ernst, 575 Hölderlin, Friedrich, 105, 109, 229, 606, 613 Holst, Amalie, 61 Honneth, Axel, 417, 418, 420, 427, 530, 600, 610 Horkheimer, Max, 141, 613 Hövelmann, Joseph, 356, 357 Humboldt, Alexander von, 38 Humboldt, Wilhelm von, 5, 16, 38, 43, 55–57, 59, 67, 69, 71, 74, 79–81, 83–86, 91, 92, 100, 103, 111–113, 127, 129, 130, 133–138, 144, 145, 147, 148, 157, 159, 195, 207, 212, 216, 273, 279, 291, 377, 385–387, 389, 391, 392, 398, 441, 450, 455, 478, 480, 484, 488, 522, 525, 546, 547, 554, 567, 578, 593, 605, 606, 617, 639, 641 Husserl, Edmund, 157, 593 J Jaeggi, Rahel, 535–537, 540, 541, 543 James, William, 592 Jens, Walter, 316 Joas, Hans, 601 Jüttemann, Gerd, 275 K Kant, Immanuel, 14, 38, 43–45, 48, 49, 51, 52, 54, 70, 77, 109, 121, 122, 148, 149, 152, 184, 191, 224, 226, 232, 255, 257, 291, 292, 295, 304, 307–309, 327, 332, 363, 370, 405, 455, 522, 524, 525, 531, 541, 554, 607, 612, 624, 629, 638 Keller, Gottfried, 471 Kelsen, Hans, 483 Kerschensteiner, Georg, 157, 565–570, 572, 574–577, 582, 584, 594, 603 Klewitz, Marion, 319 Klinger, Friedrich Maximilian, 69, 80 Kluge, Alexander, 287, 288, 594 Knigge, Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr, 117, 118, 121, 123, 174, 522 Kohlberg, Lawrence, 456 Koller, Hans-Christoph, 556 Konfuzius, 514, 518 Kopernikus, Nikolaus, 612
Personenregister Kreisky, Bruno, 476
695 O Oevermann, Ulrich, 277, 303, 304 Owen, Robert, 241
L Landshut, Siegfried, 238 Lange, Friedrich Albert, 453 Lemberg, Eugen, 634 Lenzen, Dieter, 157 Lessing, Gotthold Ephraim, 35, 98–100, 105, 107, 115 Leuzinger-Bohleber, Marianne, 297, 298, 300 Lévi-Strauss, Claude, 244 Lichtenberg, Georg Christoph, 35, 61, 478 Litt, Theodor, 176, 273, 280, 482, 484 Locke, John, 405 Löwenstein, Kurt, 370 Luhmann, Niklas, 169, 283, 301, 393, 597 Luther, Martin, 356 Luxemburg, Rosa, 538
P Parsons, Talcott, 290 Paulsen, Friedrich, 173, 210–213, 215, 217, 471, 473 Pawlow, Iwan Petrowitsch, 242 Pestalozzi, Johann Heinrich, 52, 212, 284 Piaget, Jean, 588 Picht, Georg, 475 Pindar, 74 Platon, 31, 294, 295, 426, 518, 586, 626 Plessner, Helmuth, 592, 597, 598 Popper, Karl, 527 Prange, Klaus, 101 Prengel, Annedore, 398
M Mahler, Gustav, 296 Mann, Thomas, 177–179, 469 Marx, Karl, 174, 186, 220, 223, 237–245, 247, 248, 253–255, 261, 289, 368, 522, 529, 532, 534, 546, 555, 557, 584 Masschelein, Jan, 543 Mead, George Herbert, 273, 546, 592 Meierotto, Johann Heinrich Ludwig, 95 Merleau-Ponty, Maurice, 598 Meyer-Drawe, Käte, 165 Mill, John Stuart, 40 Mollenhauer, Klaus, 193, 269 Morais, José, 455 Moritz, Karl-Philipp, 152, 266, 519 Morus, Thomas, 367, 368 Müller, Hans-Peter, 562–564 Mutschler, Susanne, 352
R Raabe, Paul, 118, 119 Rawls, John, 405, 407, 408, 411, 412, 447, 448 Reichwein, Georg, 571 Richert, Hans, 214 Rickert, Heinrich, 567 Rochow, Friedrich Eberhard von, 127, 137–139, 351 Rorty, Richard, 592 Rosa, Hartmut, 595, 597–599, 601–603, 605, 606, 608–610, 612, 613 Roth, Heinrich, 170, 623 Rousseau, Jean-Jacques, 40, 58, 59, 61, 70, 79, 94, 98, 120, 192–194, 197, 220, 229, 269, 307, 405, 525, 591, 629 Rudolphi, Caroline, 61 Ruhloff, Jörg, 543
N Nassehi, Armin, 531 Negt, Oskar, 487 Nida-Rümelin, Julian, 180, 181 Niethammer, Friedrich Immanuel, 104, 203–208, 220, 225, 526 Nietzsche, Friedrich, 85, 183, 208–210, 217, 220, 526, 546 Nohl, Herman, 214, 435, 436, 548, 550, 565, 571 Nussbaum, Martha, 183, 414
S Salzmann, Christian Gotthilf, 61 Sartre, Jean-Paul, 244 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, 87, 114 Schelsky, Helmut, 15 Schiller, Friedrich, 50, 57, 70, 87, 98, 99, 114, 127, 220, 223, 225–227, 229, 230, 241, 247, 255, 258, 310, 313, 525, 605, 606 Schlegel, Friedrich, 147, 174 Schleicher, Andreas, 415
Personenregister
696 Schleiermacher, Friedrich, 4, 75, 87, 88, 94, 107, 109, 110, 113–115, 117, 122, 135, 195, 230, 308, 309 Schlözer, August Ludwig, 60, 61 Schlözer, Dorothea, 60 Schmitt, Carl, 628 Sen, Amartya, 413 Senghor, Leopold Sedar, 589 Sève, Lucien, 242–244 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 50, 140, 141 Simmel, Georg, 220, 273, 592 Smend, Rudolf, 482, 483 Smith, Adam, 140 Spitz, René, 604 Spitzer, Manfred, 336, 337 Spranger, Eduard, 145, 207, 214, 390, 450, 527, 570, 593, 620 Steiner, Rudolf, 475 Stojanov, Krassimir, 421, 423, 424, 426 T Taylor, Charles, 592 Thoreau, Henry David, 349 Tomasello, Michael, 603
V Van Parijs, Philippe, 534, 535, 537 W Waldenfels, Bernhard, 598, 600 Walzer, Michael, 408, 410, 411, 413, 453 Weber, Max, 202, 217, 220, 472, 520, 562, 564 Weniger, Erich, 548, 571 Wessel, Horst, 316 Wessel, Karl-Friedrich, 595, 614–619, 621–629 Wiersing, Erhard, 11, 274, 275, 565, 576–581, 583, 584 Willmann, Otto, 567 Wolgast, Heinrich, 333 Wollstonecraft, Mary, 61 Wulf, Christoph, 579 X Xun Zi, 514 Z Zobel, Rudolf Heinrich, 327