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German Pages [496] Year 2023
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 175
Martin Bauspieß
Der gegenwärtige Gott Die paulinische Rede von Gott im Horizont der Tradition
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Begründet von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad Herausgegeben von David S. du Toit, Martin Leuenberger, Johannes Schnocks und Michael Tilly
175. Band
Martin Bauspieß
Der gegenwärtige Gott Die paulinische Rede von Gott im Horizont der Tradition
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9694 ISBN 978-3-666-56084-2
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ................................................................................................ 11 Abkürzungen ........................................................................................ 13 Erstes Kapitel: Gott als Thema der Paulusforschung ............................... 1. Die Rede von Gott bei Paulus ....................................................... 2. Gott als „neglected factor in New Testament Theology“ (N. A. Dahl)............................................................................... 3. Theologie im Konflikt (H. Moxnes)............................................... 4. Theologie und Christologie.......................................................... 5. Rede von Gott als soteriologisch-christologische Entfaltung (P.-G. Klumbies) ......................................................... 6. Wer bestimmt wen? „Solus Deus“ (J. Flebbe).................................. 7. Christologische Präzisierung: Zum Gottesverständnis des Paulus (T. Jantsch) ...................................................................... 8. Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“.................. 8.1 „Verdopplung des Glaubensobjekts“: Die These W. Boussets ..... 8.2 Per Christum in Deum (W. Thüsing) ..................................... 9. Theologie und Gottesdienst (W. Schrage und L. Hurtado)................ 10. Aspekte der „Monotheismus“-Debatte .......................................... 11. Die Gottesprädikationen (C. Böttrich, C. Zimmermann) ................. 12. Die „biblische Gotteslehre“ von R. Feldmeier und H. Spieckermann .. 13. Die Fragestellung der Untersuchung ............................................. 13.1 Zum Sprachgebrauch .......................................................... 13.2 Tradition ........................................................................... 13.3 Interpretation ..................................................................... 13.4 Zur Textauswahl .................................................................
15 15
Zweites Kapitel: Der lebendige Gott (1Thess 1,9).................................... 1. Der Kontext der paulinischen Rede von Gott im Ersten Thessalonicherbrief........................................................... 2. Danksagung und Gotteslob als Quelle der Rede von Gott ................ 3. Die Existenz der Gemeinde coram Deo (1Thess 1,2f) ....................... 4. Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7) ....................... 5. Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10) ..................... 5.1 „Der Glaube an Gott“ (1Thess 1,8) ........................................
71
18 20 22 24 27 31 35 35 42 45 52 54 56 61 61 62 63 66
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Inhaltsverzeichnis
5.2 Die Bekehrung der Thessalonicher (1Thess 1,9f) ..................... 95 6. Der lebendige Gott bei Paulus ...................................................... 103 6.1 Der lebendige Gott im Alten Testament ................................. 104 6.2 Der lebendige Gott im Frühjudentum und im Neuen Testament ................................................................ 117 7. Zum Begriff der „Bekehrung“....................................................... 120 8. Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief... 127 8.1 Die Bestimmtheit der paulinischen Rede von Gott .................. 127 8.2 Die Erfahrungsbezogenheit der paulinischen Rede von Gott ............................................................................ 130 8.3 Die Exklusivität der paulinischen Rede von Gott..................... 131 8.4 Der eschatologische Charakter des Schöpfungsglaubens .......... 132 Drittes Kapitel: Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8) ................................ 135 1. Das Profil der Rede von Gott im Ersten Korintherbrief .................... 135 2. „Tendenzkritik“ in der Auslegung des Ersten Korintherbriefs ........... 137 3. 1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes............................ 141 3.1 Fragen der Gemeinde in Korinth .......................................... 141 3.2 Die Ablehnung der Kreuzespredigt (1Kor 1,18–25) ................. 144 3.3 Weisheit und Gotteserkenntnis nach 1Kor 2,6–16 ................... 152 3.4 Der „Herr der Herrlichkeit“ als Gottes Gegenwart (1Kor 2,6–9)....................................................................... 155 4. Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης ................................................................................... 162 4.1 Zur Traditionsgeschichte des Titels ὁ κύριος τῆς δόξης ............ 162 4.2 Die δόξα der Glaubenden .................................................... 170 5. Zur Frage der Weisheitstheologie .................................................. 180 5.1 Stationen der Weisheitstheologie .......................................... 181 6. Der κύριος τῆς δόξης als die Praesentia Dei ................................... 187 6.1 Die Verborgenheit Gottes in der Welt .................................... 189 6.2 Die Gegenwart Gottes in Jesus Christus ................................. 190 6.3 Das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf ........................... 190 Viertes Kapitel: „Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6) ......................................... 193 1. „Binitarischer Monotheismus“ bei Paulus? ..................................... 193 2. Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1 ............... 196 2.1 Das Problem in Korinth nach 1Kor 8,1–13 ............................. 197 2.2 Die Erkenntnis des Glaubens (1Kor 8,1–3) ............................. 200 2.3 Der eine Gott als Kriterium des Lebens (1Kor 8,4–6) ............... 204 3. Tradition und Interpretation ........................................................ 211 3.1 1Kor 8,6 als Interpretation von Dtn 6,4 .................................. 211
Inhaltsverzeichnis
3.2 Zur Schöpfungstheologie in der Stoa und bei Philo ................. 215 3.3 Gott in Begegnung .............................................................. 220 3.4 Der „Schwache“ als „Bruder“ ............................................... 224 4. Der eine Gott als πατήρ und κύριος .............................................. 228 Fünftes Kapitel: Christusbegegnung und Gottesbegegnung..................... 233 1. Die Bedeutung der Damaskus-Begegnung für die paulinische Theologie.................................................................. 233 1.1 „Call Rather than Conversion“: Paul within Judaism? .............. 236 2. Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief........................... 237 2.1 Die Erinnerung an die Begegnung ........................................ 237 2.2 Die Erkenntnis des Paulus vor Damaskus nach Gal 1,16........... 246 2.3 Tradition und Interpretation: Dtn 21,23 in Gal 3,13 ................. 254 3. Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11 ...... 263 Sechstes Kapitel: Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6) ..................... 277 1. Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis ..................................... 277 1.1 Der Dienst des Apostels (2Kor 4,1f) ...................................... 282 1.2 Die Verschlossenheit der „Verlorenen“ (2Kor 4,3f) .................. 283 1.3 Zum Hintergrund der Bezeichnung εἰκὼν τοῦ θεοῦ in 2Kor 4,4 ......................................................................... 286 1.4 Die δόξα auf dem Angesicht des Mose (2Kor 3,7; Ex 34,29f.35) .. 290 1.5 Jesus Christus als Gottes rettende Gegenwart (2Kor 4,5f) ......... 296 1.6 Zur „Bekehrungsterminologie“ in 2Kor 4,6 ............................ 300 2. Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21 .............................................................................. 302 3. Die Erkenntnis des Schöpfers ....................................................... 313 Siebtes Kapitel: Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f) ............ 317 1. Gottesbegegnung und „Rechtfertigungslehre“ ................................ 317 2. Der argumentative Kontext des Römerbriefs .................................. 320 3. Gottes Evangelium als Ausgangspunkt der Rede von Gott (Röm 1,1f) ................................................................................. 323 4. Der Inhalt des Evangeliums (Röm 1,3f) ......................................... 326 5. Das Problem einer „trennungschristologischen“ Auslegung von Röm 1,3f.............................................................................. 328 6. Anfragen an das Konzept einer „Trennungschristologie“ .................. 336 7. Zur Exegese von Röm 1,3f............................................................ 339 8. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm 1,3f ............... 345 8.1 Die „Nathan-Verheißung“ in 2Sam 7,12–16............................ 349 8.2 Der „Sohn Davids“ (PsSal 17)............................................... 353
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Inhaltsverzeichnis
8.3 Die Interpretation von 2Sam 7,12ff in Qumran ....................... 356 9. Die Königsherrschaft Gottes im Geist ............................................ 357 9.1 Zur „Davidssohnschaft“ Jesu in der synoptischen Tradition ..... 358 9.2 Die Davidssohnschaft Jesu „nach dem Fleisch“ ....................... 361 9.3 Tradition und Interpretation ................................................ 375 Achtes Kapitel: Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11) ...... 379 1. Phil 2,6–11 im Kontext des Philipperbriefs ..................................... 379 2. Zur Frage nach der Gattung von Phil 2,6–11................................... 382 3. Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11 ................................ 389 3.1 Gottes Gegenwart in dem gekreuzigten Jesus (Phil 2,6–8) ........ 393 3.2 Die Offenbarung des Namens Gottes (Phil 2,9–11).................. 401 4. Das Motiv des „Namens“ bei Deuterojesaja und in Phil 2,10f ............ 405 5. Das Problem einer „Adam-Christologie“ ....................................... 409 6. Gottesverständnis und Ethik im Philipperbrief ............................... 411 7. Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“ .......................... 417 Epilog: Perspektiven der paulinischen Rede von Gott .............................. 425 Bibliographie ........................................................................................ 437 Personenregister (nur die im Haupttext genannten Namen) .................... 475 Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)......................... 479 Altes Testament ................................................................................ 479 Neues Testament .............................................................................. 484 Frühjüdische Schriften ...................................................................... 494 Frühchristliche Schriften ................................................................... 495 Weitere antike Literatur ..................................................................... 495
Vorwort
Die vorliegende Untersuchung wurde von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen im Wintersemester 2021/22 als Habilitationsschrift angenommen. Sie wird hier in einer leicht überarbeiteten Fassung veröffentlicht. Mein herzlicher Dank gilt den beiden Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Christof Landmesser sowie Herrn Prof. Dr. Michael Tilly. Christof Landmesser danke ich von Herzen für die jahrelange Förderung und Begleitung, vor allem aber für das Gespräch am Lehrstuhl, von dem ich als sein Assistent profitieren konnte. Michael Tilly danke ich – wie auch Herrn Prof. Dr. David S. du Toit – für die Aufnahme in die Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Alten und zum Neuen Testament“ (WMANT). Michael Tilly zudem für viele Gespräche zu Fragen des Frühjudentums und des Neuen Testaments. Herzlich danken möchte ich auch meinem Lehrer und Freund Prof. Dr. Otfried Hofius, der mich seit meinem Studium begleitet. Ihm verdanke ich mehr, als sich in Anmerkungen sagen lässt. Auch meiner systematisch-theologischen Lehrerin, Frau Prof. Dr. Gunda Schneider-Flume habe ich viel zu verdanken. Danken möchte ich auch Herrn Johannes Nicklaus M.A., der mir bei den Korrekturen und bei der Erstellung der Register geholfen hat. Ein Dank gilt zudem Frau Dr. Friederike Portenhauser für die Lektüre eines der Kapitel vor Abgabe der Arbeit. Ebenso danke ich meiner Assistenten-Kollegin Nadine Quattlender. Auch für das Gespräch mit Apl. Prof. Dr. Hans-Christian Kammler und Apl. Prof. Dr. Wolfgang Oswald bin ich dankbar. Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg danke ich für einen Zuschuss zur Publikation der Arbeit. Frau Miriam Lux danke ich für die Betreuung vonseiten des Verlags und die Erstellung des Satzes. Ohne meine Frau Ines Spitznagel wäre das Buch nie geschrieben worden. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern, Ursula Bauspieß und Dr. Christoph Bauspieß für ihre Begleitung und Solidarität. Ihnen ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet. Es geht in ihm um das eigentliche Thema der Theologie: um Gott selbst. Paulus lehrt uns, dass „Gott“ kein Allgemeinbegriff und keine Selbstverständlichkeit ist, sondern nur genannt werden kann, wo er sich selbst in seiner Wirklichkeit und Gegenwart in einer bestimmten Weise erschließt. Diesem Phänomen nachzuspüren, ist das Anliegen des Buches. Altbach, im August 2023 Martin Bauspieß
Abkürzungen
Abkürzungen werden in der Regel gegeben nach: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaft nach RGG4 , UTB 3868, Tübingen 2007. Abkürzungen, die dort nicht angegeben sind, wurden in Anlehnung daran gebildet: Diod. Marc Aurel Paus. Graec.descr. Plin. ep. Plut. Is. Plut. Quaest. Plut. Symp. Tac. Ann. Tac. Hist.
Diodor Marc Aurel, Selbstbetrachtungen Pausanias, Graeciae Descriptio (Beschreibung Griechenlands) Plinius, Epistulae Plutarch, De Iside Plutarch, Platonica Quaestiones Plutarch, Symposion Tacitus, Annalen Tacitus, Historiae
Anstelle von Flav.Jos.Ant. werden die Antiquitates des Josephus mit JosAnt abgekürzt.
Erstes Kapitel: Gott als Thema der Paulusforschung
1.
Die Rede von Gott bei Paulus
Insgesamt 1318-mal kommt das Wort θεός im Neuen Testament vor.1 Davon entfallen 430 Belege auf die Briefe des Apostels Paulus.2 Wer die paulinische Rede von Gott untersuchen will, der befindet sich deshalb zunächst in einer Verlegenheit: Wo soll eine solche Untersuchung ansetzen? In der Forschung gibt es unterschiedliche Herangehensweisen an das Thema. So konzentrieren sich manche Studien auf bestimmte Textbereiche wie den Ersten Thessalonicher- und die Korintherbriefe,3 den Galater-4 oder den Römerbrief5 . Andere Arbeiten widmen sich in besonderer Weise den Gottesprädikationen6 oder dem paulinischen Sprachgebrauch7 . Eine weitere Möglichkeit, an das Thema heranzugehen, besteht darin, von besonders signifikanten Texten auszugehen, wofür sich insbesondere das Bekenntnis in 1Kor 8,6 anbietet.8 Teilweise werden auch systematische Zusammenfassungen der paulinischen Rede von Gott geboten.9 Diese ersten Hinweise machen deutlich, dass das Thema „Gott bei Paulus“ schier unerschöpflich ist. In den Diskussionen des 20., aber auch des 21. Jahrhunderts steht die Frage nach dem paulinischen Gottesverständnis häufig im Zusammenhang mit einer Verhältnisbestimmung von Judenund Christentum.10 Aber auch im Blick auf andere Religionen und Weltanschauungen ergibt sich die Notwendigkeit, möglichst genau zu beschreiben, was Paulus meint, wenn er das Wort θεός verwendet. Und schließlich ist es auch die Frage nach der Einheit von alt- und neutestamentlichem Kanon, für die die Frage nach Gott relevant ist: Reden alle diese Texte von dem einen Gott? Und wenn ja: Wie ist
1 Zahl nach Computer-Konkordanz zu 26 Nestle-Aland, ebenso Böttrich, Gottesprädikationen, 59. Jantsch, Gottesverständnis, 2 zählt 1319 Belege. 2 36-mal im Ersten Thessalonicherbrief, 105 im Ersten Korintherbrief, 79 im Zweiten Korintherbrief; 31 im Galaterbrief; 153 im Römerbrief; 24 im Philipperbrief und 2-mal im Philemonbrief (Moxnes, Theology, 15f). 3 Jantsch, Gottesverständnis (1Thess und Korintherbriefe); Schneider, Gegenwart (1Kor). 4 Zimmermann, Gott. 5 Flebbe, Solus Deus; Moxnes, Theology. 6 Böttrich, Gottesprädikationen; Zimmermann, Namen. 7 Richardson, God. 8 Landmesser, Gott denken; ders., Wie Gott handelt. 9 Dunn, Theology, 27–50; Schnelle, Paulus, 441–462. 10 Klumbies, Brisanz, 71.
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Gott als Thema der Paulusforschung
dieser Zusammenhang genau zu bestimmen?11 All diese Fragen lassen es sinnvoll erscheinen, sich dem Thema „Gott“ bei Paulus erneut zuzuwenden. In vielen Untersuchungen zum Thema wird darauf hingewiesen, dass die Paulus-Forschung erst einige Zeit gebraucht habe, um das Thema zu „entdecken“.12 Die Suche nach den Gründen für dieses Phänomen führt bereits mitten hinein in die Diskussion. Es wird deutlich, welche Aspekte hier eine Rolle spielen, es wird aber auch erkennbar, wo offene Fragen zu entdecken sind. So soll ein Überblick zur Diskussion helfen, die Fragestellung dieser Arbeit zu entwickeln. Exegetische Einzeluntersuchungen stehen immer im Horizont der „Großwetterlage“ der wissenschaftlichen Theologie. Das zeigt sich exemplarisch an der Kritik, die in den neueren Untersuchungen zum Thema die 1992 erschienene Arbeit von PaulGerhard Klumbies erfährt.13 Hier sind es oft nicht die Einzelergebnisse, sondern die – tatsächlichen oder vermeintlichen – „dogmatischen“ Voraussetzungen, die kritisch notiert werden.14 Voraussetzungen bringt freilich jeder Interpret mit. Wer sich heute mit Paulus beschäftigt, der steht im Horizont einer Auslegungsgeschichte, die sich um ein Paulus-Verständnis bemüht, Paulus dabei aber immer wieder auch für die eigenen Fragestellungen in Anspruch genommen hat und nimmt. So kommt es zu Beginn dieser Arbeit darauf an, einige dieser Fragestellungen zu identifizieren, um sie diskutabel zu machen. Auch Paulus selbst steht in einem bestimmten Kontext, wenn er von Gott redet. Redet er einerseits von einem umstürzenden Erlebnis, das auch für sein Gottesverständnis relevant ist (Gal 1,16; Phil 3,7–11; 2Kor 4,6), so entwickelt er seine Rede von Gott doch auch nicht ohne Voraussetzungen, sondern vor dem Hintergrund von Traditionen, in deren Horizont er sein Gottesverständnis expliziert: Dies ist zum einen die Tradition des Frühjudentums, der Paulus selbst entstammt. Es ist 11 S. dazu die Beiträge in Dohmen/Söding (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente sowie die ausufernde Diskussion um die Thesen von Slenczka, Kirche, vgl. etwa Feldtkeller, Reichtum; Hartenstein, Bedeutung; Heckl, Grundlage; Pietsch, Gott; Schwienhorst-Schönberger, Rückkehr Markions und die 2017 erschienene Monographie von Slenczka, Vom Alten Testament, s. auch Gerhards, Protevangelium. Die Debatte und seine Antworten hat Notger Slenczka auf seiner Homepage dokumentiert. 12 Vgl. die einführenden Darstellungen bei Flebbe, Solus Deus, 1–19; Klumbies, Rede, 13–33; Moxnes, Theology, 1–9; Jantsch, Gottesverständnis, 1–24; Zimmermann, Namen, 1–39. 13 Klumbies, Rede. 14 So bemerkt Flebbe, Solus Deus, 14: „Wir haben den leichten Verdacht, dass P.-G. Klumbies bei seiner Untersuchung insgesamt von einem bestimmten dogmatischen Vorverständnis geprägt ist, das ihm die Sicht auf die Texte verstellt. Deshalb wird unsere Analyse der Einzeltexte immer wieder auch von der Auseinandersetzung mit P.-G. Klumbies geprägt sein.“ Ganz ähnlich unterstellt Jantsch, Gottesverständnis, 7 Klumbies „eine durch eine existentialistische Hermeneutik verengte Sichtweise, die Klumbies den unvoreingenommenen Blick auf die Texte verstellt.“ Klumbies seinerseits attestiert der Arbeit von Thüsing, Per Christum in Deum, dass sie „an einer starken Befangenheit in katholisch dogmatischenDenkstrukturen“ leide (Klumbies, Gott, 23 mit Anm. 74).
Die Rede von Gott bei Paulus
aber auch die frühchristliche Tradition, die die Art, wie Paulus von Gott redet, beeinflusst. Und auch in der nicht-jüdischen Mit-Welt des Paulus wird danach gefragt, wie von Gott in der Welt geredet werden kann. Die Frage nach Gott teilt Paulus mit den Menschen seiner Zeit. Aber er bleibt nicht bei der bloßen Frage stehen. Er gibt auch Antworten auf diese Frage. Darin sind seine Briefe bis heute wegweisend für die christliche Theologie.15 Wir werden sehen, dass es in besonderer Weise die Wahrnehmung der Gegenwart Gottes ist, die Paulus bei seiner Rede von Gott bewegt.16 Paulus redet von dem gegenwärtigen Gott. Aber er redet von diesem Gott im Horizont der Tradition. Die Verschränkung beider Aspekte lässt sich als ein Prozess von Tradition und Interpretation nachvollziehen.17 Dies soll in dieser Arbeit an einigen ausgewählten Paulustexten geschehen. Da Paulus konkret von Gott redet, wird in der Forschungsliteratur häufig anstatt von einer paulinischen „Gotteslehre“ von der paulinischen „Rede von Gott“ gesprochen.18 So kommen neben einer begrifflichen Fassung der Theologie auch andere, etwa narrative Elemente in den Blick.19 Seine besondere Art der Rede von Gott liegt uns in den Briefen des Paulus vor. Diese sind allerdings immer nur eine Seite einer dialogisch ausgerichteten Kommunikation. Paulus nimmt auf Sachverhalte Bezug, die seinen Adressaten und ihm bekannt sind, die für die späteren Ausleger aber nur durch die erhaltenen Texte greifbar werden. Er redet von Gott in bestimmten Situationen, im Gespräch mit bestimmten Adressaten und vor dem Hintergrund bestimmter Problemlagen. Eine genauere Betrachtung zeigt indes, dass diese Rede eine innere Stringenz und Konsistenz aufweist, die es erlaubt, von einem „Gottesverständnis“ des Paulus zu sprechen.20 Hinter den kontextuell bedingten Äußerungen des Paulus wird ein Konzept erkennbar, das sich beschreiben lässt. Es ist von bestimmten Grundeinsichten geprägt, die Paulus seinen Adressaten
15 Dass die wissenschaftliche Theologie nicht bei der Frage nach Gott stehenbleiben kann, sondern auch versuchen muss, Antworten zu geben, bemerkt Körtner, Vorwort zu ders. (Hg.), Gott und Götter, V mit Recht. 16 Zum Thema der Gegenwart Gottes bei Paulus s. etwa Ceglarek, Gegenwart; Schneider, Gegenwart; Terrien, Presence. 17 Vgl. Eichholz, Paulus, 7–13; Schneider, Gegenwart, 32f. 18 Die Formulierung „Rede von Gott“ verwendet bereits Lindemann, Rede, aber auch Klumbies, Gott. Exemplarisch ist die Erklärung bei Jantsch, Gottesverständnis, 30: „So können die Aussagen, die Paulus über Gott trifft, … nicht als Gotteslehre betrachtet werden, sondern müssen in ihrer existentiellen Bedeutung verstanden werden, die sie für das Leben der Gläubigen haben: Paulus lehrt nicht über Gott, sondern er bringt traditionelle Glaubenssätze, seine eigene Erfahrung (seine Christophanie, die Erfahrungen des Wirkens Gottes in seinem Leben und in seinem Dienst) in Verbindung mit dem Leben der Gläubigen.“ Vgl. aaO., 21: „Wir finden bei Paulus eben keine dogmatische Gotteslehre, sondern eine auf ,Glaube, Liebe, Hoffnung‘ bezogene Gottesverkündigung.“ 19 Poplutz, Gottesfigurationen, 349f. 20 So etwa der Untertitel der zitierten Arbeit von Jantsch.
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Gott als Thema der Paulusforschung
vermitteln möchte. Einige Ausleger verwenden deshalb den Begriff der „Gotteslehre“ bei Paulus weiterhin und wohl auch mit einigem Recht, ohne damit die Kontextualität der paulinischen Rede von Gott aus dem Blick zu verlieren.21 Der Begriff der „Gotteslehre“ könnte deutlich machen, dass Paulus Gott zwar in einer existentiellen Weise verkündigt, bei seiner Verkündigung aber auch bestrebt ist, konsistent von Gott zu reden. So soll beides in dieser Arbeit untersucht werden: die konkreten Kontexte, in denen Paulus von Gott redet, und das Konzept, das dabei sichtbar wird.
2.
Gott als „neglected factor in New Testament Theology“ (N. A. Dahl)
Das Urteil über eine „Vernachlässigung“ der Gotteslehre in der Paulus-Forschung wird in den Untersuchungen zum Thema häufig mit einem Statement von Nils Alstrup Dahl verbunden, nach dem „Gott“ als „neglected factor in New Testament Theology“ bezeichnet werden könne.22 Dahl konstatiert eine solche „Vernachlässigung“ für die neutestamentliche Wissenschaft insgesamt,23 in seiner Suche nach den Gründen für das Phänomen stößt er aber sogleich auf die Theologie des Paulus und die Beschreibung, die diese in der Auslegung Rudolf Bultmanns erhalten hat. Bultmanns These, wonach Paulus seine Theologie als Anthropologie entfaltet habe, verortet Dahl im weiteren Horizont einer „reaction against metaphysical theology“, die er über Schleiermacher und Kant bis hin zu Melanchthon und Luther reichen sieht.24 Diese Entwicklung – vornehmlich der evangelischen Exegese – sieht Dahl als Hauptgrund dafür an, dass „Gott“ kaum als eigenständiges Thema behandelt wurde. Die Kritik an einer von Bultmann geprägten Exegese begegnet im weiteren
21 So etwa Böttrich, Gottesprädikationen, der im Titel von der „neutestamentlichen Rede von Gott“ spricht, dann aber im Text auch den Begriff der „Gotteslehre“ verwendet (aaO, 59 u. ö.); ebenso Feldmeier/Spieckermann, Gott, die ihr Buch im Untertitel als eine „biblische Gotteslehre“ bezeichnen. Auch Samuel Vollenweider spricht von „Jesu Auferstehung als ein[em] Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre“ (Vollenweider, Tag, 271). 22 So der Titel des Aufsatzes von Dahl, God. Dahl erklärt: „For more than a generation, the majority of New Testament scholars have not only eliminated direct references to God from their work but have also neglected detailed and comprehensive investigation of statements about God.“ AaO., 154 (der Aufsatz ist erstmals 1975 erschienen, ich zitiere die 1991 noch einmal publizierte Fassung), angeführt etwa bei Flebbe, Solus Deus, 1; Jantsch, Gottesverständnis, 2; Zimmermann, Namen, 3. 23 Ebenso bemerkt Böttrich, Gottesprädikationen, 59: „Die Gotteslehre scheint eher ein Stiefkind der n[eut]t[estament]l[ichen] Theologie zu sein.“ 24 Dahl, God, 154–156. Für diese „Traditionslinie“ ließe sich auf Bultmanns Aufsatz „Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?“ (1925) verweisen, in dem er Wilhelm Herrmann mit dem Satz zitiert: „Von Gott wissen wir nur, was er an uns tut.“ Bultmann, Gott, 36. Damit werden Christologie und Soteriologie faktisch miteinander identifiziert.
Gott als „neglected factor in New Testament Theology“ (N. A. Dahl)
Verlauf der Diskussion immer wieder. Deshalb ist es wichtig, den Zusammenhang der entsprechenden Äußerung Bultmanns zu beachten. In seiner Theologie des Neuen Testaments hatte Bultmann erklärt: „Die paulinische Theologie ist … kein spekulatives System. Sie handelt von Gott nicht in seinem Wesen an sich, sondern nur so, wie er für den Menschen, seine Verantwortung und sein Heil bedeutsam ist. Entsprechend handelt sie nicht von der Welt und vom Menschen, wie sie an sich sind, sondern sie sieht Welt und Mensch stets in der Beziehung zu Gott. Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie.“25
Dahl bemerkt wohl, dass Bultmann nicht nur im Blick auf Gott ablehnt, „an sich“ von ihm zu sprechen, sondern dass dies auch für die von ihm geforderte Rede vom Menschen gilt („… und umgekehrt“). Er stellt aber fest, dass die praktische Konsequenz Bultmanns eine andere gewesen sei: „In practice, Bultmann has concentrated upon the first part of this statement, representing New Testament theology as anthropology, while paying little attention on the ,vice versa‘.“26 Tatsächlich lässt sich sagen, dass es innerhalb der Bultmann-Schule ein ausgeprägtes Problembewusstsein gegenüber einer Rede von Gott „an sich“ gibt, die unter den Verdacht einer unsachgemäßen „verobjektivierenden“ Redeweise gestellt wird.27 Dieses Problembewusstsein ist Ausdruck einer grundsätzlichen hermeneutischen Einsicht, die sich nicht nur auf die Gotteslehre bezieht, sondern in gleicher Weise auch im Blick auf die Anthropologie und für das Gebiet der Geschichtsbetrachtung zu berücksichtigen wäre: All diese „Objekte“ kommen nicht unabhängig vom Betrachter in den Blick, sondern sind mit ihm immer schon verbunden.28 Dennoch ist der Eindruck wohl richtig, dass bei Bultmann die inhaltliche Entfaltung des Gottesgedankens zu kurz kommt und die Beschreibung der in den Paulusbriefen greifbar werdenden Anthropologie und Soteriologie im Mittelpunkt steht. Bultmann macht aber doch wohl mit Recht darauf aufmerksam, dass die Rede von Gott bei Paulus stets im Zusammenhang mit der Soteriologie, der Anthropologie und vor allem auch: der
25 Bultmann, Theologie, 191f. 26 Dahl, God, 154. 27 Bultmann hat das Problem in dem bereits angeführten Aufsatz grundsätzlich formuliert: „Versteht man unter ,von Gott‘ reden ,über Gott‘ reden, so hat solches Reden überhaupt keinen Sinn; denn in dem Moment, wo es geschieht, hat es seinen Gegenstand, Gott, verloren.“ Bultmann, Gott, 26. Auf der damit eingeschlagenen Linie erörtert Eduard Schweizer die Frage „Was heißt ,Gott‘?“ (Schweizer, „Gott“) und Ernst Käsemann die Frage nach den Wundern (Käsemann, Nichtobjektivierbarkeit). 28 Zu Bultmanns Verständnis von Geschichte s. meinen Artikel Bauspiess, Geschichte.
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Gott als Thema der Paulusforschung
Christologie steht.29 Es kann deshalb nicht darum gehen, die einzelnen Themen als Alternativen zu etablieren, als vielmehr darum, die Auswirkungen der miteinander verbundenen Themen für das Gottesverständnis durchsichtig zu machen. Auch das von Dahl aufgeworfene Stichwort der „Metaphysik“ verdient Beachtung. In der Tat ist ja die reformatorische Theologie in ihren Anfängen mit einer Absetzung von der aristotelischen Metaphysik verbunden.30 Bultmanns (Metaphysikkritische) Heidegger-Rezeption ließe sich deshalb durchaus auch als Ausdruck seiner „lutherischen“ Prägung begreifen. Mit „Metaphysik“ ist allerdings mehr gemeint als ein Reden von Gott „an sich“. Es ging in den damit verbundenen Diskussionen immer auch um die Frage, wie sich der im metaphysischen System implizierte Gottesbegriff zur biblischen bzw. paulinischen Rede von Gott verhält. Da damit auch die Kontexte berührt sind, in denen sich bereits Paulus im Umfeld von stoischen und mittelplatonischen, aber natürlich auch frühjüdischen Gottesvorstellungen bewegt, werden wir auf die Frage ebenfalls einzugehen haben.
3.
Theologie im Konflikt (H. Moxnes)
Die Paulus-Forschung hat sich des Themas „Gott“ seit dem letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend angenommen. 1980 veröffentlichte Halvor Moxnes eine von Dahl angeregte Arbeit zur paulinischen Theo-logie im Römerbrief. Der Titel Theology in Conflict macht deutlich, dass auf Gott in bestimmten Konfliktsituationen Bezug genommen wird. Die Rede von Gott hat demnach eine bestimmte argumentative Funktion.31 Freilich ergibt sich daraus die methodische Schwierigkeit, diese Konfliktsituation zu erhellen. Denn die Frage, wie man etwa den „main conflict“ des Römerbriefs bestimmt, entscheidet bereits mit darüber, wie die einzelnen Aussagen verstanden werden.32 Das lässt sich bereits an Ferdinand Christian Baurs „tendenzkritischer“ Auslegung des Römerbriefes beobachten, die bei Krister Stendahl in gewisser Weise eine Renaissance erfahren hat.33 So wurde
29 Vgl. Poplutz, Gottesfigurationen, 350. 30 Exemplarisch dafür sind die beiden Disputationen Luthers aus den Jahren 1517/18 gegen die scholastische Theologie (1517) sowie die Heidelberger Disputation (1518): Luther, Disputatio Contra Scholasticam Theologiam, Luther-Studienausgabe 1, 19–33; ders., Disputatio Heidelbergae Habita, aaO., 35–69. Picht, Reformation, 170f bezeichnet es als „eine der größten theologischen Taten Luthers …, daß er im Ringen um das Verständnis der paulinischen Briefe aus diesem Schema [sc. der griechischen Metaphysik] ausgebrochen ist.“ S. dazu meinen Aufsatz Bauspiess, Gott Gott sein lassen. 31 Vgl. Flebbe, Solus Deus, 13. 32 Vgl. die entsprechende Anfrage von Jantsch, Gottesverständnis, 9 an Moxnes. 33 Ernst Käsemann hat darauf hingewiesen, dass Stendahls These, die Kapitel Röm 9–11 stellten den eigentlichen Zielpunkt der Argumentation des Römerbriefs dar, bereits von Baur formuliert wurde
Theologie im Konflikt (H. Moxnes)
für die New Perspective on Paul die Situation des Paulus „among Jews and Gentiles“ gleichsam zum hermeneutischen Schlüssel der in seinen Briefen entfalteten Theologie.34 Eine Radical New Perspective nimmt diesen Ansatz auf, wenn sie Paulus konsequent „within Judaism“ zu begreifen versucht.35 Der Hinweis auf die „Konfliktsituation“, in der von Gott geredet wird, ist bei Moxnes allerdings noch grundsätzlicher gemeint, als dass er damit lediglich auf die Kommunikationssituation des Römerbriefes verweisen würde. Wie Moxnes mit Recht betont, redet Paulus von Gott sowohl in der Anknüpfung an die jüdische Tradition als auch in Absetzung von ihr, oder besser: Er interpretiert die Tradition neu. Das verdeutlicht Moxnes an der zentralen Gottesaussage in Röm 4,17 (Gott, „der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, dass es sei“). Indem Paulus hier eine Schöpfungsaussage im Kontext seiner „Rechtfertigungslehre“, die durch den Gegensatz von „Glaube“ und „Gesetz“ bestimmt ist, formuliert, interpretieren sich die Aussagen gegenseitig. In dieser „antithetischen“ Redeweise von Gott sieht Moxnes ein wesentliches Element der paulinischen Theologie.36 Paulus rede sowohl von der Einheit von Juden und Christen durch den gemeinsamen Bezug auf Gott als auch von dem „conflict“, der zwischen ihnen bestehe.37 Damit legt Paulus nach Moxnes aber auch einen Konflikt frei, der in Israels Verhältnis zu Gott besteht.38 Und schließlich ist es der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Gedanken der Gnade und des Zornes Gottes, der die Rede von Gott nach seiner Auffassung durchzieht.39 So sehr Moxnes einerseits betont, dass Paulus die traditionelle Rede von Gott vom Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu Christi her neu interpretiert,40 so sehr macht er darauf aufmerksam, dass sich diese Spannung nicht einfach auf eine der beiden Teile der christlichen Bibel – das „Alte“ und das „Neue“ Testament – verteilen lässt, wie dies seit Markion immer wieder versucht wurde.41 Paulus redet demnach also nicht einfach von einem anderen Gott als die aus jüdischer Perspektive
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(Käsemann, Rechtfertigung, 108–110, vgl. Stendahl, Paul; Baur, Zweck, 158; dazu Landmesser, Baur als Paulusinterpret, 187). So der Titel von Stendahl, Paul: „Paul among Jews and Gentiles“. Die damit beschriebene Forschungsrichtung stellt sich bei Nanos (Hg.), Paul within Judaism vor (s. dazu in Kapitel 5). Moxnes, Theology, 284: „As a result traditional statements and new conclusions stand side by side and interpret one another. It is Paul’s way of speaking antithetically of God which above all characterizes his theology.“ Ebd. AaO., 285. AaO., 287. AaO., 285. AaO., 288: „It follows that the common contrast between the God of the Old Testament and that of the New Testament (Paul) is inadequate when we try to come to terms with Paul’s understanding of God.“
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Gott als Thema der Paulusforschung
gelesene Hebräische Bibel, er redet von diesem Gott allerdings doch anders, wenn er ihn von Jesus Christus her versteht. Damit ist die Frage nach der inhaltlichen Fassung der paulinischen Rede von Gott noch nicht beantwortet, sondern überhaupt erst gestellt. Moxnes wirft in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage auf, die auch für die neueren Diskussionen relevant ist: „What does it mean when we say that Paul speaks of the same God as the Old Testament?“ 42 Den grundsätzlichen Konflikt sieht Moxnes indes an einer anderen Stelle: „[T]he main issue is not that of the understanding of God in the tension between the New and the Old Testament, but rather in the conflicts of our own world.“43 So benennt Moxnes die Rede von Gott grundsätzlich und in mehrerlei Hinsicht als konflikthaft. Dieser Ansatz ist tatsächlich zu wenig wahrgenommen worden.44 Er reduziert die paulinische Theologie gerade nicht auf einen einzigen Konflikt (Juden vs. Heiden) – wie dies im Zuge der New Perspective häufig geschieht –, sondern macht deutlich, in welch vielschichtiger Weise von „Konflikten“ innerhalb der paulinischen Rede von Gott gesprochen werden kann.
4.
Theologie und Christologie
Im weiteren Verlauf der Diskussion rückte vor allem das Verhältnis von Theologie und Christologie ins Zentrum.45 Kritik entzündete sich hier vor allem an der von Paul-Gerhard Klumbies formulierten These, dass das Gottesverständnis des Paulus „sich von dem jüdischer Schriftsteller … signifikant unterscheidet“.46 Die damit aufgeworfene Diskussion hat erkennbar zeitgeschichtliche Bezüge. Klumbies weist selbst darauf hin, dass die Frage nach dem Gottesverständnis des Paulus im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entscheidend mit einer Selbstbesinnung der evangelischen Kirche und Theologie über ihr Verhältnis zum Judentum verbunden ist. Damit sieht er auch eine „Einengung der Wahrnehmung“ verbunden.47 Die Konzentration auf diese Fragestellung ist auch in den neueren Arbeiten zum Thema zu
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Ebd. (Hervorhebung von mir). Ebd. Das kritisiert Flebbe, Solus Deus, 13 an der Arbeit von Klumbies, Gott. So zutreffend Flebbe, ebd. Klumbies, Gott, 243, vgl. aaO., 244f: „Daß von einer Kontinuität im Sinne einer Übernahme des jüdischen Gottesverständnisses durch Paulus oder gar einer Identität zwischen der jüdischen und der paulinischen Redeweise von Gott nicht gesprochen werden kann, ist das Ergebnis der vorliegenden Arbeit. Davon unberührt bleibt jedoch die Beobachtung, daß zwischen Paulus und den jüdischen Schriftstellern traditionsgeschichtliche Kontinuitäten bestehen.“ 47 AaO., 250, vgl. 250–253. Klumbies verweist auf den Beschluss der Rheinischen Landessynode „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ aus dem Jahr 1980.
Theologie und Christologie
beobachten.48 Sie führt dazu, dass eine kritische Funktion der Christologie für das Gottesverständnis des Paulus gegenüber dem Judentum grundsätzlich bestritten wird.49 Es lässt sich allerdings kaum bestreiten, dass für Paulus sein neu gewonnenes Verständnis von Jesus Christus auch seine Sicht auf Gott prägen musste. In der Theologie der 1970er Jahre ist die damit verbundene Frage in systematisch-theologischen Entwürfen wie denjenigen von Jürgen Moltmann und Eberhard Jüngel präsent.50 Beide Entwürfe sind mit einer kreuzestheologischen Kritik an einem „theistischen“ Gottesverständnis verbunden.51 Hier wird demnach nicht nur die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis die Christologie zur Gotteslehre steht. Vielmehr wird auch darüber reflektiert, wie die – vom Kreuzesgeschehen her geprägte – Christologie sich ihrerseits auf das Gottesverständnis auswirkt. Diese wichtige Frage scheint mir in den neueren Diskussionen vernachlässigt zu werden. Es wäre die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie, die Rede von Gott so zu entfalten, dass sie in ihren Pointen und Ansprüchen deutlich wird, aber eben auch in ihrem kritischen Potential gegenüber anderen Gottesverständnissen. Einige dieser Pointen im Blick auf die paulinische Rede von Gott herauszuarbeiten, ist ein Anliegen dieser Untersuchung. Die mit den Namen Jüngel und Moltmann, aber etwa auch mit Hans Küng verbundenen Entwürfe rücken eine Frage ins Zentrum, die Ende der siebziger Jahre von Andreas Lindemann auch für die Paulus-Forschung aufgeworfen wurde.52 Lindemann benennt als sachlichen Grund für die Vernachlässigung der Gottesfrage in der Paulus-Forschung des 20. Jahrhunderts das vorrangige Interesse an der Christologie. Es ist bemerkenswert, wie Lindemann die damit verbundenen Auswirkungen beschreibt. Lindemann konstatiert „eine Tendenz, die für christliches Reden von Gott charakteristisch zu sein scheint: Die Vorstellung, daß es eine im eigentlichen Sinne christliche Theo-logie letztlich gar nicht geben könne, sondern daß sich christliches Reden von Gott im Grunde darauf zu konzentrieren habe, in ein immer schon vorgegebenes allgemeines Gottesverständnis bestimmte christliche Züge einzuzeichnen“.53
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Vgl. Klumbies, Brisanz, 71 (s. o.). AaO., 78. Jüngel, Gott; Moltmann, Gott. Vgl. dazu den Untertitel des Buches von Jüngel „Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten zwischen Theismus und Atheismus“ sowie Moltmann, Gott, 193–204 („Theismus und Kreuzestheologie“). 52 Lindemann, Gott. Lindemann benennt diesen Zusammenhang selbst, wenn er auf Jüngels Buch sowie auf Küng, Gott verweist (aaO., 9). 53 Lindemann, Gott, 10.
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Gott als Thema der Paulusforschung
Lindemann gewinnt die Frage nach Gott als eigenständiger Frage gleichsam von der Christologie her und nicht als Alternative zu ihr! Denn eine Vernachlässigung der Frage nach Gott sei für Paulus deshalb unsachgemäß, weil bei ihm „das Bekenntnis zu Kreuz und Auferstehung Jesu nicht als gleichsam sekundäre Ergänzung eines immer schon vorgegebenen Gottesbegriffs zu verstehen [sei], sondern im Gegenteil als die eigentliche Basis alles Redens von Gott“.54 Es liegt ganz auf dieser Linie, wenn Klumbies in seiner Untersuchung bestreitet, dass Paulus „im wesentlichen das Gottesverständnis des Judentums“ übernehme, dem gegenüber „das entscheidend Neue … in seiner Christologie“ liege, die er „in den Rahmen des vorgegebenen Redens von Gott“ nur noch einzeichne.55 Diese Voraussetzung gründet, wie Klumbies bereits herausgearbeitet hat, in Grundentscheidungen der Liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts seit Ferdinand Christian Baur bis zur Religionsgeschichtlichen Schule.56 Diese Grundentscheidungen werden wenig wahrgenommen, weil sie durch andere Debatten im Kontext der New Perspective on Paul und der damit verbundenen Frage nach dem „Parting of the Ways“ zwischen Juden- und Christentum überlagert werden.57 Das wird erkennbar an den Entwürfen, die in neuerer Zeit der Untersuchung von Klumbies entgegengesetzt worden sind.
5.
Rede von Gott als soteriologisch-christologische Entfaltung (P.-G. Klumbies)
Wie von seinen Kritikern notiert wird, nimmt Klumbies in seiner Untersuchung zur Rede von Gott bei Paulus zentrale hermeneutische Einsichten Rudolf Bultmanns auf. Das spricht natürlich noch nicht grundsätzlich gegen die Untersuchung. Klumbies erinnert vielmehr daran, dass die Gottesfrage auch hermeneutisch reflektiert werden muss, wenn sie anhand exegetischer Untersuchungen verfolgt werden soll. Zudem sind auch die ihn kritisierenden Entwürfe mit einem erkennbaren Interesse verbunden. Gerade von Bultmann lässt sich lernen, dass jede Auslegung neutestamentlicher Texte (und auch eines jeden anderen Textes) von einem Vorverständnis geprägt ist, das gleichwohl den Blick auf die Texte dann nicht einengen muss, wenn es bewusst gemacht und so explizit in den Verstehensprozess einbezogen wird.58
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Ebd. Klumbies, Gott, 243. Ebd. mit Anm. 1, vgl. aaO., 13–19. S. dazu etwa Schnelle, Wege; Boyarin, Abgrenzungen; Dunn, Partings; Ders. (Hg.), Jews and Christians. 58 Bultmann, Hermeneutik, 216; ders., Problem, 55. Gerade das Bewusstmachen der eigenen Fragestellungen und des eigenen Existenzverständnisses ermöglichen überhaupt erst eine Interpretation
Rede von Gott als soteriologisch-christologische Entfaltung (P.-G. Klumbies)
Die Bultmann’sche Grundentscheidung, auf die Klumbies sich bezieht, besteht in seinem Verständnis der Theologie als Anthropologie, die Bultmann gerade als ein Proprium der paulinischen Theologie ansieht.59 Klumbies bezieht Bultmanns Impuls auf die Frage nach Gott, insofern er damit die Voraussetzung eines statischen und abstrakten „Gottesbegriffs“ in der Paulusexegese kritisieren kann. Wenn „von Gott nicht unter Absehung vom Menschen gesprochen“ werden könne, gelte die Einsicht, „daß der spezifische Gehalt jeder Rede von Gott sich über Interpretamente erschließt, die dem Begriff ,Gott‘ erst seinen Sinn geben“.60 Damit ist noch keiner einfachen Gleichsetzung von Theologie und Anthropologie das Wort geredet, wohl aber gesehen, dass von Gott stets in seiner Bedeutung für den Menschen geredet wird und dass die biblischen Autoren eben deshalb von Gott reden, weil er für ihr Leben relevant ist. Das Wort „Gott“ hat nur dann eine erhellende Funktion, wenn es etwas Bestimmtes zur Sprache bringt und kein „Allgemeinbegriff “ ist, der gleichsam selbstverständlich vorausgesetzt wird. Klumbies benennt es deshalb mit Recht als „Aufgabe, nach den Interpretamenten zu fragen, mit denen Paulus seiner Rede von Gott ihren besonderen Inhalt gibt. Es ist danach zu fragen, was der Apostel sachlich meint, wenn er den Begriff ,Gott‘ gebraucht“.61 Charakteristisch für Paulus ist nach Klumbies, dass er Gott „christologisch-soteriologisch“ verstehe, so dass er „auf der Basis des Christusgeschehens … den soteriologisch-christologisch explizierten Gott“ verkündige.62 Das verdeutlicht Klumbies an der Aufnahme und Interpretation vor-paulinischer Traditionen in den Paulusbriefen: „Traditionelle Formulierungen, die ursprünglich der Explikation Gottes dienten, werden von Paulus nicht ausschließlich ebenfalls zur Entfaltung seines Gottesverständnisses herangezogen.“63 Anders als in der von ihm aufgenommenen Tradition rücke für Paulus die „Beziehung des in den Formeln bekannten Gottes zum glaubenden Menschen“ ins Zentrum und dies bilde „geradezu den Ansatz und das Zentrum seiner Rede von Gott“.64 Als ein Beispiel für seine These nennt Klumbies den von Paulus in Phil 2,6–11 aus der Tradition aufgenommenen Christushymnus, in den er in Phil 2,8b die Worte θανάτου δὲ σταυροῦ („…, ja bis zum Tod am Kreuz“)
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der Texte, in der wir den „Anspruch“ der Geschichte „auf uns anerkennen, daß sie uns Neues zu sagen hat“ (ders., Problem, 51). Siehe die bereits oben zitierte Bemerkung aus Bultmann, Theologie, 191f sowie ders., Geschichte und Eschatologie, 47–49. Demnach habe Paulus Geschichte und Eschatologie von der Anthropologie her interpretiert (s. dazu Bauspiess, Geschichte, 321f). Klumbies, Gott, 31. Ebd. Klumbies, Gott, 253. AaO., 237f. AaO., 238.
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Gott als Thema der Paulusforschung
hinzufüge und so eine „Herrlichkeitstheologie“ durchbreche und ihr „die Kreuzestheologie als die angemessene Redeweise von Christus entgegen“ halte.65 Ebenso weist er darauf hin, dass Paulus das Bekenntnis in 1Kor 8,6 mit einem ἡμῖν – „für uns“ – einleite, mit dem die Rede von dem „einen Gott“, der als „Vater“ und „Herr“ entfaltet wird, als „ein von der Soteriologie her konstituiertes Reden von Gott, das den Menschen unmittelbar in die Relation zu Gott stellt“, artikuliert werde, die wesentlich „für uns“ – die Glaubenden nämlich – (und nicht einfach „an sich“) Bedeutung hat.66 Die paulinische Rede von Gott sei demnach „wesentlich bestimmt durch das soteriologische Interesse des Paulus“67 , ohne dass Paulus damit die Rede von Gott mit der Rede vom Menschen einfach gleichsetze. Vielmehr rede er „von Gott unter dem Blickwinkel des dem Menschen zukommenden Heils“.68 Dem gegenüber seien die von Klumbies untersuchten jüdischen Schriften69 „geprägt von dem Versuch, an der Beziehung zwischen Gott und Mensch festzuhalten und gleichzeitig die Gottheit Gottes im Zentrum der theologischen Reflexion zu belassen“.70 „Die Beziehung zwischen Gott und Mensch“ werde „zwar als Postulat aufrecht erhalten“, trete in der Realität jedoch zurück.71 So erscheine die Entfernung zwischen Gott und Mensch in den jüdischen Texten hellenistisch-römischer Zeit „als schier endlos“72 . Diese Sicht einer zunehmenden Transzendentalisierung des jüdischen Gottesverständnisses im Judentum des Zweiten Tempels ist seitdem einer Kritik unterzogen worden. Das wird exemplarisch in den einleitenden Bemerkungen Peter Schäfers zu seinem Buch zum jüdischen Gottesverständnis in der Antike erkennbar. So sei etwa die Entstehung „binitarischer“ Vorstellungen innerhalb des Judentums, in denen „Engelwesen“ in die Nähe zu Gott gerückt werden, keineswegs einfach Ausdruck einer „Angelologie, die sich gewissermassen (sic!) als ,Pufferzone‘ zwischen die angebliche ,Ferne des immer transzendenter werdenden Gottes‘ und sein
65 Ebd. Zur exegetischen Kritik an dieser – in der älteren Forschung häufig vertretenen – These s. das Kapitel 8 dieser Arbeit. Die These wird auch im Blick auf die Auseinandersetzung mit den „Gegnern“ in Korinth vertreten (vgl. aaO., 241: „Als Reaktion auf eine überzogene enthusiastische Hochschätzung Christi und das Bewußtsein, in der Gemeinschaft mit ihm bereits einen Zustand der Vollendung erreicht zu haben, stellt Paulus den Korinthern eine dezidiert kreuzestheologisch begründete Theologie gegenüber.“). S. dazu das Kapitel 3 dieser Arbeit. Klumbies sieht demnach bei Paulus auch gegenüber der frühchristlichen Theologie eine soteriologische und kreuzestheologische Zuspitzung vorgenommen. 66 Klumbies, Gott, 238. Zur Bedeutung des ἡμῖν in 1Kor 8,6 s. das Kapitel 4 dieser Arbeit. 67 AaO., 240. 68 Ebd. 69 4Esr; SyrBar; Qumran; TestXII; JosAs; Eup; Artap; Ps-Hek; Josephus; Philo. 70 Klumbies, Gott, 243. 71 AaO., 244, vgl. 104–110. 72 AaO., 104.
Wer bestimmt wen? „Solus Deus“ (J. Flebbe)
irdisches Volk Israel schiebt“, zu verstehen.73 Klumbies’ These weist damit bereits voraus auf gegenwärtige Diskussionen zu „binitarischen“ Vorstellungen innerhalb des Frühjudentums, auf die noch zu sprechen zu kommen ist.74 Klumbies’ These lautet: Der für Paulus charakteristische „Gott in Beziehung“ ist der christologisch bestimmte Gott. So erklärt Klumbies: „Gott ist für Paulus die durch Christus Gestalt und Inhalt gewinnende Gottesbeziehung. Abseits dieser Beziehung ist nicht von Gott zu sprechen.“75 Wenn es aber „[e]rst vom Christusgeschehen her … möglich [sei], von Gott als von Gott zu reden“, führe „die Christologie zur Ausbildung einer eigenen Theo-logie“.76 Dass diese These im Rahmen einer von der New Perspective on Paul geprägten Paulus-Exegese nicht unwidersprochen geblieben ist, kann kaum überraschen, ist diese doch ganz wesentlich mit der Auffassung verbunden, dass Paulus gerade keinen „Religionswechsel“ vollzogen habe.77
6.
Wer bestimmt wen? „Solus Deus“ (J. Flebbe)
Eine scharfe Kritik an Klumbies’ These hat Jochen Flebbe in seiner 2008 erschienenen Untersuchung Solus Deus formuliert. Flebbe erklärt, dass die zentrale Stellung der Gottesfrage in der Paulus-Forschung so lange übersehen worden sei, sei „ganz offensichtlich aufgrund der Perspektive und des Vorverständnisses der Exegeten“ geschehen.78 Auch bei Flebbe steht das Verhältnis zwischen Theologie und Christologie im Mittelpunkt, obwohl er diese Konzentration selbst kritisch notiert.79 Das wird etwa in der auf den ersten Blick überraschenden Erklärung im Blick auf den Galaterbrief deutlich, dass dieser „keineswegs so christologisch bestimmt“ sei, „wie bisher angenommen“.80 Flebbe sieht dies aufgrund einer Reihe von Sätzen des Galaterbriefs, in denen ὁ θεός als das Subjekt des Heilshandelns genannt werde (Gal 1,1.6.15f; 3,8.17; 4,7), und weiterer Stellen, in denen Gott den Zielpunkt der Argumentation darstelle (Gal 1,24; 2,19; 3,26), als erwiesen an. Es steht einmal mehr der Vorwurf einer unsachgemäßen Voreingenommenheit im Raum, wenn Flebbe erklärt, dass „bei einer sich von einer christologischen Engführung lösenden Betrachtung“ Gott als „entscheidender Faktor in der paulinischen Argumentation
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Schäfer, Götter, 10. S. dazu das Kapitel 8 dieser Arbeit. Klumbies, Gott, 244. Ebd. So die Grundthese von Stendahl, Paul, 7–23 („Call rather than Conversion“). S. dazu das Kapitel 5 dieser Arbeit. 78 Flebbe, Solus Deus, 1. 79 AaO., 13 (s. o.). 80 AaO., 2f.
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Gott als Thema der Paulusforschung
… unabweisbar in den Blick“ komme.81 Mit der Unterstellung einer „christologischen Engführung“ wird Flebbe indes der Argumentation von Klumbies (und anderer Ausleger)82 nicht gerecht. Flebbe konstruiert vielmehr eine Alternative zwischen „Christozentrik“ und „Theozentrik“, die den weiteren Verlauf der Diskussion zu ihrem eigenen Nachteil bestimmt. Er wiederholt den charakteristischen Pauschalvorwurf einer „Voreingenommenheit“, der die Perspektivität einer jeden Textauslegung zu wenig berücksichtigt. Zudem unterläuft Flebbe eine hermeneutische Einsicht, die er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung durchaus zur Sprache bringt und von der aus deutlich sein sollte, dass der bloße Verweis auf das Wort θεός als Subjekt bzw. Zielpunkt einer Aussage für sich noch nicht aussagekräftig ist: Wenn jedes Wort seine Bedeutung in seinem Kontext erhält, dann sagt das bloße Vorkommen des Wortes θεός noch nichts aus. Die Fragen, die Flebbe bei seiner Auslegung des Römerbriefs leiten, sind: „Was ist alt und was ist neu bei der Rede von Gott? Wer bestimmt wen – Gott Christus oder Christus Gott?“83 Diese hier pointiert zugespitzte Fragestellung führt Flebbe sogleich aus: „Ist für Paulus Jesus Christus der hermeneutische Schlüssel für Gott, und kann ein unscharf erscheinender Gott Israels nur mit dieser ,Sehhilfe‘ allererst scharf erkannt werden – oder liefert umgekehrt Gott den hermeneutischen Rahmen, der nicht überschritten werden kann und aus dem heraus das Christusgeschehen vollumfänglich verständlich wird?“84
Es ist deutlich, dass Flebbe im Sinne der zuletzt genannten Option votiert. Gegen Klumbies’ Behauptung einer christologisch-soteriologisch neu bestimmten Theo-logie setzt Flebbe die These, dass Paulus „in einer so noch nicht dagewesenen Weise Konsequenzen aus dem nicht neubestimmten Gottesbild“85 ziehe. In Röm 4 und in Röm 11,25–31 brauche Paulus „nicht unbedingt Christus für diese radikale Zuspitzung des gemeinsamen, überkommenen Gottesbildes“86 . So bestimmt Flebbe Paulus – im Anschluss an Daniel Boyarin – als „radical Jew“.87 Mit Recht macht Flebbe darauf aufmerksam, dass die paulinische Rede von Gott in bestimmten lebensweltlichen Zusammenhängen steht, innerhalb derer sie – wie Moxnes herausgearbeitet habe – eine bestimmte Funktion hat.88 Diese Funktion
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AaO., 3. Flebbe nennt Frey, Galaterbrief, 196 (aaO., 2). Flebbe, Solus Deus, 3. Flebbe, aaO., 7. AaO., 448f (Hervorhebung von mir). AaO., 449. Ebd., vgl. Boyarin, Radical Jew. Zur Perspektive Boyarins s. Schäfer, Götter, 13f. Flebbe, Solus Deus, 13 (s. o.).
Wer bestimmt wen? „Solus Deus“ (J. Flebbe)
wird von Flebbe dahingehend benannt, „in der umstrittenen und darzulegenden Position von gemischtchristlichen Gemeinden, in denen sich Heiden und Juden ohne Unterschiede miteinander als Gerettete zur Ehre Gottes versammeln, Klarheit zu schaffen und die Einheit dieser Gemeinde über diese Differenzen hinweg zu sichern (15,7)“.89 Somit bestimmt Flebbe die Funktion der paulinischen Rede von Gott analog zu derjenigen Beschreibung, die Krister Stendahl als Wegbereiter der New Perspective on Paul für die paulinische Theologie gegeben hatte.90 Gegen eine christologische oder auch eine anthropologische Engführung hält Flebbe fest, dass die „Beschreibung der Wirklichkeit Gottes und seines Handelns – und nicht etwa von Person und Werk Jesu Christi oder das Wesen des Menschen“ – die „allesbestimmende Funktion in der Argumentation“ habe. „Aus dieser immer vorgängigen Wirklichkeit leitet sich alles andere ab“.91 Für diese Sicht lässt sich geltend machen, dass Paulus das Heilshandeln Gottes in Christus in Kontinuität zu seinem Heilshandeln an Israel versteht und dieses Heilshandeln deshalb anhand der Auslegung von Texten aus der Heiligen Schrift Israels entfaltet. Allerdings ist die Behauptung der Kontinuität dieses Heilshandelns zwischen dem entstehenden Christentum und dem Frühjudentum gerade strittig.92 Hier lässt sich historisch beobachten, wie sich zwei unterschiedliche Perspektiven voneinander abgrenzen. Hermeneutisch fragwürdig ist zudem die Beschreibung der paulinischen Argumentation als einer „Ableitung“ aus einer „vorgängigen Wirklichkeit“. Sie vermittelt den Eindruck, als sei „Gott“ gleichsam als interpretationsfreies „Faktum“ verstanden, aus dem unterschiedliche Interpretationen einfach „abgeleitet“ werden bzw. von denen aus auf eine gemeinsame, die einzelnen Interpretationen transzendierende Grundlage, die mit dem Wort „Gott“ bezeichnet wird, zurückgeführt werden könnten. Was Flebbe hier formuliert, erinnert an James D.G. Dunns Beschreibung von „God as axiom“ für die paulinische Theologie.93 Dass eine solche Beschreibung aus hermeneutischen
89 AaO., 449f. Notabene verweist Paulus in dem von Flebbe angeführten Vers Röm 15,7 darauf, dass die gegenseitige Annahme der Glaubenden untereinander, die zur Ehre Gottes geschieht, durch die Annahme, die durch Christus erfolgt ist, ihre Begründung findet. Gott als Subjekt des Handelns und Christus als Subjekt des Handelns können offensichtlich nicht in der Weise gegeneinander ausgespielt werden, wie Flebbe dies tut. 90 Nach Stendahl, Paul, 4 ist der Verweis des Paulus auf Gottes „mysterious plan“ [Röm 11,25: τὸ μυστήριον τοῦτο] „an affirmation of a God-willed coexistence between Judaism and Christianity“. 91 Flebbe, Solus Deus, 444. 92 Darauf hatte bereits Moxnes aufmerksam gemacht (s. o.). 93 Dunn, Theology, 28–31 („God as axiom“). Dunn erklärt (aaO., 28): „The problem for us, however, is that Paul’s convictions about God are all too axiomatic. Because they were axioms, Paul never made much effort to expound them. They belong to the foundations of his theology and so are largely hidden from view.“ Auch wenn Paulus möglicherweise einiges voraussetzt, so hat die Exegese doch keine andere Möglichkeit, als das Gottesverständnis des Paulus aus seinen Briefen zu erheben und nicht einfach (etwa aus dem Alten Testament erhobene Vorstellungen) als „Axiom“ zu setzen. Von
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Gott als Thema der Paulusforschung
und sprachtheoretischen Gründen nicht möglich ist, hatte Flebbe zum Eingang seiner Arbeit mit Recht allerding selbst notiert, wenn er erklärt: „Der Signifikant /Gott/ ist ein Substantiv, das nicht einen Referenten wie jedes andere Wort hat. Im Gegensatz zu anderen sprachlichen Ausdrücken ist Gott kein Gegenstand, der durch die Sprache bezeichnet wird. Wir finden also hinter dem Wort ,Gott‘ keinen Gegenstand, sondern nur neue und weitere Wörter, auf die bei dem Gebrauch des Wortes ,Gott‘ verwiesen wird.“94
Flebbe formuliert diese Einsicht speziell im Blick auf das Wort „Gott“ und macht damit – durchaus mit Recht – darauf aufmerksam, dass die Rede von Gott in besonderer Weise auf eine unter Menschen höchst strittige Realität verweist.95 Man wird aber doch hinzufügen müssen, dass die genannte sprachtheoretische Einsicht für jede Beschreibung der Wirklichkeit96 und insbesondere auch für den Bereich des – immer wieder als gleichsam „objektiven“ Raum angesehenen – Feldes der Geschichtsbetrachtung gilt.97 Mag Paulus den Bezug auf Gott auch als „vorgängig“ verstehen, so rekurriert er damit auf eine Wirklichkeit, die er mit seinen eigenen Worten im Horizont der ihm zugänglichen Tradition versteht und interpretiert. Wer „Gott“ ist und was von ihm inhaltlich zu sagen ist, das wird erst in diesem Interpretationsprozess gewonnen – und zwar in derselben Weise, in der dies auch für die Christologie und die Anthropologie gilt. Zudem ist auch Jesus Christus für Paulus gewissermaßen eine „vorgängige“– nämlich lebendige und gegenwärtige – Wirklichkeit. An dieser Stelle zeigt sich, wie eine solche Alternativstellung von
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dieser Voraussetzung aus bekommt die Beschreibung, die Dunn von der paulinischen Theologie gibt, einen spekulativen Charakter. Auch Schnelle, Paulus, 44 spricht von Gott als „Axiom“ des paulinischen Denkens, s. dazu Klumbies, Brisanz, 74–76. Flebbe, Solus Deus, 8. Rüpke, Pantheon, spricht in diesem Sinne immer wieder von den Göttern als „nicht unbestreitbar plausiblen Akteuren“ (aaO., 84 u. ö.). Auch bei allen anderen „Gegenständen“, von denen man sprechen kann, kann nicht einfach „hinter“ die Wörter auf den „Gegenstand“ rekurriert werden, da uns Wirklichkeit nicht anders als eben durch Sprache zugänglich ist (s. dazu Landmesser, Wahrheit, 100–103). Deshalb muss auch eine als „immer vorgängig“ verstandene Wirklichkeit in ihrem jeweils kontextgebundenen Zur-SpracheKommen interpretiert werden. S. dazu Bauspiess, Geschichte, 521–528. Trotz der immer wieder wiederholten Einsicht der „Konstruktivität“ der Geschichtsschreibung wird kaum wahrgenommen, dass sich daraus die Frage ergibt, auf welche Weise Wirklichkeit konstruiert wird, wenn sie als „Geschichte“ beschrieben wird. Die besondere Pointe etwa des „Narrativismus“ Hayden Whites besteht darin, dass gerade er Geschichte als „interpretationsfreies Faktum“ voraussetzen muss, dem erst die Geschichtsschreibung eine Bedeutung zuerkennt (vgl. aaO., 524 und die dort paraphrasierte Kritik von Chris Lorenz an Hayden White). Zum Problem s. auch Bauspiess, Pragmatik.
Christologische Präzisierung: Zum Gottesverständnis des Paulus (T. Jantsch)
Christologie und Theologie bereits an grundsätzlichen hermeneutischen Überlegungen scheitert. Erst wenn erörtert wird, was Paulus inhaltlich von Gott sagt, kann auch beschrieben werden, in welcher Weise der Apostel von einer Kontinuität zwischen dem Gott, der ihm in Christus begegnet ist, und dem Gott Israels redet. Der Zusammenhang mit Fragestellungen des jüdisch-christlichen und des interreligiösen Dialogs ist evident, wenn Flebbe am Ende seiner Arbeit formuliert, der Ausgangspunkt einer „Theologie im Konflikt“ bei „dem Einen Gott der ganzen Menschheit“ sei „der Ansatzpunkt für den interreligiösen – und interkonfessionellen – Dialog“,98 und Paulus attestiert, er löse „Konflikte in der Auffassung über Religiöses nicht christologisch, sondern theologisch“.99 Damit ist eine Alternative benannt, die die folgende Diskussion bestimmt: die Alternative von Christologie und Theologie.
7.
Christologische Präzisierung: Zum Gottesverständnis des Paulus (T. Jantsch)
In seiner 2011 erschienenen Studie zum Gottesverständnis des Paulus nimmt Torsten Jantsch die Grundthese von Flebbe auf und bringt sie auf den Begriff einer Alternative zwischen einer „theozentrischen“ und einer „christozentrischen“ Prägung der Rede von Gott.100 Neben der „existentialistische[n] Theologie Rudolf Bultmanns“ sei vor allem „die Überzeugung, dass die Theologie des Paulus christozentrisch geprägt ist“, für die Vernachlässigung des Themas „Gott“ in der Paulusforschung verantwortlich.101 Für die These einer „theozentrischen“ Prägung des paulinischen Denkens beruft sich Jantsch auf die 1965 publizierte Arbeit von Wilhelm Thüsing, der dies im Blick auf die paulinische Soteriologie nachgewiesen habe. Da die Soteriologie aber das zentrale Anliegen der paulinischen Theologie sei, ergebe „sich daraus die Vermutung, dass das gesamte Denken des Paulus theozentrisch angelegt ist“.102 „Theozentrik“ bestimmt Jantsch dabei mit den Worten: „Gott ist die Größe, von der die Argumentation ausgeht und zu der sie wieder zurückführt“.103 Als 98 Flebbe, Solus Deus, 457. Auf diesen Zusammenhang mit unserer Fragestellung weist bereits Klumbies, Gott, 250f hin (s. o.), vgl. auch Bachmann, „The New Perspective on Paul“, 34 (s. o.) sowie Klumbies, Brisanz, 78–83. Wie oben ausgeführt, ist diese perspektivische Kontextualisierung nicht grundsätzlich zu kritisieren, wohl aber so in der Interpretation wahrzunehmen, dass sie die Wahrnehmung der Texte nicht einengt. 99 Flebbe, Solus Deus, 457. 100 Von einer „pronounced Christocentricity“ in der Theologie des 19. Jahrhunderts hatte bereits Dahl, God, 155 gesprochen. 101 Jantsch, Gottesverständnis, 2. 102 AaO., 3. 103 AaO., 23. Ganz ähnlich Flebbe, Solus Deus, 2 (s. o.) im Blick auf den Galaterbrief.
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Gott als Thema der Paulusforschung
entscheidende Frage formuliert er, „als wer Gott in den paulinischen Briefen zur Sprache kommt“.104 Seine These arbeitet Jantsch ganz bewusst anhand der Exegese der frühesten paulinischen Briefe (1Thess; 1/2Kor) heraus, da sich nach der galatischen Krise und der Infragestellung der beschneidungsfreien Heidenmission „nicht nur der Ton der paulinischen Schreiben (insbesondere in Gal und Phil 3), sondern durch das starke Gewicht der Rechtfertigungs- und Gerechtigkeit-Gottes-Terminologie auch die Art und die Inhalte der Rede von Gott, die Paulus verwendet“, geändert hätten.105 Damit deutet Jantsch die in der Paulus-Forschung diskutierte Frage nach einer anhand der Briefe rekonstruierbaren Entwicklung der paulinischen Theologie106 an. Der Horizont, in dem sich die paulinische Rede von Gott bewege, sei „zum einen die Tradition, aus der sich die paulinische Rede von Gott speist“, dann aber auch „sein Damaskuserlebnis und der Bezug auf Erfahrungen des gegenwärtig und im Leben der Glaubenden handelnden Gottes“.107 Damit sind in der Tat entscheidende Aspekte für die paulinische Rede von Gott benannt. Im Ersten Thessalonicherbrief betone Paulus mit der Rede vom „lebendigen und wahren Gott“ (1Thess 1,9) „das Erbe des jüdischen Monotheismus“.108 Jantsch hebt hervor, dass Paulus den Glauben der Thessalonicher als „Glaube an Gott“ (1Thess 1,8) und damit „theozentrisch“ bestimme.109 Das im Ersten Thessalonicherbrief vorausgesetzte Gottesbild liege insgesamt – wie Jantsch in deutlicher Abgrenzung von Klumbies’ Kernthese sagt – „auf einer Linie mit dem jüdischen Reden von Gott.“110 Insofern Paulus aber seine Gottesverkündigung an die Geschichte von Jesus Christus binde, erhalte „das jüdische Gottesbild des Paulus eine Präzisierung durch das Christusgeschehen“111 , so dass nun „weder das Heil noch die von ihm verkündigte Gottesbotschaft ohne Bezug auf Jesus Christus gedacht werden“ könne.112 Jantsch unterstreicht damit, dass das Evangelium Gott als das Subjekt – als Anfang und Ziel – des Heilshandelns verkündige, das „in Tod und Auferweckung Jesu Christi“ begründet sei.113 Insofern sei gerade auch die
104 Jantsch, Gottesverständnis, 19. 105 AaO., 22f. 106 Zu dieser Frage s. Schnelle, Wandlungen; Lindemann, Paulus und die korinthische Eschatologie; Sänger, Adressaten; Theobald, Wandlungen; Landmesser, Entwicklung. 107 Jantsch, Gottesverständnis, 25. Zum „Damaskuserlebnis“ aaO., 26–29. Darauf werden wir in Kapitel 5 unserer Untersuchung näher eingehen. 108 AaO., 398. 109 AaO., 32.148 u. ö. 110 AaO., 398, vgl. 148f. 111 AaO., 398. 112 AaO., 399. 113 AaO., 155, vgl. 149f.
Christologische Präzisierung: Zum Gottesverständnis des Paulus (T. Jantsch)
Christologie „theozentrisch“ bestimmt.114 In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, was genau mit einer „Präzisierung“ oder auch „Spezifizierung“ der paulinischen Rede von Gott gemeint ist. Zuzustimmen ist Jantsch mit Sicherheit darin, dass sich die paulinische Rede von Gott nicht einfach in dem Sinne „auflöst“, dass er nur noch von Jesus Christus, aber nicht mehr von ὁ θεός sprechen würde. Gerade weil Paulus sich aber in seiner missionarischen Verkündigung auf diesen einen Gott bezieht, gerät er auch in Konflikte mit der jüdischen Gemeinde, die seine Theologie offensichtlich nicht als „christologische Präzisierung“ oder „radikalisiertes Judentum“ verstehen konnte. Dieser Konflikt deutet sich nicht erst im Galater- und im Römerbrief, sondern bereits im Ersten Thessalonicherbrief an (1Thess 2,14–16, vgl. Apg 17,1–9.13).115 Diese Beobachtung spricht gegen die These, dass Paulus „auf der Linie eines jüdischen Gottesverständnisses“ argumentiert. Es ist vielmehr der Anspruch, von dem einen Gott zu reden, der zum Konflikt führt. Würde die Christologie das Gottesverständnis praktisch unberührt lassen, dann wäre die Schärfe dieses Konflikts kaum erklärbar. Sie entzündet sich der Sache nach an der Behauptung des Paulus, dass es eben der Gott Israels ist, der im Tod und in der Auferweckung Jesu gehandelt hat. Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“, die auch bei Jantsch die Überlegungen beherrscht, scheint zur Beschreibung der paulinischen Theologie ungeeignet zu sein. Wenn von Gott
114 „Dadurch, dass nur in der Bezogenheit auf die das Handeln Gottes an Jesus Christus verkündende Botschaft des Evangeliums angemessen von Gott gesprochen werden kann, liegt die grundlegende Neuerung und der Zuwachs christlichen Redens von Gott gegenüber jüdischen Gottesbekenntnissen. Darin bleibt erkennbar, dass der Urheber des Heilsgeschehens Gott ist; die paulinische Christologie ist theozentrisch bestimmt, während andererseits die Theo-logie durch die Christologie spezifiziert wird, ohne in ihr aufgelöst zu werden.“ (AaO., 150). 115 Anders als in Apg 17,1–9 ist im Ersten Thessalonicherbrief nicht ausdrücklich von einem Konflikt mit einer Synagogengemeinde in Thessaloniki die Rede, wohl aber von einem entsprechenden Konflikt der Gemeinden in Judäa. Mit Recht weist Jantsch die seit Ferdinand Christian Baur vertretene These zurück, es könne sich bei 1Thess 2,14–16 um einen unpaulinischen Text bzw. um eine Interpolation handeln (aaO., 125–134). Hier begegnet noch einmal die Frage nach einer möglichen „Wandlung“ innerhalb des paulinischen Denkens. Theobald, Wandlungen, 506.511 erblickt gerade in der wachsenden Einsicht in die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels die entscheidende „Wandlung“ innerhalb des paulinischen Denkens – wenn von einer solchen zu reden wäre. Bei einem Vergleich von 1Thess 2,14–16 einerseits, Röm 9–11 andererseits ist freilich zu berücksichtigen, dass der erstgenannte Text sehr viel deutlicher situationsbezogen ist, während Paulus in Röm 9–11 grundsätzlich über die heilsgeschichtliche Stellung Israels nachdenkt. Beiden Briefen sind indes die Grundüberzeugungen gemeinsam, dass 1. der Gott Israels in Jesus Christus handelt und 2. das Heilshandeln Gottes unlöslich an Jesus Christus gebunden ist (1Thess 1,10; 4,14 u. ö.; Röm 10,9–13). Auch die in Röm 11,25ff beschriebene endzeitliche Errettung Israels geschieht durch den „Parusiechristus selbst“ (Theobald, aaO., 506). Insofern ist gegenüber Israel die Frage nach der ἐπίγνωσις dieses Gottes aufgeworfen (vgl. Röm 10,2). S. dazu die Kapitel 2 und 7 dieser Arbeit.
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Gott als Thema der Paulusforschung
nicht im Sinn einer abstrakten „Gotteslehre“ gesprochen werden kann, sondern von seinem konkret erfahrenen Heilshandeln am Menschen her geredet wird,116 dann verändert sich offensichtlich auch das Verständnis des Subjekts „Gott“, wenn dieses durch das Christusgeschehen näher bestimmt wird. Jantsch bekommt deutlicher, als dies bei Flebbe der Fall ist, in den Blick, wie die Christologie sich auf die Theo-logie auswirkt. Indem er sich aber Flebbes Opposition von „Christozentrik“ vs. „Theozentrik“ zu eigen macht, ergibt sich bei Jantsch die Gefahr, implizit eben doch ein „allgemeines“, d. h. abstraktes Gottesverständnis vorauszusetzen. Die Sachfrage, die mit der Frage nach der „Theozentrik“ und/oder der „Christozentrik“ aufgeworfen wird, besteht darin, in welcher Weise Theo-logie und Christologie bei Paulus aufeinander einwirken und sich gegenseitig in einem Verhältnis hermeneutischer Reziprozität bestimmen. Der bloße Verweis auf Gott als Subjekt des Heilshandelns genügt hierfür nicht. Indes argumentiert Jantsch auch im Blick auf den Ersten und den Zweiten Korintherbrief in diesem Sinne. Zu 1Kor 8,6 macht er noch einmal deutlich, dass nach Paulus „von Gott nicht angemessen ohne Bezug auf Jesus Christus gesprochen werden“ könne, ohne dass Paulus damit das jüdische Erbe des Monotheismus gefährdet sehe.117 Weshalb aber – so ist m. E. zu fragen – kann Paulus – gemeinsam mit der frühen Christenheit – den Glauben an Christus mit dem Glauben an den einen Gott zusammendenken, während es ein Großteil seiner jüdischen Volks- und Glaubensgenossen offensichtlich nicht kann? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich wohl ganz wesentlich daraus, was Paulus als die entscheidende Einsicht seiner Christus-Begegnung beschreibt.118 Dass Paulus auch dieses Ereignis in den Horizont der alttestamentlichen Rede von Gott stellt, wenn er in 2Kor 4,6 auf Gen 1,3 anspielt, bemerkt Jantsch mit Recht.119 In welchem Sinn aber lässt sich die Identität des Schöpfergottes mit dem in Christus handelnden Gott aussagen? Offensichtlich nur so, dass Paulus auch Gen 1,3 in einem ganz bestimmten Sinn versteht bzw. interpretiert. Dann aber bedeutet der Verweis auf den alttestamentlichen Horizont mehr und anderes als nur die Behauptung „auf einer Linie“ mit dem jüdischen Gottesglauben von Gott zu reden.120 Schließlich verweist Jantsch darauf, dass Paulus im Zweiten Korintherbrief (v. a. in 2Kor 2,14–7,4 und 2Kor 10–13) deutlich mache, „dass Gott die treibende und ermöglichende Kraft des paulinischen Dienstes ist“.121 Gerade diese Grundüberzeugung aber führt zu der Frage, wie dieser Gott inhaltlich zu fassen ist und wie er deshalb dann auch das konkrete Denken und Handeln des Paulus bestimmt. Gegenüber Klumbies
116 117 118 119 120 121
Das betont Jantsch mit Recht immer wieder, etwa Jantsch, Gottesverständnis, 21.30. AaO., 400. Vgl. Klumbies, Brisanz, 73. Jantsch, Gottesverständnis, 401. S. dazu das Kapitel 6 dieser Arbeit. Jantsch, Gottesverständnis, 401.
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
insistiert Jantsch indes zu Recht darauf, dass die These des Paulus einer Kontinuität des Heilshandelns Gottes an Israel und durch Jesus Christus auch an den Texten sachlich nachvollzogen werden muss. Inwiefern kann Paulus eine Kontinuität behaupten? In welchen Punkten knüpft er tatsächlich an die jüdische Tradition an und wo gestaltet er sie durch seine Interpretation faktisch so um, dass ihm die Texte der Hebräischen Bibel gleichsam zu neuen Texten werden?122 Das Thema „Theozentrik“ und „Christozentrik“ bestimmt die Diskussion indes nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Es ist bereits in den Diskussionen des 19. Jahrhunderts angelegt.123 Auch die bereits erwähnte Arbeit von Wilhelm Thüsing ist vor dem Hintergrund dieser Debatte zu verstehen.
8.
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
8.1
„Verdopplung des Glaubensobjekts“: Die These W. Boussets
Besonders prägnant ist die Alternative von Wilhelm Bousset in seinem Werk Kyrios Christos formuliert worden. Bousset geht von der Beobachtung aus, dass Paulus neben dem Glauben an Gott (1Thess 1,8) auch vom Glauben an Jesus Christus (Gal 2,16; 3,22.26; Röm 3,22.26; Phil 3,9; Phm 5) reden kann.124 Dadurch sieht er bei Paulus eine „Verdopplung des Glaubensobjekts“ vorgenommen.125 Die Tatsache, dass für Paulus die Person Jesus Christus „ganz in das Zentrum der religiösen Betrachtung“ rückt, stellt für Bousset eine „eigenartige Komplikation des Glaubensgedankens“ dar.126 Diese „Komplikation“ habe sich für Paulus durch die Übernahme „einer schon ausgeprägten Gemeindeüberzeugung“ ergeben.127 Aus der Erfahrung des Christus-Kultes habe Paulus eine „Vergeistigung“ der sich im Kult ausdrückenden gegenwärtigen Beziehung zu Jesus Christus vorgenommen:
122 Es ist sachgemäß, von den christlich rezipierten Texten der Hebräischen Bibel als „Altem Testament“ zu sprechen. Bewusst gehalten sollte dabei, dass es sich um eine christliche Bezeichnung handelt, die gerade die Zusammengehörigkeit des „Alten“ mit dem „Neuen“ Testament betont. 123 Vgl. den zusammenfassenden Überblick zur Diskussion des 19. Jahrhunderts bei Klumbies, Gott, 13–19. 124 Vgl. Landmesser, Wie Gott handelt, 224. 125 Bousset formuliert: „Das Glaubensobjekt hat sich dem Apostel in einer eigentümlichen Weise verdoppelt. Der Glaube ist für Paulus in demselben Sinn und in demselben Umfang Glaube an Christus Jesus wie an Gott.“ Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 179. 126 Ebd. 127 Ebd.
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Gott als Thema der Paulusforschung
„Ihm [sc. Paulus] vertieft und vergeistigt sich der Glaube … zu einer dauernden lebendigen Beziehung auf Gott, zu dem Zentrum alles religiösen Lebens. Die Person Jesu aber behält in diesen vertieften und vergeistigten Zusammenhängen ihre prinzipiell bedeutsame Stellung, die sie schon im einfachen Gemeindebekenntnis hatte. Nur daß sie hier noch in einem ganz anderen Sinne eine das persönliche Christenleben beherrschende und erfüllende lebendige Gegenwart wird.“128
Die „dauernde lebendige Beziehung auf Gott“ ist bei Paulus, wie Bousset richtig sieht, unlöslich mit der Person Jesu verbunden. Jesus Christus ist demnach für Paulus wie Gott selbst „eine das persönliche Christenleben beherrschende und erfüllende lebendige Gegenwart“. Anstatt dieser Beobachtung aber weiter nachzugehen und ihre Bedeutung für das damit implizierte Gottesverständnis des Paulus zu bedenken, nimmt Bousset an dieser Stelle eine ausdrücklich negative theologische Bewertung des „Nebeneinanders“ von Christusglaube und Gottesglaube vor und erklärt: „So begreiflich diese ganze Entwickelung [sic!] ist und so sehr sie sich mit einer immanenten Notwendigkeit zu vollziehen scheint, so bedeutet sie eben doch eine merkwürdige Komplizierung und Belastung derjenigen Einfachheit und Schlichtheit der Religion, die auf den Höhepunkten der alttestamentlichen Religion und im Evangelium Jesu zur Erscheinung kommt. Denn das Objekt des religiösen Glaubens wie der gottesdienstlichen Verehrung stellt sich nunmehr in einer eigentümlichen durchgängigen Verdopplung dar.“129
Es sind massive theo-logische (und religionsgeschichtliche) Voraussetzungen, die Bousset bei diesem Urteil bestimmen. Sie haben ihren berühmten Ausdruck in Adolf von Harnacks Diktum gefunden, dass „nicht der Sohn, sondern allein der Vater in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat“, gehöre.130 Erst nach Ostern wurde demnach der „Glaube an den Gott Israels … zum Glauben an Gott den Vater; zu ihm trat der Glaube an Jesus, den Christ (sic!) und den Sohn Gottes“.131 Diese Beschreibung zeigt, welche enorme Bedeutung die Forscher gerade Paulus
128 Ebd. 129 AaO., 180. 130 „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ Harnack, Wesen, 85. Zur Anknüpfung der Missionspredigt an die Verkündigung Jesu s. ders., Mission I, 39–48. Ebenso spricht Johannes Weiß davon, dass Jesus einen „reinen Monotheismus“ gepredigt habe (Weiss, Urchristentum, 365, zitiert bei Klumbies, Gott, 15). 131 Harnack, Dogmengeschichte, 19. Harnack fährt fort: „… sowie das Zeugnis von der Gabe des heiligen Geistes, d. h. des Geistes Gottes und Christi.“
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
für die Entwicklung einer Theo-logie auf der Grundlage des Christusbekenntnisses zuerkennen. Harnack erklärt: „Paulus ist der erste gewesen, der auf Grund des Todes und der Auferstehung Christi eine Theologie als Auseinandersetzung mit der alttestamentlichen Religion entwickelt und das Erlebte als eine neue Religion auf dem Grunde der alten dargestellt hat.“132
In diesem Zusammenhang aber, so Harnack weiter, habe Paulus „das Evangelium von seinem mütterlichen Boden los“ gerissen.133 Die Frage, welche Bedeutung die Bezeichnung Gottes als „Vater“ für das paulinische Gottesverständnis hat, ist von Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann mit Recht ins Zentrum der Überlegungen zur Rede von Gott bei Paulus gerückt worden.134 Konsequenterweise kritisiert Feldmeier an den Arbeiten von Klumbies und Richardson135 zur Rede von Gott bei Paulus, dass diese die Gottesprädikation πατήρ überhaupt nicht bzw. nur ungenügend berücksichtigten.136 Bei Bousset und Harnack wird sie indes geradezu als Alternative zum Glauben an Jesus als den „Sohn“ verstanden – jedenfalls im Blick auf die älteste, rekonstruierbare urchristliche Anschauung: Gott, der „Vater“ ist für sie der Gott Jesu, d. h. die Prädikation sagt für sie in erster Linie etwas über Jesu „Gottesverhältnis“ aus. Vorausgesetzt ist, wie bei Bousset deutlich wird, dass die „ursprüngliche“ Religion „einfach“ und „schlicht“ ist, während die Theologie des Paulus eine „Komplizierung“ und „Belastung“ bedeutet. Diese Voraussetzung ist nicht aus den Texten selbst heraus gewonnen und sie impliziert eine bestimmte – zu diskutierende – Sicht der ältesten Quellen von Jesus, die erst in einer kritischen Rekonstruktion gewonnen wird. In Kyrios Christos beruft sich Bousset ausdrücklich auf die Sicht des Markusevangeliums, wie sie William Wrede in seiner berühmten Abhandlung zum Messiasgeheimnis in den Evangelien von 1901 vorgelegt hatte.137 Ihre historische Pointe gewinnen die Ausführungen Wredes dadurch, dass er die im Markusevangelium herausgearbeiteten Motive des „Messiasgeheimnisses“ und des „Jüngerunverständnisses“ mit einer Anschauung verbindet, die er für die älteste Auffassung des Urchristentums hält, nämlich „der Gedanke, dass Jesus erst mit der Auferstehung zum Messias wird“.138
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Harnack, Dogmengeschichte, 21. Ebd. S. dazu unten. Richardson, God. Feldmeier, Monotheismus und Christologie, 310. Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 79f; Wrede, Messiasgeheimnis. Wrede, Messiasgeheimnis, 213.
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Diese Auffassung sieht Wrede in Apg 2,36,139 aber auch bei Paulus – in Röm 1,4 sowie in Phil 2,6ff – belegt. Wir begegnen hier einer Argumentation, die in der neueren Diskussion wiederholt wird. Demnach sind „Herrscherwürde und -macht“ Attribute, die die Messianität Jesu bzw. seine Gottessohnschaft ausmachen.140 Wenn Jesus diese aber erst mit der Auferstehung erhält, dann „wird er auch nach Paulus durch die Auferstehung etwas, was er als Mensch in keinem Sinne war“.141 Hier wird deutlich, wie eng die christologische Fragestellung mit der theo-logischen Frage verbunden ist.142 Denn wenn die Menschwerdung des Gottessohnes, wie sie der Christushymnus in Phil 2,6–11 beschreibt, als Aufgabe seiner „Gottheit“ verstanden wird143 und demgegenüber die Auferstehung als die Erlangung eines ontologischen Status, den Jesus vorher noch nicht hatte, dann lässt die Christologie die Gotteslehre letzten Endes unberührt: Das Gottesverständnis wird dann nicht von der Geschichte aus, die hier erzählt wird, bestimmt, sondern es wird vorausgesetzt. Die Rede von einer „Gottheit“ Jesu Christi wird dann aber notwendig abstrakt und unverständlich. Was mit dem Begriff der „Gottheit“ Jesu Christi gemeint ist, ist nur dann verständlich, wenn damit auch etwas über Gott ausgesagt wird, wenn die Sicht auf Gott durch die Begegnung mit Jesus geprägt wird. Im Blick auf Bousset lässt sich feststellen: Er setzt in seinen Ausführungen eine eigene (nämlich „liberal-protestantische“) Gottesvorstellung voraus, die ihm zum Kriterium wird, von dem aus er die Gottesvorstellung des Paulus als „verkompliziert“ beurteilt. Vor diesem Hintergrund beschreibt Bousset mit spürbarer Reserviertheit, wie Paulus in 1Kor 8,5f das Bekenntnis zu Gott und zu Jesus Christus entfaltet. Durchgängig sei Paulus bemüht, die beiden Größen θεός (πατήρ) und Jesus (κύριος) „auseinanderzuhalten“144 . So stelle er in 1Kor 8,5f „das Bekenntnis zu dem einen Gott und dem einen Herrn der Christen dem Glauben der Heiden an die vielen Götter gegenüber […]“.145 Bousset kommentiert:
139 AaO., 214: „Petrus sagt in seiner Pfingstpredigt (Act. 2,36), dass Gott den Jesus, den die Juden kreuzigten, zum Herrn und zum Christus gemacht habe; hinzugedacht ist dabei: durch die Auferweckung. Dies Wort würde ganz allein beweisen, dass es im Urchristentum eine Anschauung gegeben hat, nach der Jesus in seinem irdischen Leben nicht der Messias war.“ Dass sich diese – für den weiteren Verlauf der Forschung folgenreiche – Auffassung m. E. nicht aus Apg 2,36 ergibt, habe ich dargelegt: Bauspiess, Geschichte, 432–459, vgl. ders. No quest, 148f. S. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit. 140 Wrede, Messiasgeheimnis, 214; vgl. Vollenweider, „Raub“, 428: „Gottesname, Weltherrschaft und kultische Verehrung“ machen „antik-jüdischem Verständnis zufolge das Gottsein überhaupt erst aus“. 141 Wrede, Messiasgeheimnis, 215. 142 S. dazu das Kapitel 8 dieser Arbeit. 143 Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis, 215. 144 Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 180. 145 Ebd.
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
„Er [sc. Paulus] scheint dabei doch eben von der Empfindung auszugehen, daß die vielen ,Herren‘ auch nach heidnischem Empfinden eine untergeordnete Stellung einnehmen gegenüber der Klasse der θεοί. Damit würde freilich von neuem deutlich werden, auf wie gefährlichen Bahnen sich diese Überlegungen des Paulus bewegen. Denn sie laufen schließlich darauf hinaus, Christus als göttliches Wesen doch um eine Stufe unter Gott, wenn wir es einmal vergröbern wollen, als Halbgott, erscheinen zu lassen.“146
Die Irritation, die die christologische Fassung des monotheistischen Bekenntnisses in 1Kor 8,6 für den liberalen Theologen Bousset bedeutet, ist hier mit Händen zu greifen. Die Frage muss erlaubt sein, ob tatsächlich Paulus sich an dieser Stelle auf „gefährliche Bahnen“ begibt oder ob hier nicht ein Gottesverständnis vorausgesetzt wird, von dem aus die paulinische Rede von Gott gar nicht mehr angemessen wahrgenommen werden kann. Die Pointe von 1Kor 8,6 besteht ja gerade darin, dass Paulus den Glauben an den einen Gott mit dem Glauben an den „Herrn Jesus Christus“ verbindet und in diesem Sinne eine „christologische Entfaltung“ bzw. eine „christologische Neuinterpretation“ des monotheistischen Glaubensbekenntnisses Israels bietet.147 Bousset indes behauptet einen Widerspruch bei Paulus, wenn dieser Christus als „göttliches Wesen“ verstehe, ihn aber „doch um eine Stufe unter Gott“ und damit „als Halbgott“ darstelle.148 Hier machen sich nach Boussets Auffassung pagan-religiöse Einflüsse der syrischen und ägyptischen Religion mit ihrer Vorstellung von „Göttersöhnen“ bemerkbar,149 die zu dieser ungewöhnlichen Vorstellung über die Person Jesu geführt hätten. Bousset handelt der Paulus-Forschung damit ein Problem ein, das sie bis in heutige Entwürfe hinein bestimmt: Da die Zuordnung von Christologie und Theologie nicht gelingt, bleibt die Rede von Gott als bloße „allgemeine“ Voraussetzung stehen und eine inhaltliche Profilierung der Gotteslehre findet auf diese Weise nicht statt. Es ist jenes Problem, das Andreas Lindemann benannt hat (s. o.). Ausgehend von den Prämissen der liberalen Theologie hat bekanntlich Rudolf Bultmann als das Kardinalproblem der neutestamentlichen Theologie die Frage benannt, „wie der Verkündiger zum Verkündigten geworden sei“.150 Für Bultmann aber ist, wie für die historisch-kritische Theologie vor ihm, die Frage des in der
146 Ebd. 147 So die treffenden Formulierungen bei Landmesser, Gott denken, 222, s. dazu die Untersuchung von Hofius, Einer. Zur Auslegung von 1Kor 8,6 s. das Kapitel 4 dieser Arbeit. 148 Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 180 (das obige Zitat). 149 AaO., 182. Kritisch dazu Hurtado, Jesusverehrung, 274 (s. u.). 150 Bultmann, Theologie, 35: „Er, früher der Träger der Botschaft, ist jetzt selbst in die Botschaft einbezogen worden, ist ihr wesentlicher Inhalt. Aus dem Verkündiger ist der Verkündigte geworden – aber in welchem Sinne? das [sic!] ist die entscheidende Frage!“
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Verkündigung Jesu wirksamen „Gottesgedankens“ implizit leitend.151 Es lässt sich aber fragen, ob dieser Ausgangspunkt im Blick auf das Gottesverständnis des Paulus überhaupt sachgemäß ist. Lässt sich das „Gottesverständnis“ Jesu für Paulus unabhängig von der Frage der Gegenwart Gottes in Jesus überhaupt ermitteln? Anders gefragt: Lässt sich der „irdische Jesus“ für Paulus überhaupt vom „geglaubten Christus“ unterscheiden? Es stellt sich die Aufgabe, herauszuarbeiten, in welchem Sinne Paulus durch seine Christus-Begegnung einerseits, durch die Konfrontation mit der frühchristlichen Verkündigung andererseits das Verständnis, das er als Jude von Gott hat, bestätigt sieht und inwiefern es Modifikationen erfährt. Und es stellt sich die Frage, inwiefern sein neues Verständnis der Christologie auf sein Gottesverständnis Einfluss hat. Bousset berührt indes in seinen Ausführungen gleichsam en passant einen wichtigen Aspekt, der in der neueren Diskussion wieder an Bedeutung gewonnen hat, wenn er von der „dauernden lebendigen Beziehung“ spricht, die der Glaubende nach Paulus zu Gott und zu Jesus Christus habe. Adolf Deissmann152 hat diesen Aspekt auf das Thema der „Christozentrik“ der paulinischen Theologie bezogen und erklärt: „Daß die Paulusfrömmigkeit christozentrisch sei, ist wohl allgemein zugestanden; aber wie verschieden denkt man sich das christozentrische PaulusChristentum!“153 Deissmann unterscheidet zwischen dem „Christologischen“ und dem „Christozentrischen“. Die „Paulusfrömmigkeit“ sei „christozentrisch in einem viel tieferen und viel realistischeren Sinn: sie ist nicht zunächst eine Lehre von Christus, sie ist eine Christus- ,Gemeinschaft‘.“154 Gegen die damit verbundene „mystische“ Interpretation der paulinischen Theologie hat Rudolf Bultmann in seiner Besprechung des Buches von Deissmann Einspruch erhoben, da die Wendungen, die die Zugehörigkeit zu Jesus zur Sprache bringen, nicht mystisch, sondern eschatologisch zu interpretieren seien.155 Deissmann formuliert in diesem Zusammenhang allerdings einen wichtigen Gedanken:
151 Bultmann, Theologie, 22–26. Dass die Auffassung, für Bultmanns Verständnis der neutestamentlichen Theologie spiele der historische Jesus keine Rolle („no quest for the historical Jesus“), nicht zutreffend ist, habe ich erläutert in Bauspiess, No quest. Es sind vielmehr die bei Wrede, Bousset und von Harnack gelegten Spuren, in denen Bultmann sich bei seinem Verständnis des historischen Jesus bewegt. 152 Zur Bedeutung Adolf Deissmanns s. Breytenbach/Markschies (Hg.), Deissmann. 153 Deissmann, Paulus (1911), 84. 154 Ebd. 155 Bultmann, Rez. Deißmann (zur 2. Auflage), 149: „So wenig in Wahrheit der Christusglaube des Paulus eine mystisch-pneumatische Gemeinschaft mit Christus bedeutet, so wenig weisen darauf die S. 127 aufgezählten Wendungen wie Christusliebe, Christusfriede etc. Der Genitiv Χριστοῦ bringt vielmehr jeweils die eschatologische Bestimmtheit des Begriffs zum Ausdruck.“
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
„Christus ist für Paulus nicht eine Person der Vergangenheit, mit der er nur durch Betrachtung seiner überlieferten Worte verkehrt, nicht eine ,historische‘ Größe, sondern eine Realität und Macht der Gegenwart, eine ,Energie‘, deren Lebenskräfte täglich in ihm selbst sich auswirken.“156
In diesem Sinne versteht Deissmann „Christozentrik“: nicht als „Lehre von Christus“, sondern als Beziehung zum gegenwärtigen Christus. Diese Beziehung findet ihren Ausdruck im Kult, in dem Jesus faktisch die Rolle einnimmt, die eigentlich nur Gott zukommt. Bultmann hingegen kritisiert diese Deutung vom Kult her und setzt ihr sein Verständnis eines gegenwärtigen Bezugs zur Geschichte (und damit auch zur Person Jesu) entgegen, die durch die existentiale Interpretation herauszuarbeiten ist.157 Er kritisiert an Deissmann, bei ihm sei „Paulus in erster Linie kein Theologe, sondern ein Heros der Frömmigkeit“.158 Für Bultmann ist die Frage, wie die gegenwärtige Beziehung zu Christus beschrieben werden kann, eine allgemeine hermeneutische Frage, während Deissmann auf die Besonderheit der Christusbeziehung als einer gegenwärtigen Beziehung der Glaubenden aufmerksam macht. Die dabei vorgenommene Entgegensetzung von Religion und Theologie wird uns in der neueren Diskussion noch einmal begegnen. In der Paulus-Forschung hat der bei Bousset und Deissmann bereits begegnende und dann schließlich von Albert Schweitzer prominent vertretene Gedanke einer „Christusmystik“ bei Paulus159 im Sinne einer gegenwärtigen „Teilhabe“ an Christus durch Ed Parish Sanders eine gewisse Wiederaufnahme erfahren. So hat Sanders die Kategorie der „Partizipation“ in der Paulus-Forschung wieder zur Geltung gebracht.160 Sie begegnet auch in der 2003 erschienenen Paulus-Darstellung von Udo Schnelle, der „Transformation und Partizipation als Grundmodell paulinischer Christologie“ beschreibt.161 Und auch Gerd Theißen hat das Thema „Paulus und
156 Deissmann, Paulus (1911), 84. 157 Bultmann, Rez. Deissmann (2. Auflage), 152: „Es ist freilich anzuerkennen, daß der Verf. ganz richtig gesehen hat, daß das Verhältnis des Christentums zu seiner Geschichte nicht das eines wissenschaftlich vermittelten Wissens ist. Aber es ist doch ein großer Irrtum, daß nach der Meinung des christlichen Glaubens, bezw. [sic!] des Paulus, die Gegenwart der Heilsgeschichte eine durch das kultische Erleben Hervorgebrachte sei. Freilich bedürfte es einer genaueren Analyse des Glaubensbegriffs, um zu zeigen, inwiefern eine bestimmte Vergangenheit, eben die als Heilsgeschichte bezeichnete, für den Glauben Gegenwart ist.“ 158 AaO., 148. Damit setzt Bultmann sich von der Religionsgeschichtlichen Schule ab, vgl. ders., Art. Paulus, 1026, wo Bultmann es ablehnt, die Theologie des Paulus von seiner Persönlichkeit aus zu verstehen. 159 Schweitzer, Mystik. 160 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 480–487; s. dazu von Bendemann, Christusgemeinschaft – Christusmystik, 306; Theissen, Mystik, 280. 161 Schnelle, Paulus, 463, vgl. Wolter, Paulus, 227–259.
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Gott als Thema der Paulusforschung
die Mystik“ erneut aufgegriffen.162 Es stellt sich die Frage, wie Gott im Leben eines Menschen als gegenwärtig erfahren werden kann und wie der Glaube an Gott das Leben eines Menschen konkret bestimmt. Ingolf U. Dalferth weist mit Recht darauf hin, dass es eine Aufgabe der Theologie ist, von Gottes Gegenwart zu reden.163 Nach Dalferth ist „Jesus … der Exeget der Gegenwart Gottes, Gott der Exeget der Gegenwart der Menschen“.164 Trifft diese Beschreibung aber die Vorstellung des Paulus? Seine Briefe lassen m. E. in der Tat erkennen, dass das Denken des Apostels von der erfahrenen Gegenwart Gottes her geprägt ist. Wie diese Gegenwart erfahren und gedacht wird, gilt es in der Auslegung zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage, wie Paulus den Gedanken der Gegenwart Gottes mit dem Gedanken der Gegenwart Jesu Christi verbindet. Damit ist der Untersuchung ein entschieden anderer Weg gewiesen, als dies mit der Alternativstellung von „Christozentrik“ und „Theozentrik“ geschieht. Man kann allerdings fragen, ob die Arbeit von Wilhelm Thüsing, auf die man sich dafür beruft, zwangsläufig auf diese Alternative hinausläuft. 8.2
Per Christum in Deum (W. Thüsing)
Während bereits die älteren Ansätze im Gefolge Boussets und ebenso die neueren Ansätze von Flebbe und Jantsch „Theozentrik“ und „Christozentrik“ als Alternative ansehen, liegt die Stärke von Thüsings Ansatz gerade darin, beide Aspekte aufeinander zu beziehen. Denn seine Untersuchung widmet sich der Frage, „in welchem Grade … es dem Apostel“ gelinge, „beides – Theozentrik und Christozentrik – als Einheit zu sehen“.165 Den Titel seiner Arbeit – Per Christum in Deum – entnimmt Thüsing 1Kor 8,6, da diese Stelle besonders gut geeignet sei, „die gesamte paulinische, durch Christus hergestellte Christozentrik auszudrücken“.166 Gleichzeitig finden sich in diesem Text die beiden „Linien“, mit denen Thüsing, „Theozentrik“ beschreibt:
162 Theissen, Mystik, vgl. Meier, Mystik. 163 So beschreibt Dalferth, Wirkendes Wort, XXI die Entwicklung der wissenschaftlichen Theologie seit dem 19. Jahrhundert mit den Worten: „Die reformatorische Orientierung an Gottes schöpferischer Gegenwart in seinem Wort und Geist wurde ersetzt durch die historische Beschäftigung mit Gottesvorstellungen aus Vergangenheit und Gegenwart (religiöses Bewusstsein, Religionsgeschichte) und die begriffliche Auseinandersetzung mit Gottesideen religiöser, theologischer und philosophischer Provenienz (religiöse Ideen, Religionsphilosophie). […] Die protestantische Theologie der Neuzeit verlor damit weithin das Thema ihrer reformatorischen Anfänge aus den Augen: Gottes wirksame Gegenwart im Leben seiner Schöpfung.“ 164 Dalferth, aaO., 54. 165 Thüsing, Per Christum in Deum, 3. 166 AaO. Zur Auslegung von 1Kor 8,6 s. das Kapitel 4 dieser Arbeit.
Die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“
„Sie umfaßt sowohl die absteigende Linie von Gott zur Welt und zu den Erwählten (vgl. 1Kor 8,6 ἐξ οὗ τὰ πάντα) als auch die aufsteigende Linie auf Gott hin (vgl. 1Kor 8,6 ἡμεῖς εἰς αὐτόν). Bei der ,absteigenden‘ Linie ist Gott als Ursprung, bei der ,aufsteigenden‘ als Ziel gesehen.“167
„Christozentrik“ hingegen meine „die Bindung des Christen an Christus, durch die Christus zum Mittelpunkt des christlichen Lebens wird“.168 Es erinnert an Deissmanns Bestimmung von „Christozentrik“, wenn Thüsing festhält, dass es sich dabei „um die Bindung an den erhöhten Herrn“ handelt.169 Es sei dabei gerade entscheidend, dass „auch der auferweckte Christus (und nicht nur der irdische) ,theozentrisch‘ gesehen wird“.170 Insofern geht es hier gerade um die Kontinuität zwischen dem irdischen und dem auferweckten Jesus.171 Das Verhältnis der „Unterordnung“ Jesu unter Gott sieht Thüsing, deshalb angemessen mit dem Begriff der „Hinordnung“ bezeichnet. Die Christozentrik sei auf Gott „hingeordnet“ und in diesem Sinne „theozentrisch“.172 Mit der „Christozentrik“ ist eine Ausrichtung der Glaubenden auf Gott hin verbunden. In diesem Zusammenhang ist für Thüsing, die Vorstellung Christi als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (2Kor 4,4, vgl. Kol 1,15) entscheidend, die er mit dem Gedanken der „Gottebenbildlichkeit“ verbindet: „Der Christ kann nur dadurch im vollen Sinne ,gottebenbildlich‘ werden, also zu dem Ziel gelangen, für das Gott ihn letztlich bestimmt hat, wenn er teilnimmt an der Bildgestalt des Sohnes Gottes – wenn er ,mitgestaltet‘ ist mit der Eikon Gottes“.173 Dieses ,Mitgestaltet-Sein‘ bedeute nun aber nicht: „wie eine Statue nach einem Modell gemeißelt sein, sondern: verbunden sein mit einer lebendigen Wirklichkeit“.174 167 168 169 170 171
AaO., 3. AaO., 4. Ebd. Thüsing, Gottesbild, 64. „[M]it anderen Worten: ob die ,Haltung‘ des auferweckten Jesus als Bleibendheit der ,Glaubens-‘ und Gehorsamshaltung des irdischen Jesus zu erkennen ist.“ (Ebd.) Die Argumentation ist nicht ganz frei von Spannungen, wenn Thüsing erklärt „Jesus ist auch als der Auferweckte im NT als wirklicher Mensch gesehen, d. h. (im transzendentalen Verständnis) als der auf das absolute Geheimnis hin Geöffnete und als derjenige, der von dem absoluten Geheimnis das empfängt, was er weitergeben soll. Das ist kein Widerspruch zu der durch die Auferweckung auf einer neuen Ebene gegebenen Einheit Jesu mit Gott (seiner ,Göttlichkeit‘).“ Das hört sich an, als sei Jesu „Göttlichkeit“ erst mit seiner Auferweckung gegeben. Dies ist aber – wie insbesondere zu Röm 1,3f zu zeigen ist – nicht der Fall, s. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit. In Per Christum in Deum weist Thüsing die These, nach Röm 1,3f sei Jesus erst mit seiner Auferstehung „Sohn Gottes“ geworden, mit Recht als „Mißverständnis“ zurück (ders., Per Christum in Deum, 259). Zu seinem Verständnis der „Rückfrage“ nach dem „Jesus der Geschichte“ s. ders., Gottesbild, 75–82. 172 Thüsing, Per Christum in Deum, 258. 173 AaO., 125. 174 AaO., 122.
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Thüsing, erläutert: „Der Gedanke der Partizipation steht im Vordergrund der Aussage, die Vorstellung der Angleichung erst in zweiter Linie, und zwar vermittelt durch die Partizipation.“175 Hier zeigt sich, wie eng die Themen der Theo-, der Christo- und der Anthropologie miteinander verbunden sind, was sich insbesondere an dem – sowohl auf Gott als auch auf den Menschen bezogenen – Begriff der δόξα zeigt.176 Durch den Aufweis des „theozentrischen“ Charakters der Christologie und der Soteriologie des Paulus gelingt es Thüsing, auch, die Frage nach der Kontinuität von Altem und Neuem Testament zu beantworten. Wie später Flebbe, spricht bereits Thüsing, von einer „Radikalisierung“ des alttestamentlichen Glaubens durch den Christusglauben, betont dabei allerdings auch das Neue, das in Jesus Christus selbst besteht: „Der Christusglaube ist nicht Minderung, sondern qualitativ neue Radikalisierung des alttestamentlichen Jahwe-Monotheismus“.177 Ausdrücklich weist Thüsing die These Boussets zurück: „Die Meinung Boussets, bei Paulus liege eine Komplizierung des einfachen alttestamentlichen Verhältnisses zu Gott vor, wird entkräftet durch die Einfachheit der theologischen Linienführung, wie sie vor allem im paulinischen Sohn-Gottes- und Eikon-Begriff und – damit eng zusammenhängend – durch den Gedanken des Pneuma-Lebens für Gott gegeben ist.“178
Indem Thüsing, „Theozentrik“ und „Christozentrik“ aufeinander bezieht, überwindet er gerade eine Alternative, die heute wieder aufgemacht wird. Mit Recht formuliert er dabei auch eine Skepsis gegenüber dem Ansatzpunkt für die Frage nach der Kontinuität von alt- und neutestamentlichem Gottesglauben beim (rekonstruierten) „Gottesbegriff Jesu“.179 Dieser Ansatzpunkt – so wird man hinzufügen dürfen – muss zwangsläufig zu einer Diastase zwischen „zwei Glaubensweisen“180 führen, weil man einen „unchristologischen“ Gottesbegriff vorausgesetzt hat, zu
175 Ebd. 176 Dazu ist die Auseinandersetzung, die Thüsing, aaO., 132 mit Jervell, Imago Dei führt, aufschlussreich, s. dazu das Kapitel 3 dieser Arbeit. 177 Thüsing, Gottesbild, 82. Auch Frankemölle, Frühjudentum, 221 spricht von einer „Radikalisierung des jüdischen Monotheismus“ im Selbstverständnis der frühchristlichen Theologie. 178 Thüsing, Per Christum in Deum, 260f. 179 „[D]en Gottesbegriff Jesu könnte man auch mißverstehen und in den des Judentums nivellieren“ (Thüsing, Gottesbild, 60), und kurz darauf: „Ich halte es für eine mindestens potentielle Umgehung des eigentlichen Problems, wenn man sich auf die Frage des Gottesverhältnisses des historischen Jesus beschränkt.“ (aaO., 62). 180 So der Titel des Buches von Martin Buber (Buber, Zwei Glaubensweisen), in dem dieser „Emuna“ – als „Vertrauensverhältnis“ – und „Pistis“ – als „Anerkennungsverhältnis“ einander gegenüberstellt (vgl. Thüsing, Gottesbild, 61).
Theologie und Gottesdienst (W. Schrage und L. Hurtado)
dem man dann nachträglich die neutestamentliche Christologie ins Verhältnis setzen möchte. Ob Thüsing, diesen Ansatz selbst konsequent durchführt, bleibt m. E. allerdings fraglich. So stellt sich die Frage, ob die Begriffe der „Theozentrik“ und der „Christozentrik“ überhaupt geeignet sind, um die Sachfrage nach der inhaltlichen Bestimmtheit der Rede von Gott zu bearbeiten.181 Entscheidend ist, dass Theologie und Christologie nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, wenn man die Eigenheit der paulinischen Rede von Gott verstehen möchte. Vielmehr sind beide aufeinander zu beziehen.
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Theologie und Gottesdienst (W. Schrage und L. Hurtado)
Die Frage nach dem Gottesverständnis des Paulus ist in der Diskussion eng mit dem Verständnis der frühchristlichen und der in den Paulusbriefen greifbar werdenden Christologie verbunden. Neue Impulse hat die Debatte durch die Arbeiten von Larry W. Hurtado erhalten, der den bei Bousset und Deissmann bereits sichtbar gewordenen Anknüpfungspunkt beim frühchristlichen Gottesdienst wieder neu in die Diskussion gebracht hat. In seiner 2002 erschienenen Untersuchung zum Monotheismus des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Tradition hat Wolfgang Schrage bereits die Auseinandersetzung mit Hurtado gesucht, der seine eigene Sicht in seinem ein Jahr später erschienenen Werk Lord Jesus Christ umfassend dargestellt hat. Da in dieser Diskussion Schrages mit Hurtado charakteristische Argumente aufgerufen werden, kann sie die Sachproblematik exemplarisch verdeutlichen. Schrage macht sich die Rede einer „Christozentrik und Theozentrik bei Paulus“ ausdrücklich zu eigen182 und setzt sich zunächst auch mit Klumbies kritisch auseinander.183 Er kritisiert dessen Argument, dass es bei Paulus „streng genommen zwei ,Götter‘“ gäbe, wenn sich bei ihm ein „Überschuß über das christologisch definierte Gottesverständnis hinaus“ beobachten ließe.184 Kritisch wendet Schrage dagegen ein, dass Paulus dabei „als ein systematisch kohärent denkender Theologe mit fertigen Ergebnissen aufgefaßt“ werde, während er doch „eher noch auf der Suche nach dem rechten Verhältnis von Christologie und Theologie gewesen zu sein scheint“.185 Deshalb lehnt Schrage auch die Frage, ob die Rede von Gott den Rahmen für die Rede von Christus abgebe oder aber, ob „umgekehrt die Christologie die Rede von
181 Vgl. dazu auch die Darstellung der „Theozentrik“ des Paulus bei Frankemölle, Frühjudentum, 286–289. 182 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 135–184. 183 Klumbies nimmt in seiner Arbeit seinerseits bereits auf Schrage Bezug (Klumbies, Gott, 24–26). 184 Klumbies, Gott, 31. 185 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 137.
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Gott“ konstituiere, als eine unsachgemäße alternative Zuspitzung ab.186 Immer wieder betont Schrage, dass der Monotheismus für Paulus unangetastet bleibe und die „Theozentrik“ in diesem Sinne auch „im frühen Christentum nie ein Gegenstand innerchristlicher Kontroversen gewesen“ sei.187 Unter „Theozentrik“ versteht Schrage demnach offensichtlich die Tatsache, dass die Rede von Gott durch die Rede von Christus nicht einfach ersetzt wird. So könne nach Paulus zwar einerseits „von Gott nicht gesprochen“ werden, „ohne daß zugleich von Jesus Christus gesprochen wird“,188 dies bedeute aber auch umgekehrt, dass von Jesus Christus nur dann sachgemäß gesprochen werde, „wenn dabei zugleich von Gott gesprochen und seine Gottheit dadurch nicht geschmälert wird“.189 So dürfe der Zusammenhang der Rede von Gott und der Rede von Christus „im Sinne des Paulus nicht so verstanden werden, daß die Theologie mit der Christologie zusammenfällt.“190 Damit wendet sich Schrage auch gegen Boussets These einer „Verdopplung“ des Glaubensgegenstandes, wenn er formuliert: „Christus dupliziert nicht den einen Gott und macht ihn schon gar nicht überflüssig und entbehrlich, sondern er macht ihn dem christlichen Glauben notwendig und eindeutig.“191 Da aber auch Schrage die Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“ übernimmt, verfolgt er die Frage, wie die „Notwendigkeit“ und „Eindeutigkeit“ der Rede von Gott in Christus genau zu verstehen ist, nicht weiter, sondern kreist immer wieder um das Problem der „Relation [Christi] zu Gott“.192 Bemerkenswert ist, dass Klumbies den älteren Arbeiten von Schrage bereits dasselbe Problem wie Bousset (und Weiß) attestiert hatte: „Beide, die ältere Forschung wie Schrage, gehen von zwei festen Begriffen – Gott und Christus – aus, die es in ein Verhältnis zu setzen gilt. Problematisch ist dabei der Gottesbegriff. Er erscheint als eine vorgängige Größe, die nachträglich ihre inhaltliche Bestimmung bzw. Konkretion über Christus erhält.“193
Der Eindruck, den Klumbies hier schildert, bestätigt sich auch bei der Lektüre der späteren Monographie Schrages zum Thema. So wird der Ausgangspunkt eben nicht bei der inhaltlichen Bestimmung des Gottesverständnisses gesucht, sondern
186 AaO., 137f mit Zitat Klumbies, Gott, 32. Sachlich wäre diese Kritik aber vor allem gegen die Arbeit von Flebbe, Solus Deus zu richten (s. o.). 187 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 136. 188 AaO., 135. 189 AaO., 136. 190 AaO., 139. 191 AaO., 145. 192 AaO., 146. 193 Klumbies, Gott, 26.
Theologie und Gottesdienst (W. Schrage und L. Hurtado)
bei den „Mittlergestalten“, die es im Alten Testament und im Frühjudentum gibt.194 Dass diese Gestalten aber ihrerseits eine Interpretation erfahren und ihre Bedeutung für die Christologie sich deshalb keineswegs einfach aus der Traditionsgeschichte heraus ergibt, droht damit unterschlagen zu werden. So wird man auch die Bemerkung von Klumbies ergänzen dürfen, dass nicht nur der „Gottesbegriff “ nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern ebenso wenig die „Christologie“ der „Hoheitstitel“, die bei Paulus auf Jesus bezogen werden. In genau diesem Sinne aber nimmt Schrage neuere Versuche innerhalb der Judaistik auf, eine „Brücke“ zwischen der frühjüdischen und der frühchristlichen Christologie dadurch zu schlagen, dass angelologische Vorstellungen bereits im Frühjudentum zu einer Divinisierung bestimmter Mittlergestalten geführt hätten, so dass man geradezu – mit Peter Schäfer gesprochen – von „zwei Göttern im Himmel“ im frühjüdischen Denken sprechen könne.195 Da hier Thesen wieder begegnen, die für die Religionsgeschichtliche Schule charakteristisch waren,196 hat man von einer New Religionsgeschichtliche Schule gesprochen.197 Auch Schrage sieht das bemerkenswerte Phänomen der Nähe, in die Christus bei Paulus zu Gott gerückt wird, „einerseits durch das Bild eines flexibleren Monotheismus im antiken Judentum und andererseits durch diese klare Hinordnung der Christozentrik auf die Theozentrik bei Paulus heute mit Recht modifiziert.“198 Damit kann aber auch Schrage nicht mehr erklären, weshalb die paulinische Rede von Gott gerade auch von jüdischer Seite als anstößig empfunden wurde, wenn die Rede von Gott bei Paulus doch gleichzeitig „eine Gleichstellung von Christus und Gott“ ausschließe.199 Setzt diese Absetzung nicht geradezu voraus, dass damit auch eine Modifikation der Gottesvorstellung verbunden ist, die aus einer jüdischen Perspektive eben nicht nachvollzogen werden kann? Besonders scharf grenzt Schrage sich von dem Versuch Larry Hurtados ab, die Frage durch Verweise auf die kultische Praxis in den paulinischen Gemeinden her zu beleuchten.200 Hurtados These, dass antikes Judentum und frühes Christentum
194 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 91–135, vgl. Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 27–145. 195 So der Titel des Buches von Schäfer, Götter. Schäfer selbst positioniert sich dann allerdings durchaus differenziert innerhalb der Diskussion und benennt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der frühjüdischen und der frühchristlichen Theologie (s. u.). S. dazu auch die Arbeit von Bühner, Hohe Messianologie. 196 Vgl. dazu Werner, Entstehung. 197 Fossum, The New Religionsgeschichtliche Schule, vgl. Hurtado, Lord Jesus Christ, 11–18; Vollenweider, Monotheismus, 9f. 198 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 153. 199 AaO., 158. 200 AaO., 158–167. Kritisch zu einer „Überbewertung“ des Kults in der älteren Diskussion äußert sich bereits Harnack, Mission I, 17, Anm. 1 (s. dazu das Kapitel 2 dieser Arbeit [zu 1Thess 1,9f]).
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den Monotheismus gemeinsam hätten, sich aber darin unterschieden, dass im frühchristlichen Kult auch Christus Gegenstand kultischer Verehrung sei, beschreibt Schrage als die Hypothese, dass „die kultische Praxis bei Paulus zur Verdopplung des Objektes gottesdienstlicher Vorgänge geführt habe“.201 Diese Beschreibung aber trifft Hurtados Sicht nicht. Noch in der Abwehr der These Boussets bleibt so bei Schrage die darin vorgenommene Alternativsetzung wirksam. Ebenso bleibt bei Schrage die bereits in der Diskussion zwischen Bultmann und Deissmann sichtbar werdende Alternativsetzung von „Religion“ und „theologischer Reflexion“ in Geltung. So bemerkt er, man dürfe keinesfalls „die theologische Reflexion des Paulus allein von daher [sc. der kultischen Praxis her] beurteilen oder ableiten, also der einseitigen Bevorzugung des Kultes vor der Lehre folgen, wie sie die Religionsgeschichtliche Schule praktizierte“202 und stellt schließlich fest, die Briefe des Paulus seien „jedenfalls primär nicht Dokumente religiöser Erfahrung, sondern reflexiver Argumentation“203 . Hier wird auseinandergerissen, was m. E. gerade zusammengehört: Die „religiöse Erfahrung“ des Paulus und ihre theologische Reflexion. Denn für Paulus ist doch gerade entscheidend, dass er die Begegnung mit Christus und das, was er in der frühchristlichen Gemeinde an „Christusverehrung“ kennenlernte, theologisch reflektiert.204 Gerade dieser Zusammenhang dürfte für die paulinische Rede von Gott entscheidend sein. Auf diesen Zusammenhang hat Hurtado in seiner Untersuchung der frühchristlichen Christusverehrung mit Recht aufmerksam gemacht. Hurtados Arbeit versteht sich als grundlegende Auseinandersetzung mit Boussets folgenreichem Werk Kyrios Christos.205 Im Anschluss an historische Arbeiten, die die enge Verbindung zwischen hellenistischem und jüdischem Denken für die Zeit des Zweiten Tempels gezeigt haben, bestreitet Hurtado Boussets Kernthese der Existenz einer frühen, judenchristlichen Menschensohn-Christologie, der eine heidenchristlich geprägte Kyrios-Christologie entgegengesetzt worden sei. So gehe der κύριος-Titel nicht auf hellenistisch-heidenchristliche Kreise zurück, sondern habe seinen Ursprung bereits im judenchristlichen Kontext.206 Für das antike Judentum konstatiert Hurtado indes, dass dort „a sharp line“ zwischen dem einen
201 202 203 204 205 206
Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 164. AaO., 159. Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 167. S. dazu das Kapitel 5 dieser Arbeit. Hurtado, Lord Jesus Christ, xiii u. ö. „Contra Bousset, the Kyrios Title does not represent some major terminological or christological innovation among Gentile Christians who supposedly appropriated the title from pagan cults. Instead the term goes back to the devotional life of Jewish Christian circles.“ Hurtado, Lord Jesus Christ, 20f; vgl. Fitzmyer, Art. κύριος, 817; Feldmeier/Spieckermann, Gott, 43.
Theologie und Gottesdienst (W. Schrage und L. Hurtado)
Gott und anderen religiös bedeutsamen Personen im Blick auf die kultische Verehrung gezogen worden sei.207 Da Paulus wie das Judentum seiner Zeit die kultische Verehrung menschlicher Personen ablehne, müsse seine Christusverehrung im Kontext des jüdischen Monotheismus verstanden werden.208 Den Monotheismus des Paulus beschreibt Hurtado als „,binitarian‘ form of monotheism“, in dem Gott und Jesus voneinander unterschieden werden, ohne dass es in der Kultpraxis zu einem „ditheism of two Gods“ gekommen sei.209 Diesen „binitarischen Monotheismus“ habe Paulus nicht selbst erfunden, sondern bereits in aramäisch-sprechenden Kreisen vorgefunden.210 Auch in Phil 2,6–11 sei Paulus kein „christologischer Neuerer“ („christological innovator“), sondern schöpfe aus einer Tradition, in der der κύριος-Titel charakteristischer Ausdruck für die Gottesverehrung sei und mit dem Jesus in eine einzigartige Nähe zu Gott gebracht werde.211 In einem späteren Aufsatz (2008) hat Hurtado seine These noch einmal zugespitzt formuliert: „Besonders die spezifische Verehrung Jesu als göttlich ist womöglich der entscheidende Unterschied im Glauben und Frömmigkeitspraxis zwischen dem Christentum und seinen zwei ,abrahamitischen‘ Geschwisterreligionen mit erklärt monotheistischer Ausrichtung.“212
Die entscheidende Differenz zwischen den monotheistischen Religionen liegt demnach darin, was inhaltlich von Gott ausgesagt wird. Paulus fand diese Differenz bereits vor, als er die christliche Gemeinde noch verfolgte.213 Sein Damaskus-Erlebnis bewirkte, dass er sich die zuvor bekämpfte Auffassung zu eigen machte und „Jesu Bedeutung und Herrlichkeit“ anerkannte.214 Die Rede von Jesu „Herrlichkeit“ – seiner δόξα – aber wirft die Frage nach dem damit verbundenen Gottesverständnis auf, gerade weil das frühe Christentum am monotheistischen Bekenntnis festhielt.
207 208 209 210 211
Hurtado, Lord Jesus Christ, 47f. AaO., 93. AaO., 52f. AaO., 111. AaO., 112f. Hurtado wendet sich ausdrücklich gegen die These einer „Adam-Christologie“, wie sie James Dunn vertreten hat (aaO., 121–123, vgl. Dunn, Christology, 113–128); S. dazu das Kapitel 8 dieser Arbeit. 212 Hurtado, Jesusverehrung, 266. 213 Hurtado erklärt: „Es ist wichtig zu begreifen, dass die ,Kirche‘, die den Zorn des eifernden Pharisäers Saul auf sich zog, damals immer noch eine neue religiöse Bewegung war, die vollkommen in die zeitgenössische jüdische Tradition eingebettet war. Somit war das Anliegen dieses frommen Pharisäers offensichtlich, die religiöse Integrität seiner angestammten Religion gegen das zu schützen, was er für gefährliche Entwicklungen hielt, die sich in frühen Kreisen jüdischer Jesusanhänger manifestierten.“ AaO., 268. 214 AaO., 269.
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So wird die Frage, wer Gott ist, durch die Gewissheit der Gegenwart Gottes in Jesus Christus und dem damit verbundenen Gedanken der Menschwerdung des Gottessohnes, die bei Paulus ebenfalls anklingt (2Kor 8,9; Röm 8,3; Phil 2,6–8; Gal 4,4–6) ganz neu aufgeworfen. Zu diesem Ergebnis kommt etwa auch Wichard von Heyden in seiner Untersuchung zu „Inkarnation und Doketismus“ von 2014, wenn er am Ende fragt: „,Gott‘? Was ist das? Mir scheint das die eigentliche Frage zu sein.“215 Von Heyden macht deutlich, dass es gerade die Unvereinbarkeit mit einem bestimmten Gottesverständnis ist, die zur Entstehung „doketischer“ Christologien führte.216 Die Begegnung mit Gott in Jesus Christus steht am Anfang eines neuen Nachdenkens über Gott, das sich in den Briefen des Paulus nachvollziehen lässt. Unabhängig voneinander haben verschiedene Forscher wie Hurtado von einem „binitarian monotheism“ gesprochen, so etwa Udo Schnelle, der formuliert, Paulus vertrete „einen exklusiven Monotheismus in binitarischer Gestalt.“217 In ähnlicher Weise hatte bereits Otfried Hofius von einer „binitarischen Entfaltung“ des monotheistischen Glaubensbekenntnisses Dtn 6,4 in 1Kor 8,6 gesprochen.218 Dass diese Entfaltung ihren Niederschlag gerade in Texten findet, die einen „Sitz im Leben“ im Gottesdienst vermuten lassen, ist wohl kein Zufall. Schnelle erklärt, über „das Verhältnis von Gott zu Jesus“ sei „nicht in ontologischen Kategorien nachgedacht“ worden, vielmehr sei „die Erfahrung des Handelns Gottes an Jesus und durch Jesus Ausgangspunkt der Überlegungen“ gewesen.219 Es seien – auch hierin argumentiert Schnelle ganz auf der Linie Hurtados – „die überwältigenden religiösen Erfahrungen der frühen Christen, wobei insbesondere an die Erscheinungen des Auferstandenen und das gegenwärtige Wirken des Geistes“ zu denken sei, gewesen, durch die die „Verehrung Jesu neben Gott“ entstanden sei.220 Es stellt sich nun allerdings die Frage, wie das Phänomen der frühen ChristusVerehrung theologisch zu fassen ist und was es über diese spezifische Rede von Gott aussagt. Wie ist der „binitarische Monotheismus“ zu verstehen?221 Lässt sich dafür die Entwicklung zu einer „binitarischen“ Rede von Gott innerhalb des Frühjuden-
215 Von Heyden, Doketismus und Inkarnation, 481. 216 Vgl. aaO., 2: „Doketismus entwickelt sich erst dort, wo die im Hintergrund stehenden Konzepte nicht mehr verstanden und daher unter verändertem Blickwinkel, wiederum mit Mitteln der Mystik neu gedeutet werden.“ S. auch den Exkurs bei Schnelle, Johannesbriefe, 138–145. In Kapitel 8 dieser Arbeit wird dieser Hinweis noch einmal aufgenommen. 217 Schnelle, Paulus, 541. 218 Hofius, Einer, 179. 219 Schnelle, Paulus, 541. 220 Schnelle, Paulus, 542, vgl. Hurtado, Lord Jesus Christ, 64ff. 221 Zu der unter dem Begriff „Christological Monotheism“ geführten Debatte s. Vollenweider, Monotheismus, 4f. AaO., 25 äußert sich Vollenweider kritisch zum Begriff „binitarisch“ im Blick auf die Beschreibung der frühchristlichen Christologie.
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tums als Ausgangspunkt begreifen?222 Oder ist das damit beschriebene Phänomen nicht auch als Reaktion auf die gegenüber dem Judentum neue Rede von Gott zu begreifen? Hurtados These jedenfalls setzt voraus, dass die frühjüdische Theologie monotheistisch geprägt blieb, was in der judaistischen Diskussion auch bestritten wird.223 Vor allem aber lehnt Hurtado die These ab, dass „heidnische“ Einflüsse wie die Apotheose bestimmter Persönlichkeiten wie etwa im hellenistischen224 oder im römischen Kaiserkult die Ausbildung der frühen Christusverehrung allmählich vorangetrieben habe.225 „Stattdessen zwingen uns die chronologischen Hinweise anzunehmen, dass die Verehrung Jesu, wie sie in den Paulusbriefen überliefert ist, eher als Explosion denn als Evolution zustande kam, zumindest in ihren wesentlichsten Bestandteilen.“226
Welche Auswirkungen hat diese „Explosion“ aber auf das Gottesverständnis des Paulus? Wie kann der Apostel die „Selbigkeit“ dieses Gottes, der ihm in Jesus Christus begegnet ist, mit dem Gott Israels denken? Ist bei Paulus der Glaube an den „gegenwärtigen Jesus“ mit theologischer Reflexion und Argumentation verbunden, dann erweist sich die Alternative von „Religion“ und „Theologie“ zur Beschreibung der paulinischen Rede von Gott als unangemessen. Vielmehr denkt Paulus in seiner Theologie dem nach, was er „religiös“ erfährt. Seine Rede von Gott kommt aus der Begegnung – und zielt darauf, zu dieser Begegnung zu führen. Wie genau dies geschieht, soll in dieser Untersuchung exegetisch nachgezeichnet werden. Selbst wenn die Entstehung der Christologie nicht einfach als Adaption bestimmter Vorstellungen von Apotheose und Divinisierung bedeutender Persönlichkeiten zu begreifen ist, so hatten sich die paulinischen Gemeinden doch von Anfang an mit derartigen Ansprüchen, wie sie etwa im Kaiserkult sichtbar wurden, auseinanderzusetzen.227 Schnelle hat in diesem Zusammenhang auf die politische Dimension der Rede von Gott hingewiesen.228 Wer Gott ist, muss im hellenistisch-römischen Kontext auch im Horizont von Politik und Gesellschaft bestimmt werden, weil sich
222 Im Blick auf das Frühjudentum spricht Schäfer, Götter, 25 von „binitarischen“ Spekulationen, die ihren Ausgangspunkt sämtlich bei dem in Dan 7,14 genannten „rätselhafte[n] ,Menschensohn’“ nehmen. 223 Vgl. aaO., 1–21. 224 S. dazu Chaniotis, Hellenismus, 130–137 („Das Gottmenschentum hellenistischer Könige“). 225 Hurtado, Jesusverehrung, 266f.274.277. 226 AaO., 271. 227 Vgl. aaO., 278: „Wenn heidnische Ansichten tatsächlich einen Effekt auf das früheste Christentum hatten, dann den, den Wu[n]sch der frühen Christen zu verstärken, die Verehrung Jesu von der Annahme neuer Götter und vergöttlichter Helden nach römische[m] Vorbild abzugrenzen.“ 228 Schnelle, Wege, 1f.
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aus theologischen Grundüberzeugungen Handlungsorientierungen ergeben, die zueinander in Konkurrenz treten können.
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Aspekte der „Monotheismus“-Debatte
Es ist deutlich geworden, dass auch die Beschreibung des paulinischen Gottesverständnisses als „monotheistisch“ noch nicht eindeutig ist, sondern vielmehr zu der Frage führt, wie dieser eine Gott genau bestimmt wird. Bedeutet die „Ausbildung von Christologie und Soteriologie“ für Paulus gerade keine Infragestellung des „Monotheismus“, sondern lässt sich gleichsam als „die theologische Eigenart der neutestamentlichen Gotteslehre“ beschreiben,229 dann ist zu fragen, worauf die Betonung der Einzigkeit Gottes genau zielt. Diese Frage führt in die Debatte um dem Monotheismus, die insbesondere durch die Arbeiten des Ägyptologen Jan Assmann ausgelöst und geprägt wurde und die auch in der neutestamentlichen Wissenschaft bearbeitet worden ist.230 Der Monotheismus wurde geradezu als Inbegriff religiöser Intoleranz verstanden. Diese Auffassung steht wohl auch hinter den Versuchen, die Behauptung eines streng durchgeführten Monotheismus im Blick auf das Alte Testament und das Frühjudentum zu relativieren.231 Für ein modernes, sich der Perspektivität menschlicher Erkenntnis bewusstes Denken scheint die Behauptung der Wahrheit des eigenen Gottesglaubens, die andere Arten des Gottesglaubens als „falsch“ erscheinen lässt, inakzeptabel zu sein. Assmann indes hat seine Grundthese, dass Monotheismus potentiell zu Gewalt führe, in späteren Veröffentlichungen zumindest differenziert. In seinem 2015 erschienenen Buch Exodus erklärt er, dass ihm „eine derartige Reduktion der Religion auf die Wahrheitsfrage im Blick auf das vorexilische Israel“ inzwischen als „Anachronismus“ erscheine.232 Assmann erläutert: „Hier geht es um etwas ganz Anderes, das als höchster Wert ins Zentrum der Religion gestellt wird: Treue. Nicht zwischen wahr und falsch gilt es sich zu entscheiden, sondern zwischen Treue und Verrat, und zwar in Bezug auf den Bund, den JHWH mit den
229 Die Formulierungen verwendet Betz, θεός, 347: „Die theol[ogische] Eigenart der n[eu]t[estament]l[ichen] Gotteslehre besteht in der Ausbildung von Christologie und Soteriologie.“ 230 S. dazu Assmann, Mosaische Unterscheidung. Hier sind auch bereits einige Antworten auf Assmanns Buch „Moses der Ägypter“ enthalten. Zu den damit aufgeworfenen Sachfragen s. Feldmeier, Monotheismus und Toleranz, 283–285, vgl. auch die Sammelbände zum Thema von Bons (Hg.), Gott; Popkes/Brucker (Hg.), Ein Gott. Zur Debatte s. auch die bei Assmann, Totale Religion, 28 mit Anm. 26 genannten Kritiken. 231 S. dazu etwa Römer, Erfindung Gottes, 11. 232 Assmann, Exodus, 11.
Aspekte der „Monotheismus“-Debatte
Kindern Israels schließt, die er aus ägyptischer Knechtschaft befreit und als sein Volk erwählt hat. Mit der Konzeption dieses Bundes kommt der ,Glaube‘ (’ae munah) in die Welt, der die eigentliche, revolutionäre Neuerung des biblischen – alttestamentlichen, neutestamentlichen und islamischen – Monotheismus darstellt.“233
Da gerade für Paulus die πίστις im Zentrum des theologischen Nachdenkens steht, ist diese Feststellung Assmanns auch für das Verständnis des von Paulus vertretenen „Monotheismus“ höchst relevant.234 Assmann hat seine Überlegungen aber noch weitergeführt und unterscheidet in seinem 2016 erschienenen Buch Totale Religion nun zwischen einem „Monotheismus der Treue“ und einem „Monotheismus der Wahrheit“.235 Assmann unterstreicht noch einmal, welche zentrale Bedeutung gerade die Theologie des Deuteronomiums nach seiner Auffassung für die jüdischchristliche Kultur habe.236 Den entscheidenden Schritt sieht Assmann durch die Übertragung assyrischer – politischer – Loyalitätseide in den Bereich des Glaubens und der Religion vollzogen, die er hinter dem Sche ma’ Israel (Dtn 6,4) wiederfindet.237 Assmann wirft damit eine entscheidende Frage auf, die sich auch im Blick auf das von Paulus geteilte Gottesverständnis bezieht: Wie verhält sich die individuelle Erfahrung der Zuwendung Gottes zu einem Menschen bzw. einer Gruppe von Menschen – wie sie sich im Alten Testament in der Exodus-Tradition ausspricht – zu ihrer Ausgestaltung in Form einer Theologie, die aufgrund ihres systematischen Denkens nicht nur in der biblischen Tradition, sondern gerade auch im philosophischen Denken auf einen Monotheismus zielt? Jörg Rüpke weist im Blick auf die Römische Religion darauf hin, dass auch hier die individuelle Begegnung am Anfang steht. Eine „Handlungsstrategie“, die sich auf „Gott“ oder „Götter“ bezieht, sei „schon immer problematisch“ gewesen, da sie von Anfang an – und nicht etwa erst in der Neuzeit – mit „Risiken der Glaubwürdigkeit oder Durchsetzungsfähigkeit behaftet“ gewesen sei,238 denn: „[E]s ging dabei nicht allein um die allgemeine Aussage ,die Götter existieren‘. Es ging eigentlich immer um die Behauptung, eine bestimmte Gottheit, mag sie nun Iuppiter oder Hercules geheißen haben, habe einem selbst, habe anderen geholfen oder werde ihnen
233 234 235 236 237 238
Ebd. S. dazu das Kapitel 4 dieser Arbeit. Assmann, Totale Religion, 32. AaO., 43. AaO., 44, vgl. 36f; vgl. Schmid/Schröter, Entstehung, 137f. Rüpke, Pantheon, 20.
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Gott als Thema der Paulusforschung
beistehen. Oder es ging um den Anspruch, Fortuna oder ,das Schicksal‘ stehe hinter dem eigenen Handeln. Damit kann man sich durchsetzen – oder eben nicht.“239
Wolfgang Schrage spricht im Blick auf die paulinische Theologie von einer „Spannung“, die zwischen der Erfahrung der Gegenwart Gottes – wofür er auf 1Kor 14,25 (ὄντως ὁ θεὸς ἐν ὑμῖν ἐστιν) verweist – „und dem zukünftigen Ziel ἵνα ᾖ πάντα ἐν πᾶσιν (1Kor 15,28)“ liege.240 Es ist notabene die Erfahrung im Gottesdienst, auf die Paulus in 1Kor 14 hinweist. Mit 1Kor 15,28 verweist Schrage auf eine Äußerung, die sich im Blick auf die Gesamtinterpretation der paulinischen Theologie als äußerst schwierig erweist,241 da sie kaum mit dem eschatologischen Ausblick, den Paulus in Phil 2,11 oder bereits in 1Thess 4,17b (vgl. Phil 1,23) bietet, vereinbar scheint.242 Schrage weist aber mit Recht darauf hin, dass der „Monotheismus“ für Paulus „weder einer spekulativen Begriffswelt noch der realen Lebenswelt“ angehöre, sondern „als begründete Hoffnung wie die Auferstehung der Toten ein Glaubenssatz wider allen Augenschein“ sei „und in seiner endgültigen Realisierung der kommenden Welt Gottes vorbehalten“ bleibe.243 Damit macht Schrage auf die eschatologische Dimension der Gotteslehre aufmerksam: Wer Gott ist, das ist in der Gegenwart nicht einfach „klar“, es erweist sich erst in der eschatologischen Vollendung. So ist die Gewissheit der Gegenwart Gottes immer auch mit Differenzerfahrungen verbunden, die Paulus in seiner Rede von Gott auch zur Sprache bringt.244
11.
Die Gottesprädikationen (C. Böttrich, C. Zimmermann)
Christfried Böttrich hat auf die Bedeutung der Gottesprädikationen für die neutestamentliche Rede von Gott hingewiesen. Diese seien bislang wenig beachtet worden.245 Für die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität der biblischen Rede von Gott seien sie aber gerade entscheidend.246 Als „Gottesprädikationen“ bezeich-
239 Ebd. 240 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 185. 241 Es ist etwas überraschend, dass Jantsch gerade das Zitat 1Kor 15,28 als Titel seiner Arbeit gewählt hat. Er bietet allerdings eine differenzierte Besprechung des Abschnittes (Jantsch, Gottesverständnis, 273–293), an deren Ende er erklärt, dass „eine subordinatianische Deutung“ von 1Kor 15,24–28 „über das Gesagte hinaus“ gehe (aaO., 291). So wertet er 1Kor 15,28 gerade nicht für seine „Theozentrik“-These aus. 242 Zum Problem s. Jantsch, Gottesverständnis, 290f, vgl. bereits Kuss, Paulus, 362–364. S. dazu meine Anmerkung zu Phil 2,11 in Kapitel 8 dieser Arbeit. 243 Schrage, aaO., 185. 244 Zur „Differenzerfahrung“ s. Landmesser, Geist, 143f. 245 Böttrich, Gottesprädikationen, 62. 246 AaO., 63.
Die Gottesprädikationen (C. Böttrich, C. Zimmermann)
net Böttrich „all jene Ausdrucksweisen …, die Gott benennen oder umschreiben und dabei für das Wort ,Gott‘ selbst eintreten können“.247 Eine Untersuchung verschiedener Gottesprädikationen hat Christiane Zimmermann in ihrer 2007 erschienenen, breit angelegten Untersuchung zu „ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen“ unternommen.248 Auch Zimmermann unternimmt in ihrer Untersuchung den „Versuch … Kontinuität und Diskontinuität in der biblischen Gottesverkündigung zu bestimmen.“249 Sie versucht dabei nicht, wie es bereits in der Antike bei der etymologischen Beschäftigung mit den „Götternamen“ geschieht, „anhand der Deutung der Götternamen zur Interpretation des Wesens der Namensträger und der Bedeutung des Namens zur Zeitpunkt seiner Entstehung vorzudringen“.250 Vielmehr versteht Zimmermann die „Gottesbezeichnungen“ als Metaphern, „deren Informationsgehalt durch die sprachliche Konvention festgelegt ist und im jeweiligen Kontext aktualisiert wird“.251 Diesen speziellen Charakterisierungen geht sie in ihren Studien nach. So analysiert sie die Rede von Gott als „Vater“, als „Herr und Herrscher“ und „Allmächtiger“, als „Schöpfer“ und „lebendiger Gott“, als „einziger“ und als „höchster“ Gott. Angesichts der Materialfülle des untersuchten Themas überrascht es eigentlich nicht, wenn am Ende ein gleichsam negativer Ertrag steht. So bemerkt Zimmermann abschließend: „Es gibt also bei weitem kein einheitliches Gottesbild der n[eu]t[estament]l[ichen] Schriften, das anhand der Gottesbezeichnungen bestimmt werden könnte“.252 Einige Aspekte benennt Zimmermann dann aber doch: „[D]ie Funktion Gottes als Vater der Glaubenden und als Vater Jesu Christi, den er von den Toten auferweckt hat, sowie die Funktion dieses Vaters als Herrscher in der βασιλεία, der als κύριος seine Verheißungen erfüllt und der als über alle weltlichen Herrscher Erhabener der παντοκράτωρ ist.“253
Im Grunde ist der Ertrag der Untersuchungen Zimmermanns derselbe, der sich zu den christologischen Hoheitstiteln formulieren ließe: Aus der Traditionsgeschichte dieser Titel ergibt sich noch keineswegs die Christologie. Gerade deshalb werden mehrere Titel auf Jesus Christus bezogen, die durchaus unterschiedliche Traditionshintergründe haben. Wenn sich aber für die Gottesprädikationen dasselbe Resultat ergibt, dann ist deutlich, dass für die biblische Rede von Gott eben dasselbe gilt wie
247 248 249 250 251 252 253
AaO., 62. Vgl. Zimmermann, Namen, 22f. AaO., 2. AaO., 7. AaO., 23. AaO., 613. Ebd.
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Gott als Thema der Paulusforschung
für die Rede von Jesus Christus. Im Neuen Testament ist keineswegs von Anfang an „klar“, wer Gott ist. Vielmehr entfalten dies die Texte erst in den jeweiligen Kontexten. Das lässt sich wohl auch im Blick auf die alttestamentlichen Texte behaupten: Auch dort wird nicht etwa ein Gottesbegriff vorausgesetzt, sondern narrativ nachgezeichnet, als wer Gott erfahren wurde. Hier lässt sich aber wohl doch fragen, ob alle genannten Gottesprädikationen gleichermaßen zentral für die paulinische Rede von Gott sind. Auch die Gottesprädikationen stehen in narrativen Kontexten. In diesen Kontexten sind sie im Einzelfall zu analysieren. Zimmermanns Studie bietet dafür reiches Material.
12.
Die „biblische Gotteslehre“ von R. Feldmeier und H. Spieckermann
In der Diskussion um das Verhältnis zwischen einem „metaphysischen“ und einem „biblischen“ Gottesverständnis hat Hans-Georg Geyer auf die Differenzierung von „Begriff “ und „Name“ Gottes aufmerksam gemacht.254 Für die biblische Rede von Gott ist die Beobachtung entscheidend, dass Gott sich mit seinem Namen offenbart (Ex 3,14) und dass die griechische Wiedergabe des Tetragramms – κύριος –, die gerade auch für das bei Paulus greifbar werdende Gottesverständnis in Verbindung mit der Christologie zentral ist, ursprünglich die Wiedergabe eines Eigennamens ist. Die Unterscheidung zwischen „Gott“ als Name und als Gattungsbegriff ist für das Verständnis der paulinischen Rede von Gott entscheidend. Denn nur so lässt sich dann auch das differenzierte Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus, das in der Diskussion für Unklarheiten sorgt, begreifen. Hurtado hat darauf hingewiesen, dass Jesus selbstverständlich von Gott unterschieden bleibt, ohne dass dadurch einfach eine „Verdopplung des Glaubensobjektes“ im Sinne Boussets stattfinden müsste.255 Ebenso hatte bereits Joseph A. Fitzmyer zur Anwendung des κύριος-Titel auf Jesus Christus erklärt: „Der κ[ύριος]-Titel impliziert, daß der erhöhte Jesus Gott/Jahwe gleichgestellt ist. Dennoch wird er nicht mit ihm identifiziert – er ist nicht ’abbā’! Der κ[ύριος]-Titel sagt nicht unmittelbar dasselbe wie θεός.“256 Es ist demnach gerade das Zusammenspiel der Gottesprädikation πατήρ mit der christologischen Prädikation κύριος, in der sich das Charakteristische des paulinischen Gottesverständnisses zeigt. Von dieser Grundeinsicht ist der bemerkenswerte Entwurf einer „biblischen Gotteslehre“ (2011, 2 2017) bestimmt,257 den Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann vorgelegt haben und als deren Ergänzung sich der zweite Band der von den beiden Autoren gegründeten TOBITH-Reihe zur Menschwerdung 254 255 256 257
Geyer, Metaphysik, 18 u. ö., s. dazu Bauspiess, Gott Gott sein lassen. Hurtado, Jesusverehrung, 280. Fitzmyer, κύριος, 817. Ich zitiere in dieser Arbeit die erste Auflage von 2011.
Die „biblische Gotteslehre“ von R. Feldmeier und H. Spieckermann
(2018) liest.258 Während frühere Ausleger von einem „geringe[n] Interesse, das P[au]l[u]s der Gotteslehre im engeren Sinne“ entgegenbringe, sprechen,259 sehen Feldmeier/Spieckermann gerade bei Paulus „die Konsequenzen der Offenbarung des Vaters im Sohn“ durchdacht.260 Sie weisen auf die „exponentielle Zunahme der Rede vom Gottvater“ hin,261 die sich nicht nur vom Alten zum Neuen Testament beobachten lasse, sondern auch innerhalb des Neuen Testaments selbst, in dem sich in jedem Jahrzehnt zwischen 70 und 100 n. Chr. eine Verdreifachung der „Vater“Belege beobachten lasse.262 Diese Entwicklung spiegele „eine immer konsequentere christologische Bestimmung des Gottesverständnisses innerhalb der neutestamentlichen Schriften wider“.263 Sie hat ihre Entsprechung darin, dass die für das Alte Testament zentrale Bezeichnung Gottes mit dem Gottesnamen, den die Septuaginta mit κύριος wiedergibt, im Neuen Testament zur entscheidenden Prädikation Jesu wird.264 So beschreiben Feldmeier/Spieckermann die entsprechende Entwicklung als eine Entwicklung „vom Herrgott zum Gottvater“.265 Diese Entwicklung lässt sich auch in den Paulusbriefen beobachten, insbesondere in der auf das Wirken des Geistes zurückgeführten Anrede Gottes als ἀββά ὁ πατήρ (Röm 8,15b; Gal 4,6b).266 Bemerkenswert ist, wie die Autoren diese beiden Belegstellen deuten: „Die Vateranrede wird also bis in den Wortlaut hinein unmittelbar auf Jesus zurückgeführt; es ist sein Gottesverhältnis, in das die Glaubenden eintreten“.267 Feldmeier/Spieckermann verbinden die in Röm 8,15 und Gal 4,6 belegte Vateranrede demnach mit der in Mk 14,36 von Jesus erzählten Vateranrede Gottes, interpretieren diese aber nicht im Kontext der christologischen Gesamtdarstellung des Markusevangeliums, sondern als Charakteristikum des „historischen Jesus“.268 Das entspricht einer Tendenz, die sich etwa auch bei Samuel Vollenweider beobachten lässt, der in kritischer Wendung gegen die Überbewertung einer „Engelchristologie“ bemerkt:
258 Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, VII formulieren, dass „sich die Menschwerdung zur Gotteslehre wie die komplementäre Tafel eines Diptychons“ verhalte. 259 Betz, θεός, 351. 260 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 68. 261 AaO., 53f. 262 AaO., 53. 263 AaO., 54. 264 Vgl. aaO., 48f. 265 So die Überschrift des zweiten Abschnitts im ersten Teil des Buches aaO., 51. 266 AaO., 69. Akzentsetzung nach Hofius, ἀββά, 1721. 267 Ebd., vgl. Feldmeier, Christologische Theologie, 310. 268 S. dazu die Arbeit von Feldmeier, Krisis.
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Gott als Thema der Paulusforschung
„Es mag sein, dass wir hier auf das Erbe der Engel stossen. Aber selbst an diesem Punkt drängt sich noch ein anderer gebieterisch ins Bild. Es ist der irdische Jesus, der Mensch, der in erstaunlichem Mass ganz von Gott her und auf ihn hin gelebt hat“.269
Hier ist offensichtlich auch in der neueren Forschung noch die oben beschriebene Weichenstellung wirksam, die William Wrede mit seiner spezifischen Interpretation des markinischen „Messiasgeheimnisses“ gelegt hat. Dies ist aus meiner Sicht sowohl im Blick auf das Markusevangelium als auch im Blick auf die Interpretation der bei Paulus begegnenden Anrede Gottes als „Vater“ kritisch zu reflektieren.270 Feldmeier/Spieckermann wollen sich in ihrer „biblischen Gotteslehre“ indes ausdrücklich von Rudolf Bultmanns Reduktion der Theologie auf die Anthropologie, für die Paulus gerade als „Kronzeuge“ in Anspruch genommen wird, absetzen. Zwar sei biblische „Gotteslehre kein vom Menschen und seiner Daseins- und Handlungsorientierung absehendes Unternehmen“,271 dennoch gelte: „Theologie überhaupt als Anthropologie zu konzipieren, geschähe allemal unter der problematischen Voraussetzung, dass aus der unstrittigen Gegebenheit, dass Gotteswort allein im Menschenwort zugänglich ist, die Konsequenz gezogen wird, Gotteswissen sei nur als eine aus Erfahrung und Selbstverständnis des Menschen abgeleitete Größe möglich. Die Weichenstellung bei dieser fundamentalen hermeneutischen Frage ist keine Nebensache. Es geht dabei um nichts Geringeres als die grundsätzliche Frage, ob Theologie den Primat vor der Anthropologie hat und diese somit von jener her konzipiert werden muss oder ob Theologie lediglich die Funktion einer Anthropologie ist, die sich der Deutung religiöser Erfahrung verschrieben hat. Die vorliegende Konzeption hält die Beantwortung dieser Frage nur im ersteren Sinne für sachgerecht.“272
Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt der Gottesfrage als Thema der PaulusForschung angelangt. Feldmeier/Spieckermann möchten die „Gotteslehre“ zwar nicht als von der Anthropologie unabhängigen Topos, wohl aber als eigenständiges Thema bearbeiten. Gerade im Blick auf die Rede von der „Gottheit“ Jesu unterstreichen sie dabei aber die Relationalität, in der diese zu verstehen ist. So bestehe „die Pointe der Gottessohnschaft Jesu nicht darin, dass er die anderen Menschen durch eine besondere Göttlichkeit übertrifft, sondern dass er ihnen Gott als Vater nahebringt, so dass sie selbst zu Söhnen und Töchtern beziehungsweise Kindern
269 270 271 272
Vollenweider, Monotheismus, 27. Im Anschluss verweist Vollenweider auf Mk 10,19 par. S. dazu den Epilog dieser Arbeit. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 8. AaO., 8f.
Die „biblische Gotteslehre“ von R. Feldmeier und H. Spieckermann
Gottes werden (Gal 3,26–29; 2Kor 6,18)“.273 Die Pointe der hier entwickelten Gotteslehre besteht demnach in der soteriologischen Entfaltung der Eigenschaften Gottes: „Paulus dekliniert in immer neuen Wendungen das Wesen des Vaters als Teilgabe an seinen Eigenschaften im Sohn durch.“274 Dennoch sei Christus als mehr als ein „Mittler“ verstanden, wie die Autoren mit Blick auf Phil 2,6–11 und 1Kor 8,6 feststellen. Wenn Jesus als „der eine Herr“ dem „einen Gott“ an die Seite gestellt werde, dann sei er „sehr viel mehr als nur ein Mittler, der einen immer schon an und für sich seienden Gott sekundär mit der Welt und den Glaubenden in Beziehung setzt. Der ,eine Herr‘ gehört vielmehr so zu dem ,einen Gott‘, dass Letzterer erst im Bezug zu ihm der ,Vater‘ und damit nach dem neutestamentlichen Zeugnis ganz er selbst ist“.275 Die Autoren unterstreichen damit mit Recht, dass das Gottesverständnis nur in den Relationen erkennbar wird, in denen von Gott geredet wird. Dabei deuten sie auch an, wie sie die Entwicklung der „biblischen Gotteslehre“ zur später ausgebildeten Trinitätslehre einschätzen und verbinden dies mit einer deutlichen Polemik. So bemerken sie im Blick auf die johanneische Theologie: „Wer meint, diese [sc. die Trinitätslehre] mit dem Hinweis auf eine unangemessene Ontologie abtun zu können, um stattdessen auf dem ,Gefälle von Gott zu Jesus‘ zu bestehen, der muss sich fragen lassen, ob er in Wahrheit nicht selbst einer unbiblischen Ontologisierung aufsitzt, weil er das An-sich-Sein der Relation vor- und dadurch überordnet. In einem solchen Denken kann die Beziehung Gottes auf ein Gegenüber immer nur ein Zweites sein und deshalb der Glaube an den einen Gott mit der Christologie nur im Sinne der Subordination eines Mittlerwesens verbunden werden.“276
Dass sie dies auch im Blick auf die paulinische Theologie vertreten, wird deutlich, wenn sie – und zwar gerade mit Blick auf die oben bereits angesprochene Aussage in 1Kor 15,28! – erklären: „Für das Verhältnis von Vater und Sohn sind … Dominanz und Subordination inadäquate Bestimmungen.“277 Während Hurtado bei seiner Beschreibung der Unterscheidung von „Vater“ und „Sohn“ von einer „funktionalen Subordination“ sprechen kann278 lehnt – wie Feldmeier/Spieckermann – auch Samuel Vollenweider den Begriff ab und bemerkt:
273 274 275 276 277 278
AaO., 69, vgl. aaO., 82. AaO., 71. AaO., 114. Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 300. Gegen Schreiber, Anfänge, 199. Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 223. Hurtado, Jesusverehrung, 280.
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„Unsere Texte sperren sich gegen Alternativen wie Subordination wider Wesenseinheit, funktionale Christologie wider ontologische Christologie. Es ist auch kaum hilfreich, die frühen christologischen Entwürfe binitarisch zu nennen.“279
Diese Äußerungen belegen, wie sehr die neutestamentliche Wissenschaft bei der Beschreibung von „Gotteslehre“ und Christologie geradezu um Begriffe ringt. Die in der Liberalen Theologie gepflegte Vorstellung eines undogmatischen „Urchristentums“280 führt zu Vorbehalten gegenüber dogmatischer Begrifflichkeit, die als Eintragung in die neutestamentlichen Texte verstanden wird. Diese Vorbehalte haben ihr sachliches Recht. So hat die Dogmatikerin Gunda Schneider-Flume im Anschluss an Paul Ricoeur davon gesprochen, dass es für die Theologie darum gehe, „verfestigte Großbegriffe zu ,zerbrechen‘, um die Wahrheit und den Sinn, den sie überliefern, neu zur Sprache zu bringen“.281 Auch im Raum der neutestamentlichen Wissenschaft ist daran erinnert worden, dass die christliche Theologie sich zu einer stark begrifflich geprägten Theologie entwickelt hat, während die narrativen Züge eher ausgeblendet wurden.282 Es lässt sich fragen, welchen Anteil an dieser Entwicklung Paulus hat. Im Blick auf die Interpretation seiner Briefe wird in der neueren Forschung immer wieder vor einer Übersystematisierung gewarnt.283 Wie bereits gesagt, entwickelt Paulus seine Theologie in bestimmten Kontexten, erweist sich dabei aber immer wieder gerade auch in seiner Begrifflichkeit als bemerkenswert stringent. So ist in der Auslegung beides zu beachten: die Kontextgebundenheit und der „systematische“ Charakter des paulinischen Denkens. Die damit verbundene Problematik ist im Kontext der New Perspective vor allem in Bezug auf die Bedeutung der „Rechtfertigungslehre“ thematisiert worden. Damit eng verbunden ist die Frage, wie stringent Paulus von seinem „Damaskus-Ereignis“ redet und welche Bedeutung er diesem Widerfahrnis für die Entwicklung seines eigenen Gottesverständnisses gibt. Im Blick auf die „Gotteslehre“ lässt sich zudem auch fragen, an welchen Punkten die später entwickelte Trinitätslehre ihre Anknüpfungspunkte bei Paulus hat.284 Im Blick auf Paulus wiederum kann gefragt werden,
279 280 281 282
Vollenweider, Monotheismus, 25. Zur Problematik der Vorstellung eines „Urchristentums“ s. Alkier, Urchristentum. Schneider-Flume, Dogmatik, 25 mit Verweis auf Ricoeur, Erbsünde. Exemplarisch Klumbies, Synoptische Überlieferung, 262. Klumbies sieht als Grund dafür „die Verdrängung des Mythos“ in der christlichen Theologie an. 283 S. dazu etwa die Überlegungen, die Wolter, Paulus, 1–7 im Blick auf seine Paulusdarstellung anstellt. Schnelle, Paulus, entscheidet sich für einen zweiteiligen Aufbau: Zunächst schreitet er die Entwicklung der paulinischen Theologie anhand der einzelnen Briefe ab (aaO., 27–431), in einem zweiten Abschnitt bündelt er die Theologie des Paulus nach Themen (aaO., 435–699). 284 Zur Fragestellung s. etwa Eckstein, Anfänge; Frankemölle, Frühjudentum, 169–200; Hurtado, Jesusverehrung, 283–285; Vollenweider, Tag, 283–288.
Die Fragestellung der Untersuchung
inwiefern er dabei bereits selbst auf Vorstellungen Bezug nimmt, die er im Kontext des hellenistischen Judentums kennengelernt hat. All diese Fragen zielen auf eine Untersuchung des Umgangs des Paulus mit seiner Tradition, durch den er selbst zum Wegbereiter einer eigenen Tradition wird. Dieser Prozess soll in dieser Arbeit im Blick auf die Gottesfrage untersucht werden.
13.
Die Fragestellung der Untersuchung
13.1 Zum Sprachgebrauch Die Rede von Gott bei Paulus lässt sich nicht anhand einer isolierten Analyse einzelner Begriffe vornehmen. Wer „Gott“ ist, das wird nur jeweils im Kontext, in dem das Wort verwendet wird, bestimmt. Im Blick auf das Wort θεός ist zu bemerken, dass es zunächst ein „Prädikatsbegriff “ ist.285 Es handelt sich um ein nomen appellativum, einen Gattungsbegriff, mit dem einem Subjekt eine bestimmte Eigenschaft – nämlich θεός zu sein – zugeschrieben wird.286 Diese Differenzierung findet sich bereits in der stoischen Philosophie.287 Und in diesem Sinn weist Thomas von Aquin darauf hin, dass das Wort Deus kein Eigenname ist, sondern eine Wesensbezeichnung.288 Dasselbe gilt für das hebräische Wort ֵאלbzw. für das pluralische Wort ֱאֹלִהם.289 Das Wort ֵאלkann aber auch eine bestimmte Gottheit meinen und wie ein Eigenname verwendet werden.290 Die Septuaginta gibt ֱאֹלִהםmeist mit θεός wieder.291 Dabei ist das artikellose θεός häufig appellativisch gebraucht, während ὁ θεός einen bestimmten Gott, bei Philo etwa – dem alttestamentlichen Sprachgebrauch folgend – den Gott Israels bezeichnet.292 Bereits diese ersten sprachlichen Hinweise machen deutlich, dass das Wort θεός stets im Kontext zu bestimmen ist. Dies geschieht im alttestamentlichen Zusammenhang in besonderer Weise dadurch, dass das Appellativum mit einem Eigennamen verbunden wird ()יהוה, den
285 Betz, θεός, 347; Burkert, Gott, 721; Kleinknecht, θεός, 66; Zimmermann, Namen, 21. 286 Burkert, Gott, ebd.: „θεός ist Prädikat, so z. B. für das Gerücht, das Glück-Haben, den Neid, das Wiedersehen“. 287 S. das Referat über Zenon bei Diogenes Laertios (D.L. VII 58). Forschner, Stoa, 38 erklärt: „Eigennamen bezeichnen die individuelle (idia poiotēs), Gemeinnamen bzw. Appellative die mit den Dingen gemeinsame Qualität (koinē poiotēs) eines Gegenstandes.“ 288 Thomas, Summa Theologica 1, qu 13, ar 9 ra 2 (S. 100): „Ad secundum dicendum quod hoc nomen Deus est nomen appellativum, et non proprium, quia significat naturam divinam ut in habente.“ (Vgl. Zimmermann, Namen, 21). 289 Schmidt, ֵאל, 143; Quell, θεός, 81, zur Pluralform ֱאֹלִהםs. ders., ֱאֹלִהם, 153. 290 Schmidt, ֵאל, 143. 291 Stauffer, θεός, 91. 292 Ebd. Exemplarisch Philo Som. I 62.65f; 228–230.
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die Septuaginta häufig mit artikellosem κύριος wiedergibt und damit die Erinnerung bewahrt, dass es sich hierbei um einen Namen handelt.293 Bei Paulus isτ ὁ θεός die überwiegende Gottesbezeichnung, auch deshalb, weil κύριος zunehmend auf Jesus bezogen wird. Im Nominativ steht das Wort θεός meist mit Artikel, in anderen Kasus sowohl determiniert als auch artikellos, ohne dass sich dadurch ein Bedeutungsunterschied ergeben müsste.294 Für Paulus entscheidend ist, wie Gott inhaltlich bestimmt wird. Dafür müssen etwa auch die Gottesprädikationen in ihren erzählerischen Kontexten wahrgenommen werden. 13.2 Tradition Klumbies kommentiert die gegenwärtige Entwicklung damit, dass „das Traditionsprinzip Einzug in die Paulusforschung gehalten“ habe.295 Gemeint ist damit, dass die Theologie des Paulus weniger als Interpretation der Tradition verstanden wird, sondern eher als Rezeption. Auf diesen Begriff hat Hubert Frankemölle den Zusammenhang gebracht.296 An der Frage, wie der paulinische Umgang mit der Tradition beschrieben werden kann, entscheiden sich viele der aufgeworfenen Fragen im Blick auf das Gottesverständnis des Paulus. Hieran schließt sich auch die angesprochene kanonhermeneutische Diskussion an.297 Da sich Notger Slenczka für seine Sicht, die die neuere Diskussion provoziert hat, neben Friedrich Schleiermacher insbesondere auf Adolf von Harnack und auf Rudolf Bultmann beruft,298
293 Quell, κύριος, 1057, vgl. Debrunner, Übersetzungstechnik, passim. Im Griechischen haben die Namen häufig Artikel bei sich, was im Hebräischen nicht möglich ist (aaO., 69). Die Übersetzungstechnik der Septuaginta sieht Debrunner von der „Scheu“ bestimmt, „ein Wörtchen des Urtextes verloren gehen zu lassen“ (aaO., 70). Wenn „Herr“ als „Appelativum“ gebraucht wird – also die Bedeutung – „Herr (eines Sklaven)“, „Besitzer“ hat, stehe „fast immer der Artikel“, „auch wenn es von Gott gebraucht wird“ (aaO., 71). Nur bei den „gut griechisch schreibenden Übersetzern“ (Hiob, 2Makk, Ruth) habe κύριος als Gottesname den Artikel, sonst werde „die Artikellosigkeit des hebr. Gottesnamen … nachgeahmt“ (aaO., 77). Fitzmyer, κύριος, 816 weist darauf hin, dass in vorchristlichen Handschriften der Septuaginta in hebräischen Buchstaben in den griechischen Text eingefügt wurde. Das bestätigt noch einmal, dass das Bewusstsein, dass Gott einen Namen hat, auch für die Septuaginta präsent ist. 294 Betz, θεός, 347; Stauffer, θεός, 93. 295 Klumbies, Brisanz, 81. 296 Vgl. Ebner, Versuch, 201 sowie grundsätzlich Frankemölle, Frühjudentum, 35: „Im Hinblick auf die Rezeption der heiligen Schriften Israels ist die Metapher von Mutter und Tochter weiter gültig“. 297 S. dazu Schmid/Schröter, Entstehung sowie die Beiträge im Sammelband Landmesser/Klein, Normative Erinnerung; Söding, Einheit; Steins, Studien. Von den älteren Beiträgen ist zu erinnern an Gese, Schriftverständnis; Koch, Ausgang. Hinzuweisen ist auch auf Childs, Theologie, der für eine „Kanonhermeneutik“ plädiert, s. dazu Barthel, Debatte. 298 Zu Harnack: Slenczka, Kirche, 89–95; zu Bultmann aaO., 106–110.
Die Fragestellung der Untersuchung
rücken hier Fragestellungen aus der Forschungsgeschichte in den Blick, auf die wir teilweise bereits gestoßen sind. Damit kommt eine zweite Möglichkeit, den Begriff der Tradition zu verstehen, in den Blick:299 In der älteren Forschung ist versucht worden, ganz konkrete Traditionsstücke in den Paulusbriefen zu identifizieren. Zuweilen wurde auch versucht, eine ganze Überlieferungsgeschichte nachzuzeichnen. Die „redaktionelle“ Bearbeitung von Traditionen ließ sich dabei bereits als ein konkreter Akt der Interpretation, die Paulus gegenüber der ihm überkommenen Tradition vornimmt, begreifen. In meiner Untersuchung möchte ich einige Beispiele dafür herausgreifen, an denen sich beobachten lässt, wie ein bestimmtes Bild der Geschichte des Frühchristentums die Exegese bestimmt. Dies ist bereits zu 1Thess 1,9f der Fall, lässt sich aber auch bei der Bestimmung des Kontextes von 1Kor 2,8 beobachten und bei der Frage, wie Paulus das Bekenntnis 1Kor 8,6 aufnimmt. Klumbies’ These einer „soteriologischen“ Interpretation der Rede von Gott bei Paulus setzt solche Annahmen immer wieder voraus. Das gilt auch für die Auslegung von Phil 2,6–11. Es gilt dann aber vor allem für Röm 1,3f. Hier lässt sich im Zuge der Exegese auch der forschungsgeschichtliche Kontext thematisieren, in dem bestimmte Auslegungen entstehen. An einigen Stellen lässt sich zeigen, wie es ein ganz bestimmtes Gottesverständnis ist, das auch die Bestimmung der Traditionsstücke leitet. Die neuere Forschung ist grundsätzlich zurückhaltend geworden gegenüber literarkritischen Annahmen. Es lässt sich aber beobachten, dass Thesen der älteren Forschung untergründig wirksam bleiben, auch wenn sie nicht mehr bewusstgemacht werden. Deshalb lohnt es sich, diese Hintergründe zu beleuchten. So lässt sich dann auch danach fragen, wie sich das Verhältnis des Paulus zur frühchristlichen Tradition bestimmen lässt.300 13.3 Interpretation Dass Paulus überhaupt auf Tradition Bezug nimmt, zeigt, dass er sich in seiner Rede von Gott auf etwas ihm „von außen“ Zukommendes bezieht. Gleichzeitig lässt sich sein Umgang mit der Tradition als ein Prozess der Interpretation beschreiben, in der er zu neuen Einsichten kommt. Der Begriff der „Interpretation“ ist m. E. sehr viel besser geeignet, den Prozess zu beschreiben, als dies mit dem in der Literatur geradezu inflationär gebrauchten Begriff der „Deutung“ geschieht.301 Anders als der Deutungsbegriff betont der Interpretationsbegriff sowohl die deutende Tätigkeit des Subjekts als auch den Widerfahrnischarakter dessen, was gedeutet – oder besser: 299 Zu den verschiedenen Bedeutungen der Methode der „Traditionsgeschichte“ s. Utzschneider, Traditionskritik/Traditionsgeschichte. 300 Zur frühchristlichen Tradition des Paulus s. etwa Wolter, Paulus, 31–51. 301 Exemplarisch ist der Titel von Frey/Schröter (Hg.), Deutungen, aber auch bei Feldmeier/ Spieckermann, Gott, wird der Begriff der „Deutung“ sehr häufig verwendet.
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Gott als Thema der Paulusforschung
verstanden wird. Wir werden in unseren Untersuchungen sehen, dass für Paulus der Aspekt der Begegnung zentral ist, so dass gerade auch für Paulus gilt, was Ulrich Körtner im Blick auf den Deutungsbegriff formuliert: „Kommt das Verstehen des Glaubens […] einzig als menschliche Aktivität des Deutens und Aneignens in den Blick, bleibt unbegriffen, dass das Verstehen des Glaubens ein Verstandenwerden, das Erkennen ein Erkanntwerden, das Deuten ein Ausgelegtwerden ist (vgl. 1Kor 8,3; 13,12). Die Grundpassivität des Glaubens wird zur Aktivität des sich selbst und die Welt deutenden Subjekts uminterpretiert, die biblische Dramatik von Gericht und Gnade, Heil und Unheil, Tod und Leben, Gesetz und Evangelium, Offenbarung und Verborgenheit Gottes, von Glaube und Anfechtung zu einem wohltemperierten, religiösen Grundvertrauen heruntergekühlt.“302
Texthermeneutik und Forschungsgeschichte sind unlöslich miteinander verbunden, insofern sich im konkreten Umgang mit den Texten ein Verstehen herausbildet, das wiederum kritisch an den Texten selbst zu prüfen ist. Um diesen Zusammenhang grundsätzlich zu begreifen, sind einige Überlegungen von Paul Ricoeur hilfreich, die sich mir bei der Exegese der Paulustexte bewährt haben. Der Sache nach sind diese Überlegungen in der neutestamentlichen Wissenschaft unter dem Stichwort der „Intertextualität“ aufgenommen worden.303 Ricoeur gewinnt seine Perspektive gerade in der Wahrnehmung der Eigenheit der biblischen Texte. Dabei betont er den Vorrang der Texte, die in einem Prozess stehen, den er als „nommer Dieu“ – „Gott nennen“ beschreibt. Die theologische Beschreibung der Wirklichkeit, die mit dem Wort „Gott“ bezeichnet werden kann, vollzieht sich in der Wahrnehmung – dem „Hören“ auf die Texte, die auf ihre Weise versuchen, von dieser Wirklichkeit zu reden. Ricoeur erklärt: „Gott nennen, das hat schon in den Texten, die die Voraussetzung meines Hörens vorgezogen hat, stattgefunden.“304 Die paulinische Theologie ist anschlussfähig für diese Einsicht, da auch der Apostel das Hören als Voraussetzung des Glaubens, in dem Gott wahrgenommen wird, bezeichnet. Das lässt sich etwa an den Stellen deutlich machen, an denen Paulus das Nomen ἀκοή für die den Glauben hervorrufende Evangeliumsverkündigung verwendet
302 Körtner, Dogmatik, 14, vgl. Dalferth, Interpretationspraxis. Zum Thema s. Körtner/ Klein (Hg.), Wirklichkeit. Zum Interpretationsbegriff Anton, Interpretation. Kritisch zum Deutungsbegriff auch Löhr, Wahrnehmung, 456, der deshalb lieber von „Wahrnehmung und Bedeutung“ sprechen möchte und (im Blick auf das Ereignis des Todes Jesu) erklärt: „Daß die neutestamentlichen Autoren sich selbst als Hermeneuten und Deuter eines an sich blinden historischen Geschehens verstünden, kann ich nirgends erkennen.“ 303 S. dazu etwa Alkier, Intertextualität; ders./Hays (Hg.), Kanon und Intertextualität; Dies., Bibel; Boyarin, Intertextuality; Draisma, Intertextuality; Schneider, Gegenwart; ders., Texte. 304 Ricoeur, Gott nennen, 154; zur Hermeneutik Ricoeurs die Arbeit von Messner, Hermeneutik.
Die Fragestellung der Untersuchung
(1Thess 2,13; Gal 3,2; Röm 10,17). Ricoeurs Hermeneutik stellt den Versuch dar, die inhaltlichen Voraussetzungen, die bei der Interpretation der Rede von Gott gemacht werden, möglichst zu reduzieren und die Interpretation ganz an die biblischen Texte zurückzubinden. Die Texte werden dabei als der Niederschlag bestimmter Erfahrungen verstanden, die in ihnen zur Sprache gebracht werden: „Was vorausgesetzt wird, ist dies, daß der Glaube, insofern er gelebte Erfahrung ist, belehrt ist – im Sinne von geformt, erleuchtet, erzogen – im Netz der Texte, die die Verkündigung jedes Mal wieder in die lebendige Sprache zurückführt. Diese Voraussetzung der Textualität des Glaubens unterscheidet den biblischen (Bibel bedeutet hier Buch) Glauben von jedem anderen.“305
Als eine Vorläuferin der Ansätze zu einer „Intertextualität“ nennt Ricoeur die „alte Quellenforschung“.306 Er sieht diese in einer „Illusion“ befangen, die darin besteht, „zu glauben, man habe einen Text besser verstanden, wenn man einen anderen Text kennt, aus dem er durch Entlehnung oder Zitieren hervorgeht“.307 Gegen dieses – als reines „Sprachspiel“ zu beschreibendes – Verfahren insistiert Ricoeur mit Recht auf der Referenzfunktion der Rede, die „über etwas“ redet. Ricoeur rückt damit auf seine Weise die Frage nach der „Sache des Textes“ ins Bewusstsein, er überwindet dabei aber einen naiven Objektivismus, wenn er formuliert: „Nur die Schrift kann sich, indem sie sich an jeden, der lesen kann, wendet, auf eine Welt beziehen, die nicht da ist zwischen den Gesprächspartnern, auf eine Welt, die die Welt des Textes ist und dennoch nicht im Text ist. Ich nenne sie mit Gadamer ,die Sache des Textes‘. Die Sache des Textes, das ist der Gegenstand der Hermeneutik. Sie ist weder hinter dem Text wie der angenommene Autor noch im Text als seine Struktur, sondern vor ihm entfaltet.“308
Die festgefahrenen Alternativen zwischen einem Konstruktivismus und einem Objektivismus sind – im Anschluss etwa an Hartmut Rosa – zu überwinden durch die Beziehung zwischen interpretierendem Subjekt und „Welt“ – im Sinne einer „Weltbeziehung“.309 Damit lassen sich auch im Blick auf die Rekonstruktion der
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Ricoeur, Gott nennen, 155. AaO., 157. AaO., 158. AaO., 159. Gadamer vergleicht bei der Rede von der „Sache des Textes“ Textinterpretation mit einem Gespräch: „Der Text bringt eine Sache zur Sprache, aber daß er das tut, ist am Ende die Leistung des Interpreten. Beide sind daran beteiligt.“ Gadamer, Wahrheit, 391. 309 Rosa, Resonanz, 62: „Das unauflösbar erscheinende Theorieproblem ergibt sich … jeweils aus dem Widerspruch zwischen einer Position, welche das Subjekt setzt und die Welt als ,konstruiert‘
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paulinischen Rede von Gott hermeneutische Engführungen überwinden. An die Stelle der „Deutung“ tritt das Moment der „Begegnung“, von dem die paulinische Rede von Gott herkommt. 13.4 Zur Textauswahl Die paulinische Theologie lässt sich als „Work in Progress“ beschreiben.310 Um diesem Prozess auf die Spur kommen zu können, möchte ich mich nicht auf ein einzelnes Schreiben konzentrieren, sondern exemplarische Stücke aus verschiedenen Paulus-Briefen auslegen. So werden Querverbindungen erkennbar, mögliche Entwicklungen, aber eben auch mögliche Kontinuität und Stringenz. Dieses Vorgehen setzt eine bestimmte Sicht der Abfolge der Paulusbriefe voraus, die ich zu Beginn bereits nennen möchte: Mit der Mehrheit der Forschung gehe ich davon aus, dass der Erste Thessalonicherbrief der älteste erhaltene Paulusbrief ist, den der Apostel im Jahr 50 n. Chr. bei seinem ersten Aufenthalt in Korinth (vgl. Apg 18,1–18) geschrieben hat.311 Es folgen die beiden Korintherbriefe, die – wie sich den erhaltenen Briefen selbst entnehmen lässt – nur einen Ausschnitt aus einer größeren, mindestens vier Schreiben umfassenden Korrespondenz bieten.312 Der Galaterbrief ist m. E. in zeitlicher Nähe zum Römerbrief zu datieren, weshalb ich mich gegen eine Frühdatierung des Galaterbriefes entscheide.313 Der Philipperbrief ist m. E. nicht – wie derzeit von
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erscheinen lässt, und einer Gegenposition, welche die Welt … als Wirklichkeit setzt und das Subjekt als deren (illusionäres) Ergebnis oder Epiphänomen postuliert. Natürlich existieren demgegenüber auch Versuche, beide, ein erfahrendes Subjekt und eine diesem gegenüberstehende objektive Welt, als Letztgegebenheiten zu konzeptualisieren – allerdings mit der bekannten, die Philosophiegeschichte der Neuzeit prägenden Schwierigkeit, deren Bezogenheit nicht angemessen bestimmen zu können: Wie erkennt das Subjekt die Welt, wie geht das Subjekt aus der Welt hervor – und wie und von wo aus erkennen wir Letzteres? Die hier avisierte Soziologie der Weltbeziehung will diese theoretische Aporie nicht einfach wiederholen, sondern durch die Radikalität der Beziehungsidee überwinden. Sie geht gerade nicht davon aus, dass Subjekte auf eine vorgeformte Welt treffen, sondern postuliert, dass beide Seiten – Subjekt und Welt – in der und durch die wechselseitige Bezogenheit erst geformt, geprägt, ja mehr noch: konstituiert werden.“ So die Formulierung von Thielman, Theology, 222, zustimmend aufgenommen von Wolter, Paulus, 3. So für viele Wolter, Paulus, 6. Zur Begründung s. die Ausführungen in Kapitel 2 dieser Arbeit. S. dazu die Ausführungen in den Kapiteln 3 und 4. Eine Frühdatierung des Galaterbriefes vertrat bereits Zahn, Einleitung I, 138, der ihn in das Jahr 52 n. Chr. datierte. Seine These hängt mit der vorausgesetzten „Provinzhypothese“ zusammen, wonach mit „Galatien“ in Gal 1,2 (vgl. 3,1) die römische Provinz Galatien gemeint sei (und nicht die entsprechende Landschaft im Norden der Provinz). Zahn, ebd., vgl. die vorausgehende Erörterung aaO., 123–138. In jüngerer Zeit hat sich Sänger, Adressaten, 264 für die süd-galatische Theorie und die damit verbundene Provinzhypothese (vgl. aaO., 267) ausgesprochen. M.E. spricht allerdings
Die Fragestellung der Untersuchung
nicht wenigen Forschern vertreten314 – in einer (in der Apostelgeschichte nicht belegten) Gefangenschaft in Ephesus zu verorten,315 sondern in der in Apg 28,17–31 beschriebenen Gefangenschaft in Rom am Ende seines Lebens.316 So gehe ich davon aus, dass mit dem Philipperbrief (und dem Philemonbrief) das letzte (bzw. die letzten) Schreiben des Paulus vorliegen.317 Im Blick auf den Kolosserbrief ist die Frage nach der paulinischen Verfasserschaft m. E. schwierig zu beantworten. In letzter Zeit ist die Möglichkeit, die Probleme der paulinischen Verfasserschaft mit der sogenannten „Sekretärshypothese“, nach der der in Kol 1,1 genannte Timotheus der Verfasser des Schreibens gewesen sei, zu lösen, wieder erwogen worden.318 Da das Schreiben allerdings eine gegenüber den früheren Schreiben deutlich veränderte Vorstellungswelt und Begrifflichkeit erkennen lässt, werde ich es in meiner Untersuchung nicht in einem eigenen Kapitel behandeln. Hierfür wäre eine eigene Untersuchung nötig.319 Eine für die paulinische Rede von Gott grundlegende Vorstellung kommt in der im Ersten Thessalonicherbrief nur ein Mal, dafür aber an prominenter Stelle begegnenden Prädikation Gottes als θεὸς ζῶν in 1Thess 1,9 zur Sprache (Kapitel 2). Wie ich zeigen möchte, lassen sich in dieser Prädikation zum einen entscheidende Linien der für Paulus charakteristischen Rede von Gott entdecken und gleichzeitig differenziert bestimmen, wie Paulus auf die alttestamentliche Tradition Bezug nimmt,
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v. a. die begrifflich-inhaltliche Nähe zum Römerbrief dafür, den Galaterbrief zeitlich nahe an diesen und damit in die zweite Hälfte der 50ger Jahre zu datieren. Dass mit der Datierungsfrage noch nicht über die sachliche Frage nach der Stellung der „Rechtfertigungslehre“ entschieden ist, betont Sänger (aaO., 272) mit Recht. Zum Galaterbrief s. v. a. das Kapitel 5 dieser Arbeit. S. dazu Löhr, Philipperbrief, 206. So etwa Broer/Weidemann, Einleitung, 365; Heckel/Pokorny, Einleitung, 287f; Öhler, Geschichte, 211.235f; Theobald, Philipperbrief, 384. S. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 8. So etwa Schnelle, Paulus, 406–414. Demgegenüber lässt sich m. E. der Römerbrief nicht als „Testament des Paulus“ verstehen (so aber Schmid/Schröter, Entstehung, 276, ähnlich Theobald, Römerbrief, 214), zumal ihm dafür – im Gegensatz zum Philipperbrief – entscheidende Textmerkmale fehlen. Gese, Kol, 188 vgl. bereits Schweizer, Kol, 26f. Schwierig zu entscheiden bleibt m. E. die Frage nach der „Echtheit“ des Zweiten Thessalonicherbriefs. Da er bereits vom Aufbau her als eine bewusste Korrektur des Ersten Thessalonicherbriefs erscheint, legt sich m. E. die Annahme eines pseudepigraphen Charakters des Schreibens nahe (mit Landmesser, Zweiter Thessalonicherbrief, 535). Schwierig ist, wie die ausdrücklichen Bezugnahmen auf die Möglichkeit einer „Fälschung“ in 2Thess 2,2 (vgl. 3,17) einzuschätzen sind. Hier kommen die Ausleger zu einander entgegengesetzten Urteilen über die daraus folgende „Echtheit“ des 2Thess (Niebuhr, Paulusbriefsammlung, 275) bzw. über seinen pseudepigraphen Charakter (Horn, Vielfalt, 376f). Dass der Epheserbrief ein pseudepigraphes Schreiben ist, ergibt sich m. E. eindeutig aufgrund der literarischen Bezugnahme auf den Kolosserbrief. Im Blick auf die Pastoralbriefe ist die gemeinsame Sprach- und Themenwelt der drei Schreiben und die vorausgesetzte Situation ein eindeutiges Indiz für den pseudepigraphen Charakter des 1/2Tim und des Tit.
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Gott als Thema der Paulusforschung
die ihrerseits als ein narrativ strukturierter Kontext wahrzunehmen ist. Gleichzeitig kommt hier die Frage in den Blick, wie sich die Rede von Gott (1Thess 1,9) und von Jesus Christus (1Thess 1,10) zueinander verhalten, wobei sich diese Frage direkt mit älteren Thesen zur Aufnahme eine Tradition verbinden lässt. Auch in 1Kor 2,8 greift Paulus mit der Wendung ὁ κύριος τῆς δόξης eine Gottesprädikation auf, die er hier auf Jesus Christus bezieht (Kapitel 3). Sie weist traditionsgeschichtlich auf einen apokalyptischen Gedankenzusammenhang (1Hen), der von hier aus in den Blick genommen werden soll. Zudem ist im Ersten Korintherbrief das Motiv der σοφία entscheidend. Im Zusammenhang mit 1Kor 2,8 lässt sich deshalb danach fragen, in welcher Weise Paulus auf die frühjüdische und stoisch geprägte Weisheitstheologie Bezug nimmt und eigene Akzente setzt. Da in der Forschung bestimmte Thesen über die „Gegner“, auf die Paulus reagiert, begegnen, ist auch hier die Frage nach der „Tendenz“, mit der Paulus schreibt, zu stellen. In 1Kor 8,6 nimmt Paulus eine frühchristliche Bekenntnisformulierung auf (Kapitel 4). Hier lässt sich beobachten, wie die alttestamentliche Tradition interpretiert wird. Darin zeigt sich, worin auch der Apostel Entsprechungen zwischen der Geschichte Gottes mit Israel und der Geschichte der an Christus Glaubenden sieht. Zudem wird deutlich, welche konkreten Auswirkungen der „Monotheismus“ des Paulus für das Leben der Gemeinde in ihrer Umwelt hat. Und schließlich wird hier die gerade auch gegenüber der stoischen und frühjüdischen Theologie charakteristische Art erkennbar, in der Paulus von Gott als „Vater“ redet. Auch die Bedeutung der „Damaskus-Begegnung“ für die paulinische Rede von Gott ist bereits angesprochen worden. An Gal 1,16 und Phil 3,8f lässt sich nachvollziehen, wie diese Begegnung die Theologie des Paulus und auch sein Verständnis der Tradition entscheidend prägt (Kapitel 5). Diese Prägung lässt sich direkt an seinem Verständnis eines alttestamentlichen Textes nachvollziehen (Dtn 21,23 in Gal 3,13). Damit wird auch sichtbar, wie Paulus sich zur frühchristlichen Tradition positioniert hat und nach Damaskus neu positioniert, worin er seine Interpretation der Tradition also begründet sieht. In 2Kor 4,6 verbindet Paulus dieses Ereignis – wie zu begründen ist – mit einem Hinweis auf Gottes Schöpfung (Kapitel 6). Hier wird in besonderer Weise erkennbar, wie Paulus von Gott als dem Schöpfer der Welt und des Menschen redet. Dabei lassen sich auch Fragen aufnehmen, die im Zusammenhang mit 1Kor 8,6 aufgeworfen wurden. Denn auch im Blick auf diesen Text stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur Weisheitstheologie und der Vorstellung von der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit. In der Auslegung von Röm 1,3f wird vor allem der „politische“ Aspekt der Rede von Gott deutlich (Kapitel 7). Hier ist die Auseinandersetzung mit religiös begründeten Herrschaftsansprüchen deutlich erkennbar. Zudem lässt sich hier die Bedeutung der in der Forschungsgeschichte vorausgesetzten „Traditionsstücke“ und ihrer redaktionellen Bearbeitung durch Paulus besonders gut nachvollziehen. Aus meiner Sicht kann gerade an dieser Stelle eine Interpretation der Stelle im Blick auf das Gottesverständnis zeigen, wie
Die Fragestellung der Untersuchung
Paulus mit der Frage nach der Gegenwart Gottes in einem konkreten Zusammenhang beschäftigt ist. Auch an dieser Stelle ist die interpretierende Aufnahme einer alttestamentlichen Tradition (2Sam 7,12f) entscheidend. Aus dem Philipperbrief ist schließlich die Diskussion um den Christushymnus Phil 2,6–11 aufzugreifen (Kapitel 8). Hier wird sichtbar, wie die paulinische Rede von Gott sich auf das konkrete Zusammenleben der Gemeinde auswirkt. Die Vision der Aufrichtung der eschatologischen Gottesherrschaft wird im Blick auf ihre soteriologischen und ethischen Aspekte durchschaubar, die zeigt, welche Relevanz die paulinische Rede von Gott für Paulus hat. Die von Hurtado wieder hervorgehobene Bedeutung des Gottesdienstes für die Rede von Gott, die uns bereits im Zusammenhang mit 1Kor 2,8 begegnen wird, kann hier ebenfalls erörtert werden. Anhand der untersuchten Texte lassen sich verschiedene Aspekte der paulinischen Rede von Gott beschreiben: Die Aufnahme und Interpretation bestimmter Texte aus der Tradition Israels, aus der Apokalyptik, die Auseinandersetzung mit der frühjüdischen und stoisch geprägten Weisheitstheologie, die politische Dimension der Rede von Gott, und schließlich: ihre handlungsbestimmende Bedeutung. Anhand dieser Aspekte lässt sich am Ende der Arbeit benennen, in welchem Verhältnis Tradition und Interpretation in der paulinischen Rede von Gott stehen und worin das entscheidende Potential der paulinischen Theologie liegt. In diesem letzten Abschnitt wird der Ertrag der Untersuchung gebündelt.
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Zweites Kapitel: Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
1.
Der Kontext der paulinischen Rede von Gott im Ersten Thessalonicherbrief
Der Erste Thessalonicherbrief lässt sich relativ gut kontextualisieren. Zum einen verrät das Schreiben einiges über die Situation seiner Abfassung (vor allem in den ersten drei Kapiteln), zum anderen wird bereits im einleitenden Abschnitt 1Thess 1,2–10 auf den dem Schreiben vorausliegenden Missionsaufenthalt zurückgeblickt, bei dem die Gemeinde entstanden ist. Diese konkreten Kontexte sind für das Verständnis der im Ersten Thessalonicherbrief zu erkennenden Rede von Gott entscheidend. Wie in 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Phil 1,1 und in Phm 1,1 nennt Paulus Mitabsender,1 hier allerdings nicht nur einen, sondern gleich zwei: Silvanus und Timotheus.2 Im Bericht, den die Apostelgeschichte über den Gründungsaufenthalt in Thessaloniki gibt (Apg 17,1–9), wird als Begleiter des Paulus nur Silas (Σιλᾶς, V. 5) genannt, der offensichtlich mit dem in 1Thess 1,1 mit dem Namen Σιλουανός bezeichneten Mitarbeiter identisch ist.3 Bereits die Nennung der drei Namen erinnert die Adressaten an die Begegnung mit Paulus und seinen Mitarbeitern bei der Gründung der Gemeinde. Da Paulus nach 2Kor 1,19 auch in der Gemeinde
1 In 1Kor 1,1 wird Sosthenes als Mitabsender genannt, in 2Kor 1,1; Phil 1,1 und in Phm 1 der auch in 1Thess 1,1 genannte Timotheus. 2 Der Zweite Thessalonicherbrief lehnt sich eng an das Formular des Ersten Thessalonicherbriefs an und nennt ebenfalls Silvanus und Timotheus als Mitabsender. 3 Σιλουανός ist die gräzisierte Form des aramäischen Namens (BDR § 125.6; Fee, Thessalonians, 13). Er wird unter diesem Namen in den Paulusbriefen neben 1Thess 1,1 (vgl. 2Thess 1,1) noch in 2Kor 1,19 genannt, vgl. 1Petr 5,12. In 2Kor 1,19 werden Silvanus und Timotheus miteinander genannt. Das entspricht dem Bericht der Apostelgeschichte, da hier erzählt wird, dass Silas und Timotheus in Korinth wieder zu Paulus stoßen (Apg 18,5). Von Silas ist in der Apostelgeschichte in Apg 15,22.27.32.40; 16,19.25.29; 17,4.10.14.15; 18,5 die Rede. Die Anwesenheit des Timotheus beim Aufenthalt in Thessaloniki könnte indes auch in der Apostelgeschichte stillschweigend vorausgesetzt sein. Apg 16,1 zufolge lernt Paulus Timotheus am Beginn seiner zweiten Missionsreise in Lystra kennen und nimmt ihn auf seine Reise mit (V. 3). In dem sich unmittelbar auf den Bericht über den Aufenthalt in Thessaloniki anschließenden Bericht vom Aufenthalt in Beröa (Apg 17,10–14) wird Timotheus völlig unvermittelt gemeinsam mit Silas erwähnt (V. 14). So ist seine Anwesenheit zwischen Apg 16,1 und 17,14 wohl schlicht vorausgesetzt. Schreiber, 1Thess, 45 stellt die interessante Erwägung an, ob der Erzähler Lukas in Apg 17,5 „das Bild eines Missionspaares in Analogie zur paarweisen Aussendung der 72 Schüler durch Jesus in Lk 10,1 zu zeichnen“ versucht. Das würde auch erklären, weshalb Timotheus erst in 17,14 wieder genannt wird: Da Paulus weiter nach Athen reist, bleibt nun das „Missionspaar“ Silas und Timotheus in Beröa zurück. Die Berührungen zeigen indes auch, dass die Apostelgeschichte an dieser Stelle historische Erinnerungen bewahrt hat.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
in Korinth gemeinsam mit Silvanus und Timotheus erstmals das Evangelium verkündigt und damit die Gemeinde begründet hat, unterstützt die Absenderangabe die Annahme, dass der Erste Thessalonicherbrief in Korinth geschrieben wurde.4 Wenn Paulus im Folgenden von dem Geschehen redet, das sich bei der Erstverkündigung in Thessaloniki ereignet hat, dann ist zu berücksichtigen, dass er zur Zeit der Abfassung auch die Situation der Verkündigung in Korinth vor Augen hat, in der er offensichtlich ganz ähnliche Erfahrungen macht wie vormals in Thessaloniki. Aufgrund der bekannten Bezüge auf das Claudius-Edikt und die Gallio-Inschrift lässt sich das Schreiben relativ genau in das Jahr 50 n. Chr. datieren.5 Der Erste Thessalonicherbrief gehört zu den Schreiben, in denen Paulus auf seinen Aposteltitel im Präskript verzichtet.6 Da in 1Thess 1,1 zudem jede Näherbestimmung der Mitabsender fehlt und im Ersten Thessalonicherbrief häufig in der ersten Person Plural geredet wird, wird in den Kommentaren die Frage diskutiert, ob die Mitabsender nicht auch als Verfasser des Ersten Thessalonicherbriefes anzusehen sind.7 Allerdings setzt sich Paulus an einigen wenigen Stellen bewusst von der kollektivierenden Redeweise ab (2,18; 3,5; 5,27).8 Da in 1Thess 3,6 die Rückkehr des Timotheus „zu uns“ erwähnt wird, ist deutlich, dass er zumindest an dieser Stelle nicht in dem „wir“ enthalten ist. Da wir zahlreiche Begriffe und Gedanken finden, die Paulus in anderen Briefen deutlich als seine eigenen Gedanken ausweist, lässt 4 In 1Thess 3,6 berichtet Paulus, dass Timotheus nach einem Besuch der Thessalonischen Gemeinde wieder zu ihm zurückgekehrt ist. Kombiniert man diese Angabe mit Apg 18,5, wonach Paulus in Korinth wieder auf Silas und Timotheus traf, lässt sich Korinth als Abfassungsort des Ersten Thessalonicherbriefs plausibel machen (vgl. Fee, Thessalonians, 8; Landmesser, Erster Thessalonicherbrief, 165f; Schnelle, Paulus, 178; Schreiber, 1Thess, 50). 5 In Apg 18,2 wird erwähnt, dass das Ehepaar Aquila und Priszilla aus Rom nach Korinth gekommen war, weil „Kaiser Klaudius allen Juden geboten hatte, Rom zu verlassen“. Da sich das Claudius-Edikt (vgl. Suet.Cl. 25,4) durch den Geschichtsschreiber Orosius (9. Jh.) auf das Jahr 49 n. Chr. datieren lässt, muss Paulus in diesem Jahr in Korinth gewesen sein. In Apg 18,11 wird schließlich gesagt, dass Paulus anderthalb Jahre in Korinth blieb. Der in Apg 18,11 erwähnte Statthalter Gallio wird in der sogenannten Gallio-Inschrift genannt, die es ermöglicht seine Amtszeit auf die Jahre 51/52 n. Chr. zu datieren. Sie beginnt am Ende des Korinth-Aufenthaltes des Paulus, der sich demnach von Anfang 50 bis Mitte des Jahres 51 n. Chr. in Korinth befunden haben muss. So lässt sich der Erste Thessalonicherbrief in das Jahr 50 datieren. Vgl. Schnelle, Paulus, 30f, zur Gallio-Inschrift Deissmann, Paulus, 159–177, vgl. Lohse, Paulus, 54f. 6 Wie im Philipper- und im Philemonbrief. Da er sich dort aber – gemeinsam mit Timotheus – als δοῦλοι (Phil 1,1) bzw. sich selbst als δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ (Phm 1, vgl. Phil 1,7; 2Tim 1,8) bezeichnet, ist der Erste Thessalonicherbrief das einzige erhaltene Schreiben des Paulus, in dessen Präskript jede „titulare“ Näherbestimmung des Paulus als Briefabsender fehlt. Den Aposteltitel nennt Paulus im Präskript der beiden Korintherbriefe, im Galater- und im Römerbrief (1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1; Röm 1,1). 7 Ausführlich dazu Malherbe, Thessalonians, 86ff; Portenhauser, Identität, 282–289; Schreiber, 1Thess, 52–54. 8 Reinmuth, 1Thess, 109.
Der Kontext der paulinischen Rede von Gott im Ersten Thessalonicherbrief
sich m. E. auch der Erste Thessalonicherbrief als Schreiben des Paulus verstehen. Offensichtlich will und muss Paulus die Evangeliumsverkündigung aber im Ersten Thessalonicherbrief nicht als seine individuelle Theologie entfalten, so dass sich eine Differenzierung zwischen seiner eigenen Meinung und derjenigen seiner Mitarbeiter erübrigt. Dort, wo Paulus den Aposteltitel bewusst an den Anfang stellt, weil er sich entweder verteidigen oder vorstellen möchte – im Galater- und im Römerbrief – nennt er keine Mitabsender. Auf die Bedeutung, die seine Mitarbeiter für Paulus haben, ist mit Recht immer wieder hingewiesen worden.9 Paulus versteht seine Verkündigung offensichtlich nicht als sein eigenes „Fündlein“. Er weiß sich dabei vielmehr in einer Gemeinschaft mit anderen. Wichtig ist, dass die Eröffnung des Schreibens ganz auf das Geschehen konzentriert ist, an das Paulus seine Adressaten erinnert. Der Abschnitt 1Thess 1,2–10, in dem Paulus dieses Geschehen beschreibt, läuft in den Versen 9–10 auf eine dichtgedrängte Formulierung hinaus, in der sich eine Gottesprädikation findet, von der aus sich die Frage nach der Tradition, auf die Paulus in seiner Rede von Gott Bezug nimmt, stellen lässt: Er redet von Gott in 1Thess 1,9 als dem „lebendigen und wahren Gott“ (θεὸς ζῶν καὶ ἀληθινός). In der Forschung ist im Blick auf 1Thess 1,9f in zweierlei Weise von einer Tradition gesprochen worden: Zum einen hat die literarkritische Forschung darin eine von Paulus übernommene Formel erblickt, nach deren ursprünglichem Sitz im Leben gefragt werden konnte. Zum anderen lässt sich die Gottesprädikation θεὸς ζῶν καὶ ἀληθινός motivgeschichtlich untersuchen. Beide Aspekte lassen sich m. E. aber erst dann wirklich diskutieren, wenn zunächst auf den Kontext geachtet wird, in dem uns die Formulierungen im Ersten Thessalonicherbrief begegnen. Für diesen Kontext ist zu erwähnen, dass der in 1Thess 1,1 genannte Timotheus in 3,2 und in 3,6 noch einmal ausdrücklich erwähnt wird. Nach 3,2 hat Paulus ihn von Athen aus zu den Thessalonichern gesandt, um sie zu „stärken und im Blick auf ihren Glauben zu trösten“. Nach 3,6 ist Timotheus wieder zur Gruppe um Paulus zurückgekehrt und hat diesem vom Glauben der Thessalonischen Gemeinde berichtet. Wie noch genauer zu besprechen ist, finden sich dabei deutliche Berührungen zu der Schilderung, die Paulus in 1Thess 1,4–7 gibt. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, dass die Rückkehr des Timotheus zu Paulus der Auslöser zur Ab-
9 So erklärt Reinmuth, Paulus, 13: „Paulus war kein einsamer, gar eigenbrötlerischer Einzelgänger; er hielt vielmehr die gemeinsame Arbeit für unabdingbar.“ Schnelle, Paulus, 149 spricht von „etwa 40 Personen“, die in den Paulusbriefen als Mitarbeiter genannt werden. Nach Schreiber, 1Thess, 75 zeigt die Biographie des Paulus ihn „nicht als genialen Einzelgänger, sondern als Teamworker“. Deshalb sei der Erste Thessalonicherbrief „als offenes Gespräch, dessen Grundlage einzig die persönliche Beziehung zwischen Gemeinde und Missionsteam bildet“, gestaltet (ebd.). Grundlegend dazu Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
fassung des Ersten Thessalonicherbriefes war.10 Es sind demnach ganz konkrete Nachrichten und Erfahrungen, die Paulus zur Abfassung seines Schreibens anregen. Darum ist eine genaue Betrachtung der Schilderung der Ereignisse aufschlussreich.
2.
Danksagung und Gotteslob als Quelle der Rede von Gott
Es fällt auf, dass Paulus gleich im ersten Satz, der uns von ihm überliefert ist, von Gott redet. In dieser Rede bestimmt Paulus Gott aber sogleich in einer charakteristischen Weise: Er bestimmt Gott als „Vater“ (πατήρ) und nennt ihn in einem Atemzug mit „dem Herrn Jesus Christus“ (κύριος Ἰησοῦς Χριστός). Christiane Zimmermann erklärt deshalb mit Recht: „Vom ersten Vers des Briefes an ist Gott als Vater bestimmt.“11 Bemerkenswert ist, dass Paulus an allen Stellen, an denen er im Ersten Thessalonicherbrief von Gott als „Vater“ spricht (1Thess 1,1.3; 3,11.13) immer zugleich auch von Jesus als κύριος redet. Außer in 1Thess 1,1, wo beide Prädikationen absolut stehen,12 wird durch die Hinzufügung des Possessivpronomens ἡμῶν jeweils unterstrichen, dass es sich dabei um relationale Prädikationen, um Beziehungsbegriffe handelt. Gott wird demnach von Anfang an von seiner Beziehung zu Jesus und von seiner Beziehung zu den Glaubenden her zur Sprache gebracht. Mit dieser Näherbestimmung verklammert Paulus den ersten Hauptteil seines Schreibens (1,2–3,13), das die Grundlegung für seine mit 4,1 einsetzende Ausführungen bildet. Diese Ausführungen gründen in einer Gottesbeziehung und sie gehen von einer Gottesbeziehung auch der Glaubenden aus. In diesem Zusammenhang fällt ins Auge, dass der erste Hauptteil durch Gebete gerahmt ist: In 1Thess 1,2f, innerhalb der zur Briefkonvention gehörenden Danksagung, wird gleichsam in indirekter Weise auf das Dankgebet, das Paulus für die Thessalonicher spricht, hingewiesen, in 3,11–13 wird dann direkt ein Gebet formuliert. Auch die Form des Gebets weist darauf hin, dass hier von Gott nicht abstrakt, sondern in Beziehung geredet wird. Gott wird angeredet. Und Gott wird gedankt. Damit erweist sich bereits ganz zu Anfang die Doxologie als Quelle und der Ausgangspunkt der Theologie. Das 10 Vgl. Reinmuth, 1Thess, 106. Reinmuth bemerkt, in 1Thess 2,17 klinge an, dass die Abreise des Paulus nach dem Gründungsaufenthalt nicht freiwillig erfolgte. Zudem äußert Paulus hier (2,17f) und in 3,10 den Wunsch, bald wieder zu den Thessalonichern zu kommen, um ihren Glauben zusätzlich zu stärken. Die Nachrichten, die Timotheus bringt, sind offensichtlich ermutigend, verstärken in Paulus aber zugleich den Wunsch, die Gemeinde noch einmal zu besuchen. Da er vom „Satan“ aufgehalten wird (2,18) und der „Verführer“ auch die Gemeinde bedrohen könnte (3,5), sendet er erst Timotheus und schreibt dann den Brief. 11 Zimmermann, Namen, 386. 12 Der Zweite Thessalonicherbrief nimmt die Prädikation Gottes als „Vater“ – im Zusammenhang mit der Rede von Jesus als κύριος – im Präskript auf, ergänzt sie aber durch die Hinzufügung von ἡμῶν, wobei in 2Thess 1,1 das Personalpronomen indes nur bei Gott, nicht bei Jesus steht.
Danksagung und Gotteslob als Quelle der Rede von Gott
Loben Gottes geht der Theologie gleichsam voraus, Theologie denkt dem Gotteslob nach. Am Ersten Thessalonicherbrief lässt sich deshalb im Blick auf die paulinische Rede von Gott nachvollziehen, was Jörg Jeremias als Charakteristikum der Rede von Gott in beiden Teilen der christlichen Bibel benennt: „In der Tat steht in beiden Teilen der Bibel am Anfang allen Redens von Gott der Lobpreis; das Loben Gottes geht der Theologie voraus. Paulus bezieht sich in seinen Briefen mehrfach auf Christushymnen, die ihm schon vorlagen (Röm 1,3f.; Phil 2,6–11 u. ö.). Für das Alte Testament gilt Entsprechendes, auch wenn die mehrfach geäußerte Vermutung, das Mirjamlied Ex 15,21 sei sein ältester Text …, nicht beweisbar ist und umstritten bleibt. Aber allein schon die oft in den Psalmen belegte Aussage, dass das Loben Gottes zur Erkenntnis Gottes führt, bezeugt deutlich, dass der Lobpreis Gottes der Reflexion über seine Taten und sein Wesen vorausgeht. In der Bibel ist das Loben Gottes die primäre Quelle aller Theologie. Theologie ist im Kern ein Nach-Denken des Lobes Gottes und damit ein tieferes Eindringen in dessen Aussagen.“13
Wenn Paulus den Ersten Thessalonicherbrief mit einer Danksagung eröffnet, dann folgt er damit nicht nur einer Konvention. Vielmehr füllt er die Konvention theologisch-inhaltlich. Darin wird bereits in den ersten Versen deutlich, wie Paulus von Gott redet. Darum ist in der Auslegung auf die Beziehungen zu achten, die Paulus beschreibt, und auf die Erfahrungen, auf die er dabei Bezug nimmt. Es lässt sich dabei beobachten, wie das Gotteslob mit der Erinnerung (μνεία, V. 2b; μνημονεύω, V. 3a) an Gottes Handeln verbunden ist.14 Es dient zu Beginn des Schreibens in erster Linie dazu, die gemeinsame15 und die gegenwärtige Beziehung zu Gott16 und zu Jesus Christus zu unterstreichen. Da das Präskript des Ersten Thessalonicherbriefes das erste ist, das wir von Paulus haben, lässt sich seine Besonderheit nur in einem Rückschlussverfahren von den anderen Schreiben her erschließen. In einem Vergleich werden aber doch charakteristische Merkmale deutlich, die 1Thess 1,1 in besonderer Weise auszeichnen. Es lautet:
13 Jeremias, Theologie, 25. 14 Die „Erinnerung“ (μνεία) ist deshalb häufig eng mit der Danksagung, verbunden, so auch in Röm 1,9; Phil 1,3; Phm 4, vgl. Eph 1,16. 15 In diesem Sinne bemerkt Schreiber, 1Thess, 60: „Die Danksagung fällt so ausführlich aus, weil sie diese Gemeinsamkeit (sc. die Erfahrung der Erstverkündigung) und die gegenwärtige Beziehung als Grundlage der Briefkommunikation etabliert.“ Und aaO., 87 ergänzt er, dass in 1Thess 1,2f „der Dank an Gott (im Gebet) signalisiert, dass die gemeinsame Beziehung zu Gott die geistliche Basis bildet, auf der Absender und Adressaten miteinander im Gespräch stehen“. 16 Noch einmal Schreiber, 1Thess, 92: „Wenn sie (sc. die Missionare) die Erinnerung speziell im beständigen Gebet zu Gott verorten … öffnen sie die Beziehung der Gemeinde zu Gott hin.“
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Paulus und Silvanus und Timotheus der Gemeinde der Thessalonicher ἐν θεῷ πατρὶ καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ Χριστῷ, in Gott-Vater und dem Herrn Jesus Christus, χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη. Gnade (sei) mit euch und Friede. Παῦλος καὶ Σιλουανὸς καὶ Τιμόθεος τῇ ἐκκλησίᾳ Θεσσαλονικέων
Gleich zu Beginn ist von der Begründung der Gemeinde „in Gott Vater und dem Herrn Jesus Christus“ die Rede.17 Die zugesprochene „Gnade“ und der „Friede“ sind von dem so präzise bestimmten Gott her gewährte Gaben. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus am Ende seines Schreibens Gott als ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης bezeichnet (1Thess 5,23) und das Schreiben so durch das Stichwort des „Friedens“ verklammert. Auch diese Gottesprädikation ist von jenem Geschehen her bestimmt, das er mit den Prädikationen Gottes als πατήρ und Jesu als κύριος benennt. In 1Thess 1,2–10 vollzieht sich die Schilderung des die Gemeinde begründenden Geschehens in drei Schritten: In den Versen 2 und 3 beschreibt Paulus grundsätzlich die Begründung der christlichen Existenz in Gott. In den Versen 4–7 schildert Paulus, was sich in Thessaloniki bei den Glaubenden ereignet hat, mit V. 8 weist er über die Gemeinde hinaus auf das hin, was anderen Menschen über sie bekannt geworden ist. Diese Beschreibung mündet in die grundsätzliche Formulierung des Bekehrungsvorgangs in 1Thess 1,9f, in der einmal von der Zuwendung zu Gott (πρὸς τὸν θεόν) die Rede ist, der als θεὸς ζῶν καὶ ἀληθινός prädiziert wird, und in der schließlich auf die darin begründete Erwartung auf den kommenden Jesus vorausgeblickt wird (V. 10). Während die ältere Forschung die Prädikation θεὸς ζῶν häufig aus der gängigen Absetzung des jüdischen Monotheismus gegenüber den „heidnischen“ Göttern her erklärt hat, lässt sich zeigen, dass die Gottesprädikation in 1Thess 1,9 eng mit dem Kontext verknüpft ist und deshalb nicht zufällig an dieser für die Einleitung des Ersten Thessalonicherbriefs entscheidenden Stelle steht. Bevor die traditionsgeschichtlichen Hintergründe zu beleuchten sind, gilt es deshalb, zunächst die Rede von Gott in diesem Abschnitt zu profilieren. Der Verlauf der Argumentation in 1Thess 1,2–10 lässt sich m. E. folgendermaßen darstellen:18
17 Die späteren Präskripte sind stärker formelhaft gestaltet und verbinden die Segensformel mit der geprägten Formulierung ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ (1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Röm 1,7; Phil 1,2; Phm 3). In 1Thess 1,1 folgt die Segensformel gleichsam unverbunden, der Akzent liegt darauf, dass die Existenz der Gemeinde in Gott-Vater und dem κύριος Jesus Christus begründet ist. Auf die Besonderheit der Formulierung des Präskripts in 1Thess 1,1 macht auch Fee, Thessalonians, 12 aufmerksam. AaO., 15 erläutert Fee: „Thus both the source (the work of Christ) and goal (God the Father) of their existence as God’s people are expressed together in this compact phrase.“ Ob sich die Aufteilung in „source“ (Jesus Christus) und „goal“ (Gott-Vater) in diesem Sinne aufrechterhalten lässt, wäre indes zu fragen. 18 In der Literatur werden unterschiedliche Gliederungsvorschläge gemacht: So gliedert etwa Portenhauser, Identität, 278 in die Verse 1,2f.4f.6.7f.9f; Schreiber, 1Thess, 86 schlägt 1,2f.4f.6f.8.9f vor.
Die Existenz der Gemeinde coram Deo (1Thess 1,2f)
1,2f: Die Existenz der Gemeinde coram Deo 1,4–7: Der Bekehrungsvorgang „von innen“ 1,8–10: Der Bekehrungsvorgang „von außen“
3.
Die Existenz der Gemeinde coram Deo (1Thess 1,2f)
Die Beschreibung der in Gott und Jesus Christus begründeten Existenz der Gemeinde wird in 1Thess 1,2f entfaltet. Der Abschnitt wird durch Hinweise auf Gott (ὁ θεός) gerahmt, der in V. 2 absolut steht und in V. 3 (wie bereits in V. 1) als πατήρ prädiziert wird: Εὐχαριστοῦμεν τῷ θεῷ πάντοτε περὶ πάντων ὑμῶν μνείαν ποιούμενοι ἐπὶ τῶν προσευχῶν ἡμῶν, ἀδιαλείπτως μνημονεύοντες ὑμῶν τοῦ ἔργου τῆς πίστεως καὶ
τοῦ κόπου τῆς ἀγάπης
καὶ
τῆς ὑπομονῆς τῆς ἐλπίδος τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ
ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν.19
Wir danken Gott allezeit für euch alle, indem wir Erinnerung üben20 in unseren Gebeten und uns unablässig erinnern an euer Werk, das im Glauben und eure21 Mühe, die in der Liebe und eure Geduld, die in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus besteht 22 – in Gegenwart 23 Gottes, unseres Vaters.
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Strittig ist demnach vor allem, wie die Struktur der Verse 4–10 zu bestimmen ist. Für meine Gliederung entscheidend ist die Beobachtung, dass zwischen den Versen 7 und 8 ein Gedankenfortschritt stattfindet. Die Nennung der Provinzen Makedonien und Achaja, auf die der erste Argumentationsschritt zuläuft, wird in V. 8 aufgenommen und entfaltet. Der Abschnitt 1,4–7 erweist sich demgegenüber als ein eigenständiger Argumentationsabschnitt, der mit den Versen 8–10 weitergeführt wird. In 28 Nestle-Aland ist an dieser Stelle ein Komma gesetzt. M.E. ist hier ein Punkt geboten, da mit εἰδότες in V. 4a ein neuer Satz beginnt, der in V. 5 seine Begründung erfährt. So die Übersetzung bei Reinmuth, 1Thess, 115. Syntaktisch ist ὑμῶν auf alle drei Nomina zu beziehen (so etwa auch Malherbe, Thessalonians, 108; Schreiber, 1Thess, 88). Die drei parallel stehenden Genitive haben einen „objektiven“ Charakter, d. h. sie beschreiben, worin sich Hoffnung, Glaube und Liebe konkret äußern (vgl. BDR § 163 mit Anm. 4). Schreiber, 1Thess, 83 übersetzt: „Verhalten aus Vertrauen und Mühen aus Liebe und Durchhalten aus der Erwartung“.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Die Rahmung der Verse unterstreicht: Was von den Glaubenden gesagt wird, das wird in Gottes Gegenwart (ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ) gesagt. Das Gebetsmotiv wird durch die Nennung der Coram-Deo-Relation in seiner Bedeutung unterstrichen. Dasselbe lässt sich in 3,13 beobachten, wo Paulus ebenfalls auf die Situation der Glaubenden ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ verweist. Innerhalb des Abschnitts 1Thess 1,2f lassen sich feine Differenzierungen zwischen Gott und Jesus Christus beobachten, die allerdings nicht einfach unter das Stichwort einer „Subordination“ zu fassen sind.24 Die Relation der Glaubenden zu Christus ist mit ihrer Relation zu Gott vergleichbar. Deshalb kann sich auch das Gebet sowohl an Gott (1,2; 3,9.11) als auch an Jesus Christus (3,11) richten. Es geht in 1Thess 1,2f nicht so sehr darum, die Relation zwischen Gott und Jesus Christus genau zu bestimmen. Es geht hier vielmehr darum, ihre jeweils konkrete Bedeutung für die Existenz der Glaubenden zu beschreiben. Im Blick auf Gott hatten wir bereits festgestellt, dass schon die Form der Danksagung aussagekräftig ist.25 Hier wird die Rede über Gott in der Rede mit Gott verankert.26 Die Beschreibung der Existenz der Glaubenden wird in der Relation coram Deo – vor Gott vorgenommen und ist mit der Erinnerung (μνεία, μνημονεύειν) an sein Handeln an den Glaubenden verbunden. Wenn in V. 3b Gott als „unser“ Vater bezeichnet wird, dann schließen die Absender ihre eigene Existenz mit der Existenz der Glaubenden zusammen: Auch ihre Existenz ist in der Dimension „vor Gott“ zu verstehen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Gott nun wieder genauer inhaltlich bestimmt wird – als „Vater“. Diese Konkretisierung findet durch das geschilderte Handeln Gottes an den Glaubenden statt. Der Gedanke, dass der
23 Zur Bedeutung von ἔμπροθεν als „in Gegenwart von“ s. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 519, s.v. ἔμπροσθεν 2.b. 24 Zur Problematik der Formulierung s. den oben zitierten Hinweis von Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 300 sowie Vollenweider, Monotheismus, 25. 25 Das Verb εὐχαριστεῖν begegnet im 1Thess in 1,2; 2,13 und 5,18, ansonsten in den Briefanfängen der Paulusbriefe (Röm 1,8; 1Kor 1,4; Phil 1,3) und der Paulusschule (2Thess 1,3, vgl. 2,13; Kol 1,3; Eph 1,16). In anderen Briefen steht eine direkte Danksagung bzw. ein Lobpreis Gottes (2Kor 1,3; Eph 1,3). Das Nomen εὐχαριστία verwendet Paulus in 1Thess 3,9. 26 Es bedeutet demgegenüber eine entscheidende Akzentverschiebung, wenn Rudolf Bultmann nicht „mit Gott reden“, sondern „aus Gott reden“ bzw. „von Gott reden“ als Gegensätze zu „über Gott reden“ versteht (Bultmann, Gott, 33, vgl. 37; „Von Gott reden“ bereits betont im Titel des Aufsatzes). Bei Paulus ist sehr viel deutlicher der Gedanke an Gott als Gegenüber zum Menschen gewahrt, als dies bei Bultmann der Fall ist. Bultmann, aaO., 33 formuliert: „Könnten wir aus Gott von Gott reden, so könnten wir auch von unserer Existenz reden, und umgekehrt. Jedenfalls müßte ein Reden von Gott, wenn es möglich wäre, zugleich ein Reden von uns sein. So bleibt das richtig: wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muß geantwortet werden: nur als ein Reden von uns.“ Damit ist die Ineinssetzung von Anthropologie und Theologie begründet, die zu Recht kritisiert worden ist.
Die Existenz der Gemeinde coram Deo (1Thess 1,2f)
Rede von Gott ein Handeln Gottes an den Glaubenden vorausgeht, wird allerdings erst im folgenden Abschnitt entfaltet. In 1Thess 1,3 wird zunächst in einer Trias von πίστις, ἀγάπη und ἐλπίς entwickelt, woran die Absender sich erinnern, was sie also bei ihrem Aufenthalt in Thessaloniki erfahren haben. Diese Trias begegnet im Ersten Thessalonicherbrief noch einmal, in 5,8.27 Darin lässt sich wohl ein bewusster Rückbezug erkennen,28 denn mit der „Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ klingt der Ausblick auf den „Tag des Herrn“ (5,2.4) an. Von der „Hoffnung“ (ἐλπίς) redet Paulus im Ersten Thessalonicherbrief sonst immer im Zusammenhang mit der Parusie Christi (2,19; 4,13). Sie ist gleichsam die Signatur der Glaubenden, was sich auch in der Negation ausdrückt, wenn 4,13 die Nicht-Glaubenden als solche beschreibt, die keine Hoffnung haben (οἱ μὴ ἔχοντες ἐλπίδα). Das entspricht wohl nicht der subjektiven Selbsteinschätzung der „übrigen“, sondern ist aus der Perspektive des Glaubens formuliert. „Hoffnung“ gibt es aus dieser Perspektive nur durch den Ausblick auf die Parusie Christi. So ist bereits in 1Thess 1,3 die Perspektive angedeutet, auf die der Abschnitt in 1,10 hinausläuft. Von hier aus lässt sich eine Verklammerung des Gesamtabschnitts 1,2–10 beobachten, die die Begründung der christlichen Existenz in Gott und in Jesus Christus mit dem Ausblick auf das Kommen Christi verbindet. Das Stichwort παρουσία steht dann am Ende des ersten Hauptteiles in 1Thess 3,13. Hier ist an die Grundbedeutung des Wortes zu erinnern: παρουσία bedeutet „Anwesenheit“ oder auch „Gegenwart“.29 Die Gegenwart Christi spielt im Ersten Thessalonicherbrief eine wichtige Rolle. So laufen die Ausführungen zur Auferstehung der Toten in 1Thess 4,17b auf den Ausblick der bleibenden Christusgemeinschaft als Ziel für die an Christus Glaubenden hinaus (… καὶ οὕτως πάντοτε σὺν κυρίου ἐσόμεθα). Der Ausblick auf die Parusie Christi wird dann auch am Ende des Ersten Thessalonicherbriefs noch einmal gegeben (5,23). Angesichts des Todes einiger Gemeindeglieder, aber auch angesichts der „Bedrängnisse“, die die Gemeinde erfährt, wissen die Glaubenden auch um die Differenzerfahrung,30 dass die Gegenwart Christi gegenwärtig eben noch nicht vollständig und dauerhaft wahrgenommen wird. In der „Hoffnung“ werden sie aber auf die Perspektive ausgerichtet, in der sie ganz von dieser Gegenwart erfüllt sein werden. So sind ὑπομονή und ἐλπίς unmittelbar miteinander verbunden. „Geduld“ meint damit: Ausharren in Bedrängnis, weil es Hoffnung gibt (vgl. Röm 5,1–5).
27 Ebenso in 1Kor 13,13, vgl. Kol 1,4f; Gal 5,5f. 28 Reinmuth, 1Thess, 117 formuliert: „Paulus thematisiert auf diese Weise Grundkoordinaten christlichen Glaubenslebens; ihr Zusammenhang prägt das Ganze des Briefes.“ 29 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1272 1., auch die dort unter 2. genannte Bedeutung „Ankunft“ ist „als Eintritt der Anwesenheit“ verstanden (ebd.). 30 Vgl. Landmesser, Geist, 143f.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Gegenüber der – zum Schluss der Trias genannten – ὑπομονὴ τῆς ἐλπίδος, die eher eine Haltung beschreibt, sind die beiden zuvor genannten Begriffe durch die Verbindung mit einem „aktiven“ Begriff („Arbeit“, „Mühe“) gekennzeichnet: Das „Werk des Glaubens“ (τὸ ἔργον τῆς πίστεως, 1Thess 1,3, vgl. 2Thess 1,11b) steht an dieser Stelle nicht im Zusammenhang mit dem Thema der ἔργα νόμου, das Paulus im Galater- und im Römerbrief verhandelt.31 Es geht um die „Betätigung“32 des Glaubens, in dem dieser sichtbar nach außen tritt. So ist die Beschreibung der πίστις unmittelbar mit den folgenden beiden Satzgliedern verbunden. Die Formulierung ὁ κόπος τῆς ἀγάπης ist ganz ähnlich zu verstehen, denn ὁ κόπος kann – wie τὸ ἔργον – „die Arbeit“ oder auch „die Mühe“ bedeuten.33 So werden die Abstraktbegriffe πίστις und ἀγάπη in ihrer sichtbar nach außen tretenden Erscheinungsform beschrieben. Es ließe sich hierzu auf die berühmte Formulierung in Gal 5,6 verweisen, wo Paulus von der πίστις δι’ ἀγάπης ἐνεργουμένη redet.34 Dort ist die Liebe die „äußere Erscheinungsform“ des Glaubens. πίστις und ἀγάπη sind aber vor allem in der Äußerung miteinander verbunden, auf deren Zusammenhang mit dem Briefeingang bereits aufmerksam gemacht wurde: mit der Erwähnung der Ankunft des Timotheus mit Nachrichten aus Thessaloniki (1Thess 3,6). Die Passage 1Thess 3,6–9 ist durch mehrere Stichworte mit 1Thess 1,2ff verbunden: Zum einen ist in 1Thess 3,6 wie in 1Thess 1,3 von πίστις und ἀγάπη die Rede. Zudem begegnet beide Male das Stichwort μνεία (3,6, vgl. 1,2), das sich nun allerdings auf die Erinnerung der Thessalonicher bezieht, dabei allerdings auf dasselbe Ereignis – den Missionsaufenthalt des Paulus und seiner Mitarbeiter in Thessaloniki – referiert. Sodann ist hier (1Thess 1,6b) wie dort (1Thess 3,7) von der θλῖψις die Rede, wobei sich diese wiederum einerseits auf die Thessalonicher, andererseits auf die Situation des Paulus bezieht. An beiden Stellen ist deutlich, dass die geschilderte Erfahrung in einer Situation der „Bedrängnis“ gemacht wird und sich damit gegen Widerstände ereignet. Und schließlich begegnet in 1Thess 3,9 das Dankmotiv, auf dessen Bedeutung hingewiesen wurde. Vor allem aber ist die Formulierung auffällig, mit der Paulus von der Begegnung mit Timotheus berichtet (1Thess 3,6):
31 Einen solchen Zusammenhang deutet allerdings Fee, Thessalonians, 24f an. 32 Vgl. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 623 s.v. ἔργον 1b. 33 Im Ersten Thessalonicherbrief verwendet Paulus das Wort in 2,9 und in 3,5 (vgl. 1Kor 3,8; 15,58; 2Kor 6,5; 10,15; 11,23; Gal 6,17, ferner 2Thess 3,8). Während er in 2,9 von seiner eigenen „Mühe“ im Dienst der Evangeliumsverkündigung an den Thessalonichern spricht (ähnlich in Gal 6,17), redet er in 3,5 von der „Mühe“ der Gemeindeglieder, die durch das Wirken des „Versuchers“ nichtig gemacht zu werden droht. In diesem Sinne redet Paulus auch in 1Kor 15,58 von dem κόπος. Es geht dabei offensichtlich um den „gelebten Glauben“ in eschatologischer Perspektive. 34 Vgl. Reinmuth, 1Thess, 116.
Die Existenz der Gemeinde coram Deo (1Thess 1,2f)
Ἄρτι δὲ ἐλθόντος Τιμοθέου πρὸς ἡμᾶς
Jetzt 35 kam Timotheus zu uns von euch
ἀφ’ ὑμῶν καὶ εὐαγγελισαμένου ἡμῖν τὴν πίστιν καὶ τὴν ἀγάπην ὑμῶν καὶ ὅτι ἔχετε μνείαν ἡμῶν ἀγαθὴν πάντοτε
und verkündigte uns euren Glauben und eure Liebe und dass ihre allezeit gute Erinnerung an uns pflegt
Paulus verwendet das Verb εὐαγγελίζομαι mit direktem Objekt sonst immer in einem gefüllten theologischen Sinn, als Terminus für die Verkündigung des Evangeliums.36 Als Objekt steht dabei τὸ εὐαγγέλιον (1Kor 15,1; 2Kor 11,17), in Gal 1,16 ist mit dem Personalpronomen der „Sohn Gottes“ als direktes Objekt der Verkündigung gemeint. Nur an einer einzigen Stelle erscheint ἡ πίστις als das direkte Objekt von εὐαγγελίζομαι, in Gal 1,23. Dort heißt es über Paulus: ὁ διώκων ἡμᾶς ποτε νῦν εὐαγγελίζεται τὴν πίστιν ἥν ποτε ἐπόρθει („der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zu zerstören suchte“). Allerdings besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Gal 1,23 und 1Thess 3,6: Während in Gal 1,23 der Inhalt des Glaubens gemeint ist (die fides quae creditur), bezieht sich 1Thess 3,6 auf den Glaubensvollzug (die fides qua creditur). Timotheus überbringt die „guten Nachrichten“ über den Glauben und die Liebe der Thessalonicher. Viele Ausleger sehen in diesem Sinne in 1Thess 3,6 den „unterminologischen“ oder „schwachen“ Sprachgebrauch von εὐαγγελίζομαι (= „gute Nachricht überbringen“) belegt.37 Für Paulus ist diese Verwendung des Verbs allerdings ungewöhnlich. Lässt sich im Sinne des Paulus sagen, dass Timotheus mit seinem Bericht über den Glauben der Thessalonicher gleichsam das Evangelium verkündigt? Traugott Holtz interpretiert die Aussage in dieser Richtung, wenn er bemerkt, hier schwinge „auch der eigentliche, theologisch geschärfte Sinn, den die Wortgruppe bei Paulus hat“, mit.38 Die Nachricht davon, „daß Glaube und Liebe in der Gemeinde leben“, sei
35 Holtz, 1Thess, 131 weist darauf hin, dass die Wendung nicht zu streng zeitlich verstanden werden muss, sondern sich auch sachlich „auf den Zuspruch, den Paulus erfuhr“, beziehen kann. 36 Strecker, εὐαγγελίζω, 175. 37 So etwa Friedrich, 1Thess, 232; Hoppe, 1Thess, 208; Reinmuth, 1Thess, 134. Auch Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 643 s.v. εὐαγγελίζω 1. geben 1Thess 3,6 zusammen mit Lk 1,19; 2,10; Offb 10,7; 14,6 als Beleg für die „allgemeine“ Wortbedeutung („gute Nachricht bringen“) an. Im Blick auf 1Thess 3,6 urteilt Strecker, εὐαγγελίζω, 174 wie die genannten Autoren, dass hier die „profane“ Bedeutung („mitteilen“) vorliege, macht aber deutlich, dass auch der „unterminologische Sprachgebrauch ein weites theolog[isches] Spektrum“ umfasse (ebd.). Insbesondere bei Lk 2,10 klingt die theologische Bedeutung des Verbs ja in der Tat an. 38 Holtz, 1Thess, 132. Friedrich meint ganz ähnlich (trotz der in seinem Kommentar gegebenen Übersetzung s. o.), dass das Verb in 1Thess 3,6 (wie in Hebr 4,2.6) „nicht gerade profan gebraucht“ werde und vom sonstigen Sprachgebrauch abweiche (Friedrich, εὐαγγελίζομαι, 718). Holtz hält den Sprachgebrauch an unserer Stelle sogar für „singulär“ (Holtz, ebd.). In diesem Sinne bemerkt
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
für Paulus deshalb „ein Stück Evangelium“, weil Glaube und Liebe eben Gottes Werk seien.39 Die Botschaft, die Timotheus dem Paulus überbringt, bewirkt bei ihm jedenfalls Reaktionen, die in diesem Sinn eine theologische Dimension haben: Paulus und seine Mitarbeiter erfahren Trost durch diese Mitteilung (διὰ τοῦτο παρεκλήθημεν, 3,7). Ausdrücklich bemerkt Paulus, dass dieser Trost durch den Glauben der Thessalonicher entsteht (διὰ τῆς ὑμῶν πίστεως). Zudem führt er zur Dankbarkeit und zu Freude (3,9). Auch damit sind theologisch gefüllte Begriffe verwendet, die als Reaktionen auf das erfahrene Heilshandeln Gottes zu verstehen sind (s. dazu unten). Paulus erwähnt in 1Thess 3,9 ausdrücklich, dass er sich um der Thessalonicher willen „vor unserem Gott“ (ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ ἡμῶν) freut. Die Nachrichten, die Timotheus ihm überbringt, zeigen ihm, dass der Gott, an den sie gemeinsam glauben und vor dem sie gemeinsam leben, bei den Thessalonichern am Werk ist. Mit der Erinnerung an dieses „Werk“ Gottes setzt Paulus in 1Thess 1,3a ganz bewusst ein, ebenso wie bei der Erinnerung an die gemeinsame Existenz coram Deo (ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν, V. 3b). Die Erfahrung der Gegenwart Gottes hat für Paulus eine theologische Bedeutung. Das führt er in 1Thess 1,4–7 aus. Die terminologischen Berührungen zu 1Thess 3,6–10 zeigen, dass es ganz konkrete Nachrichten über das Handeln Gottes in Thessaloniki sind, an die Paulus mit dem Ersten Thessalonicherbrief anknüpft. Bereits hier wird deutlich, welche Bedeutung die Erfahrung der Gegenwart Gottes für die paulinische Rede von Gott hat. Sie ist für ihn auch in diesem Kontext gleichsam christologisch vermittelt, denn Paulus formuliert, dass die Thessalonicher ἐν κυρίῳ existieren (3,8), was bedeutet, dass ihre Existenz durch den κύριος Ἰησοῦς bestimmt ist.40 Wie in 1Thess 1,2f ist die Existenz der Glaubenden durch ihren Bezug auf Gott und auf Jesus Christus bestimmt. Für Paulus ist dies offensichtlich keine „Verdopplung des Glaubensobjekts“, wie Bousset meinte.41 So könnte sich die Bezeichnung Jesu als ὁ υἱὸς αὐτοῦ (sc. τοῦ θεοῦ) in 1Thess 1,10, die für eine Auferweckungsaussage ungewöhnlich ist,42 bewusst auf die Prädikation Gottes als πατήρ in V. 1.3 zurückbeziehen und damit den Abschnitt 1,1–10 gleichsam verklammern.43 Deutlich wird jedenfalls: Die pau-
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43
auch Schreiber, 1Thess, 189, dass hier „für die Adressaten der Terminus euangelion anklingen“ dürfte. Holtz, 1Thess, 132. Dass hier mit κύριος „sicher Christus“ gemeint ist, unterstreicht mit Recht Hoppe, 1Thess, 212, der dazu auf die parallele Formulierung in Phil 4,1 hinweist. Ebenso Malherbe, Thessalonians, 203. S. dazu die Ausführungen in Kapitel 1. In der älteren Forschung wurde vermutet, hinter der Formulierung habe ursprünglich eine Aussage über den „Menschensohn“ gestanden (so etwa Friedrich, Tauflied, 248; Müller, Parusie, 125–131, vgl. Sanders, Paulus, 40). Dagegen spricht sich mit Recht Hoppe, 1Thess, 125 aus. Offensichtlich kennt Paulus keine „Menschensohn“-Christologie. Sie kann auch nicht einfach in 1Thess 1,10 eingetragen werden. Vgl. Fee, Thessalonians, 48.
Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7)
linische Rede von Gott wird durch die konkreten Kontexte bestimmt, in denen er das Nomen ὁ θεός verwendet. Diese Einsicht, die grundsätzlich für das Verständnis von einzelnen Wörtern gilt,44 muss beachtet werden, wenn die paulinische Rede von Gott genau verstanden werden soll.
4.
Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7)
Mit der Anrede ἀδελφοί spricht Paulus die Adressaten als „Mitchristen“ direkt an.45 Das Partizip εἰδότες könnte syntaktisch – wie es die Zeichensetzung in NestleAland28 nahelegt – von dem mit εὐχαριστοῦμεν eingeleiteten Hauptsatz abhängig sein. Es kann aber auch einen eigenen Satz einleiten, wie sich etwa in Gal 1,16 zeigt.46 V. 4a weist demnach auf das Folgende voraus. Die „Erwählung“ der Glaubenden ist für Paulus kein abstrakter Gedanke, sondern er schließt auf eine solche wiederum phänomenologisch, von konkreten Beobachtungen her.47 Paulus weist damit auf den theologischen Rahmen hin, innerhalb dessen er die in Thessaloniki gemachten Erfahrungen versteht: Die Reaktion der Thessalonicher, durch die sie als ἀδελφοί erkennbar geworden sind, weist darauf hin, dass sie von Gott geliebt sind. Erwählung gründet in Gottes Liebe. Das ist ein alttestamentlicher Gedanke (vgl. v. a. Dtn 7,7f; Jes 44,2; vgl. Bar 3,37; Dan 3,35 [Abraham]; Sir 45,1 [Mose]). Es drückt sich darin die Überzeugung aus, dass die Erwählung von Menschen nicht an einer Qualität der Erwählten ihren Anknüpfungspunkt hat, sondern allein in Gott selbst begründet ist, der sich ihnen zuwendet. Diese Zuwendung aber erfolgt in einer konkreten Tat Gottes, in der er die Beziehung stiftet. Besonders deutlich wird das in Dtn 7,7f.48 44 Zum „Kontextprinzip“ s. Landmesser, Wahrheit, 38–43. 45 Die Adressaten werden im Ersten Thessalonicherbrief immer wieder in diesem Sinn als ἀδελφοί angesprochen (2,9.14.17; 3,7; 4,1.10.13; 5,1.4.12.25). Dass damit bei Paulus speziell die „Mitchristen“ gemeint sind (Beutler, ἀδελφός, 71), zeigt sich im Ersten Thessalonicherbrief besonders deutlich in 4,6.10; 5,27. Auf die bemerkenswerte Häufigkeit dieser Bezeichnung gerade im Ersten Thessalonicherbrief weist auch Holtz, 1Thess, 45 hin. 46 S. dazu die unten zitierte Übersetzung von Fee, Thessalonians, 28. 47 Das betont mit Recht bereits Marxsen, 1Thess, 36. 48 Die Verse lauten in der Fassung der Septuaginta: οὐχ ὅτι πολυπληθεῖτε παρὰ πάντα τὰ ἔθνη, προείλατο κύριος ὑμᾶς καὶ ἐξελέξατο ὑμᾶς – ὑμεῖς γάρ ἐστε ὀλιγοστοὶ παρὰ πάντα τὰ ἔθνη –, ἀλλὰ παρὰ τὸ ἀγαπᾶν κύριον ὑμᾶς καὶ διατηρῶν τὸν ὅρκον, ὃν ὤμοσεν τοῖς πατράσιν ὑμῶν, ἐξήγαγεν κύριος ὑμᾶς ἐν χειρὶ κραταιᾷ καὶ ἐν βραχίονι ὑψηλῷ καὶ ἐλυτρώσατο ἐξ οἴκου δουλείας ἐκ χειρὸς Φαραω βασιλέως Αἰγύπτου. „Nicht weil ihr zahlreicher seid als alle Völker, hat der Herr euch erwählt
und euch ausgesucht – denn ihr seid weniger als alle Völker – , sondern weil der Herr euch liebt und den Eid hält, den er euren Vätern geschworen hat, hat euch der Herr mit starker Hand und erhobenem Arm herausgeführt und (dich) aus dem Haus der Sklaverei befreit, aus der Hand Pharaos, des Königs von Ägypten.“ Liebe und Erwählung erweisen sich hier im Exodusgeschehen. Die hier begründete Beziehung bedeutet die Bestätigung der Treue Gottes.
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Es stellt sich nun die Frage, in welcher Weise Paulus an den Erwählungsgedanken anknüpft. Von der ἐκλογή49 spricht Paulus sonst nur noch im Römerbrief im Zusammenhang mit der Frage nach der bleibenden Erwählung Israels (Röm 9,11; 11,5.7.28).50 Diese Ausführungen stehen innerhalb eines Gedankenganges, der bis zum Ende des achten Kapitels des Römerbriefs verläuft. Dort bezeichnet Paulus die an Christus Glaubenden als ἐκλεκτοὶ θεοῦ (8,33, vgl. 16,13). Auch die Tatsache, dass er in 1Thess 1,4 von der „Erwählung“ der thessalonischen Gemeinde spricht, die zumindest überwiegend aus ehemaligen „Heiden“ besteht, macht deutlich: Diese Erwählung ist für Paulus nicht in der Zugehörigkeit zum Volk Israel begründet, sondern in jener Tat Gottes, von der er im Zusammenhang von 1Thess 1,1–10 redet. Freilich liegt dieser Gedanke bereits der Vorstellung von der Erwählung Israels zugrunde: Erwählung gründet in Gott selbst, und sie wird in seinem Handeln an bestimmten Menschen erkennbar. Was damit gemeint ist, wird in V. 5b erneut in einer Trias (ἐν δυνάμει – ἐν πνεύματι ἁγίῳ – [ἐν] πληροφορίᾳ πολλῇ) beschrieben (1Thess 1,4f): εἰδότες, ἀδελφοὶ ἠγαπημένοι ὑπὸ Wir wissen, von Gott geliebte Geschwister [τοῦ] θεοῦ, τὴν ἐκλογὴν ὑμῶν, um eure Erwählung, ὅτι τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν denn unser Evangelium οὐκ ἐγενήθη εἰς ὑμᾶς ἐν λόγῳ μόνον ist zu euch nicht allein im Wort ergangen, ἀλλὰ καὶ ἐν δυνάμει sondern auch in Kraft καὶ ἐν πνεύματι ἁγίῳ und im heiligen Geist καὶ [ἐν] πληροφορίᾳ πολλῇ, und in voller Gewissheit,51 καθὼς οἴδατε wie ihr selbst wisst, οἷοι ἐγενήθημεν [ἐν] ὑμῖν δι’ ὑμᾶς. wie wir unter euch um euretwillen waren. Die Konjunktion ὅτι am Beginn von V. 5 ist kausal zu verstehen. Der Satz gibt die Begründung für das „Wissen“, das in V. 4 aufgerufen wird.52 Es ist die Erfahrung mit dem Evangelium, die Paulus von der Erwählung der Thessalonicher überzeugt hat. Das Evangelium ist „nicht allein im Wort“ ergangen, sondern „in Kraft und im heiligen Geist und in voller Gewissheit“. Da unmittelbar darauf λόγος in V. 6 ganz positiv gebraucht wird und geradezu synonym für τὸ εὐαγγέλιον (V. 5a) steht, geht es in V. 5 sicher nicht darum „das Wort“ abzuwerten. Vielmehr soll ausgesagt werden, dass es nicht einfach beim Aussprechen des Wortes geblieben ist, sondern
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Das Substantiv ἐκλογή ist in der Septuaginta nicht belegt (Eckert, ἐκλεκτός, 1018). S. dazu Eckert, aaO., 1019f. Vgl. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1348 s.v. πληροφορία. In diesem Sinne übersetzt Fee, Thessalonians, 28: „For we know, brothers and sisters loved by God, that he has chosen you, because our gospel came to you not simply with words but also with power, with the Holy Spirit and deep conviction.“
Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7)
dass das Wort die Kraft entfaltet hat, die Thessalonicher für sich zu gewinnen.53 In 1Thess 2,13b wird Paulus noch genauer beschreiben, was er in 1,5 andeutet: παραλαβόντες λόγον ἀκοῆς παρ’ ἡμῶν τοῦ θεοῦ ἐδέξασθε οὐ λόγον ἀνθρώπων ἀλλὰ καθώς ἐστιν ἀληθῶς λόγον θεοῦ, ὃς καὶ ἐνεργεῖται ἐν ὑμῖν τοῖς πιστεύουσιν – Ihr habt das Wort der Predigt von uns, das Gottes ist, als ihr es empfingt, angenommen nicht als ein Wort von Menschen, sondern, wie es in Wahrheit ist, als Wort Gottes, das sich ja als wirksam erweist an euch, den Glaubenden. δύναμις und πληροφορία werden durch das in der Mitte stehende πνεῦμα ἅγιον theologisch gefüllt. Im Ersten Korinther- und v. a. im Römerbrief kann Paulus das Evangelium selbst bzw. die Kreuzespredigt als δύναμις θεοῦ bezeichnen (1Kor 1,18; Röm 1,16). Durch das Motiv des πνεῦμα ἅγιον macht er in 1Thess 1,5 deutlich: Gott selbst hat durch die Evangeliumsverkündigung gewirkt, indem es einige der Menschen in Thessaloniki zu Glaubenden gemacht hat – was in den Versen 6 und 7 beschrieben wird. Mit καθὼς οἴδατε werden nun auch die Thessalonicher selbst auf diese Erfahrung beim Gründungsaufenthalt der Missionare bei ihnen aufmerksam gemacht. Die allen gemeinsame Erfahrung wird theologisch interpretiert und damit verstehbar gemacht. Es ist eine Erfahrung, die allen gemeinsam vorausliegt: die Erfahrung des Handelns Gottes. Stefan Schreiber bemerkt deshalb mit Recht, dass nicht der Gedanke der Eingliederung der Heidenchristen in das Gottesvolk, sondern die Tatsache, „dass die Erwählung der Thessaloniker speziell im Evangelium geschah“, in 1Thess 1,5 vorrangig ist.54 Von der Frage nach der Integration der „Heiden“ in eine bereits bestehende „Heilsgemeinde“, die im Zusammenhang der New Perspective zum Dreh- und Angelpunkt der paulinischen Theologie erklärt wurde, ist an dieser Stelle nicht die Rede.55 Paulus denkt vielmehr daran, dass die „Heilsgemeinde“ durch die Verkündigung des Evangeliums entsteht. So verweist er die Glaubenden auf ihre konkreten Erfahrungen (vgl. 1Kor 15,11b; Gal 3,2). Erreicht wird damit, dass die Glaubenden sich auf ihre eigenen Erfahrungen besinnen und damit darauf, dass sie durch die Evangeliumsverkündigung Gottes Wirklichkeit erfahren haben. In 1Thess 1,4–7 lässt sich eine bemerkenswerte Analogie zu dem Bericht erkennen, den die Apostelgeschichte in 10,1–11,18 von der Begründung der Heidenmission gibt. Dort wird aus den sich an die Missionspredigt anschließenden Geisterfahrungen (Apg 10,44–46a; 11,15) gefolgert, dass Gott „auch den Heiden die Umkehr zum Leben gegeben hat“ (11,18, vgl. 11,16f). Gordon D. Fee sieht deshalb in 1Thess 1,4–7 ausgesagt, „that early Christian conversion among Gentiles was an experienced reality“.56 Sowohl bei Paulus als auch in der Apostelgeschichte hat sich 53 Jantsch, Gottesverständnis, 89 formuliert: „Das Evangelium hat seine überzeugende und wirksame Macht erwiesen, als auf die Botschaft hin einige der Thessalonicher zum Glauben gefunden haben.“ 54 Schreiber, 1Thess, 101. 55 Gegen Jantsch, Gottesverständnis, 89. 56 Fee, Thessalonians, 41.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
diese Erinnerung erhalten. Die „erfahrene Wirklichkeit“ ist der Grund, weshalb Paulus um die Erwählung der Thessalonicher und um Gottes Liebe zu ihnen weiß. Auf diese Wirklichkeit weist er sie in 1Thess 1,5 hin. Die Beschreibung, die V. 6 von den konkreten Auswirkungen auf das Leben der Glaubenden gibt, macht deutlich, dass deren Identität in mehrfacher Hinsicht personal vermittelt ist.57 Die Glaubenden sind nämlich zu „unseren und des Herrn Nachahmern“ (μιμηταὶ ἡμῶν καὶ τοῦ κυρίου, V. 6) geworden“. Das Wort μιμητής verwendet Paulus auch in anderen Passagen seiner Briefe. So kann er seine Gemeindeglieder in Korinth dazu auffordern, seine „Nachahmer“ zu werden (μιμηταί μου γίνεσθε, 1Kor 4,16).58 Der „Vorbildcharakter“ des Paulus und seiner Mitarbeiter aber besteht im Zusammenhang von 1Thess 1,6 nicht primär in moralischer Hinsicht.59 Zudem werden die Thessalonicher in 1,6 nicht dazu aufgefordert, „Nachahmer“ zu werden, es wird vielmehr beschrieben, dass sie es beim Missionsaufenthalt in Thessaloniki geworden sind.60 „Nachahmer“ sind sie dadurch geworden, dass sie zu Glaubenden geworden sind. So lässt sich auch die Beiordnung von καὶ τοῦ κυρίου verstehen: Indem sie wie Paulus und seine Mitarbeiter zu Glaubenden geworden sind, sind sie in ihrer Existenz auf den κύριος ausgerichtet worden. Eine ähnliche Formulierung findet sich in 1Kor 11,1 (μιμηταί μου γίνεσθε καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ). Dort verweist Paulus auf das „Vorbild“ Christi im Blick darauf, nicht den eigenen Nutzen, sondern den „der vielen, damit sie gerettet werden“, zu suchen (1Kor 10,33). So kann Paulus auf das Christusgeschehen als Begründung der christlichen Lebenshaltung hinweisen.61 „Nachahmer des Herrn“ zu sein, meint eben jene Lebenshaltung, die V. 3 beschrieben hatte: in der hoffenden Ausrichtung auf Jesus Christus zu leben. Diese Lebenshaltung bestimmt die Missionare wie die Glaubenden in Thessaloniki gleichermaßen. Die Ausrichtung auf Jesus Christus aber wird durch konkrete Personen vermittelt und verweist doch auf ihn selbst zurück. Es sind die konkreten Auswirkungen des Evangeliums
57 Das arbeitet Portenhauser, Identität differenziert heraus, s. dazu das Fazit zum Ersten Thessalonicherbrief aaO., 300f. 58 Vgl. Gal 4,12 (γίνεσθε ὡς ἐγώ); Phil 3,17 (συμμιμηταί μου γίνεσθε). Es bedeutet eine charakteristische Weiterführung der Vorstellung, wenn in Eph 5,1 formuliert wird, die Adressaten sollten „Nachahmer Gottes“ (μιμηταὶ τοῦ θεοῦ) werden (s. dazu Gese, Eph, 126). 59 Das betont mit Recht Schreiber, 1Thess, 105. Gegen Malherbe, Thessalonians, 114, der den Zusammenhang verkennt und deshalb zu der Spekulation gelangt, dass hier etwas über das Wissen der Thessalonicher über das Leben Jesu gesagt würde. Malherbe betont mit Recht, dass das Verständnis von μιμητής in 1Thess 1,6 aus dem direkten Kontext zu erheben ist. V. 3 macht deutlich, dass es um die ganzheitliche Ausrichtung auf den kommenden κύριος geht, der freilich mit dem dagewesenen und dem gegenwärtigen identisch ist. 60 ἐγενήθητε ist als ingressiver Aorist zu bestimmen (vgl. BDR § 331), bezeichnet also den Anfangspunkt des Geschehens. 61 S. dazu auch 2Kor 8,9.
Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7)
auf Menschen, die auch den Glauben der anderen befördert und bestärkt. So weist der auch gegenseitig erfahrene Glaube letzten Endes auf den Herrn der Gemeinde selbst hin, durch den sie begründet ist. Die existentielle Ausrichtung auf Jesus Christus gründet in einer Begegnung mit dem Wort, denn nach V. 6 haben die Thessalonicher „das Wort in großer Bedrängnis angenommen“ (δεξάμενοι τὸν λόγον ἐν θλίψει πολλῇ). Das Wort ὁ λόγος ist an dieser Stelle terminus technicus62 und identisch mit dem in V. 5 genannten εὐαγγέλιον. Das „Annehmen“ des „Wortes“ (Gottes) wird in 2,13 ganz analog dazu beschrieben, es wird dort aber expliziert, was das Wirken ἐν πνεύματι ἁγίῳ genau meint: Es ist das Wort Gottes selbst, „das in euch, den Glaubenden wirkt“ (ὃς καὶ ἐνεργεῖται ἐν ὑμῖν τοῖς πιστεύουσιν). 1,6b erläutert in zweifacher Weise, wie sich dieses „Annehmen“ der Heilsbotschaft konkretisiert: Es äußert sich einmal in der „Freude“ (χαρά), mit der die Glaubenden – in einer Situation, in der das eigentlich nicht zu erwarten ist – auf die Botschaft reagiert haben. Die Freude ist ein weiteres Motiv, das auf die Erfahrung der Gegenwart Gottes hinweist.63 So wird Paulus in 1Thess 3,9 von seiner „Freude“ sprechen, die die Nachrichten über den Glauben der Thessalonicher bei ihm auslösen und die ihn zum Dank an Gott führen.64 Die Freude ist bereits im Alten Testament Reaktion auf Gottes Heilshandeln oder auch Zeichen der Erwartung dieses Handelns.65 All diese Motive zeigen, dass der durch das Evangelium ausgelöste Glaube sich in konkreten Reaktionen äußert, die darauf hinweisen, dass die Menschen in die Erfahrung der Gegenwart Gottes einbezogen werden. Mit der Wendung πνεύματος ἁγίου wird in V. 6b – wie bereits in V. 5 – eine theologische Kategorie eingeführt. Sie macht (wie in 2,13, s. o.) deutlich, dass es Gott selbst ist, der die Reaktion der Freude in den Glaubenden bewirkt hat. In seinen späteren Briefen wird Paulus die Wirkungen des Geistes 62 So etwa auch Ritt, λόγος, 883, der dazu auch auf Kol 4,3 und Jak 1,21 verweist. Die letztgenannte Stelle gehört m. E. nicht hierher, weil in Jak 1,21 nicht das Evangelium, sondern die Tora gemeint sein dürfte (s. dazu Bauspiess, Gesetz, 194f). 63 In Gal 5,22 wird die χαρά als ein Aspekt der „Frucht des Geistes“ beschrieben, ähnlich in Röm 14,17; 15,13, vgl. auch die Formulierung in 2Kor 1,24 und das Motiv der „Freude“ im Philipperbrief (Phil 1,4.18.25; 2,1.17.29; 3,1; 4,1.4.10). Berger, χαρά, 1087 bemerkt treffend: „Wenn ,Geist‘ Gottes eigenste Präsenz in der Welt ist, dann ist Freude in bes[onderem] Maße Folge dieser Anwesenheit Gottes bei den Menschen“. Auch hierzu lässt sich auf die Apostelgeschichte hinweisen, wo neben dem Geist-Motiv auch das Motiv der „Freude“ im Zusammenhang mit der Heidenmission begegnet (Apg 13,52, vgl. Berger, ebd.). Berger fügt hinzu (aaO., 1088): „Die Verwendung von Freude im NT weist insbesondere darauf hin, daß auch der Adressat konstitutiv in das Offenbarungsgeschehen hineingehört und im Modus der (gottgewirkten) Freude daran Anteil hat.“ 64 2,19f zufolge sind die Glaubenden selbst für Paulus „Hoffnung und Freude“. 65 Vgl. Conzelmann, χαίρω κτλ., 353f; Ruprecht, , 831–834: Den Schwerpunkt des „theologischen Gebrauchs“ im AT sieht Ruprecht „im Bereich der kultischen Feste“, der „Erwartung künftigen Heiles“ und im Zusammenhang mit der „Anfechtung durch den Triumph der Feinde in Klagen“ (aaO., 831).
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
noch weiter entfalten (vgl. nur Gal 4,4–7 und Röm 8,9ff). Das Motiv ist aber in dieser frühesten Äußerung gleichsam selbstverständlich präsent. Es muss nicht eigens begründet oder eingeführt werden. Die Absender wie die Adressaten rechnen vielmehr mit dem Wirken des Geistes, das sie der Gegenwart Gottes gewiss macht. Für die paulinische Rede von Gott ist deshalb von Anfang an nicht nur der Hinweis auf die Ausrichtung auf Jesus Christus, sondern ebenso die Überzeugung vom Wirken des Geistes grundlegend. Das Motiv des Geistes ist geradezu notwendig, um die gegenwärtige Wirksamkeit Gottes zur Sprache zu bringen. Da diese für die paulinische Rede von Gott zentral ist, lässt sich m. E. – ohne spätere dogmatische Differenzierungen an dieser Stelle eintragen zu müssen – von einer trinitarischen Grundstruktur des paulinischen Gottesverständnisses reden.66 Sie wird freilich erst in den späteren Briefen des Paulus weiter entfaltet. Gerade diese Beobachtung zeigt, dass bei Paulus am Anfang nicht eine Lehre über den Geist, sondern die Erfahrung dieses Geistes steht, der er in seiner Theologie nach-denkt. Diese Bewegung gilt es zu berücksichtigen, wenn die Ausführungen des Paulus ins Verhältnis gesetzt werden zu späteren dogmatischen Ausdifferenzierungen. Mit V. 7 kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der bereits zum Abschnitt 8–10 überleitet: Der Glaube der Thessalonicher hat Auswirkungen über ihren Ort hinaus. Sie sind zum τύπος πᾶσιν τοῖς πιστεύουσιν ἐν τῇ Μακεδονίᾳ καὶ ἐν τῇ Ἀχαΐᾳ geworden. Das Wort τύπος hat an dieser Stelle die Bedeutung „Vorbild“ oder „Muster“.67 Von einem ähnlichen „Wechselverhältnis“ zwischen einzelnen Gemeinden spricht Paulus auch in 2,14, wo er ja ebenfalls von der Wirkung des „Wortes“ bei den Thessalonichern spricht. Indem sie die Heilsbotschaft als Wort Gottes angenommen haben, sind sie „Nachahmer der Gemeinden Gottes, die sich in Judäa befinden, in Christus Jesus“ (μιμηταὶ τῶν ἐκκλησιῶν τοῦ θεοῦ τῶν οὐσῶν ἐν τῇ Ἰουδαίᾳ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) geworden. So ergibt sich eine Entsprechung zwischen den Wörtern μιμητής und τύπος,68 in dem sich das Wechselverhältnis zwischen den Gemeinden ausdrückt. Da Paulus mit Mazedonien und Achaja die beiden Provinzen Griechenlands anspricht, könnte im Sinne eines Merismus „ganz Griechenland“ gemeint sein. Die Absender dürften aber konkret ihre Situation in Korinth, Hauptstadt der Provinz Achaja, im Blick haben.69 Zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes befindet sich die Gemeinde in Korinth wohl noch im Aufbau.70 Dennoch kann Paulus bereits davon sprechen, dass sich dort dasselbe ereignet hat, was auch in Thessaloniki geschehen ist. So wird deutlich, was die Gemeinden
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S. dazu den Epilog dieser Arbeit. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, s.v. τύπος 5., 1654. Vgl. zu dieser Entsprechung 2Thess 3,9. So etwa auch Schreiber, 1Thess, 50. So Reinmuth, 1Thess, 106, der auf das Fehlen einer Grußliste im 1Thess hinweist. Eine solche fehlt freilich auch im Galaterbrief, was dort allerdings durch die Situation bedingt sein dürfte.
Der Bekehrungsvorgang „von innen“ (1Thess 1,4–7)
miteinander verbindet: Sie alle haben die Erfahrung der Wirksamkeit Gottes durch das Evangelium gemacht und sind zu „Glaubenden“ (πιστεύοντες) geworden. Was sie miteinander verbindet, das ist die gemeinsame Erfahrung der Gegenwart Gottes im Evangelium. Als negative Kehrseite hat ihr zum-Glauben-Kommen aber auch die in 1Thess 2,14–16 beschriebenen Anfeindungen von außen. Das dürfte auch mit der in 1,6 genannten „großen Bedrängnis“ angedeutet sein. Durch die Art ihres Gottesglaubens gewinnen die Gemeinden in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld an Profil. Sie unterscheiden sich nicht nur von ihrem pagan-hellenistischen Umfeld, sondern werden auch von jüdischer Seite als „anders“ wahrgenommen. Wie genau sich die Kontakte zur jüdischen Gemeinde in Thessaloniki gestalten, lässt sich vom Ersten Thessalonicherbrief ausgehend nicht genau sagen. So ist etwa umstritten, ob für die Zeit der Abfassung die Existenz einer jüdischen Synagoge für die Stadt Thessaloniki vorausgesetzt werden kann.71 Paulus selbst spricht nicht von einem Konflikt mit der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki, er sieht aber den Konflikt, den die Gemeinde mit ihren συμφυλέται erfährt, als strukturanalog zu denjenigen an, die die Gemeinden in Judäa seitens der jüdischen Gemeinde zu erleiden haben (1Thess 2,14). Mit den συμφυλέται sind in diesem Zusammenhang die Mitglieder der örtlichen Gesellschaft gemeint.72 Inwiefern dabei an bestimmte Segmente der Gesellschaft gedacht ist, die durch den gemeinsamen Bezug auf eine bestimmte Gottheit definiert sind,73 kann hier offen bleiben. Da die antike Gesellschaft durch und durch religiös geprägt ist, geraten die Thessalonicher offensichtlich zumindest immer auch in religiöser Hinsicht in Spannungen mit der Gesellschaft, in der sie leben. Dass dabei auch Konflikte mit der jüdischen Gemeinde entstehen, deutet darauf hin, dass der „Glaube an Gott“, von dem in 1,8 die Rede ist, bereits ein besonderes Profil gewonnen hat, das jüdische Gemeinden durchaus als different zu
71 Jüdisches Leben in Thessaloniki ist inschriftlich erst ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. bezeugt (Schreiber, 1Thess, 33; vom Brocke, Thessaloniki, 217–233). Der entsprechende Bericht in der Apostelgeschichte, nach dem Paulus in Thessaloniki in der Synagoge des Ortes verkündigt, wo es schließlich zu einem Konflikt kommt (Apg 17,1–5, vgl. V. 13), könnte dem Erzählschema des Verfassers der Acta entsprungen sein (vgl. Apg 9,20; 13,5.14.44; 14,1; 17,1f.10.17; 18,4.19.26; 19,8). Auch in Apg 28,17 ruft Paulus nach seiner Ankunft in Rom zuerst die Anführer der jüdischen Gemeinde (τοὺς ὄντας τῶν Ἰουδαίων πρώτους) zu sich, um zu erklären, dass er „nichts gegen das Volk oder die väterlichen Gebräuche“ getan habe. Damit ist die „These“ der Apostelgeschichte in der Schlussszene noch einmal dokumentiert: Durch Paulus findet die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk, die ihren Ausgangspunkt in Jerusalem hat, ihre legitime Fortführung und Ausweitung bis an „das Ende der Erde“ (Apg 1,8), wo er die den Aposteln nach Ostern erschlossene Heilsbotschaft (1,3) „ungehindert“ verkündigt (28,31). Vom Brocke, aaO., 231 hält die Existenz einer Synagoge im 1 Jh. n. Chr. dennoch für möglich, lehnt es aber ab, von der „Existenz einer großen jüdischen Gemeinde“ in Thessaloniki zur Zeit des Paulus zu sprechen. 72 So Holtz, 1Thess, 102; Schreiber, 1Thess, 158. 73 Vgl. Hoppe, 1Thess, 173; vom Brocke, Thessaloniki, 155–166.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
ihrem eigenen Glauben empfinden konnten. Dass Paulus sich im Zusammenhang 1Thess 2,14–16 zu einer pauschalen Polemik gegen „die Juden“ versteigt, belegt, dass ihm dieser Konflikt bei der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefs bereits deutlich bewusst ist. Gegenüber den Thessalonichern ist die Israel-Frage aber noch kein eigenes Thema. Das Thema der speziellen Erwählung Israels führt Paulus bekanntlich vor allem im Römerbrief (Röm 9–11) aus.74 Im Ersten Thessalonicherbrief geht es indes darum, das Profil der Glaubenden in Thessaloniki in ihrem Umfeld zu beschreiben. Hat Paulus zunächst gleichsam den Vorgang beim Missionsaufenthalt aus einer Binnenperspektive beschrieben, so beleuchtet er diese in den Versen 8–10 durch eine Perspektive von außen.
5.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
In V. 7 hatte Paulus formuliert, dass die Glaubenden in Thessaloniki zum τύπος für alle Glaubenden in den Provinzen Griechenlands geworden sind. Wie der mit V. 8 kausal angeschlossene Satz (ἀφ’ ὑμῶν γάρ ...) zeigt, belegt er dies nun mit Bemerkungen darüber, was über Thessaloniki hinaus bekannt geworden ist. Insofern wird mit V. 8 ein Perspektivwechsel vorgenommen, der sich in den Versen 9 und 10 bestätigt, die vollends den Eindruck machen, „die Kundgabe anderer zu reproduzieren“.75 Im Zusammenhang unserer Fragestellung verdient insbesondere die für Paulus und das ganze Neue Testament singuläre Formulierung76 in V. 8 Aufmerksamkeit, wo Paulus von der πίστις ἡ πρὸς τὸν θεόν der Thessalonicher spricht. Einige Ausleger sehen die Formulierung als einen Beleg für die „Theozentrik“ des paulinischen Glaubensverständnisses an.77 Diese These ließe sich mit den Versen 9 und 10 dann insofern kombinieren, als auch dort die Rede von dem „lebendigen und wahren Gott“ zunächst ganz von ihrem hellenistisch-jüdischen Hintergrund verstanden und als Absetzung des jüdisch-monotheistischen Gottesglaubens von den heidnischen Götzen verstanden wird. Es wäre dann jeweils zunächst von Gott „an sich“ die Rede, dem dann erst in einem zweiten Schritt – v. a. mit V. 10 – der Hinweis auf Jesus Christus an die Seite gestellt würde. In diesem Sinne bemerkt etwa Hans Hübner, dass die Formulierungen in V. 9 – insbesondere
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S. dazu die Ausführungen in Kapitel 7. Holtz, 1Thess, 57. Hoppe, 1Thess, 115; Schreiber, 1Thess, 108. So unterstreicht Jantsch, Gottesverständnis, 32, der Glaube der Thessalonicher sei „strukturell … theozentrisch (nämlich als Glaube an Gott, 1,8) bestimmt“. Und Schreiber, 1Thess, 108 erklärt, die Formulierung zeige „die theozentrische Grundlage des Evangeliums, das aus dem Heilshandeln des Gottes Israels entspringt“.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
die Entgegensetzung von θεὸς ζῶν und εἴδωλα – der jüdischen Missionspraxis entnommen würden, die Paulus dann in V. 10 christlich interpretiere.78 Ganz ähnlich erklärt Eckart Reinmuth: „Die Gesamtformulierung redet zuerst von Gott, dem lebendigen und wahrhaftigen. Es ist der Gott Israels. Die Erwartung seines Sohnes Jesus bildet den unterscheidenden Kern christlichen Bekenntnisses.“79 Reinmuth fügt allerdings sogleich hinzu, dass sich die beiden Elemente der Verse 9 und 10 nicht trennen ließen: „Der Glaube an den Gott Israels schließt die Erwartung seines Sohnes ein.“80 Im Hintergrund steht die in der älteren Forschung vertretene These eines Traditionsstückes, das in 1Thess 1,9f aufgenommen worden sei. Klumbies hat sich in seiner Untersuchung bereits – im Anschluss an Traugott Holtz – mit dieser These auseinandergesetzt. Die Strukturanalyse hat ergeben, dass die Verse 9 und 10 im Zusammenhang mit V. 8 interpretiert werden müssen. Denn es ist der in V. 8 beschriebene „Glaube an Gott“, der in den Versen 9 und 10 inhaltlich entfaltet wird. Bevor ich auf die Diskussion um die Tradition von 1Thess 1,9f eingehe, ist zu erörtern, wie der „Glaube an Gott“ in 1Thess 1,8 zu verstehen ist. 5.1
„Der Glaube an Gott“ (1Thess 1,8)
Die Wendung ἡ πίστις ἡ πρὸς τὸν θεόν in V. 8 ist mit dem Kontext ausdrücklich verknüpft. Syntaktische Signale bestehen in dem bereits angesprochenen kausalen Anschluss an V. 6f, aber auch in dem mit der Wendung verbundenen Personalpronomen, das den „Glauben an Gott“ als „euren“ – der Thessalonicher – Glauben bezeichnet. Für das Verständnis des Abschnitts 1,8–10 ist demnach mit zu bedenken, was in den Versen 4–7 ausgeführt wurde. Zum Verständnis ist aber auch eine genaue Bestimmung der Struktur von V. 8 hilfreich: 8 (a) ἀφ’ ὑμῶν γὰρ ἐξήχηται ὁ λόγος τοῦ κυρίου (b) οὐ μόνον ἐν τῇ Μακεδονίᾳ καὶ [ἐν τῇ] Ἀχαΐᾳ, (c) ἀλλ’ ἐν παντὶ τόπῳ (d) ἡ πίστις ὑμῶν ἡ πρὸς τὸν θεὸν ἐξελήλυθεν, ὥστε μὴ χρείαν ἔχειν ἡμᾶς λαλεῖν τι. 8 (a) Denn von euch erscholl das Wort des Herrn, (b) nicht nur in Mazedonien und (in der) Achaja, (c) sondern an jeden Ort (d) ist euer Glaube an Gott hinausgedrungen, so dass wir es nicht nötig haben, irgendetwas (darüber) zu sagen.
78 Hübner, εἴδωλον, 938. 79 Reinmuth, 1Thess, 121. 80 Ebd.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Innerhalb des Verses entsprechen einander die beiden äußeren und die beiden inneren Glieder, so dass sich eine chiastische Verschränkung der beiden Aussagesätze (a–b; c–d) ergibt.81 Die Glieder (a) und (d) bringen jeweils zur Sprache, was genau über Thessaloniki hinaus bekannt geworden ist. Jeweils wird ein bestimmter Inhalt (ὁ λόγος τοῦ κυρίου bzw. ἡ πίστις ἡ πρὸς τὸν θεόν) mit einem entsprechenden Verb mit dem Präfix ἐξ verbunden. Neben der Wendung ἡ πίστις ὑμῶν ἡ πρὸς τὸν θεόν ist auch die Wendung ὁ λόγος τοῦ κυρίου in diesem Zusammenhang ungewöhnlich. Aufgrund der Parallelität der Sätze legt sich nahe, dass beide Wendungen aufeinander Bezug nehmen. Was zunächst das Verständnis der Wendung ὁ λόγος τοῦ κυρίου anlangt, kann gefragt werden, wie der Genitiv aufgefasst werden soll. Im Sinne eines genitivus auctoris82 wäre der κύριος als der Urheber des λόγος verstanden,83 wäre hingegen von einem genitivus obiectivus zu sprechen, dann würde ὁ κύριος den Inhalt des λόγος beschreiben.84 Zu klären wäre dann auch, ob hier mit dem κύριος Gott oder aber Jesus Christus gemeint ist. Wollte Paulus an dieser Stelle die über Thessaloniki hinaus bekannt gewordene Botschaft als Gotteswort bezeichnen, dann wäre die Wendung ὁ λόγος τοῦ θεοῦ zu erwarten, die im Ersten Thessalonicherbrief in 2,13 begegnet.85 In diesem Sinn hat 2Thess 3,1 die Wendung ὁ λόγος τοῦ κυρίου aufgenommen. Sie bezeichnet dort – wie in der Apostelgeschichte86 – die missionarische Botschaft der Gemeinde. Die Formulierung λόγος κυρίου gebraucht Paulus in 1Thess 4,15. Hier ist mit κύριος eindeutig Jesus gemeint, wobei Paulus dabei wohl nicht an ein Wort des irdischen Jesus denkt, sondern an ein Wort des erhöhten Christus, das möglicherweise in Gestalt einer prophetischen Offenbarung an die Gemeinde gelangt ist.87 Gemeint ist hier aber ein Wort Jesu, d. h. der Genitiv ist in 4,15 als genitivus auctoris verstanden. Im unmittelbaren Kontext von 1Thess 1,8 wird in V. 6 absolut von dem λόγος geredet, den die Thessalonicher „angenommen“ haben. Auf die gedankliche Nähe zu 1Thess 2,13 ist oben bereits hingewiesen worden. Wäre nun in V. 8 mit dem λόγος τοῦ κυρίου ebenfalls dieses „Wort“ gemeint, dann könnte man daran denken, dass die Botschaft, die von Thessaloniki ausgeht, selbst 81 Auf die Parallelität machen etwa auch Fee, Thessalonians, 43; Schreiber, 1Thess, 108 aufmerksam. Fee erklärt: „we should understand the second clause as further explaining the first“. 82 S. dazu Hoffmann/von Siebenthal, Grammatik, § 159. 83 So Malherbe, Thessalonians, 117. 84 So Holtz, 1Thess, 51f. Eine Kombination beider Auffassungen vertritt Hoppe, 1Thess, 114: „Der λόγος ist die im κύριος gründende und von ihm kündende Botschaft.“ 85 Sie begegnet zudem in 1Kor 14,36; 2Kor 1,17; Phil 1,14. 86 Apg 8,25; 13,44.48.49; 15,35.36; 16,32; 19,10.20. In 8,25vl und in 12,24 ist vom λόγος τοῦ θεοῦ die Rede. 87 S. dazu Hofius, „Unbekannte Jesusworte“, 165f. Reinmuth, 1Thess, 143 erwägt, ob Paulus in 1Thess 4,15 „in der Autorität, die dem Wort des Herrn zukommt“, reden möchte. Nur in Apg 20,35 ist mit den λόγοι τοῦ κυρίου an Worte des irdischen Jesus gedacht.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
den Charakter eines „Evangeliums“ hat. Damit muss nicht gemeint sein, dass die Thessalonicher bereits selbst missionarisch tätig geworden wären.88 Vielmehr ist der Satz ganz ähnlich zu verstehen wie die Aussage über den Bericht des Timotheus in 3,6: Die Nachricht über den Glauben der Thessalonicher hat selbst als „Evangelium“ gewirkt, d. h. es hat andere Menschen auf Gott als den Urheber des Glaubens hingewiesen. Wenn Paulus diesen Urheber in V. 8 nun aber dezidiert als ὁ κύριος bezeichnet, dann verwendet er dabei die Prädikation offensichtlich im Kontext stringent: Hier aber ist die Bezeichnung ὁ κύριος gerade für Jesus charakteristisch (V. 1; V. 3; V. 6). So ist auch in V. 8 mit Sicherheit Jesus mit ὁ κύριος gemeint.89 Paulus verwendet demnach keine „traditionelle“ Formulierung, sondern es kommt ihm darauf an, den Inhalt der Botschaft zu beschreiben. Für die Glaubenden in Thessaloniki gewinnt ihr Glaube an Gott, wie bereits in 1,1 deutlich wird, darin an – nun auch von außen erkennbarem – Profil, dass sie Jesus als κύριος anrufen. In diesem Sinne wird Paulus auch die Korinther, mit deren Gemeindegründung er zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes beschäftigt ist, als solche anschreiben, „die den Namen des Herrn anrufen“ (1Kor 1,2). Die Formulierung weist dabei eine Nähe zu 1Thess 1,8cd auf:90 1Thess 1,8cd 1Kor 1,2 … ἐν παντὶ τόπῳ ... σὺν πᾶσιν τοῖς ἐπικαλουμένοις ἡ πίστις ὑμῶν ἡ πρὸς τὸν θεὸν ἐξελήλυ-
τὸ ὄνομα τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χρι-
θεν
στοῦ ἐν παντὶ τόπῳ
Hier wie dort fasst Paulus mit der Wendung „an jedem Ort“ alle weiteren, über die jeweils genannten möglichen Orte gleichsam zusammen, ohne damit an eine wirklich umfassende Verbreitung der Mission denken zu müssen. Vielmehr scheint Paulus die Gemeinschaft unter den christlichen Gemeinden, die es zu dieser Zeit bereits gibt, im Blick zu haben.91 Im Ersten Korintherbrief wird noch deutlicher, was diese verschiedenen Orte miteinander verbindet: Es sind die Menschen, die den κύριος Ἰησοῦς Χριστός anrufen und darin auch von außen als eine Gruppe erkennbar werden, die durch eine spezifische Art des Gottesglaubens verbunden ist. In diesem Sinn erinnert Paulus die Thessalonicher bereits in 1,1.3.6 ganz bewusst an ihren κύριος und daran, dass sie durch die Wirksamkeit Gottes im Evangelium mit ihrer ganzen Existenz auf ihn ausgerichtet worden sind. Von dieser Ausrichtung zeugt der λόγος τοῦ κυρίου, der auch in Korinth bekannt geworden ist, wo Paulus sich zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes befindet. Was Paulus parallel dazu als ἡ πίστις ὑμῶν ἡ πρὸς τὸν θεόν bezeichnet, das meint eben diese 88 89 90 91
So mit Recht Reinmuth, 1Thess, 121. Hoppe, 1Thess, 114; Malherbe, Thessalonians, 117. Auf diesen Zusammenhang weist etwa auch Malherbe, Thessalonians, 117 hin. Holtz, 1Thess, 52; Hoppe, 1Thess, 115.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
existentielle Bezogenheit auf Gott, die in der Hoffnung auf den kommenden Christus ihr bestimmendes Element hat. Denn nicht erst in V. 10, sondern bereits in V. 3 wird von der Hoffnung der Glaubenden „auf unseren Herrn Jesus Christus“ gesprochen, die mit dem Glauben an als Gott als „Vater“ unlöslich verbunden ist. Weil es dieser „Vater“ ist, der in der Aufweckung Jesu gehandelt hat, darum wird er in V. 10 als sein „Sohn“ bezeichnet. Die Wendung ἡ πίστις ὑμῶν ἡ πρὸς τὸν θεόν hat deshalb nicht die Absicht, den Gott, an den die Thessalonicher glauben, zunächst „allgemein“ als den Gott Israels zu beschreiben, zu dem dann sekundär der Glaube an den „Sohn“ hinzukäme. Vielmehr ist der Glaube an den Gott Israels für Paulus inhaltlich durch die Hoffnung auf Christus bestimmt. Ganz ähnlich ist dies im Ersten Petrusbrief, der paulinische Tradition bereits rezipiert. Der Verfasser spricht in 1Petr 1,21 von den Glaubenden als solchen, die durch Christus „Glaubende an Gott“ (πίστοι εἰς θεόν) sind, wobei Gott sofort näher bestimmt wird als der, „der ihn (sc. Jesus) von den Toten auferweckt hat“. Eine „allgemeine“ Rede von einem „Glauben an Gott“ lässt sich m. E. auch nicht durch den Verweis auf frühjüdische Parallelen begründen. Denn auch in den Passagen aus dem Vierten Makkabäerbuch und dem Werk Philos von Alexandrien, die manche Ausleger zum Vergleich mit 1Thess 1,8 heranziehen,92 wird im Kontext jeweils bestimmt, wer dieser „eine Gott“ ist, auf den sich die πίστις bezieht. So steht die in 4Makk 16,22 genannte πίστις πρὸς τὸν θεόν im Zusammenhang mit der Glaubensgeschichte Israels, als deren Beispiele Abraham (V. 20) und Daniel (V. 21) genannt werden. Es ist „derselbe Glaube“ bzw. „dasselbe Vertrauen“, zu dem die intendierten Leser aufgefordert werden: καὶ ὑμεῖς οὖν τὴν αὐτὴν πίστιν πρὸς τὸν θεὸν ἔχοντες μὴ χαλεπαίνετε – „Deshalb braucht auch ihr, die ihr dasselbe Vertrauen auf Gott habt, nicht betrübt zu sein.“ 93 Der Gott, auf den sich die πίστις bezieht, ist durch seine Geschichte bekannt, die er mit den Vätern, von denen die heiligen Texte Israels erzählen, hat. Dafür spricht in sprachlicher Hinsicht bereits, dass hier – wie in 1Thess 1,8 – der Artikel vor θεός steht und ihn damit als einen bestimmten Gott identifiziert. Anders ist die Formulierung bei Philo, der in seinem Traktat De Abrahamo ebenfalls die Gestalt Abrahams als Beispiel des Glaubens nimmt, diese aber sogleich mit seinem eigenen, platonisch geprägten Gottesverständnis verbindet. So bezeichnet er „einzig“ die πρὸς θεὸν πίστις als „untrügliches und festes Gut“ (ἀψευδὲς καὶ βέβαιον ἀγαθόν), das dem Glaubenden Bestand verleiht. Der Glaube an Gott aber bezieht sich auf den, der „die Ursache aller Dinge ist und alles vermag, aber das Beste will“ (Philo. Abr. 268). Hier wird Philos aus der platonischen Philosophie aufgenommener Gedanke von Gott als der αἰτία allen
92 Hoppe, 1Thess, 115; Schreiber, 1Thess, 108. 4Makk 15,24; 16,22; Philo Abr. 268; 271; 273; Philo her. 94; Philo praem. 27; Philo mut. 201. 93 Ich folge hier in der Übersetzung Septuaginta Deutsch, 745.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
Seins greifbar.94 Auch Philo füllt den „Glauben an Gott“ also inhaltlich. Die beiden Stellen zeigen exemplarisch, wie konkret und durchaus unterschiedlich auch im jüdisch-hellenistischen Kontext vom „Glauben an Gott“ geredet werden kann. Für sich genommen sagt die Wendung noch nicht viel aus. Sie wird jeweils im Kontext semantisch bestimmt. Dieser Kontext aber ist für Paulus, wie gesehen, die Hoffnung auf den kommenden Christus. Diese Hoffnung bestimmt seine Sicht auf Gott, und sie bestimmt auch die Sicht all derer, die in dieser Weise an Gott glauben und deshalb Jesus als ihren κύριος bekennen. Auch wenn Paulus das erst in anderen Zusammenhängen ausführen wird, so ist dieser Gedankenzusammenhang doch bereits in 1Thess 1,1–10 deutlich erkennbar. Der Sinn der „Theozentrik“ der Formulierung in 1Thess 1,8 besteht darin, dass mit dem Bekenntnis zu Jesus als κύριος eine bestimmte Art des Gottesglaubens verbunden ist. Damit wird ein grundsätzlicher Anspruch formuliert, angemessen von Gott zu reden.95 Gerade daraus entstehen die Konflikte, von denen der Erste Thessalonicherbrief berichtet. Sie entzünden sich daran, dass der „Glaube an Gott“ eben nicht nur eine „Haltung“ ist, sondern einen bestimmten Inhalt hat, in dem die Haltung der Gemeinde gründet.96 5.2
Die Bekehrung der Thessalonicher (1Thess 1,9f)
Hat Paulus in V. 8 bereits darauf hingewiesen, dass auch an anderen Orten bekannt geworden ist, dass seine Evangeliumsverkündigung in Thessaloniki eine Gemeinde von Glaubenden geschaffen hat, so „zitiert“ er nun, wie dieses Ereignis von außen wahrgenommen wurde. Hatte Paulus in 1Thess 1,4–7 die Thessalonicher selbst an die Erfahrung mit dem Evangelium beim Gründungsaufenthalt erinnert, so wird dieses Ereignis auch von anderen bezeugt. Paulus bedient sich hier einer Argumentationsstrategie, die sich auch im Galaterbrief beobachten lässt. Auch dort zitiert er, in Gal 1,23, eine Tradition, die über ihn bekannt ist: Die Galater haben davon erfahren, dass der einstige Verfolger nun „den Glauben verkündigt, den er einst zu zerstören versuchte“. So macht er deutlich, dass das Handeln Gottes an bestimmten Glaubenden tatsächlich auch für andere sichtbar geworden ist. Sie erkennen damit an, dass tatsächlich Gott an den Glaubenden in Thessaloniki gehandelt hat. Diese anderen, die in V. 9 mit dem Personalpronomen αὐτοί eingeführt werden, sind die
94 Philo verwendet hier den synonymen Begriff ὁ αἴτιος („die Ursache“, vgl. Philo Opif 8; 30; post. 19 u. ö.). S. dazu die zahlreichen Belege bei Borgen/Fuglseth/Skarsten, Philo Index, 11. 95 Vgl. Lindemann, „Was ihr unwissend verehrt …“, 22, der – im Anschluss an Hans Conzelmann – im Blick auf die lukanische Areopagszene darauf hinweist, dass die vermeintliche „Anknüpfung“ an einen „allgemeinen“ Gottesglauben die Pointe hat, gerade keinen „neuen“ Gott zu etablieren, sondern den Anspruch zu formulieren, von dem einen Gott angemessen zu reden. Ähnlich ließe sich dies im Blick auf Paulus selbst behaupten. 96 So mit Recht Holtz, 1Thess, 52.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
in V. 7 genannten πάντες οἱ πιστεύοντες.97 So könnte die Formulierung tatsächlich „weiterer, gleichsam ökumenischer Herkunft“ sein.98 Die Frage ist, ob sich deshalb tatsächlich ein Traditionsstück in 1Thess 1,9f identifizieren lässt. Hier ist die neuere Forschung – einem Trend zur Abkehr von der klassischen Literarkritik folgend – zunehmend vorsichtig geworden. So bemerkt Jantsch: „Die sprachlichen und inhaltlichen Beobachtungen reichen nicht aus, in 1Thess 1,9b–10 eine vor-paulinische Formel, die das urchristliche Missionskerygma zusammenfasst, zu erkennen.“99 Die Beobachtungen, die im Zusammenhang der Versuche, eine Tradition zu rekonstruieren, gemacht worden sind, können allerdings helfen, die Besonderheiten des Textes wahrzunehmen. Zudem signalisiert Paulus selbst in 1Thess 1,9, dass er eine Äußerung wiedergibt, die nicht von ihm selbst stammt. Insofern lohnt sich die Frage nach den in 1Thess 1,9f vorliegenden Formulierungen. 5.2.1 Zur These eines Traditionsstückes in 1Thess 1,9f
Die Suche nach einer Tradition in 1Thess 1,9f steht im Zusammenhang der Rekonstruktion eines „Katechismus der Urchristenheit“, die Alfred Seeberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts unternommen hatte.100 Diese Untersuchung kann als ein Vorläufer der späteren formgeschichtlichen Arbeiten etwa von Eduard Norden oder Martin Dibelius gelten.101 Seeberg nimmt an, dass 1Thess 1,10 auf eine „Glaubensformel“ Bezug nehme, die die Bezeichnung θεὸς ζῶν enthalten habe.102 Charakteristisch für diese Formel sei, dass hier sowohl von einem „Glauben an Christus“ als auch von einem „Glauben an Gott“ gesprochen werden könne.103 In seiner hypothetischen Rekonstruktion der „Glaubensformel“ sieht Seeberg mit der Wendung θεὸς ζῶν den Schöpfergott des Ersten Artikels angesprochen: Ὁ θεὸς ὁ ζῶν, ὁ κτίσας τὰ πάντα ...104 Dieses Verständnis setzt auch Adolf von Harnack voraus, der in 1Thess 1,9f sowie in 1Kor 12,2 „die Missionspredigt an die Heiden in nuce“ belegt sieht.105 Die Gemeinsamkeit zwischen beiden Passagen besteht darin, dass jeweils
97 So auch Hoppe, 1Thess, 116. 98 So Holtz, 1Thess, 57. Auch für Gal 1,23 lässt sich m. E. plausibel machen, dass Paulus hier eine Tradition zitiert. 99 Jantsch, Gottesverständnis, 51. Ähnlich bereits Klumbies, Gott, 29; Holtz, 1Thess, 60; Schreiber, 1Thess, 91 und die dort genannten Autoren. 100 Seeberg, Katechismus; zum Kontext der Arbeit Seebergs s. Hahn, Einführung, VII–XXXII. Zur Untersuchung einer „Formel“ in 1Thess 1,9f vgl. auch die Darstellung bei Jantsch, Gottesverständnis, 49–52. 101 Vgl. Hahn, Einführung, XII. 102 Seeberg, Katechismus, 82f. 103 AaO., 250. 104 AaO., 85. 105 Harnack, Mission I, 117.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
von der Abkehr von den εἴδωλα gesprochen wird. In 1Thess 1,9b wird allerdings auch im positiven Sinne von einer „Bekehrung zu Gott“ geredet. V. 9b entfaltet den Inhalt dieser Bekehrung als ein δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ, wobei in V. 10a diesem „Dienen“ sogleich die Erwartung „seines Sohnes aus dem Himmel“ an die Seite gestellt wird. V. 10b entfaltet die Beziehung Gottes zu seinem „Sohn“ dann noch weiter durch sein auferweckendes Handeln an ihm, durch das die Existenz der Glaubenden auf Jesus ausgerichtet wird, die von ihm nun die Rettung „vor dem kommenden Zorngericht“ erwarten.106 Bereits an dieser Stelle lässt sich feststellen, dass das Wort ὁ θεός im Kontext stets näher bestimmt wird: einmal, indem das „Dienst“-Verhältnis der Glaubenden beschrieben wird, dann dadurch, dass Gott als „lebendig“ und „wahr“ beschrieben wird, und schließlich dadurch, dass die Erwartung der Glaubenden, die sich auf Jesus richtet, benannt wird. Aber auch im Kontext von 1Kor 12,2 wird nicht „allgemein“ von Gott geredet. Vielmehr folgt unmittelbar darauf ein Hinweis auf den Geist, der das Bekenntnis zu Jesus als κύριος wirkt (1Kor 12,3). An Harnacks Bemerkungen zur „Missionspredigt an die Heiden“ zeigt sich exemplarisch, welche massiven theologischen Voraussetzungen bei einer vermeintlich „rein historisch“ argumentierenden Betrachtung leitend sind. Für Harnack ist „[d]er ,lebendige und wahrhaftige Gott‘ […] das Erste und Entscheidende“, dem als „das Zweite“ Jesus als „der anzubetende Herr“ an die Seite gestellt werde.107 Die Botschaft von dem „lebendigen und wahren Gott“ versteht Harnack als „die Botschaft von Gott dem einen, dem geistigen, dem allgegenwärtigen, allwissenden und allmächtigen, dem Schöpfer Himmels und der Erden, dem Herrn und Vater der Menschen, dem großen Ökonomen der Menschheitsgeschichte“.108 Dabei setzt Harnack das christliche Gottesverständnis sogleich von einer deistischen Vorstellung ab. Diese sei vielmehr bestimmt von der „Überzeugung von der Gegenwart Gottes, seine Vorsehung und Leitung“.109 Allerdings spricht Harnack sich dagegen aus, „alles auf den Christuskultus zu reduzieren und von ihm abzuleiten“.110 Dieses Verfahren, bei dem Harnack an Bousset denken dürfte,111 sieht er „in Gefahr, die grundlegende, alles überragende Bedeutung des θεὸς πατὴρ παντοκράτωρ für das Glaubensbewußtsein der Christen, sofern sie nicht Marcioniten waren, zu unterschätzen“.112 Im Blick auf das Neue Testament ist allerdings festzustellen, dass sich die Gottesprädikation
106 107 108 109 110 111
Zur Übersetzung und der damit verbundenen Interpretation von 1Thess 1,10 s. u. Harnack, Mission, 117. AaO., 118. AaO., 128. AaO., 117 mit Anm. 1. Harnack fügt die Bemerkung erst in der vierten Auflage seines Werkes hinzu, kann sich dabei also bereits auf die zweite Auflage von Boussets Kyrios Christos beziehen. 112 Harnack, Mission I, 117 mit Anm. 1.
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παντοκράτωρ beinahe ausschließlich in der Johannesapokalypse findet113 und eine
Bedeutung in deren spezifischer Theologie hat.114 Feldmeier/Spieckermann bemerken deshalb mit Recht, dass „παντοκράτωρ (,Allmächtiger‘) nur eingeschränkt als ein biblisches Gottesprädikat gelten“ könne.115 Bei Paulus begegnet das Wort nur ein einziges Mal, am Ende einer alttestamentlichen Zitatenreihe in 2Kor 6,18,116 wo es 2Sam 7,8 bzw. 2Βασ 7,8 LXX entnommen ist.117 Hier steht es tatsächlich im Zusammenhang mit der Rede von dem „lebendigen Gott“ (2Kor 6,16) und mit der Rede von Gott als „Vater“ (2Kor 8,18a = 2Sam 7,14).118 Von einer „überragenden“ Bedeutung der Vorstellung kann allerdings im Blick auf das Neue Testament keine Rede sein. Der „lebendige und wahre Gott“ ist jedenfalls nicht per se als ein „allmächtiger“ Gott oder auch als ein „Ökonom der Menschheitsgeschichte“ zu verstehen. Auch die „Vater“-Prädikation lässt sich nicht in diesem Sinne begreifen. Vielmehr steht diese bei Paulus in einem direkten Zusammenhang mit der Rede von Jesus als dem κύριος, wie bereits in 1Thess 1,1 deutlich wurde. Im Zuge der formgeschichtlichen Untersuchung des Neuen Testaments hat Ulrich Wilckens versucht, ein „Missionsschema“ zu identifizieren. Ähnlich wie Martin Dibelius vor ihm119 geht er dabei von einem – vor allem aus der Apostelgeschichte rekonstruierten – Bild der urchristlichen Missionspredigt aus, die er als den ursprünglichen „Sitz im Leben“ des Traditionsgutes ansieht.120 An erster Stelle dieses Schemas stehe „die ,Bekehrung‘, d. h. die Abkehr von jeglichem Polytheismus und
113 1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22. In der Septuaginta erscheint das Epitheton ca. 150 Mal, im Buch Hiob als Übertragung des Gottesnamens ַשׁ ַדּי, sonst als Wiedergabe von ְיה ָוה ( ְצָבאוֹתZimmermann, Namen, 240f). 114 S. dazu Feldmeier/Spieckermann, Gott, 197–199; Zimmermann, Namen, 259–271. Zimmermann erklärt: „Der Verfasser der Offb benutzt das Epitheton offenbar bewusst vor dem Hintergrund der im nicht-jüdischen Bereich verbreiteten Epiklese παντοκράτωρ und bewusst im Kontrast zum damals weit verbreiteten und zunehmend betonten Kaisertitel αὐτοκράτωρ.“ Zimmermann, aaO., 276, vgl. aaO., 270: „Es scheint durchaus wahrscheinlich, dass die vehemente Verwendung der Bezeichnung in Offb angeregt ist durch die zunehmende Verwendung des Kaisertitels αὐτοκράτωρ im Osten des römischen Reiches unter Domitian und Trajan.“ 115 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 149, vgl. dazu Spieckermann, Vom „Herrn der Heerscharen“ zum „Allmächtigen I; Feldmeier, Vom „Herrn der Heerscharen“ zum „Allmächtigen“ II. 116 Langkammer, παντοκράτωρ, 25. 117 In 2Kor 6,18 wird zunächst 2Sam 7,14 zitiert, abschließend wird das Zitat dann durch die Wendung, mit der in 2Sam 7 die Rede Nathans an Samuel eingeleitet wird, verbunden (vgl. Wolff, 2Kor, 152). 118 S. dazu unten im Zusammenhang mit der Auslegung von 2Kor 6,16. Feldmeier, Vom „Herrn der Heerscharen“ zum „Allmächtigen“ II, 145–148 argumentiert dafür, dass Paulus die Wendung nicht einfach übernommen, sondern ganz bewusst in den Kontext von 2Kor 6,16–18 gestellt habe. 119 S. dazu Dibelius, Formgeschichte, 1–8, vgl. Wilckens, Missionsreden, 81. 120 Vgl. Dibelius, Formgeschichte, 12.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
die Hinkehr zum Dienst des einen Gottes“.121 Erst dann wende sich „der Blick auf die eschatologische Zukunft. Die Bekehrten sollen das bevorstehende Kommen des Sohnes vom Himmel her erwarten.“122 Gerade im Unterschied zum Schema der meisten Reden in der Apostelgeschichte sieht Wilckens dabei die Christologie allein durch den Ausblick auf die Zukunft bestimmt. Während die Auferweckung Jesu „nach dem Kerygma der Actareden als die entscheidende heilsgeschichtliche Tat Gottes das Zentrum der Verkündigung“ darstelle, sei sie nach 1Thess 1,10 „lediglich das Geschehen, auf Grund dessen Jesus die entscheidende zukünftige Funktion des Retters hat, auf die der Glaube ganz ausgerichtet“ sei.123 Schon hier lässt sich fragen, ob diese Gegenüberstellung einleuchtet. Für Paulus geht es zu Beginn des Ersten Thessalonicherbriefs doch darum, konkret verständlich zu machen, wie die Auferweckung Jesu durch Gott den Glaubenden eine Zukunftsperspektive eröffnet. Eine Gemeinsamkeit mit 1Thess 1,9f sieht Wilckens mit zwei Reden in der Apostelgeschichte, die sich explizit an Heiden richten: mit Apg 14,15–17 und in Apg 17,23–31.124 In Apg 17,31 findet sich die Vorstellung, dass Jesus durch seine Auferweckung zum zukünftigen Richter „erklärt“125 worden sei, die dem Gedanken in 1Thess 1,10 nahesteht. Dabei knüpfen die beiden genannten Reden an die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Welt an (Apg 14,15; 17,24). In der Areopagrede kommt der lukanische Paulus erst ganz zum Schluss auf das Christusgeschehen zu sprechen (17,30f). Die in V. 32 berichtete Reaktion der Zuhörenden zeigt allerdings, dass nur ein Teil die Botschaft von der Auferweckung Jesu durch Gott mit ihrem „natürlichen“ Gottesglauben vereinbaren kann.126 Das Stichwort der ἄγνοια (V. 30), mit dem die Rede an den dem ἄγνωστος θεός geweihten Altar anknüpft (V. 23), ist in der Apostelgeschichte eindeutig negativ konnotiert:127 Die „Unkenntnis“ Gottes
121 Wilckens, Missionsreden, 81. 122 Ebd., s. auch die spätere Bezugnahme auf seine Untersuchung für seine Gesamtdarstellung einer Theologie des Neuen Testaments: Wilckens, Theologie I/2, 196f, vgl. 166. 123 Wilckens, Missionsreden, 86. 124 AaO., 86ff. 125 Das Verb ὁρίζειν, das an dieser Stelle steht und das auch in Röm 1,4 begegnet, hat nicht an allen Stellen die Bedeutung „einsetzen“. Es bedeutet zunächst „begrenzen“, „definieren“, „erklären“ (vgl. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1177, s.v. ὁρίζω 3.). Es geht demnach nicht um eine ontologische Qualifikation Jesu, sondern um eine Definition in einer bestimmten Funktion, in der er durch seine Auferstehung erkennbar wird. Die Formulierung kann aber auch die Einsetzung in ein „Amt“ bezeichnen. S. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit (zu Röm 1,3f). 126 Es liegt hier dieselbe ambivalente Reaktion vor wie nach dem Pfingstereignis, in Apg 2,12f. 127 Bereits Dibelius, Areopag, 53 bemerkt, dass es sich bei dem Stichwort der ἄγνοια um ein Motiv der Acta-Reden handelt (vgl. Apg 3,17; 13,27; 14,16). Lindemann, „Was ihr unwissend verehrt …“, 24 unterschätzt m. E. die kritische Bedeutung, die der Hinweis auf die ἄγνοια in Apg 17,23–34 hat.
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wird als Schuld verstanden.128 So erweist die Reaktion in Apg 17,32 gerade, dass die Athener Gott nicht kennen, obwohl sie ihm als ihrem Schöpfer Anerkenntnis schuldig sind. Ganz Ähnliches lässt sich im Blick auf Apg 14,15–17 sagen. Diese Passage steht 1Thess 1,9 noch näher als Apg 17, weil hier die Gottesprädikation θεὸς ζῶν begegnet (Apg 14,15), der als der Schöpfer von Himmel und Erde ausgewiesen wird. Die Rede steht im Zusammenhang des Berichts von der ersten Missionsreise des Paulus, auf der Paulus und Barnabas nach Lystra kommen, wo Paulus einen Gelähmten heilt (14,10). Die Volksmenge hält Paulus und Barnabas daraufhin für Götter und nennt sie Zeus und Hermes (V. 12). Diese Vergottung weisen Paulus und Barnabas in der mit V. 14 einsetzenden Rede zurück. Die für unseren Zusammenhang entscheidende Aussage steht in V. 15: καὶ ἡμεῖς ὁμοιοπαθεῖς ἐσμεν ὑμῖν ἄνθρωποι εὐαγγελιζόμενοι ὑμᾶς ἀπὸ τούτων τῶν ματαίων ἐπιστρέφειν ἐπὶ θεὸν ζῶντα, ὃς ἐποίησεν τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν καὶ τὴν θάλασσαν καὶ πάντα τὰ ἐν αὐτοῖς – „Auch wir sind Menschen wie ihr und verkündigen euch, euch von
diesen nichtigen Dingen zu bekehren zu dem lebendigen Gott, der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und alles, was darinnen ist.“ Als „nichtig“ wird in V. 15 bezeichnet, was die Menschen in Lystra tun: Sie verehren Paulus und Barnabas als Götter, anstatt zu erkennen, dass die Heilung des Gelähmten auf Gott zurückzuführen ist. Ihre Haltung entspricht damit dem, was der lukanische Paulus ihnen vorwirft: Sie könnten Gott an seinen Wohltaten an ihnen (V. 17) sehr wohl erkennen, tun dies aber nicht. Jürgen Roloff macht mit Recht darauf aufmerksam, dass in Apg 14 die Verfehlung des Menschen genau so beschrieben wird, wie Paulus es in Röm 1,20f tut: „Es ist ein Zeichen für die Störung des Verhältnisses des Menschen zu diesem Schöpfergott, daß er, statt ihm die Ehre zu geben, das Geschöpf an die Stelle des Schöpfers treten läßt und sich ihm gegenüber in Abhängigkeit begibt. Auf diese Weise fällt der Mensch mit seiner ganzen Existenz dem Bereich des Nichtigen anheim (Röm 1,20f.).“129 Im Zusammenhang von Apg 14,15 wird die Prädikation θεὸς ζῶν ausdrücklich mit der Erschaffung des Himmels und der Erde verbunden. Die entscheidende Pointe besteht aber darin, dass die Menschen in Lystra das gegenwärtige Handeln Gottes nicht angemessen begreifen können: Sie führen es auf Paulus zurück, anstatt in der Heilung des Gelähmten Gott, den Schöpfer zu erkennen. Freilich fehlen in diesem Zusammenhang christologische
128 So bemerkt Bultmann, ἄγνοια, 117: „Im a[l]t[estament]lichen Sinn ist solches ἀγνοεῖν nicht einfach ein Nicht-Orientiert-sein, das als solches entschuldigt werden könnte, sondern ein SichVerfehlen, das unter der ὀργή Gottes steht und der Vergebung bedarf. Vgl. Schmithals, ἄγνοια, 49f. Zur „Entlastung“ der Juden gilt der Hinweis auf die „Unwissenheit“ in Apg 3,17 und 13,27 nur insofern, als sie den Messias nicht wissentlich abgelehnt haben (Dibelius, Areopag, 53; Schmithals, ἄγνοια, 51). Sie belegt aber zugleich auch, dass sie das Heilshandeln Gottes in Jesus (noch) nicht erkennen. 129 Roloff, Apg, 217.
Der Bekehrungsvorgang „von außen“ (1Thess 1,8–10)
Bezüge. Inwiefern sich daraus allerdings ein spezifisches „Missionsschema gegenüber Heiden“ rekonstruieren lässt, bleibt m. E. fraglich. Im Blick auf 1Thess 1,9 bleibt festzustellen, dass dort ein Hinweis auf die creatio prima fehlt. Wie sich Gottes gegenwärtiges Handeln und sein Handeln als Schöpfer zueinander verhalten, wird damit als eine entscheidende Frage erkennbar. Auch die These von Gerhard Friedrich steht im Zusammenhang mit der im Anschluss an Seeberg angestellten formgeschichtlichen Suche nach urchristlichen „Traditionen“. Friedrich formuliert die These, dass in 1Thess 1,9f ein „Tauflied“ des judenchristlich geprägten Urchristentums greifbar werde.130 Für die Annahme einer Tradition macht Friedrich sprachliche Eigenheiten namhaft, insbesondere die Verwendung des Verbs ἐπιστρέφειν, das bei Paulus außer in 1Thess 1,9 nur noch in 2Kor 3,16 und Gal 4,9 begegnet und deshalb nicht dem paulinischen Sprachgebrauch entspreche.131 „Unpaulinisch“ sei auch, dass Paulus den Titel υἱός nie im Zusammenhang mit der Parusie verwende, stattdessen hier die Bezeichnungen χριστός oder κύριος zu erwarten wären.132 Auch Friedrich formuliert, dass erst in 1Thess 1,10 „das spezifisch Christliche“ zur Sprache gebracht werde, wozu er auf 1Kor 8,6 verweist, wo zu dem Bekenntnis zu dem einen Gott das Bekenntnis zum κύριος Jesus „hinzugefügt“ werde.133 Dennoch sieht er den engen Zusammenhang zwischen der Rede von dem einen Gott und der „Christuspredigt“: „Die Christuspredigt setzt in der Urchristenheit überall den Glauben an den einen Gott voraus. Wer in rechter Weise von Gott spricht, kann es nur tun, indem er von Christus redet; denn nur durch Christus weiß man in rechter Weise etwas von Gott.“134 So entspreche es „dem Dienst des lebendigen und wahren Gottes … auf das Kommen des Sohnes vom Himmel her zu warten“.135 Da in 1Thess 1,9f Hinweise auf die Präexistenz Christi und seine Menschwerdung nicht ausdrücklich genannt werden, folgert Friedrich, dass das „Tauflied“ aus dem „Judenchristentum“ stamme und in „urchristlichen Kreisen“ gesungen worden sei, „in denen die Naherwartung noch in voller Geltung war“.136 Aus der Tatsache, dass der Sohn-Gottes-Titel für eschatologische Aussagen ungewöhnlich sei, schließt Friedrich, dass das Wort ursprünglich vom „Menschensohn“ gehandelt habe und in der Mission gegenüber Griechen in „Gottessohn“ übersetzt worden sei.137 Friedrich benennt in der Tat
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Friedrich, Tauflied, 249f. Hinzu kommt etwa die Beobachtung, dass ἀναμένειν (1Thess 1,10) Hapaxlegomenon im NT ist. Friedrich, Tauflied, 239. AaO., 243. Dass diese Beschreibung im Blick auf 1Kor 8,6 kaum zutrifft, sei hier nur angemerkt. S. dazu die Ausführungen in Kapitel 4 dieser Arbeit. AaO., 243. Ebd. AaO., 246. AaO., 248. Für diese These gibt es keinen Beleg. Sie ist deshalb sehr unwahrscheinlich.
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Besonderheiten der Formulierungen 1Thess 1,9f, die für die Auslegung hilfreich sind, die These einer im Wortlaut greifbaren Tradition allerdings nicht begründen können. Zudem ist deutlich, dass jeweils massive Voraussetzungen gemacht werden müssen, um den „Sitz im Leben“ der Tradition plausibel machen zu können. Selbst wenn Paulus in 1Thess 1,8 markiert, eine Perspektive „von außen“ wiederzugeben, darf für die Interpretation von 1Thess 1,9f der vorliegende literarische Kontext nicht ausgeblendet werden. 5.2.2 1Thess 1,9f im Kontext von 1Thess 1,1–10
Die Frage nach einer hinter 1Thess 1,9f stehenden „Formel“ ist auch in der Arbeit von Klumbies noch erkennbar, wenn er bemerkt, dass das „traditionelle Gepräge“ unbestreitbar bleibe und deshalb die Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund gestellt werden müsse.138 Entscheidend ist dabei unter anderem, wie das in V. 9 verwendete Verb ἐπιστρέφειν zu interpretieren ist. Die These von Friedrich, dass es sich dabei um unpaulinische Terminologie handele139 , musste einen Vergleich mit den beiden anderen Stellen, an denen das Verb bei Paulus vorkommt (2Kor 3,16; Gal 4,9) von vorne herein als wenig ertragreich erscheinen lassen. Für Paulus gelte – so Friedrichs Argumentation – „daß [er] nicht von Bekehrung spricht, sondern daß er theologisch gefülltere und klarere Ausdrücke gebraucht, die seiner Theologie mehr entsprechen“140 . Aus diesem Grund wurde 1Thess 1,9 kaum im Horizont der paulinischen Theologie interpretiert. Im Anschluss an Traugott Holtz hat Klumbies demgegenüber gerade behauptet, dass in 1Thess 1,9f nicht nur die „Bekehrung“ selbst, sondern mit den Verben δουλεύειν und ἀναμένειν auch „der Inhalt dieses Geschehens“ beschrieben werde.141 Er schließt sich Holtz’ Auffassung an, dass bereits in 1Thess 1,9 die Bekehrung zu dem in Christus offenbaren Gott ausgesagt werde.142 „Keinesfalls ist an die primäre Bekehrung zum jüdischen Monotheismus gedacht, der dann in einem zweiten Schritt die spezifisch christlichen Elemente hinzugefügt würden.“143 So sei auch die Rede vom θεὸς ζῶν „bei Paulus durchgängig auf die christliche Gemeinde bezogen“.144 Klumbies erläutert: „Paulus verwendet sie zur Abgrenzung gegenüber dem Judentum bzw. den NichtGlaubenden. Er nimmt also eine im Judentum geläufige Formulierung auf, bringt
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Klumbies, Gott, 139f. Friedrich, Tauflied, 238. Ebd. Klumbies, Gott, 139. AaO., 141, vgl. Holtz, Glaube, 475f. Klumbies, Gott, 142, vgl. Holtz, 1Thess, 62. Klumbies, Gott, 143.
Der lebendige Gott bei Paulus
sie jedoch gegen das Judentum zum Einsatz.“145 Das gelte auch für 1Thess 1,9.146 Klumbies’ in Kapitel 1 dieser Arbeit skizzierte These konkretisiert sich demnach an der Auslegung von 1Thess 1,9. Torsten Jantsch hebt demgegenüber hervor, dass Paulus in 1Thess 1,9f zwar „keine Tradition, wohl aber traditionelles Material aufgenommen“ habe und folgert daraus: „[S]eine Worte leben ganz aus der Tradition jüdischer Rede von Gott. Das gilt z. B. für das Verb ἐπιστρέφειν, aber auch für die Bedeutung tragenden Begriffe in 1,9f.“147 Was aber bedeutet es, dass Paulus die traditionellen Formulierungen „gegen das Judentum zum Einsatz“ bringe? Und was meint es, dass die Worte des Paulus „ganz aus der Tradition jüdischer Rede von Gott“ leben? Damit sind zwei Fragen aufgeworfen, die mit dem Stichwort der „Tradition“ verbunden sind: die Frage nach dem Wortlaut von 1Thess 1,9f und die Frage nach dem motivgeschichtlichen Hintergrund. Bevor ich auf die Frage nach dem Wortlaut näher eingehe, möchte ich zunächst den motivgeschichtlichen Hintergrund untersuchen. Die in der Forschung virulente Frage nach Kontinuität und Diskontinuität in der paulinischen Rede von Gott in ihrem Verhältnis zu einem jüdischen Gottesverständnis – wie sie sich zwischen Klumbies und Jantsch exemplarisch zeigt – ist m. E. zu einfach gestellt, wenn sie als schlichte Alternative aufgefasst wird. Denn für Paulus sind immer beide Aspekte zu berücksichtigen: der Bezug auf die Tradition und die von ihm vorgenommene Interpretation. Zu differenzieren ist deshalb zwischen der Kontinuität, die aus seiner Perspektive festzustellen ist und der Kontinuität, die andere einsehen können. Es lässt sich zeigen, dass Paulus die Prädikation θεὸς ζῶν nicht einfach unbestimmt oder gar unreflektiert aufnimmt. Vielmehr verbindet er sie mit seinem eigenen Gottesverständnis. Das gilt es im Folgenden zu zeigen.
6.
Der lebendige Gott bei Paulus
Wir haben bis hierher gesehen, dass in 1Thess 1,1–8 Gott und Jesus Christus gleichermaßen als existenzbestimmende Größen zur Sprache gebracht werden. Dieser Zusammenhang lässt sich nun auch für 1Thess 1,9f beobachten. Sachlich wird hier das in 1Thess 1,3b Beschriebene chiastisch aufgenommen, indem zum einen die Begründung der christlichen Existenz in Gott, zum anderen deren inhaltliche Füllung durch das Christusgeschehen ausgedrückt wird:
145 Ebd. 146 AaO., 144. 147 Jantsch, Gottesverständnis, 52.
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A
1Thess 1,3b … τῆς ὑπομονῆς τῆς ἐλπίδος τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ
1Thess 1,9f B‘ … πῶς ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν εἰδώλων δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ
B
ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν
A‘ καὶ ἀναμένειν τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐκ τῶν οὐρανῶν, ὃν ἤγειρεν ἐκ [τῶν] νεκρῶν, Ἰησοῦν τὸν ῥυόμενον ἡμᾶς ἐκ τῆς ὀργῆς τῆς ἐρχομένης
Paulus füllt die Coram-Deo-Relation beide Male, indem er die existentielle Ausrichtung auf Jesus Christus beschreibt. Er redet nicht „allgemein“ von Gott, sondern bestimmt ihn von seinem Handeln her.148 Eben dies aber ist – wie nun zu zeigen ist – bereits im Alten Testament ein Charakteristikum der Rede vom θεὸς ζῶν. Hier zeigt sich auch, wie sich die Rede vom Handeln Gottes in der Geschichte mit der Rede vom Handeln Gottes in der Gegenwart der Menschen verbindet. 6.1
Der lebendige Gott im Alten Testament
Christiane Zimmermann eröffnet ihr Kapitel zur Gottesprädikation θεὸς ζῶν mit der Bemerkung, diese sei sowohl in den alttestamentlichen als auch in den frühjüdischen Texten aus hellenistischer Zeit, aber auch in den neutestamentlichen Texten „[a]ufs Engste verbunden mit der fundamentalen Glaubensaussage, dass Gott der Schöpfer ist“.149 Im Anschluss an Siegfried Kreuzer weist sie darauf hin, dass es dabei bereits im Alten Testament „nicht um eine ontologische Qualifizierung, sondern um eine Aussage über die Wirksamkeit Gottes“ gehe.150 Aus dem Vergleich mit Hebr 6,1 und Apg 14,15 folgert Zimmermann im Blick auf 1Thess 1,9, „dass Paulus hier ganz offensichtlich Elemente der interreligiösen Sprache des hellenistischen Judentums benutzt, die zu einer Abwendung von den Götzen und einer Hinwendung zum lebendigen Gott aufrief “.151 Zimmermann kommentiert: „Offenbar ließ sich die Kontrastierung von lebendigem Gott und toten Götzen in der interreligiösen
148 Poplutz, Gottesfigurationen, 351 bemerkt völlig zu Recht: „Der lebendige Gott kommt … stets als ein Handelnder in den Blick, d. h. das Prädikat ,lebendig‘ dient nicht nur der Abgrenzung von den heidnischen ,Götzenbildern‘, sondern gewinnt darüber hinaus eine aktive, das Wirken Gottes bestimmende Dimension“. Ähnlich etwa Landmesser, Gott, 123; Schneider, Gegenwart, 33; Schnelle, Paulus, 441. 149 Zimmermann, Namen, 385. Zum Folgenden siehe den gesamten Abschnitt V: „Der lebendige, der lebendigmachende Gott und Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat“ aaO., 385–531. 150 Ebd.; Kreuzer, Gott, 370f. 151 Zimmermann, Namen, 386.
Der lebendige Gott bei Paulus
Kommunikation der ersten Christen bruchlos weiterverwenden, um auch hier Andersgläubige von ihrem einzig wahren Glauben zu überzeugen.“152 Die Formulierung, die Kommunikation könne hier „bruchlos“ weiterverwendet werden, wirft einmal mehr die Frage auf, wie an dieser Stelle Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem von Paulus geteilten und dem jüdischen Gottesverständnis, das ohne den Hinweis auf Jesus Christus auskommt, zu beschreiben sind. Zimmermann weist selbst darauf hin, dass Gott im Kontext von 1Thess 1,1–10 vor den Versen 9f bereits mehrmals genannt und zudem als „Vater“ näherbestimmt wurde.153 Da sich in 1Thess 1,9f kein präzise abgrenzbares Traditionsstück nachweisen lässt, ist es methodisch sinnvoll, auch die Aussage über den θεὸς ζῶν zunächst im Kontext von 1Thess 1,1–10 und des Ersten Thessalonicherbriefs insgesamt zu interpretieren. Auch die zum Vergleich herangezogenen Stellen sowohl innerhalb des Neuen Testaments als auch im Bereich des Alten Testaments und des Frühjudentums müssen in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet werden. Gefragt werden soll, in welchem Sinn die 1Thess 1,9 sachlich nahestehenden Stellen von Gottes schöpferischer Wirksamkeit reden. Da hier nicht jede einzelne alttestamentliche Stelle besprochen werden kann, bietet sich eine Einteilung der relevanten Belege für die Vorstellung von dem „lebendigen Gott“ in zwei Gruppen an: zum einen solche Stellen, die die Prädikation innerhalb der sogenannten „Schwurformel“ verwenden, zum anderen Stellen, die außerhalb der Schwurformel vom „lebendigen Gott“ reden. 6.1.1 „So wahr Gott lebt“ – Der lebendige Gott in der Schwurformel
Die meisten Belege für die hebräische Entsprechung der Rede von dem „lebendigen Gott“ finden sich im Kontext der sogenannten „Schwurformel“.154 Belegt sind die Wendungen ַחי־ֵאלbzw. „( ַחי ָהֱאֹלִהיםso wahr Gott lebt“),155 sowie – am häufigsten – mit dem Gottesnamen verbunden „( ַחי־ ְיה ָוהso wahr JHWH lebt“)156 . Die Septuaginta übersetzt an allen diesen Stellen mit ζῇ κύριος. Hinzu kommen solche Stellen, an denen die Betonung der „Lebendigkeit“ Gottes in göttlichen Selbstaussagen
152 153 154 155
Ebd. Ebd. Gerlemann, , 554. 2Sam 2,27; Hiob 27,2. S. die Auflistung der Belege bei Köhler/Baumgartner, Lexicon, 292, vgl. Kraus, Gott, 5. Ursprünglich bedeutet die Wendung „Gott soll nicht leben, wenn …“ (Köhler/ Baumgartner, ebd.). 156 Ri 8,19; 1Sam 14,39.45; 19,6; 20,3.21; 25,26.34; 26,10.16; 28,10; 29,6; 2Sam 4,9; 12,5; 14,11; 15,21; 1Kön 1,29; 2,24; 17,1.12; 18,10.15; 22,14; 2Kön 2,2.4.6; 3,14; 4,30; 5,16.20; Jer 4,2; 5,2; 12,16; 16,14f; 23,7f; 38,16; 44,26; Hos 4,15; Ruth 3,13; 2Chr 18,13.
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geschieht, in der Wendung „( ַחי־ָא ִניso wahr ich lebe“).157 Hierher gehört auch die Aussage innerhalb des Moseliedes in Dtn 32,40 ()ַחי ָאֹנִכי ְלעָֹלם.158 Hans-Joachim Kraus hat in einem bereits 1972 erschienenen Aufsatz die Vorstellung des „lebendigen Gottes“ im Alten Testament zusammenfassend dargestellt.159 Er weist dabei auf die mit der Schwurformel verbundene Gottesvorstellung in 1Sam 20,1–23 hin.160 In der Erzählung von David und Jonathan begegnet die Schwurformel ַחי־ ְיה ָוהin den Versen 3 und 21. Sie unterstreicht die Ernsthaftigkeit der Situation, in der sich David angesichts der Bedrohung seines Lebens durch Saul befindet und in der dessen Sohn Jonathan um Davids Vertrauen wirbt. Während Jonathan in seiner „völligen Arglosigkeit […] an Mordpläne seines Vaters einfach nicht glauben kann“,161 macht David ihm deutlich, dass es für ihn um Leben und Tod geht: „So wahr JHWH lebt und so wahr du selbst lebst: Es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tod!“ ()ַחי־ ְיה ָוה ְוֵחי ַנְפֶשָׁך ִכּי ְכֶפַשׂע ֵבּי ִני וֵּבין ַהָמּ ֶות. Gott ist so lebendig, wie Jonathan lebendig ist, darum kann gleichsam beim Leben Gottes wie beim Leben eines Menschen geschworen werden (vgl. 2Kön 2,2.4.6). Jonathan verspricht David daraufhin, bei seinem Vater Saul in Erfahrung zu bringen, wie er zu David steht. Die folgende Bekräftigung seht unmittelbar im Zusammenhang damit, was in V. 21 gesagt wird: Jonathan schwört „bei JHWH,162 dem Gott Israels!“, dass er bei Saul in Erfahrung bringen werde, ob dieser David nach dem Leben trachtet (1Sam 20,12f). Wenn es „gut für David steht“ (טוֹב ֶאל־ ָדּ ִוד, V. 12), will Jonathan niemanden schicken, wohl aber dann, wenn es sich bei Saul anders verhält als Jonathan meint. In V. 13 bekräftigt Jonathan seine Überzeugung mit einer Selbstverfluchung: „JHWH tue Jonathan dies und füge das hinzu, wenn es meinem Vater aber gefällt, Böses an dir zu tun.“ Gott wacht demnach über die Aufrichtigkeit Jonathans, mit der es für David um Leben und Tod geht. Was damit gemeint ist, macht der die Passage abschließende Vers 23 deutlich: „Siehe, JHWH steht zwischen mir und dir in Ewigkeit“ ()ִה ֵנּה ְיה ָוה ֵבּי ִני וֵּבי ְנָך ַﬠד־עוָֹלם. Gott ist Zeuge und gleichzeitig Richter für das, was Jonathan dem David zugesagt hat. So bekräftigt in V. 21 die Schwurformel ַחי־ ְיה ָוהdie Wahrhaftigkeit des Zeichens, 157 Num 14,21.28; Jes 49,18; Jer 22,24; 46,18; Ez 5,11; 14,16.18.20; 16,48; 17,16.19; 18,3; 20,3.31.33; 33,11.27; 34,8; 35,6.11; Zeph 2,9. Die Häufung der Belege im Ezechielbuch ist auffällig. S. dazu Kreuzer, Gott, 162–235. 158 Vgl. Gerlemann, , 554; Zimmermann, Namen, 387. 159 Kraus, Gott. Auf den theologiegeschichtlichen Zusammenhang mit Überlegungen zum Gottesverständnis bei Martin Kähler und Julius Schniewind macht Kraus zu Beginn des Aufsatzes selbst aufmerksam (Kraus, aaO., 1 mit Anm. 1, vgl. ders., Julius Schniewind, 119–132). 160 Kraus, Gott, 9f. 161 Stoebe, 1Sam, 383. 162 Hertzberg, Samuelbücher, 132, Anm. 3 erwägt, ob an dieser Stelle vor ְיה ָוהein ausgefallen ist. Einige Handschriften bieten tatsächlich diese Lesart. In diesem Falle hätten wir auch in 1Sam 20,12 einen Beleg für die Schwurformel.
Der lebendige Gott bei Paulus
mit dem Jonathan dem David signalisieren will, dass keine Gefahr besteht. Kraus kommentiert: „Jahwe war Zeuge ,zwischen‘ denen, die den Eid ablegten; darin erwies er sein Leben, seine lebendige Gegenwart. Nun aber – und darauf liegt jetzt der Akzent – bleibt er auch als der Wachende und Richtende für alle Zukunft der Lebendige, der Herr über dem Wort des Schwures.“163 Dass Gott „lebendig“ ist, verweist demnach nicht einfach darauf, dass Gott die Welt am Anfang der Zeit geschaffen hat. Es verweist vielmehr auf „seine lebendige Gegenwart“, wie Kraus formuliert, auf seine Wirklichkeit in der Lebenswirklichkeit der Menschen. Darauf deutet auch hin, dass Gott jeweils mit seinem Namen angerufen wird. Noch einmal Kraus: „Der in der Formel angerufene ,lebendige Gott‘ wird Zeuge des Eides; er ist als der im šem Angegangene unmittelbar gegenwärtig.“164 Daraus folgert Kraus, „daß in Israel unter dem Anruf ḥaij jhwh an die lebendige Gegenwart und damit an die Zeugenschaft Jahwes geglaubt wurde“.165 Die Rede von dem „lebendigen Gott“ antwortet demnach nicht in erster Linie auf die Frage nach dem Ursprung allen Seins. Sie bezeugt vielmehr die lebendige Gegenwart im Leben der Menschen, die an diesen Gott glauben und im Angesicht dieses Gottes ihr Leben führen. Diese Gewissheit kann sich mit konkreten Taten Gottes in der Geschichte Israels verbinden, so vor allem mit der heilsgeschichtlichen Urerfahrung des Exodus-Geschehens.166 Wie das „geschichtliche“ Handeln Gottes mit dem Glauben an seine lebendige Gegenwart verbunden ist, lässt sich besonders prägnant an Jer 16,14f (vgl. 23,7f)167 beobachten: ָלֵכן ִה ֵנּה־ ָיִמים ָבּאים ְנֻאם־ ְיה ָוהDeshalb: Siehe, Tage kommen, Spruch JHWHs, ְו ֽל ֹא־ ֵיָאֵמר עוֹד ַחי־ ְיה ָוהda werden sie nicht mehr sagen: „So wahr JHWH lebt, ֲאֶשׁר ֶהֱﬠָלה ֶאת־ְבּ ֵני ִיְשׂ ָרֵאלder die Israeliten herausgeführt hat ֵמֶא ֶרץ ִמְצ ָר ִיםaus dem Land Ägypten!“ ִ֣כּי ִאם־ַחי־ ְיה ָוהsondern: „So wahr JHWH lebt, ֲאֶשׁר ֶהֱﬠָלה ֶאת־ְבּ ֵני ְִשׂ ָרֵאלder die Israeliten herausgeführt hat ֵמֶא ֶרץ ָצפוֹן וִּמכֹּל ָהֲא ָרצוֹתaus dem Land des Nordens und aus allen Ländern, ֲאֶשׁר ִה ִדּיָחם ָשָׁמּהin die er sie vertrieben hat!“
163 164 165 166
Kraus, Gott, 9. AaO., 8. Ebd. So bemerkt Fischer, Jer 1–25, 531 zu Jer 16,14: „Die Exodus-Tradition bildet einen Grundpfeiler des biblischen Glaubens, der immer wieder bedacht wird“. 167 In Jer 23,7f wird die Aussage fast wörtlich aufgenommen (vgl. Fischer, Jer 1–25, 681f). Nach Schmidt, Jer 21–52, 31f hat die Passage ihren ursprünglichen Ort im Kontext von Jer 23. Gegen die literarkritische These, die Verse seien erst nachträglich in Jer 16,14f eingefügt worden, spricht sich ausdrücklich Fischer, aaO., 530f aus.
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ַוֲהִשׁבִֹתים ַﬠל־ַא ְדָמָתםUnd ich werde sie in ihr Land zurückbringen, ֲאֶשׁר ָנַתִתּי ַלֲאבוָֹתםdas ich ihren Vätern gegeben habe.
Die Wendung ַחי־ ְיה ָוהwird jeweils durch einen ֲאֶשׁר-Satz erläutert, der Gottes Lebendigkeit mit einer konkreten Befreiungstat verbindet. Schon diese Beobachtung macht deutlich, dass der „lebendige Gott“ hier als der handelnde Gott verstanden wird. Die Herausführung aus Ägypten wird erinnert, um auf diese Weise auch die Herausführung aus dem Babylonischen Exil anzusagen.168 Dabei wird an die Landverheißung an die Väter erinnert, die sich in dem erneuten Handeln Gottes an seinem Volk aufs Neue erfüllen soll. Die Erinnerung der „Geschichtstat“ Gottes erschöpft sich nicht in einem Hinweis auf die Vergangenheit, sie zielt vielmehr darauf, die lebendige Gegenwart Gottes vor Augen zu stellen. Ganz ähnlich kann die Betonung der „Lebendigkeit“ Gottes mit seinem Handeln an Salomo verbunden werden (1Kön 2,24), in der Gott seine in 2Sam 7,12 dokumentierte Verheißung bestätigt und sich darin als „lebendig“ erwiesen hat.169 Und auch im Zusammenhang mit einer individuellen Rettungserfahrung kommt Gottes Lebendigkeit zur Sprache (2Sam 4,9, vgl. 1Kön 1,29). An all den genannten Stellen wird auf konkrete Heilserfahrungen verwiesen, in denen Gottes lebendige Gegenwart begegnet ist. Die Rede von dem „lebendigen Gott“ ist also gerade nicht als Verweis auf die prima causa zu verstehen. Sie verweist im Zusammenhang mit der Schwurformel nicht auf die Erschaffung der Welt am Anfang, sondern ist Ausdruck der Gewissheit, dass Gottes Wirklichkeit in der Wirklichkeit der Menschen begegnet – als heilsame und als richtende Gegenwart. In diesem Sinne ist von dem „lebendigen Gott“ als schöpferischer Gegenwart die Rede. An einer Stelle – in Jer 38,16 – wird im Zusammenhang mit der Wendung ַחי־ ְיה ָוהauf Gott als den verwiesen, „der uns das Leben gegeben hat“, also auf Gott als den Schöpfer des Menschen. Auch hier ist die individuelle Erfahrung des Schöpfergottes vorrangig, von der aus dann in anderen Zusammenhängen auch von Gott als dem Schöpfer der Welt gesprochen werden kann. Die Bezeichnung „der lebendige Gott“ ist demnach nicht primär mit der Vorstellung der creatio prima verbunden. Diese Vorstellung erweist sich vielmehr als aus der Erfahrung der Gegenwart Gottes heraus gewonnene Überzeugung.
168 Die Rückführung aus dem Exil wird „als ein das Gründungsgeschehen des Volkes noch übertreffendes Ereignis“ dargestellt (Fischer, aaO., 531). 169 Vgl. Kraus, Gott, 11.
Der lebendige Gott bei Paulus
6.1.2 Zu den Texten außerhalb der Schwurformel
Gegenüber der Fülle an Belegen im Zusammenhang mit der Schwurformel fällt die Anzahl der Texte außerhalb der Schwurformel mit 14 Stellen vergleichsweise gering aus.170 In Dtn 5,26 wird im Rückblick auf die Gottesbegegnung am Sinai gefragt: מנוּ ַו ֶיִּחי ֹ „ – ִכּי ִמי ָכל־ָבָּשׂר ֲאֶשׁר ָשַׁמע קוֹל ֱאֹלִהים ַח ִיּים ְמ ַדֵבּר ִמתּוְֹך־ָהֵאשׁ ָכּDenn welcher Mensch aus Fleisch hat je die Stimme des lebendigen Gottes, der mitten aus dem Feuer spricht, gehört wie wir und ist am Leben geblieben?“ 171 Die „Lebendigkeit“ Gottes steht an dieser Stelle im Gegensatz zur durch die Bezeichnung ָבָּשׂרzur Sprache gebrachten Sterblichkeit der Menschen.172 Weil dem Menschen mit dem heiligen Gott eine Wirklichkeit begegnet, die ganz anders ist als er selbst, ist die Begegnung mit dieser Wirklichkeit lebensbedrohlich.173 Wo es zu einer Begegnung zwischen Gott und Mensch kommt, bedarf es der Bewahrung durch Gott selbst. Die Begegnung mit Gott ist demnach alles andere als selbstverständlich. Sie muss von Gott gewährt werden. Der „lebendige Gott“ steht an dieser Stelle sachlich sehr nahe zum Gedanken der Heiligkeit Gottes. Erneut geht es bei der Prädikation darum, die Begegnung mit der besonderen Wirklichkeit Gottes zu beschreiben. In der Dtn 5,26 sachlich nahestehenden Passage Dtn 4,32 wird diese besondere Wirklichkeit mit dem Hinweis darauf verbunden, dass Gott den Menschen geschaffen hat, also sein Schöpfer ist. Mit dem „lebendigen Gott“ begegnet dem Menschen der Grund seines eigenen Daseins. Darum geht es in dieser Begegnung um Leben und Tod.174 Das lässt sich grundsätzlich auch für die berühmte Erzählung von David und Goliath sagen, die sich im 17. Kapitel des Ersten Samuelbuches findet. Diese Erzählung reiht sich ein in jene Texte, die von dem „lebendigen Gott“ in Auseinandersetzung mit Fremdvölkern reden (vgl. 2Kön 19,4.16; Jos 3,10).175 Goliath tritt als Vorkämpfer der Philister mit den Worten auf: „Ich verhöhne heute die Schlachtreihen Israels!“ (ֲא ִני ֵח ַרְפִתּי ֶאת־ַמַﬠ ְרכוֹת ִיְשׂ ָרֵאל ַהיּוֹם ַה ֶזּה, 1Sam 17,10). Auf diese Aussage wird Bezug genommen, wenn David die Männer Israels fragt: „Wer ist denn dieser unbeschnittene Philister da, der die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt?“ (ִמי ַהְפִּלְשִׁתּי 170 ֱאֹלִהים ַח ִיּיםDtn 5,26; 1Sam 17,26.36; Jer 10,10; 23,26. ֵאל ַחיJos 3,10; Hos 2,1; Ps 42,3. ֱאֹלִהים ַחי 2Kön 19,4.16 = Jes 37,4.17. 2Sam 22,47 = Ps 18,47, vgl. Gerlemann, , 554. 171 Übersetzung nach Otto, Dtn 4,44–11,32, 668. 172 Vgl. Num 16,22; 27,16; Jes 40,6 (Veijola, Dtn I, 147). 173 Wie in Dan 6,27 wird hier „Gottes ewiges Dasein im Unterschied zu den vergänglichen Menschen betont (vgl. Mt 16,16f)“ (ebd.). 174 Vgl. Zimmermann, Namen, 389. Zimmermann formuliert unpräzise, wenn sie von „der Tatsache“ spricht, „dass Gott der Schöpfer“ ist. Wie in Jer 38,16 (s. o.) wird in Dtn 4,32 von Gott als dem Schöpfer des Menschen gesprochen. Das lässt sich nicht einfach als „Tatsache“ beschreiben, sondern als ein Glaubenssatz eines Menschen, der seine eigene Existenz von Gott her versteht. 175 AaO., 393.
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ֶהָﬠ ֵרל ַה ֶזּה ִכּי ֵח ֵרף ַמַﬠ ְרכוֹת ֱאֹלִהים ַח ִיּים, 1Sam 17,26b). Unterstrichen wird damit, dass Israel das Volk des „lebendigen Gottes“ ist. Die Verhöhnung Israels richtet sich demnach auch gegen seinen Gott. In V. 36 kündigt David vor König Saul den Tod Goliaths an, „weil er die Schlachtreihen des lebendigen Gottes verhöhnt hat“. Zur Erläuterung verweist David im folgenden Vers auf die Erfahrung, die er selbst mit diesem Gott gemacht hat: „JHWH, der mich aus den Klauen des Löwen und aus den Klauen des Bären gerettet hat, der wird mich auch aus der Hand dieses Philisters erretten!“ (1Sam 17,37) Die Gewissheit, mit der David dem Goliath entgegentritt, wird demnach mit einer individuellen Rettungserfahrung begründet. Gott hat sich an David als der „lebendige Gott“ erwiesen, weil er ihn errettet hat. Aus dieser Erfahrung heraus weiß er um die Wirklichkeit des lebendigen Gottes. Deshalb tritt er dem bewaffneten Goliath allein „mit dem Namen JHWH Zebaoths“ entgegen, „des Gottes der Schlachtreihen Israels, die du verhöhnt hast“ (V. 4). Im Sieg Davids über Goliath erweist sich die „Lebendigkeit“ Gottes erneut. In der Erzählung wird auf diese Weise die individuelle Gotteserfahrung Davids zu einer kollektiven Erfahrung. Von Gottes „Lebendigkeit“ wird konsequent von der Erfahrung seiner rettenden Zuwendung her gesprochen. Die tiefgreifendste Infragestellung der Gegenwart des lebendigen Gottes ist in der biblischen Tradition mit dem Exil verbunden. In der Erinnerung ist Israel in dieser Situation in einer ganz grundsätzlichen und existentiellen Weise mit der Wirklichkeit fremder Götter konfrontiert. Im Zusammenhang mit dieser grundlegenden Auseinandersetzung wird nun auch auf die Welt-Schöpfung ausgegriffen. Das lässt sich im Jeremia-Buch im Kontext des 10. Kapitels beobachten. Auf die Nähe von Jer 10,10176 zu 1Thess 1,9 hatte bereits Gerhard Friedrich hingewiesen, der erklärt hatte, 1Thess 1,9 klinge „fast wie ein Zitat aus Jer 10,10“.177 In der Tat begegnet hier wie in 1Thess 1,9 die Prädikation Gottes als „lebendig“ und als „wahr“: ַויה ָוה ֱאֹלִהים ֱאֶמתJahwe aber ist in Wahrheit Gott, הוּא־ֱאֹלִהים ַח ִיּים וֶּמֶלְך עוָֹלםer ist der lebendige Gott und ewiger König. ִמִקְּצפּוֹ ִתּ ְרַﬠשׁ ָהָא ֶרץVor seinem Grimm erbebt die Erde ְול ֹא־ ָיִכלוּ גוֹ ִים ַזְﬠמוֹund seinen Zorn können die Völker nicht ertragen.178
Bei näherer Betrachtung lassen sich noch weitere Motive beobachten, die Jer 10,10 im Kontext mit 1Thess 1,9f gemeinsam hat. So die in Jer 10,14f formulierte Polemik
176 Nach Kraus, Gott, 23 ist das Kapitel Jeremia 10 nicht auf Jeremia zurückzuführen, sondern lasse Deuteronomistische (und Deuterojesajanische) Gedanken erkennen. 177 Friedrich, Tauflied, 245. Auf die Verbindung zwischen Jer 10,10 und 1Thess 1,9 weist auch Schmidt, Jeremia 1–20, 220 hin. Jantsch, Gottesverständnis, 58 weist in diesem Zusammenhang allerdings mit Recht darauf hin, dass der Vers in der Septuaginta nicht vorkommt. 1Thess 1,9 müsste demnach den hebräischen Text voraussetzen. 178 Übersetzung nach Schmidt, Jeremia 1–20, 216.
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gegen die „Götzen“, die mit dem Wort ֶפֶסלbezeichnet werden, dessen Äquivalent in der Septuaginta εἴδωλον sein kann (Ex 20,4; Dtn 5,8).179 Aber auch die Rede von dem „Grimm“180 oder dem „Zorn“181 Jahwes steht dem Motiv der ὀργή in 1Thess 1,10 sachlich nahe. Denn wie das griechische Wort ὀργή182 kann auch der hebräische Begriff ַזַﬠםdas göttliche Zorngericht bezeichnen.183 Es wird sich erst im Zorngericht erweisen, dass die „Götter den Himmel und die Erde nicht gemacht haben“ ()ֱאָלַה ָיּא ִדּי־ְשַׁמ ָיּא ְוַא ְרָקא ָלא ֲﬠַבדוּ184 , und zwar dadurch, dass sie von der Erde „verschwinden“ werden (V. 11). Erst dann wird sich auch erweisen, dass „er es ist, der die Erde gemacht hat“, wie im Folgenden unter Verwendung von Schöpfungsmotivik ausgeführt wird (V. 12f). Wenn sich erweisen wird, dass die „Götterbilder“ kein Leben in sich haben, dann wird sich auch erweisen, dass Jahwe es ist, „der das alles gemacht hat“, eben der Gott dessen „Stamm“ und „Erbteil“ Israel ist. Der in V. 10 genannte „wahre und lebendige Gott“ steht demnach im absoluten Gegensatz zu den Götzen, „in denen keine Lebenskraft185 ist“ ()ל ֹא־רוּ ַח ָבּם. Ist sich Israel bereits dessen gewiss, dass der „lebendige Gott“ – dessen lebendige Wirksamkeit es an sich selbst erfahren hat – auch der Schöpfer der ganzen Welt ist, so muss sich dies universal erst noch durchsetzen – erst dann werden die „Götzen“, die in der Gegenwart noch beanspruchen, Götter zu sein, verschwinden. Indem sie verschwinden, wird sich zeigen, dass sie keine Götter sind, nicht Schöpfer, sondern Geschöpfe von Menschen, ohne Lebensodem, den nur der wahre Gott ihnen einhauchen könnte. Die Erinnerung an Gott als Schöpfer und der Ausblick auf das göttliche Zorngericht sind demnach nicht erst in 1Thess 1,9f, sondern bereits in Jer 10,10–16 miteinander verbunden. Darauf ist am Ende dieses Kapitels noch einmal zurückzukommen. Zunächst soll abschließend allerdings noch auf die Erzählung von Daniel in der Löwengrube (Dan 6) eingegangen werden, die bei den oben genannten Belegstellen für das Motiv des „lebendigen Gottes“ noch nicht enthalten war. Sie stammen aus dem Teil des Danielbuchs, der auf Aramäisch verfasst wurde186 und dessen griechische Übersetzung in zwei Versionen erhalten ist, in der Fassung der Septu-
179 180 181 182 183
Vgl. Büchsel, εἴδωλον, 374. Vgl. Schmidt, Jer 1–25, 374.383. Schmidt, aaO., 216; Gesenius, Handwörterbuch, 203, s.v. . Pesch, ὀργή, 1295f. Dan 11,36; Jes 10,5.25; 26,20; 30,27 (Gesenius, Handwörterbuch, 203 s.v. ). Auch Schmidt, Jer 1–25, 383 weist darauf hin, dass der Begriff in Gerichtstexten vorkommen kann, etwa auch in Hab 3,12 und in Zef 3,8. 184 Der Vers 11 ist in aramäischer Sprache geschrieben. 185 Vgl. Gesenius, Handwörterbuch, 749, s.v. ; Fischer, Jer 1–25, 383.387. 186 Nach Witte, Schriften, 502 sind die hebräischen Teile des Danielbuchs gegenüber den aramäischen Teilen als Erweiterung des Buches im Zuge einer „Hebraisierung“ zu verstehen.
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aginta und in derjenigen des Theodotion.187 Christiane Zimmermann hat auf die Unterschiede aufmerksam gemacht, die sich nach ihrer Auffassung gerade im Blick auf das Motiv der „Lebendigkeit“ Gottes zwischen beiden Fassungen beobachten lassen und die These formuliert, dass die Septuaginta-Version in besonderer Weise „die Lebendigkeit JHWHs in Absetzung von den weltlichen Herrschern und auch fremden Göttern noch stärker“ betone.188 Die Prädikation Gottes als ὁ θεὸς ὁ ζῶν findet sich allerdings gerade in der Theodotion-Übersetzung von Dan 6,21. Das Danielbuch zeigt, wie die Erinnerung der Situation im Babylonischen Exil als Folie dienen konnte, vor der auch die Situation des Judentums in hellenistischer Zeit theologisch interpretiert wurde.189 Das lässt sich etwa an der engen Beziehung erkennen, die zwischen den Kapiteln 3 und 6 des Danielbuchs besteht190 und in der jeweils von einem Konflikt mit dem religiösen Machtanspruch eines Königs erzählt wird, gegen den sich der fromme Jude Daniel behauptet. Die Erzählung in Dan 6 konfrontiert Daniel mit der Gestalt des Perserkönigs Darius I., der in 6,1 allerdings als „Meder“ bezeichnet wird.191 Die Erzählung unterstreicht Daniels lebendige Gottesbeziehung, die sich in seinem Gebet zu seinem Gott (vgl. 6,11f) sichtbar äußert. Dem Erzähler geht es darum, von deren Bewährung zu erzählen. Das wird in 6,17b vorbereitet, wenn der König, als Daniel in die Löwengrube geworfen wird, sagt: „Dein Gott, den du ohne Unterlass verehrst, er möge dich befreien!“ (ֱאָלָהְך ִדּי )ַא ְנָתּה ָפַּלח־ֵלהּ ִבְּת ִדי ָרא הוּא ְיֵשׁי ְזִב ָנְּך.192 Die Septuaginta wird an dieser Stelle noch konkreter und formuliert: ὁ θεός σου, ᾧ σὺ λατρεύεις ἐνδελεχῶς τρὶς τῆς ἡμέρας, αὐτὸς ἐξελεῖταί σε ἐκ χειρὸς τῶν λεόντων – „Dein Gott, dem du ohne Unterlass dreimal am Tag dienst, er möge dich befreien aus den Klauen der Löwen!“ Als der König im Morgengrauen zur Löwengrube kommt, ruft er Daniel zu: „Daniel! Diener des lebendigen Gottes! Hat dich dein Gott, den du ohne Unterlass verehrst, vor den Löwen erretten können?“ (Dan 6,21b) Die Theodotion-Fassung ist hier näher am aramäischen Text und gibt die Bezeichnung Daniels als „Knecht des lebendigen Gottes“ ( )ֲﬠֵבד ֱאָלָהא ַח ָיּאwieder: Δανιηλ ὁ δοῦλος τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος, ὁ θεὸς σου, ᾧ σὺ λατρεύεις ἐνδελεχῶς, εἰ ἠδυνήθη ἐξελέσθαι σε ἐκ στόματος τῶν λεόντων;
187 Zur griechischen Textüberlieferung des Danielbuchs s. Septuaginta Deutsch, 1417. 188 Zimmermann, Namen, 390. 189 In seiner Endgestalt lässt sich das Danielbuch relativ genau in die Zeit Antiochus’ IV. datieren (in die Jahre vor dessen Tod im Jahr 164 v. Chr., vgl. Gese, Krise, 203; Witte, Schriften, 504) es hat aber wohl ältere Stoffe aufgenommen, zu denen auch die aramäisch verfassten Erzählungen Dan 2–6 gehören dürften (Witte, aaO., 502). 190 Bauer, Daniel, 130; Plöger, Daniel, 95. 191 Hier liegen historische Ungenauigkeiten der Erzählung vor, s. dazu Plöger, Daniel, 95f; Witte, Schriften, 500. 192 Übersetzung nach Plöger, Daniel, 93. Auch in den im Folgenden angeführten Übersetzungen aus dem Aramäischen folge ich Plöger.
Der lebendige Gott bei Paulus
Daniel antwortet mit einem hymnischen Bekenntnis, mit dem er auf Gottes rettendes Handeln an ihm verweist: „Mein Gott hat seinen Boten gesandt und er hat den Rachen der Löwen verschlossen, so dass sie mich nicht verletzt haben …!“ (Dan 6,23) Der „lebendige Gott“ erweist seine Wirklichkeit so in seinem rettenden Handeln an Daniel. Von dieser Rettungstat aus kommt es schließlich zur Anerkennung Gottes durch den König: „Er ist der lebendige Gott ( )הוּא ֱאָלָהא ַח ָיּאund bleibt in Ewigkeit, und sein Reich ist unzerstörbar und seine Herrschaft ohne Ende!“ Wieder ist die Theodotion-Fassung näher am aramäischen Text: αὐτός ἐστιν θεὸς ζῶν καὶ μένων εἰς τοὺς αἰῶνας, καὶ ἡ βασιλεία αὐτοῦ οὐ διαφθαρήσεται, καὶ ἡ κυριεία αὐτοῦ ἕως τέλους (Dan 6,27 θ’). Auch im Danielbuch lässt sich demnach beobachten, dass die Rede von dem „lebendigen Gott“ auf konkrete Heilserfahrungen verweist. Erst von den konkreten Heilserfahrungen aus kann von Gottes „Ewigkeit“ gesprochen werden. Zimmermann sieht hier eine Verbindung mit der in Dan 12,2.7 formulierten Auferstehungshoffnung und stellt die Überlegung an, dass „die Zunahme der Bezeichnung lebendiger Gott in den jüdischen Schriften hellenistischer Zeit möglicherweise im Zusammenhang der Entwicklung der Auferstehungserwartung“ stehen könne.193 Tatsächlich dürfte diese Entwicklung bereits in den älteren Texten insofern angelegt sein, als diese von der gegenwärtigen Erfahrung der für den Menschen Leben schaffenden lebendigen Wirklichkeit Gottes ausgehen und von hier aus die Hoffnung auf deren universale Durchsetzung entwickeln, die am Ende sogar den Tod besiegt (vgl. etwa Jes 25,8). So lässt sich formulieren: Der „lebendige Gott“ ist der rettende Gott. Bereits in den jüdischen Texten wird demnach nicht zuerst von Gottes Sein als Schöpfer und erst dann – „als ein Zweites“ – von seinem rettenden Handeln geredet. Es ist vielmehr umgekehrt: Von seinem rettenden Handeln aus kommt Gott als Schöpfer in den Blick. Insofern die universale Realisierung des rettenden Handelns Gottes noch aussteht, lässt sich sagen: Die Schöpfungslehre gehört – dogmatisch gesprochen – in die Eschatologie. Die Aussage in 1Thess 1,9f steht insofern ganz im Duktus des jüdischen Gottesverständnisses, wenn sie mit dem Verweis auf den „wahren und lebendigen Gott“ nicht in einem abstrakten Sinn auf Gottes Sein als Schöpfer verweist, sondern an konkrete Heilserfahrungen erinnert, die Paulus in 1Thess 1,1–10 benennt: die konkreten Erfahrungen, die die Glaubenden in Thessaloniki mit dem Evangelium gemacht haben, durch das Gott sie mit seinem Geist erfüllt und zu Glaubenden gemacht hat. Diese Erfahrungen richten sie auf den kommenden Jesus aus, der sie vor dem Zorngericht erretten wird (1Thess 1,10). Möglicherweise erklärt sich die erst relativ spät durchsetzende Gottesbezeichnung „der lebendige Gott“ aus der Aufnahme und gleichzeitigen Absetzung von
193 Zimmermann, Namen, 391.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
altorientalischen Gottesvorstellungen.194 Gegenüber der altorientalischen Umwelt entzieht sich der Gottesglaube Israels einer Divinisierung der Naturkräfte195 und einer Vergottung des Lebens „an sich“ und betont demgegenüber, dass Gott dem Leben gegenübersteht und der Geber des Lebens ist.196 Gerade weil – wie Werner H. Schmidt formuliert – „das Wirken Gottes das gemeinsame Moment“ ist, „das die Entlehnung des Begriffs [sc. ,lebendig‘] gestattete“, polemisiert er zu Unrecht gegen die etwa von Kraus vertretene Auffassung, wonach die Prädikation Gottes als „lebendig“ auf die konkret-personhafte Begegnung ziele.197 Uta Poplutz beschreibt die Sache sehr viel besser, wenn sie erklärt, dass Gott als „der Lebendige“ „nicht nur in Bezug auf das Weltganze (Schöpfung, Erweckungstat, eschatologische Vollendung), sondern auch in konkreten und persönlich erfahrbaren Beziehungen seine Wirkmacht entfaltet (Christus, Paulus, Gläubige). Diese Universalität, die ihn von ,menschlichen‘ Figuren unterscheidet, konkretisiert sich mithin in verschiedenen kommunikativen Beziehungsstrukturen, die Gott als Sprechenden und Handelnden zeigen, und einen mehrdimensionalen Interaktionsraum erkennen lassen.“198
194 So folgert Schmidt, Glaube, 219 aus der Beobachtung, dass der Ausdruck „so wahr Jahwe lebt“ in der älteren Pentateuchüberlieferung fehlt, dass „Israel ihn erst im Kulturland in Anlehnung an fremde Bräuche geprägt hat“. Schmidt bestreitet deshalb gegenüber Kreuzer, dass das Prädikat „lebendig“ „von der Frühzeit an ein Theologumenon von grundlegender Bedeutung ist“ (aaO., 218). Stenger, Gottesbezeichnung, 61 formuliert: „Nachdem jede Verwechslung mit den Natur- und Fruchtbarkeitsgottheiten des kanaanäischen Raums abgewehrt ist, kann Israel Jahwe als Quelle des Lebens überhaupt anerkennen und preisen (vgl. Ps 36,10) und die Gottesbezeichnung ,lebendiger Gott‘ im Rahmen einer Schöpfungstheologie anwenden.“ 195 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 256: „Wäre die Schöpfung ohne die Partizipation an Gottes Gutsein … gar nicht denkbar, wird sie selbst durch diese Anteilgabe doch nicht göttlich. Vielmehr bleibt für Gottes Verhältnis zur Welt und zum Menschen konstitutiv, dass Gott als Schöpfer von seiner Schöpfung unterschieden bleibt.“ Vgl. aaO., 207. Gertz, Antibabylonische Polemik hat in Frage gestellt, dass der biblische Schöpfungsbericht sich dezidiert kritisch gegen babylonische Schöpfungsvorstellungen wende. S. dazu Barth, Errettung, 36–44. 196 S. dazu die Bemerkung von Gerlemann, חיה, 555: „Es geht aus dem lexikalischen Befund hervor, daß das AT kein großes Gewicht darauf legt, Jahwe als den Lebendigen darzustellen. Leben und Lebendigkeit werden fast nie als an Jahwe haftende Attribute betrachtet. Alle Betonung liegt darauf, daß Jahwe das Leben gibt und über das Leben verfügt, nicht daß er selber daran teilhat.“ Ähnlich Barth, Errettung, 38: „Auf das Leben, wie es sich in der Kreatur manifestiert, kann er selber [sc. Gott] nicht angewiesen sein, wenn anders er der von seinem Geschöpf verschiedene, ihm präexistente und überlegene Herr ist.“ 197 Schmidt, Glaube, 218, vgl. Kraus, Gott, 24: „Seine (sc. Gottes) Personhaftigkeit ist wesenhaft Zuwendung des lebendigen göttlichen Seins zum Menschen, sie ist Tat des Rettens und Richtens, des Wachens und Führens, der Treue und der Geduld.“ 198 Poplutz, Gottesfigurationen, 369.
Der lebendige Gott bei Paulus
Bei Paulus lässt sich beobachten, dass er den in den jüdischen Texten deutlich erkennbaren Vorrang der konkreten und relational-personhaften Rede von dem „lebendigen Gott“ auf seine Weise aufnimmt. Kraus bringt m. E. eine entscheidende Pointe dieser Art der Rede von Gott zum Ausdruck, wenn er erklärt, dass diese nicht nur auf die Überzeugung ziele, „, daß der Gott Israels Person ist, vielmehr ist es entscheidend, als welche Person er sich in seiner Offenbarung und also in seinen Taten bekannt macht.“199 Tatsächlich zielt ja bereits die in Jer 10,10–16 formulierte Götzenpolemik darauf, wer der ist, den man mit Recht als „Schöpfer“ und damit als „Gott“ bezeichnen kann. De facto nimmt Paulus diese Art der Rede von Gott in 1Thess 1,9 auf, wenn er von dem „lebendigen und wahren Gott“ redet, und er füllt sie in 1,10 inhaltlich, wenn er von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus redet, durch die Gott selbst sich zu erkennen gibt. Gemeinsam mit einem Text wie Jer 10,10–16 hat 1Thess 1,9f den mit der Rede von dem θεὸς ἀληθινός verbundenen Wahrheitsanspruch, der für das eigene Gottesverständnis erhoben wird. Paulus beansprucht in 1Thess 1,9f, dass sich in den konkreten Erfahrungen, von denen die Glaubenden herkommen, der Gott manifestiert hat, an den auch jüdische Menschen glauben und der sich am Ende der Zeit im Kommen Jesu universal durchsetzen wird. Gerade dadurch aber entzündet sich der Konflikt nicht nur zur „heidnischen“ Umwelt, sondern – zunächst implizit – auch zu den jüdischen Gemeinden, die diesen Anspruch nicht nachvollziehen können. Es führt deshalb an der Sache vorbei, wenn man in 1Thess 1,9 mit der Rede vom „lebendigen und wahren Gott“ einen gleichsam „allgemeinen“ Ausgangspunkt beim Schöpfer-Glaube sieht und erst in 1,10 die „christliche Fassung“ dieses Gedankens erblickt. Vielmehr zielt bereits die Rede von dem „lebendigen Gott“ selbst auf eine gegenwärtige Erfahrung, die als verbindlich angesehen und inhaltlich gefüllt wird. Für die christliche Tradition, wie sie etwa auch noch bei Harnack greifbar wird, ist indes eine Weichenstellung in der Schöpfungstheologie bestimmend geworden, die sich bei Philo von Alexandrien beobachten lässt:200 Philo nimmt in seiner allegorischen Interpretation des biblischen Schöpfungsglaubens den platonischen Gedanken von Gott als der μία αἰτία, der prima causa auf.201 Grundlegend ist dafür Philos Interpretation von Ex 3,14 LXX. Die Gottesaussage ἐγώ εἰμι ὁ ὤν interpretiert Philo im Sinne der platonischen Vorstellung von Gott als dem „wahrhaft Seienden“.202 Im Hintergrund steht die
199 Kraus, Gott, 25. 200 Dass Philo überwiegend christlich rezipiert wurde und zum „Wegbereiter christlicher Theologie“ wurde, unterstreichen je auf ihre Weise Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 46 (dort das Zitat); Schäfer, Götter, 71. 201 Zu Philos Schöpfungsvorstellung s. Niehoff, Philon, 109–127 (zur Unterscheidung zwischen causa und materia, die Philo mit der Stoa teilt aaO., 119). Auf Philo Abr. 268 wurde oben bereits verwiesen, s. auch Post. 19, wo jeweils der entsprechende Begriff ὁ αἴτιος steht. 202 Philo det. 160; opif. 172, vgl. Niehoff, aaO., 111.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Unterscheidung zwischen dem „Sein“ (τὸ ὄν) und dem „Werdenden“ (τὸ γιγνόμενον), wie sie sich in Platons Dialog Timaios greifen lässt (Plato Tim. 28a). Der Zusammenhang in Platons Dialog kann bereits hier die Differenz zur platonischen Schöpfer-Vorstellung erkennbar werden lassen, die sich mit der „Vater“-Prädikation verbindet: Platon formuliert in dem genannten Zusammenhang den berühmten „Satz vom Grund“: Πᾶν δὲ αὖ τὸ γιγνόμενον ὑπ’ αἰτίου τινὸς ἐξ ἀνάγκης γίγνεσθαι – „Alles Entstehende muss also aus einem bestimmten Grund mit Notwendigkeit entstanden sein.“ Dieser „Grund“, die αἰτία, ist Gott als der „Urheber und Vater des Weltalls“ (ποιητής καὶ πατὴρ τοῦ παντός, Plat Tim. 28c). Hier wird der metaphysische Gottesbegriff formuliert, der durch Philo mit der biblischen Tradition verknüpft wird. In dieser Traditionslinie steht die Prädikation Gottes als πατήρ in einem protologischen Zusammenhang. Diese Grundunterscheidung zwischen der biblischen Tradition auf der einen, der platonischen Tradition auf der anderen, erweist sich als zentral. Hier genügt zunächst der Hinweis, dass 1Thess 1,1–10 darin charakteristisch für Paulus ist, dass die Prädikation Gottes als πατήρ unlöslich verbunden ist mit der Prädikation Jesu als κύριος (V. 1.3) und mit der Bezeichnung Jesu als υἱός in V. 10. Es ist der im Christusgeschehen erschlossene Gott, von dem in 1Thess 1,1–10 die Rede ist, der von seinem auferweckenden Handeln an Jesus her bestimmt wird. An diesen Gott denkt Paulus und denken auch die Gemeinden, die von dem Glauben der Thessalonicher erfahren haben, wenn sie von dem „lebendigen und wahren Gott“ reden und hören. Freilich steht Paulus in einer Stadt wie Thessaloniki vor einer ähnlichen Herausforderung, wie sie sich etwa für Philo, aber auch für einen Philosophen wie Plutarch beobachten lässt. Sie besteht darin, die eigene individuelle und gleichzeitig Gemeinschaft stiftende Gottesbegegnung mit den Vorstellungen der Umwelt zu vermitteln und gleichzeitig von ihnen abzugrenzen. Für das Thessaloniki zur Zeit des Paulus ist die Existenz eines ägyptischen Götterkultes der Isis und Osiris belegt, ebenso die Dionysosverehrung und, wie im gesamten östlichen Mittelmeerraum zu der Zeit üblich, des Kaiserkultes.203 Auffällig ist, dass Paulus den Gottesglauben der Thessalonicher in 1Thess 1,9 durch Abgrenzung definiert, indem er von den εἴδωλα spricht. Er formuliert damit einen Exklusivismus, der ansonsten nur von der jüdischen Gemeinde formuliert wird. Die Teilnahme an pagan-hellenistischen Kulten hingegen war nicht mit einem derartigen Ausschließlichkeitsanspruch verbunden, vielmehr ließen sich unterschiedliche Kulte miteinander verbinden. Das Beispiel Plutarchs zeigt, dass die hellenistische Popularphilosophie in der Lage war, etwa die ägyptische Religion durch eine philosophische Interpretation in das eige-
203 S. dazu Schreiber, 1Thess, 34–40; vom Brocke, Thessaloniki, 114–142.
Der lebendige Gott bei Paulus
ne Denken zu integrieren.204 Für Paulus und die christliche Gemeinde hingegen ist die Zuwendung zu dem „lebendigen und wahren Gott“ mit der Abwendung von den „Götzen“ verbunden. Der „lebendige und wahre Gott“ aber erweist seine Lebendigkeit einmal in der Auferweckung seines Sohnes und schließlich in dessen rettendem Kommen, auf das die Gemeinde wartet. Die Auferweckungstat Gottes an Jesus (1Thess 1,10) erweist insofern sowohl Jesus als „Sohn“ als auch Gott als „Vater“. Von dieser Bestimmung ausgehend spricht Paulus die Gemeinde in Thessaloniki vom ersten Vers seines Briefes an an (1Thess 1,1). So wird der θεὸς ζῶν von den Christusglaubenden von seinem auferweckenden Handeln an Jesus her verstanden: der „lebendige Gott“ ist für sie der „lebendigmachende Gott“.205 Gemeinsam mit dem Judentum ist die Bestimmung Gottes von seinem Heilshandeln her. Insofern die Rede von dem „lebendigen Gott“ auf diese Weise aber unlöslich mit dem Christusgeschehen verbunden ist, tritt die paulinische Rede von Gott notwendig in Konflikt mit dem Judentum seiner Zeit, dem Paulus selbst entstammt. Es greift zu kurz, wenn man davon spricht, dass Paulus hier keine „kritische Verhältnisbestimmung zum jüdischen Gottesverständnis“ vornehmen wolle.206 Diese Verhältnisbestimmung erfolgt implizit dadurch, dass er Gott ganz vom Christusgeschehen her versteht und auch die Haltung der Glaubenden durch die Erwartung des kommenden Christus inhaltlich qualifiziert. Auf diesen Aspekt werde ich am Ende dieses Kapitels noch einmal zurückkommen. Zunächst einmal sind die neutestamentlichen Belege für die Rede von dem „lebendigen Gott“ zu sichten. 6.2
Der lebendige Gott im Frühjudentum und im Neuen Testament
Im Neuen Testament ist die Bezeichnung θεὸς ζῶν nicht sehr häufig, aber doch gut belegt. Von den insgesamt 18 Stellen innerhalb des Neuen Testaments, an denen das Motiv des „lebendigen Gottes“ aufgenommen wird, stammen fünf aus den Paulusbriefen und zwei aus der nachpaulinischen Tradition.207 Das zeigt, dass die Bezeichnung Gottes als „der Lebendige“ zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Texte geläufig war.208 Die verschiedenen Kontexte, die zum Alten Testament namhaft gemacht werden konnten, lassen sich auch im Neuen Testament beobachten:209 So begegnet die Prädikation im Schwurzusammenhang (Mt 26,63;
204 S. dazu nur Plutarchs Traktat De Iside, s. dazu Feldmeier, Gott der Toten, vgl. ders., Philosoph und bereits Kleinknecht, θεός, 75f. 205 So Zimmermann, Namen, 531. 206 So Hoppe, 1Thess, 119. 207 Mt 16,16; 26,63; Apg 14,15; Röm 9,26 (= Hos 2,1); 14,11; 2Kor 3,3; 6,16; 1Thess 1,9; 1Tim 3,15; 4,10; Hebr 3,12; 9,14; 10,31; 12,22; Offb 4,9f; 7,2; 10,6; 15,7. 208 Kraus, Gott, 31. 209 Zimmermann, Namen, 425f.
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Offb 10,5f) und im Gerichtszusammenhang (Röm 14,11; Hebr 10,31).210 Für unsere Fragestellung bedeutsam ist die Beobachtung, dass Paulus von dem „lebendigen Gott“ nicht nur – wie in 1Thess 1,9 – in der „Missionssituation“ redet,211 sondern auch im Blick auf das gegenwärtige Leben der Gemeinde.212 Paulus folgt offensichtlich dem alttestamentlichen Sprachgebrauch,213 stellt die Prädikation aber auch in neue Zusammenhänge. Das zeigt, dass er die Rede vom „lebendigen Gott“ nicht einfach nur aus der Tradition übernimmt, sondern ganz bewusst interpretiert. Das wird sowohl an den beiden Belegen aus dem Römerbrief (Röm 9,26; 14,11) als auch an den beiden Belegen aus dem Zweiten Korintherbrief (2Kor 3,3; 6,16) deutlich. Im Ersten Timotheusbrief (3,15; 4,10) lässt sich beobachten, wie die bei Paulus formulierte Vorstellung aufgenommen wird. Im Römerbrief bleibt Paulus nahe an der alttestamentlichen Tradition, die er aber im Sinne seiner eigenen Theologie interpretiert: In Röm 9,26 zitiert Paulus in einer Zitatenreihe Hos 2,1 LXX, wo die Israeliten als υἱοὶ θεοῦ ζῶντος bezeichnet werden. Paulus greift das Zitat nun allerdings auf, um damit zu „zeigen“, dass Gott sich nicht nur Juden, sondern auch Heiden zugewandt hat (Röm 9,24). Er liest den Hosea-Text also „vom Standort eschatologischer Erfüllung“ aus neu und „verändert die Adresse“.214 Im Zusammenhang von Röm 9,19ff ist deutlich, dass Paulus den Gedanken der Überlegenheit Gottes aufnimmt, die Gott als Schöpfer gegenüber seinen Geschöpfen auszeichnet (Röm 9,19–21). Wir hatten oben etwa an Dtn 5,26 gesehen, dass dieser Gedanke traditionsgeschichtlich mit der Bezeichnung Gottes als „lebendig“ verbunden ist. In Röm 9,19ff geht es nun um die Freiheit Gottes zur Erwählung seines Volkes aus Juden und Heiden. Durch seine Erwählungstat erweist er sich als der „lebendige Gott“. In Röm 10,8–17 führt Paulus aus, dass diese Erwählung durch die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ihre Realisierung an einem Menschen erfährt. So steht das Hosea-Zitat in Röm 9,26 in einem Zusammenhang, in dem der Gedanke der „Lebendigkeit“ Gottes bewusst aufgenommen und auf sein Heilshandeln durch das Evangelium angewandt wird. Dieser Zusammenhang legt sich auch für 1Thess 1,1–10 nahe. Denn auch hier ist es der konkret im Evangelium erfahrene Gott, dem sich die Glaubenden zugewandt und den sie als den „lebendigen und wahren Gott“ erkannt haben. In Röm 14,11 zitiert Paulus Jes 45,23, leitet das Zitat aber mit der Eingangswendung aus Jes 49,18 (ζῶ ἐγώ, λέγει κύριος) ein. Die Wendung entspricht der oben
210 Stenger, Gottesbezeichnung, 62f. 211 Vgl. aaO., 63f. 212 Stenger bemerkt aaO., 66: „Doch das Wirken des lebendigen Gottes beschränkt sich nicht nur auf die ,Erschaffung‘ der Kirche.“ 213 Vgl. Kraus, Gott, 31, der das im Blick auf die neutestamentlichen Belege insgesamt behauptet. 214 Stenger, Gottesbezeichnung, 65; Wilckens, Röm II, 206 formuliert, dass Paulus das Hosea-Zitat in Röm 9,26 „präzisiert und steigert“.
Der lebendige Gott bei Paulus
besprochenen Schwurformel. Ist in diesem Vers offensichtlich Gott mit κύριος gemeint und wird in 14,10b (im Unterschied zu 2Kor 5,10) vom Richterstuhl Gottes gesprochen, vor dem die Glaubenden erscheinen müssen, so ist der Kontext gerade von der Rede von Jesus als κύριος geprägt (14,8f.14), von dem in in V. 9b gesagt wird, dass er durch seine Auferstehung über Lebende und Tote herrscht.215 Bereits Ulrich Wilckens hat deshalb zu dieser Passage bemerkt, dass sich „in dem ständigen Ineinander von Christozentrik und Theozentrik ein durchaus wesentlicher Aspekt paulinischer Interpretation“ abzeichne.216 „Lebendig“ sind nach dieser Passage Gott und Jesus Christus gleichermaßen, und diese „Lebendigkeit“ prägt das gegenwärtige Leben der Gemeinde und ihren eschatologischen Ausblick durchgängig. Auch dieser Zusammenhang lässt sich in 1Thess 1,1–10 beobachten. Im Zweiten Korintherbrief bestätigt sich, dass Paulus mit dem „lebendigen Gott“ den an der Gemeinde gegenwärtig handelnden Gott verbindet. So beschreibt er in 2Kor 3,3 die Gemeinde als einen „Brief Christi“, der „nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes“ (οὐ μέλανι ἀλλὰ πνεύματι θεοῦ ζῶντος) geschrieben ist. Und in 2Kor 6,16 bezeichnet Paulus die Gemeinde als „Tempel des lebendigen Gottes“ (ναὸς θεοῦ ἐσμεν ζῶντος), wobei an dieser Stelle die zu Jer 10,10–16 bereits erörterte Entgegensetzung des „lebendigen Gottes“ zu den „Götzen“ aufgenommen wird. Der „lebendige Gott“ ist demnach der Gott, der die Gemeinde ins Leben gerufen hat und erhält und der in seinem Geist in ihrer Mitte gegenwärtig ist (vgl. 1Kor 3,16). Wenn Paulus am Ende des Abschnitts 2Kor 6,14–18 Gott mit der aus 2Βασ 7,8 LXX aufgenommenen Wendung als κύριος παντοκράτωρ bezeichnet, dann stellt er die Rede von Gottes Allmacht in einen erwählungstheologischen Zusammenhang: Gott, der als der „Lebendige“ erfahren wurde, indem er Menschen zu Glaubenden gemacht hat, wird in eschatologischer Perspektive als der Herrscher des Alls geglaubt. Hier bestätigt sich noch einmal der oben angesprochene Zusammenhang von Schöpfungsglaube und Eschatologie. Der Erste Timotheusbrief nimmt den Gedanken der Gegenwart des „lebendigen Gottes“ in der Gemeinde auf, wenn er von der „Gemeinde des lebendigen Gottes“ (ἐκκλησία θεοῦ ζῶντος) redet (1Tim 3,15). In 1Tim 4,10 wird schließlich der Zusammenhang zwischen der „Lebendigkeit“ Gottes und der Hoffnung auf sein rettendes Handeln formuliert, der in 1Thess 1,9f zentral ist, wenn der Verfasser davon spricht, dass „wir die Hoffnung auf den lebendigen Gott gesetzt haben, der ein Retter aller Menschen ist“ (ἠλπίκαμεν ἐπὶ θεῷ ζῶντι, ὅς ἐστιν σωτὴρ πάντων ἀνθρώπων). Die besprochenen Stellen zeigen, dass Paulus mit der Rede von dem θεὸς ζῶν eine ganz bestimmte Vorstellung verbindet: Es ist der an der Gemeinde gegenwärtig
215 Überhaupt sind die Verse Röm 14,7–9 vom Wortfeld ζάω beherrscht. 216 Wilckens, Röm II, 85.
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handelnde Gott, dem sie ihrerseits „dient“. Er hat die Gemeinde ins Leben gerufen und begleitet sie. Die Glaubenden sind aber auch in ihrer Hoffnung auf diesen Gott ausgerichtet. Sein Heilshandeln ist dabei durchgängig mit Jesus Christus verbunden sowie mit seiner lebendigen Gegenwart im Geist. Der Erste Timotheusbrief nimmt diesen paulinischen Gedanken auf. Selbst wenn Paulus im Ersten Thessalonicherbrief nur in 1,9 von dem θεὸς ζῶν redet, so ist die damit verbundene Vorstellung mit den konkreten Erfahrungen, die Paulus mit den Thessalonichern gemacht hat, verknüpft. Aufgrund des oben im Anschluss an Christiane Zimmermann angesprochenen Zusammenhangs der Vorstellung des „lebendigen“ mit dem „lebendig machenden“ Gott, ist es nicht haltbar, wenn Torsten Jantsch behauptet, die Gottesprädikation sei in 1Thess 1,9 nicht „vom Geschehen der Auferweckung Jesu her zu erklären“.217 Vielmehr zeigt sich an der Prädikation des „lebendigen Gottes“ der unlösliche Zusammenhang von Tradition und Interpretation bei Paulus. Als besonders instruktiv hat sich hierfür der Vergleich mit Jer 10,10–16 erwiesen: In 1Thess 1,9f wird eben nicht nur mit der Rede von dem „lebendigen Gott“, sondern auch mit dem Ausblick auf das kommende Zorngericht ein alttestamentlicher Gedanke aufgenommen: Paulus rezipiert nicht nur einen Teil dieser Vorstellung, sondern nimmt den gesamten Gedanken auf, dass sich Gott in seinem Gerichtshandeln in eschatologischer Perspektive universal als der „lebendige und wahre Gott“ erweist. Die Gemeinde erfährt diesen Gott aber bereits jetzt als den, der in ihnen den Glauben geweckt und ihr Leben durch die Auferweckung Jesu von den Toten neu ausgerichtet hat.
7.
Zum Begriff der „Bekehrung“
Es hat sich gezeigt, dass der motivgeschichtliche Zusammenhang bei Paulus keine Disjunktion zwischen Gott und Jesus Christus erlaubt. Eine solche lässt sich nur dann begründen, wenn einzelne Verse vom Kontext isoliert werden. Für die Berechtigung dafür fehlt aber eine schlüssige literarkritische Begründung. Weder für Paulus noch für die vor-paulinische Tradition lässt sich behaupten, dass von dem „lebendigen Gott“ isoliert vom Christusgeschehen gesprochen worden wäre. Ähnliches lässt sich nun auch im Blick auf den Wortlaut von 1Thess 1,9f beobachten. Hier ist noch einmal auf die von Gerhard Friedrich vertretene These einer älteren Tradition hinter den beiden Versen zurückzukommen. Friedrich hatte darauf hingewiesen, dass das in 1Thess 1,9 verwendete Verb ἐπιστρέφειν unpaulinischer Sprachgebrauch sei,218 da es in den Paulusbriefen außer hier nur noch an zwei Stel217 Jantsch, Gottesverständnis, 56. 218 Friedrich, Tauflied, 238. Friedrich erklärt, „daß Paulus nicht von Bekehrung spricht, sondern daß er theologisch gefülltere und klarere Ausdrücke gebraucht, die seiner Theologie mehr entsprechen.
Zum Begriff der „Bekehrung“
len, in 2Kor 3,16 und in Gal 4,9, vorkommt. Paul-Gerhard Klumbies hat indes darauf hingewiesen, dass sich 1Thess 1,9 sehr wohl von den beiden genannten Stellen her interpretieren lässt, so dass deutlich werde, dass die „Bekehrung“ eine inhaltliche Entfaltung erfahre.219 Das zeigt bereits die Formulierung in 1Thess 1,9b.10: (a) … πῶς ἐπεστρέψατε πρὸς τὸν θεὸν ἀπὸ τῶν εἰδώλων (b) δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ (c) καὶ ἀναμένειν τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐκ τῶν οὐρανῶν, (d) ὃν ἤγειρεν ἐκ [τῶν] νεκρῶν, (e) Ἰησοῦν τὸν ῥυόμενον ἡμᾶς ἐκ τῆς ὀργῆς τῆς ἐρχομένης. … wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Götzen zu dienen dem lebendigen und wahren Gott und seinen Sohn aus dem Himmel zu erwarten, den er von den Toten auferweckt hat, Jesus, der uns errettet vor dem kommenden Zorngericht. Auffällig ist, dass an dieser Stelle zuerst gesagt wird, wohin sich die Thessalonicher „bekehrt“ haben.220 Die Richtung ihrer „Bekehrung“ wird mit dem Wort ὁ θεός angegeben. Die Zuwendung zu Gott bringt dabei notwendig eine Abwendung von den εἴδωλα mit sich. Damit ist der bereits angesprochene exklusive Charakter dieses Gottesverhältnisses zum Ausdruck gebracht. In den Satzgliedern (b) und (d) wird der Vorgang des ἐπιστρέφειν nun entfaltet. Er besteht in zweierlei: dem Dienst an dem „lebendigen und wahren Gott“ sowie der Erwartung seines Sohnes aus dem Himmel. In der Septuaginta wird das Gottesverhältnis öfter mit dem Verb δουλεύειν zum Ausdruck gebracht221 und bringt die „totale […] Bindung an die Gottheit“222 zum Ausdruck. In unserem Zusammenhang lässt sich an Dan 6,21 θ’ erinnern, wo Daniel als δοῦλος τοῦ θεοῦ τοῦ ζῶντος angesprochen wird. Die Erzählung verdeutlicht, wie es durch das Glaubensbeispiel Daniels am Ende zur
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ἐπιστρέφειν gehört nicht seinem Vokabelschatz missionarischer Verkündigung an. Wenn er in 1. Thess. 1,9 das Verb gebraucht, wird man annehmen dürfen, daß es ihm aus einer anderen Quelle zugeflossen ist.“ Auch Malherbe, Thessalonians, 119 bemerkt, die Formulierung sei „not typical Pauline language“. Das Vorkommen des Terminus in der Apostelgeschichte (3,19; 9,35; 11,21; 15,19; 26,18.20) zeige, dass hier ein „technical term describing conversion“ vorliege. Das spricht freilich noch nicht dagegen, 1Thess 1,9 im Lichte der anderen bei Paulus greifbar werdenden Aussagen über „Bekehrung“ zu interpretieren. Klumbies, Gott, 139. Klumbies sieht darin einen entscheidenden Unterschied gegenüber Hebr 6,1; Apg 14,15–17 und 17,22–31. Das entspricht Apg 15,19; 26,20, in umgekehrter Reihenfolge aber mit ὁ θεός als Objekt Apg 26,18, vgl. 9,35; 11,21 (ἐπὶ τὸν κύριον), ohne Objekt hingegen in Apg 3,19. Vgl. Holtz, 1Thess, 58; Hoppe, 1Thess, 120. So etwa in 1Βασ 7,3f; 8,8 (von den „anderen Göttern“); 12,20.24; 2Chr 33,16; Ps 99,2 LXX; 101,23 LXX; Mal 3,14.18; Dan 4,34. Rengstorf, δοῦλος, 270.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Anerkennung des „lebendigen Gottes“ kommt (6,27 θ’, s. o.). Wie Daniel in seiner „heidnischen“ Umwelt durch seine umfassende Bindung an seinen Gott Zeugnis für diesen Gott gibt, so gilt dies für die Glaubenden in Thessaloniki und über die Stadt hinaus. Wie sich Daniels Bindung an seinen Gott im täglichen Gebet artikuliert, so artikuliert sich die Bindung der Glaubenden an ihren Gott in ihrer Erwartung des kommenden Christus, die sich in der Anrufung Jesu als κύριος äußert. Das in 1Thess 1,10 verwendete Verb ἀναμένειν ist Hapaxlegomenon im Neuen Testament und galt der älteren Auslegung deshalb als ein weiterer Hinweis auf ein vor-paulinische Tradition.223 Die Erwartung des kommenden Christus ist freilich zentrales Thema im Ersten Thessalonicherbrief, das mit 1,10 wohl ganz bewusst mit der Hinwendung zu dem „lebendigen und wahren Gott“ verbunden wird. Es klang bereits in 1,3 an, als von der „Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ die Rede war. Und es spielt dann noch einmal bei der Schilderung des „Tags des Herrn“ in 1Thess 5,1–11 eine Rolle. Hier ist dann auch noch einmal, wie in 1Thess 1,10 von der ὀργή – dem „Zorngericht“ – die Rede. In 1Thess 5,9f heißt es: oὐκ ἔθετο ἡμᾶς ὁ θεὸς εἰς ὀργὴν Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorngericht, ἀλλ’ εἰς περιποίησιν σωτηρίας sondern zur Erlangung des Heils διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ durch unseren Herrn Jesus Christus, τοῦ ἀποθανόντος ὑπὲρ ἡμῶν, der für uns gestorben ist, ἵνα εἴτε γρηγορῶμεν εἴτε καθεύδωμεν damit wir – ob wir wachen oder schlafen – ἅμα σὺν αὐτῷ ζήσωμεν zusammen mit ihm leben werden. Nach 1Thess 5,9 sind die Glaubenden grundsätzlich nicht zum Zorngericht bestimmt, sondern zur Erlangung der σωτηρία. Die Vorstellung eines Gerichts für die Glaubenden (vgl. 2Kor 5,10) wird im Ersten Thessalonicherbrief nicht entfaltet.224 Die Gerichtsmotivik wird hier dezidiert im Sinne der Abgrenzung der Glaubenden von den Nicht-Glaubenden verwendet. So hat auch die Vorstellung von Christus als Interzessor im Endgericht (vgl. Röm 8,34) in diesem Zusammenhang keinen Ort. Die Präposition ἐκ in 1Thess 1,10 ist deshalb im Sinne der Rettung vor dem eschatologischen Zorngericht zu verstehen. Der Bezug zu 1Thess 5,9f macht auch deutlich, dass die Aussage über die Auferweckung des Sohnes nicht gegen die Vorstellung eines Sterbens Jesu „für uns“ (V. 10) ausgespielt werden kann. Beide Aspekte sind für Paulus zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes wichtig.225 Die
223 Friedrich, Tauflied, 238, vgl. Jantsch, Gottesverständnis, 50 (s. o.). 224 In 1Thess 4,6 macht Paulus allerdings deutlich, dass Gott auch der Richter der Glaubenden ist, der ihr gelebtes Leben beurteilt. 225 So mit Recht Jantsch, Gottesverständnis, 51.
Zum Begriff der „Bekehrung“
Auferweckung Jesu von den Toten und die Errettung vor dem kommenden Zorngericht sind mit dem Sterben Jesu für die Glaubenden unlöslich verbunden. Dieser Zusammenhang wird schließlich auch in 1Thess 4,14 zur Sprache gebracht. Paulus muss nicht an jeder Stelle alle Aspekte nennen, die verschiedenen Äußerungen lassen aber das Konzept erkennen, das bereits im Ersten Thessalonicherbrief greifbar wird. Schließlich lässt sich noch auf das Verb ῥύομαι in 1Thess 1,10 hinweisen. Am auffälligsten ist hier die Nähe zu Röm 11,26, wo das Verb Jes 59,20 LXX entnommen ist.226 Auch am Ende des so bedeutsamen Israel-Abschnitts des Römerbriefs steht der Ausblick auf das rettende Handeln Gottes in Jesus Christus.227 Die in 1Thess 1,9b.10 genannten Elemente lassen sich also nicht voneinander isolieren.228 Sie beschreiben im Zusammenhang, was die Zuwendung zu dem „lebendigen und wahren Gott“ für Paulus bedeutet: Die exklusive Bindung an den Gott, der sich durch sein Handeln an und durch Christus für die Glaubenden selbst definiert hat. Von dieser Interpretation aus dem Kontext des Ersten Thessalonicherbriefs ist nun noch ein Blick auf jenen hellenistisch-jüdischen Text zu werfen, der am häufigsten zum Vergleich mit der in 1Thess 1,9 angesprochenen „Bekehrung“ der Thessalonicher herangezogen wird.229 Er stammt aus dem Roman Joseph und Aseneth, der etwa zeitgleich zum Ersten Thessalonicherbrief, nämlich in das erste Jahrhundert nach Christus, möglicherweise aber auch erst etwas später zu datieren sein dürfte.230 Auch hier ist die Situation des Glaubens in einem „heidnischen“ Kontext gegeben, denn die Erzählung knüpft an die kurze Bemerkung aus der Josephsnovelle an, wonach Joseph eine ägyptische Frau mit Namen ָאְס ַנתhatte (Gen 41,45).231 Schon in JosAs 8,5232 ist von dem Gott Josephs als dem „lebendigen Gott“ (ὁ θεὸς ὁ ζῶν) die Rede, der den „toten und stummen Götterbildern“ (εἴδωλα νεκρά καὶ κωφά), die Aseneth verehrt, gegenübergestellt wird.233 Er ist nach JosAs 8,10 der
226 Vgl. Jantsch, ebd.; Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 253. 227 Dass in Röm 11,26 Jesus Christus gemeint ist, belegt nicht zuletzt 1Thess 1,10, erschließt sich aber auch aus dem Zusammenhang der Aussage (s. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit). 228 So mit Recht Reinmuth, 1Thess, 121. 229 Holtz, 1Thess, 57f; Jantsch, Gottesverständnis, 58f; Klumbies, Gott, 71–74.143f; Malherbe, Thessalonians, 119; Zimmermann, Namen, 391f. 230 Zur Datierung s. Burchard, JSHRZ II/4, 614; Siegert, Einleitung, 287 hält diese Datierung für zu früh und votiert für das zweite Jahrhundert. Zur Gattungsbeschreibung als „Roman“ s. Burchard, aaO., 591. Nach Siegert, aaO., 281 trifft die Beschreibung nur auf JosAs 1–21 zu, zudem bevorzugt er die Bezeichnung „Liebesnovelle“. 231 „Der fromme, keusche Joseph und eine ägyptische Götzenpriestertochter? Die jüdische Auslegung der Stelle hat sich das immer wieder gefragt, seit wir sie verfolgen können. Antworten hat sie öfter nicht nur gegeben, sondern erzählt. Eine davon, neben anderem, berichtet der kleine Roman, der heute ,Joseph und Aseneth‘ (JosAs) heißt.“ Burchard, aaO., 579, vgl. Siegert, Einleitung, 281f. 232 Griechischer Text und Zählung nach Burchard, Text. 233 Vgl. Klumbies, Gott, 71f.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
Gott, „der alles lebendig gemacht hat und der rief von der Finsternis ins Licht“ (ὁ ζωοποιήσας τὰ πάντα καὶ καλέσας ἀπὸ τοῦ σκότους εἰς τὸ φῶς).234 In JosAs 11 wird schließlich die Bekehrung Aseneths erzählt. JosAs 11,10: ἀκήκοα πολλῶν λεγόντων ὅτι Ich habe viele sagen hören: ὁ θεὸς τῶν Ἑβραίων Der Gott der Hebräer ist θεὸς ἀληθινός ἐστι καὶ θεὸς ζῶν ein wahrer Gott und ein lebendiger Gott καὶ θεὸς ἐλεήμων καὶ οἰκτίρμων und ein erbarmender und geduldiger Gott καὶ μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ und langmütig und vielerbarmend und ἐπιεικὴς καὶ μὴ λογιζόμενος ἁμαρτίαν gütig, der nicht zurechnet die Sünde eines ἀνθρώπου ταπεινοῦ niedrigen Menschen und nicht verfolgt καὶ μὴ ἐλέγχων ἀνομίας Ungesetzlichkeit eines betrübten Menἀνθρώπου τεθλιμμένου schen zur Zeit seiner Bedrängnis. ἐν καιρῷ θλίψεως αὐτοῦ.
Auch an dieser Stelle ist es nicht primär der Verweis auf die creatio prima durch Gott, sondern sein barmherziges Handeln an den Menschen, das Aseneth zur Anerkennung des „wahren und lebendigen Gottes“ führt. Es sind konkret die Erfahrungen, die Menschen mit diesem Gott gemacht haben und von denen Aseneth gehört hat, die sie schließlich dazu führen, zu sagen: JosAs 11,11: ὅθεν τολμήσω κἀγὼ Deshalb will auch ich es wagen καὶ ἐπιστρέψω πρὸς αὐτόν und mich hinwenden zu ihm καὶ καταφεύξομαι ἐπ’ αὐτόν und Zuflucht suchen bei ihm καὶ ἐξομολογήσομαι αὐτῷ τὰς ἁμαρτίας μου und ihm meine Sünden bekennen καὶ ἐκχέω τὴν δέησίν μου ἐνώπιον αὐτοῦ. und meine Bitte vor ihm ausschütten. Bereits Traugott Holtz bemerkt völlig zu Recht zu dieser Stelle: „Es ist nicht eine monotheistische Predigt, die die Bekehrung bewirkt, sondern das gehörte und erfahrene Zeugnis von der Macht und Hilfe dieses Gottes. Die Hinwendung zu ihm schließt wie selbstverständlich die Trennung von den anderen Göttern ein.“235 So wird Aseneth „zum Prototyp des Proselyten“.236 Es ist das Zeugnis davon, wie dieser Gott von Menschen erfahren worden ist, der ihn als den „wahren und lebendigen Gott“ auch für Aseneth einsichtig macht. Und auch ihre Zuwendung zu diesem Gott geschieht ganz konkret dadurch, dass sie mit ihm redet, ihre Sünden bekennt 234 Zu diesem Text s. auch die Ausführungen in Kapitel 6 dieser Arbeit (im Zusammenhang mit der Auslegung von 2Kor 4,6). 235 Holtz, 1Thess, 58. 236 Ebd.
Zum Begriff der „Bekehrung“
und zu ihm betet. Aseneth tritt in eine Beziehung zu diesem Gott ein, die jede andere Beziehung zu vermeintlichen Göttern obsolet macht. Diese Passage ist in der Tat sehr nah an dem, was Paulus in 1Thess 1,1–10 schildert. Für Paulus aber wird der „lebendige und wahre Gott“ in seinem Handeln in Jesus Christus konkret, durch das er die Existenz der Glaubenden bleibend bestimmt sieht. So lässt sich wiederum beides feststellen: Kontinuität und Diskontinuität in der vorausgesetzten Gottesvorstellung. Gemeinsam ist beiden Passagen, dass von Gott konkret erzählt wird und es dadurch zum Glauben kommt. Was genau aber inhaltlich von diesem Gott erzählt wird, darin unterscheiden sich die Texte voneinander. Dass es Paulus bei der Rede von der „Bekehrung“ der Glaubenden in Thessaloniki gerade auf den positiven Inhalt ihrer Zuwendung zu Gott ankommt, lässt sich auch von den beiden anderen Stellen her, an denen er das Verb ἐπιστρέφειν verwendet, plausibel machen. 2Kor 3,16 steht im Kontext der Ausführungen von 2Kor 3,4–18. Einer jüdischen Auslegungstradition folgend, die das Motiv der „Decke“ auf dem Angesicht des Mose mit dem „Glanz“ begründet, der von der Gottesbegegnung auf dem Angesicht des Mose liegt,237 interpretiert Paulus die Erzählung Ex 34,29–35 in dem Sinne, dass Mose die „Decke“ auf sein Angesicht gelegt habe, damit die Israeliten das Vergehen der δόξα nicht sehen können. So liegt nach Paulus „bis zum heutigen Tag dieselbe Decke auf der Verlesung der alten Verfügung“, die nur in Christus abgetan werden kann (2Kor 3,14). Paulus nimmt schließlich das Motiv aus Ex 34,34 auf, wo davon erzählt wird, dass Mose die Decke von seinem Angesicht abnahm, wenn er zu Gott hineinging:238 Ex 34,34 2Kor 3,16 ἡνίκα δ᾽ ἂν εἰσεπορεύετο Μωυσῆς
ἡνίκα δὲ ἐὰν ἐπιστρέψῃ
ἔναντι κυρίου λαλεῖν αὐτῷ,
πρὸς κύριον,
περιῃρεῖτο τὸ κάλυμμα
περιαιρεῖται τὸ κάλυμμα
ἕως τοῦ ἐκπορεύεσθαι
Gegenüber Ex 34,34 ist die Aussage entscheidend verändert: Der κύριος ist für Paulus Jesus Christus,239 von dem er in 2Kor 3,14 ja gesagt hatte, dass in ihm „die Decke abgetan wird“. Und das „Hineingehen“ zu Gott geschieht durch die Zuwendung zum κύριος, wodurch – wie nun im Passiv formuliert wird – „die Decke abgetan wird“. Das aber bedeutet: Das ἐπιστρέφειν zum κύριος, durch das es zur Begegnung mit dem heiligen Gott kommt, geschieht in der Zuwendung zu Jesus Christus, die durch Gott gewirkt wird. Gotteserkenntnis und Christuserkenntnis sind hier ein- und dasselbe. In diesem Zusammenhang ruft Paulus – in 2Kor 3,17 – 237 S. dazu Hofius, Gesetz und Evangelium, 92–95. 238 Vgl. Hofius, aaO., 119; Wolff, 2Kor, 74. Zur näheren Auslegung von 2Kor 3,4–18 verweise ich auf das Kapitel 6 dieser Arbeit. 239 So auch Hofius, ebd.; Wolff, 2Kor, 75.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
auch das Motiv des πνεῦμα auf. Die Zuwendung zum κύριος geschieht konkret in der Öffnung für den Geist. Es ist jener „Geist des lebendigen Gottes“, von dem in 2Kor 3,3 die Rede war (s. o.).240 Der „lebendige Gott“ wirkt demnach durch seinen Geist die Zuwendung zum κύριος Jesus Christus und eröffnet auf diese Weise die Gemeinschaft mit sich selbst. In 2Kor 3 sind demnach die Motive des „lebendigen Gottes“, des Geistes und der Ausrichtung auf Jesus Christus genauso miteinander verbunden, wie dies in 1Thess 1,1–10 der Fall ist: Es ist der Geist, der durch das Evangelium an den Glaubenden gewirkt hat (1,5, vgl. 2,13), der ihre Existenz in Gott begründet und auf den kommenden Christus ausgerichtet hat (1,1.3.9f). Der Kontext der Heidenbekehrung, der für 1Thess 1,9 durch die Nennung der εἴδωλα deutlich wird, verbindet die Stelle mit dem zweiten Beleg, der für ἐπιστρέφειν bei Paulus angeführt werden kann, mit Gal 4,9. Dort spricht Paulus nun allerdings negativ von der erneuten Zuwendung zu den „Elementen“ (στοιχεῖα): νῦν δὲ γνόντες θεόν, Jetzt aber, da ihr Gott kennt, μᾶλλον δὲ γνωσθέντες ὑπὸ θεοῦ, mehr noch aber erkannt seid durch Gott, πῶς ἐπιστρέφετε πάλιν wie wendet ihr euch wieder ἐπὶ τὰ ἀσθενῆ καὶ πτωχὰ στοιχεῖα zu den schwachen und ärmlichen Elementen, οἷς πάλιν ἄνωθεν δουλεύειν θέλετε; denen ihr aufs Neue dienen wollt? Gemeint sind jene „Elemente der Welt“ (στοιχεῖα τοῦ κόσμου), von denen Paulus in Gal 4,3 gesagt hat, dass „wir“, bevor wir zum Glauben gekommen waren (vgl. Gal 3,23) unter sie „versklavt“ (δεδουλωμένοι) gewesen sind. Das „Dienstverhältnis“, das nach 1Thess 1,9 zu dem „lebendigen und wahren Gott“ besteht, bestand damals zu den στοιχεῖα. Sich ihnen „zuzuwenden“ bedeutet: in ein solches „Dienstverhältnis“ eintreten. Die Lösung aus diesem Dienstverhältnis und damit das Eintreten in die Gottesgemeinschaft geschah nach Gal 4,4–6 durch die Sendung des Sohnes Gottes „unter das Gesetz“ und durch die Sendung des Geistes Gottes „in unsere Herzen“. Auch an dieser Stelle ist deutlich, dass ἐπιστρέφειν durch einen bestimmten Inhalt qualifiziert ist und das Eingehen einer Beziehung meint, die die gesamte Existenz betrifft. In eben diesem Sinne redet auch 1Thess 1,9f von der Stiftung einer Beziehung, die inhaltlich qualifiziert ist: Durch die Bindung an Christus und durch das Wirken des Geistes an den Glaubenden. Klumbies ist deshalb im Recht, wenn er erklärt, dass „an beiden Stellen … die spezifisch christliche Sicht den Rahmen“ für das Verständnis des Verbs ἐπιστρέφειν abgebe.241 Und Holtz und Klumbies betonen ebenfalls völlig zu Recht, dass in 1Thess 1,9 „[v]on Anfang an
240 2Kor 3,17 ist als eine „erklärende Anmerkung“ zu V. 16 zu verstehen, mit der Paulus erläutert, „daß die Hinwendung zu Christus die Hinwendung zu dem ,Geist des lebendigen Gottes‘ ist“. Hofius, ebd. 241 Klumbies, Gott, 142.
Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief
… an die Bekehrung zu dem in Christus offenbaren Gott gedacht“ sei.242 So ist die in 1Thess 1,8 beschriebene πίστις ἡ πρὸς τὸν θεόν – wie Holtz formuliert – „der durch das Evangelium gegründete Heilsglaube“.243 Es geht Paulus an dieser Stelle offensichtlich nicht darum, den Glauben an Gott und an Jesus Christus gegeneinander auszuspielen. Die Pointe besteht vielmehr darin, zu verdeutlichen, dass die Existenz der Glaubenden in Gottes Gegenwart, die durch die hoffende Ausrichtung auf Jesus Christus inhaltlich gefüllt ist, ihre spezifische Art des Gottesglaubens ist, durch den sie an ihrem Ort und darüber hinaus als christliche Gemeinde erkennbar werden.
8.
Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief
Die Überlegungen zum Motiv des „lebendigen Gottes“ im Ersten Thessalonicherbrief haben ein Konzept der paulinischen Rede von Gott erkennbar werden lassen, das gleichsam als Gerüst der Vorstellungen betrachtet werden kann, die in den folgenden Kapiteln besprochen werden sollen. Der Erste Thessalonicherbrief gibt einen Einblick in die konkreten Kontexte, in denen die paulinische Rede von Gott Gestalt gewinnt. Dabei lassen sich einige Aspekte benennen, die hier abschließend zusammengefasst werden sollen. 8.1
Die Bestimmtheit der paulinischen Rede von Gott
Die paulinische Rede von Gott ist von Anfang an eine bestimmte Rede. Die Prädikation Gottes als πατήρ in 1Thess 1,1 stellt den Ausgangspunkt dar. Sie rahmt den ersten Hauptteil des Ersten Thessalonicherbriefes (1Thess 1,1–3,13; 1,1.3; 3,11.13). Charakteristisch ist die Verbindung mit der Prädikation Jesu als κύριος.244 Bereits dieser Zusammenhang zeigt, dass die Rede von Gott und von Jesus Christus sich gegenseitig erschließen. So bestimmend diese Prädikationen auch sind, so redet Paulus doch am häufigsten schlicht von ὁ θεός, wenn er von Gott redet,245 und auch die Prädikation πατήρ wird stets im Zusammenhang mit θεός gebraucht. So
242 Klumbies, ebd., vgl. Holtz, 1Thess, 62: „Nicht eine vorlaufende monotheistische Predigt, sondern das mit einem ganz bestimmten Inhalt, nämlich der Christusgeschichte, gefüllte Gotteszeugnis erweckt den Glauben.“ 243 Holtz, ebd. 244 Neben den genannten Stellen wird Jesus im Ersten Thessalonicherbrief als κύριος bezeichnet in 1,6.8; 2,15.19; 3,8.12; 4,1.2.6.15.16.17; 5,2.9.23.28. In 5,2 ist m. E. Jesus Christus gemeint, auch wenn das „Tag des Herrn“-Motiv traditionsgeschichtlich im Hintergrund steht (so etwa auch Schreiber, 1Thess, 270f). 245 1Thess 1,2.4.8.9; 2,2.4.5.8.9.10.12.13.14; 3,2.9; 4,1.3.5.7.8.14.16; 5,9.18.23.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
bleibt die Rede von Gott und von Jesus Christus freilich auch klar voneinander unterscheidbar. Insbesondere im zweiten Hauptteil des Briefes (4,1–5,28) redet Paulus nicht mehr von Gott als „Vater“. Eine weitere Verklammerung des gesamten Schreibens lässt sich mit dem Stichwort εἰρήνη verbinden, wenn in der Segensformel der Frieden von Gott und von Jesus Christus her zugesprochen wird (1,1). Dem entspricht es, dass Gott am Ende des Schreibens als ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης prädiziert wird (5,23) und der Gemeinde erneut ein Segenswunsch zugesprochen wird. An dieser Stelle lässt sich die Verknüpfung der Rede von Gott mit dem Christusgeschehen ganz analog dazu beobachten, was im Blick auf 1Thess 1,1–10 festzustellen war. Der „Gott des Friedens“ wirkt die „Heiligung“246 der Glaubenden. Das Nomen ἁγιασμός begegnet sonst nur noch in 1Thess 4 (V. 3; 4; 7). Hier wird deutlich, dass das konkrete Verhalten der Glaubenden in ihrer Umwelt vom Bewusstsein der Zugehörigkeit zu dem heiligen Gott bestimmt sein soll. Er hat sie ἐν ἁγιασμῷ berufen (4,7). Gott hat demnach eine Gemeinschaft mit den Glaubenden hergestellt, die sie nun bestimmt und an die sie sich erinnern sollen. So richtet Gott auch über die Glaubenden (4,6).247 Gleichzeitig stehen sie ἐν κυρίῳ (3,8), d. h. sie sind durch ihre Verbindung zu dem κύριος Jesus bestimmt. Die „Heiligung“ der Glaubenden bedeutet die Bewahrung in dieser Gemeinschaft. Sie geschieht nach 1Thess 5,24 genau wie nach 1Thess 1,10; 5,9 im Kontext von 5,1–11 mit dem Ausblick auf die Parusie Christi: 1Thess 1,9b.10 1Thess 5,23 … δουλεύειν θεῷ ζῶντι καὶ ἀληθινῷ Αὐτὸς δὲ ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης ἁγιάσαι ὑμᾶς ὁλοτελεῖς, καὶ ὁλόκληρον ὑμῶν τὸ πνεῦμα καὶ ἡ ψυχὴ καὶ τὸ σῶμα ἀμέμπτως καὶ ἀναμένειν τὸν υἱὸν αὐτοῦ
ἐν τῇ παρουσίᾳ
ἐκ τῶν οὐρανῶν,
τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ τηρηθείη.
ὃν ἤγειρεν ἐκ [τῶν] νεκρῶν, Ἰησοῦν τὸν ῥυόμενον ἡμᾶς ἐκ τῆς ὀργῆς τῆς ἐρχομένης.
Das Gottesverhältnis der Glaubenden ist an die Jesus-Christus-Geschichte geknüpft. Der „wahre und lebendige Gott“ wird seine Wirklichkeit in der Parusie Jesu durchsetzen. So ist das Gottesverhältnis der Glaubenden bereits jetzt durch ihre Bindung 246 Αὐτὸς δὲ ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης ἁγιάσαι ὑμᾶς ὁλοτελεῖς, καὶ ὁλόκληρον ὑμῶν τὸ πνεῦμα καὶ ἡ ψυχὴ καὶ τὸ σῶμα ἀμέμπτως … Das Verb ἁγιάζειν verwendet Paulus im Ersten Thessalonicherbrief nur an dieser Stelle (vgl. Röm 15,16; 1Kor 1,2; 6,11; 7,14). 247 4,6 ist m. E. die einzige Stelle im 1Thess, an der mit κύριος Gott gemeint ist.
Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief
an Jesus Christus bestimmt. Der Sinn der Rede von der „Gottheit“ Jesu Christi besteht darin, dass Jesus Christus die Gegenwart Gottes für die Glaubenden inhaltlich qualifiziert. Auch die bleibende Gemeinschaft mit Christus, auf die in 1Thess 4,17 vorausgeblickt wird, bedeutet nichts Anderes, als dass sich der „lebendige Gott“ als die letztgültige Wirklichkeit der Glaubenden erweist. In diesem Sinne ist auch die zweite Prädikation Gottes in 1Thess 1,9 zu verstehen: die Bezeichnung Gottes als ἀληθινός. Auch diese Prädikation lässt sich zunächst als eine „alttestamentlichjüdische Redeweise“ beschreiben.248 Sie ist uns in Jer 10,10 ( )ֱאֹלִהים ֱאֶמתund in JosAs 11,10 bereits begegnet. Gemeint ist damit, dass sich Gott als „wahr“ im Sinne von „beständig“ erweist.249 Dieser Erweis ist für Paulus wie gesehen mit der Parusie Christi verbunden. Sowohl die „Lebendigkeit“ als auch die „Wahrheit“ Gottes sind so unlöslich mit dem Christusgeschehen verbunden. Wie in den alttestamentlichen Texten, die wir angeschaut haben, ist der „lebendige Gott“ als der rettende Gott verstanden. Die Erfahrung der Rettung steht für die Glaubenden zwar in eschatologischer Perspektive noch aus, insofern sie aber jetzt schon um ihre Bestimmung wissen (1Thess 5,9), werden sie in ihrer Existenz bereits jetzt von der Perspektive der Rettung bestimmt. War in den alttestamentlichen und frühjüdischen Texten von konkreten Rettungserfahrungen in der Geschichte Israels oder auch im Leben einzelner biblischer Persönlichkeiten wie David oder Daniel die Rede, so ist die Rettungserfahrung bei Paulus mit dem Christusgeschehen verbunden. So nimmt er die Vorstellung des „lebendigen Gottes“ auch über 1Thess 1,9 hinaus auf, konkretisiert es aber vom Christusgeschehen her. Ein weiterer Aspekt, der traditionsgeschichtlich mit der Rede von dem „lebendigen Gott“ verbunden ist, lässt sich in 1Thess 2,5.10 beobachten. So ruft Paulus Gott zu seinem „Zeugen“ auf und macht damit deutlich, dass er beständig mit der Gegenwart Gottes rechnet. Er bestimmt die Existenz der Glaubenden als ein Leben ἔμπροσθεν τοῦ θεοῦ (1,3) und gleichzeitig ἔμπροσθεν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, wobei Paulus hier (in 2,19) wiederum auf die Parusie vorausblickt: Dann wird sich auch diese Gemeinschaft, die im Glauben bereits jetzt besteht (3,8) in einem endgültigen und unverlierbaren Sinn realisieren. Wir haben gesehen, dass die alttestamentlichen Texte in einer ganz ähnlichen Weise von dem „lebendigen Gott“ reden: Er handelt jetzt schon an seinem Volk, aber seine endgültige Offenbarung steht noch aus, in der Gegenwart ist die Gewissheit der Gegenwart Gottes immer auch von Differenzerfahrungen bestimmt. Der Ausblick auf die παρουσία ist der Ausblick auf Gottes unverlierbare „Gegenwart“ (so die Grundbedeutung von παρουσία), die sich in der Gemeinschaft mit Christus realisiert (1Thess 4,17b).
248 Hoppe, 1Thess, 121. Hoppe nennt 1Esr 8,86; Jes 65,16; 3Makk 6,18; 2Chr 15,3; VitProph 21,6; Sib fr I,20; fr III,46; Philo spec. 1,332. 249 S. dazu Wildberger, אמן, 201–204.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
8.2
Die Erfahrungsbezogenheit der paulinischen Rede von Gott
Die paulinische Rede von Gott ist eine erfahrungsbezogene Rede. Auffällig ist, dass der gesamte erste Hauptteil des Ersten Thessalonicherbriefes als ein „Rückblick auf den Anfang“250 beschrieben werden kann. Paulus nimmt das Stichwort εἴσοδος aus 1Thess 1,9a in 2,1 auf und erinnert damit an das in 1,4–7 bereits geschilderte Geschehen beim Missionsaufenthalt in Thessaloniki, das über die Gemeinde hinaus bekannt geworden ist. Paulus rekurriert auf gemeinsam gemachte Erfahrungen mit der Wirklichkeit des „lebendigen Gottes“. Diese Erfahrungen aber sind für ihn unmittelbar mit dem Evangelium verbunden. In 1Thess 1,5 und 2,13 spricht er direkt davon: Das Evangelium wirkt sich als Wort Gottes an den Glaubenden aus, indem es sie als Glaubende schafft. Das Evangelium ist das εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ (2,8.9), zugleich das εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ (3,2). Es ist Gottes eigenes Wort. Dass es aber als Gottes Wort gehört wird, das verdankt sich dem Wirken des Geistes (1,5), mit dem die Selbstwirksamkeit des Wortes, die in 2,13b beschrieben wird, zur Sprache gebracht wird. Die Erfahrung, von der Paulus spricht, ist eine Erfahrung mit dem Wort. Von einer „Mystik“ bei Paulus lässt sich m. E. nur dann sprechen, wenn eine solche nicht gegen das Wort ausgespielt wird. Gerd Theißen spricht in diesem Sinn von einer „Begegnungsmystik“ bei Paulus.251 Richtig daran scheint mir, dass Paulus von konkreten Begegnungen und Erfahrungen aus redet, die durch das Evangelium gleichsam in einen theologischen Deutungsrahmen gestellt werden. Die Erfahrungsbezogenheit und die inhaltliche Bestimmtheit der paulinischen Rede von Gott werden mit den Größen „Geist“ und „Jesus Christus“ zum Ausdruck gebracht. In diesem Sinne lässt sich von einer trinitarischen Struktur der Rede von Gott bereits im Ersten Thessalonicherbrief sprechen.252 Sie ist nicht im Sinne einer ausformu-
250 Friedrich, 1Thess, 211. Portenhauser, Identität, 265 bemerkt, dass die „in den Paulusbriefen üblicherweise auf das Präskript folgende Danksagung im Proömium“ im Ersten Thessalonicherbrief – anders als in den späteren Paulusbriefen – „auf den ganzen 1. Hauptteil des Ersten Thessalonicherbriefes (1,2–3,13) ausgedehnt“ ist. Dass der „Rückblick“ in Form einer Danksagung erfolgt, unterstreicht die Relation, in der von der Erfahrung der Glaubenden gesprochen wird, nämlich vor Gott bzw. in Gottes Gegenwart (s. o.). 251 Theissen, Mystik, 286. Theissen betont dabei gerade, dass Mystik und Wort nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen. 252 Portenhauser, Identität, 253f macht auf diesen Zusammenhang aufmerksam, möchte aber nicht von „trinitarischen“, sondern nur von „binitarischen“ Aussagen sprechen, da nur das Verhältnis des Vaters zum Sohn ausführlich bestimmt würden (aaO., 254 mit Anm. 38). Insofern aber alle drei Größen genannt werden und für die paulinische Rede von Gott konstitutiv sind, lässt sich m. E. zumindest von einer „trinitarischen Struktur“ der Rede von Gott sprechen, an die die später ausformulierte Trinitätslehre anknüpft. Die Pneumatologie wird in den auf den Ersten Thessalonicherbrief folgenden Briefen des Paulus ja bereits weiter ausgeführt, wie in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit noch besprochen werden wird.
Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief
lierten Trinitätslehre (miss-) zu verstehen, sondern als Ausdruck der Rede von dem bestimmten und gegenwärtigen Gott: Er wird im Christusgeschehen konkret, und er erweist seine Gegenwart im Geist,253 indem er Menschen zu Glaubenden macht, die sich an ihn binden. Wie im Alten Testament die gegenwärtigen Gotteserfahrungen durch den Bezug auf die erzählte Geschichte Israels einen theologischen Deutungsrahmen erhält, so erhalten die Gotteserfahrungen der Glaubenden im Ersten Thessalonicherbrief einen solchen theologischen Deutungsrahmen durch das Christusgeschehen. Individuelle Erfahrungen werden dadurch zu kollektiven Erfahrungen gemacht, die deshalb gemeindegründend wirken. 8.3
Die Exklusivität der paulinischen Rede von Gott
Die paulinische Rede von Gott hat einen exklusiven Charakter. Im Blick auf die „heidnische“ Religiosität in Thessaloniki ist das bereits deutlich geworden. Strittig ist, wie sich der exklusive Charakter dieser Rede von Gott im Rahmen des Judentums auswirkt. Paulus selbst ist offensichtlich davon überzeugt, dass er von dem Gott Israels redet. Er ist zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefes mit seiner Evangeliumsverkündigung aber bereits auf Konflikte mit jüdischen Gemeinden gestoßen. Die Apostelgeschichte bewahrt mit ihrer Erzählung davon, dass Paulus in Thessaloniki seine Missionstätigkeit beginnt, die historische Erinnerung, dass die frühchristliche Mission vor allem im Umfeld der sogenannten „Gottesfürchtigen“ und der „heidnischen“ Sympathisanten des Judentums Anknüpfungspunkte fand.254 Wenn auch die Existenz einer jüdischen Synagoge in Thessaloniki im ersten Jahrhundert fraglich ist, so wird es dort zumindest eine jüdische Gemeinde gegeben haben.255 Der Konflikt wird in dem viel diskutierten Abschnitt 1Thess 2,14–16 deutlich. Hier ist nicht nur auf die pauschale Polemik des Paulus gegen „die Juden“ zu achten, sondern auch auf die Begründung, die Paulus für diese Polemik gibt. Sie besteht nach V. 16 darin, dass sie die christlichen Missionare in Judäa daran „hindern, zu den Heiden zu reden, damit sie gerettet werden“ (κωλυόντων ἡμᾶς τοῖς ἔθνεσιν λαλῆσαι ἵνα σωθῶσιν). Diese Bemerkung legt nahe, dass es bereits zur Zeit der Abfassung des Ersten Thessalonicherbriefs Konflikte um die beschneidungsfreie Heidenmission gibt. Dem entspricht die in 1,4 greifbar werdende Überzeugung, dass die „Berufung“ der Mitglieder der Heilsgemeinschaft allein in der Wirksamkeit des Evangeliums und nicht in der leiblichen Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel begründet ist. Die Kontinuität zwischen dem Handeln des Gottes Israels und dem Handeln Gottes in Christus ist zwar für Paulus einsehbar, offensichtlich aber für
253 1Thess 1,5.6; 4,8; 5,19. 254 Schreiber, 1Thess, 32, vgl. Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 46. 255 Reinmuth, 1Thess, 106.109; Schreiber, 1Thess, 31–33.
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Der lebendige Gott (1Thess 1,9)
einen beträchtlichen Teil der jüdischen Gemeinden nicht. Wenn Gott aber konsequent von seinem Handeln her bestimmt wird, dann ergibt sich an diesem Punkt auch im Blick auf einen Großteil des Judentums eine Differenz. So steht Paulus in seiner Rede von Gott sehr wohl in der jüdischen Tradition. Er interpretiert diese Tradition aber vom Christusgeschehen aus neu. Rudolf Hoppe erklärt deshalb mit Recht: „Zwar bleibt für Paulus der wahre und lebendige Gott der JHWH-Gott der alttestamentlich-jüdischen Tradition, aber es ist der eine Gott, der sich den Thessalonikern im Kommen seines Sohnes zu erfahren gibt.“256 Weder bringt Paulus die Rede von dem „lebendigen Gott“ gegen das Judentum zum Einsatz (Klumbies), noch bleibt er einfach im Rahmen der jüdischen Tradition (so Jantsch, Flebbe). Im Prozess von Tradition und Interpretation kann Paulus aber an die Interpretationsoffenheit der alttestamentlich-jüdischen Tradition anknüpfen, weil diese Tradition Gott eben von der Begegnung her bestimmt. 8.4
Der eschatologische Charakter des Schöpfungsglaubens
Die paulinische Rede von Gott ist auch die Rede von Gott als dem Schöpfer der Menschen. Wir haben gesehen, dass für die Rede von Gott als Schöpfer die Erfahrung des gegenwärtigen Handelns Gottes der Ausgangspunkt ist. Gott als Schöpfer wird konkret erfahrbar. Universal wird er sich erst in der Zukunft als der Schöpfer erweisen, wenn er sich nämlich nicht nur als die grundlegende, sondern auch als die endgültige Wirklichkeit aller Menschen offenbart.257 Die Rede von dem „lebendigen Gott“ zielt, wie insbesondere im Vergleich mit Jer 10,10–16 deutlich wurde, auf die eschatologische Realisierung der Gegenwart Gottes bei den Menschen. Insofern diese mit der Parusie Christi realisiert wird, erweist sich Gott dann als der „lebendige und wahre Gott“, dem die Glaubenden in Thessaloniki jetzt bereits „dienen“ (1,9). Dieser Glaube drückt sich in der Erwartung des kommenden Jesus aus, die durch die Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott grundgelegt ist. Insofern lässt sich mit Christiane Zimmermann der „lebendige Gott“ auch als der „lebendig machende Gott“ bestimmen (vgl. Röm 4,17). Diese, von Erwartung und von Hoffnung geprägte Lebenshaltung ist der „Glaube an Gott“ (1Thess 1,8), von dem Paulus im Ersten Thessalonicherbrief spricht. Paulus spricht konkret von diesem Glauben als eine Erfahrung innerhalb der Gemeinde (1Thess 1,4–7), die auch von außen (1Thess 1,8–10) – freilich zunächst von anderen Glaubenden – wahrgenommen wird. In diesem Zusammenspiel von Selbstwahrnehmung und
256 Hoppe, 1Thess, 121. 257 Auf die Bedeutung der Eschatologie für die Rede von Gott hat insbesondere Wolfgang Schrage aufmerksam gemacht (s. dazu oben in Kapitel 1).
Die Gegenwart des lebendigen Gottes im Ersten Thessalonicherbrief
Außenwahrnehmung bildet sich eine kollektive Identität heraus, für die die Gottesbeziehung grundlegend ist.
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Drittes Kapitel: Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
1.
Das Profil der Rede von Gott im Ersten Korintherbrief
Wir haben bis hierher gesehen, wie Paulus von Gott im Horizont der Tradition redet. Dabei ist zugleich deutlich geworden, dass er ganz von der Erfahrung seiner Gegenwart her redet und denkt. Die Vorstellung vom θεὸς ζῶν ist für ihn nicht nur eine „traditionelle“ Gottesprädikation, sie bietet ihm vielmehr den Rahmen, sein Gottesverständnis, das durch die hoffende Ausrichtung auf das Christusgeschehen her (neu) bestimmt ist, zu formulieren. Deutlich geworden ist bisher auch, dass Paulus im Ersten Thessalonicherbrief auch die Situation der Gemeinde in Korinth, von wo aus er schreibt, im Blick hat. Die Erfahrungen, die er dort macht, verbindet er mit denjenigen, die er in Thessaloniki gemacht hat. In beiden Städten ist es zur Gründung einer christlichen Gemeinde gekommen, die sich durch ihr spezifisches Gottesverständnis als eigene Gruppe innerhalb der Gesellschaft herauskristallisiert.1 Der Erste Korintherbrief lässt nun aber noch einmal ein eigenes Profil erkennen, in dessen Zusammenhang die Rede von Gott untersucht werden kann. Im Ersten Korintherbrief konturiert Paulus seine Rede von Gott im Kontext der Rede von der Weisheit (ἡ σοφία). Dies ist vor allem in den ersten drei Kapiteln des Schreibens der Fall.2 Bemerkenswert ist, dass Paulus gerade in den ersten beiden Kapiteln des Ersten Korintherbriefes, also dort, wo er sich mit dem Thema der Weisheit auseinandersetzt, seine Rede von Gott als Kreuzestheologie profiliert.3 Mit den Stichworten „Kreuz und Weisheit“4 ist demnach ein entschei-
1 Zur Situation der Gemeinde in Korinth s. Schnelle, Paulus, 201–203; Wolff, 1Kor, 1–5. 2 Von den 19 Belegen für das Nomen σοφία bei Paulus begegnen allein 16 in 1Kor 1–3 (vgl. Hegermann, σοφία, 617): 1Kor 1,17.19.20.21 (zwei Mal); 1,22.24.30; 2,1.4.5.6 (zwei Mal) 7.13; 3,19, vgl. 12,8. Zehn der 20 Belege für das Adjektiv σοφός stehen ebenfalls in diesem Zusammenhang (ders., σοφός, 624): 1Kor 1,19.20.25.26.27; 3,10.18 (zwei Mal).19.20, vgl. 6,5. Nicht zuletzt aufgrund dieser thematischen Konzentration der ersten Kapitel des Ersten Korintherbriefs sieht Sellin, „Geheimnis“, 72 1Kor 1–4 sogar als einen eigenständigen Brief an. 3 Das Nomen ὁ σταυρός (1Kor 1,17.18) und das Verb σταυροῦν (1Kor 1,13.23; 2,2.8) werden im Ersten Korintherbrief nur in den ersten beiden Kapiteln verwendet. Die größte Nähe hinsichtlich des Motivs besteht zu Gal 3–6, wo das Nomen (Gal 5,11; 6,12.14) und das Verb (Gal 3,1; 5,24; 6,14) jeweils drei Mal begegnen. Besonders markant sind die Formulierungen in 1Kor 2,2 und Gal 3,1. Im Philipperbrief redet Paulus zwei Mal von σταυρός (Phil 2,8b; 3,18), im Zweiten Korintherbrief einmal von σταυροῦν (2Kor 13,4), s. dazu Konradt, Kreuzestheologie, 314f. 4 So der Titel der Untersuchung von Kammler, Kreuz, vgl. Konradt, Weisheit 187, der bemerkt, der in 1Kor „1,17ff folgende Diskurs über die Weisheit und das Wort vom Kreuz“ rühre „an die Wurzel der Problematik“, um die es im Ersten Korintherbrief gehe; vgl. auch Sellin, „Geheimnis“, 72.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
dender Zusammenhang für die paulinische Rede von Gott im Ersten Korintherbrief benannt. Die Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi ist für Paulus freilich unlöslich mit der Auferweckung Jesu von den Toten verbunden. Bei der Formulierung „Auferweckung“ ist immer Gott als Subjekt vorausgesetzt, allerdings lässt sich für Paulus keine Alternative zwischen „Auferweckung“ und „Auferstehung“ konstruieren.5 Die Auferstehung Jesu ist für Paulus kein isoliertes Faktum. Im Ersten Korintherbrief bringt der Apostel die Auferweckung Jesu jeweils direkt mit der Auferstehung der Toten in einen Zusammenhang. In 1Kor 6,14 schreibt er: ὁ δὲ θεὸς καὶ τὸν κύριον ἤγειρεν καὶ ἡμᾶς ἐξεγερεῖ διὰ τῆς δυνάμεως αὐτοῦ – „Gott aber hat den Herrn auferweckt, und er wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.“ Dieser Hinweis steht in einem ethischen Zusammenhang und zeigt, wie eng die Rede von der Auferweckung Jesu mit dem Leben der Glaubenden in der Gegenwart verknüpft ist. Gleichzeitig ist für Paulus der mit der Auferstehung der Toten verbundene Ausblick auf die Zukunft entscheidend. In 1Kor 15 geht Paulus auf diesen Zusammenhang ein. Wortstatistisch lässt sich in diesem Kapitel im Blick auf das Verb ἐγείρεσθαι eine ähnliche Konzentration erkennen, wie dies zu den Begriffen σοφία und σταυρός in Bezug auf 1Kor 1–3 festgestellt werden konnte.6 Vor dem Hintergrund des zum Zusammenhang von Schöpfungstheologie und Eschatologie Gesagten ist es bemerkenswert, dass gerade in diesem Kapitel – in 1Kor 15 –, wo es um die Bedeutung der Auferweckung Jesu für die Auferstehung der Toten geht, die „Vorstellung von Gott als Schöpfer“ nicht nur zugrunde liegt,7 sondern auch entfaltet wird.8 Die Rede von Gott als Schöpfer hängt für Paulus eng mit dem Thema der Auferstehung zusammen. Dabei sind die Ausführungen des Paulus im Ersten Korintherbrief offensichtlich durch bestimmte Diskussionen in der korinthischen Gemeinde provoziert worden. Das gilt sowohl für das Thema der Auferstehung als auch für das Thema der Weisheit. Diese Beobachtung hat die Auslegung des Ersten Korintherbriefs nachhaltig bestimmt.
5 Wo die passive Form ἐγείρεσθαι verwendet wird, ist diese medial aufzufassen, und es kann nicht einfach ein passivum divinum vorausgesetzt werden (Kremer, ἐγείρω, 906). Die Aussagen, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat – wie in 1Thess 1,10 und 1Kor 6,14 (vgl. Röm 4,24) – und dass Jesus von den Toten auferstanden ist – wie 1Kor 15,4.12–14.16f.20 –, stehen von Anfang an gleichberechtigt nebeneinander (Hofius, ἐγείρεσθαι, 213). 6 Das Verb ἐγείρειν bzw. ἐγείρεσθαι findet sich im Ersten Korintherbrief neben 1Kor 6,14 nur noch im 15. Kapitel, in den Versen 4.12–17.20.29.32.35.42–44.52. 7 So Jantsch, Gottesverständnis, 159. 8 Zur Bedeutung der Auferstehung Jesu für die Identität der Glaubenden nach 1Kor 15 s. Portenhauser, Identität, 356–399.
„Tendenzkritik“ in der Auslegung des Ersten Korintherbriefs
2.
„Tendenzkritik“ in der Auslegung des Ersten Korintherbriefs
Seit Ferdinand Christian Baurs 1831 erschienener Untersuchung zur Christuspartei in der korinthischen Gemeinde9 ist die Auslegung des Ersten Korintherbriefs von Betrachtungen geprägt, die sich als „tendenzkritisch“ beschreiben lassen. Das ist auch in der gegenwärtigen Forschung zu beobachten. Anhand der in 1Kor 1,12 genannten „Parteien“, die sich auf Paulus, Apollos und Kephas (= Petrus)10 berufen,11 kam Baur zu der These, dass die frühchristliche Gemeinde zur Zeit des Paulus bereits von „Gegensätzen“ bestimmt gewesen sei. Baurs „Tendenzkritik“ ist der Versuch, diese unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Sichtweisen anhand der Texte aufzuspüren.12 Freilich birgt diese Methodik die Gefahr, die Auslegung in eine starke Abhängigkeit von bestimmten Hypothesen über die von Paulus vorausgesetzten und diskutierten Positionen, etwa der „Weisheitstheologen“13 oder der „Auferstehungsleugner“14 in Korinth, zu bringen. Wie der paulinische Text verstanden wird, entscheidet sich häufig nicht zuletzt daran, wie die Ausleger die Position seiner „Gegner“ konstruieren. Da der Erste Korintherbrief auf ganz konkrete Fragen reagiert, wird die Auslegung nicht ganz ohne solche Annahmen auskommen können. Sie können aber nur in der steten Rückbindung an die vorliegenden Texte entwickelt werden.15 Bereits Gerhard Sellin bemerkt, dass sich im Blick auf die korinthische „Weisheitstheologie“ eine „Ableitung aus der hellenistisch-jüdischen Weisheitstheologie […] wie von selber“ anbiete.16 Als Anknüpfungspunkt scheint sich insbesondere die Gestalt des in 1Kor 1,12; 3,4–6.22; 4,6; 16,12 genannten Apollos nahezulegen. Die
9 Baur, Christuspartei. 10 Paulus bezeichnet Petrus beinahe durchgängig mit seinem aramäischen Beinamen Κηφᾶς, der von dem aramäischen Wort „ =( ֵכָפאStein“) abgeleitet ist (1Kor 1,12; 3,22; 9,5; 15,5; Gal 1,18; 2,9.11.14). Nur in Gal 2,7f gebraucht Paulus die griechische Namensfassung Πέτρος. 11 Ob man auch hinter der Wendung ἐγὼ δὲ Χριστοῦ eine eigene Partei – die „Christuspartei“ – vermuten kann, wie Baur annahm, ist in der Exegese umstritten. Kammler, Kreuz, 7–16 diskutiert die Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass es in Korinth keine eigene „Christus-Partei“ gegeben habe, sondern Paulus mit der Wendung eine eigene Antithese formuliere (aaO., 14f). Auch Konradt, Weisheit, 183 mit Anm. 11 kommt zu dem Schluss, dass es eine „Christuspartei“ nicht gegeben habe. Anders Sellin, „Geheimnis“, 73; Wolff, 1Kor, 28 u. a. Für Sellin, aaO., 95 steht hinter der „Christuspartei“ das Selbstverständnis des Apollos, mit dem Paulus sich im Ersten Korintherbrief auseinandersetze (s. dazu unten). 12 S. dazu Bauspiess, Geschichte und Theologie, 252–254. 13 S. dazu die grundlegende Untersuchung von Wilckens, Weisheit, vgl. Merklein, 1Kor I, 119–121; Schrage, 1Kor I, 38–63. 14 S. dazu etwa Wolff, 1Kor, 421–425 und bereits Schniewind, Leugner. 15 Konradt, Weisheit, 195 plädiert in diesem Sinne für eine vorsichtige Handhabung eines „mirrorreadings“. 16 Sellin, „Geheimnis“, 71.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Hinweise auf Apollos im Ersten Korintherbrief lassen sich mit den Informationen aus der Apostelgeschichte kombinieren, in der Apollos in Apg 18,24 als ein aus Alexandria stammender Judenchrist vorgestellt wird.17 Der Erste Korintherbrief stützt die Angaben der Apostelgeschichte (Apg 18,27–19,1), denen zufolge Apollos nach dem Gründungsaufenthalt des Paulus in Korinth dort als Verkündiger gewirkt hat (vgl. v. a. 1Kor 3,6).18 Was Apollos genau gelehrt hat, erfahren wir aus dem Ersten Korintherbrief indes nicht.19 Christine Gerber bemerkt mit Recht, dass Paulus im Ersten Korintherbrief nicht „eine Gruppe wegen ihres Programms, sondern … die Gruppenbildung als solche“ kritisiere.20 Von hier aus ist auch eine Interpretation der paulinischen Ausführungen von einer hellenistisch-jüdischen „Weisheitstheologie“ her grundsätzlich mit Vorsicht zu behandeln.21 Da Apollos mit Alexandria in Verbindung gebracht wird, legt es sich nahe, seine Theologie von dem Denken her zu verstehen, das bei Philo von Alexandrien greifbar wird. Wir haben bereits gesehen, dass in diesem Fall auch bestimmte Voraussetzungen für das Gottesverständnis anzunehmen wären.22 Zunächst einmal wollen wir uns dem Thema der „Weisheit“ aber von dem Text des Paulus selbst aus annähern und danach fragen, in welchem Sinne von einer paulinischen „Weisheitstheologie“ gesprochen werden kann. Hierfür sind insbesondere die Ausführungen in 1Kor 1,18–25 und 2Kor 2,6–16 von Interesse, in denen Paulus das Thema der „Weisheit“ entfaltet. Im Blick auf das Gottesverständnis ist hier insbesondere der zuletzt genannte Textabschnitt aufschlussreich: In 1Kor 2,8 spricht Paulus von dem „Herrn der Herrlichkeit“ (ὁ κύριος τῆς δόξης). Es handelt sich dabei um eine Gottesprädikation,23 die auf Jesus Christus bezogen wird. Auffällig ist im Kontext, dass Paulus den Begriff der δόξα im voraufgehenden Vers 7 schon einmal verwendet, dort aber auf die Glaubenden bezieht. So kommt im Abschnitt 1Kor 2,6–8 der Zusammenhang von Gottesverständnis, Christologie und Anthropologie dicht gedrängt zur Sprache:
17 Vgl. Gielen, Herrlichkeit, 82 (s. u.); Sellin, „Geheimnis“, 71.75–79, vgl. Konradt, Weisheit, 182, der allerdings auch alternative Auslegungen nennt, die sich gegen die Annahme einer „theologischen Signatur“ der Auseinandersetzungen in Korinth aussprechen. 18 Vgl. Konradt, Weisheit, 184; Sellin, „Geheimnis“, 74; Wilckens, Theologie I/3, 69. 19 Das räumt etwa auch Sellin, „Geheimnis“, 77 ein. Er bezieht sich in der Rekonstruktion der Position des Apollos deshalb auf Apg 18,24ff. 20 Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität, 80. 21 In diesem Sinn bemerkt Gerber ebd.: „Dass es zwischen den Gruppen einen inhaltlichen Streit gäbe – die Forschung hat viel Mühe darauf verwendet, eine korinthische Weisheitstheologie zu rekonstruieren –, wird nicht erkennbar.“ 22 S. dazu oben in Kapitel 2. 23 Conzelmann, 1Kor, 87; Hofius, Einer, 179; ders., Schöpfungsmittler, 187, Anm. 25; Kammler, Kreuz, 214; Lang, Kor, 44; Sellin, „Geheimnis“, 84; Wolff, 1Kor, 56.
„Tendenzkritik“ in der Auslegung des Ersten Korintherbriefs
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Σοφίαν δὲ λαλοῦμεν ἐν τοῖς τελείοις, σοφίαν δὲ οὐ τοῦ αἰῶνος τούτου οὐδὲ τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου τῶν καταργουμένων·
7
ἀλλὰ λαλοῦμεν θεοῦ σοφίαν ἐν μυστηρίῳ τὴν ἀποκεκρυμμένην, ἣν προώρισεν ὁ θεὸς πρὸ τῶν αἰώνων εἰς δόξαν ἡμῶν,
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ἣν οὐδεὶς τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου ἔγνωκεν· εἰ γὰρ ἔγνωσαν, οὐκ ἂν τὸν κύριον τῆς δόξης ἐσταύρωσαν.
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Von Weisheit aber reden wir unter den Vollkommenen, (von) einer Weisheit aber, die nicht aus diesem Zeitalter stammt, auch nicht von den Herrschenden dieses Zeitalters, die zunichte werden; sondern wir reden von Gottes Weisheit, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vor den Zeitaltern vorherbestimmt hat zu unserer Herrlichkeit, die keiner der Herrschenden dieses Zeitalters erkannt hat, denn wenn sie sie erkannt hätten, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.
Exponiert V. 6a das Thema der Weisheit, so wird es in V. 8 direkt mit dem Thema der Kreuzigung Jesu in Zusammenhang gebracht. In diesem Kontext steht die Prädikation Jesu als „Herr der Herrlichkeit“. Als Gottesprädikation ist ὁ κύριος τῆς δόξης fast ausschließlich im Äthiopischen Henochbuch belegt.24 Lässt sich eine traditionsgeschichtliche Linie erkennen, die für das paulinische Gottesverständnis aufschlussreich ist? Lässt sich also auch anhand von 1Kor 2,8 der Prozess von Tradition und Interpretation nachzeichnen? Aus der Forschungsdiskussion soll hier zunächst eine These herausgegriffen werden, die exemplarisch zeigt, wie die „Tendenzkritik“ auch die heutige Auslegung noch prägt. So hat Marlis Gielen – im Anschluss an Helmut Merklein – die Auffassung vertreten, Paulus wende sich in 1Kor 2,6–16 explizit gegen die Theologie des Apollos. Gielen formuliert die These, Apollos habe, beeinflusst „durch das religionsphilosophische und theologische Werk seines Mitbürgers Philo von Alexandrien“25 , eine „spezifische … Variante einer Weisheitschristologie“26 vertreten, in deren Zusammenhang sich die Bezeichnung Jesu als κύριος τῆς δόξης verstehen lasse. Paulus greife damit eine Formulierung, die aus der korinthischen Gemeinde stamme, auf, die er mit seiner Kreuzestheologie korrigiere. Gielen erklärt: „Als ,Herr der Herrlichkeit‘ erweist sich Christus eben nicht nur als Präexistenter und Erhöhter. Vielmehr wird er als ,Herr der Herrlichkeit‘ gerade am Kreuz offenbar.“27
24 1Hen 22,14; 25,3.7; 27,3.5; 36,4; 40,3; 63,2; 75,3; 83,8 und ebenso in ApkEl 19,10. Der erste frühchristliche Beleg ist in Barn 21,9 zu finden, vgl. auch AscJes 9,32. 25 Gielen, Herrlichkeit, 82, vgl. Merklein, 1Kor I, 134–147. 26 Gielen, aaO., 84. 27 AaO., 87.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Vorausgesetzt ist dabei, dass es zur Zeit der Abfassung des Ersten Korintherbriefes in Korinth bereits eine identifizierbare „Weisheitschristologie“ gibt, von der sich Paulus abgrenze.28 Leitend ist dafür die Beobachtung, dass das Stichwort σοφία und das dazugehörige Adjektiv σοφός in 1Kor 1–3 gehäuft begegnet, ansonsten aber von Paulus kaum verwendet wird (s. o.). Es wird demnach eine ganz bestimmte Weisheitskonzeption bei den „Gegnern“ vermutet, von der aus die Ausführungen des Paulus interpretiert werden. Die Auseinandersetzung wird dabei von späteren theologischen Debatten her – hier die von Martin Luther im Anschluss an den Ersten Korintherbrief hervorgehobene theologia crucis, die er einer theologia gloriae entgegensetzt29 – gedeutet. Exemplarisch ist, was bereits Friedrich Lang in seinem Kommentar zu 1Kor 1,18–25 formuliert hat: „Paulus legt in unserem Abschnitt den Akzent auf das Kreuz, weil das Bekenntnis zur Auferweckung Jesu Christi in Korinth nicht angefochten wird. Strittig aber ist zwischen Paulus und den Korinthern die Frage, wie der erhöhte Herr in der Gemeinde sich gegenwärtig erweist, ob nur als verherrlichter Sieger oder als der Erhöhte zugleich auch als der Gekreuzigte; es geht um die Frage, ob das Kreuz nur ein Durchgangsstadium zur Herrlichkeit bildet oder ob es eine grundlegende und bleibende Bedeutung für den Christusglauben besitzt. Paulus kämpft für die theologia crucis (Theologie des Kreuzes) gegen die theologia gloriae (Theologie der Herrlichkeit) der korinthischen Pneumatiker, die dem Ärgernis des Kreuzes ausweichen.“30
Der Titel „Herr der Herrlichkeit“ wird auch hier offensichtlich als eine Formulierung der Christologie einiger Gemeindeglieder in Korinth angesehen,31 die Paulus kreuzestheologisch korrigiere. Damit gerät aber die Prädikation selbst – als positiver Ausdruck der paulinischen Christologie und des damit verbundenen Gottesverständnisses – für die Auslegung aus dem Blick. Es lässt sich hier ein ähnliches Phänomen beobachten, wie wir es etwa im Blick auf das Verb ἐπιστρέφειν in 1Thess 1,9 feststellen konnten: Die Annahme einer „traditionellen“ Begrifflichkeit führt dazu, dass die Vorstellung, die Paulus damit verbindet, zu wenig beleuchtet wird. Freilich lässt sich einwenden, dass Paulus die Bezeichnung ὁ κύριος τῆς δόξης nur an einer einzigen Stelle verwendet.32 Gleichwohl ist zu fragen, in welcher Weise
28 S. dazu etwa Weder, Kreuz, 128–137, vgl. Wolff, 1Kor, 33f. 29 Luther, Disputatio Heidelbergae (1518), Studienausgabe 1, 53–55, Thesen XIX–XXI. Luther bezieht sich hier v. a. auf 1Kor 1,21, aber auch auf Röm 1,20. 30 Lang, 1Kor, 28. 31 Die These vertritt auch Merklein, 1Kor I, 230; Wilckens, Weisheit, 73f, erwogen bei Wolff, 1Kor, 56. 32 Die Prädikation hat nicht nur bei Paulus selbst, sondern im gesamten Neuen Testament keine Parallele. Einige Ausleger (etwa Lautenschlager, Gegenstand, 170f) nehmen an, dass eine sol-
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
er die Prädikation in sein eigenes Denken und Reden von Gott integrieren kann und was sich daraus im Blick auf sein Gottesverständnis erkennen lässt. Auch der Begriff einer „Weisheitstheologie“ ist differenziert zu betrachten. Bevor von einem festen Konzept einer „Weisheitstheologie“ gesprochen werden könnte, das aus verschiedenen Texten konstruiert wird, sind zunächst einmal die Fragen wahrzunehmen, die die einzelnen Texte bewegen. Auch Paulus nimmt das Stichwort σοφία offensichtlich aus den Debatten in Korinth auf, bezieht es aber auf eine ihn selbst bewegende Sachfrage. Es ist zu erwarten, dass sich diese Sachfrage zunächst einmal aus seinen Ausführungen selbst erheben lässt und nicht vorschnell von religionsgeschichtlichen Hypothesen aus konstruiert werden muss. Das bedeutet nicht, dass die sich in den theologischen Debatten um die „Weisheit“ äußernden Fragen für die Auslegung irrelevant wären.33 Vielmehr können gerade solche Debatten hervortreten lassen, welche Sicht Paulus selbst entfaltet. Dazu ist zunächst einmal der Kontext von 1Kor 2,7f zu beleuchten.
3.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
3.1
Fragen der Gemeinde in Korinth
Wie eng die Ausführungen des Paulus in den Korintherbriefen mit der Situation der Gemeinde in Korinth verbunden sind, lassen die Schreiben selbst erkennen. Die beiden kanonisierten Briefe des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth bieten bekanntlich nur einen Ausschnitt aus der lebhaften Kommunikation zwischen Paulus und der von ihm selbst bei einem längeren Aufenthalt in Korinth (vgl. Apg 18,1–17)34 gegründeten Gemeinde. Aus 1Kor 5,9 geht hervor, dass Paulus der Gemeinde bereits vor dem Ersten Korintherbrief einen Brief geschrieben hat. Die
che in Jak 2,1 vorliege (Ἀδελφοί μου, μὴ ἐν προσωπολημψίαις ἔχετε τὴν πίστιν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ τῆς δόξης). Der syntaktische Bezug der Genitivwendung τῆς δόξης ist schwierig zu bestimmen, weil sie nicht direkt mit dem κύριος-Titel verbunden ist und die Verbindung etwa eines genitivus qualitatis mit einem Namen ungewöhnlich ist (vgl. Burchard, Jakobusbrief, 97f). Die Genitivwendung τῆς δόξης erklärt sich m. E. aus dem Kontext heraus am ehesten in diesem Sinne: Die δόξα des Herrn Jesus Christus wird hervorgehoben, um ein „Ansehen der Person“ unter Menschen als unangemessen zurückzuweisen (ähnlich Konradt, Christliche Existenz, 137; Mussner, Jakobusbrief, 116, s. dazu Bauspiess, Gesetz, 197). Der Titel ὁ κύριος τῆς δόξης liegt in Jak 2,1 allerdings nicht vor. Zur Interpretation von 1Kor 2,8 trägt Jak 2,1 deshalb nichts aus. 33 Insofern ist Konradt, Weisheit, 183 zuzustimmen, wenn er erklärt, „dass eine kritisch-ablehnende Sicht der These, hinter der korinthischen σοφία stünde ein von hellenistisch-jüdischer Weisheitsspekulation genährter theologischer Denkansatz nicht eo ipso bedeutet, dass die Frage nach dezidiert theologischen Faktoren der korinthischen Weisheitsproblematik ad acta gelegt werden kann.“ 34 Nach Apg 18,11 war Paulus ein Jahr und sechs Monate in Korinth.
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im Ersten Korintherbrief mehrfach verwendete Einleitungsformel περὶ δέ legt die Vermutung nahe, dass die Gemeinde Paulus auf diesen Brief geantwortet hat und mit ganz konkreten Fragen an ihn herangetreten ist, die er im Ersten Korintherbrief beantwortet.35 Bereits zur Zeit der Abfassung des Ersten Korintherbriefs kennt Paulus die Situation der Gemeinde in Korinth demnach sehr gut. Er kann bei seinen Ausführungen einiges voraussetzen, was seine Adressaten und er wissen, was seine späteren Ausleger aber erst aus dem Schreiben selbst heraus rekonstruieren müssen. Betrachtet man den literarischen Kontext von 1Kor 2,6–16, dann lässt sich in der Tat feststellen, dass Paulus vorher (1,12) und nachher (3,4–6.22) Apollos erwähnt. Paulus argumentiert hier allerdings nicht gegen die Lehre des Apollos, sondern erinnert lediglich daran, dass die Autorität einer bestimmten Persönlichkeit nicht die Einheit der Gemeinde gewährleisten kann.36 Sie kann es deshalb nicht, weil die Gemeinde durch den Kreuzestod Jesu Christi begründet ist, was seinen Ausdruck in der Taufe auf den „Namen“ Jesu Christi findet (vgl. 1Kor 1,13). In 1Kor 3 vertieft Paulus diesen Gedanken, indem er deutlich macht, dass das von ihm – durch die Gründung der korinthischen Gemeinde – gelegte „Fundament“ (θεμέλιος, 1Kor 3,10) Jesus Christus selbst ist (3,11). Dieses „Fundament“ aber hat nicht eigentlich Paulus, sondern – wie das in V. 11 als passivum divinum zu bestimmende Partizip κείμενον zeigt – Gott gelegt.37 Paulus unterscheidet demnach zwischen der Verkündigung durch bestimmte Personen wie ihm oder auch Apollos und dem Evangelium selbst, an dem die Verkündigung zu messen ist.38 Es hängt wohl nicht
35 1Kor 7,1.25; 8,1.4; 12,1; 16,1.12. Auch an anderen Stellen (z. B. 5,1; 11,17) wird sichtbar, dass Paulus ganz konkrete Gemeindesituationen vor Augen hat. 36 Sellin, „Geheimnis“, 74 formuliert: „Es geht … um eine Bindung an soteriologische Mittlergestalten.“ S. dazu auch das oben zitierte Urteil von Gerber, Apostolat und Autorität, 80. 37 Conzelmann, 1Kor, 101 spricht deshalb davon, dass der in 1Kor 3,10.11 begegnende Begriff θεμέλιος „paradox“ sei. Denn einerseits (V. 10) hat Paulus es (durch seine Verkündigungstätigkeit) gelegt, andererseits ist es Gott selbst (V. 11), der es gelegt hat. Vgl. Wendland, Kor, 30: „Sein (sc. des Paulus) Werk geschieht an dem, was zuvor schon durch Gott in Christus geschehen ist.“ 38 In diesem Sinn erklärt Wendland, ebd. im Blick auf das „Fundament“ in 1Kor 3,11: „Die Verantwortung Derer (sic!), die darauf weiterbauen, ist schwer. Denn der Bau muß dem Fundament entsprechen.“ Diese Unterscheidung von Evangelium (= Wort Gottes) und Verkündigung (= die Theologie des Paulus) lässt sich an mehreren Stellen beobachten, gerade auch da, wo Paulus nicht ausführlich darauf eingeht, sondern den Gedanken einfach voraussetzt (etwa in Phil 1,15–18a). Besonders deutlich wird sie in Gal 1,8f, aber etwa auch in 2Kor 5,19, wo Paulus von der Aufrichtung des λόγος τῆς καταλλαγῆς durch Gott selbst spricht. Auch die Argumentation in Gal 3,1ff und 1Kor 15,10ff setzt voraus, dass es Gottes eigenes Wort war, das Glauben gewirkt hat. Auch wenn dieses Wort für die Gemeinden nur durch die Verkündigung des Paulus zugänglich wird, so lässt es sich doch sachlich von dieser unterscheiden (s. dazu Hofius, Wort Gottes, 150–154). Nur deshalb kann Paulus im Ersten Korintherbrief seine Gemeindeglieder dazu auffordert, sowohl sein als auch das „Werk“ des Apollos an dem Fundament, das Gott selbst gelegt hat, zu messen.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
zuletzt mit dieser Unterscheidung zusammen, dass Paulus immer wieder auf Traditionen Bezug nehmen kann, wenn er in ihnen den Inhalt des Evangeliums adäquat zur Sprache gebracht sieht (vgl. 1Kor 11,23–25; 15,3b–5; Röm 1,3f; Phil 2,6–11). Die Ausführungen über die Weisheit und das „Wort vom Kreuz“, die mit 1Kor 1,18 einsetzen, sind durch die in 1Kor 1,11 genannten „Streitigkeiten“ (ἔριδες) in der korinthischen Gemeinde motiviert, die nach 1,10 zu „Spaltungen“ (σχίσματα) in der Gemeinde führen. Das in 1,12 angesprochene Thema der „Parteiungen“ greift Paulus in 3,3f noch einmal unter dem Stichwort ἔρις (V. 3) auf, was er im Folgenden im Blick auf eine unsachgemäße Berufung auf Apollos bzw. Paulus selbst entfaltet (3,4ff). Von σχίσματα redet Paulus noch einmal in 1Kor 11,18. Dort sind es indes wohl vor allem die sozialen Unterschiede innerhalb der korinthischen Gemeinde, die für Probleme bei der Feier des Abendmahls sorgen.39 In 1Kor 12,25 bemerkt Paulus ganz grundsätzlich, dass es keine σχίσματα innerhalb der Gemeinde als „Leib Christi“ geben dürfe. An allen genannten Stellen geht es grundsätzlich darum, dass allein Jesus Christus die Existenz der Gemeinde begründet und diese deshalb auch in ihrer Struktur und in ihrem konkreten Zusammenleben bestimmen soll. Dass Paulus dieses Thema vom Beginn des Ersten Korintherbriefs an im Blick hat, zeigt bereits die Anrede der Gemeinde als κλητοὶ ἅγιοι, die in Christus Jesus „geheiligt“ sind (ἡγιασμένοι ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) und die deshalb über die eigene Ortsgemeinde hinaus mit allen verbunden sind, „die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen“ (1Kor 1,2). Um diese Begründung der Identität der Gemeinde geht es Paulus auch, wenn er die Weisheitsthematik aufnimmt und auf seine Weise interpretiert. Im Abschnitt 1Kor 1,18–3,4 lassen sich dabei Parallelitäten innerhalb der Gesamtstruktur beobachten. In einem ersten Schritt beschreibt Paulus zunächst den Inhalt seiner Verkündigung und die ablehnende Reaktion der Menschen (1,18–25/2,6–9). Von dieser externen Perspektive hebt er in einem zweiten Schritt die Perspektive der Glaubenden ab (1,26–31/2,10–16). In einem dritten Schritt schildert Paulus dann ganz konkret die Situation seiner Erstverkündigung in Korinth (2,1–5/3,1–4).40 Auf diese Weise
39 Dazu grundlegend Theissen, Soziale Schichtung. 40 Auch wenn man den Abschnitt mit V. 4 beendet sehen kann, sind die Verse 5 und 6 mit zu berücksichtigen, da Paulus hier die Ausführungen mit dem Gedanken abschließt, dass es eben Gott war, der in der Evangeliumsverkündigung an der Gemeinde gehandelt hat. Deshalb erweist sich die Berufung auf Apollos oder auch auf Paulus selbst als sinnlos und „spalterisch“. Im Anschluss an den damit erzielten Ertrag der Ausführungen entwickelt Paulus in 1Kor 3,10–17 die Vorstellung von einem Gottesgericht über die Verkündiger, an dem sich in eschatologischer Perspektive zeigt, was bereits jetzt im Blick auf die Beurteilung ihrer Tätigkeit in der Gemeinde gilt und was der Gemeinde deshalb jetzt bereits ein Kriterium an die Hand gibt, an dem sie die unterschiedlichen Personen und ihr Handeln messen können. So wird auch im Umgang mit den Personen, die in der Gemeinde Autorität haben erkennbar, dass Gott das Fundament gelegt hat, das niemand anders legen kann (1Kor 3,11).
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wird deutlich, dass Paulus über das Verhältnis von Kreuzespredigt und „Weisheit“ im Zusammenhang mit den konkreten Erfahrungen in Korinth reflektiert. Man könnte sagen, dass er die Frage der Gotteserkenntnis gleichsam in gegenläufiger Richtung entfaltet: Die Glaubenden kommen von ihrer konkreten Erfahrung mit dem Evangelium her, begreifen von hier aus Gott und Jesus Christus und stoßen damit in ihrer Umwelt auf Ablehnung. Diese Ablehnung hat ihren Grund in ihrer besonderen Perspektive, die durch die Begegnung mit dem Evangelium geprägt ist. So lässt sich die Struktur schematisch darstellen: 1,18–25 Perspektive von außen 2,6–9 Perspektive von außen 1,26–31 Perspektive der Glaubenden 2,10–16 Perspektive der Glaubenden 2,1–5 Verkündigung in Korinth 3,1–4 Verkündigung in Korinth Gleichzeitig lässt sich ein Fortschritt innerhalb der beiden Argumentationsgänge (1,18–2,5 und 2,6–3,4) beobachten: Paulus greift in 1,18 das Stichwort σοφία aus V. 17 auf und entwickelt es weiter zur Vorstellung von der Weisheit Gottes in 1,24.30. In 2,6 schließlich stellt er das Stichwort σοφία betont an den Anfang, wobei er nun von Gottes Weisheit redet, die er von der Weisheit „des gegenwärtigen Äons“ grundsätzlich unterscheidet (2,7). Diese Unterscheidung führt ihn in 2,8 wieder – wie bereits in 1,18 – zum Kreuz Jesu Christi. An der Haltung zum Kreuz Jesu und zur Kreuzespredigt entscheidet sich für Paulus die Frage der Gotteserkenntnis. Da die Abschnitte 1,18–25 und 2,6–9 zueinander parallel sind,41 sind hier zunächst einige Beobachtungen zu 1Kor 1,18–25 zu notieren. 3.2
Die Ablehnung der Kreuzespredigt (1Kor 1,18–25)
In 1Kor 1,17 erinnert Paulus daran, dass seine Missionsverkündigung nicht „in Weisheitsrede“ (ἐν σοφίᾳ λόγου)42 geschehen ist, und er begründet dies damit, dass „das Kreuz Christi nicht entleert werden“ solle.43 Damit ist die Spannung
41 Kammler, Kreuz, 186f. 42 Genau umgekehrt, nämlich mit „Redeweisheit“ übersetzt etwa Wolff, 1Kor, 24. S. zur Übersetzung allerdings Kammler, Kreuz, 49: Kammler bestimmt die Wendung σοφία λόγου als Hypallage, eine rhetorische Figur, in der nomen regens und nomen rectum miteinander vertauscht werden, womit das in die Position des nomen regens versetzte Wort besonders betont wird (Kammler, aaO., 32, vgl. Hofius, Röm 9,30–33, 162). Der Ausdruck steht demnach für die Wendung λόγος σοφίας und hebt hervor, dass die Wirkung des Wortes nicht in seiner menschlichen Qualität begründet ist, sondern darin, dass Gott durch dieses Wort wirkt. Hier lässt sich dieselbe Akzentuierung wie in 1Thess 1,5 beobachten. 43 1Kor 1,17: οὐ γὰρ ἀπέστειλέν με Χριστὸς βαπτίζειν ἀλλ’ εὐαγγελίζεσθαι, οὐκ ἐν σοφίᾳ λόγου, ἵνα μὴ κενωθῇ ὁ σταυρὸς τοῦ Χριστοῦ. Im Hintergrund steht wohl der Gedanke, dass aufgrund der Taufe durch eine der genannten Persönlichkeiten eine besondere Beziehung zwischen Täufer und Täufling angenommen werden könnte. Demgegenüber betont Paulus seine primäre Aufgabe der
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
zwischen σοφία und σταυρός markiert, die die folgenden Ausführungen bestimmt. An 1Kor 1,18 lässt sich beobachten, wie genau Paulus das Thema der „Weisheit“ aufnimmt und dann seine eigene theologische Argumentation entwickelt. Dafür ist zunächst die Struktur der Gegensätze hervorzuheben, die an dieser Stelle formuliert werden: Ὁ λόγος γὰρ ὁ τοῦ σταυροῦ τοῖς μὲν ἀπολλυμένοις
μωρία ἐστίν,
τοῖς δὲ σῳζομένοις ἡμῖν
δύναμις θεοῦ ἐστιν.
Zunächst einmal fällt ins Auge, dass der Gegenbegriff zu μωρία an dieser Stelle nicht etwa σοφία, sondern δύναμις θεοῦ ist.44 Der Ausgangspunkt für Paulus ist demnach die konkrete Erfahrung mit der Kreuzespredigt, in der Gott selbst gewirkt und durch die sich seine δύναμις entfaltet hat. So stellt er der „Torheit“, als die die „Verlorenen“ die Kreuzespredigt wahrnehmen, hier noch nicht das Evangelium als „Weisheit“ gegenüber. Es geht hier in erster Linie um die Wirkung, die die Kreuzespredigt auf manche Menschen hat – und auf andere eben nicht. Die Erkenntnis der Kreuzespredigt ist dabei soteriologisch qualifiziert, wie durch das Oppositionspaar ἀπολλύμενοι – σῳζόμενοι deutlich wird.45 Erst durch das Schriftzitat aus Jes 29,14b LXX wird das Stichwort σοφία, das Paulus in V. 17 eingeführt hat, wieder aufgenommen.46 Im Anschluss daran entwickelt Paulus eine Reflexion über die „Weisheit“, die von der – bereits im Alten Testament zur Sprache gebrachten – Erfahrung ausgeht, dass Gottes Wirklichkeit in der Welt von den Menschen gerade nicht erkannt wird. Im Folgenden reflektiert Paulus darüber, weshalb das so ist und was diese Einsicht über das Verhältnis Gottes zur Welt aussagt. Die in den Versen 18 und 19 formulierte Opposition zwischen denen, die „verloren gehen“ und denen, die „gerettet werden“ bestimmt die beiden Abschnitte 1,18–25 und 1,26–31: Im ersten Abschnitt handelt Paulus von denen, die „Weisheit“ für sich beanspruchen, dadurch aber gerade nicht zur Erkenntnis der Gegenwart Gottes im Kreuzesgeschehen gelangen. In V. 26 richtet Paulus sich dann direkt an die Glaubenden, die er auf ihre „Berufung“ anspricht (βλέπετε γὰρ τὴν κλῆσιν ὑμῶν): Wie zu Beginn des Ersten Thessalonicherbriefes verweist Paulus die Verkündigung des Evangeliums. So verweist er von seiner Person weg und auf die Wirkung des Evangeliums hin. 44 Das bemerkt etwa auch Wolff, 1Kor, 36, der mit Recht darauf hinweist, dass der Begriff σοφία in 1Kor 1,18–23 noch negativ gefüllt ist. 45 Vgl. Reinmuth, Paulus, 150–152. 46 Paulus zitiert hier Jes 29,14b fast wörtlich nach dem Text der Septuaginta. Die einzige Abweichung besteht bei dem Verb an Ende. Spricht der Septuaginta-Text davon, dass Gott die Weisheit der Verständigen „verbergen“ werde (… καὶ τὴν σύνεσιν τῶν συνετῶν κρύψω), so ist nun davon die Rede, dass Gott sie „zunichtemachen“ werde (καὶ τὴν σύνεσιν τῶν συνετῶν ἀθετήσω), vgl. Schrage, 1Kor I, 174f; Wolff, 1Kor, 36.
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Glaubenden an ihre eigene Erfahrung, die sie mit dem Evangelium gemacht haben. Die Wirkung der Evangeliumsverkündigung wird in 1Kor 1,18 wie in 1Thess 1,5 auf Gott selbst zurückgeführt. Der Inhalt des Evangeliums wird in 1Kor 1,18 dezidiert als Kreuzespredigt bezeichnet. Während im Ersten Thessalonicherbrief die „Weisheit“ kein Thema ist, hatte Paulus in 1Kor 1,17 das Stichwort σοφία, das an den Diskurs in Korinth anknüpft, als Gegensatz zur Kreuzespredigt eingeführt. Der Ausgangspunkt der Argumentation ist demnach die Beobachtung, dass in Korinth einige wohl für sich „Weisheit“ beanspruchen, sich aber gerade deshalb an der Kreuzespredigt stoßen. Es fällt auf, dass Paulus den Begriff σοφία einerseits negativ qualifiziert, ihn dann aber positiv als „Weisheit Gottes“ (1,21, vgl. V. 30) entfaltet. Paulus selbst nimmt demnach eine Interpretation des Begriffs vor, die dann auch für das Verständnis der Argumentation in 1Kor 2,6–16 entscheidend ist. Diese Interpretation der Rede von der σοφία lässt sich in den Versen 1Kor 1,20 und 21 beobachten, in denen die σοφία τοῦ κόσμου (V. 20) der σοφία τοῦ θεοῦ (V. 21) kontrastiert wird. Durch „die Weisheit“ (διὰ τῆς σοφίας, V. 21aβ), gemeint ist: durch ihre Weisheit, die Weisheit der Welt, haben die Menschen Gottes Weisheit gerade nicht erkannt. Hier findet also eine Differenzierung innerhalb des Weisheitsbegriffs statt, der sich etwa auch in Hi 28,28 beobachten lässt47 und in dem die Weisheit der Menschen (als einem negativ gefüllten Begriff) von der Weisheit Gottes unterschieden wird. In der Exegese des Ersten Korintherbriefs ist umstritten, was mit der Wendung σοφία τοῦ θεοῦ in V. 21 gemeint ist. Hier begegnet noch einmal die Frage, inwiefern eine klar beschreibbare „Weisheitstheologie“ von Paulus in seiner Argumentation vorausgesetzt wird. 3.2.1 Die Weisheit Gottes
Hatte Paulus in 1,19 noch grundsätzlich vom Zunichtemachen „der Weisheit der Weisen“ gesprochen, so setzt er mit V. 21 der σοφία τοῦ κόσμου eine ganz eigene Weisheit entgegen: die „Weisheit Gottes“. Die Bedeutung dieser Wendung ergibt sich aus den Versen 22 und 23, mit denen Paulus den Gegensatz aufnimmt und entfaltet. Die in 1Kor 1,18 einander gegenübergestellten Begriffe μωρία und δύναμις begegnen im Abschnitt 1Kor 1,20–25 jeweils wieder: in den Versen V. 21a.23b (μωρία) sowie in V. 24b (δύναμις). In V. 21 werden dem κόσμος, der die Weisheit Gottes durch die Weisheit (der Welt) nicht erkannt hat, „die Glaubenden“ (οἱ πιστεύοντες) gegenübergestellt, die Gott durch die „Torheit der Verkündigung“ zu retten (σῶσαι) beschlossen hat. Der Gegensatz wird in den Versen 22 und 23 vertieft: Hier
47 S. dazu unten den Abschnitt zur „Frage der Weisheitstheologie“.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
erscheint die „Weisheit“ nun als das vorrangige Ziel der „Griechen“, während die Juden „Zeichen“ verlangen (V. 22). Beidem wird die Verkündigung des gekreuzigten Christus gegenübergestellt (V. 23). Das Verlangen nach „Zeichen“ und das Streben nach „Weisheit“ laufen letzten Endes auf dasselbe Ziel hinaus: Mit σημεῖα dürften sichtbare Machterweise gemeint sein, in denen sich Gottes konkrete Präsenz in der Welt erweist.48 Das Streben nach Weisheit indes zielt auf die Frage „nach den gründenden Ordnungen der Wirklichkeit und dem Platz des Menschen in diesem Gefüge“.49 Charakteristisch ist, dass der jüdische Gottesglaube von den konkreten Gotteserfahrungen ausgeht, während die „Griechen“ eher nach „Grundstrukturen“ der Wirklichkeit fragen. Die jüdisch-hellenistische „Weisheitstheologie“ kann gerade als ein Versuch der Vermittlung jüdischen Gottesglaubens an die hellenistisch geprägte Umwelt verstanden werden.50 Wenn Paulus in 1Kor 1,24 dem Begriff der Weisheit Gottes nun den Begriff der δύναμις an die Seite stellt, dann gibt er ihm dadurch eine eigene Interpretation, die sich durchaus analog zu denjenigen Versuchen begreifen lässt, in denen jüdischer Gottesglaube dem griechischen Denken als „Weisheit“ plausibel gemacht werden soll: Philo etwa interpretiert die alttestamentlichen Texte vom platonischen Gottes- und Wirklichkeitsverständnis aus und versucht so zu zeigen, dass die heiligen Texte des Judentums für ein philosophischvernünftiges Verständnis offen sind.51 Bei Paulus lässt sich nun allerdings eine spezifische Zuspitzung beobachten: Für „die Berufenen“ erweist sich Christus als „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1,24). Die in den Versen 1,22f vorausgesetzte Unterscheidung der Menschheit in „Juden“ und „Heiden“ (bzw. „Griechen“) wird dabei in Bezug auf Christus gerade relativiert, insofern nun die Berufung zur Gottesgemeinschaft in Christus zum entscheidenden Identitätsmerkmal wird: 23 ἡμεῖς δὲ κηρύσσομεν Χριστὸν ἐσταυρωμένον, Ἰουδαίοις μὲν σκάνδαλον, ἔθνεσιν δὲ μωρίαν,
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αὐτοῖς δὲ τοῖς κλητοῖς, Ἰουδαίοις τε καὶ Ἕλλησιν, Χριστὸν θεοῦ δύναμιν καὶ θεοῦ σοφίαν·
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Wir aber verkündigen den gekreuzigten Christus, für Juden ein Anstoß und für Heiden eine Torheit,
48 Hier ließe sich etwa auf entsprechende Passagen aus der Evangelien-Tradition hinweisen: Mt 12,38ff par. Lk 11,29ff; Mk 8,11ff par. Mt 16,1ff; Mt 24,30; Joh 2,18ff; 6,30; vgl. Wilckens, Theologie I/3, 73; Wolff, 1Kor, 39. 49 Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 36. 50 Feldmeier beschreibt in diesem Sinne die wechselseitige Entwicklung, in der es sowohl zu einer „Sakralisierung des Weisen“ als auch einer „Sapientisierung des Heiligen“ kommt (aaO., 35). 51 Vgl. Feldmeier, aaO., 43; Niehoff, Philon, 287–289.
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ihnen aber, den Berufenen, Juden und auch Griechen, (verkündigen wir) Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.
Damit bestätigt sich, was sich bereits zu 1Thess 1,4f feststellen ließ: Die Frage der „Berufung“ entscheidet sich für Paulus nicht an der Volkszugehörigkeit, sondern an der Wirksamkeit des Evangeliums. Für die Glaubenden wird Christus zu „Gottes Kraft“ und zu „Gottes Weisheit“, d. h. das „Wort vom Kreuz“ erschließt den Glaubenden den gekreuzigten Christus als Gottes Weisheit. An die Stelle bestimmter Machterweise Gottes ist konkret die Wirkung der Kreuzespredigt getreten, die sich als δύναμις θεοῦ am Menschen erweist. Ihre Wirkung ist, dass sie Jesus Christus als den Zugang zur Erkenntnis Gottes in der Welt erschließt. Das unterstreicht Paulus noch einmal in 1Kor 2,1–5. Die Predigt von dem gekreuzigten Christus ist „im Erweis des Geistes und der Kraft“ geschehen (V. 4) und hat so ἐν δυνάμει θεοῦ Glauben gewirkt (V. 5). Ähnlich wie in 1Thess 1,5–7 erinnert Paulus ganz konkret an seine Missionsverkündigung, die er in 1Kor 2,2 – analog zu Gal 3,1 – als Kreuzespredigt akzentuiert.52 Sie erweist sich an den „Berufenen“ als δύναμις θεοῦ (vgl. Röm 1,16), in der Gott selbst an ihnen wirkt und Menschen seine Wirklichkeit erschließt. Durch dieses Geschehen werden Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Herkunft miteinander verbunden. Solange sie negativ auf die Kreuzespredigt reagieren, bleiben die Menschen hingegen gerade als Juden und Heiden voneinander unterschieden: Fassen Juden die Kreuzespredigt als σκάνδαλον auf, so ist sie für die Heiden μωρία (1Kor 1,23b).53 Hier hat Paulus wohl im Blick, dass Juden die Behauptung der Gottespräsenz im gekreuzigten Christus als Blasphemie auffassen mussten (vgl. Dtn 21,23),54 während sie für hellenistisch-römisches Denken vor allem als „Aberglaube“ (superstitio) galt.55 In beiden Fällen erweist sich die
52 Diese Akzentuierung ist im Ersten Korintherbrief wie im Galaterbrief der jeweils situationsbedingten Ausrichtung der Argumentation geschuldet. Im Ersten Thessalonicherbrief lässt sich eine kontextgebundene Akzentuierung ebenfalls beobachten. Hier hebt Paulus stärker auf die im Christusgeschehen begründete Hoffnung und Zukunftserwartung ab, um die es im Gespräch mit den Thessalonichern geht. Daraus lässt sich freilich nicht ableiten, dass die Kreuzespredigt nur in Korinth und Galatien relevant gewesen sei (so mit Recht Konradt, Kreuzestheologie, 321). 53 Wie differenziert Paulus von religiöser und ethnischer Identität redet, zeigt sich daran, dass er in V. 23 von den Nicht-Juden als ἔθνη, in V. 24 aber als Ἕλληνες redet: Auch wenn sie im Christusglauben mit den jüdischen Menschen verbunden sind, so bleiben sie ihrer ethnisch-kulturellen Identität nach unterscheidbar. S. dazu Heckel, Heiden, 409–413. 54 S. dazu das Kapitel 5 dieser Arbeit (zur Berufung des Paulus). 55 Vgl. Konradt, Kreuzestheologie, 315; Schnelle, Wege, 27: „Der Vorwurf des ,Aberglaubens‘ (superstitio) taucht in der antichristlichen Polemik immer wieder auf, denn für die Römer war es fremdartig und absonderlich zugleich, dass die Christen einen gekreuzigten politischen Aufrührer
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Kreuzespredigt als unvereinbar mit den jeweils vorausgesetzten Gottesvorstellungen. Dabei nahmen nicht nur Juden, sondern auch Römer offensichtlich wahr, dass die frühen Christen Jesus Christus gottgleiche Verehrung darbrachten. Das zeigt nicht nur der Bericht des Statthalters Plinius gegenüber seinem Kaiser Trajan, der die Selbstbeschreibung der Christusgläubigen bei Verhören mit den Worten wiedergibt, sie würden Christo quasi Deo im Gottesdienst „Lieder“ (carmina) singen (Plin. ep. X 96),56 sondern auch das auf dem Palatin gefundene „Spottkruzifix“ mit der Unterschrift „Alexamenos betet (seinen) Gott an“ (Alexamenos sebete theon), auf dem ein Gekreuzigter mit einem Eselskopf zu sehen ist.57 Dieses Schmähmotiv der „Onolatrie“ wurde in der Antike zunächst auf die jüdische Gottesverehrung im Tempel bezogen (vgl. JosAp 2,79f; 2,112–114)58 und später auch auf die Christen übertragen.59 Wer ein solches Graffito anfertigte, brachte damit beißenden Spott über die in seinen Augen völlig unsinnige Weise, von Gott zu reden und ihn zu verehren, zum Ausdruck. In 1Kor 1,18ff macht Paulus deutlich, weshalb die Offenbarung Gottes in Jesus Christus von „Außenstehenden“ nicht einfach akzeptiert werden kann: Sie widerspricht ihren Gottesvorstellungen, die sich dann aber im Umkehrschluss – aus christlicher Perspektive – als unangemessen erweisen. Dass sich die Kreuzespredigt an den Korinthern als wirksam erwiesen hat, ist deshalb als Handeln Gottes zu begreifen. Diesen Aspekt entfaltet Paulus im Abschnitt 2,10–16 pneumatologisch. Auch hier zeigt sich, dass hinter der Pneumatologie die konkrete Erfahrung der Wirksamkeit der Evangeliumsverkündigung steht. Im Kontext von 1Kor 1+2 geht es Paulus darum aufzuzeigen, dass es allein die Kreuzespredigt war, die unterschiedliche Menschen zu einer Gemeinde verbunden hat. Es ist das Evangelium von Jesus Christus, das die Einheit der Gemeinde begründet. Aus diesem Grund ist es sinnlos, an dessen Stelle etwas Anderes – wie etwa die Berufung auf bestimmte
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als Sohn Gottes verehrten.“ Zum Thema s. auch Lührmann, SUPERSTITIO. Der Begriff begegnet bei Tac. Ann. XV 44,2f (s. dazu die Hinweise in Kapitel 7 dieser Arbeit). Zu dieser Stelle s. die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 8 dieser Arbeit. Das Graffito ist im Palatin Hill Museum in Rom zu besichtigen. Eine Abbildung davon findet sich etwa bei Reinmuth, Paulus, 143. JosAp 2,80: „In diesem Heiligtum nämlich, hat Apion zu verkünden sich erkühnt, hätten die Juden den Kopf eines Esels aufgestellt und würden diesen verehren und so viel kultischen Aufwand um ihn treiben; und zwar sei dies, so behauptete er, an die Öffentlichkeit gedrungen, als Antiochus Epiphanes den Tempel plünderte: Da sei auch jener Kopf gefunden worden, in Gold gefertigt und viel Geld wert.“ Übersetzung nach Siegert (Hg.), Ursprünglichkeit 1, 172. S. dazu auch die Erläuterungen bei Siegert (Hg.), Ursprünglichkeit 2, 106.110. Tac. Hist. 5,4; Plut. Is. 363 c–d; Plut. Symp. 670 d–e. Bernhardt, Revolution, 248. Tert.apol. 16,1–5.12–14. Tertullian nimmt ausdrücklich auf die „Verdächtigung“ (suspitio) des Tacitus Bezug und erklärt, dieser habe den Christen unterstellt „als Verwandte der jüdischen Religion dem Kult desselben Götterbildes“ zu dienen (16,3).
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Persönlichkeiten – treten zu lassen. Die Unterschiede, die es sonst unter Menschen gibt, werden durch das Christusgeschehen gerade relativiert. Auf diese Weise identifiziert Paulus das vom Kreuz Christi absehende Streben nach „Weisheit“ als den eigentlichen Grund für die „Spaltungen“ und Streitigkeiten in Korinth. Diese Irritationen sprechen demnach nicht gegen die Kreuzespredigt, sondern sind darin begründet, dass einige in Korinth etwas Anderes als das Evangelium, und das heißt: etwas Anderes als Jesus Christus selbst ihr Leben bestimmen lassen. Anlass dazu dürfte auch die Ablehnung bieten, die die christliche Gemeinde in ihrem Umfeld erfährt. Diese aber, so macht Paulus in 1Kor 1,18–3,4 deutlich, ist gerade im Evangelium selbst begründet, denn dieses kann als wahre Weisheit nicht „andemonstriert“ werden, sondern erschließt sich selbst, und zwar bei denen, die Gott dazu erwählt hat. In diesem Kontext steht auch die Aussage in 1Kor 1,21, die nicht ganz leicht zu verstehen ist und deshalb in der Auslegung für einige Diskussionen gesorgt hat:60 a ἐπειδὴ γὰρ ἐν τῇ σοφίᾳ τοῦ θεοῦ Denn da an der Weisheit Gottes b οὐκ ἔγνω ὁ κόσμος διὰ τῆς σοφίας τὸν θεόν, die Welt durch die Weisheit Gott c εὐδόκησεν ὁ θεὸς nicht erkannt hat, hat Gott beschlossen, d διὰ τῆς μωρίας τοῦ κηρύγματος durch die Torheit der Verkündigung e σῶσαι τοὺς πιστεύοντας die Glaubenden zu erretten.61 Zunächst ist hier eine Unterscheidung zu treffen, die für die Weisheitstheologie wichtig ist: So ist im Satzglied a zunächst von der Weisheit Gottes die Rede, während im darauffolgenden Satzglied b von der Weisheit der Menschen gesprochen wird.62 In der Weisheitstheologie geht es darum – wie weiter unten zu erörtern ist – , die Verbindung aufzuzeigen zwischen der Weisheit der Menschen und der Weisheit Gottes. In 1Kor 1,21 sind beide Größen aber einander gegenübergestellt. Es ist deshalb nicht angemessen, die Rede von der σοφία τοῦ θεοῦ „mit der Weisheit Gottes, die in der Schöpfung, Geschichte und Tora wirksam ist“, gleichzusetzen und 1Kor 1,21 dementsprechend von Röm 1,19–23 und SapSal 13,1.5.7 her zu interpretieren.63 Demnach wolle Paulus an dieser Stelle „den Weisheitsdrang der 60 Eine Zusammenstellung der unterschiedlichen Deutungen der Aussage bietet Kammler, Kreuz, 79–88, aaO., 88–100 bietet Kammler dann seine eigene Interpretation der Passage. 61 Vgl. die Übersetzung bei Kammler, Kreuz, 123. Kammler übersetzt die Wendung εὐδόκησεν ὁ θεός mit „hat Gott beschlossen“. Deutlich wird an dieser Übersetzung, dass es sich beim εὐδοκεῖν Gottes nicht nur um eine Willensregung handelt, sondern dass dieser Wille unmittelbare Folgen hat, oder umgekehrt, dass das „Gefallen“ Gottes an seinem Handeln erkennbar wird. Zur Bedeutung „für gut halten“, „beschließen“, „wollen“ s. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 646, s.v. εὐδοκέω 1. 62 So mit Recht Wolff, 1Kor, 38. Die Weisheit der Menschen ist mit der in V. 20 genannten σοφία τοῦ κόσμου identisch. 63 So Wolff, aaO., 38, ähnlich Schrage, 1Kor I, 179f, der dabei sowohl eine Deutung aus der Erkenntnis Gottes „aus den Schöpfungswerken“ (aaO., 179) als auch als ein Verständnis der „Weisheit
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
Apollos-Gruppe“ kritisieren, „die durch weisheitliches (noetisch-idealistisches) Erkennen die Fülle der göttlichen Weisheit durchdringen will, dabei aber gerade die Kreuzesbotschaft zu kurz kommen läßt“.64 Paulus richtet sich an dieser Stelle allerdings nicht grundsätzlich gegen das weisheitliche Bemühen um Gotteserkenntnis. Er fragt vielmehr danach, wo genau diese Erkenntnis zu finden ist. Hans-Christian Kammler hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff σοφία τοῦ θεοῦ im Kontext von 1Kor 1f an allen Stellen (1,24.30; 2,6f), an denen er begegnet, jeweils „eindeutig christologisch gefüllt“ ist.65 So möchte Paulus an dieser Stelle nicht sagen, dass Gott die Kreuzespredigt gleichsam als „zweiten Versuch“, nachdem die erste Offenbarung (in der Schöpfung) nicht „funktioniert“ hätte, gewählt hätte.66 Vielmehr möchte Paulus bereits in 1Kor 1,21 darauf hinaus, dass „Gottes Weisheit“ in Jesus Christus besteht, anders formuliert: dass Jesus Christus die Präsenz Gottes in der Welt ist. Diese „Weisheit Gottes“ haben die Menschen durch ihre eigene Weisheit nicht erkannt. Deshalb rettet Gott durch die Verkündigung des Evangeliums, die den „Verlorenen“ als „Torheit“ erscheint, durch die er aber diejenigen „rettet“, die zum Glauben kommen und die mit denen identisch sind, die nach 1Kor 1,18 das „Wort vom Kreuz“ als δύναμις θεοῦ erfahren. Kammler hat in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen, dass sich 1Kor 1,21 damit als eine Parallelaussage zu 1Kor 2,8–10 erweist.67 Dort führt Paulus den im ersten Argumentationsgang (1,18–31) entwickelten Gedanken weiter, dass sich am Verhalten der Menschen zum Kreuz Jesu ihre Gotteserkenntnis zeigt. Für unseren Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass Paulus in 1Kor 1,18–25 keine weisheitliche Schöpfungstheologie voraussetzt, sondern schlicht feststellt, dass die Reaktion auf die Kreuzespredigt die menschliche Weisheit ins Unrecht setzt. Er greift demnach nicht auf eine bereits ausformulierte „Weisheitstheologie“ zurück – selbst wenn eine solche von einigen in Korinth vertreten worden sein mag – , sondern entwickelt ab 1Kor 1,24 seine eigene Rede von „Gottes Weisheit“, die für ihn unlöslich mit der Kreuzespredigt zusammenhängt. Paulus knüpft damit wohl durchaus an die Frage nach der Weisheit an, die im Umfeld der korinthischen Gemeinde virulent ist, nicht aber an ein bestimmtes Konzept von „Weisheitstheologie“. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass Paulus mit der Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης ein Schlagwort seiner korinthischen Gegner aufgreift, das er kreuzestheologisch korrigieren würde. Er deckt vielmehr grundsätzlich auf, dass seine Rede von dem gekreuzigten Christus als Gottes Weisheit dort nicht verstanden werden kann, wo sich mit dem Blick auf
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Gottes“ im Sinn eines „weisheitlichen Plan[s] Gottes für möglich hält.“ Auch Merklein, 1Kor I, 182 erklärt 1Kor 1,21 von Röm 1,19–21 her. Merklein, 1Kor I, 183. Kammler, Kreuz, 82. AaO., 85. AaO., 90.
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Christus nicht auch gleichzeitig der Blick auf Gott ändert. Die impliziten Gottesvorstellungen derer, die die Kreuzespredigt ablehnen, lassen sich mit der These der Offenbarung Gottes in Christus nicht vereinbaren. Diesen Gedanken vertieft Paulus in 1Kor 2,6–16. Hatte Paulus zunächst die Kreuzespredigt als Weisheit von der Weisheit der Welt unterschieden (1Kor 1,18–25), so entfaltet er nun, inwiefern sich die Kreuzespredigt selbst als wahre Weisheit erweist (1Kor 2,6–16). In diesem Zusammenhang steht die Rede vom κύριος τῆς δόξης (1Kor 2,8) und der δόξα der Glaubenden (1Kor 2,7), auf die es im Zusammenhang unserer Untersuchung in besonderer Weise ankommt. 3.3
Weisheit und Gotteserkenntnis nach 1Kor 2,6–16
Auch die Auslegung des Abschnitts 1Kor 2,6–16 ist von der Frage beherrscht, welche religionsgeschichtlichen Vorstellungen für die paulinische Argumentation vorausgesetzt werden können. Im Anschluss an Hans Conzelmann wird die These vertreten, dass Paulus mit der in 1Kor 2,6 genannten „Weisheit“, von der er „unter den Vollkommenen“ rede (σοφίαν δὲ λαλοῦμεν ἐν τοῖς τέλειοις)68 , eine über die Kreuzespredigt hinausgehende „Weisheitsrede“ meine, die sich nur an bestimmte, „fortgeschrittene“ Christen richte.69 So erklärt Christian Wolff : „Von der Missionspredigt (2,1–5) wird eine Weisheitsverkündigung abgehoben. Sie hat einen anderen Hörerkreis, nämlich die τέλειοι, und ihr Wesen ist – im Unterschied zur Menschenweisheit (V.5) – nicht von der gottfernen, vergänglichen Welt (1,20) geprägt, nicht einmal von deren ἄρχοντες. Die Weisheit, von der Paulus jetzt reden wird, hat mit ,diesem Äon‘ grundsätzlich nichts gemein, weil es in ihr um den gekreuzigten ,Herrn der Herrlichkeit‘ (V.8) geht, der den neuen Äon heraufführt.“70
Wolff hatte allerdings selbst darauf aufmerksam gemacht, dass der Abschnitt 1Kor 2,6–16 eng mit 1,18–31 verbunden ist.71 Auch in diesem Abschnitt hatte
68 Mit der Formulierung im Plural meint Paulus an dieser Stelle wohl in erster Linie sich selbst und seine Verkündigung. Wie bereits zum Ersten Thessalonicherbrief ausgeführt, zeigt Paulus allerdings kein Interesse daran, seine eigene Verkündigung etwa von derjenigen seiner Mitarbeiter zu unterscheiden (vgl. Schrage, 1Kor I, 248f). Es kommt ihm darauf an, diejenige Verkündigung zu charakterisieren, die in Korinth Glauben gewirkt hat. Schließlich wird sich ja allein am „Fundament“, das gelegt wurde, erweisen, welche Verkündigung das Wort Gottes vermittelt hat (1Kor 3,11–15). 69 Conzelmann, 1Kor, 83–85. 1Kor 3,1ff zeigen Conzelmann zufolge, „daß Paulus nur eine höhere Klasse der Glaubenden“ meint (aaO., 83). Der Ausdruck τέλειοι sei „Mysteriensprache“ (ebd.), deren Gebrauch sich auch bei Philo beobachten lasse (aaO., 84). 70 Wolff, 1Kor, 53. 71 Ebd.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
Paulus ja bereits zweimal von der „Weisheit Gottes“ (1,24: θεοῦ σοφία; 1,30: σοφία ἀπὸ θεοῦ) gesprochen. Beide Verse machen deutlich, dass die „Weisheit Gottes“ christologisch gefüllt ist. Gemeint ist, dass Christus „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ ist und dass Christus Jesus „für uns zur Weisheit, die von Gott kommt, geworden“ ist (1,30). Beide Male geht es also darum, dass in Jesus Christus Gott selbst zugänglich wird. 1Kor 2,6 nimmt nun nur das Stichwort σοφία auf, ohne es inhaltlich näher zu bestimmen. Diese Bestimmung ist bereits vorher erfolgt. Paulus führt im folgenden Abschnitt die Weisheitsthematik weiter: Es geht nun darum, um was für eine Art „Weisheit“ es sich handelt, von der Paulus redet. Und 1Kor 2,8b hebt noch einmal ausdrücklich – wie gleich noch näher zu entfalten ist – auf die Kreuzigung Jesu ab und thematisiert damit den Zusammenhang von „Weisheit“ und „Kreuz“. Die in 1Kor 2,6 genannte „Weisheitsrede“ ist deshalb mit der Kreuzespredigt identisch,72 und sie ist auch nicht von der „Missionspredigt“ zu unterscheiden.73 Wenn Paulus in 1Kor 3,2 davon spricht, er habe den Korinthern „Milch, nicht feste Speise“ gegeben, weil sie es „noch nicht vertragen“ (γάλα ὑμᾶς ἐπότισα, οὐ βρῶμα· οὔπω γὰρ ἐδύνασθε), dann meint er auch dort nicht, dass er den Korinthern nur eine „Teilwahrheit“ des christlichen Glaubens oder einen „Anfangsunterricht“ mitgeteilt habe. Vielmehr macht er hier auf die eigentlich irritierende Tatsache aufmerksam, dass die Korinther überhaupt noch einer Belehrung durch den Apostel bedürfen. Der Apostel hat ihnen „Milch“ zu trinken gegeben. Aber nicht einmal diese haben sie „vertragen“. Als solche, die den νοῦς Χριστοῦ haben (2,16), bedürften sie eigentlich keiner Belehrung mehr. Sie erweisen sich durch die Streitigkeiten untereinander aber als „Fleischliche“, die der Erinnerung bedürfen, die Paulus ihnen mit dem Ersten Korintherbrief gibt. Ihr Verhalten, in dem sie sich auf einzelne Autoritäten berufen und diese damit faktisch an die Stelle Jesu Christi setzen, ist ein eklatanter Widerspruch zu ihrem „Sein in Christus“, von dem 1Kor 3,1b spricht.74 Auch hier lässt sich an den Ersten Thes-
72 So mit Recht Kammler, Kreuz, 189–191; Konradt, Kreuzestheologie, 316. 73 1Kor 2,6–3,4 lässt sich nicht auf der Linie von Hebr 5,11–6,12 interpretieren, wie es etwa Rose, Hebr, 94 tut, der an beiden Stellen einen Beleg für die Unterscheidung „verschiedene[r] Stufen der christlichen Unterweisung“ sieht. In Hebr 6,2 werden mit „Taufen, Handauflegung, Totenauferstehung und ewigem Gericht“ konkrete Topoi genannt, die über das in 6,1 genannte „anfängliche Wort von Christus“ hinausgehen. Das ist in 1Kor 2 und 3 nicht der Fall. Hier geht es durchweg darum, die Konsequenzen aus der im „Wort vom Kreuz“ erschlossenen Wahrheit zu ziehen. Kammler, Kreuz, 241 lehnt eine Interpretation der Metaphern von „Milch“ und „fester Speise“ (1Kor 3,2) auf der Linie von Hebr 5,11ff deshalb mit Recht ab. 74 In diesem Sinne interpretiert diesen Vers auch Kammler, aaO., 243: „Der Apostel will den Korinthern keinesfalls in Wahrheit den Geistbesitz und damit das Christsein überhaupt absprechen. Er will ihnen vielmehr durch die hyperbolisch-polemische Rede drastisch vor Augen stellen, daß sie sich in einem elementaren Widerspruch zu ihrem ,Sein in Christus‘ befinden.“ Wolff, 1Kor, 64 setzt bei seiner Interpretation die oben zitierte Unterscheidung zwischen „Missionspredigt“ und darüber
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salonicherbrief erinnern: In 1Thess 3,10 spricht Paulus davon, dass er erneut zur Gemeinde kommen will, um „hinzuzufügen, was euch an eurem Glauben noch fehlt“ (καταρτίσαι τὰ ὑστερήματα τῆς πίστεως ὑμῶν). Was den Glaubenden noch „fehlt“, wird in den folgenden Ausführungen (1Thess 4,13–5,11) deutlich, die ja textpragmatisch an die Stelle des noch ausstehenden erneuten Besuchs des Apostels in Thessaloniki treten. In 1Thess 4,14 erinnert Paulus unmittelbar daran, was die Thessalonicher und er selbst glauben (εἰ γὰρ πιστεύομεν ὅτι Ἰησοῦς ἀπέθανεν καὶ ἀνέστη), nämlich genau das, was er in 1Kor 15,3f als den präzisen Inhalt des Evangeliums vorstellt. Aus diesem Glaubensinhalt gilt es nun schlicht die fälligen Konsequenzen zu ziehen. Genau darauf kommt es auch in Korinth an, wie sich dann in 1Kor 1,11 und der sich mit den Versen 12ff anschließenden Argumentation zeigt. Und genau darauf kommt es auch nach 1Kor 3,1–4 an: Die Korinther sollen sich an das erinnern, was sie zu Glaubenden gemacht hat, und daraus die Konsequenz ziehen, dass eine Berufung auf menschliche Autoritäten, die die Gemeinschaft der Glaubenden gefährdet, im Widerspruch zu ihrer im Christusgeschehen begründeten Existenz steht. Auch sprachlich legt sich nahe, dass mit den in 1Kor 2,6 genannten τέλειοι grundsätzlich alle an Christus Glaubende bezeichnet werden.75 Diese Bezeichnung lässt sich als eine Charakterisierung der Glaubenden verstehen, die mit der in V. 7b beschriebenen Bestimmung der Glaubenden zur „Herrlichkeit“ unmittelbar zusammenhängt. Zum Verständnis der Glaubenden als τέλειοι lohnt sich ein Blick darauf, wie Paulus die Glaubenden an anderen Stellen beschreibt. In 1Kor 1,2 spricht er die Gemeindeglieder in Korinth als „berufene Heilige“ (κλητοὶ ἅγιοι) an. „Geheiligt“ sind sie „in Christus Jesus“. Ein „Mehr“ an „Heiligung“ gibt es nicht, da damit die Verbindung mit Gott und Jesus Christus gemeint ist, die nicht mehr überboten werden kann. In 1Kor 1,7 attestiert Paulus den Korinthern, dass sie „keinen Mangel haben an irgendeiner Gabe“. Sie sind in Jesus Christus bereits in die Gemeinschaft mit dem heiligen Gott hineingenommen worden. Eine graduelle Veränderung gegenüber diesem Status gibt es für Paulus nicht. Auch seine Ermahnungen an die Gemeinde sind im Wesentlichen als wirksame Erinnerungen zu
hinausgehender Belehrung voraus und paraphrasiert 1Kor 3,2b.3a mit den Worten: „Nicht einmal jetzt, d. h. mehrere Jahre nach der Gemeindegründung, haben die Korinther die Voraussetzung dafür, mehr als die Anfangsverkündigung in sich aufzunehmen.“ Das sagt Paulus an dieser Stelle allerdings nicht! Er weist die Korinther vielmehr darauf hin, dass sie sich in einem Widerspruch gerade zur Kreuzespredigt befinden, wenn sie „Eifer und Streit“ unter einzelnen Gemeindegliedern und deren Gruppierungen zulassen. Daran wird deutlich, dass die Kreuzespredigt für Paulus keiner „Ergänzung“ bedarf, sondern lediglich in ihrer Konsequenz für das Leben der Glaubenden begriffen werden muss. 75 Das betont – trotz der oben vorgetragenen Deutung – auch Wolff, aaO., 54.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
verstehen an das, was im Evangelium enthalten ist und was sie durch die Verbindung mit Christus bereits sind.76 Im Ersten Korintherbrief verwendet Paulus den Begriff τέλειος noch zwei Mal: in 1Kor 13,10 und in 14,20. „Das Vollkommene“ (τὸ τέλειον), das noch erwartet wird und das die Erkenntnis „aus Stücken“ (ἐκ μέρους) ablösen wird (1Kor 13,10), ist eine Erwartung, auf die alle Glaubende zugehen. Im Blick auf die Beurteilung der Glossolalie fordert Paulus die Glaubenden auf, „vollkommen“ (τέλειοι) zu sein. Sie sollen begreifen, dass die Glossolalie gerade nicht dazu da ist, Gemeindeglieder untereinander abzuheben, sondern eine Außenwirkung hat. Auch hier sind gerade keine unterschiedlichen Grade der Erkenntnis unter den Gemeindegliedern angesprochen, sondern eine Haltung, die der gemeinsam geteilten Erkenntnis entspricht. Wenn Paulus die Glaubenden in 1Kor 2,6 als „Vollkommene“ anspricht, dann hebt er darauf ab, dass sie diejenigen sind, für die die Kreuzespredigt „Weisheit“ ist. Von ihrer Umwelt werden sie gerade nicht als „Vollkommene“ wahrgenommen, sie sind es nur aus der Perspektive des Christusglaubens. In 1Kor 2,6–16 geht es gerade darum, diese Perspektive im Verhältnis zu einer Außenperspektive – der „Weisheit der Welt“ nämlich –, darzustellen. Der Abschnitt lässt sich seinerseits in zwei Teile gliedern: In den Versen 6–9 handelt Paulus von der Art der Weisheit Gottes und davon, dass sich die Haltung der Menschen zu dieser Weisheit an ihrer Haltung zu Jesus Christus als dem „Herrn der Herrlichkeit“ zeigt. In den Versen 10–16 schließlich entfaltet Paulus pneumatologisch, wie es zur Öffnung der Menschen für die Weisheit Gottes kommt. An der pneumatologischen Weiterführung der Ausführungen von 1Kor 2,6–9 in 1Kor 2,10–16 bestätigt sich, was wir bereits zu 1Thess 1,2–7 bemerkt haben: Die Gegenwart Gottes in Jesus Christus – oder: Jesus Christus als Gottes Gegenwart – lässt sich für Paulus nur durch das Motiv des Geistes verständlich machen. Darin zeigt sich das, was wir bereits als die „trinitarische Struktur“ der paulinischen Rede von Gott bezeichnet haben. 3.4
Der „Herr der Herrlichkeit“ als Gottes Gegenwart (1Kor 2,6–9)
3.4.1 Antithesen
In 1Kor 2,6a stellt Paulus das Stichwort σοφία betont voran: „Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen“. Auch hier ist wieder darauf zu achten, woran Paulus dabei im unmittelbaren Kontext anknüpft. So hatte er in 1Kor 2,5 die „Weisheit der Menschen“, ähnlich wie in 1Kor 1,18, der „Kraft Gottes“ gegenübergestellt. Es lässt
76 Vgl. Landmesser, Performativ, 551. Auf die damit verbundene These, dass die paulinischen Imperative als Performative aufzufassen sind, werde ich im Zusammenhang mit der Besprechung von Phil 2,6–11 in Kapitel 8 dieser Arbeit eingehen.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
sich an dieser Stelle sowohl eine inhaltliche Nähe zu 1,18 feststellen als auch zu 1Thess 1,5, auf deren sachliche Berührung mit 1Kor 1,18 oben bereits hingewiesen wurde. Zur Verdeutlichung seien die Aussagen 1Kor 2,4f und 1Thess 1,5 einander gegenübergestellt: 1Thess 1,5 1Kor 2,4+5 ὅτι τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν
καὶ ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου
οὐκ ἐγενήθη εἰς ὑμᾶς ἐν λόγῳ μόνον
οὐκ ἐν πειθοῖ σοφίας λόγοις77
ἀλλὰ καὶ ἐν δυνάμει
ἀλλ’ ἐν ἀποδείξει πνεύματος
καὶ ἐν πνεύματι ἁγίῳ
καὶ δυνάμεως,
καὶ [ἐν] πληροφορίᾳ πολλῇ, καθὼς οἴδατε οἷοι ἐγενήθημεν
ἵνα ἡ πίστις ὑμῶν μὴ ᾖ
[ἐν] ὑμῖν δι’ ὑμᾶς.
ἐν σοφίᾳ ἀνθρώπων ἀλλ’ ἐν δυνάμει θεοῦ.
An beiden Stellen hebt Paulus auf seine Erstverkündigung an den jeweiligen Orten ab, durch die die Gemeinden gegründet worden sind. An beiden Stellen negiert der Apostel zunächst, dass die Wirkung allein auf die menschliche Art der Rede zurückgeführt werden könne und stellt dem das Wirken des πνεῦμα gegenüber. Während Paulus in 1Thess 1,5 aber stärker auf die personal vermittelte Beziehung zu Christus hinweist,78 geht es ihm in 1Kor 2,4f darum, die δύναμις θεοῦ der menschlichen Weisheit gegenüberzustellen. Wenn er in 1Kor 2,6 den Inhalt seiner Verkündigung dann trotzdem als σοφία bezeichnet, dann deshalb, weil es sich dabei um eine ganz andere Art von „Weisheit“ handelt, die sich im kraftvollen Wirken des Evangeliums artikuliert. Diese einerseits negative Bewertung der menschlichen Weisheit und die andererseits positiv konnotierte Rede von der „Weisheit Gottes“, von der Paulus dann in 2,7 handelt, entspricht genau demjenigen Nebeneinander, das sich bereits in 1Kor 1,18–25 beobachten ließ (s. o.). Dass es um eine Bestimmung der Art der genannten „Weisheit“ geht, zeigt sich darin, dass auch die folgenden Verse antithetisch strukturiert sind:79 6 Σοφίαν δὲ λαλοῦμεν ἐν τοῖς τελείοις, σοφίαν δὲ οὐ τοῦ αἰῶνος τούτου οὐδὲ τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου τῶν καταργουμένων·
7
ἀλλὰ λαλοῦμεν θεοῦ σοφίαν ἐν μυστηρίῳ τὴν ἀποκεκρυμμένην, ἣν προώρισεν ὁ θεὸς πρὸ τῶν αἰώνων εἰς δόξαν ἡμῶν,
8
ἣν οὐδεὶς τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου ἔγνωκεν·…
77 Zur Begründung dieser Lesart s. Kammler, Kreuz, 163f (anders Wolff, 1Kor, 49). Diskussion bei Metzger, Textual Commentary, 481. 78 Vgl. Portenhauser, Identität, 263f. 79 Zur Struktur des Abschnitts s. Kammler, Kreuz, 192–197.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
Das Stichwort σοφία wird in den Versen 6b und 7a jeweils aufgenommen und antithetisch inhaltlich gefüllt. Die „Weisheit“ wird einmal negativ bestimmt als σοφία οὐκ τοῦ αἰώνου τούτου und einmal positiv als θεοῦ σοφία. Die beiden Arten von „Weisheit“ werden dann jeweils charakterisiert: Die „Weisheit dieses Zeitalters“ zeigt sich an den „Herrschenden dieses Zeitalters“, die sich als vergänglich erweisen werden,80 die „Weisheit Gottes“ ist dadurch gekennzeichnet, dass sie „im Geheimnis verborgen“ ist.81 Während die eine Art der Weisheit zur Zeit als die sichtbar herrschende erscheint, sich aber gerade als vergänglich erweist, ist die wahre Weisheit verborgen, wird aber gerade darin als diejenige offenbar, die sich am Ende als die letztgültige Wirklichkeit erweist. Dieser Gedanke der Verborgenheit der Weisheit ist für die Apokalyptik charakteristisch,82 wobei sich dafür gerade auch Texte aus dem Äthiopischen Henochbuch anführen lassen. Dasselbe gilt für den Gedanken der Weisheit als eines eschatologischen Heilsgutes für die Erwählten.83 Paulus berührt in 1Kor 2,7–9 demnach eine Frage, die auch die frühjüdische Apokalyptik und bereits die Anfänge der „Weisheitstheologie“ beschäftigt: die Frage nämlich, wo und wie Gottes Weisheit in der Welt zu finden ist. Diese Zusammenhänge sind an anderer Stelle zu entfalten,84 hier genügt zunächst der Hinweis, dass die Frage nach Gottes Weisheit im Grunde die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt ist. Die Frage nach der Erkenntnis der Weisheit Gottes ist direkt verbunden mit der Frage nach der Erkennbarkeit Gottes selbst. Die Frage nach Gottes Weisheit zielt auf Gott als den „tragenden Grund“ der Welt. Wenn eine „Weisheit“ aber ihren Ursprung im gegenwärtigen, vergehenden Äon hat, dann ist sie selbst vergänglich.
80 Das Verb καταργέω („vernichten“; „vertilgen“; „beseitigen“) weist hier auf die Vergänglichkeit der Herrschenden dieses Zeitalters hin (Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 848, s.v. καταργέω 2). 81 Syntaktisch ist ἐν μυστηρίῳ nicht etwa auf λαλοῦμεν zu beziehen – was wiederum im Sinne einer „geheimnisvollen“, sich nur an „Eingeweihte“ richtenden Verkündigung interpretiert werden könnte –, sondern auf das folgende Partizip ἀποκεκρυμμένην, das sich seinerseits auf das Nomen σοφία bezieht. Auf σοφία beziehen etwa auch Lindemann, 1Kor, 63; Schrage, 1Kor I, 251; Wolff, 55 mit Anm. 175, anders Weiss, 1Kor, 55. Conzelmann, 1Kor, 78 mit Anm. 1 hält eine Entscheidung in dieser Frage für nicht möglich. 82 Bornkamm, μυστήριον, 821f, vgl. Wolff, 1Kor, 55; Zeller, 1Kor, 135. Dieser Gedanke ist bereits in alttestamentlichen Texten zu finden (Hi 28,12f; Bar 3,31). 83 So ist in 1Hen 9,6 von den „ewigen Geheimnissen“ die Rede, „die im Himmel bereitet werden“. Von der Weisheit heißt es in 1Hen 42,2, dass sie ihre Wohnung im Himmel hat, weil sie auf der Erde keinen Ort finden konnte. Henoch wird vom Engel Michael zu den Geheimnissen im Himmel geführt (1Hen 40,2): Der Engel zeigt Henoch „alle verborgenen Dinge“, nach 46,2 zeigt er ihm „alle Geheimnisse über den Menschensohn“. Vergleichbar ist 1Hen 71,3f. Hier findet sich auch der Gedanke, dass die Geheimnisse für die „Heiligen“ bestimmt sind. Nach Bar 3,37 hat Gott „den ganzen Weg des Wissens“ Jakob und Israel gegeben. Auch in Qumran ist der Gedanke belegt, dass Gott in der Endzeit die Wahrheit offenbart: 1QS IV, 19. Die Unergründbarkeit der göttlichen Weisheit wird auch in SyrBar 14,9 zur Sprache gebracht. 84 S. dazu den Abschnitt unten „Zur Frage der Weisheitstheologie“.
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Stammt die Weisheit hingegen von Gott, dann hat sie ihren Grund im Schöpfer der Welt, der nicht vergänglich ist. Als Schöpfer ist Gott der Grund der Welt, der bleibt.85 Dieser Gedanke ist sachlich eng mit dem zweiten Stichwort verbunden, das hier begegnet: mit dem Begriff der δόξα. In 1Kor 2,7 und 8 wird das Wort indes in unterschiedlicher Weise verwendet: In V. 7 ist es auf die Glaubenden bezogen und markiert das Ziel, zu dem Gott die Glaubenden bestimmt hat. In V. 8 hingegen dient das Wort δόξα zur Qualifizierung des κύριος, mit dem an dieser Stelle offensichtlich Jesus gemeint ist. Auffällig ist, dass Paulus die Rede von der θεοῦ σοφία mit einer Beziehungsaussage verbindet. Die „Weisheit Gottes“ ist den Glaubenden bestimmt εἰς δόξαν ἡμῶν. Für das Verständnis von 1Kor 2,7f entscheidend ist die Frage, ob und wie die beiden Aussagen über die δόξα zusammenhängen. 3.4.2 Ein paulinisches „Kontrastschema“
Zunächst einmal ist aber zu klären, wie Paulus das negative Verhältnis der Welt zur Weisheit entfaltet. Zwei Mal werden in den Versen 6 und 8 die ἄρχοντες τοῦ αἰῶνος τούτου genannt (1Kor 2,6b.8a). Nicht zuletzt die auch in der Apokalyptik begegnenden Vorstellungen wie die Verborgenheit und endzeitliche Offenbarung der Weisheit, aber auch die Formulierung „dieses Äons“, veranlassen manche Ausleger dazu, unter den ἄρχοντες τοῦ αἰῶνος τούτου „dämonische Mächte“ zu verstehen.86 Als ein Beispiel für ein solches Verständnis in der frühchristlichen Literatur ließe sich auf IgnEph 19,1 verweisen, wo es heißt: Καὶ ἔλαθεν τὸν ἄρχοντα τοῦ αἰώνος τούτου ἡ παρθενία Μαρίας καὶ ὁ τοκετὸς αὐτῆς, ὁμοίως καὶ ὁ θάνατος τοῦ κυρίου – Und es blieb dem Herrscher dieser Welt verborgen die Jungfrauenschaft Marias und ihre Niederkunft, ebenso auch der Tod des Herrn.
Hier sind freilich nicht „dämonische Mächte“, sondern der Satan (vgl. Joh 12,31; 14,30; 16,11) gemeint. Die Fortführung des Gedankens, in dem Ignatius von Gottes σιγή spricht, in der „Gottes Geheimnisse“ vollbracht worden seien, erinnert an gnostische Vorstellungen.87 Im Blick auf Paulus ist zu fragen, ob derartige Vorstellungen bereits vorausgesetzt werden können. Gleichwohl gibt es einige motivische Berührungen zwischen IgnEph 19,2 und 1Kor 2,6–9, vor allem das Motiv des „Geheimnisses“ und der „Verborgenheit“ des Heilshandelns Gottes in der Welt. Ignatius beschreibt hier aber das gesamte Christusgeschehen, das Inkarnation und Tod Jesu 85 An dieser Stelle lässt sich eine Gemeinsamkeit zwischen der biblischen Tradition und der platonischen Gottesvorstellung feststellen. 86 So etwa Conzelmann, 1Kor, 85 und bereits Lietzmann, Kor I/II, 12; Schrage, 1Kor I, 250, wieder erwogen bei Zeller, 1Kor, 134f. 87 Fischer, SU 1, 157, Anm. 85 und 86; Schlier, Untersuchungen, 15.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
umfasst, während Paulus konkret das Ereignis der Kreuzigung Jesu in den Blick nimmt (V. 8). Auch aus diesem Grund ist es im Kontext von 1Kor 2,6–9 sehr viel wahrscheinlicher, dass Paulus bei den ἄρχοντες τοῦ αἰῶνος τούτου an politische Machthaber denkt, die er als Repräsentanten der Menschenwelt versteht.88 In diesem Sinne ist etwa in Ps 2,2; 32,10; Bar 3,16 und Sir 10,14 von den ἄρχοντες die Rede.89 Aufschlussreich könnte aber auch die Beobachtung sein, dass insbesondere in der lukanischen Passionstradition die ἄρχοντες erwähnt werden, womit auf die Verantwortung der politischen Führer für die Kreuzigung Jesu hingewiesen wird.90 Der Verfasser des Lukanischen Doppelwerkes stellt in dem sogenannten „Kontrastschema“ das Verhalten der politischen Autoritäten dem Heilshandeln Gottes gegenüber.91 In 1Kor 2,8 kommt auch Paulus auf die Kreuzigung Jesu zu sprechen, an der sich für ihn entscheidet, wie die Repräsentanten „dieses Zeitalters“ sich zur Weisheit Gottes verhalten. Diesen Gedanken schiebt Paulus mit einer Parenthese ein.92 Er durchbricht in 1Kor 2,8b den Gedanken, dass Gottes Weisheit von den ἄρχοντες τοῦ αἰῶνος τούτου nicht erkannt worden sei, mit dem irrealen Bedingungssatz: εἰ γὰρ ἔγνωσαν, οὐκ ἂν τὸν κύριον τῆς δόξης ἐσταύρωσαν – Denn wenn sie sie (sc. Gottes Weisheit) erkannt hätten, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. So verbindet Paulus einmal mehr seine grundsätzlich-theologischen Ausführungen mit einem Rekurs auf ein konkretes geschichtliches Ereignis: An diesem Ereignis zeigt sich in grundsätzlicher Weise die Stellung der Menschenwelt zu Gott. Dieser Zusammenhang unterstreicht, wie stark die paulinische Rede von Gott durch das Kreuzesgeschehen geprägt ist So könnte man sagen, dass Paulus in 1Kor 2,8 eine Art „Kontrastschema“ formuliert: Der scharfe Kontrast besteht darin, dass die ἄρχοντες gerade den κύριος τῆς δόξης gekreuzigt haben. Sie haben damit den gekreuzigt, der auf die Seite Gottes gehört. So wird die Tat der ἄρχοντες als Ausdruck ihrer Verschlossenheit für Gott erwiesen. Anders als im lukanischen „Kontrastschema“ steht hier nicht das Auferweckungshandeln der Kreuzigungstat gegenüber. Vielmehr hebt Paulus mit dem Begriff der δόξα auf die Gegenwart Gottes in Jesus ab (s. u.). Mit der Kreuzigung Jesu haben
88 In diesem Sinne verstehen den Ausdruck etwa Fee, 1Cor, 110f; Kammler, Kreuz, 212; Wolff, 1Kor 53f; Sellin, „Geheimnis“, 84f, abwägend Lindemann, 1Kor, 63. Vgl. Bachmann, 1Kor, 120, der darauf hinweist, dass diese Auslegung bereits in der Alten Kirche erwogen wurde. Bereits Heinrici, 1Kor, 95 bezeichnet den Bezug auf „Dämonen“ als „fraglich“ und verweist darauf, dass der Zusammenhang mit der Kreuzigung auf einen weltlich-politischen Kontext hindeutet. 89 Wolff, 1Kor, 53. 90 Lk 24,20; Apg 3,17; 4,26 (mit Zitat Ps 2,2), vgl. Lk 23,23.35. Darauf weist auch Schrage, 1Kor I, 253 hin. 91 Zum „Kontrastschema“ s. Bauspiess, Geschichte, 435.437–441. 92 Darauf weist Kammler, Kreuz, 195 hin. Die Passage 1Kor 2,6–9 wäre auch gut ohne den Vers 1Kor 2,8b.9 denkbar. Die in V. 10a erfolgende Entgegensetzung ἡμῖν δέ lässt sich direkt an V. 8a anschließen.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
die Repräsentanten der Welt bewiesen, dass sie Jesus nicht als Gottes Gegenwart erkannt haben. Auf diesen Gedanken kommt es Paulus hier an. Eindeutig ist, dass damit der „vorösterliche“ Jesus gemeint ist. Er ist für Paulus bereits Träger der göttlichen δόξα.93 Mit dieser – eigentlich offenkundigen – Aussage tun sich die Ausleger offensichtlich schwer. So erklärt etwa Christian Wolff , die Wendung ὁ κύριος τῆς δόξης könne in 1Kor 2,8 deshalb auf Jesus übertragen werden, weil Gott „dem Gekreuzigten in der Auferweckung seine eigene Herrlichkeit gegeben“ habe,94 und Dieter Zeller stellt die Frage, ob hier etwa „proleptisch die δόξα des Auferstandenen (vgl. 2Kor 3,18; 4,4) umschrieben“ werde, „die den politischen Machthabern noch nicht sichtbar war“95 . Von einem durch die Auferstehung bewirkten Statuswechsel Jesu ist in 1Kor 2,8 indes ebenso wenig die Rede wie von einer „proleptischen“ Offenbarung. Paulus will offensichtlich sagen, dass die politischen Machthaber bereits in der Begegnung mit dem irdischen Jesus mit Gottes „Herrlichkeit“ konfrontiert waren – auch wenn sie sie nicht wahrgenommen haben. Das entspricht dem, was oben bereits zu 1Kor 1,21 angedeutet wurde: „Gottes Weisheit“ offenbart sich nach paulinischem Verständnis in Jesus, sowohl vor als auch nach Ostern. Dabei sagt Paulus in 1Kor 1,18.21 nicht, dass die Tat der Kreuzigung μωρία sei, sondern vielmehr ihre Verkündigung als Heilsereignis. „Torheit“ vor der Welt ist die Botschaft, dass Gott in diesem Geschehen selbst gegenwärtig ist, weil er in dieser Person in der Welt ist. Die Verschlossenheit der Welt für Gottes Weisheit hat sich einmal in der Kreuzigung Jesu erwiesen, und sie erweist sich jeweils neu, wenn die Verkündigung – das „Wort vom Kreuz“ – als „Torheit“ abgewiesen wird. Eine ontologische Trennung zwischen dem „irdischen Jesus“ und dem „erhöhten Christus“ kennt Paulus dabei nicht! Sie wird in die Auslegung immer wieder eingetragen, wobei ein bestimmtes Verständnis etwa von Röm 1,3f oder Phil 2,6–11 im Hintergrund zu stehen scheint.96 Damit aber wird der paulinischen Argumentation in 1Kor 2,6–9 gerade die Spitze abgebrochen. Paulus stellt hier den Anspruch, dass der durch die Kreuzespredigt ausgelöste Christusglaube auch den Blick auf den „irdischen“ Jesus verändert (vgl. 2Kor 5,16)97 : Er wird als Ort der Gottespräsenz erkennbar. Diese Erkenntnis aber ist dem Menschen von sich aus nicht zugänglich. Sie muss ihm von Gott selbst erst erschlossen werden. Das entfaltet Paulus in den folgenden Versen 1Kor 2,10–16 mit dem Verweis auf das Wirken des Geistes, womit erkennbar wird, dass sich Paulus der Perspektivität seiner Rede von „Gottes Weisheit“ sehr bewusst ist:
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So mit Recht Kammler, Kreuz, 214. Wolff, 1Kor, 56. Zeller, 1Kor, 135. Diese beiden Texte werden deshalb jeweils in eigenen Kapiteln dieser Arbeit behandelt: Zu Röm 1,3f s. das Kapitel 7, zu Phil 2,6–11 das Kapitel 8 unserer Untersuchung. 97 S. dazu Landmesser, Der geschichtliche Ort, 179–181.
1Kor 2,7f im Kontext des Ersten Korintherbriefes
10 ἡμῖν δὲ ἀπεκάλυψεν ὁ θεὸς διὰ τοῦ πνεύματος· τὸ γὰρ πνεῦμα πάντα ἐραυνᾷ, καὶ τὰ βάθη τοῦ θεοῦ. 11 τίς γὰρ οἶδεν ἀνθρώπων τὰ τοῦ ἀνθρώπου εἰ μὴ τὸ πνεῦμα τοῦ ἀνθρώπου τὸ ἐν αὐτῷ; οὕτως καὶ τὰ τοῦ θεοῦ οὐδεὶς ἔγνωκεν
10 Uns aber hat Gott es offenbart durch den Geist; Denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes. 11 Denn wer von den Menschen kennt das, was den Menschen betrifft, außer der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch niemand das, was Gott betrifft, außer der Geist Gottes.
εἰ μὴ τὸ πνεῦμα τοῦ θεοῦ.
12 ἡμεῖς δὲ οὐ τὸ πνεῦμα τοῦ κόσμου ἐλάβομεν ἀλλὰ τὸ πνεῦμα τὸ ἐκ τοῦ θεοῦ, ἵνα εἰδῶμεν τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν·
12 Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, damit wir erkennen, was uns von Gott geschenkt wurde.
Mit den Worten ἡμῖν δέ in 1Kor 2,10a setzt Paulus die Perspektive der Glaubenden der Perspektive der nicht-glaubenden Welt entgegen. Diese Perspektive verdankt sich dem Wirken Gottes durch den Geist. An den Glaubenden ist demnach durch das Wirken des Geistes bereits jetzt geschehen, was V. 7b als den vorherbestimmten Heilswillen Gottes beschrieben hatte: Sie erkennen Gottes geheimnisvolle Weisheit, die in Jesus Christus besteht. Darin wird ihre Bestimmung zur „Herrlichkeit“ erkennbar, die sich ihnen dadurch erschließt, dass sie erkennen, wer Gott für sie ist. Wenn der Geist erschließt, was „uns von Gott geschenkt wurde“, dann bedeutet das: Den Glaubenden ist auch ihre eigene Identität nur als Glaubensgegenstand zugänglich.98 Paulus setzt dabei den erkenntnistheoretischen Grundsatz voraus, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann.99 Gotteserkenntnis kann es für den Menschen demnach nur geben, wenn Gott sich selbst erschließt. Dafür bedarf es des Geistes: Der göttliche Geist erforscht „die Tiefen Gottes“. Er erschließt demnach Gottes Wesen. Auf Gottes Wesen aber weist bereits die Rede von der δόξα in 1Kor 2,8 hin: Wenn Jesus als κύριος τῆς δόξης bezeichnet wird, dann wird er damit als Träger der göttlichen „Herrlichkeit“, die im Alten Testament das Wesen Gottes bezeichnet,100 sichtbar. Das aber bedeutet: Gottes Wesen wird erkannt, wenn
98 Conzelmann, 1Kor, 92 bezieht die Worte τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν auf „das Verstehen des Heilsgeschehens“. „Heilsgeschehen“ aber meint ein Geschehen für die Glaubenden. Sie erkennen also durch den Geist, wozu Gott sie durch das Christusgeschehen bestimmt hat. 99 Landmesser, Gott denken, 231; Lindemann, 1Kor, 59. Dieser Grundsatz wird bei Philo ausdrücklich formuliert: Philo gig. 9, s. dazu Sellin, „Geheimnis“, 87. 100 S. dazu Weinfeld, ָכּבוֹד, 27–29; Westermann, כבד, 802ff.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Jesus erkannt wird. In dieser Erkenntnis kommt die Bestimmung der Glaubenden zur δόξα zum Ziel. Um diesen Zusammenhang näher bestimmen zu können, ist der Begriff der δόξα in seinen unterschiedlichen Verwendungsweisen – nämlich in Bezug auf Jesus und in seinem Bezug auf die Glaubenden – zu untersuchen.
4.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
4.1
Zur Traditionsgeschichte des Titels ὁ κύριος τῆς δόξης
In den bisherigen Ausführungen sind einige Voraussetzungen gemacht worden, die im Folgenden begründet werden sollen. Das betrifft insbesondere den Begriff der δόξα. Die Bedeutungsbreite, die bei den neutestamentlichen Belegen festzustellen ist, entspricht der Semantik des hebräischen כּבוֹד, dessen griechische Entsprechung δόξα ist.101 Die neutestamentlichen Autoren folgen damit dem Sprachgebrauch der Septuaginta, die von 199 Belegen von ָכּבוֹדim Alten Testament 177 mit δόξα übersetzt.102 Im Hintergrund der unterschiedlichen Bedeutungen steht die Grundbedeutung der Wurzel „( כבדschwer sein“),103 die „Gewichtigkeit“ im physikalischen Sinn sowie „Bedeutung“ im geistigen Sinn enthält.104 Im Blick auf den Menschen kann sie das Ansehen, die Geltung oder die Ehre bezeichnen.105 Damit verbunden ist die Vorstellung, dass mit der Infragestellung seiner Ehre das Leben eines Menschen bedroht ist.106 Im Blick auf Gott bezeichnet das Wort die „Ehre“ oder „Herrlichkeit“ Gottes. Daraus entwickelt sich ein spezifisch „religiöser“ Sprachgebrauch – die Rede von dem ָכּבוֹד יהוה.107 Der Begriff bezeichnet explizit das Wesen Gottes, oder – mit einer viel zitierten Formulierung von Rolf Rendtorff – die „den Menschen erkennbare Seite des Wirkens Jahwes, in dem er selbst in seiner Macht of-
101 Hegermann, δόξα, 834. Die im außerbiblischen Griechisch häufigste Bedeutung „Meinung“, „Ansicht“ fehlt im Neuen Testament (aaO., 833). Das zeigt, dass der Begriff ganz von der biblischen Tradition (der Septuaginta) geprägt ist, wo die klassisch-griechische Bedeutung ebenfalls nicht vorkommt (Weinfeld, ָכּבוֹד, 25). 102 Weinfeld, ebd. 103 Gesenius, Handwörterbuch, 331 s.v. ;כבדKöhler/Baumgartner, Lexicon, 418, s.v. כבד. 104 Weinfeld, ָכּבוֹד, 24. 105 Hegermann, δόξα, 833; Westermann, כבד, 798. 106 Besonders eindrücklich ist Ps 7,6: מס ָלָא ֶרץ ַח ָיּי וְּכבוֹ ִד ֶלָﬠָפר ַיְשֵׁכּן ֹ „ – ִי ַרדּ ֹף אוֹ ֵיב ַנְפִשׁי ְו ַיֵשּׂג ְו ִי ְרDer Feind verfolge meine Seele und ergreife mich, er trete zu Boden mein Leben und meine Ehre lege er in den Staub.“ Vgl. Ps 4,3; Hi 19,9; Westermann, כבד, 800. 107 Köhler/Baumgartner, Lexicon, 421f, s.v. ;כבודWestermann, כבד, 802–812, vgl. Weinfeld, ָכּבוֹד, 27ff.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
fenbar wird“.108 Mit diesem „religiösen“ Sprachgebrauch hängt auch die Bedeutung von δόξα als „Machtglanz“, „göttliche Herrlichkeit“ und „sichtbarer Lichtglanz“ zusammen, der sich auch im Neuen Testament findet.109 Die Verbindung der Bezeichnung κύριος mit dem Begriff der δόξα in 1Kor 2,8 macht deutlich, dass es sich hierbei um den spezifisch theologischen Begriff von δόξα handelt, wie er sich im Alten Testament in der Wendung der ָכּבוֹד יהוהäußert. Das findet seine Bestätigung in der bereits angesprochenen Tatsache, dass es sich bei der Prädikation ὁ κύριος τῆς δόξης um eine Gottesprädikation handelt. Die Prädikation findet sich im Alten Testament allerdings nicht in dieser Form. Es lassen sich aber die ähnlich lautenden Prädikationen ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης (Ps 23,7–10 LXX) und ὁ θεὸς τῆς δόξης (Ps 28,3 LXX) finden, die sich im Hintergrund der Gottesprädikation im Äthiopischen Henochbuch vermuten lassen.110 Deutlich wird hier die Erscheinung der „Herrlichkeit Gottes“ als „Ausdruck des Willens Gottes, sich als Gott zu erkennen zu geben“.111 Damit kann die heilvolle Offenbarung gemeint sein, an vielen Stellen aber ist die Zuwendung Gottes zum Menschen auch als richtende Offenbarung verstanden.112 Das Aufscheinen des ָכּבוֹד יהוהist für den Menschen gefährlich und sogar lebensbedrohlich. Gerade im Zusammenhang mit der Sinai-Perikope ist hier ein Motiv gegeben, das wir auch im Zusammenhang mit der Rede vom „lebendigen Gott“ beobachtet haben.113 In den genannten Psalmen wird das Besondere der Begegnung mit der als ָכּבוֹד יהוהbezeichneten Wirklichkeit deutlich. In Ps 23,7–10 LXX heißt es:114 7 ἄρατε πύλας, οἱ ἄρχοντες ὑμῶν, 7 Erhebt die Tore, ihr Herrscher über euch, καὶ ἐπάρθητε, πύλαι αἰώνιοι, und lasst euch hinaufheben, ihr ewigen Tore, καὶ εἰσελεύσεται ὁ βασιλεὺς τῆς und es wird einziehen der König der δόξης. δόξα.
108 Rendtorff, Offenbarungsvorstellungen, 31, aufgenommen etwa von Langner, Herrlichkeit, 22; Weinfeld, ָכּבוֹד, 34. Hegermann, δόξα, 834 formuliert, das Wort bezeichne „das Wesen der Gottheit selbst in ihrer Manifestation“. 109 Hegermann, δόξα, 833. Vgl. etwa Lk 2,9; Mt 16,27; Apg 7,55; 2Kor 4,6. Zu den alttestamentlichen Belegen s. Weinfeld, ָכּבוֹד, 27f. 110 Auf Ps 23,7–10 LXX weist in diesem Zusammenhang etwa Wolff, 1Kor, 56 hin, auf Ps 28,3 LXX Conzelmann, 1Kor, 87 mit Anm. 63. 111 Langer, Herrlichkeit, 30. Langer arbeitet dies vor allem im Blick auf Texte aus dem Pentateuch heraus. 112 Ebd. 113 S. dazu das Nebeneinander von Dtn 5,24 und 5,26 (s. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit); Weinfeld, ָכּבוֹד, 31. 114 In der Übersetzung folge ich Septuaginta Deutsch, 772f.
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τίς ἐστιν οὗτος ὁ βασιλεὺς τῆς
8
Wer ist dieser König der δόξα?
δόξης; κύριος (Jahwe), stark und mächtig,
κύριος κραταιὸς καὶ δυνατός,
κύριος (Jahwe), mächtig im Krieg.
κύριος δυνατὸς ἐν πολέμῳ.
9
ἄρατε πύλας, οἱ ἄρχοντες ὑμῶν, καὶ ἐπάρθητε, πύλαι αἰώνιοι, καὶ εἰσελεύσεται ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης.
10 τίς ἐστιν οὗτος
9
Erhebt die Tore, ihr Herrscher über euch, und lasst euch hinaufheben, ihr ewigen Tore, und es wird einziehen der König der δόξα. 10 Wer ist dieser König der δόξα?
ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης; κύριος τῶν δυνάμεων, αὐτός ἐστιν ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης.
Der Herr der Heerscharen – Er ist der König der δόξα.
In der älteren Psalmenforschung wurde Ps 24 MT formgeschichtlich mit einem „liturgischen Zeremoniell, das … mit einem Einzug der heiligen Lade in den Tempel von Jerusalem verbunden war“, in Zusammenhang gebracht.115 Auch wenn die neuere Forschung gegenüber formgeschichtlichen Bestimmungen eines „Sitzes im Leben“ zurückhaltender geworden ist, so geht es in Ps 24 doch in jedem Fall um die Begegnung mit dem heiligen Gott, die liturgisch inszeniert wird.116 Für unseren Zusammenhang interessant ist die Kombination der Begriffe κύριος und δόξα. Gottes δόξα zeigt sich in seinen „machtvollen Taten“117 im Krieg. Es stellt sich die Frage, wer dieser Gott ist, dessen machtvolle Wirklichkeit erlebt wurde und dessen Gegenwart im Kult vergegenwärtigt wird. Die Antwort lautet: Diese Wirklichkeit ist JHWH, der Gott, den Israel mit seinem Namen kennt, der in der Septuaginta mit einem artikellosen κύριος wiedergegeben wird. Es begegnen hier zwei Aspekte, die Claus Westermann als charakteristisch für den Begriff des ָכּבוֹדbezeichnet hat: Einerseits das „geschichtliche Einwirken“ Gottes, andererseits seine „im Gottesdienst verehrte Herrlichkeit“.118 An dieser Stelle geht es demnach um die Verbindung zwischen konkreter, geschichtlicher Erfahrung und liturgischer
115 Kraus, Psalmen I, 194. 116 Vorsichtig formuliert Seybold, Psalmen, 104, die einzelnen Teile des Psalms „scheinen verschiedener Herkunft, jedoch am nicht explizit genannten Zionheiligtum entstanden zu sein. … Vorstellbar ist ein Prozessionsvorgang (der Lade?), den dieser Text liturgisch begleiten soll, mit Gesang, Bekenntnis, Zitation o. ä. Indes fehlen eindeutige Indizien dafür. Näher liegt die Annahme, der Psalm sei eine Dokumentation der für den Tempel in Jerusalem grundlegenden Glaubensvorstellungen und fasse anhand einschlägiger Texte zusammen, was dieser Ort theologisch bedeutet“. 117 Vgl. Langer, Herrlichkeit, 47. 118 Westermann, כבד, 806.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
Vergegenwärtigung dieser Erfahrung. Es geht dabei um eine Wirklichkeit, die in der Welt nicht einfach selbstverständlich wahrgenommen werden kann und die deshalb im Gottesdienst vergegenwärtigt wird. Auf diese Motivik weist auch die zweite Stelle hin, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist: Ps 28,3 LXX. Dort heißt es (Ps 28,1–4 LXX):119 1 Ψαλμὸς τῷ Δαυιδ· ἐξοδίου σκηνῆς. 1 Ein Psalm Davids. Am Ausgang des Zeltes. ᾿Ενέγκατε τῷ κυρίῳ, υἱοὶ θεοῦ, Bringt dar dem Herrn, Söhne Gottes, ἐνέγκατε τῷ κυρίῳ υἱοὺς κριῶν, bringt dar dem Herrn Söhne von Widdern, ἐνέγκατε τῷ κυρίῳ δόξαν καὶ τιμήν, bringt dar dem Herrn Herrlichkeit und Ehre, 2 ἐνέγκατε τῷ κυρίῳ δόξαν ὀνόματι 2 bringt dar dem Herrn Herrlichkeit für αὐτοῦ, seinem Namen, fallt (anbetend) nieder προσκυνήσατε τῷ κυρίῳ ἐν αὐλῇ vor dem Herrn in seinem heiligen Vorἁγίᾳ αὐτοῦ. hof! 3 φωνὴ κυρίου ἐπὶ τῶν ὑδάτων, 3 Die Stimme des Herrn über den Wassern, ὁ θεὸς τῆς δόξης ἐβρόντησεν, der Gott der δόξα hat gedonnert, κύριος ἐπὶ ὑδάτων πολλῶν. κύριος (Jahwe) über vielen Wassern. 4 φωνὴ κυρίου ἐν ἰσχύι, 4 Die Stimme des κύριος (Jahwes) In Kraft, φωνὴ κυρίου ἐν μεγαλοπρεπείᾳ. die Stimme des κύριος (Jahwes) In Hoheit. Das Motiv der φωνὴ κυρίου (V. 3+4) wird in den folgenden Versen des Psalms aufgenommen und ausgespannt. Das „Donnern“ des in V. 3 genannten θεὸς τῆς δόξης ist so das den Psalm tragende Motiv. Auch in Ps 28 LXX (Ps 29 MT) ist der liturgische Kontext offensichtlich, er wird durch die Überschrift der Septuaginta, die über den Masoretischen Text hinausgeht und die den Psalm wohl mit dem Laubhüttenfest verbindet,120 unterstrichen. Nach Ps 28,9 LXX zielt die Vergegenwärtigung darauf, dass die δόξα Gottes im Tempel121 von allen bekannt und damit anerkannt wird. Anders als in Ps 23 LXX ist es nun aber ein schöpfungstheologischer Zusammenhang, in dem von der δόξα geredet wird. Im „Donnern“ der
119 Ich folge der Übersetzung Septuaginta Deutsch, 777. 120 Vgl. Kraus, Psalmen I, 235; Seybold, Psalmen, 121, der die Hinzufügung der Septuaginta gegenüber dem Masoretischen Text ἐξοδίου σκηνῆς mit „vom Ausgang des Laubhüttenfestes“ übersetzt. 121 Seybold, Psalmen, 122 bemerkt: „Die liturgische Bearbeitung [sc. des Psalms] setzt einen Tempel ( )היכלvoraus. Es ist wahrscheinlich der zweite Tempel gemeint, für den der alte Hymnus wie andere JHWH-Königshymnen umgearbeitet wurde.“
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Stimme erscheint Gottes „Herrlichkeit“, d. h. erscheint er selbst in seiner Macht. Diese Theophanie wird im Gottesdienst besungen und vergegenwärtigt. Auch hier sind das Erscheinen der δόξα und die Identifizierung Gottes als κύριος eng miteinander verbunden. Die beiden alttestamentlichen Texte verorten die Rede von Gottes δόξα folglich in einem kultischen Kontext. Gottes Herrschaft und seine Schöpfermacht werden von der Gottesdienstgemeinde bekannt. Sie werden von den Glaubenden als eine Wirklichkeit bekannt, die eben im Glauben, und nur im Glauben wahrnehmbar ist. Blicken wir von hier aus auf das Äthiopische Henochbuch, dann fallen einige Berührungen zur Prädikation ὁ κύριος τῆς δόξης ins Auge. Beim sogenannten „Äthiopischen Henochbuch“ handelt es sich um einen über mehrere Stufen gewachsenen Text, dessen jüngstes Stadium mit diesem Namen bezeichnet wird.122 Die unterschiedlichen Teile dieses Buches gilt es deshalb zu berücksichtigen. Anders als bei dem viel diskutierten Motiv des „Menschensohnes“, das auf den Teil der „Bilderreden“ (1Hen 37–71) beschränkt ist, findet sich der Titel „Herr der Herrlichkeit“ in den verschiedenen Teilen des Henochbuchs.123 Im Wächterbuch, das wohl in das dritte Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist,124 wird in 1Hen 22 die Vision von Höhlen entworfen, in denen die Seelen der Verstorbenen – aufgeteilt nach den Klassen der „Gerechten“ und der „Frevler“ – aufbewahrt werden „bis zu dem großen Tag des Gerichtes“ (1Hen 22,11).125 Das Äthiopische Henochbuch entwirft ein Gegenbild zur vorfindlichen geschichtlichen Wirklichkeit. Dahinter stehen offensichtlich apokalyptische Kreise, die sich gegen eine Hellenisierung des Judentums wenden.126 Die Erinnerung an Gottes Gerichtshandeln wird gegen widerstreitende Erfahrungen festgehalten und mit ihm auch die Unterscheidung von „Gerechten“ und „Frevlern“. Am Ende der Vision kommt der Visionär selbst zu Wort und sagt (1Hen 22,14): „Da pries ich den Herrn der Herrlichkeit und sprach: ,Gepriesen sei mein Herr, der Herr der Herrlichkeit, der in Ewigkeit herrscht!‘“ 127 Die Prädikation „Herr der Herrlichkeit“ weist hier demnach auf die Ewigkeit seiner Herrschaft. Mag von dieser Herrschaft auch in der Gegenwart wenig erfahrbar sein, so ist der Verfasser dieser Worte doch gewiss, dass die Wirklichkeit, 122 Vgl. Siegert, Einleitung, 190–196; Tilly, Apokalyptik, 62–65. 123 Die Belege 1Hen 22,14; 25,3.7; 27,3.5; 36,4 stammen aus dem sogenannten „Wächterbuch“ (1Hen 1–36; Siegert, aaO., 195f hält die weithin übliche Übersetzung für „irreführend“ und plädiert für die Bezeichnung als „Buch der Wachenden“). 40,3; 63,2 stammen aus den „Bilderreden“ (1Hen 37–71); 75,3 aus dem „Astronomischen Buch“ (1Hen 72–82) und 83,3 aus dem „Buch der Traumvisionen“ (1Hen 83–91). Bezeichnungen der Teile nach Uhlig, JSHRZ V/6, 468, vgl. Tilly, aaO., 63. 124 Siegert, aaO., 195; Uhlig, aaO., 494. 125 Uhlig, aaO., 557. 126 Vgl. Siegert, aaO., 193; Uhlig, aaO., 491f. 127 Uhlig, aaO., 558.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
an die er glaubt, sich als die letztgültige Wirklichkeit erweisen wird. Damit ist ein entscheidender Aspekt der Gottheit Gottes benannt: Gott ist der feste Grund der Welt, der am Ende bleibt. Wir hatten bereits gesehen, dass die Wurzel כבדden Aspekt der „Beständigkeit“ enthält. So scheint die Rede von Gott als „Herr der Herrlichkeit“ gerade auch darauf abzuzielen, dass Gott gleichsam der Inbegriff von Beständigkeit ist, der feste Grund, in dem der Glaubende – gerade in einer Situation der Infragestellung und der Bedrängnis – seinen Halt findet. Die Durchsetzung der Gottesherrschaft ist unlöslich mit Gottes Gerichtshandeln verbunden, das für die „Frevler“ Verderben bedeutet. Auch in den weiteren Visionen des Wächterbuches, in denen der Titel „Herr der Herrlichkeit“ begegnet, ist der Gedanke der eschatologischen Gottesherrschaft präsent. So erhält Henoch vom Engel Michael eine Deutung der Vision eines hohen Berges (1Hen 25,3): „Dieser hohe Berg, den du gesehen hast, dessen Gipfel dem Thron des Herrn gleicht, ist sein Thron, wo sich der Heilige und Große, der Herr der Herrlichkeit, der König der Welt niedersetzen wird, wenn er herabkommt, um die Erde mit Gutem heimzusuchen.“ 128 Am Ende dieser Passage wird dann analog zu 1Hen 22,14 formuliert (1Hen 25,7): „Da pries ich den Gott der Herrlichkeit, den König der Welt, dass er solche (Dinge) für die gerechten Menschen bereitet und so etwas geschaffen und verheißen hat, (um es) ihnen zu geben.“ 129 Ähnlich wie in 1Kor 2,12 wird hier gesagt, dass dem Visionär mit der Offenbarung der „Herrlichkeit“ Gottes auch offenbart wird, was Gott den Menschen „bereitet“ hat. Zudem ist an dieser Stelle die Nähe zu dem oben besprochenen Psalm besonders deutlich, da hier die Wendung „Gott der Herrlichkeit“ (= Ps 28,3 LXX: ὁ θεὸς τῆς δόξης) begegnet.130 Der „Herr der Herrlichkeit“ ist demnach nicht nur der eschatologische Richter, sondern vielmehr der endzeitliche Gott-König, dessen Auftreten freilich unmittelbar mit dem Vollzug des Gerichts verbunden ist. Das zeigt 1Hen 27,3–5: „In den letzten Tagen wird sich an ihnen das Schauspiel eines Gerichtes in Gerechtigkeit vor den Gerechten vollziehen für alle ewigen Tage; da werden die, die Erbarmen übten, den Herrn der Herrlichkeit, den König der Welt, preisen. Und in den Tagen des Gerichtes über sie werden sie ihn preisen wegen der Barmherzigkeit, die er ihnen erwiesen hat. Da pries ich den Herrn der Herrlichkeit und (verkündete seine Gerechtigkeit) und (lobsang ihm), wie es seiner Majestät gebührt“131
128 AaO., 560. 129 AaO., 561. 130 Außerdem ist an dieser Stelle im Wächterbuch die Variante „Herr der Herrlichkeit“ belegt. Ebd. mit Anm. a) zu V. 7. 131 AaO., 563f.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Die Menschen, für die das Gericht erwartet wird, werden darin als „Verfluchte“ erkennbar, dass sie über Gottes „Herrlichkeit Schlimmes hören lassen“ (1Hen 27,2)132 , d. h. durch ihre Gotteslästerung Gott entehren. Wenn Gott sich als „Herr der Herrlichkeit“ erweist, dann erweist er seine von den „Frevlern“ in Frage gestellte Gottheit und offenbart sich damit als „König der Welt“. Auch die Passage, mit der das „Wächterbuch“ schließt, reiht sich in das bisher Beobachtete ein. Nach der letzten Vision heißt es (1Hen 36,4): „Und als ich (das) sah, pries ich fortwährend; ja ich werde preisen den Herrn der Herrlichkeit, der die großen und herrlichen Wunder getan hat, um die Größe seines Werkes den Engeln und den Seelen und den Menschen zu zeigen, damit sie sein Werk, seine ganze Schöpfung, preisen, damit sie das Werk seiner Macht sehen und das große Werk seine Hände preisen und ihn in Ewigkeit rühmen.“133
Die Gottheit und Schöpfermacht Gottes ist im Lob der Gerechten bereits jetzt gegenwärtig, ihre universale Manifestation wird aber erst in der Zukunft offenbar. Hier wird auch die Textpragmatik des Äthiopischen Henochbuchs erkennbar: Indem der Visionär Gott jetzt bereits lobend bekennt, öffnet er seinen Adressaten die Augen für den letzten Grund ihres Lebens, dessen letztgültige Durchsetzung geglaubt wird. Von dieser Hoffnung leben die apokalyptischen Vorstellungen des Frühjudentums. In den Bilderreden ist der Titel „Herr der Herrlichkeit“ eng mit der hier überwiegend gebrauchten Gottesbezeichnung „Herr der Geister“ verbunden. Bei 1Hen 40 handelt es sich offensichtlich um eine Interpretation von Ez 1,4ff, wo von vier Gestalten die Rede ist, die am Thron Gottes stehen (Ez 1,4; 1Hen 40,2). Im EzechielBuch wird hier die Erscheinung des ָכּבוֹד יהוהerzählt (Ez 1,28). Das Henochbuch gibt die Szene mit den Worten wieder (1Hen 40,3): „Und ich hörte die Stimme dieser vier Gestalten, wie sie vor dem Herrn der Herrlichkeit Lob darbrachten.“ 134 Hier ist die Prädikation „Herr der Herrlichkeit“ ganz auf die Wesensaussage über Gott konzentriert und bringt die Heiligkeit Gottes zum Ausdruck, die durch die Gegenwart der lobenden Engel sichtbar wird. In 63,1f schließlich ist wieder die Gerichtsmotivik vorrangig: „Und in jenen Tagen werden die Mächtigen und die Könige, die, die das Festland besitzen, seine Strafengel, denen sie ausgeliefert sind, bitten, dass man ihnen Ruhe lassen möge, damit sie niederfallen und anbeten (oder: sich beugen) vor dem Herrn der Geister und
132 AaO., 563. 133 AaO., 571. 134 AaO., 580.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
ihre Sünden vor ihm bekennen. Und sie werden den Herrn der Geister preisen und verherrlichen, und sie werden sprechen: ,Gepriesen sei der Herr der Geister, der Herr der Könige, der Herr der Mächtigen, der Herr der Reichen, der Herr der Herrlichkeit und der Herr der Weisheit, und über allem Verborgenen wird es hell werden [...].‘“135
Was der Visionär bereits lobpreisend bekannt hat, das wird am Ende der Zeit von den Mächtigen und Königen anerkannt. In der Reihe der verschiedenen Titel, mit denen sie Gottes Herrschaft und Majestät anerkennen, findet sich auch „Herr der Herrlichkeit“. Gott ist demnach der Inbegriff der Herrlichkeit, die Prädikation ist Ausdruck seiner Macht, die ihn über alle irdischen Herrscher erhebt. Erwähnt sei an dieser Stelle, dass die „Bilderreden“ auch dem „Menschensohn“ nicht den Titel „Herr der Herrlichkeit“ zuerkennen. Er bleibt vielmehr Gott selbst vorbehalten. In 1Hen 62,2 wird gesagt, dass „der Herr der Geister“ „den Erwählten“ „auf den Thron seiner Herrlichkeit“ setzt. Nach 1Hen 62,7–9 ist dieser „Erwählte“ der Menschensohn, vor dem die irdischen Herrscher schließlich niederfallen. Dem „Menschensohn“ ist demnach die entscheidende Funktion beim Gericht übergeben, er ist „verborgen“ gewesen und nur „den Auserwählten“ offenbart worden (1Hen 62,7, vgl. 1Kor 2,7f!). Er ist aber vom „Herrn der Herrlichkeit“ eindeutig zu unterscheiden und ihm untergeordnet.136 Die beiden Stellen aus dem Astronomischen Buch (1Hen 75,3) und den Traumvisionen (1Hen 83,3) bestätigen, dass es jeweils Gott in seiner überlegenen Macht ist, der mit dem Titel „Herr der Herrlichkeit“ bezeichnet wird. Der kultische Kontext, den wir in den beiden oben besprochenen Psalmen beobachten konnten, ist im apokalyptischen Rahmen des Äthiopischen Henochbuches im Sinne einer eschatologisch geprägten Geschichtstheologie zurückgedrängt. Der Gedanke, dass Gottes Gottheit und Herrschaft in der Gegenwart verborgen ist, im Raum der Gerechten aber jetzt schon bekannt wird, ist aber auch hier erkennbar. Im Titel „Herr der Herrlichkeit“ schwingt Gottes Schöpfermacht und Heiligkeit mit, die in der Geschichte noch nicht vollständige Anerkennung erfährt, deren Durchsetzung für das Ende der Geschichte aber erwartet wird. Die Berührungen der Vorstellungen aus den verschiedenen Teilen des Äthiopischen Henochbuchs mit den Psalmen 24 und 29 wird an zwei Stellen direkt greifbar: In 1Hen 81,3 kommt der Titel „König der Herrlichkeit“ (Ps 24,7–10) vor, in 1Hen 25,7 – wie gesehen – die Prädikation „Gott der Herrlichkeit“ (Ps 29,3). Das Äthiopische Henochbuch entwirft die Vision eines endzeitlichen Geschehens, das 135 AaO., 616. 136 Im Zusammenhang der Besprechung von Phil 2,6–11 wird auf diese Passage noch einmal eingegangen (s. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit). Bühner, Messianologie, 103.136.324 sieht 1Hen 62,7 (neben 1Hen 39,6; 48,2f.6) als Beleg für die Präexistenz des Menschensohnes an. Die qualitative Unterschiedenheit vom „Herrn der Herrlichkeit“ ist davon allerdings unbenommen.
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bereits jetzt im Lobpreis der Gemeinde bekannt und vergegenwärtigt wird. So wird der Kult als Ursprungsort dieser apokalyptischen Vision erkennbar. Damit berührt sich das Äthiopische Henochbuch an einigen nicht unwesentlichen Punkten mit dem, was Paulus in 1Kor 2,6–16 formuliert: Zum einen ist hier die Vorstellung zu nennen, dass das, was als der letzte Grund der Wirklichkeit geglaubt wird, in der gegenwärtigen Zeit noch verborgen ist, von den Glaubenden aber bereits erfasst und im Modus des Lobpreises bekannt wird. Auch das Gegenüber zwischen den irdischen Machthabern und dem „Herrn der Herrlichkeit“ lässt sich im Äthiopischen Henochbuch beobachten: Am Ende der Zeit werden gerade die in der Gegenwart des Schreibenden Herrschenden vor Gericht stehen und zunichte werden. Wenn Paulus den Titel „Herr der Herrlichkeit“ in 1Kor 2,8 auf den vorösterlichen Jesus anwendet, dann knüpft er damit offensichtlich an eine apokalyptische Vorstellung an, die von der Verborgenheit der Gottesherrschaft weiß, der Gruppe der Glaubenden aber zuschreibt, dass sie diese Wirklichkeit bereits jetzt erkennt. Diese göttliche Wirklichkeit war nach Paulus in der Person Jesu von Nazareth in der Welt – und sie ist es weiterhin, weil diese Person auferstanden ist. Die Tatsache der Kreuzigung Jesu belegt die Verschlossenheit der Welt für Gottes Wirklichkeit. Das ist gemeint, wenn Paulus davon spricht, dass Gottes Weisheit von den Herrschenden nicht erkannt wurde, sondern nur den Glaubenden offenbar wird: „Gottes Weisheit“ ist demnach Jesus Christus als Gottes Gegenwart. Als solche wird Jesus im „Wort vom Kreuz“ verkündigt. An den Glaubenden wird aber deutlich, welche Bedeutung Jesus für ihre Existenz hat: Als κύριος τῆς δόξης ist er der Grund für ihre eigene δόξα. Er ist der Grund, auf dem das Leben der Glaubenden Bestand hat. Das aber bedeutet nichts anderes als: Der κύριος τῆς δόξης ist für die Glaubenden Gott. So galt 1Kor 2,8 nicht zu Unrecht in der dogmengeschichtlichen Diskussion als Beleg für die Gottheit Jesu Christi.137 An dieser Stelle wird deutlich, dass Paulus auf diese Weise gerade auch von dem vorösterlichen Jesus denkt. 4.2
Die δόξα der Glaubenden
Wir haben gesehen, dass die Prädikation Jesu als κύριος τῆς δόξης sich gut aus dem alttestamentlichen und frühjüdischen Hintergrund heraus verstehen lässt. Sie wird von Paulus bewusst auf Jesus bezogen, ohne dass eine Einschränkung oder Kritik an einer mit der Prädikation ursprünglich verbundenen Vorstellung erkennbar würde. Wenn Paulus sie im Zusammenhang mit der Kreuzigung Jesu erwähnt, dann nicht deshalb, um eine in Korinth kursierende „Hoheitschristologie“
137 S. dazu Grillmeier, Jesus der Christus 1, 546.558.746.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
kreuzestheologisch zu korrigieren.138 Vielmehr erklärt sich die auf Jesus bezogene Gottesprädikation aus dem theologischen Anliegen des Paulus selbst. Es legt sich nahe, dass das paulinische Verständnis im Zusammenhang mit der in 1Kor 2,7 genannten Bestimmung der Glaubenden zur δόξα zusammenhängt.139 Um genau bestimmen zu können, in welcher Weise das der Fall ist, ist zunächst zu erörtern, was mit der Rede von der δόξα der Glaubenden bei Paulus gemeint ist. Wenn Paulus in 1Kor 2,7 davon spricht, dass Gott seine verborgene Weisheit vor den Zeitaltern εἰς δόξαν ἡμῶν vorherbestimmt hat, dann verwendet er den Begriff δόξα in einer ähnlichen Weise, wie er das auch in 1Kor 15,43 und Röm 8,21 tut. An beiden Stellen steht der Begriff δόξα für das „ewige Leben“, zu dem die Glaubenden bestimmt sind.140 In 1Kor 15,43 formuliert Paulus: σπείρεται ἐν ἀτιμία, ἐγείρεται ἐν δόξῃ – „Es wird gesät in Niedrigkeit, auferweckt in δόξα.“ Die Bemerkung in Röm 8,21 steht innerhalb der einzigen Passage in den Paulusbriefen, in der der Apostel auch über die nicht-menschliche Schöpfung reflektiert.141 Dort heißt es: ὅτι καὶ αὐτὴ ἡ κτίσις ἐλευθερωθήσεται …, weil auch die Schöpfung selbst befreit ἀπὸ τῆς δουλείας τῆς φθορᾶς werden wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit εἰς τὴν ἐλευθερίαν zur Freiheit τῆς δόξης τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ. der δόξα der Kinder Gottes. An beiden Stellen ist ein schöpfungstheologischer Zusammenhang gegeben: Gottes Schöpferwille ist in der vorfindlichen Welt noch nicht zum Ziel gekommen. Diese Erfüllung wird von den Glaubenden aber ersehnt und erwartet. Das gilt sowohl im Blick auf den Menschen als Gottes Geschöpf als auch im Blick auf die Schöpfung insgesamt. Im Zusammenhang von 1Kor 2,6–9 klingt der Gedanke der Vollendung der Schöpfung nur kurz an. Die kurze Andeutung, die Paulus in 1Kor 2,7 dazu gibt, lässt aber ein anthropologisches Konzept erkennen, das Paulus in 1Kor 15 und im später geschriebenen Römerbrief entfaltet. In der Forschung ist umstritten, wie dieses Konzept genau zu beschreiben ist und wie die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge genau zu bestimmen sind. Darum sind hier einige Texte, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, kurz zu besprechen.
138 So mit Recht Kammler, Kreuz, 215; Konradt, Weisheit, 198–202, bereits Sellin, „Geheimnis“, 85, Anm. 58 weist die Annahme zurück, Paulus greife mit der Prädikation einen mit der korinthischen Weisheitschristologie verbundenen Titel auf (s. auch die weiteren ebd. genannten Autoren). 139 So auch Kammler, Kreuz, 215; Konradt, Weisheit, 198; Schrage, 1Kor I, 255; Sellin, „Geheimnis“, 85, Anm. 58. 140 Hofius, Mensch und Schöpfung, 16, vgl. Schrage, 1Kor I, 252. 141 Hofius, aaO., 13.
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4.2.1 δόξα als anthropologischer Begriff
Im Römerbrief begegnet der Begriff der δόξα an zentraler Stelle, gleichsam als Ertrag der grundsätzlichen Ausführungen über die Situation des Menschen vor Gott (Röm 1,18–3,20), in Röm 3,23f. Dort stellt Paulus fest: πάντες γὰρ ἥμαρτον Denn alle haben gesündigt καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ und haben die δόξα Gottes nicht, δικαιούμενοι δωρεὰν werden aber umsonst gerechtfertigt τῇ αὐτοῦ χάριτι durch seine eigene Gnade διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως durch die Erlösung in Christus Jesus. τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ·
In diesem Zusammenhang ließe sich δόξα beinahe synonym zu δικαιoσύνη verstehen.142 Das, was dem Menschen – allen Menschen – Röm 1,18–3,20 zufolge fehlt, ist „Gerechtigkeit“. Vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Begriffs der ְצ ָדָקהlässt sich δικαιoσύνη als Beziehungsbegriff bestimmen.143 Aus der Perspektive des Christusgeschehens erweist sich die Beziehung von Schöpfer und Geschöpf als gestört. Wir hatten gesehen, dass Paulus auch in 1Kor 2,6–16 ausdrücklich die Perspektive der Christusgläubigen anspricht. Nur ihnen ist ersichtlich, dass ihre eigentliche Bestimmung ebenso vor der Welt „verborgen“ ist, wie dies eben auch für Gottes Weisheit gilt. Wer Gottes Weisheit nicht erkennt, dem ist demnach auch seine eigene Situation vor Gott verborgen. Eben diese Situation stellt Paulus im Römerbrief in grundsätzlicher Weise dar. Gegenüber dem Ersten Korintherbrief haben sich ihm weitere Klärungen und Vertiefungen ergeben. Da er im Schreiben nach Korinth an eine ihm bekannte Gemeinde schreibt, kann er aber sicherlich auch mehr voraussetzen, als dies im Römerbrief der Fall ist. So können die Ausführungen des Römerbriefs durchaus auch Hintergründe erhellen, die bereits für den Ersten Korintherbrief vorausgesetzt werden können. In Röm 1–3 macht Paulus deutlich, dass die von Gott gewollte Beziehung zu den Menschen ihren Ausdruck darin finden würde, dass ein Mensch sein Leben in der Dankbarkeit und Ehrerbietung gegenüber Gott führen würde und dementsprechend nach Gottes Willen leben würde. Dankbarkeit und Ehrerbietung bleiben nach Röm 1,21 aber gerade aus. Der Mensch verweigert Gott die Anerkennung seiner δόξα, und darin wird deutlich, dass er selbst nicht die δόξα hat, die ihm von Gott her zugedacht ist und
142 Vgl. Hegermann, δόξα, 835. 143 Vgl. Koch, צדק, 515f. Koch führt den vielfach gebrauchten Begriff der „Gemeinschaftstreue“ auf Hermann Cremer zurück (Cremer, Rechtfertigungslehre [1909]), hat aber selbst zur Prägung des Begriffs wesentlich beigetragen (Koch, „Gemeinschaftstreue“), vgl. Kertelge, δικαιοσύνη, 786–789.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
die deshalb als δόξα τοῦ θεοῦ bezeichnet wird (Röm 3,23).144 Wenn von der eschatologischen Erlangung der δόξα gesprochen wird, dann ist damit nicht gemeint, dass der Mensch Gott-gleich werden soll. Das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf wird gerade auch in eschatologischer Perspektive nicht aufgehoben. Die Erfüllung des Heilswillens Gottes besteht in der bleibenden Anerkennung dieses Gegenübers. So stehen Schöpfer und Geschöpf in einer heilsamen Relation miteinander. Diese Beziehung spricht sich bereits jetzt dort aus, wo Gott – wie in den oben angesprochenen Psalmen – in der Welt gepriesen und seine „Ehre“ anerkannt wird. Es ist in der Auslegung von Röm 3,23 umstritten, wie sich Paulus das „Fehlen“ der δόξα τοῦ θεοῦ beim Menschen genau vorstellt. Zur Erklärung der paulinischen Aussage werden Passagen aus der Apokalypse des Mose (ApkMos 20,2) und der griechischen Baruch-Apokalpyse (grBar 4,16) herangezogen, die vom Verlust der δόξα durch Adams und Evas Fall sprechen.145 Die sogenannte Apokalypse des Mose146 bietet eine Ausdeutung der Sündenfallerzählung Gen 3,1–24. ApkMos 19,3–20,2 folgt der Erzählung Gen 3,1–9, bietet aber eine theologische Vertiefung der Szene, indem sie die Geschichte von der Verführung Evas durch die Schlange aus Evas Perspektive erzählt: „Als sie aber von mir den Eid genommen hatte, dann kam sie und setzte der Frucht ihr Gift der Bosheit bei, das ist der Begierde. Begierde nämlich ist Ursache jeder Sünde. Und sie bog den Zweig auf die Erde und nahm von der Frucht, und ich aß. Und in derselben Stunde wurden meine Augen aufgetan, und ich erkannte, dass ich entblößt war von der Gerechtigkeit, mit der ich bekleidet war. Und ich weinte und sprach: Warum habe ich dies gemacht, dass ich von meiner Herrlichkeit entfremdet wurde?“147
Es fällt auf, dass an dieser Stelle Begriffe begegnen, die für die paulinische Hamartiologie zentral sind, wie der Begriff ἐπιθυμία in ApkMos 19,3148 und ebenso der
144 Der Genitiv ist als ein genitivus auctoris zu bestimmen. 145 So erklärt etwa Zeller, Röm, 85 mit Verweis auf ApkMos 20f und grBar 4,16, Paulus knüpfe hier „an eine jüdische Anschauung“ an (Billerbeck IV, 940f führt dafür GnR 11 (8a ) an); vgl. Schmithals, Röm, 120; Wilckens, Röm I, 188. Der rabbinische Beleg wird von Billerbeck um 300 datiert. Hofius, Mensch und Schöpfung, 15, Anm. 11 äußert sich deshalb mit Grund kritisch gegenüber der Behauptung aus den Kommentaren. 146 Neben der in griechischer Sprache erhaltenen „Apokalypse des Mose“ gibt es auch eine lateinische Fassung, die den Namen „Das Leben Adams und Evas“ (Vita Adae et Evae) trägt, s. dazu Merk/ Meiser, JSHRZ II/5, 740–755; Siegert, Einleitung, 600f. Der Titel „Apokalypse des Mose“ geht nach Siegert auf den ersten Herausgeber Tischendorf zurück, sei allerdings unsachgemäß. Siegert selbst schlägt deshalb den Titel „Offenbarung an Mose“ vor (aaO., 600). 147 Übersetzung nach Merk/Meiser, JSHRZ II/5, 830. 148 Vgl. bei Paulus Röm 6,12; 7,7f; 13,14; Gal 5,16, vgl. Röm 1,24; 1Thess 4,5.
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Begriff ἁμαρτία.149 Beide Begriffe begegnen miteinander verbunden in Röm 7,7f, kommen aber in der alttestamentlichen Schöpfungserzählung gar nicht vor.150 Vor dem Hintergrund des oben zur sachlichen Nähe des Begriffs der δόξα zu demjenigen der δικαιοσύνη Gesagten ist zudem bemerkenswert, dass in ApkMos 20,1f die Begriffe δικαιοσύνη und δόξα parallel stehen:151 καὶ ἐν αὐτῇ τῇ ὥρᾳ ἠνεῴχθησαν οἱ ὀφθαλμοί μου, καὶ ἔγνων ὅτι γυμνὴ ἤμην τῆς δικαιοσύνης ἧς ἤμην ἐνδεδυμένη καὶ ἔκλαυσα λέγουσα· τί τοῦτο ἐποίησας, ὅτι ἀπηλλοτριώθην ἐκ τῆς δόξης μου.
Für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam ist, dass auch der Begriff δόξα in Gen 1–3 nicht vorkommt. Er wird erst von Paulus im Zusammenhang mit der geschöpflichen Existenz des Menschen vor Gott verwendet. Der Apostel dürfte dabei nicht primär an die alttestamentliche Schöpfungserzählung, sondern vielmehr an Ps 8,6 denken.152 Im Blick auf die Apokalypse des Mose legt sich m. E. nahe, dass deren Deutung von Gen 3 bereits unter dem Einfluss von Röm 3,23 entstanden ist und deshalb nicht umgekehrt als Erklärung für den paulinischen δόξα-Begriff herangezogen werden kann.153 ApkMos 20,2 deutet demnach die „Nacktheit“, von der Gen 3,7 spricht (καὶ ἔγνωσαν ὅτι γυμνοὶ ἦσαν), als „Entkleidung von der Gerechtigkeit“ und parallelisiert diese mit der „Entfremdung von der Herrlichkeit“. Das wird in ApkMos 21,6 noch einmal aufgenommen, wenn Adam zu Eva sagt: ὦ γύναι πονηρά, τί κατειργάσω ἐν ἡμῖν; ἀπηλλοτρίωσάς με ἐκ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ.
O du böses Weib, was hast du uns bewirkt? Entfremdet hast du mich von der Herrlichkeit Gottes.154
149 Im Römerbrief begegnet der Begriff v. a. am Beginn der Ausführungen von 1,18–3,20 und dann konzentriert im Abschnitt Röm 5–8. Röm 3,9.20; 4,7f; 5,12f.20; 6,1f.6f.10–14.16–18.20.22f; 7,5.7–9.11.13f.17.23.25; 8,2f.10. Im Ersten Korintherbrief wiederum ausschließlich in Kapitel 15: 15,3.17.56, vgl. 2Kor 5,21; Gal 1,4; 2,17, 3,22. 150 Die Erläuterung der „Bosheit“ (ἡ κακία) der Schlange (τοῦτ’ ἐστιν τῆς ἐπιθυμίας. ἐπιθυμία γὰρ ἐστιν πάσης ἁμαρτίας) ist textkritisch umstritten. S. dazu Merk/Meiser, JSHRZ II/5, 830, Anm. zu XIX, 3 a) und b) sowie die Textwiedergabe bei Tromp, Life of Adam and Eve, 144. 151 Der griechische Text der „Apokalypse des Mose“ wird hier nach Tromp, Life of Adam and Eve wiedergegeben. 152 Vgl. Landmesser, Leben, 109. 153 So mit Recht Hofius, Mensch und Schöpfung, 15, Anm. 11. Meiser, Adam – Christus, 370 bemerkt grundsätzlich, dass die Datierung der Apokalypse des Mose in die Zeit des Paulus „mehr denn je fraglich“ sei und eher an eine spätere Entstehungszeit gedacht werden müsse. Abwägend noch in Merk/Meiser, JSHRZ II/5, 769, wo eine Datierung der Apokalypse des Mose kurz vor den Paulusbriefen favorisiert wird. Nicht zuletzt die oben gemachten Beobachtungen sprechen m. E. dafür, den Text auf jeden Fall später als die Paulusbriefe zu datieren. Siegert, Einleitung, 605 geht von einer Datierung nach 70 n. Chr. aus. 154 Übersetzung Merk/Meiser, JSHRZ II/5, 833.
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Die δόξα wird an dieser Stelle – wie in Röm 3,23 – als δόξα τοῦ θεοῦ bezeichnet. Ganz ähnlich heißt es in grBar 4,16: „Wisse nun also, Baruch: Wie Adam durch dieses Holz die Verurteilung empfing und der Herrlichkeit Gottes entkleidet wurde, so begehen auch die jetzigen Menschen, die den aus ihm gewonnenen Wein unersättlich (trinken), böser als Adam die Übertretung und werden sich von Gottes Herrlichkeit entfernen und sich selbst dem ewigen Feuer ausliefern.“155
Dass es sich hierbei eindeutig um einen christlichen Text handelt, belegt bereits der voraufgehende Vers 15.156 Anders als die genannten Texte spricht Paulus nicht von einer „Entfremdung“ von der Herrlichkeit Gottes. Er spekuliert auch nicht etwa über einen „Urstand“ des Menschen im Paradies. Das in Röm 3,23 verwendete Verb ὑστερεῖσθαι τινος bedeutet „etwas nicht haben“157 , spricht also nicht von dem Verlust der δόξα, sondern schlicht davon, dass der vorfindliche Mensch sie nicht „hat“.158 Paulus stellt phänomenologisch eine Diskrepanz fest zwischen dem, was dem Menschen von Gott her gesehen eigentlich zugedacht ist, und dem, wie er vorfindlich – aus der Perspektive des Christusgeschehens betrachtet – existiert. Diese Diskrepanz ergibt sich für Paulus erst vom Christusgeschehen her. Das entspricht dem Gedanken aus 1Kor 2,6–9, dass die Offenbarung der verborgenen „Weisheit Gottes“ eben auch die eschatologische Bestimmung des Menschen erst erkennbar werden lässt. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass Paulus den Begriff der δόξα nicht in Gen 1–3, sondern in Ps 8 vorgefunden hat. In Ps 8,6 LXX wird gesagt: ἠλάττωσας αὐτὸν βραχύ τι Du hast ihn nur um weniges niedriger geπαρ᾽ ἀγγέλους, macht im Vergleich zu den Engeln. δόξῃ καὶ τιμῇ Mit Herrlichkeit und Ehre ἐστεφάνωσας αὐτόν. hast du ihn bekränzt.
155 Übersetzung Hage, JSHRZ V/1, 26. 156 Hofius, Mensch und Schöpfung, 15, Anm. 11. GrBar 4,15 lautet (Hage, ebd.): „… wie durch ihn (sc. den Weinstock) das Menschengeschlecht seine Verurteilung empfing, so werden sie durch Jesus Christus, den Emmanuel, in ihm wieder die Berufung nach oben empfangen und den Eingang ins Paradies.“ 157 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, s.v. ὑστερέω 2., 1692: Im Passiv „Mangel leiden“, „entbehren“ mit dem Genitiv der Sache. 158 „Nicht von dem Verlust eines Besitzes ist also die Rede, sondern davon, daß alle Menschen aufgrund ihrer Sünde etwas entbehren, was sie eigentlich haben sollten.“ Hofius, Mensch und Schöpfung, 15.
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Der achte Psalm nimmt offensichtlich den Gedanken von der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen auf, der sich im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in Gen 1,26f findet (V. 27: καὶ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον, κατ᾽ εἰκόνα θεοῦ ἐποίησεν αὐτόν). Er verbindet den Gedanken einer herausgehobenen Stellung des Menschen wie Gen 1,28 mit dem „Herrschaftsauftrag“ des Menschen über die Schöpfung (Ps 8,7).159 „Gottes Bild“ ist der Mensch in seiner Hin-Ordnung auf die Schöpfung. Zeichnet er sich durch seine besondere Stellung innerhalb der Schöpfung aus, so ist er doch selbst „Teil der Kreatur“160 . Auf die in Gen 3 erzählte Entfremdung des Menschen von seinem Schöpfer reflektiert der Psalm indes nicht.161 Manche Ausleger deuten deshalb die Aussage in Ps 8,6 auf die eschatologische Bestimmung des Menschen in der „neue[n] Welt, in der keine gottfeindlichen oder gottfremden Störungen mehr Raum haben“.162 Analog dazu verstehen einige Exegeten Röm 3,23 als Hinweis auf den Verlust der zukünftigen Herrlichkeit.163 Aber dass diese δόξα erst als zukünftig vorgestellt würde, wird im Psalm nicht gesagt. Psalm 8 besingt in einem Hymnus die dem Menschen von Gott her zugedachte herausgehobene Stellung in der Schöpfung als Wunder. In Röm 3,23 stellt Paulus fest, dass der Mensch vom Christusgeschehen aus betrachtet dieser ihm von Gott zugedachten Bestimmung faktisch nicht entspricht: Der Mensch, wie er in der Welt erscheint, ist nicht der, als den Gott ihn gemeint hat. Der Mensch ist bestimmt dazu, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben und so seinen Auftrag in der Welt zu erfüllen. Aber diese Bestimmung erfüllt sich erst durch das Christusgeschehen, in dem der Mensch „gerechtfertigt“, d. h. in die heilvolle Beziehung zu seinem Schöpfer versetzt wird. Das bedeutet es für Paulus, dass der Mensch die δόξα erhält. Es ist von hier aus verständlich, dass der Begriff an allen übrigen Stellen – wie etwa auch in 1Kor 2,7 – „die eschatologische Herrlichkeit“ bezeichnet, „die den an Christus Glaubenden mit der Auferweckung von den Toten zuteil werden wird“.164 Besonders deutlich sichtbar wird dies in dem großen Auferstehungskapitel des Ersten Korintherbriefs,
159 Was hier über den Menschen ausgesagt wird, sagen Ps 2,8; 110,1 in anderem Zusammenhang vom König aus. Man kann deshalb vom „königlichen Menschen“ in Ps 8,7f sprechen. „Der Schöpfer und Weltherrscher Jahwe übergibt dem Menschen wie einem von ihm eingesetzten König (vgl. Ps 2,8) die Welt.“ Kraus, Psalmen I, 70. 160 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 256. Es ist m. E. irreführend, wenn Kraus, Psalmen I, 72 bemerkt: „Der Mensch gehört zur Welt Gottes.“ Angemessener ist es m. E., von einer repräsentativen Funktion des Menschen in der Schöpfung zu sprechen (vgl. Seybold, Psalmen 51). Die Ausübung menschlicher Herrschaft hat ihren Maßstab an Gottes Herrschaft über die Schöpfung. 161 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 257; Kraus, ebd. 162 Kraus, ebd. 163 S. die bei Wilckens, Röm I, 188, Anm. 509 genannten Autoren. 164 Hofius, Mensch und Schöpfung, 16. Röm 5,2 (δόξα τοῦ θεοῦ); Röm 2,7.10; 8,18.21; 9,23; 1Kor 15,43; 2Kor 4,17; Phil 3,21; 1Thess 2,12, vgl. Röm 8,29f; 2Kor 3,18.
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in 1Kor 15,43. In 1Kor 15,42b.43 formuliert Paulus im Blick auf die Auferstehung der Toten: σπείρεται ἐν φθορᾷ, Es wird gesät in Vergänglichkeit, ἐγείρεται ἐν ἀφθαρσίᾳ· auferweckt in Unvergänglichkeit, σπείρεται ἐν ἀτιμίᾳ, es wird gesät in Unehre, ἐγείρεται ἐν δόξῃ auferweckt in Herrlichkeit σπείρεται ἐν ἀσθενείᾳ, es wird gesät in Schwachheit, ἐγείρεται ἐν δυνάμει. auferweckt in Kraft. Die Ausführungen sind durch drei Gegensatzpaare bestimmt, die zueinander parallel gestaltet sind: φθορά, ἀτιμία und ἀσθένεια entsprechen einander und werden durch ihre Antonyme ἀφθαρσία, δόξα und δύναμις inhaltlich gefüllt. In der Mitte der Begriffsreihe nimmt Paulus nun genau die beiden Begriffe auf, die in Ps 8,6 im Blick auf den Menschen begegnen, und stellt sie als Gegenbegriffe einander gegenüber: Ps 8,6 1Kor 15,43a σπείρεται δόξῃ
ἐν ἀτιμίᾳ,
καὶ
ἐγείρεται
τιμῇ
ἐν δόξῃ
ἐστεφάνωσας αὐτόν
Die „Herrlichkeit“ und „Ehre“, die dem Menschen Ps 8,6 zufolge von Gott her zugedacht sind, werden im Kontext von 1Kor 15,42f als „Unvergänglichkeit“ und „Kraft“ verstanden. Im Gedanken der Unvergänglichkeit kommt die Grundbedeutung der hebräischen Wurzel כבדzur Geltung: die „Gewichtigkeit“ im Sinne der Beständigkeit des Menschen. In diesem Sinne deutet auch die Sapientia Salomonis die „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen (SapSal 2,23f):165 ὅτι ὁ θεὸς ἔκτισεν τὸν ἄνθρωπον Denn Gott hat den Menschen geschafἐπ᾽ ἀφθαρσίᾳ fen auf Unvergänglichkeit hin καὶ εἰκόνα τῆς ἰδίας ἀϊδιότητος und zum Bild seiner eigenen Eigenheit ἐποίησεν αὐτόν· hat er ihn gemacht. φθόνῳ δὲ διαβόλου θάνατος Aber durch den Neid des Teufels kam εἰσῆλθεν εἰς τὸν κόσμον, der Tod in die Welt, πειράζουσιν δὲ αὐτὸν es erfahren ihn aber, οἱ τῆς ἐκείνου μερίδος ὄντες. die zu seinem Anteil gehören.
165 S. die Übersetzung Septuaginta Deutsch, 1060.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
Hier findet sich im hellenistischen Judentum der eigentlich für Paulus charakteristische Gedanke, dass der leibliche Tod des Menschen durch ein Urereignis, womit nur an den „Fall“ Adams gedacht sein kann, in die Welt gekommen ist.166 Die dem Menschen zugedachte „Gottebenbildlichkeit“ beschreibt die Sapientia Salomonis als ἀφθαρσία und verwendet damit denselben Begriff, der in 1Kor 15,42b begegnet. Auch in SapSal 2,23f ist nicht ausdrücklich davon die Rede, dass der Mensch die „Gottebenbildlichkeit“ bereits hatte. Vielmehr ist der Mensch auf sie, die seine „Unvergänglichkeit“ bedeutet, hin geschaffen. Genau so dürfte auch Paulus die biblische Erzählung von Schöpfung und Fall in Gen 2+3 verstehen.167 Nun lässt sich aber gegenüber der Sapientia Salomonis auch ein Unterschied beobachten, der gerade die in 1Kor 2 zu Verhandlung stehende Weisheitsthematik betrifft: Während die Sapientia Salomonis daran denkt, dass die Weisheit, durch die Gott den Menschen „bereitet“ hat, ihn zur Erfüllung seines Herrschaftsauftrages und damit zur Realisierung der Gottebenbildlichkeit führt (SapSal 9,1–3; 10,1–4),168 erlangt der Mensch nach Paulus seine von Gott her gegebene Bestimmung durch die in der Auferstehung Jesu Christi als ἀπαρχὴ τῶν κεκοιμημένων (1Kor 15,20) grundgelegte leibliche Auferstehung der Toten, die Paulus im Anschluss in 1Kor 15,44–49 entfaltet. Diese Wirklichkeit ist bei den Glaubenden im Geist bereits gegenwärtig, sie zielt aber noch auf ihre leibliche Erfüllung (Röm 8,9–11). Der in 1Kor 15,49 genannte „himmlische“ (Mensch) ist Jesus Christus,169 in dessen Auferstehungswirklichkeit die Glaubenden hineingenommen werden und dessen „Bild“ sie dann tragen werden.170 Ihre „Gottebenbildlichkeit“, zu der sie geschaffen sind, erreichen sie also, indem sie in die Gemeinschaft mit Christus hineingenommen werden.171 In 1Kor 15,22 greift Paulus erstmals die Adam-Christus-Antithese auf, die er dann allerdings erst in Röm 5,12–21 entfaltet.172 Im Auferstehungskapitel geht es ihm zunächst darum zu sagen: So wie alle Menschen durch Adam dem Tod unterworfen worden sind und deshalb sterben müssen, so werden alle Menschen in Christus
166 Vgl. Meiser, Adam – Christus, 370. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls zuweilen genannten Stellen 4Esr 7,118f; ApkMos 10,2; 32,4 sind offensichtlich bereits christlich beeinflusst. 167 Zu paulinischen Verständnis von Gen 2–3 s. Burchard, 1 Korinther 15,39–41, 244, Anm. 43, vgl. aaO., 252; Hofius, Mensch und Schöpfung, 16; ders., Adam-Christus-Antithese, 79–81. 168 Vgl. Burchard, ebd. 169 Die Unterscheidung eines „irdischen“ und eines „himmlischen“ Menschen gibt es auch bei Philo LA. I 31f (Vogel, Hellenistisch-jüdische Theologie, 495, vgl. Konradt, Weisheit, 196f). Auch hier gilt allerdings, dass Paulus das Motiv ganz im Rahmen seiner eigenen Soteriologie aufnimmt und den (ἐπ)οὐράνιος ἄνθρωπος mit Jesus Christus identifiziert. 170 Wolff, 1Kor, 412 kommentiert: „Tragen die Glaubenden bislang das Bild Adams, sind sie also in ihrer wahrnehmbaren Existenz von seinem vergänglichen Wesen bestimmt, so werden sie dereinst vom Wesen des erhöhten Christus geprägt sein, ein ihm gleichgestaltetes σῶμα erhalten.“ 171 Gielen, Herrlichkeit, 110f.113 verwendet deshalb den Begriff der „Christusebenbildlichkeit“. 172 Vgl. Landmesser, Entwicklung, 185.
Zum Begriff der δόξα und zur Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης
das erlangen, wozu Gott sie geschaffen hat: das ewige Leben, die „Unvergänglichkeit“ und bleibende Beständigkeit, und also: die δόξα. Indem der Mensch seine „Ehre“, seine „Gewichtigkeit“ erhält, wird ihm von Gott her Beständigkeit bleibend zugesagt. Diese Bestimmung prägt im Glauben an Christus bereits jetzt sein Leben, wird aber am Ende seiner irdischen Existenz durch die Gabe eines Auferstehungsleibes zum Ziel geführt werden (1Kor 15,42–49.53–55, vgl. Röm 8,11). So kommt der in der Schöpfung angelegte Wille Gottes zu seinem Ziel. An diese Erfüllung scheint Paulus auch in 1Kor 2,7 zu denken. Jesus Christus als Gottes verborgene Weisheit ist von Gott vor den Zeitaltern „zu unserer Herrlichkeit“ vorherbestimmt worden. Wofür die Welt verschlossen ist, das erweist sich für die Glaubenden als der tragende Grund ihres Lebens. Diesen Gedanken unterstreicht Paulus mit dem „Schriftzitat“ in 1Kor 2,9, das im Alten Testament nicht nachweisbar ist.173 ἀλλὰ καθὼς γέγραπται … sondern wie geschrieben steht: ἃ ὀφθαλμὸς οὐκ εἶδεν was kein Auge gesehen καὶ οὖς οὐκ ἤκουσεν und kein Ohr gehört καὶ ἐπὶ καρδίαν ἀνθρώπου οὐκ ἀνέβη, und in keines Menschen Herz gekommen ist, ἃ ἡτοίμασεν ὁ θεὸς was Gott denen bereitet hat, τοῖς ἀγαπῶσιν αὐτόν. die ihn lieben. Zweierlei ist für das Verständnis bedeutsam: Zum einen die Tatsache, dass Paulus den Satz als Schriftzitat einführt. Damit unterstreicht er, dass sich in dem kontingenten Ereignis der Kreuzigung Jesu etwas gezeigt hat, was grundsätzlich und von Gott her gilt: Die „Weisheit Gottes“ ist vor der Welt verborgen. Sie wird von Gott selbst gewährt. Gott selbst entscheidet demnach über den Zugang zu der damit verbundenen Erkenntnis. Er entscheidet damit selbst über die Erkenntnis seiner selbst. Zum zweiten: Die „Bereitung“ dieser Weisheit geschah für die, „die ihn lieben“. Die Wendung „Gott lieben“ gebraucht Paulus noch einmal in 1Kor 8,3 und in Röm 8,28. Es handelt sich um eine traditionelle Formulierung, die im Kontext des Dekalogs begegnet und dann etwa auch in den Psalmen Salomos und im Jakobusbrief vorkommt.174 Sie bringt die umfassende Bindung eines Menschen an Gott zum Ausdruck, die Paulus auch als „glauben“ beschreiben kann. So wird deutlich, dass die Erkenntnis der verborgenen Weisheit in der Beziehung zu Gott gründet. Erkennen die Glaubenden Jesus als den κύριος τῆς δόξης, dann erkennen
173 Eine gewisse Nähe besteht zu Jes 64,3. Origenes nahm an, dass das Zitat aus der Apokalypse des Elia stamme, wo es sich aber nicht nachweisen lässt. Zum Problem s. Conzelmann, 1Kor, 88; Merklein, 1Kor I, 232f; Wolff, 1Kor, 57. Zu weiteren Versuchen, das Zitat in apokryphen Texten zu identifizieren s. Hofius, Das Zitat 1Kor 2,9. 174 Ex 20,6; Dtn 5,10; Ri 5,31; Sir 1,10; PsSal 4,25; 6,6; 10,3; 14,1; Jak 1,12; 2,5. 1Clem 34,8 wandelt das Zitat 1Kor 2,9 um zu τοῖς ὑπομένουσιν αὐτόν (Conzelmann, 1Kor, 89; Wolff, 1Kor, 58).
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
sie ihn als den, der ihre eigene, menschliche δόξα begründet. Dass er der tragende Grund ihres Lebens ist, lässt sich freilich nicht einfach aus der Weltwahrnehmung ablesen. Es wird allein durch Gottes Geist erschlossen (1Kor 2,10). Auf diese Weise nimmt Paulus in 1Kor 2,6–16 eine Fragestellung auf, die auch die frühjüdische Weisheitstheologie beschäftigt.
5.
Zur Frage der Weisheitstheologie
„Wenn sie sie“ – die Weisheit nämlich – „erkannt hätten, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ (εἰ γὰρ ἔγνωσαν, οὐκ ἂν τὸν κύριον τῆς δόξης ἐσταύρωσαν, 1Kor 2,8b). Nach dieser Aussage ist die Kreuzigung Jesu Ausdruck der Verschlossenheit der „Welt“ für Gottes Weisheit. So wie die Weisheit Gottes vor der Welt „im Geheimnis verborgen“ ist, so ist auch das Persongeheimnis Jesu Christi verborgen. Nur die Glaubenden wissen – durch den Geist vermittelt –, dass Gott selbst in dieser Person an ihnen gehandelt hat und gleichzeitig die menschliche Weisheit, die von diesem Handeln nichts weiß, als nur scheinbare Weisheit erweist. Mit der Frage nach der „Weisheit“ ist die Frage nach der Beziehung Gottes zu seiner Schöpfung aufgerufen und damit auch: die Frage nach der Präsenz Gottes in der Welt. Diese Frage wird von Paulus im Kontext der frühchristlichen Theologie auf eine ganz bestimmte Weise beantwortet. Seine Antwort ist dabei nicht einfach als eine Adaption „der“ frühjüdischen Weisheitstheologie zu verstehen, sie steht aber mit dieser in einem gemeinsamen Diskurs. Für die Interpretation ist deshalb eine Annäherung an diesen Diskurs zu suchen, anstatt einfach ein festes Konzept und dessen Aufnahme zu postulieren. Während die ältere Forschung im Kontext der Theologie Rudolf Bultmanns aus verschiedenen Texten das feste Konzept eines Weisheitsmythos zu rekonstruieren versucht hat,175 ist die neuere Forschung hier mit Recht zurückhaltender geworden.176 Diese Zurückhaltung lässt sich bereits in Gerhard von Rads grundlegenden Werk zur
175 Bultmann, Hintergrund, vgl. Conzelmann, Weisheit; Wilckens, σοφία, 508–510. 176 In diesem Sinne bemerkt Vollenweider, Weisheit, 34: „Entgegen einer oft zu vernehmenden Meinung darf man nicht von einem festen jüdischen Weisheitsmythos ausgehen, der sich in jener Zeit herausgebildet hätte und vom Christentum übernommen worden wäre. Es ist nicht möglich, die im einzelnen recht verschiedenen, oft nur tastenden jüdischen Aussagen über die Sophia zu einem ausgebildeten Mythos vom Suchen der Weisheit auf Erden, von ihrer Ablehnung durch die Menschen und ihrem Rückzug in den Himmel, von wo sie sich den Auserwählten offenbart, zu kombinieren.“ Ähnlich Zeller, 1Kor, 145. Zurückhaltend im Blick auf die Deutung neutestamentlicher Aussagen von antik-philosophischen, etwa stoischen, Auffassungen, die in der späteren Kirchengeschichte zur Entfaltung der Christologie herangezogen wurden, äußert sich bereits Dibelius, Evangelienkritik, 346f.
Zur Frage der Weisheitstheologie
Weisheit in Israel beobachten.177 Die weisheitstheologischen Vorstellungen sind nicht als abstrakter Systementwurf zu verstehen, sondern vielmehr als „Strategien“ zu beschreiben, in denen der „Weisheit“, aber auch anderen Größen – wie etwa der Tora oder dem Volk Israel – eine bestimmte Bedeutung zuerkannt wird.178 Bereits in Kapitel 1 dieser Arbeit wurde – im Anschluss an Halvor Moxnes – darauf hingewiesen, dass die Rede von Gott eine argumentative Funktion in einem bestimmten Kontext hat. Diese Argumentationsstrategie rekurriert auf „kontingente Sachverhalte“,179 denen sie eine bestimmte Bedeutung zuerkennt. Eben dies ist in hellenistisch-jüdischen Texten im Blick auf die σοφία der Fall. Dasselbe lässt sich bei Paulus im Blick auf die Person Jesu Christi und ihre Bedeutung für die Rede von Gott beobachten. Es geht dabei jeweils um einen bestimmten – nämlich theologischen – Zugang zur Wirklichkeit.180 Das Motiv der Weisheit hat seinen Ort im Kontext der Rede von Gott bzw. ist mit dem Anliegen verbunden, den Zusammenhang von Gotteserkenntnis und Weltwahrnehmung zu beschreiben. Diese Frage ist zunächst einmal ganz konkret und lebenspraktisch motiviert. Das möchte ich knapp skizzieren. 5.1
Stationen der Weisheitstheologie
Der alttestamentliche Text, bei dem eine Rekonstruktion der Weisheitstheologie anknüpfen kann, ist das in Hiob 28 überlieferte „Lehrgedicht“ über die Weisheit (vgl. Bar 3,16–19). Hier ist gerade auch die Erfahrung der Verborgenheit der Weisheit thematisch.181 Zur semantischen Bestimmung des Begriffs der Weisheit ()ַהָחְכָמה ist festzustellen, dass sie in Hi 28,12.20.28 parallel zum Begriff der „Einsicht“182 ( )ִבּי ָנהsteht. Es geht um die Verstehbarkeit der Welt, um ihren „Sinn“, der ihr von
177 Von Rad, Weisheit, 208 mit Anm. 17. 178 So Zeller, 1Kor, 145: „Die Aussagen über die Weisheit lassen sich nicht zu einem ,zusammenhängenden Mythos‘ zusammenfügen. Es handelt sich vielmehr um Strategien, den Wert und die kosmische Bedeutung kontingenter Sachverhalte wie der Schulgelehrsamkeit oder der Tora zu veranschaulichen.“ 179 So die Formulierung bei Zeller, ebd. 180 Vgl. Spieckermann, Welt, 115, der zur Weisheitstheologie bemerkt: „Sie ist kein definierbares System, sie ist vielmehr ein bestimmter Zugang zur religiösen Erschließung der Welt. Gott hat seine Gegenwart in der Welt verschlüsselt, doch nicht so, dass dies zugleich die Frage nach seiner Verborgenheit evozieren würde, sondern so, dass die Verschlüsselung den sensibel wahrnehmenden Geist lockt, die Welt zu entdecken.“ 181 Vgl. dazu auch die Skizze bei Frankemölle, Frühjudentum, 180, die mit Hiob und Kohelet einsetzt. 182 Gesenius, Handwörterbuch, 95 notiert die Bedeutungen „Verstehen“, „Verständnis“ und „Verstand“, „Einsicht“. Die Septuaginta gibt das Wort zwei Mal mit ἐπιστήμη (Hi 28,12.28 LXX) und ein Mal mit σύνεσις (Hi 28,20 LXX) wieder.
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Gott her gegeben ist.183 Eben dieser Sinn aber ist dem Menschen nicht einfach zugänglich, er ist ihm vielmehr seiner eigenen Erfahrung nach immer wieder verborgen. So gerät die Theologie der Weisheit in eine existentielle Krise.184 Trotz aller menschlichen Fähigkeiten der Weltbemächtigung, die in Hi 28,1–11 beschrieben werden, stellt sich die Frage danach, wo die Weisheit zu finden ist (28,12) und woher sie „kommt“ (28,20). Hi 28,23 hält fest, dass sie Gott allein zugänglich ist185 – ein Gedanke, der 1Kor 2,9 entspricht. In diesem Kontext wird in Hi 28,25–27 an das Schöpfungsgeschehen erinnert. An diesen Zusammenhang können die späteren Ausformulierungen der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit anknüpfen. In Hi 28,25–27 wird zunächst nur gesagt, dass die Weisheit bereits „da“ war, als Gott die Elemente schuf, und dass Gott sie schon „sah“ (V. 27). Hier wird gerade vorausgesetzt, dass die Weisheit selbst von Gott geschaffen ist, betont wird aber die Vorrangigkeit der Weisheit vor allen Schöpfungswerken. Sie bestimmt demnach die Struktur der Wirklichkeit, bleibt aber von Gott unterschieden. Hartmut Gese hat deutlich gemacht, dass gerade in dieser Unterscheidung der eigentliche Sinn der Vorstellungen von der Präexistenz und der Personalität der Weisheit liegt. Darin unterscheidet sich die jüdische Vorstellung etwa von stoischen Konzeptionen.186 Im Blick auf Hi 28 ist allerdings fraglich, ob sich hier bereits von der Weisheit als Person sprechen lässt.187 Eine Personifizierung der Weisheit wird dann aber in Prov 8,22–30 vorgenommen. Hier spricht die Weisheit in der ersten Person von sich selbst.188 Trotzdem lässt sich fragen, ob auch hier nicht eher von einer „Personifizierung“ der Weisheit als von „der Weisheit als Person“ gesprochen werden sollte.189 In Hiob 28 lässt sich
183 So formuliert bereits von Rad, Weisheit, 193f: „Diese ,Weisheit‘, ,Vernunft‘ muß also etwas wie den von Gott der Schöpfung eingesenkten ,Sinn‘, ihr göttliches Schöpfungsgeheimnis bedeuten.“ 184 Frankemölle, Frühjudentum, 181. 185 „ – ֱאֹלִהים ֵהִבין ַדּ ְרָכּהּ ְוהוּא ָי ַדע ֶאת־ְמקוָֹמהּGott hat Einsicht in ihre Wege und er (allein) kennt ihren Ort.“ 186 Gese, Weisheit, 223: Die Weisheit ist „Norm und Gesetz des Seins“, und „doch ist sie mit dem Schöpfer selbst nicht zu verwechseln – so wie etwa die Stoa später den mundus und Weltgeist mit Gott identifizierte –, vielmehr ist sie Gott gegenübergestellt, sie hat ein von Gott gegründetes eigenes Wesen, und deswegen und in diesem Sinne ist sie eine Hypostase. Als der Schöpfung vorgeordnete und damit für die Welt transzendente Größe ist die Weisheit von Gott gegründet, um ihm als Maß der Schöpfung zu dienen. So vermittelt sich Gott in ihr an die Welt.“ 187 Kritisch dazu bereits von Rad, Weisheit, 192f. 188 Schäfer, Götter, 32 bemerkt zu Prov 8, hier sei die Weisheit „eindeutig als Person verstanden, und zwar als kleines Kind, genauer ein Mädchen, das in irgendeiner, nicht näher bestimmten Weise als Kind Gottes präsentiert wird“. Zur Personifikation der Weisheit s. auch Frankemölle, Frühjudentum, 181f. 189 So bemerkt Gathercole, Son, 209: „The key factor here is that Wisdom was, by and large, not regarded in Judaism as a preexistent entity distinct from or independent of God, but rather as an
Zur Frage der Weisheitstheologie
beobachten, dass mit dem wohl als nachträglichen Zusatz anzusehenden Vers 28190 eine Verbindung zwischen der Weisheit Gottes und der menschlichen Weisheit hergestellt wird,191 die gerade auch für 1Kor 1,18–2,16 charakteristisch ist und die sich – wie wir gleich sehen werden – in allen sogenannten „Weisheitsspekulationen“, auf die in der Rekonstruktion der hellenistisch-jüdischen Weisheitstheologie Bezug genommen wird (Prov 9; SapSal 9f; Sir 24), beobachten lässt. Das Wort „Weisheit“ erhält eine andere Bedeutung,192 wenn es in Hi 28,28 heißt: – ִי ְרַאת ֲאד ֹ ָני ִהיא ָחְכָמה „Die Furcht des Herrn – sie ist Weisheit“. Denn nun geht es um eine Haltung des Menschen und nicht um eine Attribut Gottes. Der Mensch partizipiert mit seiner eigenen Weisheit gleichsam an Gottes Weisheit, und zwar gerade indem er seine geschöpfliche Stellung vor Gott begreift und respektiert. Dieser Zusammenhang lässt sich auch in Prov 8 beobachten. Das Stichwort der „Gottesfurcht“ aus Hi 28,28 wird in Prov 8,13 aufgenommen. Es hat den Anschein, dass die in Hi 28 angedeuteten Linien nun ausgezogen werden. Das gilt auch für die Erschaffung der Weisheit durch Gott vor allen seinen Werken. In Prov 8,22 LXX sagt die Weisheit von sich selbst: κύριος ἔκτισέν με JHWH schuf mich ἀρχὴν ὁδῶν αὐτοῦ als Anfang seiner Wege εἰς ἔργα αὐτοῦ. auf seine Werke hin. Es ist auffällig, dass die Verse 23–25 durchweg mit der Präposition πρό eingeleitet werden und also unterstreichen, dass es sich bei der Erschaffung der Weisheit um ein „protologisches“ Geschehen handelt. Dass mit der ἀρχή nicht nur der zeitliche Beginn, sondern gleichzeitig auch die Strukturgebung der Schöpfungswerke gemeint ist, zeigt die Formulierung εἰς ἔργα αὐτοῦ. Ähnlich wurde bereits in Prov 3,19 gesagt, dass Gott „durch Weisheit die Erde gegründet hat“ (vgl. Ps 104,23). Das wird in Prov 8,30 präzisiert: „Ich war bei ihm als Ordnende“ (ἤμην παρ᾽ αὐτῷ ἁρμόζουσα), sagt die Weisheit.193 Deshalb „erfreut“ Gott sich zuerst an der Weisheit und
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attribute of God and a way of speaking about his purpose: in short, a personification rather than a person.“ Fohrer, Hiob, 392; Strauss, Hiob, 155. Gradl, Ijob, 250 erwägt, dass der Redaktor damit bewusst eine Beziehung zu Hi 1,1 hergestellt habe: „Ijob ist zwar wie allen Menschen die Weisheit, die nur bei Gott zu finden ist, nicht zugänglich, aber auf der Ebene der Menschen bzw. auf der Ebene der Praxis darf er zu den Weisen gerechnet werden.“ Von Rad, Weisheit, 195. Hier könnte die ägyptische Vorstellung von der Göttin Ma’at eingewirkt haben. Trotzdem ist die Weisheit in Prov 8 keine Gottheit. Es ist deshalb wenig überzeugend, wenn Schäfer, Götter, 32 Prov 8 zum Anlass zu der Bemerkung nimmt, diese Vorstellung decke „sich nicht unbedingt mit dem vielbeschworenen biblischen Monotheismus“.
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dann (V. 31) an der Vollendung der bewohnten Erde. Auch in dem hier gezeichneten Bild wird festgehalten, dass die Weisheit kein Teil Gottes, sondern sein Geschöpf ist. Es geht um eine Aussage über die Welt: Sie ist „sinnvoll“ und es lohnt sich, nach diesem Sinn zu fragen.194 Darum mündet die Selbstvorstellung der Weisheit in Prov 8,32 in die Aufforderung, auf sie zu „hören“ (vgl. Prov 1,20–33; 9,3). Um diese „Sinnhaftigkeit“ der Welt geht es offensichtlich auch dem Buch Jesus Sirach. In Sir 24,3 wird an den ersten Schöpfungsbericht erinnert, wenn es heißt, die Weisheit sei „aus dem Mund des Höchsten“ hervorgegangen. Hier wird auf die Schöpfung durch das Wort (Gen 1,3.6.9.11.14.20.24) angespielt, und man könnte daraus schließen, dass die Weisheit damit als personifiziertes Wort Gottes beschrieben wird.195 Explizit gemacht wird das an dieser Stelle jedoch nicht. Die in Prov 8 angebahnte Personifizierung der Weisheit wird fortgeführt.196 In Sir 24,8f wird unterstrichen, dass Gott die Weisheit geschaffen hat. Wieder geht es nicht darum, die Weisheit als göttliche Person zu zeichnen, sondern den Ort in der Welt, an dem Gottes Gegenwart für den Menschen erfahrbar wird, zu ergründen. Für Jesus Sirach sind das in besonderer Weise das Volk Israel (24,8.12) und die Tora (24,23, vgl. Bar 4,1). Hermann Spieckermann hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Sirachbuch bereits so weit geht, Gott selbst als das „All“ zu bezeichnen (τὸ πᾶν ἐστιν αὐτός, Sir 43,27).197 Dass Gott die alles umfassende Wirklichkeit ist, lässt sich aber auch nach dem Sirachbuch nicht einfach in der Erfahrungswirklichkeit der Menschen einholen. Vielmehr verweist die Welt über sich hinaus auf Gott, der alles übertrifft, was Menschen von ihm sagen können (43,30). Der Aufruf zum Gotteslob macht gerade das deutlich: Da Gott mehr ist als das, was Menschen von ihm sagen können – mehr also auch, als in dem Menschen ist –, ist das Lob die angemessene Rede von Gott. So heißt es Sir 43,30–33: 30 δοξάζοντες κύριον ὑψώσατε 30 Die ihr lobt, erhebt κύριος, καθ᾽ ὅσον ἂν δύνησθε, soviel wie ihr könnt, denn er wird ὑπερέξει γὰρ καὶ ἔτι· es noch übertreffen; und die ihr ihn καὶ ὑψοῦντες αὐτὸν πληθύνατε ἐν ἰσχύι, erhebt, nehmt an Kraft zu, werdet μὴ κοπιᾶτε, οὐ γὰρ μὴ ἀφίκησθε. nicht müde, denn ihr könnt (ihn) 31 τίς ἑόρακεν αὐτὸν καὶ ἐκδιηγήσεται; nicht erreichen. 31 Wer hat ihn geκαὶ τίς μεγαλυνεῖ αὐτὸν καθώς ἐστιν; sehen und wird erzählen? Und wer
194 Von Rad, Weisheit, 204 formuliert treffend: „Verobjektiviert ist hier also nicht eine Eigenschaft Gottes, sondern eine Eigenschaft der Welt, nämlich jenes geheimnisvolle Akzidens, kraft dessen sie sich ordnend dem Leben der Menschen zuwendet.“ 195 Schäfer, Götter, 33. 196 Sauer, Jesus Sirach, 181. 197 Spieckermann, Welt, 107.
Zur Frage der Weisheitstheologie
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πολλὰ ἀπόκρυφά ἐστιν μείζονα τούτων, wird ihn (so) groß machen, wie er ὀλίγα γὰρ ἑωράκαμεν τῶν ἔργων αὐτοῦ· ist? 32 Viel Verborgenes ist besser als
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πάντα γὰρ ἐποίησεν ὁ κύριος καὶ τοῖς εὐσεβέσιν ἔδωκεν σοφίαν
dies, denn wenig von seinen Werken haben wir gesehen. 33 Denn alles hat der Herr gemacht und den Frommen hat er Weisheit gegeben.198
Dieser Text ist Teil des übergreifenden Abschnitts, der mit Sir 42,15–25 beginnt und in dem Gottes Gegenwart in seiner Schöpfung in besonderer Weise thematisch ist.199 In diesem Anfangsabschnitt wird deutlich, dass es in besonderer Weise um das Offenbarwerden der „Herrlichkeit“ Gottes in seiner Schöpfung geht: „Die aufleuchtende Sonne schaut auf alles, und von der Herrlichkeit des Herrn ist sein Werk voll“ (ἥλιος φωτίζων κατὰ πᾶν ἐπέβλεψεν, καὶ τῆς δόξης κυρίου πλῆρες τὸ ἔργον αὐτοῦ, Sir 42,16), und schließlich mündet der Abschnitt in die rhetorische Frage: „Wer wird satt werden, der seine Herrlichkeit sieht?“ (τίς πλησθήσεται ὁρῶν δόξαν αὐτοῦ; Sir 42,25). Die „Herrlichkeit Gottes“ ist eine Sehnsuchtsperspektive, an der sich die Weltbetrachtung orientiert, ohne sie je ganz erreichen zu können. Aber sie gibt diese Perspektive eben nicht auf, sondern hält gerade an ihr fest.200 Die „Weisheit“, die Gott den „Frommen“ gegeben hat, befähigt sie dazu, diese Perspektive zu bewahren. Für unseren Zusammenhang ist bemerkenswert, dass an dieser Stelle der Begriff der δόξα verwendet wird und in einem ähnlichen Zusammenhang wie 1Kor 2,8 steht: Mit der δόξα Gottes ist das Offenbarwerden Gottes selbst als Grund der Wirklichkeit anvisiert, der jetzt im Gotteslob der Frommen bereits bekannt wird. In der Sapientia Salomonis geht die Entwicklung der Weisheitsvorstellung weiter und bewegt sich in Richtung einer theologischen Erkenntnistheorie, die sich dann auch bei Philo beobachten lässt. Wie Paulus in 1Kor 2,6–8 bezeichnet auch die Sapientia die Welt als αἰών (SapSal 13,9; 14,6; 18,4).201 Hier vollzieht sich nun eine Verbindung des Motivs der Weisheit mit der Pneumatologie. So wird die Weisheit
198 Die Übersetzung folgt im Wesentlichen Septuaginta Deutsch, 1151. 199 Sauer, Jesus Sirach, 292: „Nicht mehr das, was er durch Offenbarung mitgeteilt bekam und erkannt hat, sondern das, was er von den Werken Gottes gesehen hat, ist Gegenstand seiner Ausführungen.“ 200 Spieckermann sieht diese Konzeption gegen einen Skeptizismus gerichtet, wie er sich bei Kohelet beobachten lässt: „Bei Sirach hat die Gleichnishaftigkeit der Welt für Gott nur eine untergeordnete Bedeutung für das Erkenntnisstreben der Weisen. Sie hat eine bleibende Bedeutung in ihrer Verweisfunktion auf die die Erkenntnis übersteigende Größe der Schöpfung und auf den noch größeren Gott, der das Ganze ist. Wer wie Sirach mit Kohelet kämpfen muss, der hat das Ganze für Gott zurückzugewinnen. Sirach meint dies nur dadurch leisten zu können, dass er das Ganze mit Gott identifiziert und der menschenmöglichen Erkenntnis entrückt. Zugleich macht er es dem Menschen zur Aufgabe: im Gotteslob.“ Spieckermann, Welt, 108. 201 Vgl. aaO., 109.
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zu Beginn der Schrift als „menschenfreundlicher Geist“ bezeichnet (φιλάνθρωπον γὰρ πνεῦμα σοφία, SapSal 1,6). In SapSal 7 wird das entfaltet. Im Loblied, das Salomo auf die Weisheit singt, heißt es von der Weisheit, dass sie ihn „als die, die alles so kunstvoll hergestellt hat“, gelehrt hat (SapSal 7,22a).202 Weil sie an der Schöpfung beteiligt war, kann sie Salomo Einsicht in den Sinn der Welt geben. In 7,22b wird nun aber eine inhaltliche Beschreibung der Weisheit gegeben: „Denn in ihr ist ein Geist, denkend, heilig, einzigartig … (῎Εστιν γὰρ ἐν αὐτῇ πνεῦμα νοερόν, ἅγιον, μονογενές …).203 7,24 berührt sich mit stoischen Vorstellungen, wenn von der Weisheit gesagt wird, dass sie „alles durchdringt und durchschreitet“.204 In dem folgenden Vers 25 wird dann aber eine auf den ersten Schöpfungsbericht anspielende Vorstellung eingespielt, die an Sir 24,3 erinnert.205 Jetzt heißt es von der Weisheit (7,25): „Denn sie ist ein Hauch der Macht Gottes und eine klare Ausströmung der Herrlichkeit des Allmächtigen“ (ἀτμὶς γάρ ἐστιν τῆς τοῦ θεοῦ δυνάμεως καὶ ἀπόρροια τῆς τοῦ παντοκράτορος δόξης εἰλικρινής). Und schließlich (7,26): „Denn sie ist ein Abglanz des ewigen Lichtes und ein fleckenloser Spiegel des göttlichen Wirkens und Bild seines Gutseins“. (ἀπαύγασμα γάρ ἐστιν φωτὸς ἀιδίου καὶ ἔσοπτρον ἀκηλίδωτον τῆς τοῦ θεοῦ ἐνεργείας καὶ εἰκὼν τῆς ἀγαθότητος αὐτοῦ). Auf diese Passage werden wir im Zusammenhang der Auslegung von 2Kor 4,4 zurückkommen.206 Hier genügt der Hinweis, dass die Wesensaussagen über die Weisheit darauf zielen, die Gegenwart Gottes in der Welt zur Sprache zu bringen. Da hier das Motiv des Geistes eine Rolle spielt, hat Hermann Spieckermann von einem „prototrinitarischen Denken“ der Sapientia gesprochen. Spieckermann erklärt: „Der Geist schließlich geht der Weisheit bei ihrer Aufgabe zur Hand, Gottes Gegenwart in die Welt zu bringen.“207 So zielt die Entwicklung der jüdisch-hellenistischen Weisheitstheologie darauf, Gottes Gegenwart in der Welt verständlich zu machen und damit auch den „Sinn“, der in der Welt zu finden ist, zu erschließen. Um dieses Anliegen geht es auf seine Weise auch dem Apostel Paulus.208 In der Ausformulierung seiner Pneumatologie geht Paulus aber noch einen Schritt weiter, als es sich in der Sapientia Salomonis beobachten lässt: Der Geist ist nicht einfach mit Jesus Christus oder der Weisheit
202 Übersetzung nach Hübner, Weisheit Salomons, 93. 203 AaO., 101. 204 AaO., 109. Zur stoischen Vorstellung von Gott als dem die Welt durchdringenden Prinzip s. exemplarisch D.L. VII 135–136 und die unten in Kapitel 4 mit Anm. 115 genannten Belege. 205 Hübner, aaO., 109f kommentiert: „25 will 24 begründen. Aber in 25 findet sich keine stoische Terminologie mehr. Der Vers ist ganz aus dem theologischen Denken formuliert, ist von Gott her gedacht. Also: Genuine Theologie begründet also eine zuvor in stoischer Vorstellungsweise reflektierte Theologie.“ 206 S. dazu das Kapitel 6 dieser Arbeit. 207 Spieckermann, Welt, 109. 208 In diesem Sinn beschreibt Schnelle, Paulus, 11–25 die paulinische Theologie als „Sinnbildung“.
Der κύριος τῆς δόξης als die Praesentia Dei
identisch.209 Der Geist ist vielmehr eine eigenständige Größe, durch die Gottes Gegenwart in Jesus Christus den Glaubenden erschlossen wird. Auf diese Weise wird sie für die Glaubenden zu der sie bestimmenden Wirklichkeit (1Kor 2,10–16): Das „prototrinitarische“ Denken wird bei Paulus zu einer trinitarischen Struktur der Rede von Gott weitergeführt. Philo schließlich gehört in den Kontext eines jüdisch-alexandrinischen Denkens, den auch die Sapientia Salomonis spiegelt.210 Ausdrücklich formuliert er den erkenntnistheoretischen Grundsatz, dass Gleiches aus Gleichem erkannt wird (Philo gig. 9: πρὸς τῶν ὁμοίων τὸ ὅμοιον θεωρῆται), Weisheit nur aus Weisheit, die sich selbst sieht (migr. 40: σοφία δὲ οὐ μόνον φωτὸς τρόπον ὄργανον τοῦ ὁρᾶν ἐστιν, ἀλλὰ καὶ αὑτὴν ὁρᾷ), und Gott demzufolge aus Gott (praem. 46).211 Das ist der Gedanke, den Paulus in 1Kor 2,11 im Blick auf das πνεῦμα τοῦ θεοῦ formuliert und in 2,16 mit dem Motiv des νοῦς Χριστοῦ zur Sprache bringt. Damit polemisiert er aber nicht etwa gegen die Auffassung eines Pneumatikers, der vorgibt, kein Mensch mehr zu sein,212 sondern macht verständlich, wie es dazu kommt, dass ein Mensch die Gegenwart Gottes in Jesus Christus erkennt: Weil Jesus Christus für Paulus eine göttliche Person ist – nämlich Träger der göttlichen δόξα –, darum bedarf es zu seiner Erkenntnis des Geistes. Und dieser Geist findet sein Kriterium daran, dass er Jesus Christus als Gottes Gegenwart erkennen lässt und damit Gottes Gegenwart in der Welt in einer Person erkennbar werden lässt: in Jesus Christus.
6.
Der κύριος τῆς δόξης als die Praesentia Dei
„Wenn sie Gottes Weisheit erkannt hätten, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt“ – mit dieser Aussage bringt Paulus in 1Kor 2,8 den Zusammenhang von Kreuz und Weisheit auf den Punkt. Dass das „Wort vom Kreuz“ als „Torheit“ in der Welt erscheint, belegt die grundlegende Verschlossenheit der Welt für Gottes Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit war in der Person Jesu als Mensch in dieser Welt da, und sie ist es weiterhin in der Gestalt des gekreuzigten und auferstandenen Herrn, der im Wort vom Kreuz verkündigt wird. Das ist der Inhalt der „Weisheit“, von der Paulus in 1Kor 2,6–9 redet. Paulus kann an die Erfahrung der Weisheitstheologie anknüpfen, dass Gottes Wirklichkeit in der Welt verborgen ist und erst erschlossen werden muss, ja mehr noch: dass sie sich selbst erschließen
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So aber die Weisheit in SapSal 7,7; 9,17 (Sellin, „Geheimnis“, 87). Sellin, „Geheimnis“, 79, Anm. 34, vgl. Wilckens, σοφία, 501. Vgl. Sellin, aaO., 87; Wilckens, aaO., 502. Sellin, aaO., 88. Kritisch zu Sellins These, wonach sich die „Pneumatiker“ in Korinth auf einer Stufe mit dem Logos gesehen hätten, Zeller, Philonische Logos-Theologie, 164, s. die Replik von Sellin: Sellin, Einflüsse, 171f.
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
muss. Dass es selbst unter Gemeindegliedern zu „Streitigkeiten“ und zu Rivalitäten zwischen Autoritäten kommt, ist für Paulus nur durch diese Verborgenheit der Weisheit Gottes in der Welt zu erklären. In Korinth berufen sich einige auf „Weisheit“. Sie richten damit innermenschliche Unterschiede auf, die das Christusgeschehen als die gemeinsame Grundlage des Lebens außer Acht lassen. Nur in diesem Geschehen ist für Paulus Gottes Wirklichkeit da und nur durch dieses Geschehen gelangt der Mensch nach Paulus zu seiner von Gott gewollten Bestimmung: dem unverlierbaren Leben in der Gemeinschaft mit dem Schöpfer. Dass Gottes Wesen als δόξα beschrieben wird, macht sichtbar, dass Gott der letzte Grund der Wirklichkeit der Menschen ist. Dieser letzte Grund ist in Jesus Christus in Person gegenwärtig. Die „Weisheit Gottes“ hat deshalb eine zweifache Struktur: Sie enthält einmal die soteriologische Komponente, dass Gott durch das Kreuzesgeschehen an den Glaubenden gehandelt hat. Andererseits aber reflektiert Paulus auf die christologische Grundlage seiner Botschaft: Es ist der „Herr der Herrlichkeit“, der gekreuzigt wurde. Auch dies hat eine zweifache Bedeutung: Die Tat der Kreuzigung ist Beleg für die Sünde der Menschen, ihre Trennung von Gott, und sie ist gleichzeitig Heilshandeln Gottes an ihnen, der ihnen das Geschehen als Heilsgeschehen erschließt.213 Dieser Zusammenhang von Christologie und Soteriologie findet sich in der Zuordnung der von den Glaubenden ausgesagten δόξα, die ihnen in der Offenbarung der „Weisheit Gottes“ zugeignet wird, und Jesus als κύριος τῆς δόξης. In den Kommentaren wird der Zusammenhang immer wieder gesehen, im Detail aber unterschiedlich bestimmt. Wolfgang Schrage erklärt: „Die jetzt schon zugängliche Weisheit impliziert die noch zu erwartende Herrlichkeit. Die Erwähnung des ,Herrn der Herrlichkeit‘ ist gerade darum sinnvoll, weil die verheißene Herrlichkeit der Christen an diesem Herrn hängt.“214 Auch Matthias Konradt spricht davon, dass Paulus mit dem Titel „die christologische Vermittlung des Heils“ herausstelle.215 Aber auch diese Formulierung ist noch unpräzise, wenn der Zusammenhang der Aussagen nicht genauer bestimmt wird. Das zeigt sich an der Auslegung, die Christian Wolff zu 1Kor 2,7f gibt: „Durch die Bezeichnung ,Herr der Herrlichkeit‘ in Verbindung mit der Kreuzigungsaussage verdeutlicht Paulus also, daß der Kreuzestod für die δόξα des Christus von konstitutiver Bedeutung ist und daß sich die Herrlichkeit der Christen ebendiesem Geschehen verdankt.“216 Damit stellt Wolff den bei Paulus anvisierten Zusammenhang gerade auf den Kopf. Denn für Paulus ist der Kreuzestod Christi nicht für die δόξα „des Christus“, sondern für die δόξα der Glaubenden konstitutiv. Weil er der „Herr der 213 Sellin, aaO., 84 formuliert: „So ist die Kreuzigung des ,Herrn der Herrlichkeit‘ zugleich Tragik (Irrtum der Welt und Ratschluß Gottes) und einzige Heilsmöglichkeit der Welt.“ 214 Schrage, 1Kor I, 252. 215 Konradt, Weisheit, 198. 216 Wolff, 1Kor, 56.
Der κύριος τῆς δόξης als die Praesentia Dei
Herrlichkeit“ ist, darum hat sein Kreuzestod eine soteriologische Bedeutung.217 Wonach die Weisheitstheologie in ihrem Ringen nach Weisheit strebt, das findet Paulus in Jesus Christus: die Gegenwart Gottes in der Welt. Er „entwickelt“ seine Christologie also nicht aus der Weisheitstheologie heraus, sondern er nimmt weisheitstheologische Motive auf, um diese Gegenwart, die er in Christus erlebt, zur Sprache zu bringen.218 Damit aber prägt das Christusgeschehen auch die Rede von Gott selbst fundamental. Wenn es vom Geist Gottes heißt, dass er „die Tiefen Gottes“ ergründet (1Kor 2,10), dann ist damit nicht nur das Kreuzesgeschehen als Heilsgeschehen gemeint, sondern auch die Frage beantwortet, wo Gott in der Welt zu finden ist. „Tragender Grund“ dieser Welt ist er nicht als „letzter Grund“, auf den die Vernunft von ihrer Weltwahrnehmung reflektiert, sondern er wird mitten in der Welt in einem kontingenten Geschehen wahrgenommen und bezeugt. Wie die „Gerechten“, von denen das Äthiopische Henochbuch redet, jetzt schon den „Herrn der Herrlichkeit“ bekennen, der in der Welt noch nicht erkannt werden kann, so bekennen die an Christus Glaubenden jetzt schon Jesus Christus als „Herrn der Herrlichkeit“, in dem das Schöpfungshandeln Gottes zu seinem Ziel kommt und damit der Schöpfer in der Welt offenbar wird.219 Auch am Ende dieses Kapitels lassen sich einige zentrale Aspekte der paulinischen Rede von Gott festhalten. 6.1
Die Verborgenheit Gottes in der Welt
Paulus weiß um die Verborgenheit Gottes in der Welt. Gottes Wirklichkeit lässt sich vom Menschen aus nicht einfach erkennen. Das Streben nach „Weisheit“ und nach Gotteserkenntnis ist deshalb nicht per se schlecht, es führt aber dann nicht zum Ziel, wenn es vom „Wort vom Kreuz“ absieht. Mit der Frage nach Gottes Weisheit ist die Frage nach den tragenden Strukturen verbunden und danach, was dem Menschen innerhalb der Welt Bestand gibt. In der Person Jesus Christus ist der tragende Grund der Welt in der Welt gegenwärtig. Anders als in der platonischen Philosophie, der sich Philo etwa anschließt, reflektiert die menschliche Vernunft nicht im Sinne einer „negativen Theologie“ auf Gott als den letzten Grund 217 Kammler, Kreuz, 215 formuliert präzise: „Es dürfte dem Apostel … auf die innere Beziehung zwischen dem christologischen Hoheitstitel ὁ κύριος τῆς δόξης und der soteriologischen Feststellung von V. 7b ankommen, derzufolge der ewige, sich im Christusgeschehen verwirklichende Heilsratschluß Gottes auf die ,Verherrlichung‘ der Erwählten zielt (... εἰς δόξαν ἡμῶν). Weil der gekreuzigte Christus der göttlichen ,Herrlichkeit‘ wesenhaft teilhaftig ist, kann er die Glaubenden zur ,Herrlichkeit‘ führen. Als der ,Herr der Herrlichkeit‘ ist er mithin in Person und Werk der Grund und der Garant der ewigen, zukünftigen ,Herrlichkeit‘ der Christen.“ 218 S. dazu die Ausführungen in Kapitel 5 dieser Arbeit (zu Gal 1,16 und 3,13). 219 So dürfte ein enger Zusammenhang bestehen zwischen dem (noch ausstehenden) Ziel der universalen Anerkennung des „Herrn der Herrlichkeit“ und der Vorstellung von der im Himmel verborgenen Weisheit (1Hen 42,1–3).
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Der Herr der Herrlichkeit (1Kor 2,8)
der Wirklichkeit, sondern sie nimmt diesen Grund im Glauben mitten in dieser Wirklichkeit wahr. Aus diesem Grund ist das Gotteslob die primäre Form der Rede von Gott. Die Form des Gotteslobes hat dabei auch eine gleichsam proleptische Funktion, indem die Wirklichkeit Gottes, deren universale Sichtbarkeit für die Zukunft erwartet wird, bereits jetzt im Geist erschlossen wird. Diese Erfahrung der Gegenwart Gottes artikuliert sich konkret darin, dass Jesus als κύριος bekannt wird. 6.2
Die Gegenwart Gottes in Jesus Christus
Existentiellen Bestand erhält ein Mensch nach der Auffassung des Paulus nur in der Bindung an Jesus Christus. Indem er das Kreuz Jesu als Ort der Gegenwart Gottes in der Welt begreift, begreift er, wie Gott in verborgener Weise in der Welt da ist. In diesem Sinne wird in Jesus Christus Gottes „Herrlichkeit“ für die Glaubenden jetzt bereits sichtbar. Sie wird ihnen durch den Geist erschlossen, der sie zu Glaubenden macht. Paulus kommt dabei von der konkreten Erfahrung mit der Evangeliumsverkündigung her: Auch in Korinth haben Menschen in seiner Verkündigung Gottes Wort vernommen, und sie sind dadurch zu einer Gemeinde von „Heiligen“ geworden. An dieses Fundament ihres Lebens sollen sie sich immer wieder neu erinnern und damit auch die Konflikte, die es in der Gemeinde gibt, überwinden. Indem Gott in Christus an den Glaubenden gehandelt hat, hat er Jesus Christus als den tragenden Grund ihres Lebens erwiesen. Diese Tatsache soll nun auch das konkrete Leben der Glaubenden bestimmen und auf diese Weise ihre Gottesbeziehung inhaltlich prägen. So wird Gott im Christusgeschehen als der Schöpfer des Menschen erkennbar, der seine Schöpfung in eschatologischer Perspektive vollendet. 6.3
Das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf
Die Rede von der δόξα Jesu Christi und der Glaubenden bringt einen Zusammenhang zur Sprache, der gleichzeitig die Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf festhält. Als „Herr der Herrlichkeit“ ist Jesus Christus der Grund für die „Herrlichkeit“ der Glaubenden. Gehört Jesus als „Herr der Herrlichkeit“ als Person auf die Seite Gottes, so bleibt der Mensch als Geschöpf gerade Gottes Gegenüber. So ist auch im Begriff der δόξα zu differenzieren: Im Blick auf Gott und auf Jesus Christus ist damit das Wesen Gottes bezeichnet, zum Verständnis der Wendung δόξα τοῦ θεοῦ ist demnach von einem genitivus subiectivus zu sprechen.220 Im Blick auf den Menschen ist damit hingegen an die diesem von Gott her verliehene
220 Röm 1,23; 15,7; 1Kor 10,31; 2Kor 4,6.15; Phil 2,11.
Der κύριος τῆς δόξης als die Praesentia Dei
Beständigkeit gedacht, hier wäre deshalb von einem genitivus auctoris bei der Rede von der δόξα τοῦ θεοῦ zu sprechen.221
221 Röm 3,23; 5,2, vgl. 8,18; 1Kor 2,7; 15,43.
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Viertes Kapitel: „Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
1.
„Binitarischer Monotheismus“ bei Paulus?
Wir haben bis hierher gesehen, dass Paulus im Ersten Korintherbrief mit dem Ausdruck ὁ κύριος τῆς δόξης eine Gottesprädikation aufnimmt und auf die Person Jesu bezieht (1Kor 2,8). Paulus identifiziert nicht einfach „die“ σοφία mit Jesus Christus, sondern er nimmt die Frage der Weisheitstheologie auf, die als die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt beschrieben werden konnte. Die Tatsache, dass Paulus von Jesus wie von Gott reden kann, ist deshalb nicht einfach in der Vorstellung von der Weisheit als „göttlicher Person“ präformiert, sondern sie ergibt sich für Paulus aus der Begegnung mit Jesus, den er als die Gegenwart Gottes in Person begreift, an der sich entscheidet, ob ein Mensch Gottes Wirklichkeit in der Welt wahrnimmt. Das Stichwort σοφία begegnet ab 1Kor 3 nicht mehr (ausgenommen 1Kor 12,8).1 Gleichwohl begegnen durchaus Vorstellungen, die Ähnlichkeiten zu weisheitstheologischen Motiven aufweisen. Dies ist gerade auch in dem Text der Fall, der für das Gottesverständnis des Paulus ganz entscheidend ist: in der Bekenntnisformulierung in 1Kor 8,6. Dieser Text steht mit Recht im Zentrum der Diskussion um das Gottesverständnis des Paulus.2 Da es sich hierbei um einen sehr bewusst strukturierten Text handelt, in dem Formulierungen begegnen, die sonst für Paulus ungewöhnlich sind, gehen viele Forscherinnen und Forscher davon aus, dass es sich um ein Traditionsstück handelt.3 Auch wenn diese Annahme durchaus plausibel ist, ist es methodisch geboten, den Text zunächst in seinem vorliegenden literarischen Kontext zu analysieren. Er begegnet im Ersten Korintherbrief im Zusammenhang der Ausführungen von 1Kor 8,1–13, die ihrerseits im übergreifenden Zusammenhang 8,1–11,1 stehen. In 1Kor 8,6 heißt es:4
1 Vgl. die oben zu Beginn von Kapitel 3 aufgeführten Belege. 2 S. dazu neben den Kommentaren z. St. Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ; Feldmeier, Monotheismus, 311f; ders./ Spieckermann, Gott, 111–114; Hofius, Einer; Hurtado, Lord, 123–126; Jantsch, Gottesverständnis, 161–198; Klumbies, Gott, 128–130; Landmesser, Gott denken; ders., Wie Gott handelt. 3 Zu den Argumenten für die Annahme einer Tradition s. etwa Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 89; Schrage, 1Kor II, 221–225; Wolff, 1Kor, 172–176. Zurückhaltend gegenüber der Annahme einer Formel äußern sich Fee, Corinthians, 413 („That can neighter be proved nor disproved.“); Lindemann, 1Kor, 192. 4 Zur Übersetzung und Struktur der Formel s. u.
194
„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
ἀλλ’ ἡμῖν εἷς θεὸς
ὁ πατὴρ
καὶ εἷς κύριος
Ἰησοῦς Χριστὸς δι’ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δι’ αὐτοῦ.
ἐξ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν,
Formgeschichtlich handelt es sich hierbei offensichtlich um ein Glaubensbekenntnis, das die Einzigkeit Gottes betont, diese aber gleichzeitig mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus als dem κύριος verbindet. Wie in der Forschung mittlerweile deutlich geworden ist, lässt sich die Formel als eine christliche Interpretation des monotheistischen Bekenntnisses Israels begreifen,5 das in Dtn 6,4 in klassischer Weise formuliert wird.6 Die Septuaginta-Fassung dieses Verses bot den frühen Christusgläubigen die Möglichkeit, dieses Bekenntnis aus der Perspektive des Christusglaubens zu interpretieren (s. u.).7 Schon diese Beobachtung zeigt, dass für Paulus und die frühchristliche Tradition das Bekenntnis zu Jesus eine bestimmte Form des monotheistischen Gottesglaubens zum Ausdruck bringt. Die Frage, auf welchen Begriff man diese Form des Monotheismus bringen kann, ist hingegen umstritten. Einige Ausleger sprechen von einem „christologischen“8 bzw. „binitarischen“9 Monotheismus. Inwiefern diese Bezeichnung angemessen ist, ist gefragt worden.10 Im Hintergrund steht die Diskussion, auf die ich in Kapitel 1 dieser Arbeit hingewiesen habe. Sie nimmt bei Wilhelm Boussets These einer angeblichen „Verdopplung des Glaubensobjekts“ bei Paulus ihren Ausgangspunkt. Im Zuge der Religionsgeschichtlichen Schule wurde neben jüdischen Voraussetzungen zunehmend auch nach pagan-hellenistischen Einflüssen gefragt. Bousset verstand die κύριος-Prädikation als eine „Abstufung“ gegenüber der Bezeichnung θεός. Wenn Jesus in 1Kor 8,6 als κύριος bezeichnet werde, dann werde er hier de facto als „Halbgott“ dargestellt, womit deutlich werde, „auf wie gefährlichen 5 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 113; Hofius, Einer, 177–179; Landmesser, Wie Gott handelt, 131f und die dort mit Anm. 25 genannten Autoren; Lincicum, Deuteronomy, 138–140 und die aaO., 139 mit Anm. 62 genannten Autoren; Schreiner, Corinthians, 171; Wolff, 1Kor, 173. 6 Auf die Differenzierung zwischen „Monotheismus“ und „Monolatrie“ verzichte ich in diesem Zusammenhang. Mag das Bekenntnis Dtn 6,4 in seinem ursprünglichen Zusammenhang „monolatrisch“ zu verstehen sein (so etwa Otto, Dtn 4,44–11,32, 795f), so war es doch zur Zeit des Paulus längst zum Ausdruck eines expliziten „Monotheismus“ geworden (Öhler, Geschichte, 56). 7 Zur Septuaginta-Rezeption im Neuen Testament und in der Alten Kirche s. Tilly, Septuaginta, 100–112. 8 Zu der unter dem Stichwort „Christological Monotheism“ geführten Debatte vgl. Vollenweider, Monotheismus, 4f. Von einem „christologischen Monotheismus“ sprechen im Blick auf 1Kor 8,6 Feldmeier/Spieckermann, Gott, 113. 9 Den Begriff „binitarisch“ im Blick auf den Zusammenhang von Christologie und Monotheismus verwenden unabhängig voneinander Hofius, Einer, 179; Hurtado, Lord, 52f; Schnelle, Paulus, 541. Schäfer, Götter, 25 spricht auch im Blick auf das Frühjudentum von „binitarischen Spekulationen“, zum Begriff „binitarisch“ s. aaO., 12. 10 Vgl. Vollenweider, Monotheismus, 25.
„Binitarischer Monotheismus“ bei Paulus?
Bahnen sich diese Überlegungen des Paulus bewegen“.11 Entscheidend ist dabei die Beobachtung, dass in dem der Bekenntnisformulierung vorausgehenden Vers 1Kor 8,5 von „vielen Göttern und Herren“ (θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί) die Rede ist. Die Frage, wie sich V. 5 und V. 6 zueinander verhalten, ist demnach für die Auslegung entscheidend. Die Kritik an Boussets These knüpft bei der Beobachtung an, dass in der Septuaginta das artikellose κύριος die griechische Wiedergabe des Tetragramms ()יהוה ist.12 Die im ersten Kapitel dieser Arbeit gegebenen Begriffsklärungen zum Sprachgebrauch sind hier in Erinnerung zu rufen. So hat etwa Joseph A. Fitzmyer darauf hingewiesen, dass der Charakter des Wortes κύριος als Wiedergabe eines Namens in der Septuaginta sehr bewusst gehalten wurde.13 Dies wird insbesondere durch den häufig artikellosen Gebrauch von κύριος signalisiert,14 aber auch durch die Beobachtung bestätigt, dass vorchristliche Septuaginta-Handschriften die hebräischen Buchstaben des Tetragramms in den griechischen Septuagintatext eingetragen haben.15 Zum zweiten ist gegenüber Bousset festzustellen, dass wohl nicht erst Paulus den Gattungsbegriff ὁ θεός mit der Bezeichnung κύριος verbindet, sondern dies bereits in der frühchristlichen Tradition geschieht, die dabei ihrerseits an die Septuaginta anknüpft. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen hat Larry Hurtado gegenüber Boussets Sicht kritisiert, es sei „schlicht nicht glaubhaft, dass Einflüsse der heidnischen religiösen Umwelt der entscheidende Faktor seien, der die Verehrung Jesu als göttlich hervorgebracht habe“.16 Auch das für 1Kor 8,6 als außergewöhnlich erachtete Motiv von der „Schöpfungsmittlerschaft“ Christi (s. dazu unten) ist nach Hurtados Auffassung nicht einfach als eine „Übertragung“ eines Motivs aus der Weisheitstheologie auf die Christologie zu begreifen. Vielmehr setze das Motiv die Überzeugung von Jesu „Präexistenz“ voraus und gründe damit in einer christologischen Grundüberzeugung.17 Diese Überzeugung „erfindet“ Paulus nicht einfach und er „überträgt“ sie auch nicht aus seiner hellenistisch geprägten Umwelt auf sein eigenes christologisches Denken.18 Das zeigt sich auch daran, dass Paulus diese Überzeugung nicht eigens begründet, sondern sie bei seinen Adressa-
11 Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 180. 12 Quell, κύριος, 1057, ebenso Fitzmyer, κύριος, 817; Hurtado, Lord, 111. 13 Zu Fitzymyers Sicht s. seinen entsprechenden EWNT-Artikel: Fitzmyer, κύριος, 811–820, vgl. ders., Hintergrund. 14 Debrunner, Übersetzungstechnik, 77. 15 Fitzmyer, κύριος, 816. 16 Hurtado, Jesusverehrung, 274. Zur Auseinandersetzung mit Bousset s. bereits Hurtado, New Testament Christology. 17 Hurtado, Lord, 123f, vgl. Fee, Incarnation, 65–68. 18 Hurtado, aaO., 125f.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
ten voraussetzt.19 Damit sind bereits einige Aspekte der Diskussion angesprochen, die für die Auslegung von 1Kor 8,6 in seinem Kontext im Blick auf das hier zum Ausdruck kommende Gottesverständnis wichtig sind: Wie ist der hier formulierte „Monotheismus“ genau zu verstehen?20 Um die Frage beantworten zu können, ist zunächst eine Verortung von 1Kor 8,6 im Kontext des Ersten Korintherbriefs vorzunehmen.
2.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
Was Hurtado zum Verhältnis von Weisheitstheologie (am Beispiel des Motivs der „Schöpfungsmittlerschaft“) und Christologie bemerkt, bestätigt die Beobachtungen, die wir in Kapitel 3 dieser Arbeit gemacht hatten: Paulus greift in 1Kor 1–3 das Stichwort σοφία auf, das in der Korinthischen Gemeinde offensichtlich eine Rolle spielt, er entwickelt dann aber einen eigenen Weisheitsbegriff, der von seiner christologischen Grundüberzeugung bestimmt ist.21 Nach dem den Ersten Korintherbrief einleitenden Abschnitt 1Kor 1,18–4,21 greift Paulus ab Kapitel 5 ganz konkrete Fragen auf, die aus der Gemeinde an ihn herangetragen worden sind22 und die ihrerseits wohl auf den in 1Kor 5,9 genannten Brief des Paulus reagieren. Auch in 1Kor 8,1–13, in dem sich das Bekenntnis 8,6 befindet, geht es um eine konkrete, alltagsweltliche Frage. Es ist bemerkenswert, wie Paulus in diesen konkreten Zusammenhängen theologisch argumentiert. Darin zeigt sich, dass das Gottesverständnis für Paulus praktische Konsequenzen hat. Ihm geht es entscheidend darum, der Gemeinde in Korinth aufzuzeigen, was ihr Gottesverständnis für ihr Alltagsleben bedeutet. Sein Thema leitet Paulus in 8,1 mit der Wendung περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων ein.23 Dieser Abschnitt über das „Götzenopferfleisch“ verläuft bis zu 1Kor 11,1,24 wo er in die Aufforderung mündet: μιμηταί μου γίνεσθε καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ. Auf diese „mimetische“ Figur waren wir bereits in 1Thess 1,6 gestoßen. Auch in 1Kor 8,1–11,1 bringt Paulus – vor allem in 1Kor 9 – seine eigene Person ins Spiel, um den Korinthern deutlich zu machen, was die geteilte theologische
19 AaO., 124: „Paul’s brief statement of this also seems to presuppose that the idea was already known to his readers, thus requiring no elaboration from him here.“ 20 S. dazu die Hinweise auf die Diskussion um Jan Assmann in Kapitel 1 dieser Arbeit. 21 Vgl. Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 46: Paulus bestreitet „die Interpretationshoheit eines remoto Christo interpretierten griechischen Weisheitsbegriffs“, er deutet das „Wort vom Kreuz“ aber dennoch als eine Art „Weisheit“ (1Kor 2,7). 22 In 1Kor 5,1 weist Paulus selbst darauf hin, dass er etwas aus Korinth gehört hat: ὅλως ἀκούεται ... 23 Die Wendung περὶ δέ gebraucht Paulus auch in 1Kor 7,1 und in 12,1. 24 So etwa auch Conzelmann, 1Kor, 169; Lang, 1Kor, 107; Wolff, 1Kor, 165; Zeller, 1Kor, 279.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
Einsicht für das Leben eines Glaubenden bedeutet. Deutlich wird, wie eng die Frage der Gotteserkenntnis mit dem gelebten Leben verbunden ist. 2.1
Das Problem in Korinth nach 1Kor 8,1–13
Die in 1Kor 8,1 verwendete Wendung εἰδωλόθυτος bezeichnet das „Götzenopferfleisch“.25 Auffällig ist, dass Paulus hier eine jüdische Formulierung verwendet, da Nicht-Juden das „Götzenopferfleisch“ mit den Begriffen ἱερόθυτον bzw. θεόθυτον bezeichnen.26 Das Wort εἰδωλόθυτον gebraucht Paulus ausschließlich im Ersten Korintherbrief und hier nur in 8,1–11,1.27 In diesem Abschnitt verwendet Paulus ein einziges Mal auch die „heidnische“ Wendung ἱερόθυτον (10,28). Wenn Paulus in 1Kor 8,1 eine jüdische Formulierung verwendet, dann versteht er das hier behandelte Problem offensichtlich analog zu den Fragen, die sich für jüdische Menschen in einer nicht-jüdischen Umwelt stellen. Dabei verbindet Paulus das Thema des „Götzenopferfleisches“, um das es speziell in 1Kor 8,1–11,1 geht, mit einem anderen Thema, das die korinthische Korrespondenz durchzieht: mit dem Thema der „Erkenntnis“ (γνῶσις).28 Ähnlich wie beim Thema der „Weisheit“ handelt es sich beim Thema der „Erkenntnis“ um eine Frage, die gerade in Korinth relevant ist. Sie ist ganz konkret gestellt, da es um praktische „Erkenntnis“ geht, d. h. um die Frage, welche Auswirkungen bestimmte Glaubensüberzeugungen auf das Leben der Menschen haben. Das Stichwort begegnet bereits zu Beginn des Ersten Korintherbriefs, wenn Paulus in 1Kor 1,4f darauf hinweist, dass sich für die Glaubenden mit der „Gnade, die euch in Christus Jesus gegeben ist“, auch ein Wachsen in der Erkenntnis verbindet (… ὅτι ἐν παντὶ ἐπλουτίσθητε ἐν αὐτῷ, ἐν παντὶ λόγῳ καὶ πάσῃ γνώσει). 1Kor 8,1–11,1 stellt eine Konkretisierung dieser im Proömium angedeuteten Thematik dar.29 Es ist denkbar, dass Paulus mit οἴδαμεν in 1Kor 8,1aβ („Wir wissen: Wir haben alle Erkenntnis“) eine These aufnimmt, die in
25 Schrage, 1Kor II, 216 weist darauf hin, dass der Terminus grundsätzlich „das den Götzen Geopferte“ bezeichnet. 26 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 446, s.v. εἰδωλόθυτος; Büchsel, εἰδωλον κτλ., 375f; Zeller, 1Kor, 281. Als erster Beleg für den Begriff gilt 4Makk 5,2 (Büchsel, aaO., 376, vgl. Zeller, aaO., 281, s. u.). 27 1Kor 8,1.4.7.10; 10,19. Im Neuen Testament sonst nur noch in Apg 15,29; 21,25 (im Zusammenhang mit dem „Aposteldekret“) und in Offb 2,14.20. 28 Im Ersten Korintherbrief begegnet das Wort neben 8,1 in 1Kor 1,5; 8,7.11; 12,8; 13,2.8; 14,6. Im Zweiten Korintherbrief in 2,14; 4,6 (!); 6,6; 8,7; 10,5; 11,6. Ansonsten bei Paulus nur noch in Röm 2,20; 11,33; 15,14; Phil 3,8, vgl. Kol 2,3; Eph 3,19 und die berühmte Stelle 1Tim 6,20, wo von der „fälschlich so genannten Gnosis“ die Rede ist. Hier taucht die „Gnosis“ als Gruppierung erstmals im Neuen Testament auf, s. dazu Hengel, Gnosis, 190–192. 29 Auf diese thematische Aufnahme des im Proömium angesprochenen Themas der Erkenntnis in 1Kor 8,1–11,1 macht auch Jantsch, Gottesverständnis, 161 aufmerksam.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Korinth kursiert.30 Demnach berufen sich einige in der Korinthischen Gemeinde auf ihre γνῶσις, in der sie offensichtlich ihre Freiheit im Blick auf den Umgang mit dem „Götzenopferfleisch“ begründet sehen. Mit der Formulierung in der ersten Person Plural macht Paulus sich diese Überzeugung grundsätzlich zu eigen,31 er entfaltet aber, was für eine Art der „Erkenntnis“ mit dem Glauben gegeben ist. Diese Erkenntnisweise hängt bereits mit dem Inhalt des Glaubens zusammen, auf den Paulus deshalb mit der Bekenntnisformulierung in 8,6 ausdrücklich zu sprechen kommt. Die Beschreibung des antiken Korinth, die Pausanias (115–180 n. Chr.) im zweiten Jahrhundert n. Chr. gegeben hat, vermittelt einen lebhaften Eindruck davon, wie stark das tägliche Leben in der Hafenstadt in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. von der Präsenz von „Göttern“ geprägt war.32 Diese Präsenz wird am Essen von Fleisch, das heidnischen Gottheiten geweiht worden war und auf dem Markt in Korinth angeboten wurde, sinnfällig.33 Für die Gemeindeglieder in Korinth entzündete sich daran die Frage, was es für ihr Gottesverhältnis bedeutet, wenn sie solches Fleisch essen. Der Kontext, in dem das Wort εἰδωλόθυτον in der Septuaginta zum ersten Mal begegnet (4Makk 5,2),34 macht deutlich, dass es mit diesem Begriff um ein Loyalitätsverhältnis geht, in das man sich durch das Essen des „Götzenopferfleisches“ begibt.35 Man könnte auch sagen, dass es hier um das geht, was 30 So etwa Conzelmann, 1Kor, 173; Hofius, Einer, 171; Lindemann, 1Kor, 189f; Schrage, 1Kor II, 221; Wolff, 1Kor, 168. 31 Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 68, formuliert, Paulus stelle mit der Formulierung die Auffassung „in den Diskussionszusammenhang der 1. Person Plural, d. h. des allgemein-christlichen Wir“. Becker plädiert ausdrücklich dafür, in 1Kor 8,1aβ eine paulinische Formulierung zu sehen (aaO., 72). Ebenso Zeller, 1Kor, 285 mit Verweis auf Röm 2,2; 3,19; 7,14; 8,22.28; 2Kor 5,1. M.E. bewertet Becker diese Frage zu hoch, denn es ist klar, dass Paulus diese „These“ teilt, freilich nur in dem Sinne, in der sie nach seinem Verständnis angemessen ist. 32 Paus. Graec.descr. III. 33 Für das Argument des Paulus ist es unerheblich, ob es in Korinth neben dem „religiös kontaminierten Fleisch“ auch Fleisch aus „Profanschlachtungen“ gab, und dieses sogar „das Normale“ war (Deines, Aposteldekret, 282, vgl. Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 178–180), da Paulus das „Opferfleisch“ eben zum Ausgangspunkt nimmt, um über das Verhältnis der Glaubenden zu den εἴδωλα zu reflektieren. 34 Büchsel, εἴδωλον κτλ., 376. 35 In 4Makk 5,1–3 wird erzählt, wie „der Tyrann Antiochus“ Juden zwingt, „vom Schweinefleisch und vom Götzenopferfleisch zu kosten“: Προκαθίσας γέ τοι μετὰ τῶν συνέδρων ὁ τύραννος ᾿Αντίοχος ἐπί τινος ὑψηλοῦ τόπου καὶ τῶν στρατευμάτων αὐτῷ παρεστηκότων κυκλόθεν ἐνόπλων παρεκέλευεν τοῖς δορυφόροις ἕνα ἕκαστον Εβραῖον ἐπισπᾶσθαι καὶ κρεῶν ὑείων καὶ εἰδωλοθύτων ἀναγκάζειν ἀπογεύεσθαι· εἰ δέ τινες μὴ θέλοιεν μιαροφαγῆσαι, τούτους τροχισθέντας ἀναιρεθῆναι. Die von Antiochus gestellte Forderung an die Juden fasst der Verfasser des Vieren Makkabäerbuches als Aufforderung auf, ihre jüdische Identität preiszugeben. „Einen Juden zum Essen von Götzenopferfleisch zwingen, hieß, ihn zum Abfall vom Judentum zwingen.“ Büchsel, ebd.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
Jan Assmann den „Monotheismus der Treue“ genannt hat:36 um ein Macht- und Loyalitätsverhältnis in einem religiös geprägten gesellschaftlichen Kontext und damit verbunden um die Wahrung einer religiös begründeten Identität. Innerhalb des Abschnitts 1Kor 8,1–13 lässt sich ein Fortschritt der Argumentation in mehreren Schritten beobachten, der sich an bestimmten Stichworten festmachen lässt: In den Versen 1–3 sagt Paulus zunächst grundsätzlich etwas zum Thema der „Erkenntnis“ (γνῶσις). Mit V. 4 geht er dann auf die konkrete Situation ein: auf das Essen des Götzenopferfleisches. Hier entfaltet Paulus die christliche Fassung des Bekenntnisses zu dem einen Gott (V. 6) und konfrontiert dieses mit der Frage nach den „Göttern“ und „Herren“ der Umwelt (V. 5). Ab V. 7 thematisiert Paulus, wie sich die damit beschriebene inhaltliche „Erkenntnis“ konkret auswirken müsste im Blick auf die „Schwachen“ (ἀσθενεῖς, s. V. 7.9.10, vgl. V. 12) und im Blick auf die Frage der ἐξουσία der Glaubenden (V. 9). Dabei begegnet zweimal das Stichwort „Gewissen“ (συνείδησις, V. 7.10, vgl. V. 12). In V. 11 wird der Begriff ἀδελφός eingeführt, der dann in den jeweils folgenden beiden Versen begegnet (V. 12f) und mit dem Paulus das Thema in den Blick rückt, auf das es ihm ankommt: die Gemeinschaft der Glaubenden, die durch ihren gemeinsamen Bezug auf das Glaubensbekenntnis begründet ist. So lässt sich eine Gliederung dieses Abschnittes begründen, nach der wir den Text schrittweise untersuchen können:37 1Kor 8,1–3: Die Erkenntnis des Glaubens 1Kor 8,4–6: Der eine Gott als Kriterium des Lebens 1Kor 8,7–13: Der „Bruder“ als Maßstab
36 Assmann, Totale Religion, 32, vgl. 36f.44; ders., Exodus, 11. 37 Die Gliederung des Abschnitts wird unterschiedlich bestimmt: Hofius, Einer, 171 geht bei seiner Gliederung davon aus, dass sich jeweils Äußerungen der Korinther (V. 1a; V. 4–6 und V. 8) von „der jeweiligen Stellungnahme des Apostels“ (V. 1–3; V. 7; V. 9–13) unterscheiden lassen. Das Bekenntnis in 8,6 würde demnach aus Korinth stammen, und die Korinther würden hier „katechetisches … Gut“ wiedergeben (aaO., 172). So kommt er zu der Einteilung: 1–3; 4–7; 8–13 (aaO., 171). Andere Ausleger sehen 8,1–6 als einen Abschnitt an, von dem sie 7–13 als zweiten Schritt unterscheiden (so Lindemann, 1Kor, 189.194; Wolff, 1Kor, 168.177; Schrage, 1Kor II, 215.251; Zeller, 1Kor, 283 nimmt 8,1–13 als einen zusammengehörigen Abschnitt). Der Einschnitt zwischen V. 3 und V. 4 ist deutlich, weshalb sich eine Einteilung der Argumentation in drei Schritte naheliegt. Die Frage ist, zu welchem Abschnitt V. 7 gerechnet werden soll. Aufgrund der oben genannten Beobachtung, dass die miteinander verbundenen Stichworte ἀσθενεῖς und συνείδησις ab V. 7 und dann im Folgenden begegnen, rechne ich den Vers zum Abschnitt 7–13. Auch wenn es durchaus möglich ist, dass V. 8 ein Zitat der Korinther ist, so scheint mir doch fraglich, ob das Bekenntnis 8,6 wirklich aus Korinth stammt oder nicht vielmehr von Paulus hier eingeführt wird (so etwa Schrage, 1Kor II, 221). In 1Kor 11,23 und 15,3, wo Paulus Traditionen einführt, sagt er jeweils ausdrücklich, dass er diese Tradition den Korinthern überliefert hat. In 1Kor 8,6 findet sich ein solcher Hinweis nicht. Dennoch handelt es sich wohl um eine allen gemeinsam bekannte Tradition.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
2.2
Die Erkenntnis des Glaubens (1Kor 8,1–3)
Eine entscheidende Wendung erhält der Erkenntnisbegriff dadurch, dass Paulus das Stichwort γνῶσις in 1Kor 8,1 mit dem Begriff der ἀγάπη konfrontiert. Paulus geht dabei so vor, dass er zunächst die Wirkung von γνῶσις und ἀγάπη beschreibt (V. 1b) und dann in den Versen 2 und 3 mit den entsprechenden Verben γινώσκειν und ἀγαπᾶν entfaltet, was er mit diesen Begriffen verbindet. 1 Περὶ δὲ τῶν εἰδωλοθύτων, οἴδαμεν ὅτι πάντες γνῶσιν ἔχομεν. ἡ γνῶσις φυσιοῖ,
ἡ δὲ ἀγάπη οἰκοδομεῖ·
2 εἴ τις δοκεῖ ἐγνωκέναι τι, οὔπω ἔγνω καθὼς δεῖ γνῶναι· 3 εἰ δέ τις ἀγαπᾷ τὸν θεόν, οὗτος ἔγνωσται ὑπ’ αὐτοῦ.
1 Was aber das Götzenopferfleisch anlangt: Wir wissen: Wir haben alle Erkenntnis. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf; 2 Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen muss; 3 Wenn aber jemand Gott liebt, dieser ist von ihm erkannt. Das von Paulus ausschließlich im Ersten Korintherbrief verwendete Verb φυσιοῦν steht bereits in 1Kor 4 im Zusammenhang von Streitigkeiten innerhalb der Gemeinde.38 Insofern gehört es wie das als Opposition verwendete Verb οἰκοδομεῖν in einen ekklesiologischen Zusammenhang.39 Dem sogenannten „Hohenlied der Liebe“ zufolge stellt φυσιοῦν geradezu den Gegensatz zur ἀγάπη dar, von der es dort heißt: ἡ ἀγάπη ... οὐ φυσιοῦται (1Kor 13,4). Die ἀγάπη stützt demnach die Gemeinschaft der Glaubenden, während eine sich „aufblähende“ Erkenntnis diese untergräbt. Was sich bereits im Blick auf den Begriff der σοφία beobachten ließ, gilt nun auch für die γνῶσις: Der Erkenntnisbegriff wird nicht einseitig negativ konnotiert, wohl aber vom Glauben her interpretiert. Was wirklich „Erkenntnis“ und was „Liebe“ ist, das wird für Paulus an den konkreten Auswirkungen von „Erkenntnis“ und „Liebe“ erkennbar.
38 Nur hier im Aktiv („aufblähen“, „hochmütig machen“), sonst im Passiv („aufgeblasen“ oder „hochmütig werden“). Neben 1Kor 8,1b in 1Kor 4,6.18.19; 5,2; 13,4, vgl. Kol 2,18. Darüber hinaus begegnet das Verb im Neuen Testament nicht, vgl. aber IgnPol 4,3; IgnTrall 7,1. 39 1Kor 14,3.5.12.26 (Nomen); 14,4.17 (Verb); 1Kor 3,9; 2Kor 10,8; 12,19 (Nomen); 1Kor 8,10; 10,23 (Verb). Eine Ausnahme ist 2Kor 5,1, wo Paulus das Nomen als Bild für den menschlichen Körper verwendet, die nicht ganz stimmige Metapher an dieser Stelle dürfte aber damit zusammenhängen, dass Paulus das ekklesiologische Bild mit dem Bild des menschlichen Körpers als „Gewand“ verbindet (vgl. Pfammatter, οἰκοδομή, 1214).
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
Es ist wichtig, wahrzunehmen, dass Paulus in V. 3 zunächst nicht von der Liebe zum Nächsten, sondern von der Liebe zu Gott redet.40 Selbstverständlich kann Paulus auch das Verhältnis der Glaubenden untereinander als „Liebe“ bezeichnen.41 Im Zusammenhang von 1Kor 8,1–13 ist aber bemerkenswert, dass Paulus in den Versen 7–13, wo das Verhältnis der Gemeindeglieder untereinander thematisiert wird, das Verb ἀγαπᾶν nicht verwendet. Die Frage nach der Liebe zum „Bruder“ sollte deshalb in 1Kor 8,3 noch nicht eingetragen werden.42 Zwar spricht Paulus in V. 1 grundsätzlich von der ἀγάπη und meint damit offensichtlich eine zwischenmenschliche Haltung, er entfaltet das Thema der Liebe in V. 3 dann aber zunächst als Liebe zu Gott. Diese Beobachtung ist für die Art der Verknüpfung des Bekenntnisses 1Kor 8,6 mit dem Argumentationskontext entscheidend. Die Formulierung ἀγαπᾶν τὸν θεόν begegnet bei Paulus noch in 1Kor 2,9 und in Röm 8,28. Insbesondere die erstgenannte Stelle weist einige Gemeinsamkeiten mit 1Kor 8,1–6 auf. In 1Kor 2,9 ist von der „verborgenen“ Weisheit die Rede, die Gott „denen bereitet hat, die ihn lieben“ (ἃ ἡτοίμασεν ὁ θεὸς τοῖς ἀγαπῶσιν αὐτόν). In Röm 8,28 formuliert Paulus: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten wirkt“ (oἴδαμεν δὲ ὅτι τοῖς ἀγαπῶσιν τὸν θεὸν πάντα συνεργεῖ εἰς ἀγαθόν). „Gott lieben“ beschreibt demnach die Bindung der eigenen Existenz an Gott.43 So lässt sich bereits durch die Wendung ἀγαπᾶν τὸν θεόν in 1Kor 8,3 eine Anspielung auf den Kontext von Dtn 6,4 sehen, der dann in 1Kor 8,5f besonders deutlich wird. Im Anschluss an das Sche ma’ Israel heißt es in Dtn 6,5, in der Fassung der Septuaginta:
40 Es gibt keinen Grund, an dieser Stelle der kürzeren Lesart von Papyrus 46, in der die Worte τὸν θεόν fehlen, den Vorzug zu geben, wie Fee, Corinthians, 406f meint. Denn abgesehen von der starken äußeren Bezeugung erklärt sich die Auslassung als Angleichung an V. 2 (so mit Recht Metzger, Textual Commentary, 490; Wolff, 1Kor, 171, Anm. 29) und stellt zudem die lectio difficilior dar. Die kürzere Lesart zeigt vielmehr, dass die Eigenart der Wendung „Gott lieben“ nicht wahrgenommen wurde. Sie wird aber durch 1Kor 2,9 und Röm 8,28 als paulinisch erwiesen. 41 So insbesondere – in Aufnahme von Lev 19,18 – in Röm 13,9 und in Gal 5,14, vgl. 1Thess 4,9; Phil 2,2. Eine Sichtung der Belege zeigt, dass Paulus allerdings ebenso häufig von Gott als Subjekt des Liebens spricht: Röm 5,5; 8,37; 9,13; Gal 2,20. 42 Das wird in den Kommentaren teilweise getan, so bei Wolff, 1Kor, 171, der zunächst festhält, dass in 1Kor 8,3 Gott das Objekt der Liebe ist, dann aber hinzufügt: „…, während vom Kontext her (V.7ff.) eher an den Mitchristen zu denken wäre“. Man sollte an dieser Stelle auch nicht die Liebesethik des Ersten Johannesbriefes eintragen, wie Zeller, 1Kor, 287, der erklärt: „Paulus müsste schreiben: Wenn einer aber seinen Bruder liebt, der hat erkannt, wie es sein muss.“ Das erinnert eher an 1Joh 4,20 als an 1Kor 8,3. 43 S. dazu die in Kapitel 3 gegebenen Hinweise zur Wendung ἀγαπᾶν τὸν θεόν und die dort angegebenen Stellen (zu 1Kor 2,9).
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
καὶ ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου ἐξ ὅλης τῆς καρδίας σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς ψυχῆς σου καὶ ἐξ ὅλης τῆς δυνάμεώς σου
Und du sollst den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.
Durch das dreimal wiederholte ἐξ ὅλης wird an dieser Stelle deutlich, dass „Gott lieben“ die umfassende Bindung der menschlichen Existenz an Gott bedeutet. Da dies auch in Dtn 6,4f im Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott steht, lässt sich hier ein Motivzusammenhang beobachten, der für 1Kor 8,1–6 entscheidend ist und dann die Ausführungen in den Versen 7–13 vorbereitet. Es besteht demnach nicht nur ein Zusammenhang zwischen den isoliert gelesenen Versen 1Kor 8,6 und Dtn 6,4, sondern auch zu den jeweiligen Kontexten. Das unterstreicht, dass Paulus sich offensichtlich bewusst ist, eine Tradition aufzunehmen, die sich als Interpretation von Dtn 6,4 verstehen lässt, zumal das Sche ma’ Israel jedem Juden und jeder Jüdin zu seiner Zeit geläufig gewesen sein dürfte. In 1Kor 8,3 interpretiert Paulus „Gott lieben“ als „erkannt sein durch ihn“.44 „Erkennen“ als Geistestätigkeit des Menschen gründet demnach in Gottes Initiative. Das paulinische Verständnis von γινώσκειν ist durch den Beziehungsaspekt geprägt, wie er in der hebräischen Wurzel ידעzum Ausdruck kommt. Sie kann die Fürsorge Gottes bezeichnen.45 Da „Erkennen“ hier vor allem als „Anerkennen“ verstanden wird, ergibt sich in manchen alttestamentlichen Texten eine Parallelität von „erkennen“ und „erwählen“ (Am 3,2; Jer 1,5).46 „Von Gott (an-)erkannt sein“ lässt sich so analog zu „von Gott erwählt sein“ verstehen. In diesem Zusammenhang lässt sich auf die bereits beobachtete Parallelität zwischen Erwählung und Liebe hinweisen. In 1Thess 1,4 hat Paulus gesagt, dass die Glaubenden „von Gott Geliebte“ (ἠγαπημένοι ὑπὸ τοῦ θεοῦ) sind.47 Die 1Kor 8,3 sachlich am nächsten stehenden Formulierungen finden sich allerdings in Gal 4,9 und in 1Kor 13,12.48 Die „Liebe“ zu Gott gründet dem-
44 Die Worte ὑπ’ αὐτοῦ fehlen in Papyrus 46 und in der ursprünglichen Fassung des Codex Sinaiticus. Im erstgenannten Papyrus erklärt sie sich aus der vorher erfolgten Auslassung von τὸν θεόν. Auch an dieser Stelle hat der Abschreiber übersehen, dass Paulus in 1Kor 8,3 keine allgemein-menschliche, sondern eine spezifisch theologische Aussage formulieren will, s. dazu Metzger, Textual Commentary, 491. 45 Schottroff, ידע, 691: Diese Bedeutung habe die Wurzel bereits in seiner „vorisraelitischen Verwendung“. 46 Vgl. Bultmann, γινώσκω κτλ., 709; Schrage, 1Kor II, 234f; Schreiner, Corinthians, 169; Zeller, 1Kor, 287. 47 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit. 48 Landmesser, Gott denken, 225 mit Anm. 17; Wolff, 1Kor, 170, der darüber hinaus 1Kor 14,38 nennt, vgl. Schrage, 1Kor II, 234 sowie Feldmeier, Monotheismus und Christologie, 312.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
nach in dem Geliebt-Sein durch Gott,49 die Erkenntnis Gottes in der Erwählung durch ihn.50 In der Auslegung ist darauf hingewiesen worden, dass auch in hellenistischen Texten von einer Reziprozität von „Erkennen“ und (von Gott) „Erkanntsein“ die Rede ist.51 Dieter Zeller weist allerdings darauf hin, dass Paulus sich von den „Parallelen“ aus der hellenistischen Umwelt dadurch unterscheide, dass der Zusammenhang von „Erkennen“ und (von Gott) „Erkanntsein“ „nicht in der Wesensidentität von Gott und Erkennendem gründet, sondern in einer personalen Zuwendung Gottes.“52 Diese Feststellung ist für das Gottesverständnis bereits wichtig, denn für Paulus ist und bleibt – wie für die biblische Tradition insgesamt – Gott Gegenüber des Menschen, dem er sich gerade deshalb zuwenden und ihm begegnen kann. Wolfgang Schrage erklärt deshalb mit Recht, dass „weder die absolute Fassung von γνῶσις im Zitat von V 1 noch die an die hellenistische Mystik, an Philo und an gnostische Texte anklingende reziproke Formulierung irre machen“ können an der „alttestamentliche[n] Färbung des paulinischen γνῶσις-Begriffes.“53 Paulus versucht hier keine ontologische Begründung der Gotteserkenntnis zu geben. Vielmehr redet er ganz praktisch davon, dass die im Glauben bestehende Relation Gottes zum Menschen eine bestimmte Erkenntnis enthält. Vom Inhalt des Glaubens aus ergibt sich für den Einzelnen Orientierung für sein Leben.54 Deshalb erinnert Paulus an diesen Inhalt im Zusammenhang einer ganz konkreten Frage nach dem Verhalten der Gemeinde in ihrem gesellschaftlichen Kontext. Der Abschnitt 1Kor 8,1–13 zeigt demnach, dass für Paulus die inhaltliche Fassung der Gotteserkenntnis die Grundlage für die Ethik ist. Ihre inhaltliche Entfaltung hat deshalb unmittelbare Konsequenzen für das Leben der Glaubenden.
49 Nach Röm 8,28 sind die, die „Gott lieben“ identisch mit denen, „die berufen sind“. 50 Wolff, 1Kor, 170 verbindet die verschiedenen Aspekte miteinander, wenn er erklärt: „Von Gott erkannt sein, bedeutet: von ihm liebend erwählt, angenommen sein (vgl. Ex 33,12.17; Amos 3,2; Jer 1,5; Ps. 144,3; Ps. Sal. 17,42; für Paulus Röm. 8,29f.).“ 51 Bultmann, γινώσκειν, 709f meint, dass Paulus sich hier „gnostischen Sprachgebrauch“ aneigne, um ihm sein eigenes Verständnis von „Erkenntnis“ entgegenzuhalten, wendet sich aber kritisch gegen Versuche, den Sprachgebrauch aus der hellenistischen Mystik heraus zu erklären. Schmithals, γινώσκω κτλ., 601 hingegen erklärt die Wendung als „mystisch-mysterienhafte Sprache“. 52 Zeller, 1Kor, 287. Zeller verweist für diesen Gedanken auch auf Philo: Philo cher. 107–123; somn. II 226f. 53 Schrage, 1Kor II, 234. 54 γνῶσις und ἀγάπη lassen sich bei Paulus deshalb nicht gegeneinander ausspielen, wie dies der Tendenz nach bei Bultmann, γινώσκω, 710 geschieht, wenn er – von einer antignostischen Stellung des Paulus ausgehend – bemerkt, die γνῶσις sei „gerade nicht die eigentliche Beziehung zu Gott“. Zutreffender wäre es, zu formulieren: Die Beziehung zu Gott äußert sich in Liebe und Erkenntnis.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
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Der eine Gott als Kriterium des Lebens (1Kor 8,4–6)
2.3.1 Das Bekenntnis zu dem εἷς θεός
Nachdem Paulus in den Versen 1–3 grundsätzlich über das Wesen christlicher Erkenntnis reflektiert hat, nimmt er in V. 4 die konkrete Situation in Korinth auf, in der es um das Essen des Götzenopferfleisches (περὶ τῆς βρώσεως οὖν τῶν εἰδωλοθύτων – „Was also das Essen des Götzenopferfleischs angeht …“) geht. Das Bekenntnis steht im direkten Zusammenhang mit dieser konkreten Frage: 4 Περὶ τῆς βρώσεως οὖν τῶν εἰδωλοθύτων, οἴδαμεν ὅτι
οὐδὲν εἴδωλον ἐν κόσμῳ οὐδεὶς θεὸς εἰ μὴ εἷς.
καὶ ὅτι
5 καὶ γὰρ εἴπερ εἰσὶν ὥσπερ εἰσὶν
λεγόμενοι θεοὶ εἴτε ἐν οὐρανῷ εἴτε ἐπὶ γῆς, θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί,
6 ἀλλ’ ἡμῖν εἷς θεὸς ὁ πατὴρ ἐξ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν, καὶ εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς δι’ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δι’ αὐτοῦ.55
4 Was nun das Essen des Götzenopferfleischs anlangt: Wir wissen: Es gibt keine Götzen in der Welt und keinen Gott außer einem. 5 Denn wenn es auch sogenannte Götter – sei es im Himmel oder auf der Erde – gibt, so wie es (ja tatsächlich) viele Götter und viele Herren gibt –56 6 So (gilt für) uns doch: Einer ist Gott: der Vater, von dem alles ist und wir auf ihn hin, und einer ist Herr: Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn.57 Die hier markierten Entsprechungen zwischen V. 4 und V. 6 deuten bereits darauf hin, dass Paulus die zunächst recht allgemein formulierte Aussage über die Einzigkeit Gottes mit dem Bekenntnis in V. 6 inhaltlich entfaltet. Der Abschnitt 4–6 wird mit einer zu V. 1 parallelen Formulierung eingeführt. Das zeigt, wie bewusst Paulus in seiner Argumentation voranschreitet: Er hat zunächst grundsätzlich gesprochen und geht nun auf die konkrete Sachfrage ein, die wohl an ihn herangetragen wurde. Wie zu Beginn des Abschnitts 1–3 benennt Paulus eine vorausgesetzte Annahme, auf die er im Folgenden Bezug nimmt. Es ist gut möglich, dass Paulus auch an dieser Stelle eine These aufnimmt, die in Korinth vertreten wurde.58 Noch deutlicher als
55 56 57 58
Zur Bedeutung der Struktur der Sätze s. u. Zur Übersetzung von 1Kor 8,4f s. Wolff, 1Kor, 168. Zur Übersetzung von V. 6b s. Hofius, Schöpfungsmittler, 182. So etwa Wolff, 1Kor, 171. Lindemann, 1Kor, 191 erklärt, Paulus formuliere eine gemeinsam geteilte Position, unabhängig davon, ob die Formulierung aus Korinth stammt.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
in V. 1 ist nun aber erkennbar, dass er an dieser Stelle nicht nur die Meinung einer einzelnen Gruppe innerhalb der Gemeinde wiedergibt, sondern das gemeinsam geteilte „Glaubenswissen“ erinnert. Hier ist die Strukturierung der Sätze von Bedeutung, weil sie zeigt, wie Paulus argumentiert: Der konkrete Umgang mit dem εἰδωλόθυτον wirft für Paulus die Frage nach der Bedeutung der εἴδωλα auf. Das Thema der εἴδωλα aber wirft die Frage auf, wer oder was als θεός behandelt werden darf. Das Wort ist hier als Gattungsbezeichnung (Appellativum) gebraucht. Es geht also um die Frage, welchen Wesen mit Recht zugeschrieben werden kann, θεός zu sein. Der Satz enthält eine negative und eine positive Aussage und rekurriert auf das monotheistische Bekenntnis zu dem einen Gott, das für das Judentum charakteristisch ist. Es lässt sich in Texten aus Deuterojesaja (Jes 44,8; 45,5) wiederfinden, erinnert aber auch an das Deuteronomium (Dtn 4,35) und eben auch an das Sche ma’ Israel (Dtn 6,4).59 Die Aussage, dass es nur einen Gott gibt, wird in 1Kor 8,4 allerdings ganz allgemein eingeführt (vgl. Mk 12,32; Jak 2,19), ohne dass hier bereits eine bestimmte Bekenntnisformulierung aufgenommen würde. Für die Formulierung in V. 4 ist charakteristisch, dass das Bekenntnis zu dem einen Gott im Gegenüber zu den εἴδωλα eingeführt wird. Dieser Gegensatz ließ sich bereits in 1Thess 1,9 beobachten, und er wird von Paulus auch in 1Kor 12,2 formuliert. Auffällig ist, dass Paulus das Wort – sowie die damit verwandten Wörter – beinahe ausschließlich in der korinthischen Korrespondenz verwendet.60 Die Zuwendung zu dem „lebendigen Gott“ impliziert notwendig die Abwendung von den εἴδωλα. Da Paulus die Existenz der Götterbilder nicht bestreiten kann – und wie V. 5 zeigt, auch nicht bestreiten will – ist klar, dass mit εἴδωλον in 1Kor 8,4 der „Götze“ (und nicht das Götzenbild) gemeint ist.61 Das vom Verb für „sehen“ (ἰδεῖν) abgeleitete Wort bezeichnet bereits in der Septuaginta die heidnischen Götter in ihrer Machtund Wirkungslosigkeit, kann aber auch in der griechischen Tradition als Ausdruck der gegenüber den Ideen mit „geringerem Seinsgehalt“ ausgestatteten „Bilder“ verwendet werden.62 Die εἴδωλα sind demnach bloße „Bilder“ von θεός. Paulus stellt aber fest: Es gibt nur einen, auf den die Bezeichnung θεός mit Recht angewendet wird.63 Dass Gott einer ist, wird natürlich auch in der jüdisch-hellenistischen Tradition betont, neben Philo (θεὸς εἷς ἐστι, opif. 171 u. ö.) etwa bei Josephus oder
59 Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 77; Schrage, 1Kor II, 237; Wolff, ebd. 60 εἴδωλον 1Kor 8,4.7; 10,19; 12,2; 2Kor 6,16, ansonsten bei Paulus in Röm 2,22 und in 1Thess 1,9. Sonst im Neuen Testament nur noch in Apg 7,41; 15,20; 1Joh 5,21; Offb 9,20. S. dazu Hübner, εἴδωλον, 936f. 61 So mit Recht Jantsch, Gottesverständnis, 54; Schrage, 1Kor II, 236; Wolff, 1Kor, 171. 62 Hübner, εἴδωλον, 937, vgl. Wolff, ebd. 63 Das bemerkt Wolter, Röm II, 40 mit Recht. Dieser eine Gott ist aber gerade der, der als πατήρ und κύριος erkennbar wird. S. dazu die Diskussion in Kapitel 7 dieser Arbeit, unten S. 324f.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
in apokalyptischen Texten.64 Mit der Aussage über die Einzigkeit Gottes in V. 4 wird V. 6 vorbereitet.65 So lässt sich fragen, in welcher Weise V. 6 an V. 4 anknüpft. Zunächst aber ist auf den Gedankenfortschritt zwischen V. 4 und V. 5 zu achten: In V. 4 hat Paulus die Gewissheit der Korinther dahingehend beschrieben, dass es keine „Götzen“ gibt, in V. 5 spricht er dann aber davon, dass es im Himmel und auf Erden sehr wohl „sogenannte Götter“ (λεγόμενοι θεοί) gibt, die nach V. 5b in der Gestalt „vieler Götter und Herren“ begegnen.66 Die Formulierung λεγόμενοι θεοί entspricht sachlich dem Ausdruck φύσει μὴ ὄντες θεοί von Gal 4,8.67 Im Zusammenhang der Verse 4 und 5 lässt sich aber auch sagen, dass für die εἴδωλα vonseiten der heidnischen Umwelt der Anspruch gestellt wird, θεοί zu sein. Gerade darin, so wird Paulus später deutlich machen, besteht ja das Problem für die „Schwachen“ in Korinth: Für sie gibt es diese θεοί, weil sie de facto noch nicht die Konsequenz aus der Einsicht, die die Verse 4 und 6 formulieren, ziehen. So unterscheidet Paulus zwischen der Funktion, die „Götter“ für den Menschen haben können, und der Frage nach deren wesenhaften Existenz.68 Ich möchte diese Unterscheidung als diejenige eines funktionalen (oder anthropologischen) und eines ontologischen (oder theologischen) Gottesbegriffs beschreiben.69 Paulus geht es hier um die entscheidende Einsicht, dass Götterbilder und menschengemachte Gottesvorstellungen für den Menschen eine Bedeutung erhalten können, die eigentlich nur dem wahren Gott zukommen darf und soll. Genau
64 S. die bei Zeller, 1Kor, 290 zu 1Kor 8,6 genannten Stellen Sib frg. 1,7.32; 3,3.11; Philo opif. 171; plant. 137; somn. I 229; spec. I 30.67; JosAnt III 91 (als Wiedergabe des Ersten Gebots), JosAnt IV 201; V 97. Zur jeweiligen Intention s. u. 65 Vgl. Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 90. 66 Da Schrage, 1Kor II, 237 diese Differenzierung nicht erkennt, muss er einen Widerspruch zwischen V. 4b und V. 5 konstatieren. 67 Hofius, Einer, 173; Landmesser, Gott denken, 227, Anm. 21; Wolff, 1Kor, 172. 68 Auf diese entscheidende Differenzierung macht Hofius, ebd. aufmerksam. Diese Mehrschichtigkeit des Gottesbegriffs kann man schon darin angelegt sehen, dass bereits im Alten Testament die Bedeutungen „Götzenbild“ und „nichtiger Götze“ ineinander übergehen können (Hübner, εἴδωλα, 937). 69 Die Erklärung, die Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 85 gibt, ist m. E. einerseits zu kompliziert, andererseits zu undifferenziert. Paulus wechselt nicht einfach von einer „Innen-“ zu einer „Außenperspektive“, wie Becker meint, sondern er weiß darum, dass auch Christen immer noch anfällig dafür sind, mit der Existenz anderer Gottheiten und Dämonen zu rechnen. Paulus bestreitet auch nicht nur „die Würde und Gottheit“, nicht aber „ihre weiterhin bestehende Existenz und Macht“, sondern denkt streng anthropologisch von der Funktion dieser „Gottheiten“ im Herz eines Menschen. Es ließe sich hier an die anthropologische Bestimmung des Glaubens erinnern, die Martin Luther in seinem „Großen Katechismus“ gegeben hat: „Worauf Du nun (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ Luther, Katechismus (1529), 20.
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
dies ist ja bereits die Pointe der alttestamentlichen Götzenpolemik.70 Und auch bei Paulus selbst lässt sich beobachten, dass er die Problematik genau kennt: In Röm 1,21–23 beschreibt er es als die „Urform“ der „Sünde“, der Trennung des Menschen von Gott, dass er Bilder (V. 23) von irdischen Wesen als „Gott“ behandelt, indem er sie anbetet und verehrt, während er dem wahren Gott die ihm zukommende Ehre gerade verweigert.71 Dass diese Haltung für den Menschen keineswegs folgenlos ist, sondern seine Existenz durchgängig in einer für ihn schädlichen Weise bestimmt, beschreibt Paulus in Röm 1,24–32. Die bloße Bestreitung der Existenz der Götter, die von Menschen in Bildern verehrt werden, bannt deshalb noch keineswegs die Wirkung, die die damit verbundene Haltung für die Menschen hat. Umgekehrt setzen die Formulierungen des Paulus – weder in 1Kor 8,1–13 noch in 1Kor 10,19f – voraus, dass Paulus tatsächlich mit der wesenhaften Existenz von Dämonen rechnet (s. u.).72 In der „Kreaturvergötterung“ findet vielmehr eine Umkehrung oder auch Parodie73 des Gottesglaubens statt: Ist Gott doch eigentlich der Grund des Glaubens – woran Paulus in 1Kor 8,3 erinnert hatte – , so macht der Glaube an Götterbilder diese zu Götzen, die für den Menschen die Rolle von Göttern, die sie beherrschen, haben.74 Was Paulus in Röm 1,21–32 beschreibt, ist die Verkehrung dessen, was nach Phil 2,11 das eschatologische Ziel des Schöpfungsund Erlösungshandelns Gottes ist: die Dankbarkeit der Geschöpfe gegenüber ihrem Schöpfer, in dem sie beides anerkennen: ihr eigenes Geschöpf-Sein und Gottes Schöpfersein, und damit: seine Gottheit.75 Das Dasein der „sogenannten Götter“ ist also dann kein Problem, wenn mit der Gottheit des einzigen Gottes ernstgemacht und er allein als die lebensbestimmende Größe anerkannt wird. In V. 5b begegnen nun bereits die beiden entscheidenden Begriffe aus dem Bekenntnis in V. 6: εἰσὶν
70 Hier wäre noch einmal an die in Kapitel 2 zitierte Passage Jer 10,10–16 zu erinnern. Die scharfe Polemik gegen die Götterbilder, die als „Lüge“ bezeichnet werden und gegen die „dummen“ Menschen (V. 14), die „ohne Erkenntnis“ sind, erklärt sich ja gerade von daher, dass Menschen den Götterbildern die Funktion von Göttern in ihrem Leben zugestehen. 71 Auf den Zusammenhang von Röm 1,21ff mit 1Kor 8,4f weist Hofius, Einer, 173 hin. 72 So mit Recht Hofius, ebd. Gegen Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 81, die erklärt, Paulus könne „einerseits zwar mythologische Vorstellungen kritisch-theologisch destruieren (1Kor 8,4b)“, er rechne aber „doch andererseits mit der Existenz von Dämonen (1Kor 10,19f.)“. 73 Ich fasse die Metapher – im Anschluss an einen Hinweis von Hans G. Ulrich – nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes παρῳδός – als „Gegenlied“. Nach Gemoll, Handwörterbuch, 583 bedeutet παρῳδέω „ein Lied entstellt singen“ (oder „verspotten“), παρῳδός „neben dem Gesang hergehend“, „nicht zur Sache gehörig“. 74 Diese Einsicht hat Martin Luther geradezu „klassisch“ formuliert: „Also daß ,einen Gott haben‘ nichts anders ist, als ihm von Herzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Vertrauen und Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott.“ Luther, Katechismus (1529), 20. 75 S. dazu das Kapitel 8 dieser Arbeit.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί. Hier lässt sich wohl eine Anspielung auf Dtn 10,17
erkennen, in der das Nebeneinander der beiden Bezeichnungen bereits begegnet.76 Diese Beobachtung bestätigt, dass hier der Gesamtkontext des Deuteronomiums im Blick ist. 2.3.2 Das Bekenntnis 1Kor 8,6
Das Bekenntnis besteht in einer zweigliedrigen Formel, die durch die Wendung ἀλλ’ ἡμῖν eingeleitet wird und deren Struktur sich durch die einander entsprechenden Satzteile deutlich erkennen lässt:77 ἀλλ’ ἡμῖν εἷς θεὸς καὶ εἷς κύριος
ὁ πατὴρ
ἐξ οὗ τὰ πάντα
καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν,
Ἰησοῦς Χριστὸς
δι’ οὗ τὰ πάντα
καὶ ἡμεῖς δι’ αὐτοῦ.
Ähnlich wie in 1Kor 2,10 setzt Paulus mit der einleitenden Formulierung ἀλλ’ ἡμῖν die Perspektive der Glaubenden von einer nicht-glaubenden Perspektive ab. PaulGerhard Klumbies hatte mit der Beobachtung, dass Paulus die Wendung ἀλλ’ ἡμῖν dem von ihm aufgenommenen Bekenntnis bewusst voranstelle, seine These begründet, dass Paulus den Gottesbekenntnissen eine „soteriologische Interpretation“ gebe.78 Hieran schließt sich sachlich die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Anthropologie an.79 Die Bestimmung des Dativs als Dativus iudicantis, die Hofius vorgeschlagen hat,80 wird in der Auslegung aufgenommen, allerdings unterschiedlich beschrieben.81 Andreas Lindemann sieht darin eine Bestätigung des
76 Hofius, Einer, 178: „Von der hier vorliegenden Formulierung … her erklärt sich m. E. die sprachliche Differenzierung θεοὶ πολλοὶ καὶ κύριοι πολλοί in 1Kor 8,5b.“ Dtn 10,17 ist seinerseits eine Aufnahme von Dtn 6,4. Auch Zeller, 1Kor, 289 weist auf Dtn 10,17 hin, zieht daraus aber nicht dieselbe Konsequenz wie Hofius (s. u.). 77 Zur Struktur s. Hofius, aaO., 175, vgl. Fee, Incarnation, 67; Landmesser, Gott denken, 226; Lindemann, 1Kor, 189. 78 Klumbies, Gott, 238, s. dazu oben in Kapitel 1. 79 S. dazu die Hinweise zur „Theologie als Anthropologie“ in Kapitel 1 dieser Arbeit. 80 Hofius, Einer, 173f. 81 Aufgenommen etwa bei Landmesser, Gott denken, 227; Zeller, 1Kor, 290, Anm. 62, auch Lindemann, 1Kor, 192 geht darauf ein. Landmesser, Gott, 130, Anm. 20 nimmt die Bestimmung auf, setzt sich aber von Hofius’ Kritik an einer rein existentiellen Gottesaussage ab, wie man sie etwa bei Lindemann, 1Kor, 192 sehen könnte, der von einem Dativus commodi spricht und sie als „Ausdruck existenzialen Denkens“ versteht. Nach Hofius hat der Dativ die Bedeutung „nach unserem Urteil“. Die Existenzbezogenheit der Aussage ist damit nicht negiert, wohl aber die Konsequenz, dass damit nach der Auffassung des Paulus eine Aussage formuliert würde, der nur eine subjektive Realität zugestanden würde. M.E. sind bei Paulus beide Aspekte enthalten: die funktionale Bestimmung, dass dieser Gott „für uns“ der einzige Gott ist, und die ontologische Aussage, dass dieser Gott der einzig wahre Gott ist. Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 90 formuliert (im Anschluss an Schrage, Unterwegs
Das Bekenntnis in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–11,1
Diktums Rudolf Bultmanns, wonach wer von Gott reden wolle, offensichtlich von sich selbst reden müsse.82 Allerdings redet Paulus nicht erst in 1Kor 8,6, sondern – wie bereits gesehen – schon in 1Kor 8,3 – von Gott aus der von ihm selbst gestifteten Beziehung aus.83 Und schließlich findet sich auch in den beiden letzten Satzgliedern der Formel jeweils das Personalpronomen ἡμεῖς. Diese Beobachtung ist für das Verständnis der beiden Aussagen wichtig. Die beiden Aussagen über das „All“ (τὰ πάντα) werden also jeweils mit einer Aussage über die Glaubenden verbunden.84 Wenn es heißt, dass „wir auf ihn hin“ geschaffen sind (καὶ ἡμεῖς εἰς αὐτόν), dann wird das Schöpfungshandeln Gottes damit von Anfang an soteriologisch konnotiert.85 Diese Aussage entspricht der Sache nach dem, was Paulus in 1Kor 2,7 über die Bestimmung der Menschen εἰς δόξαν gesagt hat.86 Diese Bestimmung aber erfüllt sich – jedenfalls nach Paulus – sichtbar erst in eschatologischer Perspektive (Röm 8,21; 1Kor 15,43). Dass „wir“ εἰς αὐτόν geschaffen sind, dass wird erst aus der Perspektive des Christusglaubens erkennbar. Es gibt demnach keine ursprüngliche mit der Schöpfung gegebene Gemeinschaft des Menschen mit Gott, wohl aber die Intention des Schöpfers zu dieser Gemeinschaft, die sich im Christusgeschehen realisiert. Bereits für die erste Zeile des Bekenntnisses gilt also, dass sich das hier greifbar werdende „Gottesverständnis … nur aus der Perspektive des Christusglaubens so formulieren“ lässt.87
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zur Einzigkeit, 75), der Dativ habe „konfessorische Bedeutung“. Schrage, 1Kor II, 241, Anm. 80 betont, das ἡμῖν habe hier kaum „soteriologische Bedeutung“ im Sinne des pro nobis. Auch das ist eine schiefe Alternative. Es ist hier daran zu erinnern, dass das pro nobis in der reformatorischen Theologie das extra nos nicht verdrängt, sondern gerade voraussetzt! Lindemann, Gott, 17; vgl. Bultmann, Gott, 28: „Will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.“ Differenzierter Lindemann, „Was ihr unwissend verehrt …“, 28f. Lindemann, ebd. erklärt: „Von Gott kann nur die Rede sein in seiner bestimmten Relation zum Menschen.“ Landmesser, aaO., 130, Anm. 20 formuliert: „Vor dem Hintergrund des Christusglaubens ist das folgende Bekenntnis eine interpretierende Entfaltung der in diesem Glauben begründeten Gottesvorstellung.“ Landmesser, aaO., 133 erklärt, dass mit ἡμεῖς „alle Menschen gemeint“ sein könnten, was durch die universale Aussage des ersten Satzteils nahegelegt werden könnte, erwägt dann aber auch die Möglichkeit, dass nur die Glaubenden angesprochen sein könnten. Jedenfalls lässt sich das Gesagte nur aus der Perspektive des Glaubens formulieren, so dass die „wir“ in der Gegenwart die Glaubenden sind. Hofius, Schöpfungsmittler, 184. Landmesser, Gott, 125 macht darauf aufmerksam, dass etwa auch bei Deuterojesaja der „Monotheismus“ in einem soteriologischen Zusammenhang steht: „Man kann in diesen Zusammenhängen von der soteriologischen Einzigkeit Jahwes für Israel sprechen.“ Das ist insbesondere für das in Kapitel 8 dieser Arbeit zum monotheistischen Kontext der Aussage über den „Namen“ in Phil 2,9–11 von Bedeutung. S. dazu oben in Kapitel 3 dieser Arbeit. Landmesser, Gott denken, 226.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Die zweite Zeile des Bekenntnisses schließt unmittelbar an die Aussage über die Schöpfung der Welt an, indem sie die in Christus geschehene Realisierung des in der Schöpfung angelegten Zieles zur Sprache bringt mit den Worten: „… durch den alles ist und wir durch ihn“ (δι’ οὗ τὰ πάντα καὶ ἡμεῖς δι’ αὐτοῦ). Auf diese Weise wird von der zweiten Zeile aus nun aber auch die erste Zeile beleuchtet. Denn dass das Ziel der Schöpfung in der Gemeinschaft der Geschöpfe mit ihrem Schöpfer liegt, das wird von der Realisierung dieses Zieles her erkannt. Christian Wolff erklärt: „Die Ausrichtung der Schöpfung auf diese Vollendung von Anfang an wird bezeugt durch die Aussage von der Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi“.88 Damit wird deutlich, dass auch das Motiv der „Schöpfungsmittlerschaft“, das in der Weisheitstheologie von der σοφία ausgesagt wird (Prov 8,22–31; SapSal 7,22, vgl. 8,6; 9,9; Sir 1,8; 24,3–7),89 in 1Kor 8,6 im direkten Zusammenhang mit dem Erlösungshandeln steht. Wir hatten gesehen, dass dieser Zusammenhang in der Paulus mit der Weisheitstheologie verbindenden Frage angelegt ist. So wie das Motiv der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit die Frage nach der „Sinnhaftigkeit“ der Schöpfung aufnimmt und die Frage nach der Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung beantwortet,90 so beantwortet Paulus die Frage nach der Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung durch den Verweis auf Jesus Christus: Er ist Gottes Gegenwart. In ihm ist der eine Gott, der die Welt geschaffen hat und sie zu ihrem Ziel führt, präsent. So wie die Weisheit nach Prov 8,22 „auf seine (Gottes) Werke hin“ (εἰς ἔργα αὐτοῦ) geschaffen wurde und Gottes Schöpfung dadurch prägt, so prägt Jesus Christus durch seine Person und sein Werk Gottes Schöpfung. Das bedeutet aber auch: Gottes Schöpfung lässt sich für Paulus nur vom Christusgeschehen aus begreifen. An dieser Stelle gilt, was wir bereits zur paulinischen Rede von der „Weisheit Gottes“ gesagt haben: Paulus bzw. die frühchristliche Theologie „übernehmen“ nicht einfach ein „Konzept“ von der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit und „übertragen“ es auf Jesus Christus, sondern sie bringen die Bedeutung der Person Jesu Christi mit einem Motiv zum Ausdruck, das in der Weisheitstheologie begegnet, um auf diese Weise Schöpfung und Erlösung, Gotteserkenntnis und Christuserkenntnis miteinander zu verbinden. So gelingt es Paulus, mit dem Verweis auf eine Bekenntnisformulierung eine inhaltliche Bestimmung des monotheistischen Glaubensbekenntnisses vorzunehmen, mit der er in 1Kor 8,1–11,1 argumentieren kann. Mit 1Kor 8,6 hat Paulus die Rede von dem „einen Gott“ aus
88 Wolff, 1Kor, 174. 89 Bei Philo wird diese Vorstellung mit dem λόγος verbunden (Philo migr. 6; Cher. 127). Im Neuen Testament Hebr 1,2; Joh 1,3. 90 Wolff, 1Kor, 174 bemerkt in diesem Sinne zu den Stellen von der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit in der frühjüdischen Literatur: „Im Kontext dieser Stellen ist zugleich vom gegenwärtigen, heilvollen Wirken der göttlichen Weisheit die Rede; dieses ist der Ausgangspunkt für den Rückblick auf ihr uranfängliches Wirken (Spr. 3,13ff.; 8,1ff.; Sir. 24,2ff; Weish. 6,12ff.; 9,1ff.; Bar 3,12ff.).“
Tradition und Interpretation
V. 4 aufgenommen und inhaltlich entfaltet, indem er den einen Gott von seinem Heilshandeln her identifiziert hat. Dieses Argumentationsgefälle entspricht aber genau dem, was sich zu Dtn 6,4 beobachten lässt.
3.
Tradition und Interpretation
3.1
1Kor 8,6 als Interpretation von Dtn 6,4
Die These, dass in 1Kor 8,6 eine direkte Bezugnahme auf Dtn 6,4 vorliegt, wird durch die Beobachtung, dass sich Anspielungen auf das monotheistische Bekenntnis Israels samt Kontext bereits zu Beginn von 1Kor 8,1–13 finden lassen, gestützt. Gegen diese inzwischen von vielen Auslegern geteilte Auffassung argumentiert Dieter Zeller in seinem Kommentar. Zwar räumt Zeller ein, dass 1Kor 8,6 „der Sache nach“ von Dtn 6,4 „inspiriert“ sei, er bestreitet aber, dass 1Kor 8,6 als „Aufspaltung von Dtn 6,4 LXX“ verstanden werden könne.91 Die zweigliedrige Wendung sei vielmehr durch „den Gegensatz zu V. 5fin bedingt“.92 Κύριος versteht Zeller als „Titel, der in hellenistischer und römischer Zeit besonders gern aus Ägypten, Syrien oder Thrakien stammenden Gottheiten von soteriologischer Bedeutung beigelegt wurde“.93 Diese κύριοι seien „die eigentlichen Konkurrenten des christlichen Kyrios, wo es um Macht über das Schicksal, persönliches Heil und intensivere Gemeinschaftserlebnisse, z. B. beim Opfermahl, ging“.94 Zeller dürfte hier an 1Kor 10,21 denken. Jedenfalls belegt diese Aussage in der Tat, dass Paulus die Problematik einer derartigen Konkurrenz sieht.95 In Zellers Argumentation kehrt Wilhelm Boussets These, von der schon einmal die Rede war, wieder. Ihr Wahrheitsmoment liegt darin, dass die frühchristliche Gemeinde mit ihrem Christusbekenntnis zumindest auch in Konkurrenz zu anderen religiösen Gruppierungen treten musste. Die Verbindung der κύριος-Prädikation mit dem monotheistischen Glaubensbekenntnis Israels macht es aber sehr unwahrscheinlich, dass sich Paulus nicht bewusst wäre, dass er mit dieser den Gottesnamen auf Jesus Christus bezieht. Die griechische Fassung des alttestamentlichen Textes ermöglichte den frühen Christen eine christologische Neuinterpretation des Glaubensbekenntnisses Israels, wie sie sich ähnlich etwa in der Interpretation des im Neuen Testament am häufigsten zitierten Textes Ps 109,1 LXX beobachten lässt. Auch dort ermöglicht die Mehrdeutigkeit der
91 92 93 94 95
Zeller, 1Kor, 290. Ebd. AaO., 289. AaO., 289f. Zum Verhältnis zwischen 1Kor 8,1–13 und 1Kor 10,14–22 s. u.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
κύριος-Prädikation eine theologische Differenzierung zwischen Gott und κύριος.96
Um die Bezüge zwischen 1Kor 8,6 und Dtn 6,4 verdeutlichen zu können, seien hier die Septuaginta-Fassung des Sche ma’ Israel und die Einleitungswendungen der beiden Glieder von 1Kor 8,6 einander gegenübergestellt: Dtn 6,4 LXX 1Kor 8,6 κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν εἷς θεὸς ὁ πατήρ … κύριος εἷς ἐστιν·
καὶ εἷς κύριος Ἰησοῦς Χριστός
Das Sche ma’ Israel besteht aus zwei Nominalsätzen: „κύριος (= JHWH) ist unser Gott, κύριος (= JHWH) ist einer.“ Hier wird die Gattungsbezeichnung ὁ θεός97 mit einem Namen verbunden. Es geht demnach um die Identifikation dieses Gottes, der mit dem Possessivpronomen als „unser“ Gott bezeichnet wird. Die zweite Aussage formuliert, dass dieser Gott einer ist, d. h., dass es – zumindest für Israel – keinen anderen Gott neben ihm gibt.98 Auch das Sche ma’ ist also relational formuliert. Die Interpretation des Bekenntnisses in 1Kor 8,6 liegt nun darin, dass ὁ θεός als ὁ πατήρ entfaltet und κύριος mit Jesus Christus identifiziert wird. Auch κύριος wird nun also zur Wesensbezeichnung. Die entscheidende Interpretation besteht darin, dass dieser κύριος Jesus Christus ist. Beide Aussagen lassen sich wiederum als Nominalsätze bestimmen: „Einer (nur) ist Gott: der Vater … und einer (nur) ist Herr: Jesus Christus“.99 Hatte Paulus in 1Kor 8,4b die Einzigkeit Gottes betont, so greift er in 1Kor 8,6 auf ein Bekenntnis zurück, das diesen einen Gott inhaltlich beschreibt und damit zur Sprache bringt, dass das früheste Christentum zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus gerade keine Alternative erblickt, sondern das Bekenntnis zu Jesus Christus als eine Entfaltung seines Gottesglaubens begreift.100 Ausgangspunkt der Interpretation des Sche ma’ ist demnach der κύριος-Titel. Für Paulus ist es ein entscheidendes Identitätsmerkmal der christlichen Gemeinden, dass sie „den Namen des Herrn anrufen“, so beschreibt er die Glaubenden in 1Kor 1,2 als οἱ ἐπικαλούμενοι τὸ ὄνομα κυρίου. Besonders aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist auch 1Kor 12,2f. Dort erinnert
96 Mit Ps 109,1 LXX ließ sich die Differenzierung von „Herr“ (ὁ κύριος) und „meinem Herrn“ (τῷ κυρίῳ μου) aussagen und auf Gott und Jesus Christus beziehen, s. dazu Hengel, „Setze dich zu meiner Rechten“; Tilly, Psalm 110, vgl. Jantsch, Gottesverständnis, 279. 97 Zu Appellativa mit Artikel s. BDR § 252, Anm. 1 sowie der Hinweis zu „Gott“ als Gattungsbegriff in Kapitel 1. 98 Zur Diskussion um eine „monolatrische“ oder „monotheistische“ Auslegung von Dtn 6,4 s. Otto, Deuteronomium 4,44–11,32, 795f. Otto hält eine monolatrische Auslegung für „angezeigt“ (s. o.). 99 Ich schließe mich damit der Übersetzung von Hofius, Schöpfungsmittler, 182 an. Gegen diese Übersetzung argumentiert Zeller, 1Kor, 290. 100 Vgl. Landmesser, Gott denken, 222: „Für Paulus besteht die Identität des Gottesgedankens vor dem Hintergrund des Christusgeschehens präzise in seiner christologischen Entfaltung.“
Tradition und Interpretation
Paulus die Korinther an ihre „heidnische“ Vergangenheit, als sie sich zu den „stummen Götzen“ (τὰ εἴδωλα τὰ ἄφωνα) hinziehen ließen (V. 2). In V. 3 macht Paulus deutlich, dass das Bekenntnis zu Jesus als κύριος nur durch den Heiligen Geist ermöglicht wird. Das bedeutet: Wo ein Mensch Jesus als κύριος anredet und ihn damit als Träger des Gottesnamens bekennt, da hat Gott selbst bereits an diesem Menschen zu dessen Heil gewirkt. Dem entspricht es, wenn Paulus in Röm 10,9 das Bekenntnis zu Jesus als κύριος als das heilbringende Bekenntnis markiert. An dieser Stelle ist das Bekenntnis zu Jesus unmittelbar mit einer Aussage über Gott verbunden: Wer Jesus als κύριος bekennt, der verleiht damit auch seinem Glauben Ausdruck, dass Gott an Jesus gehandelt, dass er ihn nämlich von den Toten auferweckt hat. Aufschlussreich ist, dass Paulus auch die Anrede Gottes als πατήρ auf das Wirken des Heiligen Geistes zurückführt (Gal 4,6; Röm 8,15). Die Verbindung der beiden Titel πατήρ (für Gott) und κύριος (für Jesus) ist für das frühe Christentum charakteristisch. Das belegen nicht zuletzt auch die Präskripte der Paulusbriefe, in denen diese Zusammenstellung durchweg begegnet (Röm 1,7; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; 1Thess 1,1, vgl. Eph 1,2; Kol 1,2f; 2Thess 1,2; 1Tim 1,2; 2Tim 1,2).101 Und schließlich ist an Phil 2,6–11 zu erinnern: Dieser Text läuft in V. 11 ebenfalls auf das Bekenntnis zu Jesus als κύριος und zu Gott als πατήρ hinaus.102 So wichtig dieser Zusammenhang für die paulinische Theologie ist, Paulus scheint ihn gleichwohl bereits vorgefunden zu haben. Denn Texte wie Röm 10,9; Phil 2,11 und eben auch 1Kor 8,6 haben ein „traditionelles“ Gepräge. Die Ausführungen, die Paulus dazu macht, zeigen aber, dass der Apostel diese Begrifflichkeit theologisch reflektiert und entfaltet. Aufgrund der Beobachtung dieses Zusammenhangs ist deutlich, dass dem Bekenntnis zu Gott in 1Kor 8,6 das Bekenntnis zu Jesus Christus nicht einfach „hinzugefügt“ wird. Nicht erst die zweite Zeile, sondern das gesamte Bekenntnis ist aus der Perspektive des Christusglaubens formuliert.103 Im Vergleich zum alttestamentlichen Text wird Gott als πατήρ näher bestimmt und Jesus mit dem κύριος identifiziert. Der unlösliche Zusammenhang der beiden Satzglieder wird durch ihre jeweilige Fortführung bestätigt. Charakteristisch ist zunächst dass beide Satzglieder mit einer Aussage über τὰ πάντα verbunden werden, die zudem ganz parallel formuliert sind. Das Glaubensbekenntnis redet demnach nicht zuerst „allgemein“ von Gott dem Schöpfer und dann von Jesus Christus als dem Erlöser. Es redet vielmehr von dem einen Gott, der in differenzierter Weise schöpferisch an der Welt und am Menschen handelt. In diesem Zusammenhang ist auch das Motiv von der „Schöpfungsmittlerschaft“ Jesu Christi in 1Kor 8,6b zu verstehen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass dieses Motiv für Paulus „unüblich“ sei.104 101 102 103 104
In Tit 1,4 wird Jesus als σωτήρ bezeichnet, wie unmittelbar zuvor Gott (V. 3), vgl. 2Petr 1,1. S. dazu das Kapitel 8 dieser Arbeit. Dasselbe ließ sich im Blick auf 1Thess 1,9f feststellen (s. o. in Kapitel 2). So Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 89 im Anschluss an Schrage, 1Kor II, 222.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Es entsteht aber eben aus einem mit der Weisheitstheologie gemeinsamen theologischen Anliegen.105 In diesem Sinne begegnet die Gottesprädikation ὁ πατήρ in 1Kor 8,6 im Zusammenhang mit einer Schöpfungsaussage. Es handelt sich hier nicht um „die kosmologisch gefaßte Vaterschaft Gottes“106 , die aus Platons Timaios (Plato Tim. 28) bekannt ist (s. dazu unten). So redet 1Kor 8,6 auch nicht abstrakt von der „Einzigkeit“ dieses Gottes, sondern von der Beziehung des einen Gottes zur Welt und zum Menschen, die ihm Orientierung gibt. Für die erste Zeile ist entscheidend, dass θεός von Anfang an als ὁ πατήρ näher bestimmt wird. Damit geht die Aussage über das hinaus, was in 1Kor 8,4b gesagt wurde. Dort ging es zunächst darum, den einen wahren Gott von den „Götzen“ und „sogenannten Göttern“ abzugrenzen. Damit diese Rede von dem einen Gott aber für das Verhalten der Korinther eine Bedeutung erlangen kann, ist es entscheidend, wer dieser Gott ist. Daran erinnert Paulus die Korinther mit der gemeinsam geteilten Glaubensgrundlage, die er in 1Kor 8,6a einführt. Da die Formulierungen sich sehr gut von der paulinischen Theologie her interpretieren lassen, ist davon auszugehen, dass Paulus seine Theologie ganz wesentlich aus der Bekenntnistradition heraus entwickelt hat.107 Dieser Sachverhalt macht es methodisch schwierig, vor-paulinische Aussagen von paulinischen Interpretationen zu unterscheiden. In den Kommentaren wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Formulierung in 1Kor 8,6a auch an stoische Vorstellungen erinnert. Insbesondere auf einen Satz aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen wird in diesem Zusammenhang hingewiesen.108 Der
105 Vollenweider, Weisheit, 42 formuliert: „Der Vorgang der Bekränzung Christi mit den Würdetiteln der Weisheit entsprang kaum einer Verdrängung der jüdischen Sophia. Eher lässt sich von einem gemeinsamen fundamentalen theologischen Anliegen sprechen, nämlich dem elementaren Fragen nach dem tragenden Grund der Welt und ihren Ordnungen, das nun im Horizont des Christusglaubens zu neuen Antworten führte.“ 106 So aber Schrage, 1Kor II, 222; Lindemann, 1Kor, 192. Zeller, 1Kor, 290f bemerkt völlig zu Recht, dass „trotz der anschließenden kosmologischen Aussagen … damit nicht im platonischphilonischen Sinn der Weltschöpfer bezeichnet werden“ soll, „sondern in erster Linie der Vater Jesu Christi, der freilich der Vater der Christen ist“. Ähnlich Wolff, 1Kor, 173, der die Deutungen miteinander verbindet und formuliert, hier „mag eine ursprünglich kosmologisch gemeinte Aussage vom Schöpfer als dem Allvater, wie in Platons ,Timaios‘, in der Stoa und im hellenistischen Judentum begegnet, durchschimmern. Wegen der Fortsetzung ist aber jetzt an den Vater Jesu Christi zu denken, der durch Christus auch der Vater der Glaubenden ist“. Ähnlich Feldmeier/ Spieckermann, Gott, 87 (s. dazu unten). 107 Vgl. die Bemerkung bei Reinmuth, Paulus, 14: „Paulus kannte Formulierungen, in denen sich bereits der Glaube frühchristlicher Gemeinden zu geprägten Wendungen verdichtet hatte. Davon finden wir zwar in seinen Briefen einen Teil, aber eben nur einen Bruchteil.“ Zur Bedeutung der Tradition für die paulinische Theologie s. auch Öhler, Bausteine, 497–503. Eine wichtige Bedeutung wird dabei vor allem der antiochenischen Gemeinde, in der Paulus christlich sozialisiert wurde, zugeschrieben, s. dazu Wolter, Paulus, 32–38, vgl. Öhler, Bausteine, 503f. 108 So etwa bei Lindemann, 1Kor, 193; Wolff, 1Kor, 173, Anm. 48; Zeller, 1Kor, 291.
Tradition und Interpretation
entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, dass der Stoiker nicht Gott, sondern zur Natur (ἡ φύσις) sagt: ἐκ σοῦ πάντα, ἐν σοὶ πάντα, εἰς σὲ πάντα (Marc Aurel IV 23). Freilich reflektiert auch die stoische Philosophie über die Frage, wie die Schöpfung in der Gegenwart begriffen werden kann. Philo tritt in diese Diskussion ein, wenn er die biblische Schöpfungsvorstellung von platonischen Kategorien ausgehend interpretiert. Hier wird ein Diskurs sichtbar, den das Bekenntnis in 1Kor 8,6 berührt. Dieser Diskurs soll kurz angedeutet werden. 3.2
Zur Schöpfungstheologie in der Stoa und bei Philo
Maximilian Forschner weist in seiner Darstellung der Philosophie der Stoa darauf hin, „dass diese in der (naturphilosophisch-pantheistischen) Theologie ihre geistige Mitte“ habe.109 „Theologie“ sei dabei, „wörtlich verstanden, der Versuch, den Gott, die Götter, das Göttliche und die Beziehung des Göttlichen zur Welt und zum Menschen begrifflich zu fassen und rational zu reflektieren“.110 Diese Art der „Theologie“ stehe zu „gelebter Religion und Religiosität … in eigenartigem Verhältnis und unvermeidlicher Spannung“, insofern sie nämlich all diejenigen Vorstellungen, die für die Vernunft nicht-rational oder irrational sind, mit Vernunftgründen kritisiere.111 Auch für Paulus ist Theologie natürlich nicht „irrational“. Sie kommt aber von einer Begegnung mit Gottes Gegenwart her, mit der der Apostel eine Perspektive gesetzt sieht, die er nicht mehr eigens rational kritisieren kann. Der Ausgangspunkt bei der Begegnung mit Gott in der Welt lässt sich als jüdisches Erbe der paulinischen Rede von Gott verstehen, denn auch für das Judentum ist die von Gott gestiftete Beziehung der Ausgangspunkt für die Theo-logie. Die Rationalität dieser Theologie folgt einer inneren Stringenz, geht aber von einer Perspektive aus, die sie als von Gott selbst gesetzt versteht und die sie deshalb nicht kritisieren kann. In diesem Sinn lässt sich bei Paulus Jesus Christus als θεμέλιος (1Kor 3,11) verstehen, an dem letztlich eben auch die Rede von Gott zu messen ist. 1Kor 8,6 zeigt, dass Paulus von Gott als dem, „aus dem alles ist“, vom Christusgeschehen her redet. Darin unterscheidet sich Paulus fundamental von der stoischen Philosophie und ihrer Theologie. Der Vergleich mit dem oben zitierten Bekenntnis zur Natur, das Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen (IV 23) formuliert, macht den Unterschied der stoischen Vorstellung zum Bekenntnis in 1Kor 8,6 deutlich.112 Forschner formuliert: „Die Stoa identifiziert den Kosmos bzw. dessen aktives Prinzip bzw. sein leitendes Organ mit
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Forschner, Stoa, 10. AaO., 144. Ebd. So bemerkt Zeller, 1Kor, 291 im Blick auf 1Kor 8,6: „Das ,aus‘ hat dabei nicht den Sinn des Ausflusses wie vielleicht in dem berühmten Ausruf Marc Aurels über die Natur“.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Gott; sie integriert Theologie damit in ihre Lehre von der Natur.“113 Im Blick auf Paulus bemerkt Zeller mit Recht, dass dieser den „durch die griechische Philosophie von den Vorsokratikern bis zu den Stoikern durchgehenden Zug, die Welt durch ein Prinzip zu erklären“, ignoriere.114 Und Reinhard Feldmeier benennt das Spezifische des in 1Kor 8,6 greifbar werdenden Denkens im Vergleich zur stoisch-platonischen Kosmos-Theorie sehr genau, wenn er festhält, dass die Gemeinschaft mit Gott hier „nicht auf einer ontologisch vorgegebenen Verwandtschaft mit dem Göttlichen“ gründe, „sondern auf einem Akt der Erwählung, durch welche die Glaubenden zu einer ,neuen Schöpfung‘ (2Kor 5,17; Gal 6,15) werden“.115 Damit ist aber auch etwas über die paulinische Rede von Gott als „Vater“ ausgesagt. Ihr Ort ist für Paulus – anders als für die griechische Tradition – „nicht die Protologie, die Herleitung aus einem göttlichen Ursprung, sondern die Eschatologie, die Verwandlung in eine himmlische Existenzweise (vgl. Phil 3,21; 1. Kor 15,35–57)“.116 Diejenigen, die Gott als „Vater“ anreden, sind die Glaubenden, an denen Gott schöpferisch handelt und ihr Leben zum Ziel führt, das in der bleibenden Anerkennung Gottes als πατήρ und Jesu als κύριος seine Signatur hat (Phil 2,11). Einmal mehr bestätigt sich die oben bereits formulierte These, dass die Schöpfungslehre für Paulus der Sache nach in die Eschatologie gehört.117 Was erst eschatologisch an jedem Menschen und also universal offenbar werden wird, das erkennen die Glaubenden nach der Überzeugung des Paulus bereits jetzt, weil sie von der Zuwendung wissen, die in Jesus Christus geschieht. Darum kann der Apostel in 1Kor 8,11 auch daran erinnern, dass der vermeintlich „Schwache“ der „Bruder“ ist, „um dessentwillen Christus gestorben“ ist. Paulus geht es demnach darum, den einen Gott inhaltlich zu bestimmen. So zielt das Bekenntnis auch nicht darauf, den Außenstehenden diesen Gott einsichtig zu machen, sondern den Glaubenden zu erschließen, wer der Gott ist, an den sie glauben. Hier lässt sich ein entscheidender Unterschied zu Philo beobachten. Der Alexandriner nimmt entscheidende Bestimmungen aus Platons Dialog Timaios in sein Schöpfungsverständnis auf. Im Timaios werden grundlegende ontologische Bestimmungen vorgenommen, die die Rede von Gott und von der Schöpfung nachhaltig
113 Forschner, Stoa, 146. S. etwa D.L. VII, 147–148 (Referat des Zenon, Übersetzung nach NW II/1, 315): „Er ist der Schöpfer der Welt und gleichsam der Vater von allem (εἶναι δὲ τὸν μὲν δημιουργὸν τῶν ὅλων καὶ ὥσπερ πατέρα πάντων), was, wie überhaupt, so im besonderen von dem Teil von ihm gilt, welcher alles durchdringt (τὸ μέρος αὐτοῦ τὸ διῆκον διὰ πάντων) und der, je nach seinen Wirkungsweisen mit vielen Namen benannt wird.“ S. auch D.L. VII 135–136; Aëtius 1.7.33 (SVF 2.1027). 114 Zeller, 1Kor, 290. 115 Feldmeier, Der oberste Gott als Vater, 192. 116 AaO., 192f. 117 S. dazu oben in Kapitel 2.
Tradition und Interpretation
prägen und deren Aufnahme sich terminologisch zeigen lässt. Die Rezeption der platonischen Vorstellung bei Philo ist oben bereits angesprochen worden.118 Die entsprechende Passage aus dem Timaios sei nun an dieser Stelle zitiert: τὰ δ’ αἰσθητά, δόξῃ περιληπτὰ μετ’ αἰσθήσεως, γίγνόμενα καὶ γεννητὰ ἐφάνη. Τῷ δ’ αὖ γενομένῳ φαμὲν ὑπ’ αἰτίου τινὸς ἀνάγκην εἶναι γενέσθαι. Τὸν μὲν οὖν ποιητὴν καὶ πατέρα τοῦδε τοῦ παντός εὑρεῖν τε ἔργον καὶ εὐρόντα εἰς πάντας ἀδύνατον λέγειν.
Das durch die Sinne Wahrnehmbare aber, das durch Meinen in Verbindung mit Sinneswahrnehmung zu erfassen ist, erwies sich als Werdendes und Erzeugtes; von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, daß es notwendig aus einer Ursache hervorging. Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden ist schwer und, nachdem man ihn auffand, ihn allen zu verkünden, unmöglich. (Platon Tim 28b.c)119
Die Ausführungen greifen auf die in Tim 28a vorgenommene Grundunterscheidung zwischen dem „Seienden“ (τὸ ὄν) und dem „Werdenden“ (τὸ γιγνόμενον) zurück. Das Werdende muss mit Notwendigkeit auf eine Ursache (αἰτία) zurückgehen. Diese erste Ursache ist „der Schöpfer und Vater des Alls“ (ποιητὴς καὶ πατήρ τοῦ παντός). Gott als Vater ist demnach der, aus dem alles hervorgegangen ist und der dadurch zu seiner Schöpfung eine Verbindung hat – als ihr letzter Grund. Die Vorstellung von diesem letzten Grund als dem Prinzip der Schöpfung wird in der Stoa und bei Philo aufgenommen.120 Im Blick auf die Gotteserkenntnis ergibt sich daraus eine „negative Theologie“, die darum weiß, dass Gott nie vollständig erkennbar und begreifbar ist, weil „die Erkenntnis immer hinter der Erfassung des Urgrundes zurückbleiben muss“ (Philo post. 19).121 Am Ende von Philos Schrift Über die Weltschöpfung (De Opificio Mundi) benennt der Alexandriner „fünf Lehren“, die Mose mit seinem Schöpfungsbericht gegeben habe (Philo opif. 170–172). Nachdem Philo gegen die „Atheisten“ (οἱ ἄθεοι), die Gottes Dasein bezweifeln oder sogar bestreiten und Gott als eine bloße Behauptung des Menschen bezeichnen (opif. 170) gewandt, betont hat, ὅτι ἔστι τὸ θεῖον καὶ ὑπάρχει, wendet er sich gegen die εἰσηγηταὶ τῆς πολυθέου δόξης, gegen die
118 S. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 2 dieser Arbeit. 119 Text und Übersetzung nach Platon, Timaios, Werke 7, 34f (Übersetzung von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher). 120 Hirsch-Luipold, Gott, 142 weist darauf hin, dass diese Fassung der Gottesfrage die philosophischgriechische Tradition von ihren Anfängen an bestimmt: „Gott als die eine der Welt vorausliegende erste Ursache oder als Urgrund des Seins ist seit jeher ein zentrales Thema der philosophischen Tradition, zumal der platonischen, und die Frage nach Gott als Prinzip der Welt gehört zum selbstverständlichen Fragenkatalog der Philosophie.“ 121 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit. Zur „negativen Theologie“ s. auch die entsprechenden Aussagen bei Platon, Platon Siebter Brief 340c; Kratylos 400f.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Vertreter der „Vielgötterei“. Ihnen hält Philo entgegen, ὅτι θεὸς εἷς ἐστι (opif. 171). Die Betonung der Einzigkeit Gottes hängt hier direkt mit der Vorstellung von der Schöpfung zusammen. Denn weil Gott als einziger „der wahrhaft Seiende“ (εἷς ὁ ὢν ὄντως ἐστι) ist (opif. 172), lehnt Philo die Vorstellung ab, wonach die Welt „ungeschaffen und ewig“ sei.122 Die Welt ist „geschaffen“ (γενητὸς ὁ κόσμος, ebd.). Und wie es nur einen Gott gibt, so gibt es auch nur eine Welt (ὅτι πεποίηκε τὸν κόσμον καὶ πεποίηκεν ἕνα, opif. 172). Die Polemik Philos gegen die Vorstellung mehrerer Welten richtet sich gegen den stoischen Materialismus, in dem Gott und Welt miteinander verbunden werden.123 Maren Niehoff erläutert die stoische Auffassung mit den Worten: „Die zyklische Erschaffung und Zerstörung der Welt ist möglich, weil die Welt aus einer göttlich durchdrungenen Substanz besteht und dem sie umgebenden unendlichen Leben Raum bieten für periodisch wiederkehrende Ausdehnung.“124 Niehoff kommentiert: „Derlei Theorien sind für Philon ein Gräuel.“125 So wahrt Philo die grundlegende Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, indem er sie von der platonisch geprägten Vorstellung von Gott als der „Ursache“ interpretiert. Er unterzieht den biblischen Schöpfungsbericht einer platonischen Interpretation, um den jüdischen Glauben auf diese Weise in die hellenistische Kultur hinein zu vermitteln.126 Die Betonung der „Fürsorge“ (πρόνοια) Gottes, in der man eine Annäherung an ein persönliches Gottesverständnis sehen könnte, findet sich ebenfalls bereits bei Platon (Tim. 30b). So folgt Philo also weitgehend dem platonischen Verständnis. Die Vorstellung eine „Weltenbrandes“, auf die Philo anspielt, wurde auch unter den stoischen Philosophen kontrovers diskutiert.127 Philo tritt in einen Diskurs ein, in dem er stoische Motive auch rezipiert, „um die biblische Schöpfungsgeschichte
122 Deshalb kritisiert er diejenigen, „die meinen, dass die Welt ungeschaffen und ewig sei“ (οἱ οἰόμενος αὐτὸν [sc. τὸν κόσμον] ἀγένητον καὶ ἀίδιον εἶναι, opif. 171). 123 Kleinknecht, θεός, 75. 124 Niehoff, Philon, 269. Sie bezieht sich dafür auf den Bericht bei Diogenes Laertios über Zenon: D.L. VII 135–148. In der Einleitung zur Übersetzung Cohns von De Opificio Mundi heißt es: Philo „wendet sich gegen die … Ansicht von der Anfangslosigkeit der Welt, weil damit die völlige Untätigkeit behauptet und die göttliche Vorsehung hinweggeleugnet wird“ (Cohn u. a., Übersetzung Philo, Über die Weltschöpfung, 25f). 125 Niehoff, ebd. 126 Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 43. 127 Forschner, Stoa, 24. Philo aet. 90, vgl. Philo aet. 76–77: „Boetho von Sidon und Panaitos … jedenfalls gaben die Weltenbrände und Wiederentstehungen auf und gingen zu der heiligeren Lehre von der Unvergänglichkeit der ganzen Welt über. Auch von Diogenes [von Babylon] wird berichtet, daß er als junger Mann die Lehre vom Weltbrand mitunterschrieben habe, daß er in der Reifezeit seines Lebens dann aber Zweifel bekommen und sich des Urteils enthalten habe.“ (Übersetzung nach Long/Sedley, Die hellenistischen Philosophen, 330). Zur stoischen Ekpyrosislehre s. etwa Aristokles bei Eus.praep. 15.14.2; 15.18.2.
Tradition und Interpretation
auszuschmücken, und dabei eine Dimension der Immanenz“ hinzuzufügen, „die sich im Timaios nicht findet“.128 So zeigt sich bei Philo die Aufnahme platonischer Tradition, die er mit dem Gedanken der Personalität Gottes verbindet.129 Entscheidend ist, dass es für Philo eine mit der Schöpfung selbst gegebene Beziehung Gottes zum Menschen gibt, die er mit „der Abstammung der menschlichen Seele aus dem göttlichen Geist“ begründet.130 Das unterscheidet ihn einmal mehr von Paulus, denn für Paulus wird die Beziehung des Menschen zu Gott zuallererst hergestellt durch das Christusgeschehen. Umgekehrt formuliert: Vom Christusgeschehen aus erkennt Paulus, dass es gerade keine „natürliche“ Beziehung des Menschen zu Gott gibt (Röm 1,18–3,20.21–26). Diese Einsicht ist auch für das Bekenntnis 1Kor 8,6 entscheidend, denn von ihr aus wird verstehbar, weshalb „Erkenntnis“ nicht im Menschen selbst gründen kann, sondern nur in der Zuwendung zu ihm, die in Jesus Christus geschieht. Aus diesem Grund lässt sich für Paulus Gott als „Vater“ eben auch nur durch das Wirken des Geistes erkennen (Gal 4,6; Röm 8,15). Auch die zum Vergleich mit 1Kor 8,6 angeführten Fragmente aus den Sibyllinen131 lassen eine ganz bestimmte Intention bei der Betonung der Einzigkeit Gottes erkennen, die sich von derjenigen des Paulus unterscheidet. Da heißt es: Gott ist einer, der allein herrscht, unermeßlich groß, ungeworden, Herrscher über alles, unsichtbar, er allein sieht alles, wird aber selbst von jeglichem sterblichen Fleisch nicht gesehen; denn welches Fleisch kann den himmlischen und wahren unsterblichen Gott, der den Himmel bewohnt, mit seinen Augen sehen? (Sib frgm. 1,7–11).132
Auch dieser Text unterstreicht die Unsichtbarkeit Gottes und damit die Schwierigkeit, ihn zu erkennen. Die Betonung der „Einzigkeit“ Gottes dient hier aber der Anklage und dem Aufruf zur Umkehr. Den Menschen, die es „aufgegeben“ haben, „den wahren und ewigen Gott zu rühmen und ihm heilige Opfer darzubringen und
128 Niehoff, Philon, 117, vgl. Feldmeier, Der oberste Gott als Vater, 190. Auch Kleinknecht, θεός, 77 sieht in Philos Interpretation der Schöpfungsgeschichte „eine grundlegende Umbildung des griechischen Gottesbegriffs“ vollzogen. 129 Hirsch-Luipold, Gott, 143: Die Einheit Gottes sei bei Philo (wie bei Plutarch) nicht nur philosophisches Postulat“. Beide Denker verankerten ihre Philosophie vielmehr „in den Traditionen der gelebten Religion, die für sie das Denken über Gott bestimmt.“ So sei auch der Gedanke der Personalität Gottes für Philo wichtig (aaO., 144). 130 Feldmeier, Der oberste Gott als Vater, 192. Vgl. Philo opif. 25 (Übersetzung Cohn, 54): „Diejenigen nun, die tiefer in den Sinn der Gesetze eingedrungen sind und ihren Inhalt möglichst genau erforschen, geben als Grund an (sc. weshalb der Mensch das letzte Werk der Weltschöpfung ist), dass Gott den Menschen durch die Gewährung der Vernunft, die ja die beste Gabe war, mit sich selbst verwandt machte“. 131 Zeller, 1Kor, 290. Zum Charakter der Textsammlung s. Tilly, Apokalyptik, 67–69. 132 Übersetzung Merkel, JSHRZ V/8, 1136.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
(statt dessen) den Dämonen im Hades Opfer bereitet“ haben (Sib frgm. 1,20f), werden einst für ihre schlechte Gesinnung „den gebührenden Lohn erhalten“ (19).133 Deshalb werden sie dazu aufgefordert, „die Finsternis der Nacht“ zu verlassen und das Licht zu ergreifen (27).134 Der einzige Gott ist „für alle deutlich und unverfehlbar vorhanden“ (35).135 Deshalb kann jeder Mensch dazu aufgerufen werden, Gott in der Schöpfung zu erkennen. Paulus selbst nimmt diese Art der Argumentation in Röm 1,19–21 im Sinne der Anklage auf,136 in 1Kor 8,1–13 geht es ihm aber nicht darum, die „Einzigkeit“ und Existenz Gottes anhand der Betrachtung der Natur aufzuweisen. Es geht ihm vielmehr darum, den Glaubenden zu vermitteln, wer der eine Gott ist, an den sie glauben. 3.3
Gott in Begegnung
Die Rede von Gott von der Erfahrung seines Heilshandelns her lässt sich bereits im Deuteronomium beobachten. So steht die Gewissheit der Einzigkeit des Gottes, den Israel mit seinem Namen kennt, in Dtn 4 programmatisch „gleichsam als Vorwort zu Dekalog und Šĕma‘“.137 Die Erinnerung an das Heilshandeln Gottes an seinem Volk in seiner Begegnung bei der Herausführung aus Ägypten begründet demnach das Bekenntnis zu dem einen Gott und die umfassende Ausrichtung des menschlichen Lebens an dem Willen dieses Gottes. Es ist „der lebendige Gott“, der „aus der Mitte des Feuers“ gesprochen hat (Dtn 4,33), von dem hier geredet wird (vgl. Dtn 5,4.23f). Er hat sich „einen Volksstamm mitten aus den Volksstämmen“ genommen und „mit mächtiger Hand und mit erhobenem Arm“ in Ägypten zu seinem Volk gemacht (4,34). So hat es „der Herr, unser Gott in Ägypten vor deinen Augen getan, dass du es sehen konntest“ (LXX: ἐποίησεν κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν ἐν Αἰγύπτῳ ἐνώπιόν σου βλέποντος). Weil Israel seinen Gott in dieser Begegnung erfahren hat, deshalb weiß es, „dass JHWH – er – Gott ist und es keinen (Gott) außer ihm gibt“ (Dtn 4,35 MT: )ִכּי ְיה ָוה הוּא ָהֱאֹלִהים ֵאין עוֹד ִמְלַבדּוֹ.138 Die Septuaginta formuliert an dieser Stelle: „Deshalb weißt du, dass κύριος dein Gott ist, dass dieser Gott ist und es keinen außer ihm gibt (ὅτι κύριος ὁ θεός σου, οὗτος θεός ἐστιν, καὶ οὐκ ἔστιν ἔτι πλὴν αὐτοῦ). Dieser Gott ist es, den Israel nach Dtn 6,5
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Ebd. Ebd. Ebd. S. dazu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel 6 dieser Arbeit. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 103. Sie weisen darauf hin, dass Dtn 4 zu den jüngsten Texten des Deuteronomiums gehören und bereits Deuterojesaja voraussetzen (aaO., 103f). 138 Veijola, Dtn 1, 116f bemerkt zu dieser Stelle: „Das göttliche Handeln geschieht nicht um seiner selbst willen, es ist auf die Menschen hin ausgerichtet und möchte bei ihnen Erkenntnis und Anerkennung Jahwes bewirken.“
Tradition und Interpretation
„aus ganzem Herzen“, d. h. umfassend „lieben“ soll. Das Fremdgötterverbot und das Verbot der Herstellung von εἴδωλα wird deshalb im Dekalog mit der Erinnerung aus der Herausführung aus Ägypten begründet (Dtn 5,6–8 LXX), und in Dtn 6,12 LXX heißt es: „Hüte dich, dass du nicht κύριος, deinen Gott vergisst, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Haus der Sklaverei.“ In der Einleitung des Sche ma’ Israel hat die Septuaginta die Erinnerung an das Exodusgeschehen noch einmal unterstrichen, wenn sie über den Masoretischen Text hinausgehend auf die Rechtssatzungen hinweist, „die κύριος den Israeliten in der Wüste geboten hat, nachdem sie aus dem Lande Ägypten ausgezogen waren“ (ὅσα ἐνετείλατο κύριος τοῖς υἱοῖς Ισραηλ ἐν τῇ ἐρήμῳ ἐξελθόντων αὐτῶν ἐκ γῆς Αἰγύπτου).139 Weil dieser Gott sich zu Israels Gott bestimmt hat, darum ist es auf diesen Gott verpflichtet. Diese personale Verbindung drückt sich in Gottes Namen aus. Wenn das frühchristliche Glaubensbekenntnis 1Kor 8,6 von dem einen Gott und dem einen κύριος spricht und Gottes Schöpfungshandeln mit seinem Erlösungshandeln in Jesus Christus verbindet, dann nimmt es den Gedanken der Begegnung auf und verbindet ihn mit einer Aussage über Gottes Schöpfungshandeln. Von Gott als Schöpfer wird von der konkreten Begegnung her geredet. Wie im Deuteronomium kann von dieser Begegnung aus die Ethik begründet werden: als Entfaltung der im Christusgeschehen erfolgten Selbstbestimmung Gottes und seiner realisierten Gemeinschaft mit den Menschen im Sterben Jesu für die Menschen. Diese Tat Gottes macht gerade den „Schwachen“ zum „Bruder“ (1Kor 8,11). Deshalb erklärt David Lincicum in seiner Untersuchung der paulinischen Rezeption des Deuteronomiums völlig zu Recht, „that Paul does not present this (sc. his transformation of Dtn 6,4 in 1Kor 8,6) as a correction or an addition to the Schema‘, but as an interpretation of it that discloses its true referent.“140 Das frühchristliche Bekenntnis bringt damit (nach seinem eigenen Anspruch), wie Lincicum weiter treffend formuliert, „the true intent of Israel’s confession of the Schema‘“, zur Sprache.141 Wenn das monotheistische Grundbekenntnis Israels vom Christusgeschehen aus interpretiert wird, dann drückt sich darin die Überzeugung aus, dass erst vom Christusglauben aus Gott als Subjekt der alttestamentlichen Grundaussage semantisch bestimmt wird. Hier ist noch einmal an die hermeneutische Einsicht zu erinnern, dass der „Referent“ „Gott“ nicht anders als eben sprachlich zugänglich ist.142 Was mit dem Wort „Gott“ (θεός) zu verstehen gegeben wird, wird in den
139 Es handelt sich um eine im Deuteronomium seltene Abweichung der Septuaginta vom Masoretischen Text (vgl. Septuaginta Deutsch, 175). Dtn 6,4a LXX ist wohl eine aus 4,45 gebildete Einleitung, die die Intention hat, das Sche ma’ Israel eigens hervorzuheben und seine Verbindung mit dem Dekalog zu unterstreichen (Septuaginta Deutsch Erläuterungen I, 550f). 140 Lincicum, Deuteronomy, 139. 141 AaO., 140. 142 S. dazu meine bereits in Kapitel 1 geäußerte Kritik an Flebbe, Solus Deus, 444.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Geschichten, die vom Handeln Gottes erzählen, sichtbar. Aus dieser Grundvorstellung ergibt sich der Anknüpfungspunkt für eine christologische Interpretation des Sche ma‘. Im Christusgeschehen wird für Paulus erkennbar, wer Gott ist. In diesem Sinn spricht Torsten Jantsch (im Anschluss an Wilhelm Thüsing,) davon, dass es sich hier um eine „christologisch bestimmte und präzisierte Theozentrik“ handle.143 Die Frage ist aber, ob die Formulierung einer „Präzisierung“ der Theozentrik angemessen ist. Denn die Einsicht, dass Gott einer ist, ist für Paulus unmittelbar mit der Erkenntnis verbunden, wer dieser Gott ist. Nach seinem eigenen Verständnis „präzisiert“ das frühchristliche Glaubensbekenntnis nicht das „allgemeine“ Bekenntnis zu dem einen Gott, sondern es erschließt, wer dieser eine Gott ist. Gerade deshalb versteht er auch das Schöpfungsgeschehen ganz vom Christusgeschehen her. Sein Anknüpfungspunkt an die alttestamentliche Tradition besteht darin, dass er wie diese Gott von seinem Heilshandeln her erschließt. Dass es sich bei seiner Rede von Gott aber um eine „theozentrische“ Rede handelt, bei der der eine Gott des Alten und des Neuen Testaments zur Sprache gebracht wird, dass lässt sich eben nur aus der Sicht des christlichen Glaubens einsehen. Es geht nicht um „Präzisierung“, sondern um Interpretation – und damit um die semantische Erschließung dessen, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist. Mit diesem Bekenntnis tritt die christliche Gemeinde in Korinth notwendig auch in Konkurrenz zu Bekenntnissen zu anderen „Herren“ im religiösen, aber auch im politischen Bereich.144 Hier ist die oben herausgearbeitete Differenzierung zwischen einem funktionalen und einem ontologischen Gottesbegriff entscheidend: Wenn die frühen Christen Jesus mit einem Titel bezeichnen, mit dem in ihrer Umwelt auch hellenistische Herrscher oder altorientalische Gottheiten bezeichnet werden, dann bedeutet das gerade nicht, dass sie die Christologie aus diesen Vorstellungen heraus entwickeln. Vielmehr gewinnt die Rede von Jesus Christus als κύριος de facto eine kritische Funktion. Damit wird im gesellschaftlichen Kontext eine Abgrenzung der eigenen Identität vorgenommen. Von hier aus ließe sich auch ein Wahrheitsmoment der These entdecken, die Eve-Marie Becker im Anschluss an Zeller formuliert hat. Demnach könne „der Kern“ der „Formel“ 1Kor 8,6 „in einer henotheistisch ausgerichteten Christus-Akklamation bestanden haben (8,6c.d.)“.145 Becker möchte diese Akklamation als „ein hellenistisches Erbe aus dem Bereich liturgischer bzw. kultischer Vollzüge“ verstehen, die in 1Kor 8,6 mit dem monothe-
143 Jantsch, Gottesverständnis, 176. 144 Darauf weist Hurtado, Jesusverehrung, 278 mit Recht hin, wenn er erklärt: „Wenn heidnische Ansichten tatsächlich einen Effekt auf das früheste Christentum hatten, dann den, den Wu[n]sch der frühen Christen zu verstärken, die Verehrung Jesu von der Annahme neuer Götter und vergöttlichter Helden nach römischem Vorbild abzugrenzen.“ 145 Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 94.
Tradition und Interpretation
istischen Bekenntnis zu dem einen Gott verbunden worden sei.146 Einleuchtend an dieser Überlegung ist m. E., dass für die frühchristliche Tradition, auf die Paulus Bezug nimmt, die Anrufung Jesu als κύριος der Ausgangspunkt ist. In dieser Prädikation schwingt indes mehr und anderes mit als in der hellenistischen Umwelt, nämlich die Erinnerung an Gottes heiligen Namen, die mit seinem Heilshandeln verbunden ist (1Kor 1,2; 12,2; Röm 10,9; Phil 2,11). Insofern wirkt das Bekenntnis zu Christus notwendig auf das Gottesverständnis zurück. So wird ein Text wie Dtn 6,4 – wie etwa auch ein Text wie Joel 3,5 LXX in Röm 10,9 – neu verstanden, nach Ansicht der frühen Christen wohl: erst angemessen verstanden. Für dieses neue Verständnis ist die Begegnung mit Gott in Christus entscheidend. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus im unmittelbaren Anschluss an 1Kor 8,1–13 daran erinnert, dass er selbst „Jesus, unseren Herrn (τὸν κύριον ἡμῶν), gesehen“ hat (1Kor 9,1). Von dieser Begegnung kommt der Apostel her und von ihr aus redet er zu den Korinthern. Auch im weiteren Verlauf der Argumentation in 1Kor 9,1–11,1 zeigt sich, dass Paulus an die Exoduserzählung denkt, wenn er gegenüber den Korinthern im Blick auf die sie bewegende Frage nach den „Götzen“ argumentiert. Wie bereits das monotheistische Glaubensbekenntnis Israels ganz von der Frage bewegt ist, wer der Gott ist, von dem Einzigkeit behauptet wird, so kommt auch für Paulus alles darauf an, Gott inhaltlich zu bestimmen. Das wird an der Weiterführung seiner Argumentation in 1Kor 8,7–10 deutlich. Die Formulierungen im „allgemeinchristlichen Wir“ (s. o.) markieren, dass Paulus eine gemeinsame Erinnerung aufruft. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass der Apostel in 1Kor 8 wie auch an anderen Stellen des Ersten Korintherbriefes an seine Erstverkündigung in Korinth erinnert. Dafür spricht auch, dass er in 1Kor 9,1ff die Begründung seines Apostelamtes für die Korinther (1Kor 9,2a: εἰ ἄλλοις οὐκ εἰμὶ ἀπόστολος, ἀλλά γε ὑμῖν εἰμι) thematisiert. Eine derartige Erinnerung ließ sich bereits in 1Kor 2,1–5 (vgl. 1Thess 1,5; Gal 3,2) beobachten.147 Ein Hinweis auf die Erstverkündigung in Korinth findet sich dann auch in 1Kor 11,23ff und in 1Kor 15,1ff. Es war die Verkündigung des Evangeliums, die die Korinther zu solchen gemacht hat, die „den Namen des κύριος anrufen“ (1Kor 1,2). Grundlage dieser Verkündigung ist für Paulus seine eigene Begegnung mit dem κύριος, den er in 9,1 betont als „unseren Herrn“ bezeichnet. Ist in dieser Begegnung seine eigene Perspektive begründet, so ist diese Perspektive doch keine andere als die, die alle Glaubenden haben. Sie entsteht aus einer Begegnung – bei Paulus der direkten Begegnung mit Jesus, bei den Glaubenden vermittelt durch den in der Verkündigung wirksam gewordenen Geist. Von dieser Begegnung aus entdeckt Paulus die Begegnung Israels mit seinem Gott gleichsam neu. Aus dieser
146 Ebd. 147 S. dazu oben in Kapitel 3.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Begegnung heraus gewinnt Paulus nun konkrete Orientierung für das Verhalten der Glaubenden. 3.4
Der „Schwache“ als „Bruder“
Die Fortführung der Argumentation in 1Kor 8,7–10 zeigt, dass es Paulus nicht um einen theoretischen Monotheismus geht, sondern darum, dass den Götzen „die Anerkennung konkret verweigert wird“.148 Die γνῶσις, von der Paulus in V. 7 spricht, ist die in 1Kor 8,6 inhaltlich bestimmte Erkenntnis. Sie ist auch von den „Schwachen“ angenommen worden, wird aber noch nicht konsequent angewandt. Paulus macht aber deutlich, dass auch für diejenigen, die sich den anderen überlegen fühlen – sie werden wohl bewusst nicht als „die Starken“ bezeichnet149 – gilt, dass sie in ihrem Verhalten ihrer Glaubenserkenntnis nicht wirklich Rechnung tragen. Die Stichwortberührungen des Abschnitts 1Kor 8,7–10 zum folgenden Abschnitt 1Kor 9,1–27, insbesondere das Stichwort ἐξουσία,150 zeigen, wie Paulus in seiner Argumentation gegenüber den Korinthern auch seine eigene Person ins Spiel bringt. Das Verhalten der zuerst genannten Gruppe beschreibt Paulus in V. 7 mit den Worten: τινὲς δὲ τῇ συνηθείᾳ ἕως ἄρτι τοῦ εἰδώλου ὡς εἰδωλόθυτον ἐσθίουσιν – „Einige aber essen (es) aus der bis jetzt andauernden Gewöhnung an den Götzen als Götzenopferfleisch.“ 151 Diejenigen, von denen Paulus hier spricht, sind es offensichtlich – aus ihrer „heidnischen“ Vergangenheit – „gewöhnt“, mit der tatsächlichen Existenz der Götzen zu rechnen.152 Deshalb essen sie das Fleisch als Götzenopferfleisch, d. h. mit der Überzeugung, dass sie mit dem Verzehr dieses Fleisches in eine Beziehung zu den Götzen treten. Interessant ist, dass Paulus nicht diese Voraussetzung kritisiert oder sie indirekt dazu auffordert, ihre Haltung gegenüber den Götzen zu ändern. Er lässt sich vielmehr darauf ein, dass sie davon überzeugt sind, es in diesem Fleisch mit den Götzen oder Dämonen zu tun zu haben. Der Apostel argumentiert demnach nicht auf der theoretischen Ebene, sondern auf der Ebene einer Lebenshaltung, die sich konsequent daran ausrichtet, wer der eine und wahre Gott ist, der das Leben der Glaubenden bestimmt. Das „Gewissen“ 148 Lindemann, 1Kor, 193. 149 Den entsprechenden Ausdruck (οἱ δυνατοί) gebraucht Paulus erst in Röm 15,1 (vgl. Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 185; Lüdemann, συνείδησις, 722). 150 1Kor 8,9; 9,4.5.6.12.18. Ebenso begegnet das Stichwort ἀσθενής in beiden Abschnitten: 1Kor 8,7.9.10; 9,22. Das Stichwort συνείδησις aus 1Kor 8,7.10.12 begegnet dann im Abschnitt 1Kor 10,1–11,1, in 10,25.27.28.29. Hier zeigt sich die enge Verbindung der Ausführungen von 1Kor 8,1–13 mit dem Kontext 1Kor 8,1–11,1. 151 Zur Wortstellung s. BDR § 269 mit Anm. 3. Die Wendung steht demnach für τῇ ἕως ἄρτι συνηθείᾳ τοῦ εἰδώλου. Der Dativ gibt die Begründung an, das Objekt steht im Genitiv, vgl. Fee, Corinthians, 418, Anm. 92. 152 Fee, Corinthians, 418; Wolff, 1Kor, 178.
Tradition und Interpretation
(ἡ συνείδησις)153 ist gleichsam die innere Instanz, die die Gottesbeziehung der Glaubenden insofern gefährden könnte, als sie das eigene Verhalten als ein solches ansieht, das im Endgericht vor Gott keinen Bestand hat. Es geht demnach um den Verlust der Heilsgewissheit. Aus dieser Heilsgewissheit aber empfängt das Leben der Glaubenden gerade seine Kraft. V. 8a bestreitet die Relevanz der Frage nach der „Speise“ eines Menschen für die Beurteilung im Endgericht (vgl. Röm 14,10; 2Kor 4,14)154 . Wenn Paulus in V. 7b von einer „Befleckung“ (vgl. Offb 14,4) des Gewissens spricht, dann ist gemeint: Gott ist für die Menschen, die durch das Essen des Götzenopferfleisches irritiert werden, nicht mehr der einzige Gott in ihrem Leben. Einmal mehr ist der funktionale Gottesbegriff im Blick. Ebenso wird die in der Glaubenserkenntnis begründete ἐξουσία in ihrer Auswirkung auf die MitGlaubenden befragt. So fragt Paulus in 1Kor 8,10: „Denn wenn jemand sieht, dass du, der du Erkenntnis hast, im Götzenhaus zu Tisch liegst, wird dann nicht sein Gewissen, weil er schwach ist, auferbaut werden, das Götzenopferfleisch zu essen?“ (ἐὰν γάρ τις ἴδῃ σὲ τὸν ἔχοντα γνῶσιν ἐν εἰδωλείῳ κατακείμενον, οὐχὶ ἡ συνείδησις αὐτοῦ ἀσθενοῦς ὄντος οἰκοδομηθήσεται εἰς τὸ τὰ εἰδωλόθυτα ἐσθίειν;). Die konkret praktizierte „Erkenntnis“, dass es die Dämonen nicht gibt, wird für die „Schwachen“ zum „Anstoß“ (πρόσκομμα). Auch der Begriff πρόσκομμα hat eine theologische Konnotation, die ihn mit dem sachlich nahestehenden Abschnitt Röm 14,10–23 verbindet (V. 13.20).155 Das Verhalten, zu dem die „Schwachen“ „erbaut“156 werden, besteht darin, das Fleisch als Götzenopferfleisch zu essen. Sie fallen damit „in den alten Zwiespalt zwischen Glauben und Tun und damit in die Sünde zurück“.157 In diesem Sinne geht der „Schwache“ an der γνῶσις zugrunde, wie Paulus in V. 11 feststellt. Damit aber hat die Erkenntnis des Glaubens, die durch die Zuwendung Gottes zum Menschen gekennzeichnet ist und die Gewissheit enthält, dass Gott
153 Das Wort bezeichnet in der hellenistischen Popularphilosophie, etwa bei Plutarch, bei Philo und Josephus, aber auch bei Cicero und Seneca das „moralische Bewusstsein“. Der Begriff wurde wohl von Paulus aus dem philosophischen Umfeld aufgenommen und in die christliche Literatur eingeführt (Lüdemann, συνείδησις, 721f.723f, vgl. Eckstein, Syneidesis, 1–12.311–320; ders., Der aus Glauben Gerechte, 226f). 154 Die Formulierung mit dem Verb παρίστημι deutet darauf hin, dass es hier um die Dimension des Endgerichts geht (Lindemann, 1Kor, 195). 155 Das Wort begegnet im NT (abgesehen von 1Petr 2,8) ausschließlich bei Paulus (Röm 9,32.33; 14,13.20; 1Kor 8,9). In Röm 9,32f greift Paulus das Stichwort λίθος προσκόμματος aus Jes 8,14 LXX auf. Auch in Röm 14 ist die in Christus begründete Existenz der Glaubenden (14,7–9) ebenso im Blick wie die Perspektive des Endgerichts (14,10–12). 156 Möglicherweise verwendet Paulus das Verb οἰκοδομεῖν in 1Kor 8,10 „in ironischem Sinn“ (so Wolff, 1Kor, 181 und bereits Conzelmann, 1Kor, 184, der von „grimmiger Ironie“ spricht, die darin liege, dass Paulus hier den „terminus technicus für den Aufbau der Kirche“ verwende). 157 Balz, πρόσκομμα, 418.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
seine Schöpfung zum Ziel führt, eine Konsequenz, die kontraintuitiv ist: Sie entzweit die Glaubenden mit Gott. Darum wird die Haltung derer, die γνῶσις für sich beanspruchen, von Paulus kritisiert. Ihre Erkenntnis hat Auswirkungen, die ihr selbst nicht entsprechen und so den Blick auf Gott verstellen. Es stellt sich nun aber die Frage, weshalb Paulus in 1Kor 8,1–13 eine geradezu „liberale“ Haltung zur Götzenopferfleisch-Praktik einnimmt, während er in 1Kor 10,21 die Teilhabe am Abendmahl und die Teilhabe an Kulthandlungen grundsätzlich für unvereinbar hält. Mit dem „Liegen im Götzenhaus“ (κατακεῖμαι ἐν εἰδωλείῳ), von dem Paulus in 1Kor 8,10 redet, kann keine „unmittelbare Teilnahme am heidnischen Kult“ gemeint sein,158 wohl aber die Teilnahme an Mahlzeiten im Tempelbezirk.159 Das Wort ist polemisch und bezeichnet die heidnischen Tempel als „Götzentempel“.160 Während für Paulus die Teilnahme an Mahlzeiten im „heidnischen“ Tempelbezirk grundsätzlich denkbar ist, so besteht für ihn die Grenzlinie offensichtlich in der direkten Anrufung eines „Götzen“.161 Auch das ist konsequent gegenüber der in 1Kor 8,4f eingeführten Differenzierung: Durch eine solche Anrufung schafft der Mensch einen „Götzen“, weil er ihm die Rolle zugesteht, die nur der wahre Gott einnehmen darf.162 Es zeigt sich damit aber auch, dass Paulus sehr sensibel ist, was die Anrufung Gottes anlangt. Er ist sich deshalb sehr bewusst, was es bedeutet, dass Jesus als κύριος angerufen wird. Die Argumentation bestätigt, dass es Paulus darauf ankommt, wer der wahre Gott ist. Nur dieser darf angerufen werden und nur zu diesem darf der Glaubende in ein Gemeinschaftsverhältnis eintreten. Der wahre Gott aber ist der, der im „Vater“ und im „Herrn“ in einer differenzierten Weise wahrgenommen wird. Paulus reflektiert hier nicht darüber, wie sich Gott und Jesus genau zueinander verhalten.163 Es ist auffällig, dass hier (genauso wie in Phil 2,6–11) nicht der Sohn-Gottes-Titel gebraucht wird, der die 158 So mit Recht Lindemann, 1Kor, 197. 159 Vgl. Conzelmann, 1Kor, 184. 160 Im Neuen Testament ist das Wort εἰδωλεῖον Hapaxlegomenon. Lindemann, 1Kor, 196 weist auf Dan 1,2 LXX hin, wo das ähnliche Wort εἰδώλιον polemisch auf den Tempel Nepukadnezars gemünzt ist. In 1Makk 1,47 wird das Wort im Blick auf unter Antiochus IV. erbaute Heiligtümer verwendet. 161 Deines, Aposteldekret, 383: „Die Grenzlinie liegt für Paulus da, wo eine aktive Teilnahme an solchen Opferveranstaltungen stattfindet, denn da entsteht eine κοινωνία mit den Dämonen (1Kor 10,20), indem der Opfernde bzw. der daran Beteiligte sich aktiv und direkt an die im Kult verehrte Gottheit wendet.“ S. dazu Gäckle, Die Starken und die Schwachen, 272–275. 162 Es ist also keineswegs widersprüchlich, wie Paulus in 1Kor 8 und 10 argumentiert, wie Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 81 nahelegt, wenn sie formuliert, Paulus könne „einerseits zwar mythologische Vorstellungen kritisch theologisch destruieren (1Kor 8,4b)“, er rechne aber „andererseits mit der Existenz von Dämonen (1Kor 10,19f)“ (oben bereits zitiert). Beckers Auslegung übersieht – wie gesehen – die Differenzierung zwischen funktionalem und ontologischem Gottesbegriff. 163 Es ist deshalb zumindest missverständlich, wenn Jantsch, Gottesverständnis, 176 formuliert, in 1Kor 8,6 gehe es um „die Nähe Jesu Christi zu Gott“ und nicht um „das Gottesbekenntnis als
Tradition und Interpretation
Relation Jesu zu Gott zu Sprache bringt. Es kommt Paulus auf die Relation Gottes und Jesu zu den Glaubenden an. Beide Begriffe – „Vater“ und „Herr“ – sind relationale Begriffe. Aus der damit beschriebenen Relation ergibt sich für Paulus der Maßstab, von dem aus er in den drei abschließenden Versen argumentiert. Mit 1Kor 8,11 nimmt Paulus rhetorisch geschickt einen Perspektivwechsel vor. Dieser Perspektivwechsel legt nahe, dass die Bezeichnung einiger Gemeindeglieder als „Schwache“ von Paulus nur als Wiedergabe der Wahrnehmung anderer eingeführt wurde, denn nun macht Paulus deutlich, dass dieser „Schwache“ in Wahrheit ein „Bruder“ ist. In den letzten drei Versen des Abschnitts tritt der Begriff ἀδελφός bestimmend in den Vordergrund. Er wird in jedem der Verse gebraucht. Es handelt sich dabei um einen geprägten Ausdruck, der den Mitchristen bezeichnet.164 Mit diesem Ausdruck kommt für Paulus zu Sprache, wer derjenige ist, von dem die „Erkennenden“ als „Schwache“ sprechen. Es ist „der Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist“ (V. 11). Aus der Erkenntnis, wer Gott ist, folgt die Erkenntnis, wer der „Schwache“ in Wahrheit ist: ein „Bruder“ bzw. eine Schwester. 11 ἀπόλλυται γὰρ ὁ ἀσθενῶν ἐν τῇ σῇ γνώσει, ὁ ἀδελφὸς δι’ ὃν Χριστὸς ἀπέθανεν. 12 οὕτως δὲ ἁμαρτάνοντες εἰς τοὺς ἀδελφοὺς καὶ τύπτοντες αὐτῶν τὴν συνείδησιν ἀσθενοῦσαν εἰς Χριστὸν ἁμαρτάνετε.
13
διόπερ εἰ βρῶμα σκανδαλίζει τὸν ἀδελφόν μου, οὐ μὴ φάγω κρέα εἰς τὸν αἰῶνα, ἵνα μὴ τὸν ἀδελφόν μου σκανδαλίσω.
11 12
13
Denn der Schwache geht an deiner Erkenntnis zugrunde, der Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist. Indem ihr aber so an den Brüdern sündigt und ihr schwaches Gewissen schlagt, sündigt ihr an Christus. Deshalb, wenn Speise meinen Bruder zu Fall bringt, will ich in Ewigkeit kein Fleisch mehr essen, damit ich meinen Bruder nicht zu Fall bringe.
An dieser Stelle wird sichtbar, dass γνῶσις für Paulus kein Wert „an sich“ ist. Sie hat ihre Bedeutung im Rahmen der Beziehungen, die im Glauben begründet werden.
solches“. Es geht Paulus sehr wohl um „das Gottesbekenntnis als solches“. Dieses aber lässt sich für ihn eben nicht ohne den Bezug auf das Christusgeschehen formulieren. 164 Vgl. Röm 1,13; 7,1.4; 8,12.29; 10,1; 11,25; 12,1; 15,14.30; 16,17; 1Kor 1,10.11.26; 2,1; 3,1; 4,6; 7,24.29; 10,1; 11,33; 12,1; 14,6.20.26.39; 15,1.31.50.58 16,15; 2Kor 1,8; 8,1; 13,11; Gal 1,11; 3,15; 4,12.28.31; 5,11.13: 6,1.18; Phil 1,12; 3,1.14.17; 4,1.8; 1Thess 1,4 (vgl. 2Thess 2,13): 2,1.9.14.17; 3,7; 4,1.8; Phm 16, vgl. Eph 6,21; Kol 4,7.9; Jak 1,9.16; 2,5, s. dazu Beutler, ἀδελφός, 71.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Ist der eine und wahre Gott der, der im Christusgeschehen sein in der Schöpfung angelegtes Ziel realisiert, dann bestimmt dieser Gott auch die Beziehung der Glaubenden untereinander: Sie sind als Brüder und Schwestern aufeinander verwiesen und verbunden im Glauben daran, dass sie aufgrund des Kreuzestodes Jesu Christi füreinander leben. So setzt die Argumentation des Paulus am Ende des Abschnitts konsequent um, was in dem Glaubensbekenntnis 1Kor 8,6 enthalten ist: Gott ist ein Gott, der an den Menschen handelt – ein Gott „für uns“. Tatsächlich ist dies – wie wir im folgenden Kapitel sehen werden – die entscheidende Einsicht, die Paulus in seiner Christus-Begegnung gewonnen hat und die ihn mit der frühchristlichen Gemeinde verbindet. In 1Kor 8,11–13 rekurriert Paulus auf eine Argumentationsfigur, die den Ersten Korintherbrief von Anfang an bestimmt, wenn er die Glaubenden als „Geheiligte in Christus Jesus“ anspricht (1,2) und an die in Christus begründete Gottesgemeinschaft (1,9) erinnert, die durch den Kreuzestod Christi begründet ist (1,13). Das Handeln Gottes in Christus an den Glaubenden bestimmt deren Existenz nun so, dass ein „Sündigen gegen den Bruder“ gleichbedeutend ist mit einem „Sündigen“ gegen Christus selbst (1Kor 8,12). Das damit bezeichnete Verhalten ist für Paulus ein Widerspruch zum Schöpfungswillen Gottes, der in Jesus Christus sichtbar wird. In 1Kor 8,1–13 zeigt sich demnach ganz konkret, wie die vom Christusgeschehen her vorgenommene inhaltliche Bestimmtheit der Gottesvorstellung das Leben der Glaubenden prägt und Gestalt gewinnt: Der eine Gott ist der, der im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus erkennbar wird. Er ist die Instanz, vor der die Glaubenden leben und der für sie der einzige und wahre Gott ist.165 Die dogmatischen Probleme, wie genau die Relationen zwischen Gott und Jesus Christus zu bestimmen sind, beschäftigen Paulus hier nicht. Das Glaubensbekenntnis steht in einem konkreten Zusammenhang, in dem alles auf die inhaltlich klar bestimmte Rede von Gott ankommt.
4.
Der eine Gott als πατήρ und κύριος
Nachdem bis hierhin Gesagten ist deutlich, dass von einer „Verdopplung des Glaubensobjekts“ bei Paulus keine Rede sein kann. Durch die Bezeichnung Jesu als κύριος wird Jesus nicht divinisiert oder zu einem „Halbgott“ erhoben, vielmehr wird das monotheistische Glaubensbekenntnis Israels neu verstanden und im konkreten Kontext zur Geltung gebracht. Paulus begründet die „Gottgleichheit“ Jesu nicht eigens, sondern er nimmt auf sie als Ausgangspunkt Bezug, den er mit seinen
165 Otfried Hofius formuliert präzise: „Der ,Vater‘ Jesu Christi und der ,Sohn‘ dieses Vaters sind der εἷς θεός, neben dem es keinen anderen Gott gibt.“ Hofius, Einer, 179.
Der eine Gott als πατήρ und κύριος
Adressatinnen und Adressaten teilt. Für das frühchristliche Bekenntnis ist die Rede von dem einen Gott eben keine unbestimmte oder selbstverständliche Voraussetzung, sondern immer schon mit der Frage verbunden, wie dieser Gott sich zeigt und selbst bestimmt. Torsten Jantsch hält deshalb mit Recht fest, „dass die urchristliche Verkündigung nicht etwa zuerst monotheistisch und erst in zweiter Stufe christologisch argumentiert, sondern dass im Gegenteil der Kern des christlichen Redens von Gott der in der Christologie verankerte Gottesglaube ist.“166 Allerdings verdient die Beobachtung, dass Jesus in 1Kor 8,6 nicht als ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ bezeichnet wird, Beachtung.167 Sie deutet darauf hin, dass es in 1Kor 8,6 gerade nicht darum geht, die Relation zwischen Gott und Jesus Christus eigens zu begründen. Vielmehr ist Jesus Christus als Ort der Gegenwart Gottes der Ausgangspunkt und die Begründung sowohl für die Rede von Gott als πατήρ als auch von Jesus als κύριος. Aus diesem Grund ist die Rede von Gott als „Vater“ im schöpfungstheologischen Zusammenhang in 1Kor 8,6 auch deutlich abzugrenzen von der hellenistischen Tradition. Einige Beispiele dazu können das demonstrieren: So findet sich bereits bei Homer die Bezeichnung Gottes als πατὴρ ἀνδρῶν τε θεῶν τε.168 Gemeint ist konkret Zeus, dessen „einzigartige hierarchische Stellung gegenüber Menschen und Göttern“ damit ausgesagt wird.169 Hier drückt die Vater-Prädikation demnach ein hierarchisches Verhältnis aus, in dem Zeus als der oberste Gott erkennbar wird. Zeus wird aber auch als Ζεῦ πάτερ im Gebet angerufen.170 Das ist etwa auch im Zeushymnus des Kleanthes der Fall.171 Bei Platon steht die Rede von Gott als „Vater“ dann in einem protologischen Zusammenhang (Plat. Tim 27c–28c). Hier lässt sich eine Art, von Gott zu reden, beobachten, die dann auch für Aristoteles und später für die stoische Philosophie charakteristisch geworden ist. Grundlegend ist die Unterscheidung von τὸ ὄν und τὸ γιγνόμενον: Gott ist als der „Seiende“ kategorial unterschieden vom „Werdenden“.172 Aristoteles nimmt diese kategoriale Unterscheidung bei seiner Frage nach den Prinzipien (ἀρχαί) und den Ursachen (αἴτια, Arist.metaph. 1069a 18–19) auf. Für Platon ist Gott als „Schöpfer und Vater des Alls“ (Plat. Tim 28c: ποιητὴς καὶ πατὴρ τοῦ παντός) der letzte Grund allen Daseins.
166 Jantsch, Gottesverständnis, 176. 167 Jantsch weist aaO., 181 zwar darauf hin, relativiert die Beobachtung dann aber durch die Feststellung, „dass für christliche Ohren diese Verbindung für sich selbst spricht“. 168 Hom. Od. 1,28; 10,306; 12,445; 14,445; Hom. Il. 1,544; 4,68; 5,426 (Burkert, Gott, 721; Zimmermann, Namen, 64). 169 Zimmermann, ebd. 170 AaO., 65. 171 Vgl. Forschner, Stoa, 157. 172 Auf diese grundlegende Unterscheidung habe ich bereits in den beiden vorangehenden Kapiteln hingewiesen.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
Diese Denkfigur wird bei Philo von Alexandrien mit der biblischen Grundunterscheidung von Schöpfer und Geschöpf verbunden. Auch wenn Philo die platonische Vorstellung mit der gelebten Religion (des Judentums) verbindet,173 so bewirkt seine platonische Relecture der jüdischen Tradition174 doch eine Umgestaltung der Gotteslehre. Das wird an der charakteristischen Rede von Gott als der „Ursache“175 deutlich. Gott, der „Vater“ ist nach diesem Verständnis die prima causa, die hinter dem Weltgeschehen steht.176 Die Rede von Gott als „Vater“ lässt sich im stoischen Kontext anhand einer Passage bei Diogenes Laertios beschreiben, der von Zenon berichtet, dass dieser von Gott als dem „Schöpfer der Welt und Vater von allem“ (ὁ δημιουργὸς τῶν ὅλων καὶ πατὴρ πάντων) spreche (D.L. VII 147). Hier begegnet auch die für die Stoa charakteristische Vorstellung, dass Gott als der Schöpfer der Welt auch das prinzipienstiftende Element ist und alles durchdringt (s. auch D.L. VII 135–136). Hier lässt sich bei Paulus eine Differenz zur stoischen Vorstellung beobachten: Er redet auch im Zusammenhang von 1Kor 8,6 von Gott nicht als „Prinzip“ der Schöpfung, sondern von dem in Christus handelnden Gott. So wird Gott in erster Linie als Vater Jesu Christi zur Sprache gebracht, der als solcher auch der Vater der Glaubenden ist. Das entspricht der Weise, in der Paulus sonst von Gott als „Vater“ redet.177 Sowohl πατήρ als auch κύριος sind „Verhältnisbegriffe“.178 Indem die frühen Christen beide „Verhältnisbegriffe“ im Zusammenhang gebrauchen, bringen sie zum Ausdruck, dass Gott und Jesus Christus sich wechselseitig erschließen: Das Bekenntnis 1Kor 8,6 sagt nicht abstrakt die „Gottheit“ Jesu Christi aus, sondern bestimmt Gott inhaltlich als Vater durch die in Christus gestiftete Relation zu den Glaubenden und identifiziert umgekehrt Jesus Christus als den κύριος, den Israel im Exodusgeschehen als seinen Gott kennengelernt hat. Die Probleme, Gott und Jesus Christus zueinander ins Verhältnis zu setzen, die sich in der Auslegung von
173 174 175 176
Hirsch-Luipold, Gott, 144. Feldmeier, „Göttliche Philosophie“, 43. Philo verwendet den Begriff des „Urgrundes“ (ὁ αἴτιος Philo Opif 8; 30; post. 19; Abr 268 u. ö.). S. dazu die Rede Philos von Gott als „Vater“ in Philo Opif. 84; Spec.Leg II 30f; III 189 (Zimmermann, Namen, 60). Auch bei Josephus lässt sich eine Verbindung der jüdischen Tradition mit der platonischen Vorstellung beobachten. In JosAnt VII 380 schreibt Josephus: „Er (David) fing an, mit lauter Stimme Gott zu loben, und nannte ihn den Vater und Schöpfer der ganzen Welt und den Vollbringer der göttlichen und menschlichen Werke …“. Analog zu Philo lässt sich im Blick auf Josephus sagen, dass er überwiegend christlich rezipiert wurde. Bei ihm dürfte der Grund dafür aber auch daran liegen, dass er von einer Zeitspanne berichtet, die zwar für das Christentum, nicht aber für das Judentum eine positive Bedeutung hatte (Magness, Masada, 47–49). 177 Von Gott als Vater Jesu Christi redet Paulus in 2Kor 1,3; 11,31, vgl. Kol 1,3; Röm 15,6, von Gott als Vater der Glaubenden in 1Thess 1,1.3; 3,11.13; 1Kor 1,3; Röm 1,7 u. ö. 178 Becker, ΕΙΣ ΘΕΟΣ, 86. Becker weist allerdings nur auf die Prädikation κύριος als „Verhältnisbegriff “ hin.
Der eine Gott als πατήρ und κύριος
1Kor 8,6 seit Bousset beobachten ließen, entstehen daraus, dass dieser wechselseitige Zusammenhang von Christologie und Theologie nicht mehr wahrgenommen werden kann, wenn Gott unabhängig von den beschriebenen Relationen bestimmt wird. Mit dem monotheistischen Bekenntnis kommt eine konzeptionelle Verbindung zur Gottesoffenbarung im Exodusgeschehen zur Sprache, die nicht nur in der Aufnahme von Dtn 6,4 in 1Kor 8,6, sondern auch im Kontext der Argumentation sichtbar wird. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus im unmittelbaren Anschluss explizit auf die Exoduserzählung Bezug nimmt, in 1Kor 10,1ff. Dass Paulus in dieser Erzählung auch die Geschichte der christlichen Gemeinde berichtet sieht, zeigt bereits die Formulierung in 10,1, dass „unsere Väter“ (οἱ πατέρες ἡμῶν) „alle unter der Wolke waren und alle durch das Meer hindurchgingen“.179 Er erinnert damit an die „Wolkensäule“ (στῦλος νεφέλης), von der in Ex 13,21f LXX die Rede ist. Sie symbolisiert dort die Gegenwart Gottes bei seinem Volk bei der Herausführung aus Ägypten. Wenn in 1Kor 10,2 gesagt wird, dass durch den Durchzug durch das Meer „alle auf Mose getauft wurden in der Wolke und im Meer“ (πάντες εἰς τὸν Μωϋσῆν ἐβαπτίσθησαν ἐν τῇ νεφέλῃ καὶ ἐν τῇ θαλάσσῃ), dann wird damit eine Interpretation auf die christliche Taufe vorgenommen,180 die εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν geschieht und εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ vollzogen wird (Röm 6,3). Auch in 1Kor 1,13 war die – in einer rhetorischen Frage gleichsam „indirekt“ zur Sprache gebrachte – Taufe auf den Namen Jesu Christi der Ausgangspunkt der Argumentation gewesen. Die Gegenwart Gottes bei seinen Menschen lässt sich für Paulus durch die Taufe symbolisieren. Die damit verbundene Gemeinschaft mit Jesus Christus bringt Paulus mit einem zweiten Motiv aus der Exodusgeschichte zur Sprache, mit dem in Ex 17,6 beschrieben „Fels“, aus dem Gott den Israeliten in der Wüste zu trinken gibt, indem er Mose den Auftrag gibt an den Felsen zu schlagen. Für Paulus wird die in Ex 17,6 LXX genannte πέτρα zum Symbol für Jesus Christus: ἡ πέτρα δὲ ἦν ὁ Χριστός (1Kor 10,4).181 Auf diese Weise bringt Paulus in seiner Auslegung der Exoduserzählung die im Exodusgeschehen begründete Gottesgemeinschaft als Gemeinschaft mit Gott und mit Jesus Christus zur Sprache, um dann auf das Thema des „Götzendienstes“ zu sprechen zu kommen, um das es im Kontext von 1Kor 8,1–11,1 ja geht. Er rekurriert dafür auf die Urszene des Abfalls von Gott, der Erzählung vom Goldenen Kalb, indem er in 1Kor 10,7 Ex 32,6b LXX zitiert. Hier begegnen bereits die beiden Aspekte des „Essens“ und „Trinkens“,
179 Vgl. Wolff, 1Kor, 214. 180 Vgl. Conzelmann, 1Kor, 203. In 1Petr 3,20f wird eine ähnliche typologische tauftheologische Deutung mithilfe des Motivs von der Errettung der Arche Noah vorgenommen. 181 Paulus dürfte hier nicht nur an die entsprechenden Passagen aus der Exodus-Erzählung denken, sondern auch an deren hymnische Vergegenwärtigung in Ps 78,13–16: Hier sind die in 1Kor 10,1–4 aufgenommenen Elemente der „Wolke“, des „Meeres“ und des „Felsens“ miteinander verbunden.
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„Vater“ und „Herr“ (1Kor 8,6)
auf die in 1Kor 10,14ff im Blick auf das Abendmahl Bezug genommen wird. Vor allem das Verb „trinken“ (πίνειν) verbindet die beiden aufgenommenen Zitate aus Ex 17,6 und 32,6 mit der paulinischen Argumentation (1Kor 10,4.21). Paulus macht deutlich, dass im Essen und Trinken Gemeinschaft hergestellt wird.182 Das führt er in 1Kor 10,14–21 aus. Ihre Bedeutung gewinnt die alttestamentliche Exodus-Geschichte für Paulus dadurch, dass er Gott als Subjekt der Erzählung vom Christusgeschehen aus neu versteht und sie mit Taufe und Abendmahl verbindet.183 So kann er deutlich machen, weshalb eine Teilnahme an heidnischen Kultmahlen, bei denen fremde Götter angerufen werden, mit der Teilnahme am Abendmahl und der sich darin ausdrückenden Gemeinschaft mit Jesus Christus nicht vereinbar ist. In diesem Zusammenhang bestätigt sich erneut, wie Paulus die im Exodusgeschehen begründete Gotteserkenntnis vom Christusglauben aus interpretiert und dabei Jesus Christus Gott nicht nachträglich zuordnet, sondern ihn in der Geschichte Gottes mit Israel immer schon am Werk sieht. Insofern sind „Theozentrik“ und „Christozentrik“ unlöslich miteinander verbunden. Dass Gott und Jesus Christus damit nicht einfach personal identisch werden, sondern voneinander unterscheidbar bleiben, kann nicht verdecken, dass von Jesus durch die Prädikation als κύριος (1Kor 10,21, vgl. 8,6) in seiner Bedeutung für die Glaubenden etwas ausgesagt wird, das im jüdischen Kontext undenkbar ist. Diese Ausgangsüberzeugung wird hier nicht ontologisch differenziert. Sie provoziert eine solche Ausdifferenzierung aber geradezu, weil sie von Jesus so redet, wie man im jüdischen Kontext nur von Gott selbst reden kann. Paulus ist sich offensichtlich bewusst, dass er Jesus eindeutig nicht auf der Seite des Geschöpfs, sondern auf der Seite des Schöpfers verortet, wenn er so von ihm redet, wie er dies im Zusammenhang von 1Kor 8,6, aber auch in 1Kor 2,8 tut. Diese Eigenart der paulinischen Rede von Gott musste in der Alten Kirche ontologische Ausdifferenzierungen provozieren, wenn man diese Eigenart begrifflich erfassen wollte. Eine solche begriffliche Fassung der Christologie steht allerdings nicht am Anfang der paulinischen Rede von Gott. Am Anfang steht die Begegnung mit Jesus Christus als Gottes Gegenwart, die eben diesen Gott neu erkennbar werden lässt und gleichzeitig eine Identität dieses Gottes mit dem Gott Israels behauptet. Diese Begegnung, auf die Paulus in 1Kor 9,1 explizit hinweist, gibt dem paulinischen Gottesverständnis die entscheidende Wendung. Darum soll sie im Folgenden näher betrachtet werden.
182 Wolff, 1Kor, 218, Anm. 326 bemerkt mit Recht, dass „der Akzent … jetzt also auf der Beteiligung an Kultmahlzeiten“ liege und ergänzt: „Das Zitat (sc. Ex 32,6 in 1Kor 10,7) bringt also zum Ausdruck, daß heidnische Kultmahlzeit und aktive Götterverehrung aufs engste miteinander verbunden sind“ (aaO., 218f). 183 Fee, Incarnation, 69f weist mit Recht darauf hin, dass Paulus auch an dieser Stelle Jesus als präexistent und als den „einen“ Herrn versteht, von dem 1Kor 8,6 gesprochen hat.
Fünftes Kapitel: Christusbegegnung und Gottesbegegnung
1.
Die Bedeutung der Damaskus-Begegnung für die paulinische Theologie
Der Aspekt der Begegnung hat für die paulinische Rede von Gott eine wesentliche Bedeutung. Paulus redet von Gott nicht als von einem „Prinzip“, sondern von einer Wirklichkeit, die konkret (und „personal“) begegnet und den Menschen in Anspruch nimmt. Deshalb hat diese Begegnung, wie Paulus im Ersten Korintherbrief, aber auch an anderen Stellen deutlich macht, unmittelbare Auswirkungen auf das konkrete Handeln. In dieser Art der Rede von Gott steht Paulus in Kontinuität zu der Weise, von Gott zu reden, die sich in den Texten der Heiligen Schriften Israels beobachten lässt und die sich von der platonisch und auch der stoisch geprägten Theologie gerade unterscheidet. Die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität der paulinischen Rede von Gott im Verhältnis zum Judentum ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Paulus liest die Texte der jüdischen Tradition aus der Perspektive seines neu gewonnenen Christus-Glaubens. Und er begründet diese Perspektive an einigen Stellen explizit mit einer persönlichen Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus.1 Diese Begegnung hat ohne Zweifel – bei allem, was sich kritisch dagegen einwenden lässt2 – eine fundamentale Bedeutung für die paulinische Theologie.3 Mit der Frage, inwiefern damit auch sein Gottesverständnis
1 Die beiden ausführlichsten Passagen sind Gal 1,11–24 und Phil 3,7–11. Anspielungen finden sich aber auch in 1Kor 9,1; 15,8–10; Röm 1,1–5, vgl. 11,13; 15,15f und – wie näher zu zeigen ist – in 2Kor 4,6. Dass die „Damaskus-Begegnung“ auch für die Paulus-Rezeption eine entscheidende Rolle gespielt hat, zeigt sich bereits im Neuen Testament selbst, in der Paulus-Schule (1Tim 1,12–17) und in der Apostelgeschichte (Apg 9,1–22; 22,6–16; 26,12–18). Paulus selbst erwähnt den Ort Damaskus nur zweimal beiläufig, in Gal 1,17 (s. dazu Sanders, Paulus, 15) und in 2Kor 11,32. Die DamaskusTradition wird vor allem durch die Apostelgeschichte begründet, vgl. Apg 9,2f.8.10.19.22.27; 22,5f.10f; 26,12.20. 2 Hier wird vor allem die Frage diskutiert, wie die sogenannte „Rechtfertigungslehre“ des Paulus mit seinem Berufungserlebnis zusammenhängt, s. dazu Kollmann, Berufung und Bekehrung, 84–87. 3 In den Paulus-Darstellungen stellt die systematische Zusammenschau der verschiedenen Stellen, an denen Paulus auf seine Berufung zu sprechen kommt, häufig den Ausgangspunkt dar, auch wenn das Urteil über die Bedeutung, die diesem Ereignis für die paulinische Theologie zugeschrieben wird, differiert, vgl. Becker, Paulus, 60–86; Eichholz, Paulus, 17–20; Bornkamm, Paulus, 36–48; Kuss, Paulus, 45–50; Lohse, Paulus, 58–71; Reinmuth, Paulus, 17–34; Sanders, Paulus, 15–20; Schnelle, Paulus, 77–94; Wolter, Paulus, 23–30. S. auch die Untersuchung von Dietzfelbinger, Berufung. Broer, Erscheinung, 58 bemerkt mit Recht, dass es nicht mehr möglich ist, die Literatur zum Thema vollständig zu überblicken.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
betroffen ist,4 ist die Frage nach der Identität Gottes aufgeworfen.5 Das Problem begegnete bereits im Zusammenhang der forschungsgeschichtlichen Diskussion bei Halvor Moxnes.6 Mit Recht hatte er gefragt: „What does it mean when we say that Paul speaks of the same God as the Old Testament?“7 Hermeneutisch ist dazu zunächst einmal festzuhalten, dass eine „Identität“ Gottes nur perspektivisch behauptet werden kann.8 Es muss gefragt werden, für wen diese „Identität“ gilt. Insofern sind verschiedene Perspektiven, die für die Behandlung der Frage relevant sind, zu differenzieren. Mindestens drei Aspekte lassen sich hier nennen: a) Die Perspektive des Paulus, der in der Rückschau seine Herkunft als pharisäischer Jude in Erinnerung ruft (Phil 3,5f, vgl. Gal 1,13f).9 b) Die Perspektive einer innerhalb des Judentums entstehenden Bewegung, die sich zunehmend von ihrer Mutterreligion ablöst bzw. von dieser als different erfahren wird und die sich in diesem Sinn als „Christentum“10 herausbildet. c) Die Perspektive der heutigen Ausleger, die von zwei selbständigen Religionen – „Judentum“ und „Christentum“ – herkommen und von hier aus bedenken,
4 S. dazu den Abschnitt bei Jantsch, Gottesverständnis, 26–30. 5 „Identität“ ist hier im Sinne von „Selbigkeit“ und „Selbstheit“ verstanden, s. dazu Portenhauser, Identität, 211. 6 S. dazu oben in Kapitel 1. 7 Moxnes, Theology, 288 (Hervorhebung von mir). 8 Dass der Charakter der Perspektivität für jede wahrheitsfähige Aussage gilt, arbeitet Landmesser, Wahrheit, 442–444 heraus. Damit ist aber gerade nicht die Vorstellung verbunden, dass von „unterschiedlichen“ Welten die Rede wäre. Vielmehr besteht aus der jeweiligen Perspektive der Anspruch, über die gemeinsam geteilte Welt zu sprechen. So ist „Perspektivität“ von „Positionalität“ zu unterscheiden. „Positionell“ – und damit wissenschaftlich problematisch – ist eine Haltung, die sich einer Reflexion der eigenen Erkenntnisbedingungen grundsätzlich verweigert und in diesem Sinn die eigene Sicht absolut setzt. Andererseits ist hervorzuheben, dass gerade die Perspektivität von Wahrheitserkenntnis impliziert, dass nicht verschiedene, einander widersprechende, „Wahrheiten“ „nebeneinander stehen gelassen werden“ können. 9 Magness, Masada, 41 weist darauf hin, dass Paulus neben Josephus „einer von nur zwei Juden des Altertums“ ist, „die sich selber als Pharisäer bezeichnen“, vgl. JosVit 9–12; Niebuhr, Pharisäer, 72f. 10 Der Terminus Χριστιανισμός ist im Neuen Testament nicht belegt. Die Bezeichnung Χριστιανοί – „Christen“ findet sich erstmals in Apg 11,26 als Außenbezeichnung für die erste heidenchristliche Gemeinde im syrischen Antiochien. Die Verbindung zu Antiochien bestätigt sich in den Briefen des Ignatius, wo sich neben der Wendung Χριστιανοί (IgnEph 11,2; 14,2; IgnMagn 4,1; IgnTrall 6,1; IgnRöm 3,2.3; IgnPol 7,3, vgl. Did 12,4) auch die Bezeichnung Χριστιανισμός findet (IgnMagn 10,1.3; IgnRöm 3,3; IgnPhil 6,1). Die antiochenische Gemeinde spielte für die christliche Sozialisation des Paulus eine wichtige Rolle. Er wurde dort offensichtlich auch mit der Frage nach ihrer religiös begründeten Identität konfrontiert.
Die Bedeutung der Damaskus-Begegnung für die paulinische Theologie
was diese Perspektive für die Sicht auf das erste Jahrhundert nach Christus bedeutet.11 Die Paulus-Forschung ist seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von dem Stichwort der „Perspektive“ geradezu beherrscht, seitdem James D.G. Dunn den Begriff der New Perspective on Paul geprägt hat. Dunn fasst damit eine Entwicklung zusammen, die er mit Krister Stendahl und Ed Parish Sanders verbindet,12 die sich inzwischen aber breit ausdifferenziert hat. Ihre besondere Schärfe enthält diese „Perspektive“ dadurch, dass sie von manchen Vertretern als ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel behauptet wird.13 Dunn hat selbst darauf aufmerksam gemacht, dass in diesem Zusammenhang gerade der Sicht auf die „Damaskus-Begegnung“ des Paulus eine entscheidende Bedeutung zukommt.14 Die Debatte gewinnt derzeit dadurch neu an Aktualität, dass einige Ausleger eine Radical New Perspective proklamiert haben, die auch noch die New Perspective in der Frage nach der Differenz
11 Hier ist an die breit geführte „Parting-of-the-Ways“-Debatte zu erinnern. Neben den in Kapitel 1 mit Anm. 57 genannten Auslegern gibt auch der Forschungsbericht von Tilly, Antikes Judentum, 3–23 einen Eindruck von der Debatte. 12 Dunn, New Perspective, 93, vgl. Stendahl, Paul among Jews and Gentiles and other essays; Sanders, Paul and Palestinian Judaism sowie die Übersichtsdarstellungen von Bachmann, „The New Perspective on Paul“; Landmesser, Umstrittener Paulus; Strecker, Paulus aus einer „neuen Perspektive“ und das Buch von Westerholm, Perspectives. 13 Das ist insbesondere bei Michael Bachmann der Fall (Bachmann, Keil, 72; ders., Merkwürdigkeiten, 80), der sich damit auf einen von Thomas S. Kuhn im Blick auf die Naturwissenschaften formulierten Begriff bezieht (Kuhn, Revolutionen). Wie sehr sich die Diskussion dadurch verhärtet, wird deutlich, wenn Bachmann, „The New Perspective on Paul“, 34 der Kritik an der New Perspective attestiert, bei ihr spiele „sehr häufig eine nicht unwichtige Rolle, dass man die eigenen Verstehensgewohnheiten als gefährdet empfindet. Häufig ist deutlich spürbar, dass die New Perspective deshalb mit Skepsis betrachtet wird, weil sonst eigene konfessionelle Überzeugungen betroffen wären … oder weil beispielsweise geargwöhnt wird, hier würden die Unterschiede zum nicht-christlichen Judentum aufgrund einer Haltung von politischer Korrektheit in unzulässiger Art und Weise relativiert“. Die gegenseitige Unterstellung von Voreingenommenheit führt allerdings zu einer Ideologisierung der Debatte, in der exegetische Einzelargumente nur noch schwer wahrgenommen werden können. Die Beobachtungen der New Perspective können m. E. gerade dann gewürdigt werden, wenn sie selbst in ihrem konkreten Entstehungszusammenhang und d. h.: in ihrer spezifischen Perspektivität, betrachtet werden. Auf die unsachgemäße Unterstellung einer „Ideologie“ bzw. der eigenen „Ideologiefreiheit“ in der Debatte um die Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum weist Schnelle, Wege, 185 mit Recht hin. Landmesser, Messias, 703 bemerkt in ähnlicher Weise, dass die Einteilung der Positionen in „alte“/„lutherische“ und „neue“ Paulusperspektive die Diskussion eher lähme als fördere. Auch Bachmann, Merkwürdigkeiten, 78f weist darauf hin, dass es sich hier nicht um Alternativen handeln müsse, setzt eine solche dann aber doch durchweg voraus. Von katholischer Seite wurde die „lutherische“ Sicht auf Paulus auch unabhängig von der genannten Bewegung kritisiert, s. etwa Kuss, Paulus, 238–246. 14 Dunn, Paul’s Conversion, 77, vgl. Westerholm, Perspectives, 134–145.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
des paulinischen Denkens zum Judentum befangen sieht.15 In der Debatte um die Christus-Begegnung des Paulus ist diese Diskussion um deren Beschreibung als „Bekehrung“ oder „Berufung“ geführt worden. Die Alternative geht auf Krister Stendahl zurück. Seine These ist dabei direkt mit der Frage nach dem Gottesverständnis des Paulus verbunden. 1.1
„Call Rather than Conversion“: Paul within Judaism?
Die Alternative von „Berufung“ („Call“) und „Bekehrung“ („Conversion“) hat Stendahl in seinem erstmals 1964 vorgetragenen Essay „Paul among Jews and Gentiles“ formuliert und dabei ausdrücklich dafür plädiert, die Damaskus-Begegnung des Paulus nicht als „Bekehrung“, sondern als „Berufung“ zu verstehen („Call rather than conversion“).16 Im Blick auf die Darstellungen der Apostelgeschichte, aber auch auf diejenige des Galaterbriefs erklärt Stendahl: „Here is not that change of ,religion‘ that we commonly associate with the word conversion. Serving the one and the same God, Paul receives a new and special calling in God’s service. God’s Messiah asks him as a Jew to bring God’s message to the Gentiles.“17
Die Frage der Identität Gottes, die wir oben aufgeworfen hatten, kommt hier in der Formulierung „the one and the same God“ zum Ausdruck. Sie findet ihre Entsprechung darin, dass Paulus nach Stendahls Auffassung von Gottes Messias „as a Jew“ den Auftrag erhalten habe, Gottes Botschaft zu den Heiden zu bringen. Ist nach Stendahl durch die Damaskus-Begegnung nicht die Identität Gottes beeinträchtigt, so geht es nach seiner Auffassung in der paulinischen Theologie auch nicht darum, allgemeingültige soteriologische Aussagen zu formulieren, sondern speziell den Heiden durch Jesus Christus einen Weg in die Gottesgemeinschaft zu eröffnen.18
15 Nanos, Introduction, 7, zur Selbstbezeichnung als Radical New Perspective / Beyond the New Perspective / Post-New Perspective aaO., 1. Zur inhaltlichen Entfaltung s. den gesamten Band Nanos/Zetterholm (Hg.), Paul within Judaism sowie die kritische Besprechung von Schnelle, Judentum und Hellenismus. Nach Nanos, aaO., 10, ist mit der Forschungsrichtung das Anliegen verbunden „of crafting a new paradigm“. Erneut wird damit ein „Paradigmenwechsel“ behauptet. Ein solcher kann aber nicht einfach initiiert werden, er kann nur festgestellt werden, wenn er sich tatsächlich aufgrund bestimmter Einsichten vollzogen hat. 16 Stendahl, Paul among Jews and Gentiles, 7. 17 Ebd. 18 Das ist die Pointe des Essays von Stendahl, die sich bereits im Titel zeigt, wie die einleitenden Bemerkungen bei Stendahl, Paul among Jews and Gentiles, 3 deutlich machen: „[W]hile Paul addresses himself to the relation of Jews and Gentiles, we tend to read him as if his question was: On what grounds, on what terms, are we to be saved? We think that Paul spoke about justification by faith, using the Jewish-Gentile situation as an instance, as an example. But Paul was chiefly concerned
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Mittlerweile ist deutlich geworden, dass die Alternative von „Berufung“ und „Bekehrung“ den Äußerungen des Paulus nicht gerecht wird,19 auch wenn sie zwei Aspekte benennt, die sich voneinander unterscheiden lassen. Dass die Frage nach der Gemeinschaft von Juden- und Heidenchristen gerade für den Galaterbrief wichtig ist, ist nicht zu bestreiten. Fraglich ist allerdings, ob aus der Situationsbezogenheit der paulinischen Argumentation bereits gefolgert werden kann, dass Paulus hier keine grundsätzlich-theologischen Aussagen formuliert, die die Soteriologie und die Anthropologie, aber eben auch: die Theo-logie im engeren Sinn betreffen. Um diese Frage erörtern zu können, sollen die beiden ausführlichsten Schilderungen, die Paulus von diesem Ereignis gibt, in den Blick genommen werden: Gal 1,11–24 und Phil 3,2–11. Dabei ist zu fragen, inwiefern Paulus in seiner Christus-Begegnung nicht nur „ein völlig neues Jesusbild“,20 sondern damit eben auch ein neues Gottesbild erschlossen worden ist, das sowohl für sein Selbstverständnis als auch für seine Verkündigung bestimmend geworden ist.
2.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
2.1
Die Erinnerung an die Begegnung
Die ausführlichste Erinnerung an die Christus-Begegnung des Paulus findet sich in Gal 1,11–24. Auch wenn Paulus hier an ein Ereignis aus seiner eigenen Biographie erinnert, so steht diese Erinnerung im Galaterbrief deutlich erkennbar im Rahmen einer „argumentativen Strategie“.21 Nicht nur die Beschreibungen, die der Verfasser der Apostelgeschichte gibt,22 sind deshalb interessegeleitet, sondern auch die Darstellungen, die Paulus selbst gibt. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass nicht unterschieden werden könnte zwischen der „Fremdinterpretation“ der Apostelge-
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about the relation between Jews and Gentiles – and in the development of this concern he used as one of his arguments the idea of justification by faith.“ Vgl. Dunn, New Perspective, 110, Anm. 49. So mit Recht etwa Kollmann, Berufung und Bekehrung, 86f. S. dazu Portenhauser, Identität, 421–428. Die Beschreibung als „Berufung“ kann an den paulinischen Sprachgebrauch selbst anknüpfen, da Paulus in Gal 1,15 (vgl. 1Kor 1,1; Röm 1,1) das Verb καλεῖν gebraucht, um das Ereignis zu beschreiben. Auch die Tatsache, dass Paulus seine Begegnung im Stile alttestamentlicher Prophetenberufungen beschreibt, lässt sich in diese Richtung auswerten (Portenhauser, aaO., 423). Für das Verständnis der Damaskus-Begegnung als „Bekehrung“ dürfte v. a. die entsprechende Darstellung in der Apostelgeschichte (Apg 9,1–22) bestimmend gewesen sein, aber auch die – im folgenden Kapitel vertretene – Deutung der Äußerung in 2Kor 4,6 auf die „Damaskus-Begegnung“ des Paulus. Kollmann, aaO., 84. Wischmeyer, Ereignis, 325. Neben Apg 9,1–22 in 22,3–21; 26,9–20.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
schichte und den Berichten, die Paulus selbst gibt.23 Analog dazu ist aber doch von einer „Eigeninterpretation“ des Paulus zu sprechen, die bereits in zweifacher Weise einen interpretativen Akt darstellt: Zum einen „konstruiert“ Paulus seine eigene Vergangenheit, die für ihn eine bestimmte Bedeutung gewonnen hat. Er wählt notwendigerweise aus, was an dieser Begegnung für ihn entscheidend war. Zum zweiten trifft er auch im Blick auf seine Adressaten eine bewusste Auswahl, im Blick auf das Einzelereignis, aber auch im Blick auf die unterschiedlichen Ereignisse, auf die Paulus in Gal 1–2 zu sprechen kommt und die er miteinander verknüpft: neben der Christus-Begegnung bei Damaskus (Gal 1,11–24) sind dies die Apostelzusammenkunft24 in Jerusalem (Gal 2,1–10) und der sogenannte „Antiochenische Zwischenfall“ (Gal 2,11–23). Im Kontext des Galaterbriefs ist die Einbettung in eine argumentative Gesamtstrategie besonders deutlich erkennbar. So hat Paulus von Anfang an die erstmals in Gal 1,6f angesprochene Situation innerhalb der galatischen Gemeinden im Blick, die sich einem „anderen Evangelium“ zugewandt haben, das in den Augen des Paulus gar kein „Evangelium“ ist.25 Diese Zuwendung zu einem „anderen Evangelium“ ist für Paulus gleichbedeutend mit einem Abfall von dem, „der euch in der Gnade (Christi) berufen hat“ (ἀπὸ τοῦ καλέσαντος ὑμᾶς ἐν χάριτι Χριστοῦ).26 Es ist deutlich, dass Gott das Subjekt dieser Berufung ist.27 Wenn die Galater das 23 Broer, Erscheinung, 59 betont den Vorrang der paulinischen Selbstbeschreibungen zu den „Fremdinterpretationen der Apostelgeschichte, die nicht ohne Interesse sind“. Seine mit Anm. 1 gegebenen Ausführungen zum Problem greifen m. E. hermeneutisch zu kurz. Es mag zutreffen, dass nicht alle „Fiktionen“ (besser wäre: Konstruktionen) „auf einer Ebene liegen“. Trotzdem wird die kontextuelle Einbettung der Erinnerung an seine Christus-Begegnung im Galaterbrief unterschätzt, wenn sie gleichsam im Voraus grundsätzlich von der „Fremdinterpretation“, die die Apostelgeschichte von dem Ereignis gibt, unterschieden wird. 24 Im Blick auf dieses Ereignis wird immer wieder vom „Apostelkonzil“ gesprochen. Die Bezeichnung ist allerdings anachronistisch und ich versuche sie deshalb zu vermeiden. 25 Wie sehr die damit aufgerufene Konfliktsituation die Ausführungen des Galaterbriefs bestimmt, wird durch die Tatsache erkennbar, dass Paulus auf die Konvention einer Danksagung zu Beginn des Schreibens verzichtet und stattdessen sofort seine (ärgerliche) „Verwunderung“ über das Verhalten der Adressaten feststellt (vgl. Mussner, Gal, 53). Die Wendung ἕτερον εὐαγγέλιον in Gal 1,6b hat eine sachliche Entsprechung in der Formulierung ἄλλον Ἰησοῦν κηρύσσειν in 2Kor 11,4. Im Zweiten Korintherbrief verzichtet Paulus ebenfalls auf eine Danksagung für den Glauben der Gemeinde und eröffnet das Schreiben stattdessen mit einem Lobpreis Gottes. 26 Ob der Genitiv Χριστοῦ zum ursprünglichen Text gehört, ist umstritten (s. dazu Metzger, Textual Commentary, 520f). Aus meiner Sicht spricht die starke externe Bezeugung ebenso für die Ursprünglichkeit der Langfassung wie auch die Tatsache, dass Paulus in Gal 1,7b unterstreicht, dass es sich bei dem Evangelium um das Evangelium τοῦ Χριστοῦ handelt. Die Lesart „Gnade Christi“ setzt etwa auch Becker, Gal, 9f voraus. Anders Mussner, Gal, 55; Schlier, Gal, 37 mit Anm. 2. 27 Vgl. Schlier, ebd., der darauf hinweist, dass Paulus καλεῖν „immer mit θεός und nicht mit Χριστός“ verbindet: Gal 1,15; 5,8; Röm 4,17; 8,30; 9,12.24; 1Kor 1,9; 7,15.17; 1Thess 2,12; 4,7; 5,24, vgl. 2Thess 2,14; 2Tim 1,9.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Evangelium von Christus „verkehren“ (μεταστρέψαι), dann wenden sie sich damit von Gott selbst ab. Wie eng die im Folgenden erinnerten Ereignisse mit diesem Problem verbunden sind, wird an der Funktion erkennbar, die Paulus in 1,11 der Schilderung seiner Christusbegegnung zuschreibt: Er will damit deutlich machen, dass das Evangelium, das von ihm verkündigt wird – und das er eben auch den Galatern verkündigt hat – nicht menschlich, sondern göttlich ist (s. u.). Es wird aber auch im Blick auf die folgenden Erinnerungen erkennbar, wenn Paulus bei seiner Schilderung der Apostelversammlung in Jerusalem von den „Falschbrüdern“ (2,4) spricht, denen er sich widersetzt habe, „… damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch“ – den Galatern nämlich – „Bestand habe“.28 Die Schilderung des „Antiochenischen Zwischenfalls“ mündet in 2,16ff in grundsätzliche Ausführungen, so dass Paulus die geschilderte Situation unmerklich verlässt und am Ende wieder ganz bei den Galatern ist. Die nur in Gal 2 gebrauchte Wendung ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου (Gal 2,5.14) zeigt, dass Paulus die beiden Ereignisse (Apostelzusammenkunft und „Antiochenischer Zwischenfall“) bewusst miteinander verbindet. Der argumentative Kontext von Gal 1–3 ist im Blick zu behalten, wenn der Abschnitt 1,11–24 betrachtet wird. Was aber bedeutet diese argumentative Einbettung der Schilderung für das Verständnis dessen, was Paulus hier berichtet? Udo Schnelle erklärt, Paulus komme „an keiner Stelle freiwillig auf das Damaskusgeschehen zu sprechen“, sondern werde „jeweils durch Gegner dazu gezwungen“.29 Diese These ist m. E. nicht zutreffend. Im Galaterbrief wird Paulus nicht gezwungen, vom „Damaskus-Ereignis“ zu berichten. Denn dieses Ereignis ist offensichtlich nicht Gegenstand der Auseinandersetzung. Die Auseinandersetzung dreht sich vielmehr um die Frage, ob das Verhalten der Galater mit ihrer Existenz als Glaubende, die sie durch die Evangeliumsverkündigung geworden sind, vereinbar ist. Anscheinend ist Paulus der Meinung, dass er mit dem Verweis auf seine Christusbegegnung bei Damaskus in dieser Situation argumentieren kann. Nur deshalb kommt er auf das Ereignis zu sprechen! Dasselbe gilt für die in Gal 2 geschilderten Ereignisse: Wären in Jerusalem oder in Antiochien Entscheidungen gefällt worden, die dem Argumentationsziel des Galaterbriefes zuwiderliefen, dann hätte Paulus wohl am besten auf die Erinnerung an diese Ereignisse verzichtet.30 Eine andere Frage ist, ob die im Galaterbrief verwendete Terminologie bereits für den Antiochenischen Zwischenfall vorausgesetzt werden
28 Gal 2,5b: … ἵνα ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου διαμείνῃ πρὸς ὑμᾶς. 29 So Schnelle, Paulus, 83. 30 Es ist m. E. deshalb ganz undenkbar, dass Paulus dem in Apg 15,19f.28f; 21,25 beschriebenen „Aposteldekret“, das „Minimalforderungen“ an die Heidenchristen enthält, zugestimmt hätte. Gegen die Versuche, die Spannung zwischen Gal 2,1–10 und Apg 15,1–35 durch die These aufzulösen, es handele sich bei Gal 2,1–10 um den in Apg 11,30; 12,25 geschilderten Besuch und nicht um die in Apg 15,1–35 erzählte Zusammenkunft, wendet sich m. E. mit Recht Öhler, Geschichte, 198, der
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
kann. Michael Wolter hat diese Annahme als „anachronistisch“ bezeichnet und darauf hingewiesen, dass für die für 2,16 charakteristische Verbindung von πίστις und „Rechtfertigung“ der Bezug auf Gen 15,6 entscheidend ist.31 Wolter folgert daraus, dass die „Gegner“ in Galatien ihre Betonung der Notwendigkeit der Beschneidung wohl mit dem Verweis auf Gen 17,1–14 legitimiert hätten32 und Paulus deshalb in seiner Argumentation auf Abraham Bezug nehme. In der Tat ist die Argumentation mit Gen 15,6 für den Galater- und den Römerbrief entscheidend,33 zumal dieser Text auch im antiken Kontext insgesamt in der Betonung einer „Rechtfertigung“ durch „Glauben“ sein Proprium hat.34 Dennoch bleibt festzuhalten, dass Paulus das in Antiochien verhandelte Sachproblem direkt mit der Problematik in Galatien verbindet. Das bestätigt, dass die „Rechtfertigungslehre“ des Paulus aus dem Zentrum seiner Theologie heraus entsteht und deshalb implizit von Anfang an in ihr angelegt ist. Gerade im Galaterbrief ist die Erinnerung an die Christusbegegnung eng mit dem Apostelbegriff verbunden. Denn Paulus spielt gleich zu Beginn, als er sich als ἀπόστολος einführt, auf die Damaskus-Begegnung an. So stellt er sich in Gal 1,1 vor als „Apostel nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und (damit) durch Gott den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat“. Gal 1,11–24 lässt sich gleichsam als eine Entfaltung von Gal 1,1 verstehen. Darum sind zunächst einmal die Elemente von Gal 1,1 für unsere Fragestellung bedeutsam: Παῦλος ἀπόστολος a οὐκ ἀπ’ ἀνθρώπων b οὐδὲ δι’ ἀνθρώπου c ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ d καὶ θεοῦ πατρὸς τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ νεκρῶν
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aaO., 197f eine Gegenüberstellung der beiden Darstellungen bietet, die illustriert, dass hier ein- und dasselbe historische Ereignis geschildert wird. Wolter, Rechtfertigungslehre, 349. AaO., 348. Paulus geht so vor, dass er Gen 15,6 (Gal 3,6) mit Gen 12,3 (Gal 3,8) kombiniert und auf diese Weise mit der Frage nach der Heidenmission verbindet. Wie in Gal 3,6 zitiert Paulus Gen 15,6 auch in Röm 4,3. Dass der Verfasser des Jakobusbriefes seinerseits in diesen Diskurs eintritt, belegt bereits die Tatsache, dass er ebenfalls auf Gen 15,6 eingeht (Jak 2,23), die Passage aber – einer frühjüdischen Tradition folgend (1Makk 1,52f) – mit Gen 22,1ff verbindet.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Paulus, Apostel
nicht von Menschen auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und damit durch Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat.
Schon von seinem traditionsgeschichtlichen Hintergrund her wirft der Apostelbegriff die Frage auf, von wem der Apostel „gesandt“ ist.35 Diese Frage wird von Paulus in zweifacher Weise beantwortet. Die zweigliedrige Argumentationsstruktur wird dadurch erkennbar, dass zunächst zwei negative Aussagen (a, b) formuliert werden, denen zwei positive Aussagen folgen (c, d). In beiden negativen Sätzen wird das Wort ἄνθρωπος gebraucht. In Gal 1,11f knüpft Paulus unmittelbar daran an, wenn er betont, dass das Evangelium „nicht menschlicher Art“ ist (οὐκ ἔστιν κατὰ ἄνθρωπον) und er es „nicht von einem Menschen empfangen und auch nicht gelernt“ habe (οὐδὲ γὰρ ἐγὼ παρὰ ἀνθρώπου παρέλαβον αὐτὸ οὔτε ἐδιδάχθην).36 So rufen die beiden Negationen bereits einen grundlegenden Gegensatz auf, der zwischen Menschen auf der einen, Gott und Jesus Christus auf der anderen Seite besteht. Der in Satzglied c) genannte Jesus Christus steht damit – genauso wie der in Satzglied d) genannte „Gott-Vater“ – auf der Seite des Schöpfers – und nicht auf der Seite des (menschlichen) Geschöpfs.37 Das wird unterstrichen, wenn Paulus die beiden Größen Jesus Christus und Gott mit einem καί verbindet, das an dieser Stelle nicht einfach koordinierend, sondern explikativ zu verstehen ist.38 Die Aussage von Gal 1,1b meint demnach: „…, sondern durch Jesus Christus und damit
35 Vgl. Rengstorf, ἀπόστολος, 421: Der neutestamentliche Apostelbegriff ist vor dem Hintergrund der ָשִׁל ַיח-Vorstellung zu verstehen, vgl. Bühner, ἀπόστολος, 345: Der ָשִׁל ַיחist „direkter Vertreter des Sendenden, der an dessen Stelle autoritativ und rechtskräftig wirksam werden kann“; vgl. Klaiber, Gal, 15; Schlier, Gal, 26f. 36 Möglicherweise denkt Paulus hier – wie bereits bei der Formulierung οὐδὲ δι’ ἀνθρώπου in 1,1 – an einen bestimmten Menschen, etwa die Jerusalemer Apostel, auf die die „Gegner“ in Galatien sich berufen. Auch im Anschluss an die Schilderung der Begegnung unterstreicht Paulus ja die Unabhängigkeit seiner Evangeliumsverkündigung von denen, die „vor mir Apostel waren“ (1,17). Auf diese Weise macht Paulus deutlich, dass es sich dabei um menschliche Autoritäten handelt, die sämtlich – wie er selbst – an dem ihnen allen vorgegebenen Evangelium zu messen sind. Er argumentiert hier demnach in einer ganz ähnlichen Weise, wie es sich im Zusammenhang von 1Kor 1–3 beobachten ließ (so v. a. in 1Kor 1,12f; 3,9–17). 37 Keener, Galatians, 50 bemerkt mit Recht: „That Paul did not receive his commission from mere human beings (lit., from a human being) but through Jesus Christ and God the Father (1:1) suggests that Paul understands Jesus as more than human (though Paul does not deny Jesus’s humanity; 4:4.)“ Ähnlich DeSilva, Galatians, 114 sowie Oakes, Galatians, 38. Explizit gegen eine solche (bereits von Theodor Zahn vertretene) Interpretation von Gal 1,1 spricht sich Mussner, Gal, 46, aus, allerdings ohne ein Argument zu nennen. 38 Vgl. BDR § 442.9.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
durch Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat“. Gott, der „Vater“ wird damit einmal mehr durch sein Handeln an Jesus Christus bestimmt, genauer gesagt: durch die Auferweckung Jesu von den Toten.39 In dieser Tat Gottes bestimmt Gott demnach nicht nur Jesus Christus, sondern zugleich auch sich selbst, und zwar: als „Vater“. Paulus hat damit die in V. 3 erfolgende, konventionelle Wendung ὁ θεὸς πατὴρ ἡμῶν καὶ κύριος Ἰησοῦς Χριστός mit Gal 1,1b vorbereitet und gleichsam im Voraus erläutert: Gott ist „unser“ Vater, weil er sich im Auferweckungshandeln an Christus als „Vater“ erwiesen hat. Und Jesus Christus ist der κύριος für die Glaubenden, weil Gott ihn in der Auferweckung von den Toten als κύριος erwiesen hat – als Träger des heiligen Gottesnamens, und damit als Person, in der Gott selbst gegenwärtig ist. Dieser Gedanke ist für die Gesamtargumentation des Galaterbriefs fundamental. Nach dem Selbstverständnis des Paulus erfuhr er in der Begegnung mit Jesus Christus eine Gottesbegegnung und zwar die Begegnung mit dem Gott, der Tote zum Leben erwecken kann.40 Er hat sich an seinem Handeln an Jesus demnach als Gott erwiesen. Als solcher ist er Paulus vor Damaskus begegnet. Von Gott wird an dieser Stelle bereits in Beziehungen geredet, die durch die Prädikation als „Vater“ zur Sprache gebracht werden: Er ist der Vater Jesu Christi und ist deshalb von seiner Beziehung zu diesem her zu verstehen. Und er ist „unser“, der Glaubenden, Vater, wie die Verse 3 und 4 ausführen, der die Relation zu Jesus als κύριος begründet, wie es dann in V. 3 im Blick auf Jesus heißt. In der Beziehung zwischen Jesus und Gott ist demnach die Beziehung der Glaubenden zu Gott begründet. Die Auferweckung Jesu von den Toten begründet die Existenz der Glaubenden neu, indem sie mit der Herauslösung aus dem Sündenzusammenhang verbunden ist (Gal 1,4). An dieser Stelle zeigt sich, dass die vorausgesetzte „Gottheit“ Jesu gerade keinen „Doketismus“ bedeutet,41 sondern vielmehr die gedankliche Voraussetzung für die Heilsbedeutung des Todes und der Auferstehung ist, wie Paulus in Gal 4,4–7 deutlich machen wird. Der Auferweckung Jesu, deren Subjekt Gott ist (Gal 1,1b) entspricht die Selbsthingabe „für unsere Sünden“, deren Subjekt Jesus ist (Gal 1,4, vgl. 1Kor 15,3). Gott und Jesus Christus haben demnach bestimmte „Rollen“ innerhalb des Heilsgeschehens. Paulus redet in einer Weise von Jesus, die theologisch erst noch reflektiert werden musste. Die Gal 1,1 beherrschende Opposition und auch die Tatsache, dass Gott und Jesus Christus in Gal 1,3 Subjekte
39 Vgl. neben 1Thess 1,10 auch Röm 4,24; 8,11; 10,9; 1Kor 6,14; 15,15; 2Kor 4,14 sowie Eph 1,20; Kol 2,12. Betz, Gal, 91 spricht deshalb von einer „Auferstehungsformel“. 40 Schlier, Gal, 28 formuliert treffend: „Daher erfuhr der Apostel in der Offenbarung Jesu Christi den totenerweckenden Gott.“ 41 Die Gefahr eines „Doketismus“ sieht offensichtlich Oakes, Galatians, 38 gegeben. Oakes betont deshalb, dass in Gal 1,5 ausdrücklich Gott die Ehre gegeben werde. Erneut ist hier die m. E. falsche Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“ der Sache nach vorausgesetzt. Zur Vorstellung der „Menschwerdung“ Jesu s. das Kapitel 7 dieser Arbeit (zu Röm 8,3).
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
des Segens sind, den Paulus der Gemeinde zuspricht, lassen klar hervortreten, dass Paulus – ohne dies eigens zu begründen – Jesus Christus auf der Seite Gottes stehen sieht. Insofern damit Gott von Anfang an durch sein Handeln an und durch Jesus Christus bestimmt wird, ist die Argumentation des Galaterbriefs von Anfang an eben auch christologisch bestimmt. Das ergibt sich nicht aus einer „christologischen Engführung“ der Betrachtung, sondern lässt sich am Text selbst begründen.42 Damit ist freilich nicht die Beobachtung ignoriert, dass Paulus gleichwohl von ὁ θεός als Subjekt reden kann.43 Diese Beobachtung weist vielmehr darauf hin, dass sich für Paulus von seinem christologischen Ausgangspunkt aus auch das Subjekt ὁ θεός neu erschließt. Das wird sich im weiteren Verlauf der Überlegungen bestätigen. Natürlich ersetzt Jesus Gott nicht. Er lässt Gott aber in einer neuen Weise erkennbar werden, insofern er die Relation, in der Gott zum Menschen steht, neu bestimmt: Die Relation Gottes als „Vater“ zu den Glaubenden hat ihre Begründung in der Relation Gottes zu Jesus als dessen „Vater“. Lässt sich eine „Ontologie“ nur relational fassen,44 dann kann von dieser Neubestimmung, die Gott durch sein Handeln in Christus erfährt, bei der Rede von Gott nicht abgesehen werden. Diese inhaltliche Bestimmung Gottes, die sich bereits in der konkreten Situation in Korinth als unmittelbar relevant erwies (1Kor 8,1–13), ist auch für die Situation des Galaterbriefes entscheidend. Wie die Einleitung der Schilderung der Damaskus-Begegnung in Gal 1,11 erkennen lässt, gewinnt Paulus aus dem zuvor Gesagten das Argument für seine These, dass sich das Evangelium keinem Menschen verdankt – keinem anderen Menschen, aber eben auch nicht dem Menschen Paulus. Es ist nicht die Botschaft des Paulus, sondern Gottes Botschaft – nur so lässt sich auch die Aussage in Gal 1,8f verstehen.45 Paulus fordert nicht nur dazu auf, die Verkündigung der anderen am Evangelium zu messen, sondern auch das, was er im Folgenden selbst ausführt. Wenn Paulus in Gal 1,12 ausführt, er habe das Evangelium von keinem anderen Menschen „empfangen“ (παρέλαβον), dann ist daran zu erinnern, dass Paulus an anderen Stellen durchaus von einem solchen „Empfangen“ von Überlieferung sprechen kann (vgl. 1Kor 11,23a; 15,3a). Der Gegensatz von παραλαμβάνειν und ἀποκάλυψις in Gal 1,12 ist durch den Kontext der Argumentation bedingt: Es geht Paulus um die Autorität, die hinter dem Evangelium steht. Der göttliche Charakter seiner Evangeliumsverkündigung hat sich für Paulus dadurch erwiesen, dass die Galater durch diese zu Glaubenden geworden sind (Gal 3,1f, s. dazu unten). Die
42 Gegen Flebbe, Solus Deus, 3 (s. oben in Kapitel 1). 43 Diese Beobachtung führt Flebbe, ebd. gegen die von ihm unterstellte „christologisch engführende Betrachtung“ ins Feld. Die Argumentation greift allerdings zu kurz. 44 S. dazu die Arbeit von Rehfeld, Relationale Ontologie sowie Portenhauser, Identität, 203–205. 45 Zur Diskussion um die Auslegung von Gal 1,8f im Kontext der Argumentation des Galaterbriefs s. Keener, Galatians, 64–67.
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Schilderung der Ereignisse in Gal 1,11–2,23 zielt darauf, die mit Gal 3,1f einsetzende Argumentation vorzubereiten. Damit wird deutlich, in welchem Zusammenhang Paulus im Galaterbrief von seiner Christusbegegnung erzählt. Mit dem Nomen ἀποκάλυψις in V. 12 bereitet er die Schilderung der Damaskus-Begegnung als eines offenbarenden Handelns Gottes (V. 16: … ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ) vor. In V. 13 spricht Paulus seine Adressaten direkt an und verweist sie auf etwas, das sie bereits über ihn gehört haben (ἠκούσατε γάρ). Auch in dem den Abschnitt abschließenden V. 23 nimmt Paulus auf etwas Bezug, das von ihm in den frühchristlichen Gemeinden bekannt war: Seine vormalige Verfolgertätigkeit und die Wende, die dann in seinem Leben erfolgte. Eine Nebeneinanderstellung der beiden Verse lässt erkennen, dass sie deutlich aufeinander Bezug nehmen: 13 Ἠκούσατε γὰρ τὴν ἐμὴν 23 μόνον δὲ ἀκούοντες ἦσαν ὅτι ἀναστροφήν ποτε ἐν τῷ Ἰουδαϊσμῷ, ὅτι καθ’ ὑπερβολὴν ἐδίωκον τὴν ἐκκλησίαν τοῦ θεοῦ
ὁ διώκων ἡμᾶς ποτε
καὶ ἐπόρθουν αὐτήν,
ἥν ποτε ἐπόρθει
νῦν εὐαγγελίζεται τὴν πίστιν
Nur an diesen beiden Stellen verwendet Paulus das Verb πορθεῖν. Es ist zudem auffällig, dass das Verb im Neuen Testament nur noch an einer einzigen weiteren Stelle vorkommt: in Apg 9,21, bei der lukanischen Erzählung von der Bekehrung des Paulus. Auch dort wird die Aussage, dass Paulus die christliche Gemeinde zu „zerstören“ versucht habe, als eine Aussage der frühen Christen selbst wiedergegeben. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass die lukanische Erzählung auf dieselbe Tradition Bezug nimmt, an die Paulus in Gal 1,13.23 erinnert.46 Die Erwähnung seiner vormaligen Verfolgertätigkeit gehört auch in anderen Zusammenhängen zum paulinischen Bericht von der Damaskus-Begegnung (1Kor 15,9; Phil 3,6, vgl. 1Tim 1,13). In diese Schilderung hinein findet mit V. 15 ein abrupter Subjektwechsel statt, durch den nun explizit Gott als das Subjekt des Handelns benannt wird.47
46 Pesch, Apg I, 301; Schwemer, Erinnerung, 291f. 47 Vgl. Portenhauser, Identität, 408. Dieser Subjektwechsel ist auch dann deutlich, wenn ὁ θεός nicht zum ursprünglichen Wortlaut gehören sollte. Mit den hochwertigen Textzeugen wie dem Codex Sinaiticus, dem Codex Alexandrinus und – in Verbindung mit diesen Zeugen – dem Codex Bezae ist die Lesart mit ὁ θεός gut bezeugt. Die kürzere Lesart des Papyrus 46 und des Vaticanus stellt aber sowohl die lectio brevior als auch die lectio difficilior dar, hat also die inneren Kriterien auf ihrer Seite. Aufgrund der äußeren Bezeugung kann die längere Lesart dennoch als ursprünglich gelten, vgl. dazu Metzger, Textual Commentary, 521f. Die Entstehung der kürzeren Lesart lässt sich möglicherweise daraus erklären, dass die Schreiber die Umschreibung mit „…, der mich erwählt hat vom Mutterleib an …“ bereits als eindeutige Identifizierung des Satzsubjektes (Gott) aufgefasst haben.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Der souveräne Wille Gottes, der in dem Verb εὐδοκεῖν zum Ausdruck kommt,48 ist der Grund für sein Eingreifen in das Leben des Paulus durch die Offenbarung seines (sc. Gottes) Sohnes. Dass auch die frühen Christen die Bekehrung des Paulus als ein Eingreifen Gottes begriffen haben, macht die Bemerkung in Gal 1,24 deutlich: καὶ ἐδόξαζον ἐν ἐμοὶ τὸν θεόν. Das „Gotteslob“ ist die Reaktion auf das erfahrene Heilshandeln Gottes. Deshalb stimmt Paulus auch zu Beginn des Galaterbriefs im Anschluss an die Erinnerung an das Heilsgeschehen in das Gotteslob ein (Gal 1,5). Deutlich wird damit: In diesem Geschehen kommt es zu einer Begegnung mit Gott selbst. In dieser Begegnung wird die nach Röm 1,21 gestörte Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf gleichsam durchbrochen: Menschen nehmen Gott in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit in seinem heilsamen Handeln wahr. So wurde offensichtlich die Bekehrung des Paulus als Gottes Handeln in der Geschichte des frühen Christentums verstanden. Genau so versteht sie auch die Erzählung in Apg 9,1–22 und der Verfasser der Apostelgeschichte, der der Erzählung einen entscheidenden Platz in der Komposition seines Werkes zuweist.49 Mag Paulus in den galatischen Gemeinden auch umstritten gewesen sein, er kann sich ihnen gegenüber jedenfalls darauf berufen, dass Gott an ihm gehandelt hat. Denn diese „Tatsache“ bezeugen nach Gal 1,23f auch andere, in diesem Fall: die Glaubenden in Judäa.50 In Gal 1,15f entfaltet Paulus inhaltlich, was das Handeln Gottes an ihm bedeutet. Auf diese Weise knüpft er an das Wissen seiner Adressaten an und interpretiert das Ereignis in einer Weise, die seine weitere Argumentation unterstützt. Es geht Paulus dabei offensichtlich darum, sie an ihre eigene Gotteserfahrung zu erinnern – in derselben Weise wird er in Gal 3,2 an die Schilderungen der verschiedenen Ereignisse in den Kapitel 1 und 2 anknüpfen (s. u.). So wird die Begegnung, die Paulus mit Gott hatte, mit der Begegnung, die die Glaubenden mit Gott hatten, verknüpft. Dieser Zusammenhang ist für die paulinische Rede von Gott entscheidend.
48 Zur Bedeutung des Verbs εὐδοκεῖν mit Gott als Subjekt s. oben in Kapitel 3 dieser Arbeit (S. 126, Anm. 61). 49 S. dazu Bauspiess, Geschichte, 483f. 50 Es ist deshalb problematisch, wenn Wischmeyer, Ereignis, 323 formuliert, dass das Damaskusgeschehen nicht durch die Schilderung des Galaterbriefes, sondern erst durch die Apostelgeschichte als ein „historisches Ereignis“ eingeführt würde. Vielmehr entsprechen sich Gal 1,11–23 und Apg 9,1–22 gerade darin, dass sie jeweils auf ein allen Beteiligten bekanntes Ereignis Bezug nehmen. Paulus hält das Ereignis gerade nicht „aus der Geschichte heraus“, wie Wischmeyer formuliert. Was es inhaltlich bedeutet, das erschließt sich aus seiner Sicht freilich erst durch seinen eigenen Bericht, mit dem er eine Interpretation des Ereignisses gibt.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
2.2
Die Erkenntnis des Paulus vor Damaskus nach Gal 1,16
Für die von Stendahl und anderen aufgeworfene Frage, wie sich die Sicht des Paulus „nach Damaskus“ zu seiner Existenz als pharisäischer Jude verhält, ist zunächst von Bedeutung, wie der Begriff Ἰουδαϊσμός, den Paulus in Gal 1,13+14 verwendet, zu verstehen ist. Das Wort kommt im Neuen Testament nur an diesen beiden Stellen vor und wird im christlichen Kontext dann erst wieder im zweiten Jahrhundert von Ignatius von Antiochien gebraucht (IgnMagn 8,1; 10,3; IgnPhld 6,1). Im jüdischen Kontext ist es erstmals im Zweiten Makkabäerbuch belegt (2Makk 2,21; 8,1; 14,38, vgl. 4Makk 4,26). Martin Hengel hat dazu erklärt, die Bezeichnung gebe „jenen schon für die antike Welt erstaunlichen Tatbestand wieder, daß damit in gleicher Weise die politisch-blutsmäßige Bindung an das jüdische Volk wie der exklusive Glaube an den einen Gott Israels und das Festhalten an der von ihm gegebenen Tora gemeint ist.“51 Der Begriff entsteht in hellenistischer Zeit „bei der Abwehr der akuten Hellenisierung des Judentums“52 im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Es steht in engem Zusammenhang mit den im Neuen Testament ebenfalls nur im Galaterbrief verwendeten Verbalformulierungen ἰουδαϊζειν und Ἰουδαϊκῶς ζῆν (Gal 2,14). Gemeint ist damit eine bestimmte „Lebensweise“, in der sich eine jüdische Identität artikuliert.53 Diese Identität ist wesentlich durch ihren Bezug auf Gott definiert, wobei dieser Bezug durch die Verbindung mit der Tora als Willensäußerung Gottes inhaltlich bestimmt ist. Für Paulus ergibt sich in der Rückschau vom Damaskus-Geschehen aus eine Spannung, die er im Philipperbrief in einem anderen Zusammenhang noch schärfer zur Sprache bringen wird (s. u.): Der „Eifer“ für Gottes in der Tora offenbarten Willen, der in den „väterlichen Überlieferungen“ bewahrt wird,54 führte ihn gerade dazu „die Gemeinde Gottes“ (ἡ ἐκκλησία τοῦ
51 Hengel, Judentum und Hellenismus, 2. 52 Betz, ἰουδαΐζω κτλ., 471; Frankemölle, Frühjudentum, 30: „Der Begriff ,Judentum‘ entstand im Kontext der Abwehr der akuten Hellenisierung des Judentums im 2. Jh. v. Chr. unter Antiochus IV. … als sprachliche Kennzeichnung derer, die am traditionell jüdischen Glauben und an der jüdischen Praxis, wie sie vor allem durch Beschneidung und Beachten der Speisegebote verwirklicht wurde (2Makk 2,21; 8,1; 14,38; 15,15), festhielten.“ 53 Vgl. Niebuhr, „Judentum“, 221–224; Schnelle, Wege, 122: „Dazu können Beschneidung, Sabbatobservanz, Reinheits- und Speisevorschriften, Teilnahme an jüdischen Gottesdiensten oder Festen gehören.“ 54 Mit den „väterlichen Überlieferungen“ meint Paulus offensichtlich die pharisäische Tradition der Toraauslegung. Zur Formulierung vgl. JosAnt XIII 297 (τὰ ἐκ παραδόσεως τῶν πατέρων); 408 (κατὰ τὴν πατρώαν παράδοσιν); XIX 349 (τῷ πατρίῳ νόμῳ); 2Makk 7,2 (οἱ πάτριοι νόμοι). Die Überlieferung soll nach Ab I 1b als „Zaun um die Tora“ gelegt werden, d. h. sie dient zur Bewahrung der Intention der Tora. Mussner, Gal, 80 erklärt dazu mit Recht, dass Paulus in Gal 1,14 nicht nur den „Zaun um die Tora“ im Blick hat, „sondern auch die Tora selbst; gegenüber den heidenchristlichen Lesern seines Briefes braucht er ja nicht scharf zu differenzieren.“
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
θεοῦ) zu verfolgen.55 Es fällt auf, dass die Bezeichnung der frühchristlichen Ge-
meinde als ἐκκλησία τοῦ θεοῦ auch in 1Kor 15,9 begegnet (vgl. Phil 3,6 v.l.). Paulus nimmt wohl eine Selbstbezeichnung der frühchristlichen Gemeinde auf,56 die er sich dann aber auch aus seiner christlichen Perspektive zu eigen macht.57 Die Pointe dieser Bezeichnung besteht darin, dass es Gottes „Gemeinde“ ist, die er einst verfolgt hat. Sie gehört Gott, und Gott selbst hat sie ins Leben gerufen (τοῦ θεοῦ ist genitivus auctoris).58 Dieser Gedanke ist für Paulus entscheidend. Er wird die Galater deshalb in 3,2 daran erinnern, wodurch genau Gott sie als Gemeinde begründet hat, indem sie Gottes Geist empfangen haben, nämlich „aus der Predigt des Glaubens“ (ἐξ ἀκοῆς πίστεως). Dass der Inhalt dieser Predigt auf Gott selbst zurückgeht und worin dieser Inhalt genau besteht, das schildert Paulus in Gal 1,15f. Indem Gott ihm einen neuen Inhalt erschlossen hat, hat er sich selbst dem Paulus neu erschlossen. Daraus ergibt sich bereits, dass die über die Tora vermittelte Bindung an Gott für Paulus nicht mehr aktuell ist.59 Gerade deshalb argumentiert er so scharf gegen die Versuche der galatischen „Gegner“, die Christen in den galatischen Gemeinden an die Tora zu binden. In Gal 1,13 ist zudem evident, dass Paulus mit ποτε (vgl. 1,23) auf die „jüdische Lebensweise“ als eine vergangene und damit abgeschlossene Phase seines Lebens zurückblickt.60 In Antiochien wirft er Petrus vor, dass er mit seinem Verhalten in der antiochenischen Gemeinde hinter die bereits erkannte „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,14, vgl. V. 5) zurückfalle, weil er sie zu einer Lebensweise zu zwingen versuche, die auch er selbst gar nicht mehr lebe. Paulus spricht im Blick
55 Betz, ἰουδαΐζω κτλ., 472 formuliert zugespitzt, dass der „Eifer“ des Paulus ihn zu „verblendeten Gewaltakten, wie sie einst Antiochus und seine Helfer begangen hatten“, geführt habe. 56 Im Hintergrund steht wohl die in Qumran greifbar werdende Bezeichnung ְקַהל ֵאל, „Versammlung Gottes“ (1QM 4,10, vgl. 1QSa 1,25; Roloff, ἐκκλησία, 1000). Roloff korrigiert damit die Auffassung, wonach der neutestamentliche Begriff der ἐκκλησία τοῦ θεοῦ auf die griechische Übersetzung der Wendung ְקַהל יהוהin der Septuaginta zurückgehe (Dtn 4,10; 9,10; 18,16; 23,2–4.9 u. ö.). So etwa Stendahl, Kirche II, 1298; Öhler, Geschichte, 147. Dass auch dieser Begriff im Hintergrund steht, muss aber nicht ausgeschlossen werden, auch wenn die Formulierung aus 1QM 4,10 begrifflich näherliegt. 57 1Kor 1,2; 10,32, 11,16.22; 2Kor 1,1. Diese Prägung, die offensichtlich bereits vor Paulus erfolgt ist (vgl. Roloff, aaO., 1002) nimmt wohl auch bewusst den Begriff ἐκκλησία als einer (eigentlich je und je zusammentretenden) politischen Versammlung (vgl. Apg 19,32.39) auf und vermeidet den Begriff συναγωγή (so Schnelle, Wege, 89f). 58 Roloff, aaO., 1001. 59 In diesem Zusammenhang ist es nicht möglich, auf die breit geführte Debatte um die Bedeutung des Syntagmas ἔργα νόμου im Galaterbrief einzugehen. M.E. zeigt der hier aufgezeigte Gesamtkontext der Argumentation des Paulus, dass es ihm bei seiner „Gesetzespolemik“ nicht nur um bestimmte Regelungen der Tora geht, sondern grundsätzlich um die Frage, welche Bedeutung die Tora für das Gottesverhältnis des Menschen hat. Zur kontroversen Diskussion s. Bachmann, Merkwürdigkeiten sowie Hofius, „Werke des Gesetzes“; ders., Nachträge. 60 So mit Recht Schlier, Gal, 49.
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auf seine Lebenswende nicht von einem „Religionswechsel“,61 wohl aber davon, dass das für ihn vormals selbstverständliche Gottesverhältnis eine neue Begründung erfahren hat. Ist das vormalige Gottesverständnis explizit an Gottes in der Tora offenbarten Willen gebunden, so hat die „Wende“, die Paulus im Galaterbrief beschreibt, auch seine Sicht auf Gott grundlegend verändert. Er bestreitet nicht, dass Gott in der Tora seinen Willen kundtut (vgl. Röm 7,12). Er bestreitet nun aber, dass in der Tora erkennbar wird, wer Gott für den Menschen ist. Insofern beschreibt Paulus seine eigene Sicht vor Damaskus in genauer Entsprechung zu dem, was er in Röm 10,2 von den Israeliten sagt: ζῆλον ἔχουσιν ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν.62 Es fehlt ihnen eine „Erkenntnis“, die auch er selbst vor seiner Christusbegegnung nicht hatte. Er hat Gott neu verstanden und damit neu „erkannt“. Die These, dass Paulus hier nur eine „Berufung“ erfahren habe, die nicht auch einen grundlegenden Wandel seines Gottesverständnisses bedeutet habe, scheitert daran, dass Paulus seine eigene Lebenswende als exemplarische Wende ansehen kann,63 wie in Phil 3,7–11 besonders deutlich wird. Das Besondere an der Begegnung, die Paulus zuteilgeworden ist, besteht aus seiner Sicht darin, dass er in dieser Begegnung von Gott selbst das Evangelium zur Verkündigung anvertraut bekommen hat. Auf dieses Argument kommt es Paulus im Kontext des Galaterbriefes an. Es geht dabei gerade nicht darum, die eigene Theologie als von Gott offenbart zu erklären und damit der Notwendigkeit zur Argumentation zu entheben. Die Paulusbriefe zeigen ja eindrücklich, dass der Apostel auf der gemeinsam geteilten Glaubensgrundlage in der Auseinandersetzung mit seinen Adressaten argumentiert. So ist die Pointe der in Gal 1 entwickelten Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort eine andere: Paulus verpflichtet die Galater nicht auf seine eigene Autorität, sondern er stellt sie erneut vor Gott, vor den Gott, der ihm vor Damaskus begegnet und der ihn gesandt hat und der durch ihn an den Galatern gehandelt hat, indem er sie zum Glauben geführt hat (Gal 1,15f; 3,2, s. o.). Es besteht demnach eine Beziehung zwischen der Begegnung, die Paulus mit Gott hatte, und der Begegnung, die die Glaubenden – durch seine Verkündigung – mit Gott hatten. Die Erkenntnis, die ihm in der Begegnung vor Damaskus geschenkt wurde, beschreibt Paulus dichtgedrängt in Gal 1,15+16:
61 Diese Differenzierung versucht etwa Keener, Galatians, 79 einzuführen, indem er zwischen Ἰουδαϊσμός und „Judaism“ unterschieden wissen möchte. 62 Zu Röm 10,2 im Kontext des Römerbriefs s. das Kapitel 7 dieser Arbeit. 63 In diesem Sinne wäre mit Recht von einem „Paradigmenwechsel“ bei Paulus zu sprechen. Denn die neu gewonnene Erkenntnis begründet für Paulus eine Perspektive auf Gott und Jesus Christus, die die Glaubenden miteinander verbindet, die sich aber mit dem pharisäisch-jüdischen „Paradigma“ nicht mehr vereinbaren lässt. DeSilva, Galatians, 149 überschreibt seinen Exkurs zu Gal 1,15 deshalb mit Recht mit „Paul’s encounter with the resurrected Jesus and Paul’s paradigm shift“. An diese Perspektive erinnert Paulus die Galater in seinem Schreiben.
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Ὅτε δὲ εὐδόκησεν ὁ θεὸς ὁ ἀφορίσας με ἐκ κοιλίας μητρός μου καὶ καλέσας διὰ τῆς χάριτος αὐτοῦ
16
ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί,
15
Als Gott aber beschloss, – der mich vom Leib meiner Mutter an bestimmt hatte, und mich durch seine Gnade berief – mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Völkern verkündige …64
ἵνα εὐαγγελίζωμαι αὐτὸν ἐν τοῖς ἔθνεσιν …
16
Mit dem Zusammenhang von vorgeburtlicher Erwählung und Berufung spielt Paulus auf Prophetenberufungen an, wie sie von Jesaja und Jeremia überliefert werden (Jes 49,1–6; Jer 1,5).65 In der Auslegung ist umstritten, wie die Wendung ἐν ἐμοί in V. 16a zu verstehen ist. Eine Übersetzung mit „in mir“ könnte ein „mystisches Erlebnis“ nahelegen und wäre von der Aussage in Gal 2,20 (ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός) her zu interpretieren.66 Allerdings ist bereits für Gal 2,20 zu fragen, ob hier an ein „mystisches Erleben“ gedacht ist, oder ob die Aussage nicht vielmehr soteriologisch zu interpretieren ist.67 Im Verbund mit den anderen Stellen, an denen Paulus seine „Damaskus“-Offenbarung beschreibt (1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6), legt sich nahe, die Wendung ἐν ἐμοί als Semitismus ( )ִבּיaufzufassen und als Dativobjekt des Satzes („mir“) zu übersetzen.68 Paulus kommt es hier offensichtlich darauf an, die Offenbarung eines bestimmten Inhaltes, die an ihn erging (V. 16a) und dem damit unmittelbar verbundenen Auftrag, den Inhalt der Offenbarung unter den Heidenvölkern zu verkündigen (V. 16b), einander zuzuordnen. Wenn Paulus 64 Zu den Übersetzungen von εὐδοκεῖν mit „beschließen“ s. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 646 s.v. εὐδοκέω 1. (s. o.) und ἀφορίζειν mit „bestimmen“ aaO., 255, s.v. ἀφορίζω 2, vgl. Röm 1,1; Apg 13,2. 65 Exemplarisch DeSilva, Galatians, 146f; Keener, Galatians, 86; Longenecker, Galatians, 30, vgl. Betz, Gal, 140f. 66 Betz, Gal, 144. Betz interpretiert die Aussage zudem von Gal 4,6 her, wo von der Sendung des Sohnes in die Herzen der Glaubenden die Rede ist. 67 Körtner, „Nicht mehr ich“ (Gal 2,20), 297 bemerkt mit Recht, dass man Gal 2,20 „nicht psychologisierend als persönliche Verarbeitung des Bekehrungserlebnisses des Apostels vor Damaskus (vgl. Gal 1,15f)“ interpretieren dürfe, lässt die Frage, wie ἐν ἐμοί in Gal 1,16 zu übersetzen ist, aber offen (aaO., 297f). 68 Auf diesen Zusammenhang weist Betz, Gal, 144f hin, möchte aber keine Alternative zur „mystischen“ Interpretation aufmachen. Zum Sprachlichen s. BDR § 220.1; Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, s.v. ἐν IV 4a., 526. Auch Lindemann, Paulus als Zeuge, 31 möchte die Alternative nicht entscheiden. Lindemann betont dabei, Paulus wolle nicht sagen, „er habe vor Damaskus eine Gottesvision gehabt“. Paulus beschreibt die Offenbarung des „Sohnes Gottes aber doch analog zu einer „Gottesvision“. Wenn Gott als das Subjekt dieser Vision genannt wird, dann wird damit, wie Lindemann mit Recht feststellt, „die Kontinuität des Gotteshandelns“ betont.
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den Zusammenhang zwischen Offenbarung und Verkündigung unterstreicht (vgl. 1Kor 9,1.16), dann macht er deutlich, dass durch seine Verkündigungstätigkeit Gott selbst an den Glaubenden, denen Paulus das Evangelium verkündigt, gehandelt hat. Der Inhalt, den Paulus von Gott offenbart bekommen hat, besteht in „seinem Sohn“. Die Formulierung ist bemerkenswert.69 Gegenstand der Verkündigung ist demnach nicht einfach eine Botschaft oder Lehre, sondern eine Person. Der christologische Titel ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ ist bei Paulus mit 15 Belegen relativ selten70 und ist doch für seine Christologie zentral. Paulus nimmt den Titel offensichtlich häufig aus der Tradition auf.71 Darin deutet sich bereits an, dass Paulus sich selbst im Blick auf die Christologie in die frühchristliche Tradition stellt. Innovativ ist diese Perspektive auf Jesus im Kontext des Judentums, nicht aber im Kontext des entstehenden Christentums. Im Galaterbrief verwendet Paulus den „Sohn-Gottes“Titel noch zwei Mal, in Gal 2,20 und in Gal 4,4.6. In Gal 2,20 heißt es: a ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός b ὃ δὲ νῦν ζῶ ἐν σαρκί, c ἐν πίστει ζῶ τῇ τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ d τοῦ ἀγαπήσαντός με καὶ παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ Paulus beschreibt hier den Glauben, der seine Existenz und die Existenz der Glaubenden grundlegend bestimmt und verändert, als Glauben „an den Sohn Gottes“ (c)), wobei dieser in d) durch seine Tat der Hingabe „für mich“ näher bestimmt wird, die ihrerseits als „Liebe“ beschrieben ist (vgl. Röm 5,8). Paulus wiederholt hier, was er bereits in Gal 1,4 gesagt hat. Dort entspricht die Aussage über die Selbsthingabe Jesu Christi dem auferweckenden Handeln durch Gott an ihm (Gal 1,1b). Die Tat Gottes und die Tat Jesu Christi erschließen sich gegenseitig. „Der Titel Sohn Gottes schließt“, wie bereits Martin Hengel formuliert hat, „die Gestalt Jesu mit Gott zusammen.“72 Glauben „an den Sohn Gottes“ bedeutet Gal 2,20 zufolge: an Gottes Gegenwart in Jesus Christus zu glauben und deshalb zu glauben, dass sein Tod am Kreuz Verwirklichung der Liebe, die sich hingibt, ist. Diese Lebenshingabe schafft neues Leben. Das kann sie aber nur, weil es Gott selbst ist, der in diesem Geschehen
69 Trotzdem trifft es nicht zu, wenn Betz, Gal, 142 erklärt: „Wir wissen nicht, warum Paulus hier den christologischen Titel ,Sohn Gottes‘ (ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ) verwendet.“ 70 1Thess 1,10; Röm 1,3.4.9; 5,10; 8,3.29.32; 1Kor 1,9; 15,28; 2Kor 1,19; Gal 1,16; 2,20; 4,4.6. Vgl. Hahn, υἱός, 920. Zur Traditionsgeschichte des Sohn-Gottes-Titels s. das Kapitel 7 dieser Arbeit (zu Röm 1,3f). 71 Vgl. dazu Labahn/Labahn, Sohn Gottes, 103ff. 72 Hengel, Sohn Gottes, 99. Hengel fährt fort: „Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß in Jesus Gott selbst zu den Menschen kommt und daß der Auferstandene ganz mit Gott verbunden ist.“
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
handelt und präsent ist. Ganz ähnlich ist der Impetus in der als „Sendungsaussage“ formulierten Passage Gal 4,4–6 zu verstehen: 4 ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν αὐτοῦ, γενόμενον ἐκ γυναικός, γενόμενον ὑπὸ νόμον,
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ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ, ἵνα τὴν υἱοθεσίαν ἀπολάβωμεν. Ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ
4
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εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ. Als aber die Erfüllung der Zeit kam, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, unter das Gesetz geworden, damit er die unter dem Gesetz freikaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen. Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft: Abba, das heißt: Vater.
Wie in Gal 1,15f ist in Gal 4,4–6 ὁ θεός das Subjekt der Aussage. Nach Gal 4,4f sendet er „seinen Sohn“. Indem er „von einer Frau geboren“ wird, stellt er sich unter das Gesetz. Die „Sendung“ des Sohnes zielt also von Anfang an darauf, die Situation der Menschen „unter dem Gesetz“, d. h. unter der Anklage des Gesetzes, zu beenden und sie „freizukaufen“. Auf diese Weise werden sie in ein Verhältnis der „Sohnschaft“ zu Gott versetzt. Dieses durch die Sendung des Sohnes neu begründete Gottesverhältnis artikuliert sich in der Anrede Gottes als „Abba“, die mit ὁ πατήρ ins Griechische übersetzt wird (vgl. Röm 8,15). Wenn Paulus von Gott als πατήρ spricht, dann hat er diese geistgewirkte Gottesanrede im Hintergrund. Entscheidend ist, dass V. 6 die parallel zur Sendung des Sohnes beschriebene Sendung des Geistes in die Herzen der Glaubenden als Sendung des Geistes „seines Sohnes“ beschreibt. Der Geist wird (wie in Röm 8,11) durch das Handeln Gottes im „Sohn“ inhaltlich bestimmt. Es geht also darum, Gottes Heilshandeln an den Glaubenden durch die Bindung an Jesus als den „Sohn“ zu konkretisieren: Es besteht konkret darin, dass sie der todbringenden Anklage des Gesetzes entnommen und auf diese Weise in die Gemeinschaft mit Gott versetzt werden. So erschließt sich ihnen Gott im Sohn neu als „Vater“. Dass Gott nun der „Vater“ der Glaubenden ist, bedeutet, dass sie in ein Verhältnis zu ihm versetzt wurden, in dem ihre „Knechtschaft“ beendet ist (Gal 4,7). Das hier begegnende Stichwort δοῦλος nimmt Paulus in Gal 4,8f auf: Als „Knechte“ „dienten“ die Galater Größen, die „von Natur aus keine Götter“ sind (V. 8). Damals „kannten“ sie Gott noch nicht, jetzt aber kennen sie ihn (V. 9). So impliziert ihre Bekehrung unmittelbar eine Gotteserkenntnis, die nun ihr Leben bestimmt.
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Deutlich wird an dieser Stelle (Gal 4,8f), dass Paulus zu ehemaligen „Heiden“ spricht.73 Im Blick auf Juden könnte Paulus nicht sagen, dass sie „Gott nicht kannten“.74 Wenn Paulus in Gal 4,5 davon spricht, dass Gott seinen Sohn gesandt hat, „damit er die, die unter dem Gesetz standen, freikaufe“ (ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ), dann spricht er damit die grundsätzliche Situation des Menschen an. Dieses Verständnis wird in der Auslegung seit Stendahl freilich immer wieder zurückgewiesen. Exemplarisch ist die Erklärung, die Craig S. Keener in seinem Galater-Kommentar gibt. Die Befreiungsaussage in Gal 4,5 beschreibt Keener mit den Worten: „God redeemed Gentile believers from the law that excluded gentiles from his people.“75 Damit ist der Sache nach die Vorstellung des Gesetzes als „boundary marker“ aufgenommen, die insbesondere James Dunn vertreten hat. Demnach kritisiere Paulus keinen „Aktivismus“, sondern einen „Nationalismus“, der eine Trennung zwischen Juden und Heiden schaffe.76 Liest man allerdings Gal 4,5 im Kontext dessen, was Paulus in Gal 3,10–14 entfaltet hat, dann wird deutlich, dass Paulus zwar einerseits zwischen Juden und Heiden unterscheiden kann, andererseits aber auch eine Strukturanalogie ihrer Existenz extra Christum sieht.77 David A. deSilva erklärt mit Recht, dass Paulus „invites both Jewish and gentile Christians in Galatia to understand themselves to have been redeemed from the law’s curse by Christ’s death and to regard the law as something that belongs only to the past of their story, not their present or future“.78 DeSilva weist in diesem Zusammenhang ebenfalls mit Recht darauf hin, dass Paulus sich in genau dieser Aussage von der Verkündigung derer, die in Galatien ein „anderes Evangelium“ verkündigen (Gal 1,6), unterscheide.79 Die Wendung ὑπὸ νόμον bezeichnet in Gal 4,5 nicht diejenigen, die sich selbst bewusst „unter das Gesetz“ stellen, indem sie sich auf die Tora verpflichten,80 sondern meint die faktische Situation des Menschen, der vom Gesetz auf sein Tun festgelegt wird, wie Paulus in Gal 3,10–14 (vgl. Röm 3,23) entfaltet hat. Dort schließt Paulus sich selbst – einen geborenen Juden – und die Adressaten – ehemalige „Heiden“ – ausdrücklich zusammen. Das wird bereits von Gal 3,13 her deutlich, wo Paulus sagt, dass Christus „uns“, d. h. ihn selbst und die 73 Betz, Gal, 372; DeSilva, Galatians, 363; Keener, Galatians, 352f. 74 Diese Differenzierung zwischen Juden und Heiden ließ sich bereits im Blick auf 1Thess 1,9f und 1Kor 12,2 feststellen, s. dazu das Kapitel 2 dieser Arbeit. 75 Keener, Galatians, 338. 76 Vgl. Dunn, The New Perspective, 105. 77 Das sieht bereits Mussner, Gal, 270, wenn er bemerkt: „Der Zusammenhang mit V. 3 würde eher erwarten lassen: ,damit er die unter den Weltelementen (Stehenden) erlöse‘. Wenn der Apostel jetzt dafür ὑπὸ νόμον schreibt, zeigt das schon an, daß für ihn ein innerer Zusammenhang der Gesetzesherrschaft mit der Herrschaft der ,Weltelemente‘ besteht“. 78 DeSilva, Galatians, 355. 79 Ebd. 80 So allerdings Betz, Gal, 364.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Glaubenden „vom Fluch des Gesetzes freigekauft“ habe. Alle Menschen standen demnach „unter dem Gesetz“, d. h. unter dem darin sich ausdrückenden Anspruch Gottes an den Menschen, der für ihn zum „Fluch“ wird, weil er das Gesetz nicht tut (s. u.). Und auch in Gal 4,3 schließt Paulus sich selbst in der ersten Person Plural mit den Heidenchristen in Galatien zusammen.81 In soteriologischer Perspektive gibt es für Paulus gerade keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden. Für unsere Fragestellung ist zunächst entscheidend, was Paulus der Aussage Gal 1,16 zufolge erkannt hat: Er hat erkannt, dass Jesus Gottes Sohn ist, d. h., dass Gott in ihm präsent ist und handelt. Damit hat sich dem Paulus von Gott her als wahr erschlossen, was die frühen Christen bereits vor ihm behauptet hatten, wenn sie Jesus als κύριος anriefen.82 Dieses „Christusbild“ ist für Paulus demnach nicht „neu“. Was neu ist, ist die Tatsache, dass er sich dieses Bild zu eigen gemacht hat und es als Wahrheit von Gott her erkannt hat. Der Auftrag, diese Wahrheit nun den „Völkern“ zu verkündigen, ergibt sich unmittelbar aus dem Inhalt. Denn wenn Gott in Jesus als „seinem Sohn“ gehandelt hat, dann steht Gott anders zum Menschen, als Paulus vor seiner Begegnung gemeint hatte. Die Erkenntnis der Gegenwart Gottes in Jesus Christus verändert alles. Das ist es, was vor Damaskus geschehen ist. Es ist derselbe Gott, an den Paulus als Jude geglaubt hat und an den er nun als Apostel Jesu Christi glaubt, aber er versteht die Gegenwart dieses Gottes in der Welt neu. So sind erneut Diskontinuität und Kontinuität im paulinischen Denken miteinander verbunden: Aus seiner – christologisch bestimmten – Sicht ist der Gott Israels als Vater Jesu Christi mit sich selbst identisch.83 Diese Sicht teilt aber die Mehrheit des Judentums nicht (vgl. Röm 9–11). Im Galaterbrief erörtert er diese Frage nicht in der grundsätzlichen Weise wie in dem später geschriebenen Römerbrief. Dennoch lässt sich aus der Tatsache, dass er hier Heidenchristen im Blick hat, nicht ableiten, dass das Heilsgeschehen, das er hier beschreibt, sich nur auf diese beziehen würde. Bereits die Tatsache, dass Paulus sich selbst mit in die Schilderung einbezieht, spricht entschieden gegen eine solche Auffassung.
81 Darauf weist Schlier, Gal, 196 hin und erklärt deshalb mit Recht, im Zusammenhang seien „ohne Zweifel alle Menschen, d. h. aber Juden und Heiden“ angesprochen. In demselben Sinne – und in Auseinandersetzung mit der Position der New Perspective – Westerholm, Perspectives, 416f. 82 Darauf weist Hurtado, Lord, 96 mit Recht hin (s. dazu unten). 83 Das unterstreicht auch Portenhauser, Identität, 411, die von „zwei Seiten“ der Schilderung des Damaskus-Ereignisses in Gal 1 spricht: „Aus der Perspektive des Menschen Paulus ist sie durch radikale Diskontinuität gekennzeichnet, aus der Perspektive Gottes durch Kontinuität. Die für Identität notwendige Kontinuität wird also nicht durch Paulus, sondern durch Gott gewährleistet.“
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
2.3
Tradition und Interpretation: Dtn 21,23 in Gal 3,13
Auch im Galaterbrief lässt sich die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität im paulinischen Gottesverständnis anhand des Zusammenspiels von Tradition und Interpretation nachvollziehen, denn die Auswirkungen der in Gal 1,16 beschriebenen Christuserkenntnis auf das Gottesverständnis lässt sich konkret am Umgang mit den Schriftzitaten erkennen, der sich in Gal 3,10–14 beobachten lässt. Innerhalb dieser Verse nimmt der Apostel – neben anderen Schriftzitaten und -anspielungen – zwei Texte aus dem Deuteronomium auf, die er von der in Gal 1,16 geschilderten Erkenntnis aus interpretiert. Es handelt sich um eine Aufnahme von Dtn 27,26 LXX in Gal 3,10 und Dtn 21,23 LXX in Gal 3,13, die Paulus in Gal 3,11b mit Hab 2,4 LXX und in Gal 3,13b mit Lev 18,5 LXX kombiniert. In Gal 3,10 erklärt Paulus: Ὅσοι γὰρ ἐξ ἔργων νόμου εἰσίν, Denn diejenigen, die aus Werken des Geὑπὸ κατάραν εἰσίν· setzes existieren, stehen unter dem Fluch; γέγραπται γὰρ ὅτι denn es steht geschrieben: ἐπικατάρατος πᾶς „Verflucht ist jeder, ὃς οὐκ ἐμμένει πᾶσιν τοῖς γεγραμμένοις der nicht bleibt in allem, was geschrieben ἐν τῷ βιβλίῳ τοῦ νόμου τοῦ ποιῆσαι ist im Buch des Gesetzes, um es zu tun.“ αὐτά. (Dtn 27,26) Noch einmal ist zu betonen, dass Paulus hier grundsätzlich und von allen Menschen spricht. Er hat zuvor mit Verweis auf Gen 15,6 ausgeführt, dass die „Gerechtigkeit“, d. h. die Gemeinschaft mit Gott, durch den Glauben geschenkt wird (Gal 3,6–9). Dies gilt insbesondere für die Heidenvölker, die Paulus in Gen 12,3 angesprochen sieht (Gal 3,8). Damit ist aber nicht gesagt, dass die Judenchristen nicht auch durch den Glauben „gerechtfertigt“ würden. Eine soteriologische Differenzierung zwischen Juden- und Heidenchristen schließt Paulus in Gal 3,11 vielmehr aus, wobei bemerkenswert ist, wie wenig er diese Aussage erläutert. Paulus verweist an dieser Stelle einfach auf Hab 2,4, wie er die Stelle liest, weil sich ihm daraus ein Hinweis auf die Rechtfertigung aus Glauben (vgl. Röm 1,17) ergibt. Der Sache nach ist seine Sichtweise aber aus der Christus-Erkenntnis des Paulus gewonnen, die er in Gal 1,16 beschrieben hat. Diese Erkenntnis hat den Blick auf die Funktion des Gesetzes grundlegend verändert. Das wird Paulus in Röm 1,18–3,20 und in Röm 7 breit entfalten, es ist aber auch im Galaterbrief bereits deutlich erkennbar. Wichtig für unsere Fragestellung ist, dass Paulus diese neue Sicht auf das Gesetz als eine ihm von Gott erschlossene Sicht versteht. In der Auseinandersetzung um die Funktion des Gesetzes, die in Galatien an ganz konkreten Forderungen, die an die Glaubenden gestellt werden, aufbricht, geht es deshalb immer auch darum, wie Gott zu verstehen ist.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Blicken wir zunächst einmal auf Dtn 27,26 im Kontext des Deuteronomiums: Hier steht der Vers am Ende einer Fluch-Reihe (Dtn 27,15–26), deren Sätze jeweils mit ἐπικατάρατος beginnen. Sie steht im Zusammenhang der Verpflichtung Israels auf seinen Gott, für den es „zu einem Volk für den Herrn“ geworden ist (Dtn 27,9) und dessen Stimme es deshalb gehorchen soll (V. 10). Als abschließender Vers hat Dtn 27,26 einen zusammenfassenden Charakter, der den in Dtn 27,10 genannten umfassenden Gehorsam, der in der Fluch-Reihe anhand konkreter Beispiele verdeutlicht wird, auf den Punkt bringt. Dtn 28,1ff machen demgegenüber den Segen deutlich, dessen sich das Volk gewiss sein kann, wenn es „wahrhaftig auf die Stimme des Herrn, deines Gottes“ hört (Dtn 28,1). So wie selbstverständlich Gott das Subjekt dieses Segens ist, so ist er auch das Subjekt des vorher genannten Fluchs. Paulus greift mit Dtn 27,26 also eine Stelle auf, die zentral ist für den Zusammenhang von Heilszuwendung Gottes und Gesetzesgehorsam. Dtn 27,26a.b LXX Gal 3,10b ἐπικατάρατος πᾶς ἄνθρωπος,
ἐπικατάρατος πᾶς
ὃς οὐκ ἐμμενεῖ ἐν πᾶσιν
ὃς οὐκ ἐμμένει πᾶσιν τοῖς γεγραμμένοις
τοῖς λόγοις τοῦ νόμου τούτου
ἐν τῷ βιβλίῳ τοῦ νόμου
τοῦ ποιῆσαι αὐτούς
τοῦ ποιῆσαι αὐτά
Gegenüber der Septuaginta-Fassung von Dtn 27,26 ist das Zitat bei Paulus leicht verändert. Ist im narrativen Kontext des Deuteronomiums von „den Worten dieses Gesetzes“ die Rede, geht es Paulus dezidiert um die geschriebene Tora, um das γράμμα, in dem die Willensforderung Gottes zur Sprache kommt.84 Worauf es ihm aber offensichtlich ankommt, ist der umfassende Gesetzesgehorsam, der in Dtn 27,26 formuliert wird (ἐν πᾶσιν τοῖς λόγοις τοῦ νόμου τούτου bzw. πᾶσιν τοῖς γεγραμμένοις). Die Konsequenz die Paulus aus diesem radikalen Tora-Verständnis zieht, ist charakteristisch.85 Der „rechtfertigungstheologische“ Grundsatz, den Paulus bereits in Gal 2,16 formuliert hat und den er nun – wie in Röm 1,17 – mit
84 Koch, Schrift, 266 weist darauf hin, dass „Paulus den Wortlaut von Dtn 27,26a.b durch die Einbeziehung von Dtn 29,19b“ so verändert, „daß das Zitat jetzt davon spricht, daß das Gesetz den Menschen auf τὰ γεγραμμένα τοῦ βιβλίου τοῦ νόμου verpflichtet, ihn an das γράμμα bindet.“ Die Konzentration auf die geschriebene Tora ist freilich bereits im Deuteronomium selbst zu beobachten, s. dazu Bauspiess, Gesetz, 194; Otto, Dtn 23,16–24,12, 2052. 85 Hier unterscheidet sich Paulus ganz wesentlich von dem Verfasser des Jakobusbriefes. Wie Paulus bringt auch dieser den umfassenden Gesetzesgehorsam zur Sprache (Jak 2,8–11), bezieht sich dabei aber nicht auf Dtn 27,26 und lässt auch keine grundsätzliche Problematisierung der Forderung der Tora erkennen. Paulus und Jakobus unterscheiden sich an dieser Stelle gerade nicht im Gesetzesverständnis, sondern in der Anthropologie, die Paulus in Röm 5,12–21 und Röm 7,7–25a entfaltet (zur Differenz zwischen Paulus und Jakobus s. Bauspiess, Gesetz, 198).
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
Hab 2,4 LXX „belegt“86 wird gleichsam unvermittelt eingeführt. Paulus geht davon aus, dass die in Dtn 27,26 formulierte Forderung von Gott her zwar gilt, dass sie aber vom Menschen gar nicht eingehalten werden kann. Es liegt also am Menschen und also an der Anthropologie des Paulus, dass er den Menschen faktisch unter dem „Fluch“ des Gesetzes steht.87 Wichtig ist eine Einsicht, die Stephen Westerholm in der Diskussion um die New Perspective zur Sprache gebracht hat.88 Sie besteht darin, dass Paulus seine Sicht auf das Gesetz gleichsam von der Lösung des Problems her entwickelt hat: Weil Paulus davon überzeugt ist, dass jeder Mensch durch Christus in die heilvolle Gottesgemeinschaft gebracht wird, deshalb erkennt er, dass kein Mensch das Gesetz tun kann. Schon an dieser Stelle lässt sich sagen, dass Paulus die Aussage von Dtn 27,26 nicht korrigiert, sondern gerade hervorhebt: Die Tora fordert umfassenden Gehorsam. Damit ist für Paulus aber – und das hat sich durch die Begegnung, die Gal 1,15f beschreibt, verändert – noch nicht der Heilswille Gottes für den Menschen beschrieben. Vielmehr ist es nach Paulus nun „offenkundig“ (δῆλον), dass „der aus Glauben Gerechte leben“ wird.89 Dieses „Offenkundige“ ergibt sich für Paulus eben aus der Einsicht, dass Gott „in Christus war“, wie er in Gal 1,16 durch die Bezeichnung Jesu als Gottes Sohn deutlich gemacht hat und wie er in 2Kor 5,19 direkt formuliert.90 Die „wahre“ Intention Gottes und damit das „wahre“ Verständnis seines in der Tora dokumentierten Willens erschließen sich demnach von Gottes Präsenz in Jesus Christus her. Von dieser Präsenz her ist nun auch zu verstehen, was Paulus in Gal 3,13 sagt:
86 Paulus hat das Habakuk-Zitat offensichtlich verändert. Aus ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεώς μου ζήσεται (Hab 2,4 LXX) wird bei Paulus (Röm 1,17; Gal 3,11) ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται. Auf diese Weise sieht Paulus in Hab 2,4 die Rechtfertigung aus Glauben „erwiesen“. 87 In Röm 5,12 wird deutlich, dass die ἁμαρτία erst „in die Welt kam“. Die Bestimmtheit der menschlichen Existenz durch die Sünde entspricht nach der Auffassung des Paulus nicht seiner geschöpflichen Struktur, wohl aber der Situation des vorfindlichen Menschen (vgl. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams, 149). 88 Westerholm, Perspectives, 421. 89 Diese Übersetzung ergibt sich aus der beschriebenen Interpretation dieser Aussage durch Paulus. Die präpositionale Wendung ἐκ πίστεως ist adnominal auf δίκαιος zu beziehen, nicht adverbial auf ζήσεται. Das ergibt sich etwa aus der Formulierung in Röm 5,1 Δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως, mit der Paulus auf die mit der „These“ in Röm 1,16 eingeleiteten Darlegungen in 1,18ff, und hier insbesondere in 3,21ff zurückblickt. Zur Übersetzung von Hab 2,4 bei Paulus s. Eckstein, Einführung, IXf. 90 Zur Übersetzung von 2Kor 5,19 s. Hofius, „Gott war in Christus“, 141 und die zuvor angestellten Überlegungen. Die Formulierung θεὸς ἦν ἐν Χριστῷ ist nicht mit der folgenden Wendung κόσμον καταλλάσσων ἑαυτῷ zusammenzuziehen („Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst“). Sie benennt den Grund für das Versöhnungshandeln Gottes: dass Gott „in Christus“ war. Anders Wolff, 2Kor, 130, s. die Problemschilderung aaO., 129.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Χριστὸς ἡμᾶς ἐξηγόρασεν ἐκ τῆς κατάρας τοῦ νόμου γενόμενος ὑπὲρ ἡμῶν κατάρα, ὅτι γέγραπται· ἐπικατάρατος πᾶς ὁ κρεμάμενος ἐπὶ
Christus hat uns freigekauft von dem Fluch des Gesetzes indem er für uns zum Fluch wurde, denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“
ξύλου
Drei Mal begegnet das Wortfeld κατάρα in Gal 3,13. Es liegt nahe, dass Paulus die beiden Zitate Dtn 27,26 und 21,23 in erster Linie aufgrund dieses Wortfeldes aufgreift. Es fällt nun allerdings auf, dass er Dtn 21,23 geringfügig verändert, genauer gesagt: Er gleicht die Eingangswendung an Dtn 27,26 an.91 Auf diese Weise erreicht er, dass die beiden Zitate in Gal 3,10b und 3,13b genau parallel zueinander formuliert sind: Gal 3,10b (Dtn 27,26) Gal 3,13b (Dtn 21,23) ἐπικατάρατος πᾶς
ἐπικατάρατος πᾶς
ὃς οὐκ ἐμμένει πᾶσιν τοῖς γεγραμμένοις
ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου
ἐν τῷ βιβλίῳ τοῦ νόμου τοῦ ποιῆσαι αὐτά
In Dtn 21,23 handelt es sich um eine Bestimmung für den Umgang mit Hingerichteten, die die „Reinheit“ des Landes bewahren soll. Ein am „Holz“ (ֵﬠץ, LXX: ξύλον) Aufgehängter soll nicht über Nacht hängen bleiben, sondern abgenommen werden. Der Masoretische Text meint damit wohl ursprünglich, dass ein Hingerichteter nach seiner Hinrichtung aufgehängt wurde und für Gott eine „Verfluchung“ bedeutet.92 Auch wenn die Formulierung „am Holz aufhängen“ recht unspezifisch klingt, lässt sich plausibel machen, dass bereits die frühjüdische Auslegung Dtn 21,23 konkret auf die Kreuzigung bezogen hat.93 Hierfür wird auf einen Beleg aus der in Qumran gefundenen Tempelrolle hingewiesen (11Q 19 64,6–13).94 Dort wird eindeutig
91 Vgl. Bertram, κρεμάννυμι, 917. 92 Kuhn, κρεμάννυμι, 783; Sänger, Gal 3,13b, 280. Im Blick auf den hebräischen Text lässt sich fragen, ob das Wort ֶאֹלִהיםals genitivus subjectivus – wie in der Septuaginta (so Billerbeck III, 544) oder als genitivus objectivus aufzufassen ist: Der am Holz Aufgehängte „flucht Gott“ bzw. ist eine „Verwünschung Gottes“ (vgl. Mussner, Gal, 233, Anm. 112). In diesem Sinne verstehen den Vers auch die Übersetzungen des Aquila und Theodotion (κατάρα θεοῦ κρεμάμενος, Bertram, κρεμάννυμι, 917) und die rabbinische Überlieferung (Billerbeck III, 544f). Die Septuaginta deutet den Vers bereits durch ὑπὸ θεοῦ im Sinne einer Verfluchung durch Gott. 93 Aufgrund der unspezifischen Formulierung ist umstritten, ob in 11Q 19 von Hängen oder Kreuzigen die Rede ist (s. Sänger, aaO., 282 mit Anm. 15). 94 Evans, Hanging and Crucifixion, 491; Kuhn, κρεμάννυμι, 783; Lincicum, Deuteronomy, 146, Anm. 85; Sänger, Gal 3,13b, 281f. Jeremias, Lehrer, 132f; Kuhn, Jesus als Gekreuzigter, 33f plädieren dafür auch 4Qp Nah 7f auf die Kreuzigungsstrafe zu beziehen.
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davon gesprochen, dass ein Verbrecher durch das „Hängen an das Holz“ hingerichtet wird (11Q 19 64,17f). Im Anschluss an diese Bemerkung wird Dtn 21,23 in Erinnerung gerufen, wobei formuliert wird, dass sich der „auf dem Holz hängt“ als „Verfluchter Gottes und der Menschen“ ( )מקוללי אלוהים ואנשםerweist (11Q 19 64,12). Auch bei Philo und Josephus gibt es Belege dafür, dass κρεμαννύναι ἐπὶ ξύλου von Juden auf die römische Kreuzigungsstrafe bezogen wurde.95 Von hier aus ist plausibel, dass nicht erst Paulus Dtn 21,23 auf die Kreuzigung Jesu bezieht,96 sondern – wie Dieter Sänger formuliert – ein Argument aufnimmt, das „als synagogales Argument dem frühchristlichen Messiasbekenntnis entgegengehalten“ wurde.97 Für die Zeit nach Paulus belegt jedenfalls Justins Dialog mit Tryphon, dass von jüdischer Seite aus mit Dtn 21,23 gegen die Christen argumentiert wurde. So lässt Justin seinen jüdischen Opponenten Tryphon sagen (Iust.dial. 89,2): „Aber daran zweifeln wir, ob es notwendig war, dass Christus in so schmachvoller Weise am Kreuze starb (ἀτίμος οὕτως σταυρωθῆναι τὸν Χριστόν); denn verflucht ist nach dem Gesetz, wer gekreuzigt wird (ἐπικατάρατος γὰρ ὁ σταυρούμενος ἐν τῷ νόμῳ λέγεται εἶναι).98 Dies ist also noch eine Lehre, von der ich mich momentan nicht überzeugen kann. Das ist zwar klar, daß die Schrift einen leidenden Christus verkündet. Wissen möchten wir aber, ob du es auch beweisen kannst, dass Christus ein im Gesetz verfluchtes Martyrium (ἐν τῷ νόμῳ κεκατηραμένου πάθος) erleidet.“99
Deutlich wird hier der Anstoß, der aus der Perspektive des jüdischen Glaubens an dem christlichen Bekenntnis zu Jesus als dem Messias genommen wurde. Jesu Kreuzestod dokumentierte demnach, dass er durch das Zeugnis des Gesetzes – und das heißt: von Gott – „verflucht“ war. Es musste demnach geradezu unsinnig erscheinen, diesen Gekreuzigten so in die Nähe Gottes zu rücken, wie es die frühen
95 JosAnt II 73.77; Philo somn. II 213 (Kuhn, ξύλον, 1193): Die Verbindung ergibt sich aus den an den genannten Stellen gegebenen Anspielungen auf Gen 40,19. Die dort angekündigte Hinrichtung, die mit den Worten „er wird dich an das Holz hängen“ (κρεμάσει σε ἐπὶ ξύλου) angesprochen wird, verbinden Philo und Josephus mit der Kreuzigungsstrafe. 96 So allerdings Mussner, Gal, 234, Anm. 112. 97 Sänger, Gal 3,13b, 283. S. dazu vor allem Jeremias, Lehrer, 134; Kuhn, Jesus als Gekreuzigter, 34, ebenso Konradt, Kreuzestheologie, 320. Kritisch dazu Koch, Schrift, 126. 98 Justin gibt im alttestamentlichen Zitat das Verb κραμμάννυμι mit σταυρωθῆναι wieder und scheint davon auszugehen, dass auch jüdische Leser Dtn 21,23 auf die Kreuzigungsstrafe beziehen. 99 Übersetzung nach Haeuser in: Justinus, Dialog, 186f. Vgl. Iust.dial. 90,1. „… Beweisen mußt du uns jedoch, ob er gekreuzigt werden und eines so schmachvollen und ehrlosen, im Gesetze verfluchten Todes sterben mußte; denn so etwas können wir uns nicht einmal denken.“ (AaO., 187). Demnach akzeptiert Tryphon durchaus die Vorstellung eines stellvertretend Leidenden nach dem Vorbild des leidenden Gottesknechtes im Jesajabuch, nicht aber die Aussage, dass Jesus den Fluchtod am Kreuz gestorben sei, vgl. dazu auch Iust.dial. 30,1ff.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
Christen taten. Bei Paulus klingt der Einwand in 1Kor 1,23 an. Justin antwortet auf diesen Einwand mit einer scharfen Polemik (Iust.dial. 93,4): „Ihr habt niemals gezeigt, daß ihr Freundschaft oder Liebe zu Gott, den Propheten und euch selbst habt. Im Gegenteil, es ist klar erwiesen, daß ihr jederzeit Götzendiener waret und die Gerechten getötet habt, daß ihr sogar an Christus Hand angelegt habt und noch heute in euren Sünden verharrt, daß ihr gerade diejenigen verflucht, welche beweisen, daß der von euch gekreuzigte Jesus der Christus ist. Nicht genug, ihr wollt sogar dartun, daß Jesus gekreuzigt wurde, weil er ein Feind Gottes und ein Verfluchter gewesen sei, während doch die Kreuzigung ein Werk eures Unverstandes ist.“100
In die hier greifbar werdende antijüdische Polemik, in der die Juden als „Götzendiener“ und „Prophetenmörder“ beschimpft werden, verfällt auch Paulus selbst an einer Stelle, in 1Thess 2,14–16. Für unseren Zusammenhang ist zunächst bedeutsam, dass Justin der jüdischen Seite die Auffassung zuschreibt, Jesus sei „ein Feind Gottes und ein Verfluchter“ gewesen.101 Offensichtlich belegten sie diese Auffassung nicht zuletzt mit Dtn 21,23. Freilich handelt es sich bei Justins Text um einen indirekten Beleg für diese frühjüdische Auffassung. Wenn man bereits in Qumran die Stelle als Beleg für die Kreuzigung als „Fluchtod“ verstanden hat, dann ist es aber naheliegend, dass bereits Paulus diese Auslegung kannte. Sie spiegelt seine eigene Sicht wider, die ihn zum Verfolger der Gemeinde machte,102 die er nach Damaskus als Gemeinde Gottes bezeichnet. Der Grund für den „Eifer“ des gesetzestreuen Pharisäers Paulus bestand gerade darin, dass die christliche Gemeinde einen, den die Tora als einen von Gott „Verfluchten“ erwies, mit dem heiligen Gottesnamen anrief und sich damit der Blasphemie schuldig machte. Wenn Paulus in Gal 3,13 Dtn 21,23 anführt, dann wird damit auch etwas von seiner Sicht vor Damaskus erkennbar. In Gal 3,13 hat Paulus das Zitat gegenüber Dtn 21,23 LXX indes – über die Angleichung an Dtn 27,26 hinaus – verändert, indem er das Subjekt der Verfluchung – Gott – getilgt hat: Dtn 21,23 LXX: κεκατηραμένος ὑπὸ θεοῦ πᾶς κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου. Gal 3,13b: ἐπικατάρατος πᾶς ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου.
100 Übersetzung nach Justinus, aaO., 193. 101 Diese Auffassung lässt sich für die rabbinische Auslegung nachweisen, vgl. Bertram, κρεμάννυμι, 917f. 102 In diesem Sinne votieren etwa Hengel, Der vorchristliche Paulus, 157f.178f; Hurtado, Lord, 94; Kuhn, Jesus als Gekreuzigter, 34; Schnelle, Wege, 51f. Sänger, Gal 3,13b, 283 hält diese Annahme für „denkbar“, sie bleibe allerdings „hypothetisch“.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
Paulus macht deutlich, dass Jesus durch seinen Kreuzestod unter dem Fluch von Dtn 21,23 steht. Durch die Angleichung der Eingangswendungen wird signalisiert: Dass Jesus unter dem Fluch des Gesetzes steht, hängt unmittelbar damit zusammen, dass jeder, der nicht alles, was das Gesetz gebietet, hält, unter dem Fluch des Gesetzes steht.103 Das ist nach Paulus indes jeder Mensch, wie er in Röm 1,18–3,20 ausführen wird. In Gal 3,13a kommentiert Paulus mit den Worten: Χριστὸς ἡμᾶς ἐξηγόρασεν ἐκ τῆς κατάρας τοῦ νόμου γενόμενος ὑπὲρ ἡμῶν κατάρα – „Christus hat uns freigekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch wurde.“ Auf diese Weise kann Paulus deutlich machen, dass Christus genau an den Ort gegangen ist, an dem sich jeder Mensch befindet. Insofern entspricht die Aussage dem, was Paulus in Gal 4,4f sagt. Die Aussage, dass Christus „für uns zum Fluch wurde“104 , hat ihre sachliche Entsprechung in 2Kor 5,21 (vgl. Röm 8,3). Paulus ist also auch nach Damaskus noch der Meinung, dass das Gesetz Jesus „verflucht“. Das ist durch Dtn 21,23 „erwiesen“. Möglicherweise deutet Paulus mit der Streichung von ὑπὸ θεοῦ aber an, dass damit noch nicht die Frage geklärt ist, wie Gott zu Jesus steht.105 Gleichwohl darf die Anstößigkeit der Aussage von Gal 3,13 nicht getilgt werden. Paulus macht sich das Argument, dass Jesus vom Gesetz verflucht ist, zu eigen. Damit ist deutlich, weshalb der Pharisäer Paulus die frühchristliche Verkündigung als Blasphemie ansehen musste. Paulus vertritt nach seiner Damaskus-Begegnung genau die Position, die er vorher verfolgt hatte.106 Nicht nur die Sicht des Gesetzes, sondern die Christologie der frühchristlichen Gemeinde war es, die den Zorn des Pharisäers Paulus hervorgerufen hatte.107 Nach Damaskus sieht er es immer noch so, dass Jesus durch den Fluch des Gesetzes getroffen wird.108 Aber er be-
103 Jeremias, Lehrer, 134: „Gal 3,13 zitiert Paulus Dt 21,23, um zu zeigen, daß Jesus für uns stellvertretend den Gottesfluch getragen hat, der über allen liegt, die das Gesetz nicht erfüllt haben.“ 104 S. dazu die bei Mussner, Gal, 233 genannten Stellen Jer 24,9; 42,18b und Zach 8,13. 105 Mussner, Gal, 233 erklärt, dass „in seinen (sc. des Paulus) Augen der gekreuzigte Christus unmöglich von Gott selbst verflucht sein konnte“. Auch Weder, Kreuz, 191 meint, dass Paulus nach Jesu Auferweckung diesen nicht mehr als von Gott Verfluchten habe bezeichnen können. Sänger, aaO., 280f, Anm. 11f schließt sich dem Urteil Weders an. 106 Hurtado, Lord, 96 erklärt mit Recht: „Moreover, it is reasonable to think that the basic christological views that he embraced and espouses in his epistles reflects the beliefs he had previously found objectionable and had opposed so vigourously.“ 107 Seine Polemik gegen die Christen bezog sich nicht nur auf die „Beschneidungsfreiheit der NichtJuden“, wie etwa Öhler, Geschichte, 171 meint, sondern auf die theologische Begründung dieser Beschneidungsfreiheit. 108 Schnelle, Judentum und Hellenismus, 135 formuliert: „Jesus starb nicht als am Holz Verfluchter, sondern er gehört auf die Seite Gottes, er ist Gottes Repräsentant, dauernder Träger der Herrlichkeit Gottes.“ Gerade weil Jesus für Paulus „auf die Seite Gottes“ gehört, ist für Paulus wichtig, dass er als „am Holz Verfluchter“ starb. Die Differenz liegt in dem „für uns“.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Galaterbrief
greift Dtn 21,23 nun als ein „Heilswort“.109 Die entscheidende Interpretation von Dtn 21,23 in Gal 3,13 liegt in den Worten ὑπὲρ ἡμῶν.110 Diese Interpretation ergibt sich aus dem, was Paulus in Gal 1,16 beschrieben hatte: Ist Jesus Christus – der Gekreuzigte – „Gottes Sohn“, dann muss sein Kreuzestod eine andere Bedeutung haben, als Paulus zuvor meinte. Er muss bedeuten, dass Gott selbst den im Gesetz ausgesprochenen Fluch in seinem Sohn auf sich genommen hat – um die Menschen, die das Gesetz nicht tun können, vom Fluch des Gesetzes, d. h. von dem notwendig daraus resultierenden Tod, zu befreien. Die soteriologische Aussage über den Kreuzestod folgt auf diese Weise unmittelbar aus der christologischen Erkenntnis. Das bedeutet: Nach Damaskus ist Paulus davon überzeugt, dass der Kreuzestod um unseretwillen geschehen ist, weil Gott selbst im Kreuz da ist und handelt. So ist in Gal 3,13 wie auch in 2Kor 5,21 zu beobachten, dass Paulus ein alttestamentliches Zitat aufnimmt, das er „zugleich in unerhörter Weise transzendiert“.111 Wie aber kommt es zu dieser „Transzendierung“? Die Antwort kann nur sein, dass Paulus das Subjekt der alttestamentlichen Aussagen – Gott – ganz neu verstanden hat und deshalb auch die Texte, die seinen Willen zur Sprache bringen, neu liest. Die Identität dieses Gottes, der in den genannten Texten redet, kommt aus christlicher Perspektive in den Blick – und gerade deshalb ist sie zwischen Christen und Juden umstritten. Im Blick auf Dtn 21,23 geht es präzise um die Frage, ob man das ὑπὲρ ἡμῶν mitsprechen kann oder nicht. So verändert die Erkenntnis, dass Jesus die Gegenwart Gottes ist, den Blick auf das Subjekt der Aussagen der Heiligen Schrift Israels. Die christologische Einsicht wirkt auf das Reden und Denken von Gott zurück. Christologie und Theo-logie beleuchten und interpretieren sich gegenseitig. Die Kontinuität des paulinischen Redens und Denkens vor und nach Damaskus besteht demnach in ihrer Bindung an den einen Gott. Grundsätzlich verändert aber hat sich die Auffassung, welche Funktion das Gesetz für das Gottesverhältnis des Menschen hat. Ist aber – wie oben gesehen – gerade das durch die Tora bestimmte Gottesverhältnis für eine Lebenshaltung, die als Ἰουδαϊσμός beschrieben werden kann, charakteristisch, dann verdeckt die Behauptung, Paulus sei mit seiner Lebenshaltung nach Damaskus innerhalb des Judentums verblieben, den Sachverhalt, den es zu beschreiben gilt. Vor allem aus heutiger Sicht lässt sich nicht mehr plausibel machen, weshalb sich Juden- und Christentum mit Paulus (und bereits vor Paulus!) so auseinanderentwickeln, dass sie zu zwei unterschiedlichen Religionen werden. Was Paulus von Gott zu sagen hat, das ist ohne die Hoffnungsgeschichte
109 Bertram, aaO., 918 bemerkt treffend: „Für Paulus und damit für die Christenheit ist aus dem Wort des Fluches ein Wort des Heils geworden“. 110 So bereits Jeremias, Opfertod, 15. Jeremias verweist auf Feine, Evangelium, 18, der dies als erster gesehen habe sowie auf (Gert) Jeremias, Lehrer, 134f (vgl. Jeremias, Central Message, 35). S. auch Dietzfelbinger, Berufung, 37–39; Kammler, Solus Christus, 10. 111 Hofius, Das vierte Gottesknechtslied, 356.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
Israels schlicht unverständlich. Diese Einsicht bedeutet aber mit Sicherheit keine „neue“ Perspektive, vor deren Hintergrund sich „traditional perspectives“112 als „veraltet“ herausstellen würden. Die Formulierung des Paulus in Gal 1,13 und die weiteren Ausführungen im Galaterbrief machen deutlich, dass es bei ihm zu einer „fundamentalen Neubewertung sowohl der Bewegung der Christusgläubigen als auch des Judentums“ gekommen ist.113 Diese Neubewertung lässt sich an dem paulinischen Umgang mit den Texten der Heiligen Schrift Israels nachvollziehen. Die Perspektive des Paulus verdankt sich – nach seinem Selbstverständnis – dem Handeln Gottes selbst. Um deutlich zu machen, dass dieses Handeln nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere einsehbar ist, erinnert Paulus daran, was die Glaubenden von Judäa bereits vor ihrer Begegnung mit Paulus von ihm wussten (Gal 1,23). Und er erinnert die Glaubenden in den galatischen Gemeinden daran, dass auch sie den handelnden Gott erfahren haben, als er – Paulus – ihnen den gekreuzigten Christus verkündigt hat (Gal 3,1f). Erneut lässt sich feststellen, wie Paulus an der konkreten Erfahrung der Wirksamkeit des Evangeliums anknüpft. Das Handeln Gottes ist demnach mit einem bestimmten Inhalt verbunden: mit dem gekreuzigten Christus. So kommt Gott vom Kreuz aus konkret in den Blick. Wie in 1Kor 2,8 bestimmt Paulus damit die Gegenwart Gottes präzise als seine Gegenwart in dem gekreuzigten Christus. Wie Paulus in Gal 1,23 auf die Wahrnehmung der frühchristlichen Gemeinden in Judäa hingewiesen hatte, so verweist er auch mit Blick auf die Jerusalemer Autoritäten in Gal 2,7–9 darauf, dass sie selbst „sahen, dass ich mit dem Evangelium für die Unbeschnittenen betraut bin“ (V. 7). So führt Paulus Gottes Wirken in der Evangeliumsverkündigung als Argument für seinen eigenen Anspruch an.114 Eindeutig wird dieses Handeln freilich nur aus der Perspektive des Christusglaubens. Insofern finden wir hier eine Argumentation, wie wir sie in 1Thess 1–3 bereits beobachten konnten und die sich auch in Apg 10,1–11,18 spiegelt: 115 Paulus verweist immer wieder auf das erfahrene Handeln Gottes, er versteht diese Handeln aber von Gottes Heilshandeln in Christus her. Insofern Gott das Subjekt des Handelns an Paulus
112 So die Formulierung bei Nanos, aaO., 3. 113 So mit Recht Schnelle, Judentum und Hellenismus, 135f. 114 Vgl. Wolter, Paulus, 40: „Aus Gal 4,7–9 geht hervor, dass die Jerusalemer anerkennen, dass Paulus unter den Völkern ein von Gott autorisiertes ,Evangelium‘ verkündigt. In den Formulierungen ,sie sahen, dass mir das Evangelium der Vorhaut anvertraut ist‘ (V. 7) und ,sie erkannten die Gnade, die mir gegeben worden war‘ (V. 9a) umschreiben die beiden Verben das Handeln Gottes. Sie beziehen sich damit auf denselben Vorgang, den Paulus in V. 8 durch ,der auch für mich wirksam war zu den Völkern‘ als eine Aussage über Gott formuliert. Die Referenz ist in allen drei Fällen dieselbe: die Christusvision und ihre Deutung als Berufung zur Verkündigung Jesu unter den Völkern nach Gal 1,16.“ 115 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
ist, könnte man durchaus von einer „Theozentrik“ der Schilderung der DamaskusBegegnung in Gal 1,15f sprechen: Gott offenbarte ihm seinen Sohn. Damit wird aber gerade deutlich, dass sich mit der neuen Sicht auf Jesus auch die Sicht auf Gott ändert. Es wäre demnach eine falsche Alternative, wenn man sagen würde, Gott bleibe „derselbe“, nur die Sicht auf Jesus ändere sich. Vielmehr ist beides untrennbar miteinander verbunden.
3.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
Wenn wir von hier aus auf den zweiten Text blicken, in dem Paulus ausdrücklich auf seine Christus-Begegnung zu sprechen kommt, dann sind zunächst Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Äußerungen im Galaterbrief zu notieren. Auch im Galaterbrief lässt sich eine „argumentativen Strategie“116 beobachten und ebenso in den entsprechenden Erzählungen, die die Apostelgeschichte von dem Ereignis gibt. Insofern unterscheidet sich die nun zu besprechende Passage aus dem Philipperbrief nicht von den zuerst genannten Texten. Gleichwohl verbindet Paulus in Phil 3,2–11 seine Christusbegegnung viel direkter mit der Frage nach dem Gesetz. Zudem formuliert er nun sehr scharf und abwertend. Diese Abwertung seiner Lebenshaltung vor der Christusbegegnung kulminiert in deren Bezeichnung als σκύβαλα (Phil 3,8b).117 Udo Schnelle hat bemerkt, es sei vor dem Hintergrund einer solchen Formulierung kaum sinnvoll, davon zu sprechen, Paulus würde sich nach „Damaskus“ noch als Angehöriger des Judentums verstehen.118 Schnelle richtet sich damit gegen die These, dass sich im Blick auf die Zeit des Paulus weder von einem „Judentum“ noch von einem davon zu unterscheidenden „Christentum“ sprechen lasse.119 Dass für die damit verbundene Fragestellung die Frage nach dem Gottesverständnis des Paulus entscheidend ist, wurde bereits bei Stendahl deutlich (s. o.). Eine Bemerkung von Hubert Frankemölle zeigt, dass sie unmittelbar mit der Alternative von „Theozentrik“ und „Christozentrik“ verbunden ist. So habe der
116 Vgl. Wischmeyer, Ereignis, 325 (s. o.). 117 Das Wort σκύβαλον bedeutet „Abfall“ oder auch „Kot“ (Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1514 s.v. σκύβαλον). 118 Schnelle, Judentum und Hellenismus, 136f, s. die Erklärung aaO., 137: „Wer seine jüdischen Vorzüge und damit seine jüdische Vergangenheit in so drastischer Weise als ,Scheiße‘ bezeichnet, kann kaum weiterhin in irgendeiner Form als praktizierender Jude verstanden oder bezeichnet werden!“ 119 Exemplarisch ist die Bemerkung bei Wolter, Paulus, 23, der Stendahls These aufnimmt, es könne im Blick auf Paulus nicht von einer „Bekehrung“ vom „Judentum“ zum „Christentum“ gesprochen werden: „Eine solche Beschreibung wäre ganz anachronistisch, denn so etwas wie ein vom Judentum zu unterscheidendes Christentum hat es in paulinischer Zeit noch nicht gegeben.“ Kritisch dazu Schnelle, Wege, 179 mit Anm. 84.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
Begriff „Judentum“ für Paulus eine „radikale und polemische Note“, den Begriff „Christentum“ bzw. „Christen“ gebe es zu seiner Zeit aber noch nicht. Vielmehr denke Paulus „hier noch ganz theozentrisch“.120 Da Paulus sich auch nach seiner Christus-Begegnung noch auf die Heilige Schrift Israels beziehe und weiterhin mit Stolz von seinem Jude- und Pharisäersein spreche, müsse man von einer bleibenden Verwurzelung des Paulus im Judentum sprechen.121 Zudem sei Paulus sehr viel stärker traditionsabhängig, als dies „paulinisch orientierte Richtungen im Altertum und seit der Reformationszeit wahrhaben wollten“.122 Frankemölle denkt hier an die Traditionen der „Theologie von Damaskus, Jerusalem und vor allem Antiochia“, als deren „Vermittler“ Paulus verstanden werden müsse.123 Seine Polemik gegen die Paulus-Interpretationen „seit der Reformationszeit“ ist ein geradezu stehender Topos, der auch für die Radical New Perspective charakteristisch ist. So erklärt Neil Elliot: „At the heart of centuries of Protestant exegesis and theology is the irreducible opposition between striving in futility for ,righteousness‘ before God through ,works of law‘-phrases that in the past were usually taken as a virtual definition of Judaism – and receiving God’s gracious offer righteousness through Christ, which was taken as definitive of life in Christ. That opposition, too, is ostensibly drawn from Paul’s letters (Rom. 3:21–25; 9:30–10:6; Gal 2:15–21; 3:1–14; Phil 3:2–9).“124
Elliot rekurriert an dieser Stelle auf die Passagen, in denen Paulus „rechtfertigungstheologische“ Terminologie verwendet, die sich durch die Entgegensetzung von πίστις und ἔργα νόμου auszeichnet. Er nennt dabei auch Phil 3,2–9. Elliot deutet damit an, dass diese Passagen in der protestantischen Exegese zum Schlüssel des Verständnisses der paulinischen Theologie gemacht worden seien. Demgegenüber wird von der Radical New Perspective eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Kontroversen der Reformationszeit und der modernen Theologie auf der einen, der historischen Situation des Paulus im ersten Jahrhundert auf der anderen Seite eingefordert.125 So wichtig diese Unterscheidungen sind, sie sind bei den
120 Frankemölle, Frühjudentum, 31. 121 AaO., 278f. Frankemölle zitiert an dieser Stelle Sigal, Judentum, 83: „Paulus war tief in seinem Judentum verwurzelt und hat sich niemals von seinem Glauben entfernt.“ Paulus habe deshalb „keine Antithese zum Judentum“ formuliert. 122 Frankemölle, aaO., 279. 123 Ebd. 124 Elliot, Politics, 205. 125 Nanos, Introduction, 3. Auch der New Perspective wird attestiert, sie habe ihren Ausgangspunkt bei der Frage, was „falsch“ im Judentum gewesen sei, genommen (aaO., 7). Nanos denkt hier offensichtlich an die Formulierung bei Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 513.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
genannten Vertretern häufig mit einer Alternativsetzung von Situationsbezogenheit auf der einen und Grundsätzlichkeit auf der anderen Seite verbunden, die aufs Ganze gesehen nicht überzeugend ist.126 Diese Alternative wird etwa von Peter Fiedler und Hubert Frankemölle formuliert. Frankemölle weist darauf hin, dass alle Briefe des Paulus „Gelegenheitsschriften“ seien, die „adressatenorientiert und situationsbedingt zu lesen sind“.127 Und Fiedler formuliert grundsätzlich, da es sich bei den entsprechenden Aussagen im Galaterbrief „um eine situationsbedingte ,Argumentationsfigur‘ handele“, müssten wir „darauf verzichten, sie in (alt)kirchlicher Tradition weiterhin als grundsätzlich gemeinte Behauptungen zu lesen“.128 Dass die Polemik des Paulus in Phil 3,8 zum Ausgangspunkt antijudaistischer Äußerungen werden konnte, ist nicht zu bestreiten. Gerade eine sachliche Exegese aber hat zu differenzieren zwischen dem Kontext, in dem die Schärfe der paulinischen Äußerungen entstehen, und dem heute notwendigen interreligiösen Dialog zwischen zwei historisch gewachsenen Religionen. In Phil 3,2–11 wird – wie in Gal 1,15–23; 3,10–14 – erkennbar, dass die Christusbegegnung des Paulus auch sein Gottesverständnis verändert hat, und dass er deshalb nicht nur auf der Ebene der Christologie, sondern auf der Ebene der Theologie argumentiert.129 Zudem lassen sich die Äußerungen nicht auf ein vorausgesetztes Zerrbild eines „werkgerechten“ Judentums zurückführen. Ein solches Zerrbild setzt Paulus tatsächlich nicht voraus. Zudem ist er davon überzeugt, von dem Gott Israels zu sprechen. Wie von diesem Gott aber zu sprechen ist, das ist der konkreten Situation in Philippi de facto umstritten. Ein entscheidender Hinweis darauf, dass Paulus bei seiner Erinnerung an „Damaskus“ auch grundsätzlich-theologische Aussagen formuliert, liegt darin, dass er seine Berufung, die für ihn eben auch mit einer Bekehrung verbunden ist, in einer bestimmten Hinsicht als exemplarisch ansieht. Dies ließ sich bereits im Blick auf den Galaterbrief beobachten, es gilt aber für Phil 3,2–11 erst Recht. Stephen Westerholm stellt zutreffend fest, dass Paulus die Position der „Gegner“ in Philippi, die die Beschneidung fordern, mit seiner eigenen vor-christlichen Position identifiziere.130 Während die Ausführungen des Galaterbriefs von Anfang an auf die Auseinandersetzung mit den „Gegnern“, die
126 Das bemerkt mit Recht etwa auch Wolter, Rechtfertigungslehre, 348: „Dass es eine individuelle historische Situation war, der Paulus die Zentralthese seiner Rechtfertigung verdankt, relativiert nicht deren theologische Bedeutung.“ 127 Frankemölle, Frühjudentum, 280. 128 Fiedler, Antijudaismus, 276. 129 Eine solche Argumentation stellt Schnelle, Wege, 178 im Blick auf die johanneische Theologie fest. Sie ist aber auch im Blick auf Paulus festzustellen. 130 Westerholm, Perspectives, 402: „As in Galatians, Paul identifies his own pre-Christian experience with the position of those who would impose circumcision on his Gentile converts; in both cases the Sinaitic law was thought to provide the framework within which the people of God must live.“
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in den Galatischen Gemeinden tätig sind, ausgerichtet sind, verfällt der Apostel im Kontext des Philipperbriefs mit Phil 3,2 recht unvermittelt in einen scharfen und polemischen Ton. Dieser „Stimmungsumschwung“ hat in der PhilipperbriefExegese dazu geführt, einen mit 3,2 einsetzenden „Kampfbrief “ anzunehmen, der vom Kontext des kanonisierten Philipperbriefs literarkritisch zu unterscheiden sei.131 Anders als im Galaterbrief verzichtet Paulus im Präskript des Philipperbriefs darauf, seinen Aposteltitel zu nennen, und der Brief lässt über weite Passagen hin ein sehr herzliches Verhältnis, die der im Gefängnis sitzende Paulus zu der von ihm selbst gegründeten Gemeinde hat, erkennen (Phil 1,3–11). Auch im Philipperbrief treten indes bereits im ersten Kapitel Personen in den Blick, die Paulus kritisch sieht und die wohl auch ihrerseits Paulus kritisch beurteilen. In Phil 1,15 spricht Paulus von „einigen“, die διὰ φθόνον καὶ ἔριν – „aus Neid und Streitsucht“ Christus verkündigen. Paulus bestreitet diesen Personen nicht, dass auch sie Christus verkündigen (τὸν Χριστὸν κηρύσσουσιν). Seine Polemik bezieht sich vielmehr darauf, dass sie ihre Verkündigung mit einer Kritik an Paulus verbinden.132 Sie begreifen offensichtlich nicht, dass gerade auch seine Gefangenschaft Bestandteil seiner Christusnachfolge und seines Zeugnisses für Jesus ist. Hier lässt Paulus gleich zu Beginn des Philipperbriefes erkennen, dass für ihn die Christusverkündigung das ist, worauf es ihm entscheidend ankommt (Phil 1,12.18).133 Dieses Anliegen ist es auch, das ihn im Blick auf die Glaubenden in Philippi bestimmt. So ist auch der scharfe Ton, in den er in Phil 3,2 verfällt, gerade kein „Stimmungsumschwung“ im Blick auf die Philipper. Dass Paulus derart scharf gegen die Gegner polemisiert, dürfte vielmehr gerade in seinem herzlichen Verhältnis zu der Gemeinde begründet sein. Was die „Gegner“ verkündigen, das gefährdet aus der Sicht des Paulus das, was an den Philippern durch die Verkündigung des Evangeliums geschehen ist. Darum tritt Paulus ihnen, die die Glaubenden in Philippi aus seiner Sicht von dem „guten Werk“, das Gott in ihnen
131 Vgl. Gnilka, Phil, 7–11; Theobald, Philipperbrief, 379. Zu den Einleitungsfragen zum Philipperbrief s. die entsprechenden Ausführungen zu Beginn des Kapitels 8 dieser Arbeit. 132 Den Begriff ἔρις gebraucht Paulus auch bei der Beschreibung der innergemeindlichen Auseinandersetzungen in Korinth (1Kor 1,11; 3,3; 2Kor 12,20), vgl. Häusser, Phil, 91f. Auch die Bemerkung, dass sie „Christus verkündigen“ zeigt, dass Paulus in Phil 1,5 an christliche Verkündiger denkt. In Röm 1,29 begegnen die beiden Begriffe ἔρις und φθόνος kombiniert bei der Schilderung der sündigen menschlichen Eigenschaften, in Gal 5,21 wird φθόνος als ein Beispiel für die ἔργα τῆς σαρκός angeführt. In Phil 1,15 charakterisiert Paulus die ἔρις offensichtlich als ein Verhalten, das dem Christusbekenntnis eigentlich widerspricht. 133 Sehr schön bemerkt Barth, Phil, 18 zu Phil 1,12: „Auf die Frage, wie es ihm gehe, muß ein Apostel reagieren mit dem Bescheid darüber, wie es dem Evangelium geht.“
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
begonnen hat (Phil 1,6), abbringen, mit seiner Warnung βλέπετε – „hütet euch!“134 entgegen. Es lässt sich indes beobachten, dass der Phil 3,2 unmittelbar voraufgehende Aufruf zur Freude (χαίρετε ἐν κυρίῳ, 3,1a) in 4,4a wörtlich aufgenommen wird, was literarkritisch als Argument für einen vom „Kampfbrief “ zu unterscheidenden „Gefangenschaftsbrief “ ausgewertet werden konnte.135 Wie bereits erwähnt, ist die „Freude“ ein theologisch gefülltes Motiv.136 Freude ist Ausdruck der erfahrenen Gottesbegegnung und Gottesnähe. Das bestätigt sich in Phil 4,5b, wenn Paulus den Aufruf zur Freude ἐν κυρίῳ mit dem Hinweis begründet: ὁ κύριος ἐγγύς. Die Nähe des κύριος ist für die Philipper deshalb wichtig, weil bereits ihre Gegenwart durch ihr Sein ἐν κυρίῳ bestimmt ist. Diese Begründung ihrer glaubenden Existenz spielt nun aber gerade auch in Phil 3,2–11 eine wichtige Rolle. Es zeigt sich, dass damit gerade auch das Gottesverhältnis der Glaubenden und damit auch ihr Gottesverständnis beschrieben sind. In Phil 3,2–4a formuliert Paulus: 2 a Βλέπετε τοὺς κύνας, Hütet euch vor den Hunden! b βλέπετε τοὺς κακοὺς ἐργάτας, Hütet euch vor den schlechten Arbeitern! c βλέπετε τὴν κατατομήν. Hütet euch vor der Zerschneidung 137 ! 3 a ἡμεῖς γάρ ἐσμεν ἡ περιτομή, Denn wir sind die Beschneidung, b οἱ πνεύματι θεοῦ λατρεύοντες die wir im Geist Gottes dienen c καὶ καυχώμενοι ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ und uns rühmen in Christus Jesus d καὶ οὐκ ἐν σαρκὶ πεποιθότες, und nicht auf das Fleisch das Vertrauen 4 a καίπερ ἐγὼ ἔχων πεποίθησιν καὶ ἐν gesetzt haben, obwohl (gerade) ich σαρκί. Vertrauen auf das Fleisch haben könnte.138
134 Zu dieser Bedeutung von βλέπειν s. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 286, s.v. βλέπω 4. Bird/Gupta, Philippians, 106 übersetzen (vgl. Heil, Philippians, 117): „Beware of the dogs, beware of the evil workers, beware of those who mutilate the flesh!“ – „Hütet euch vor den Hunden …“ etc. Gnilka, Phil, 184: „Gebt acht auf die Hunde …“, vgl. Häusser, Phil, 217f, der die Bedeutungen „achtgeben auf “, „sich hüten vor“ annimmt. Portenhauser, Identität, 414 übersetzt: „Seht euch vor den Hunden vor!“. 135 So bereits Gnilka, Phil 8f. 136 Darauf weist im Zusammenhang mit dem Philipperbrief etwa Gnilka, Phil, 9 hin. Auf die zentrale Bedeutung des Motivs der Freude für den Philipperbrief macht auch Heil, Philippians, 1–4 aufmerksam. 137 Paulus formuliert hier in der rhetorischen Figur des abstractum pro concreto, wie auch in V. 3a. Gemeint sind die mit dem Abstraktbegriff bezeichneten Personen, vgl. Hoffmann / von Siebenthal, Grammatik, 590, § 295n. So ließe sich auch übersetzen: „Hütet euch vor den Zerschnittenen! Denn wir sind die Beschnittenen, …“. 138 Zur Bedeutung von καίπερ mit konzessivem Sinn BDR § 425,1.
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Christusbegegnung und Gottesbegegnung
Die Einleitung ist parallel gestaltet: Den drei Aufrufen zur Achtsamkeit, die mit negativ wertenden Beschreibungen verbunden werden (2a–c), entsprechen drei positive Beschreibungen (3a–c), die durch die entscheidende Opposition zwischen κατατομή und περιτομή spiegelbildlich einander gegenübergestellt werden. Das Personalpronomen ἡμεῖς steht betont an der Schnittstelle und markiert den Gegensatz: Paulus schließt sich hier nicht nur mit dem Mitabsender Timotheus (Phil 1,1), sondern auch mit den Philippern zusammen und artikuliert den Anspruch, gemeinsam „die wahre Beschneidung“, d. h.: das wahre Gottesvolk, zu sein. Deutlich ist, dass Paulus hier Juden- und Heidenchristen meint, denn er selbst ist geborener Jude und könnte sich sonst nicht mit einschließen.139 Die in dem bewusst verzerrenden Ausdruck κατατομή liegende Polemik erinnert an Gal 5,12. Die dort scharf formulierte Polemik: „Sollen sie sich doch gleich kastrieren lassen, die euch aufwiegeln!“ (ὄφελον καὶ ἀποκόψονται οἱ ἀναστατοῦντες ὑμᾶς) steht im Zusammenhang mit der gegenüber den galatischen Gemeinden erhobenen Forderung, sich beschneiden zu lassen. Dieselbe Forderung dürften folglich auch die in Phil 3,2ff angesprochenen „Gegner“ erhoben haben.140 In jedem Fall geht es um die Frage, was die Gottesgemeinschaft der Glaubenden begründet: der durch die Beschneidung repräsentierte Bund mit Gott, der in der Bindung an die Tora sein Kennzeichen hat, oder die Verbindung mit Christus. Es ist gut möglich, dasss die „Gegner“ darin keine Alternative gesehen haben. Für sie könnten Toraobservanz und Christusglaube miteinander vereinbar gewesen sein. Die Alternative wird hier vielmehr von Paulus formuliert. Sie kommt in der Äußerung über den Grund für das „Rühmen“ der Glaubenden zum Ausdruck. In 1Kor 1,31 hatte Paulus – unter Aufnahme von Jer 9,22f – festgestellt, dass allein der κύριος Grundlage des „Rühmens“ sein kann. Nur der κύριος begründet die Existenz der Glaubenden. Damit wird ihm eine Funktion zugeschrieben, die Gott als dem Schöpfer der Glaubenden zukommt. Und es wird deutlich, weshalb Paulus es als so problematisch ansieht, wenn einer anderen Größe als dem κύριος eine existenzbestimmende Funktion zugeschrieben wird: Sie würde damit im Sinne des „funktionalen Gottesbegriffs“ die Stelle einnehmen, die nur Gott selbst einnehmen kann. Dieser Gott aber hat in Christus an den Glaubenden gehandelt. Auf diese Weise hat er sich selbst den Glaubenden erschlossen. Das wird deutlich an dem mit einem kausalen γάρ eingeleiteten Vers 3, der die Begründung der in 3a aufgestellten These („Wir sind die [wahre] Beschneidung“) in drei zueinander parallel stehenden Partizipialsätzen formuliert (4b–d). Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist insbesondere auf die Parallelität der Satzglieder b und c zu achten: Demnach korrespondieren die Wendungen οἱ πνεύματι θεοῦ λατρεύοντες
139 Das bemerkt mit Recht Häusser, Phil, 219. 140 So Gnilka, Phil, 186. Häusser, ebd. hält es hingegen für „keinesfalls gesichert“, dass die Gegner die Beschneidungsforderung erhoben hätten.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
und καυχώμενοι ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ miteinander. Zweierlei wird im ersten Satzglied gesagt: Die Glaubenden „dienen“ Gott. Mit λατρεύειν beschreibt Paulus die umfassende Bindung der Glaubenden an Gott.141 Dabei verweist er – das ist das Zweite, was gesagt wird – auf das πνεῦμα, durch das diese Bindung besteht. Gott selbst knüpft demnach diese Bindung. Sie findet nun ihren Ausdruck in einem καυχᾶσθαι ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. Das Verb καυχάομαι verwendet Paulus im Philipperbrief nur an dieser Stelle (Phil 3,3). Es begegnet sonst vor allem in der korinthischen Korrespondenz,142 begegnet aber auch am Ende das Galaterbriefs (6,13f). Diese Stelle steht Phil 3,3 sachlich sehr nahe, weil es auch hier um den Gegensatz zwischen dem καυχᾶσθαι σαρκί und der Bindung an Christus geht. In Gal 6,14 formuliert Paulus, er wolle sich ausschließlich „des Kreuzes Christi rühmen“. Dasselbe bringt er in Phil 3,3c.d mit dem Gegensatz zwischen „sich in Christus Jesus rühmen“ und „auf das Fleisch vertrauen“ zum Ausdruck. Es geht um eine grundsätzliche Alternative, die Paulus in der Auseinandersetzung mit den „Gegnern“ in Philippi aufbrechen sieht. Darum formuliert er in Phil 3,2ff so scharf. „Gott dienen“ und „sich in Christus Jesus rühmen“ ist für Paulus demnach ein- und dasselbe. Im „Rühmen“ wird sichtbar, worin die Existenz der Glaubenden begründet ist: in Gott, der in Jesus Christus an ihnen gehandelt hat. Der in Phil 3,3d formulierte Gegensatz „und nicht auf das Fleisch vertrauen“ dient Paulus zur Überleitung der Schilderung seiner Christusbegegnung. Auch in Phil 3,2–11 ist es also so, dass die Gottesbeziehung ihre inhaltliche Fassung ganz vom Christusgeschehen aus erhält. Die scharfe „Gesetzespolemik“ des Paulus gründet in einer positiven Überzeugung: dass Gott in Christus an den Glaubenden gehandelt hat. Paulus kommt im Philipperbrief nicht deshalb auf „Damaskus“ zu sprechen, weil er sich selbst verteidigen müsste.143 Er greift das Thema vielmehr auf, weil sich darin für ihn etwas zeigt, was exemplarisch ist und deshalb für alle Glaubenden gilt. In dieser Hinsicht erklärt Ulrich B. Müller mit Recht: „Das biographische Ich des Paulus von V. 4b–6 wird jetzt [sc. mit den Versen 7–11] zum exemplarischen Ich, das paradigmatische Bedeutung
141 Paulus verwendet das Verb sehr selten, im Philipperbrief nur an dieser Stelle und ansonsten nur zwei Mal im Römerbrief (Röm 1,9.25). Im Hintergrund steht der Sprachgebrauch der Septuaginta, die das Verb im religiösen und kultischen Sinn gebraucht (Balz, λατρεύω, 849). In Röm 1,9 beschreibt Paulus mit dem Verb seinen Dienst an Gott in der Evangeliumsverkündigung, in 1,25 beschreibt er damit gerade die Verkehrung des Gottesverhältnisses, indem Menschen dem Geschöpf (anstelle des Schöpfers) „dienen“. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass Paulus in Röm 9,4 auch die λατρεία zu den „Vorzügen“ Israels rechnet (aaO., 850). Paulus spricht Israel demnach nicht ab, in einer Beziehung zu Gott zu stehen, diese wird allerdings erst dort recht erkannt, wo Gott im Christusgeschehen erkannt wird (V. 5, vgl. 10,2), s. dazu das Kapitel 7 dieser Arbeit. 142 1Kor 1,29.31; 3,21; 4,7; 5,6; 9,15f; 2Kor 1,14; 5,12; 7,14; 9,2f; 10,8.13.16.17; 11,12.16.18.30; 12,1.5.6.9. 143 Gegen die oben zitierte Äußerung von Schnelle, Paulus, 83.
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für die angeschriebene Gemeinde hat. An ihm, Paulus, sollen die Philipper sich orientieren.“144 Die Begründung der Existenz der Glaubenden bringt Paulus in 3,2–11 mit Wendungen zum Ausdruck, die mit der Präposition ἐν formuliert sind. Dem καυχώμενοι ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (3b) entspricht die negative Formulierung οὐκ ἐν σαρκὶ πεποιθότες (4a). Der Sache nach ist damit aufgenommen, was Paulus in 3,1; 4,4 mit der „Freude“ ἐν κυρίῳ zur Sprache bringt: Es geht um eine Existenz, die durch die Gewissheit der Gottesnähe bestimmt ist, die nicht über das Gesetz oder die natürlichen „Vorzüge“ eines Menschen vermittelt ist, sondern durch Jesus Christus. Der Gegenbegriff dazu ist für Paulus „auf das Fleisch vertrauen“ (πεπονθέναι ἐν σαρκί). Die in Phil 3,5f geschilderten „jüdischen Vorzüge“145 könnten demnach Anlass dazu geben, „auf das Fleisch zu vertrauen“. In der Auslegung wurde hier zwischen drei „angeborenen“ (s. unten: a–c) und drei „erworbenen“ (d–f) Vorzügen unterschieden,146 besser ist es aber wohl doch, von der „Bewährung“ der angeborenen „Vorzüge“ zu sprechen.147 4 b Εἴ τις δοκεῖ ἄλλος πεποιθέναι ἐν σαρκί, ἐγὼ μᾶλλον· 5 a περιτομῇ ὀκταήμερος, b ἐκ γένους Ἰσραήλ, φυλῆς Βενιαμίν, c Ἑβραῖος ἐξ Ἑβραίων, d κατὰ νόμον Φαρισαῖος, 6 e κατὰ ζῆλος διώκων τὴν ἐκκλησίαν, f κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος
144 Müller, Phil, 150, vgl. 146f: „Die Leser sollen das persönliche Geschick des Paulus auf sich beziehen und sich als solche verstehen, für die mit Christus alles anders geworden ist und der Gesetzesweg der Gegner als überholte, erledigte Sache erscheint.“ 145 Auch in Röm 9,1–5 spricht Paulus davon, was den Israeliten in besonderer Weise gegeben ist. Diese „Heilszuwendungen Gottes“ zeichnen Israel aus, sie stellen aber gerade nicht in Frage, dass das Gottesverhältnis für alle Menschen in Jesus Christus begründet ist. Vielmehr laufen die „Heilszuwendungen“ gerade darauf hinaus (s. dazu in Kapitel 7 dieser Arbeit, zu Röm 9,1–5). 146 So etwa Gnilka, Phil, 188. 147 So Betz, Paulus als Pharisäer, 55 (zitiert bei Müller, Phil, 148): „Paulus zählt zunächst das auf, was ihm von Gott gegeben wurde (V. 5), während die eigene Leistung in V. 6 gleichsam als Antwort auf Gottes zuvorkommende Gnade, als Bewährung der Erwählung … zu verstehen ist.“ Hier lässt sich ein Verständnis des Judentums als „Bundesnomismus“ (Sanders) herauslesen, mit dem das Missverständnis vermieden werden soll, dass die jüdische Existenz als eigene Leistung des Menschen zu verstehen wäre. Dann bietet sich der Begriff der „Leistung“ aber auch für das, was Betz als „Bewährung“ beschreibt, nicht an: Es geht darum, dass Paulus seine Verfolgertätigkeit und seinen „untadeligen“ Wandel nach dem Maßstab der Tora als Konsequenzen aus seiner ihm seit seiner Geburt vermittelten jüdischen Tradition versteht.
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b
Wenn irgendeiner meint, auf das Fleisch vertrauen (zu können), ich (kann es) umso mehr: am achten Tag beschnitten, aus dem Volk Israel, dem Stamm Benjamin, Hebräer von Hebräern, dem Gesetz nach ein Pharisäer, dem Eifer nach ein Verfolger der Gemeinde, der Gerechtigkeit im Gesetz nach untadelig.
Was Paulus hier beschreibt, entspricht der Sache nach dem, was er in Gal 1,13f geschildert hat, einschließlich der Erinnerung an die einstige Verfolgertätigkeit (Gal 1,13b; Phil 3,5e). Seine Zugehörigkeit zu den Pharisäern (d) und auch sein „Eifer“, mit dem er die christliche Gemeinde verfolgte (e), folgen für ihn konsequent aus der mit seiner Geburt grundgelegten jüdischen Lebensweise. Diese führte aus der Sicht des Paulus notwendig dazu, dass er die christliche Gemeinde verfolgte, weil diese aus jüdischer Perspektive das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in einer Weise bestimmt, die auf den schärfsten Widerspruch stoßen muss. Dabei nennt Paulus die entscheidende Größe, die aus jüdischer Perspektive das Verhältnis zu bestimmt: den νόμος. Im νόμος wird aus jüdischer Sicht erkennbar, was der Wille Gottes für den Menschen ist, und damit auch: wer Gott selbst für den Menschen ist. Das letzte Glied der Reihe (f) bringt die vor-christliche Selbsteinschätzung des Paulus auf den Punkt: κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος. Das Adjektiv ἄμεμπτος beschreibt dabei die Relation zu Gott.148 Die Aussage meint also, dass Paulus meinte, aus Gottes Sicht „untadelig“ zu sein, weil er dessen Willen ja in der Tora zu erkennen glaubte. Auch diese Bestimmung ist mit der Präposition ἐν formuliert, die hier den Maßstab angibt, von dem aus Paulus als „untadelig“ gelten konnte. An dem Gegenüber der Formulierungen in V. 5 und V. 9 lässt sich die Differenz zwischen der Sicht des Paulus vor und nach Damaskus sehr genau erkennen: V. 5: κατὰ δικαιοσύνην τὴν ἐν νόμῳ γενόμενος ἄμεμπτος V. 9: μὴ ἔχων ἐμὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ νόμου ἀλλὰ τὴν διὰ πίστεως Χριστοῦ In V. 5 spricht Paulus von seiner pharisäischen Sicht. Diese zeichnet sich gerade nicht durch „Werkgerechtigkeit“ aus, auch sie lebt von dem Wissen um die Angewiesenheit auf Gottes Güte.149 Aber sie beschreibt den Maßstab, den Paulus vor Damaskus hatte: Er war damals davon überzeugt, in einem intakten Gottesver-
148 Müller, Phil, 149, vgl. Lk 1,6; Gen 17,1 LXX. 149 So mit Recht Müller, ebd.
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hältnis zu stehen, das im Tora-Gehorsam seinen Ausdruck findet.150 Die Verse 7f beschreiben den Bruch, den die Damaskus-Begegnung für seine Existenz bedeutete: Weil Paulus erkannt hat, dass sein Gottesverhältnis durch Jesus Christus begründet wird, hat sich seine Sicht auf das Gesetz verändert. Es kann die Gottesgemeinschaft, die „Gerechtigkeit“ eines Menschen gerade nicht begründen. Deshalb liegt das „Problem“ für Paulus nicht in einer vermeintlichen „Werkgerechtigkeit“ des Judentums, sondern schlicht darin, dass die „Gerechtigkeit“ eben nicht im Gesetz gefunden werden kann, da sie in Christus liegt (vgl. Röm 9,30f). Problematisch wird der Umgang mit dem Gesetz dann, wenn ein Mensch im Gesetz das Leben sucht. Da die Gegner die Verpflichtung auf das Gesetz offensichtlich auf eine Stufe mit der Bindung an Christus stellen, eröffnen sie eine Alternative, die Paulus bereits überwunden hat. Man wird hier – ähnlich wie in Röm 9,2f – auch einen tiefen Schmerz mithören dürfen. Der Schmerz liegt in der Schilderung in Phil 3,8f darin, dass Paulus die Erfahrung gemacht hat, dass ihm das, was er für die Grundlage seiner Existenz gehalten hat, zerbrochen ist. Es ist nicht einfach Aggression gegen judaistische Gegner, die Paulus so reden lässt, sondern die eigene tiefgreifende Erfahrung, von der er gegenüber der von ihm so geliebten Gemeinde in Philippi Zeugnis gibt. Hier ist der „exemplarische“ Charakter der Äußerung einzuschränken: Als ehemalige Heiden haben die Philipper diesen Bruch jedenfalls nicht hinter sich. Sie sollen und müssen ihn aus der Sicht des Paulus aber auch nicht provozieren. „Exemplarisch“ ist das, was Paulus hier schreibt, also nicht in dem Sinne, dass die Philipper den Weg des Paulus in ihrer eigenen Existenz nachvollziehen sollen. Sie sollen allerdings grundsätzlich begreifen, dass nur in Christus eine Beziehung der Gottesnähe gestiftet wird, die Bestand hat. Von dieser Beziehung sollen sie sich nicht von etwaigen Forderungen von „Gegnern“ abbringen lassen. Der grundlegende Wandel bzw. Bruch wird in den Versen 7f mit dem Gegensatzpaar κέρδη – ζημία zur Sprache gebracht, der sich bis zu der scharfen und abwertenden Bezeichnung σκύβαλα in V. 8b steigert. Diese Wende geschah nach Phil 3,7b διὰ τὸν Χριστόν. Die knappe Formulierung ergänzt Paulus durch die Beschreibung der „überragenden Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn“ (V. 8a). Demnach hat Paulus vor Damaskus Jesus als seinen κύριος erkannt, den es zu „gewinnen“ gilt (V. 8b). Das heißt: Vor Damaskus hat Paulus
150 Die New Perspective hat also Recht damit, dass Paulus als Jude nicht mit dem Gesetz gerungen hat oder von Zweifeln geplagt wurde. In dieser Hinsicht kann er tatsächlich nicht mit Martin Luthers Situation in seiner Zeit vor dem „Turmerlebnis“ verglichen werden, in der er um den gnädigen Gott ringt und an seiner Willensforderung verzweifelt. Vgl. Luther, Vorrede zu Band I der lateinischen Schriften, 19f. S. dazu Kammler, Solus Christus, 9 mit Anm. 9. Dass Paulus sich in seiner Zeit als Pharisäer in einem intakten Gottesverhältnis stehen sah, belegt nicht nur Phil 3,6, sondern ebenso Gal 1,14. Auch an dieser Stelle sind die Schilderungen des Galater- und des Philipperbriefs untereinander konsistent.
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den gekreuzigten und auferstandenen Christus als den Träger des Gottesnamens erkannt,151 durch den er in der Beziehung zu Gott steht. Diese Grundeinsicht hat auch die Sicht auf das Gesetz verändert. So ist es nicht einfach eine negative Qualifikation des Judentums als einer „Religion der Werkgerechtigkeit“, die Paulus hier leitet. Es ist vielmehr eine grundsätzliche theologische Einsicht, die sein Denken verändert hat. Diese Einsicht wird aus der Sicht des Paulus unterlaufen, wenn man dem Gesetz die Funktion zugesteht, das Gottesverhältnis inhaltlich zu bestimmen. Das Gesetz ist für Paulus gerade das richtende Wort Gottes, es kann aber keine Beziehung stiften und auch keine Beziehung erhalten. In unserem Zusammenhang besonders bedeutsam ist V. 9: καὶ εὑρεθῶ ἐν αὐτῷ, … und als ein solcher befunden wurde, μὴ ἔχων ἐμὴν δικαιοσύνην der ich nicht meine Gerechtigkeit habe, τὴν ἐκ νόμου die aus dem Gesetz kommt, ἀλλὰ τὴν διὰ πίστεως Χριστοῦ, sondern die durch den Glauben an Christus (entsteht), τὴν ἐκ θεοῦ δικαιοσύνην die Gerechtigkeit, die von Gott herkommt ἐπὶ τῇ πίστει … im Glauben (an Christus). Am Anfang von V. 9 steht noch einmal die Präposition ἐν. Die Wendung ἐν αὐτῷ lässt sich im Zusammenhang sachlich als ein ἐν κυρίῳ beschreiben:152 als eine Existenz, die in der Bindung an Jesus besteht, weil sie in seiner Geschichte über das eigene Leben entschieden sieht. Sie besteht „im Glauben an Jesus“. Der „Glaube an Jesus“ bedeutet die „Gerechtigkeit aus Gott“, wie mit dem anaphorischen Artikel vor πίστις unterstrichen wird. Die in den Versen 9 und 10 entfaltete Teilhabe am Tod und an der Auferstehung Jesu Christi macht deutlich, was es für Paulus heißt, „in ihm“ zu leben: In der Gewissheit, dass die Beziehung zu Gott nicht mehr gefährdet werden kann und darum auch im Gefängnis und auch angesichts des Todes „im Herrn“ Anlass zur Freude ist: als Ausdruck der Gottesbegegnung, die über den Bestand eines Lebens entscheidet. Diese Begegnung ist Paulus vor Damaskus widerfahren. Er erinnert die Philipper daran, damit auch sie sich darauf besinnen, dass sie ihrem Gott in Jesus begegnen – und nirgendwo anders. Es geht in Phil 3,2–11 um viel mehr als um eine „Kampflehre“ zur Verteidigung der Heidenmission. Es geht um die Erinnerung an die Gottesbegegnung, von der die Glaubenden herkommen, mit denen Gott „das gute Werk angefangen“ hat (Phil 1,6). Wie ihnen durch die Predigt des Evangeliums, so ist dem Paulus in seiner Begegnung vor Damaskus Gott selbst neu begegnet. Diese Begegnung und das darin 151 Bird/Gupta, Philippians, 135 bezeichnen Phil 3,8 mit Recht als „an echo of Phil 2:11“, jedenfalls in dem Sinne, dass sich an beiden Stellen dasselbe Bekenntnis zu Jesus als dem Träger des heiligen Gottesnamens artikuliert. 152 So auch Portenhauser, Identität, 420.
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begründete Gottesverständnis prägen die Sicht auf den Menschen und damit auch auf das Gesetz. In dieser Hinsicht lässt sich eine particula veri bei Albert Schweitzer entdecken, der von der paulinischen Rechtfertigungslehre als einem „Nebenkrater“ gesprochen hatte. Schweitzer hatte erklärt: „Die Lehre von der Gerechtigkeit aus dem Glauben ist also ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo bildet.“153 Richtig daran ist, dass die Rechtfertigungsaussagen des Paulus ihren sachlichen Grund in der Begegnung mit Gott in Jesus Christus haben, die Schweitzer als „Christusmystik“ beschreibt. Um deutlich zu machen, dass diese Begegnung für Paulus aber auch inhaltlich beschreibbar ist, bietet sich der von Gerd Theißen vorgeschlagene Begriff einer „Begegnungsmystik“ bei Paulus an.154 Es ist die grundlegende Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus, die Paulus auch im Philipperbrief bestimmt. Freilich erklärt sich die Schärfe der Formulierungen in Phil 3,7ff auch aus der eigenen Erfahrung des Paulus. Für ihn ist deutlicher, als dies für andere Glaubende der Fall sein muss, dass zwischen Glaube an Christus und „Vertrauen auf das Fleisch“ eine Alternative besteht, um die es in der Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von Verpflichtung auf die Tora und Christusglaube geht. Diese Frage stellt sich speziell im Blick auf die Heidenchristen, weil diese bisher noch nicht beschnitten sind. Paulus hält es nicht für unvereinbar mit dem christlichen Glauben, nach jüdischen Traditionen zu leben (vgl. 1Kor 9,20). Seine Polemik setzt dort ein, wo die Verpflichtung auf das Gesetz die Bedeutung erhält, über das Gottesverhältnis zu entscheiden. Dann verdeckt das Gesetz – obwohl es von Gott stammt (Röm 7,12) – den Blick auf Gott selbst. Die Begegnung mit Jesus hat sein Gottesverständnis verändert. Paulus kann Gott nun nicht mehr unabhängig von Jesus Christus denken. Das ist die Essenz dieser Begegnung, von der das paulinische Denken bestimmt wird. Paulus versteht den Gott Israels neu und hält doch an seiner Identität fest: Es ist derselbe Gott, aber Paulus versteht ihn nun anders. Sein „altes“ System hatte es ihm unmöglich gemacht, sein Denken und Reden von Gott mit dem Anspruch, den die frühen Christen für Jesus stellten, zusammenzubringen. Die Begegnung mit Jesus überzeugte ihn von der Richtigkeit der vorher bekämpften Perspektive. Es ist deshalb gerade verständlich, dass Paulus sich als „Vermittler“ auch der frühchristlichen Tradition sieht, wie Frankemölle
153 Schweitzer, Mystik, 300. Die Rede von der Rechtfertigungslehre als „Nebenkrater“ erhält im Zuge der New Perspective freilich eine andere Wendung, wenn sie mit Stendahls These verbindet, sie habe lediglich die Funktion, die Heidenmission zu legitimieren. Zu berücksichtigen ist der christologische Grund der Rechtfertigungslehre, von dem die Aussagen über die Anthropologie und die Soteriologie abhängig sind. 154 Theissen, Mystik, 286.
Die Damaskus-Begegnung nach dem Philipperbrief: Phil 3,2–11
bemerkt (s. o.). Traditionsabhängigkeit und die grundsätzliche Bedeutung der persönlichen Christusbegegnung für die paulinische Theologie schließen einander nicht aus, sie gehören im Gegenteil gerade zusammen.
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Sechstes Kapitel: Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
1.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
Es ist deutlich geworden, dass die Christus-Begegnung des Paulus nicht nur sein Jesus-, sondern auch sein „Gottesbild“ geprägt hat. Die Frage nach der „Identität“ dieses Gottes mit dem Gott Israels ist in einer differenzierten Weise zu beantworten: Für Paulus ist diese Identität gegeben, für viele seiner jüdischen Geschwister hingegen ist das nicht der Fall. Die Frage nach der Identität Gottes ist demnach umstritten. Sie wird immer wieder im Modus der Auslegung von Texten aus der Heiligen Schrift Israels thematisiert. Es greift zu kurz, wenn man Paulus eine „Gewaltsamkeit“ der Auslegung der biblischen Texte attestiert, die durch seine „Polemik“ bedingt sei.1 Paulus bewegt sich vielmehr im Rahmen einer Schrifthermeneutik, die einerseits durchaus dem entspricht, was innerhalb der frühjüdischen Schriftauslegung denkbar ist, andererseits aber ganz von der Perspektive her bestimmt ist, die er vor Damaskus gewonnen hat. Die „Polemik“ des Paulus gründet darin, dass Paulus eine „neue Perspektive“ gewonnen hat,2 die auch sein Gottesverständnis betrifft. Es ist nun zu fragen, in welcher Weise die neue Perspektive des Paulus auch seinen Blick auf Gott als Schöpfer und das Thema der Schöpfung prägt. Diese Frage stellt sich in besonderer Weise im Blick auf die Äußerungen des Paulus im Kontext von 2Kor 4,6. Nicht wenige Ausleger gehen davon aus, dass Paulus auch an dieser Stelle von seiner Berufung und Bekehrung spricht,3 allerdings wird diese Annahme immer wieder bestritten.4 Für die Frage nach dem paulinischen Gottesverständnis ist die entsprechende Passage bereits deshalb von Interesse, weil Paulus hier deutlich erkennbar auf Schöpfungsmotivik Bezug nimmt und die Rede von Gott mit seinem Verkündigungsauftrag verbindet. Es sprechen allerdings einige Beobachtungen dafür, dass Paulus an dieser Stelle ganz konkret an seine Damaskus-Begegnung denkt. Paulus schreibt:
1 Gegen Fiedler, Antijudaismus, 271; Frankemölle, Frühjudentum, 280. 2 In diesem Sinne spricht Mark Seifrid von „the new perspective from Paul“ (Seifrid, New Perspective). 3 S. dazu die bei Schnelle, Paulus, 81 vorgetragenen Argumente sowie Dietzfelbinger, Berufung, 62–64; Schmeller, 2Kor I, 248; Wolff, 2Kor, 87. Auch Bornkamm, Paulus, 46; Lohse, Paulus, 63 nennen 2Kor 4,6 als Hinweis auf die Bekehrung des Paulus. Ebenso Jantsch, Gottesverständnis, 342. 4 So erklärt von Bendemann, Christusgemeinschaft, 307: „Die äußerst komplexe lichtmetaphorische Aussage in 2Kor 4,6 bezieht sich entgegen einer langen Auslegungstradition (in Kombination mit Apg 9) wahrscheinlich nicht auf die Bekehrung/Berufung des Paulus.“ Bereits Windisch, 2Kor, 140 mahnt „zur Vorsicht“ im Blick auf einen Bezug von 2Kor 4,6 auf die Damaskus-Begegnung des Paulus, weil der Apostel hier auf ein „typisches Erlebnis“ verweise.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
ὅτι ὁ θεὸς ὁ εἰπών· ἐκ σκότους φῶς λάμψει, ὃς ἔλαμψεν ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν πρὸς φωτισμὸν τῆς γνώσεως τῆς δόξης τοῦ θεοῦ ἐν προσώπῳ [Ἰησοῦ] Χριστοῦ.
Denn Gott, der sprach: „Aus der Finsternis leuchte Licht!“, der hat es Licht werden lassen in unseren Herzen zur Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht (Jesu) Christi.
Die erste Beobachtung, auf die im Zusammenhang der Frage, was genau Paulus bei dieser Schilderung im Blick hat, aufmerksam gemacht wird, besteht darin, dass hier in der ersten Person Plural geredet wird.5 Das ist im Abschnitt 2Kor 2,14–7,4 durchweg der Fall.6 Dieser Abschnitt erweckt den Eindruck einer inneren Geschlossenheit, die in der Forschung seit Johannes Weiß die These nach sich gezogen hat, dass hier ein eigenständiges Brieffragment vorliege.7 Da in 2Kor 2,12f und dann wieder in 7,5–7 von den Reiseplänen des Paulus und der Sendung seines Mitarbeiters Titus die Rede ist, sprach Weiß von „Rändern“ des Abschnitts 2,14–7,4, die „wie die Bruchstellen eines Rings“ zusammenpassten.8 Unabhängig von der in der neueren Forschung teilweise skeptisch beurteilten literarkritischen Erklärung9 handelt es sich in 2Kor 2,14–7,4 um einen in sich geschlossenen Abschnitt, den man als eine „Apologie des Apostelamtes“ bezeichnet hat.10 Die Rede in der ersten Person Plural hat gerade in diesem Kontext ihren Sinn, denn Paulus gebraucht diese Rede dann, wenn er von seinem Amt spricht.11 Näher am Text ist es allerdings, anstatt von der „Apologie des Apostelamtes“ von Ausführungen über den „Dienst
5 Die Frage nach dem „Wir“ bei Paulus begegnete bereits im Zusammenhang mit dem Ersten Thessalonicherbrief, s. dazu das Kapitel 2 dieser Arbeit. 6 Während Paulus in 2Kor 2,12f noch in der ersten Person Singular formuliert, wechselt er in 2,14 in die erste Person Plural. In 2Kor 7,5–7 wird zunächst weiterhin im Plural geredet, in V. 8 spricht Paulus dann aber in der ersten Person Singular von dem Brief, den er den Korinthern geschrieben hat. 7 Weiss, Urchristentum, 265, vgl. Schmeller, 2Kor I, 21f. Für diese These votiert etwa Grässer, 2Kor I, 102. Koch, Literarkritik, 44 sieht in 2Kor 2,14–6,13; 7,2–4 ein eigenständiges Schreiben – die „Apologie“ des Paulus – das er im Juni 54 datiert. Zu den literarkritischen Beobachtungen zum 2Kor s. jetzt auch Lang, Remarkable Proportions. 8 Weiss, ebd. 9 So bemerkt Schmeller, 2Kor I, 37: „2,14–7,4 ist eine Ausweitung der Thematik ins Grundsätzliche, die keine literarkritische Relevanz hat.“ Auch Wolff, 2Kor, 52 spricht sich gegen die Annahme von Teilungshypothesen an dieser Stelle aus. Grundsätzlich zur Entstehung von Teilungshypothesen zum Zweiten Korintherbrief Lindemann, Zum historischen Kontext. 10 Grässer, 2Kor I, 101–103; Koch, Literarkritik, 44 (s. o.), vgl. Barnett, Second Corinthians, 137 („Defense of the ministry of the new covenant“). Wolff, 2Kor, 50 überschreibt den Abschnitt mit „der wahre Aposteldienst“. 11 In diesem Sinne bemerkt Gese, Kol, 76 zu Kol 1,28, wo ebenfalls das „Wir“ gebraucht wird: „In den paulinischen Briefen wird zwischen ,ich‘ und ,wir‘ unterschieden, je nachdem, ob es sich um Aussagen über die Person des Paulus oder um Aussagen um seinen Dienst handelt.“ Diese
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
des Apostels“ zu sprechen.12 Das Stichwort διακονία verknüpft in 2Kor 4,1 den folgenden (4,1–6) mit dem vorausgehenden Abschnitt (3,4–18). Die Frage, wie sich die Ausführungen in 4,1–6 zu denjenigen von 3,4–18 verhalten, ist für unsere Fragestellung von besonderem Interesse, insbesondere deshalb, weil in beiden Abschnitten das für die Gottesfrage zentrale Stichwort der δόξα (3,7–11; 4,4.6) begegnet. Hier lässt sich noch einmal die Bandbreite beobachten, in der dieser Begriff verstanden werden kann. In 2Kor 4,1 spricht Paulus von „diesem Dienst“ (ἔχοντες τὴν διακονίαν ταύτην – „da wir diesen Dienst haben“) und bezieht sich damit auf die in 3,7–9 beschriebene διακονία zurück. Im Gesamtabschnitt 2,14–7,4 ist insbesondere in 5,11–21 explizit von dem „Dienst“ des Paulus die Rede (V. 18), der dort als διακονία τῆς καταλλαγῆς bezeichnet wird. Im Blick auf die Frage, worauf Paulus mit 2Kor 4,6 anspielt, ist zunächst auf den Zusammenhang zu achten, der in 4,1 zwischen der Partizipialwendung ἔχοντες τὴν διακονίαν ταύτην und der Fortführung mit καθὼς ἠλεήθημεν („da wir Barmherzigkeit erfahren haben“) besteht. Die Formulierung im Aorist weist bereits darauf hin, dass Paulus hier an ein punktuelles Ereignis denkt, zudem ist die passivische Formulierung als passivum divinum aufzufassen:13 Das Subjekt der Barmherzigkeit ist Gott. Dem entspricht die – ebenfalls im Aorist stehende – Formulierung in 2Kor 4,6, in dessen Kontext Gott nun direkt als Subjekt genannt wird: ὃς ἔλαμψεν ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν („…, der hat es Licht werden lassen in unseren Herzen“).14 Auffällig ist zudem, dass in 1Tim 1,12–17 bei der Erinnerung an die Berufung des Paulus mit demselben Verb, das nun allerdings im Singular steht, formuliert wird (ἠλεήθην, V. 13, ebenso in V. 16).15 Der Verfasser des Ersten Timotheusbriefs scheint an dieser Stelle auf verschiedene Passagen, an denen vom „Dienst“ bzw. von der Berufung des Paulus die Rede ist, Bezug zu nehmen,16 unter
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sprachliche Differenzierung weise darauf hin, „wie klar hier zwischen Amt und Person unterschieden“ wird. Diese Unterscheidung ist in der Tat zentral. So überschreibt Schmeller, 2Kor I, 148 den Abschnitt 2Kor 2,14–7,4. Das Stichwort διακονία begegnet im Zweiten Korintherbrief neben 2Kor 3,7–9 und 4,1 in 5,18; 6,3; 8,4; 9,1.12f und in 11,8. So mit Recht Wolff, 2Kor, 83, vgl. Schmeller, 2Kor I, 273. Schnelle, Paulus, 81 führt diese Beobachtung ebenfalls als Beleg dafür an, dass Paulus in 2Kor 4,6 an seine individuelle Berufung denkt. Vgl. allerdings 1Petr 2,9f, wo die entsprechenden Stichworte („Barmherzigkeit erfahren“, „von der Finsternis zum Licht“) als Beschreibung der Bekehrung der Glaubenden insgesamt gebraucht werden. Deutlich ist, dass sich an Paulus etwas ereignet hat, das einerseits individuell, in einem gewissen Sinn aber auch exemplarisch ist. Zur Formulierung θέμενος εἰς διακονίαν (1Tim 1,12b) vgl. die Formulierung in 2Kor 5,19b θέμενος ἐν ἡμῖν τὸν λόγον τῆς καταλλαγῆς, die parallel zu δόντος ἡμῖν τὴν διακονίαν τῆς καταλλαγῆς 5,18b steht. Die Verfolgertätigkeit wird in 1Tim 1,13 wie in 1Kor 15,9; Gal 1,13 und Phil 3,6 mit dem Wortfeld von διώκειν erinnert. Der Erste Timotheusbrief arbeitet dabei in besonderer Weise den paradigmatischen Charakter der Bekehrung des Paulus heraus (vgl. Oberlinner, 1Tim, 37).
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
ihnen befindet sich wohl auch 2Kor 4,1–6. So könnte 1Tim 1,13.16 der früheste Beleg für ein Verständnis von 2Kor 4,1–6 im Sinne der Bekehrung und Berufung des Paulus sein. Aber auch andere Stellen, an denen Paulus von seiner Berufung spricht, stehen 2Kor 4,6 inhaltlich nahe. Hier ist insbesondere an die beiden Belege aus dem Ersten Korintherbrief zu erinnern: In 1Kor 9,1 fragt Paulus: Οὐκ εἰμὶ ἐλεύθερος; οὐκ εἰμὶ ἀπόστολος; οὐχὶ Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἑόρακα; οὐ τὸ ἔργον μου ὑμεῖς ἐστε ἐν κυρίῳ; „Bin ich nicht frei? Bin ich nicht Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren
Herrn gesehen? Seid ihr nicht mein Werk im Herrn?“ Und in 1Kor 15,8 schließt er die Reihe der Auferstehungszeugen ab mit dem Satz: ἔσχατον δὲ πάντων ὡσπερεὶ τῷ ἐκτρώματι ὤφθη κἀμοί „Zuallerletzt, gleichsam als einer Fehlgeburt, erschien er auch mir.“ 17 In 1Kor 9,1 formuliert Paulus (in einer rhetorischen Frage), dass er „Jesus, unseren κύριος gesehen“ habe. Dem entspricht die Aussage in 2Kor 4,5, dass Paulus den gekreuzigten Christus als κύριος verkündigt, dessen „Diener“ er ist. Da mit der Bezeichnung Jesu als κύριος der heilige Gottesname auf Jesus bezogen wird, entspricht die Formulierung in 1Kor 9,1 zudem den Hinweisen in 4,4 über Jesus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (vgl. Kol 1,15) und über die Erkenntnis der δόξα ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ in 4,6. Alle drei Stellen lassen sich – wie auch Gal 1,16 – in dem Sinne verstehen, dass Paulus Jesus als Gottes Gegenwart begegnet ist. Dem entspricht in 1Kor 15,8, dass Jesus Subjekt des Offenbarungsterminus ὤφθη ist und die Begegnung mit dem Auferstandenen damit als Theophanie beschrieben wird. Im Kontext von 2Kor 4,6 reflektiert Paulus – ähnlich wie im Zusammenhang von 1Kor 1,18–2,16 – grundsätzlich über die Frage der Erkennbarkeit Gottes, und er beschreibt dabei einen genau bestimmbaren Inhalt jener Erkenntnis, die er selbst bei seiner Bekehrung gewonnen hat. Dass die Grenzen zwischen seiner individuellen Erfahrung und der allen Glaubenden gemeinsamen Erfahrung immer wieder „verschwimmen“, hat seinen sachlichen Grund darin, dass das Verkündigungsamt des Paulus unmittelbar mit dem Inhalt der Verkündigung verbunden ist, der im Glauben erschlossen wird. Schon am Beginn des Abschnitts 2Kor 2,14–7,4 lassen sich Hinweise entdecken, die auf das vorbereiten, was Paulus in 4,1–6 ausführt. So spricht er in 2,14 von „seiner Erkenntnis“, die durch den Dienst des Paulus „offenbart“ werde, wofür hier das Verb φανερόω gebraucht wird. Der Genitiv (… τῆς γνώσεως αὐτοῦ) ist als ein genitivus objectivus zu bestimmen, der den Inhalt des Erschließungsgeschehens beschreibt. Zu fragen ist, ob mit dem Personalpronomen die Erkenntnis Gottes oder die Erkenntnis Christi gemeint ist, da beide Größen im unmittelbaren Satzzusammenhang genannt werden. Die Frage lässt sich kaum entscheiden, beides hängt für Paulus unlöslich zusammen. Es ist derselbe Zusammenhang von Gottes-
17 Zur Übersetzung s. Wolff, 1Kor, 373f.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
und Christuserkenntnis, der sich auch in 4,6 beobachten lässt.18 Unmittelbar im Anschluss an die Aussage von 2,14 schließt sich in 2,15f der Hinweis auf die ambivalente Wirkung der Evangeliumsverkündigung an,19 wobei die Rede von den ἀπολλύμενοι an 1Kor 1,18 erinnert. Den damit aufgeworfenen Gedanken vertieft Paulus in 4,3f, wenn er die Frage zu beantworten versucht, weshalb der Inhalt des Evangeliums für manche Menschen verborgen bleibt. Auch zwischen 2,17 und 4,2b lässt sich eine Parallelität beobachten: An beiden Stellen macht Paulus deutlich, dass er sein Amt nicht aus Eigennutz ausübt, sondern das „Wort Gottes“ (ὁ λόγος τοῦ θεοῦ) zur Geltung bringt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb er in 4,1 den Hinweis auf seine Begegnung, in der ihm „Barmherzigkeit widerfahren“ ist, als Begründung für den „Dienst“, der ihm auferlegt ist, einführen kann:20 In dieser Begegnung ist ihm das „Wort Gottes“ anvertraut worden, seine Verkündigung bezieht sich deshalb immer wieder auf diese Begegnung zurück. Diese individuelle Begegnung verbindet Paulus auch im Kontext von 2Kor 2,14–4,6 mit der Begegnung, die die Glaubenden in Korinth durch die Verkündigung des Paulus gemacht haben. So weist er in 3,1 darauf hin, dass er keines Empfehlungsschreibens bedarf. Ein solcher „Brief “ sind nach 3,2 vielmehr die Glaubenden selbst, die mit dem „Geist des lebendigen Gottes“ als Brief geschrieben sind (3,3). Auf die Besonderheit der Gottesprädikation „lebendiger Gott“ sind wir bereits aufmerksam geworden:21 Der „lebendige Gott“ ist der schöpferisch handelnde Gott. Er handelt konkret darin, dass er Glaubende schafft. In 2Kor 3,1–3 liegt demnach erneut eine Argumentationsfigur vor, auf die im Zusammenhang von 1Thess 1,5; 1Kor 2,1–5 und Gal 3,2 hingewiesen wurde: Paulus verweist auf das Handeln Gottes an den Glaubenden. In dem Rekurs auf die eigene Erfahrung können sie nachvollziehen, was Paulus ihnen von seiner individuellen Begegnung her entwickelt. Der für 4,6 zentrale Begriff der δόξα begegnet auch im voraufgehenden Abschnitt 3,4–18, und zwar v. a. in 3,7–11, wobei hier eine Aufnahme von Ex 34 vorliegt. Hier spricht Paulus zunächst von der δόξα, die auf dem Angesicht des Mose zu sehen ist (3,7), in 3,18 dann aber von der δόξα κυρίου, die für die Glaubenden offenbar ist. An dieser Stelle unterstreicht Paulus mit den Wendung ἡμεῖς πάντες ausdrücklich, dass nun die Erkenntnis aller Glaubenden gemeint ist.22 Dabei ist auch von der
18 So richtig Schmeller, 2Kor I, 161. Klein, 2Kor, 62 spricht „von der Erkenntnis Gottes, als die Erkenntnis seiner Tat in Jesus Christus.“ Die Metapher des „Duftes“ (ὀσμή) bringe dabei „die Gegenwart Gottes“ zum Ausdruck. Ausführlich zu dieser Metapher Guthrie, 2 Corinthians, 165–170. 19 ὅτι Χριστοῦ εὐωδία ἐσμὲν τῷ θεῷ ἐν τοῖς σῳζομένοις καὶ ἐν τοῖς ἀπολλυμένοις, οἷς μὲν ὀσμὴ ἐκ θανάτου εἰς θάνατον, οἷς δὲ ὀσμὴ ἐκ ζωῆς εἰς ζωήν.
20 Zur begründenden Bedeutung von καθώς als satzeinleitende Konjunktion s. BDR § 453,2. Kausal übersetzen etwa Grässer, 2Kor I, 233; Wolff, 2Kor, 82. 21 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit. 22 Vgl. Theissen, Mystik, 270.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
Verwandlung der Glaubenden ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν die Rede. Wie in 1Kor 2,7f gibt es hier also einen Zusammenhang zwischen der „Herrlichkeit Gottes“ und der „Herrlichkeit“ der Glaubenden. Wie sich die Rede von der δόξα auf dem Angesicht Jesu Christi (2Kor 4,6) zu der δόξα auf dem Angesicht des Mose (3,7) verhält, gilt es zu klären. Die Argumentation in 2Kor 4,1–6 schreitet in drei Schritten voran: Zunächst erläutert Paulus, worin sein „Dienst“ besteht (V. 1+2), dann führt er aus, weshalb er trotz allem auch auf Unglauben stößt (V. 3+4). Daraus ergibt sich schließlich die Beschreibung des Inhaltes seiner Verkündigung (V. 5+6). Während die ersten beiden Abschnitte hier knapp zu skizzieren sind, soll dem letzten Schritt der Argumentation unsere besondere Aufmerksamkeit gelten. 1.1
Der Dienst des Apostels (2Kor 4,1f)
1 a Διὰ τοῦτο,
Deshalb, weil wir diesen Dienst haben, b καθὼς ἠλεήθημεν, οὐκ ἐγκακοῦμεν da23 wir Barmherzigkeit erfahren ha2 a ἀλλ’ ἀπειπάμεθα τὰ κρυπτὰ τῆς αἰ- ben, werden wir nicht müde, sonσχύνης, dern sagen uns von den verborgenen Schändlichkeiten los, wandeln nicht μὴ περιπατοῦντες ἐν πανουργίᾳ in Verschlagenheit umher und verfälb μηδὲ δολοῦντες τὸν λόγον τοῦ θεοῦ schen auch nicht das Wort Gottes, sonἀλλὰ τῇ φανερώσει τῆς ἀληθείας dern stellen uns selbst zur Offenbaσυνιστάνοντες ἑαυτοὺς rung der Wahrheit zur Verfügung, c πρὸς πᾶσαν συνείδησιν ἀνθρώπων einem jeden Gewissen der Menschen ἐνώπιον τοῦ θεοῦ. vor Gott. ἔχοντες τὴν διακονίαν ταύτην
Auf die Parallelität der beiden Zeilen in V. 1 ist bereits hingewiesen worden: In der Erfahrung der „Barmherzigkeit“ Gottes ist Paulus ein „Dienst“ auferlegt worden. Die zweite Beobachtung besteht in der antithetischen Entsprechung in V. 2b: Aus ihr geht hervor, dass das „Wort Gottes“ (ὁ λόγος τοῦ θεοῦ), dem sich Paulus verpflichtet weiß, mit der „Wahrheit“ (ἡ ἀλήθεια), die Paulus in seinem Dienst „offenbar macht“ (nominal mit dem Wort φανέρωσις ausgedrückt), identisch ist:24 Diese „Wahrheit“, so wird im Zusammenhang deutlich werden, besteht in eben jener Erkenntnis, die Paulus im Folgenden, v. a. auch in V. 6 beschreibt. Analog zur Argumentation in
23 Zur kausalen Übersetzung s. o. mit Anm. 20. 24 Vgl. Wolff, 2Kor, 84: „ἀλήθεια ist der Inhalt des Evangeliums als des ,Wortes Gottes’, vgl. V. 3; Gal 2,5.14; 5,7; auch Kol. 1,5; die Offenbarung, die Paulus bringt, ist das wahre Evangelium.“ Ähnlich Collins, Second Corinthians, 91. Auch die Formulierung in 2Kor 6,7 ist zu vergleichen, wo Paulus das Evangelium als λόγος ἀληθείας bezeichnet. Seifrid, Second Corinthians, 193f plädiert für ein weiteres Verständnis von „Wahrheit“.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
Gal 1,1.11–23 erhebt Paulus den Anspruch, dass ihm der Inhalt des Evangeliums von Gott offenbart worden ist. Darum ist Gott auch das „Forum“, vor dem sich seine Verkündigungstätigkeit vollzieht. Indem Paulus die Dimension der Gegenwart Gottes (ἐνώπιον τοῦ θεοῦ) ausdrücklich erwähnt, stellt er sich unter das Urteil Gottes, gibt aber auch seiner Überzeugung Ausdruck, dass Gott gegenwärtig ist und das Geschehen in Korinth begleitet. Wenn Paulus von Gottes Schöpfungshandeln spricht, dann geht er dabei von seinem gegenwärtigen Handeln an Paulus selbst und an den Glaubenden aus. 1.2
Die Verschlossenheit der „Verlorenen“ (2Kor 4,3f)
In 2Kor 4,3 bezeichnet Paulus das Evangelium als „unser Evangelium“ (τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν). Das Possessivpronomen bezeichnet diejenigen, denen das Evangelium anvertraut ist, und der Plural macht einmal mehr deutlich, dass Paulus im Evangelium nicht seinen eigenen „Besitz“ ansieht, sondern in ihm eine Aufgabe sieht, die er im Verbund mit seinen Mitarbeitern erfüllt. Dass das Evangelium Gottes Wort ist, hat Paulus unmittelbar vorher (V. 2) gesagt. Diese Feststellung ist für die Argumentation des Paulus wichtig. Paulus kann so deutlich machen, dass die Ablehnung seiner Botschaft nicht an der Botschaft selbst liegt, sondern daran, dass einige daran gehindert werden, das Evangelium als Gottes Wort und als Wahrheit zu erkennen. Wie in 1Kor 1,18 und in 2Kor 2,15 spricht Paulus in 4,3 von den „Verlorenen“: Die Erkenntnis des Evangeliums ist demnach soteriologisch qualifiziert. In V. 4 erörtert Paulus nun aber, wie es zur Verschlossenheit für das Evangelium kommt: Er begründet dies theologisch mit dem Verweis auf den θεὸς τοῦ αἰῶνος τούτου. Diese Bezeichnung ist bei Paulus singulär, ist aber der Bezeichnung des Johannesevangeliums für den Teufel als ἄρχων τοῦ κόσμου (Joh 12,31; 14,30; 16,11) vergleichbar.25 Paulus sieht den Teufel bzw. den Satan als eine Macht an, die konkret die Ausbreitung des Evangeliums verhindert (1Thess 2,18, vgl. 3,5). Wenn er ihn mit der Genitivwendung τοῦ αἰῶνος τούτου dem „gegenwärtigen Zeitalter“ zuweist, dann macht Paulus deutlich, dass es um die Wirksamkeit dieser Macht in der Gegenwart geht, die aber bereits als vergängliche qualifiziert und damit auch relativiert wird.26 Wenn Paulus diese Macht in 2Kor 4,4 aber als θεός bezeichnet, dann macht er deutlich, dass der Teufel in der Gegenwart die Funktion Gottes einnimmt. George H. Guthrie erklärt mit Recht: „In calling Satan a ,god‘, the apostle does not ascribe divine status to the evil one, but rather speaks of the functional status given him and the subordination of the fallen world to him.“27 Es ist derselbe funktionale
25 Guthrie, 2 Corinthians, 240; Schmeller, 2Kor I, 242; Wolff, 2Kor, 85. 26 Vgl. Grässer, 2Kor I, 152. 27 Guthrie, 2 Corinthians, 240.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
Gottesbegriff, den wir bereits in 1Kor 8,5 beobachten konnten.28 Insofern hat diese Bezeichnung aber bereits eine erhellende Funktion für das Gottesverständnis des Paulus. Der „Gott dieses Zeitalters“ hat, wie Thomas Schmeller formuliert, „sein Gegenbild in dem Gott, der das Licht erschaffen hat und die Erkenntnis Christi aufleuchten lässt (V. 6)“.29 Präziser wäre es m. E. allerdings, umgekehrt zu formulieren: Der „Gott dieses Zeitalters“ ist als Gegenbild des wahren Gottes zu verstehen, er ist die „Parodie“ des wahren Gottes.30 Diese antithetische Entsprechung wird bei einer Gegenüberstellung von 2Kor 4,4 und 4,6 erkennbar:31 V. 4 V. 6 A ὁ θεὸς τοῦ αἰῶνος τούτου A‘ ὁ θεὸς ὁ εἰπών· ἐκ σκότους φῶς λάμψει,
B ἐτύφλωσεν τὰ νοήματα τῶν ἀπίστων B‘ C εἰς τὸ μὴ αὐγάσαι τὸν φωτισμὸν C‘ D τοῦ εὐαγγελίου D‘ τῆς δόξης τοῦ Χριστοῦ,
E ὅς ἐστιν εἰκὼν τοῦ θεοῦ
ὃς ἔλαμψεν ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν πρὸς φωτισμὸν τῆς γνώσεως τῆς δόξης τοῦ θεοῦ
E‘
ἐν προσώπῳ [Ἰησοῦ] Χριστοῦ
Der Gegenbegriff zu dem „Gott dieses Zeitalters“ ist nach Zeile A der Gott, „der sprach: ,Aus Finsternis leuchte Licht hervor!‘“. Paulus zitiert nicht einfach Gen 1,3,32 aber er spielt deutlich erkennbar darauf an. Der wahre Gott ist für ihn der SchöpferGott, von dem der biblische Schöpfungsbericht redet. Er findet ihn in der Heiligen Schrift bezeugt, aber sein Handeln wird von Paulus ganz konkret erfahren: Während die Außenstehenden „ungläubig“ (ἄπιστοι) bleiben, weil sie „nicht sehen“,33 lässt es der Schöpfer-Gott „hell werden in unseren Herzen“. Mit der καρδία ist das Personzentrum des Menschen angesprochen, das in der biblischen Tradition auch Erkenntnisorgan ist.34 An dieser Stelle ist genau auf die Aussage des Paulus zu
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S. dazu oben in Kapitel 4 dieser Arbeit. Schmeller, 2Kor I, 242. Auch zum Begriff der „Parodie“ verweise ich noch einmal auf Kapitel 4. Auf diese antithetische Entsprechung macht auch Guthrie, 2 Corinthians, 243 aufmerksam, vgl. Schmeller, 2Kor I, 242. 32 S. dazu unten. 33 Das Verb αὐγάζειν kommt nur an dieser Stelle im Neuen Testament vor. Es kann „aufstrahlen“ oder „sehen“ bedeuten. Da es hier intransitiv verwendet wird (es fehlt ein Objekt), kommt nur die Bedeutung „sehen“ in Frage, vgl. Kittel, αὐγάζω, 505, der auf die Parallelität zu ἀτενίζειν in 2Kor 3,13 aufmerksam macht: „damit die Israeliten (die vergehende Herrlichkeit) nicht sehen“; Wolff, 2Kor, 86. 34 Zum alttestamentlichen Hintergrund s. Stolz, ֵלב862f. Aus dem Neuen Testament vgl. bei Paulus Röm 1,21 (negativ); 2,15; 6,17; 10,8f; 1Kor 2,9, vgl. Eph 1,18; 3,17 sowie Lk 24,32. Zu 2Kor 3,15 s. u.: Mit dem Motiv der „Decke auf ihren Herzen“ wird ja gerade die Verschlossenheit für eine bestimmte Erkenntnis beschrieben.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
achten: Der Schöpfer-Gott erweist sich darin als lebendige Wirklichkeit, dass er es in den Herzen „hell werden“ lässt. Paulus erfährt den Schöpfergott darin, dass dieser Glaubende schafft. Gottes Schöpfungshandeln bezieht sich auf den Menschen – und nicht etwa auf Jesus Christus (s. dazu unten). In 2Kor 4,6 ist demnach nicht davon die Rede, dass Jesus einen neuen Status erhält, sondern dass ein Mensch von Gott selbst zur Erkenntnis gebracht wird, wer Jesus ist. Das wird in den Zeilen C–E verdeutlicht: Wie „der Gott dieses Zeitalters“ die „Erleuchtung“ verhindert, so wird sie durch den Schöpfer-Gott gerade eröffnet (C). Bemerkenswert ist, was in Zeile D gesagt wird: Die Verhinderung des Aufleuchtens der δόξα τοῦ Χριστοῦ entspricht antithetisch der Erkenntnis der δόξα τοῦ θεοῦ. Damit ist deutlich: In der Erkenntnis der δόξα τοῦ Χριστοῦ kommt es zur Erkenntnis der δόξα τοῦ θεοῦ – zur Erkenntnis Gottes selbst. Wir haben hier eine Entsprechung zu der Gottesprädikation ὁ κύριος τῆς δόξης in 1Kor 2,8. Und schließlich ist auf die Entsprechung der beiden Elemente in Zeile E zu achten: Der Bezeichnung Christi als εἰκὼν τοῦ θεοῦ entspricht die Formulierung ἐν προσώπῳ [Ἰησοῦ] Χριστοῦ. Auf beide Formulierungen ist noch näher einzugehen. Hier lässt sich zunächst eine deutliche Nähe der Aussage von 2Kor 4,6 zu Gal 1,16 notieren.35 Gal 1,15+16 2Kor 4,6 Ὅτε δὲ εὐδόκησεν ὁ θεὸς
ὅτι ὁ θεὸς ὁ εἰπών· ἐκ σκότους φῶς λάμ-
ὁ ἀφορίσας με ἐκ κοιλίας μητρός μου
ψει, ὃς ἔλαμψεν ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν
καὶ καλέσας διὰ τῆς χάριτος αὐτοῦ
πρὸς φωτισμὸν τῆς γνώσεως
ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί,
τῆς δόξης τοῦ θεοῦ
ἵνα εὐαγγελίζωμαι αὐτὸν
ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ.
ἐν τοῖς ἔθνεσιν
In beiden Fällen ist Gott das Subjekt, Jesus Christus der Gegenstand und der Mensch Paulus der Adressat der Offenbarung. Wie Paulus Jesus nach Gal 1,16 als Gottes „Sohn“ offenbart bekommt, so erschließt der Schöpfer-Gott ihm nach 2Kor 4,6 „die Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi“.36 Was Paulus erkennt, ist, dass Jesus Christus nicht auf die Seite des Geschöpfs, sondern auf die Seite des Schöpfers gehört. Schöpfungserkenntnis kann es deshalb für ihn nicht mehr an der Christus-Erkenntnis vorbei geben, so wie es Gottes-Erkenntnis nicht ohne ChristusErkenntnis – aber auch umgekehrt! – gibt.37 Ganz konkret wird Gott, der Schöpfer, in seinem Handeln am Menschen erkannt: in seinem Eintreten „für ihn“ (Gal 3,13) und darin, dass ein Mensch im Glauben zu sehen beginnt (2Kor 4,6). Was Paulus
35 Auf diese Nähe macht etwa auch Broer, Erscheinung, 87 aufmerksam. 36 Zur Übersetzung von ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ s. u. 37 Seifrid, Second Letter to the Corinthians, 198 erklärt mit Recht zu 2Kor 4,4: „If it is true to say that, after Paul, one cannot speak of Christ without speaking of God, it is truer to say that one cannot speak of God without speaking of Christ.“
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
vor Damaskus erkannt hat, ist die Tatsache, dass in Jesus Gott selbst da ist. Von dieser Erkenntnis ausgehend muss völlig neu über den Kreuzestod und auch über die Funktion des Gesetzes nachgedacht werden. Diese grundsätzliche Erkenntnis vollzieht aber auch jeder nach, der zum Glauben kommt und das Wort, das Jesus Christus zum Inhalt hat, als Wort Gottes hört. Diese Erkenntnis der Person Jesu Christi ist der Inhalt des Evangeliums, dem Paulus in seinem „Dienst“ verpflichtet ist. Der Inhalt dieser Erkenntnis verdeutlicht Paulus durch die letzte Entsprechung in Zeile E zwischen Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ und der Erkenntnis der δόξα τοῦ θεοῦ ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ. Nimmt man diese Entsprechung ernst, dann erläutern sich die beiden Formulierungen gegenseitig. Dazu ist zunächst ein Blick auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der εἰκὼν τοῦ θεοῦ-Vorstellung zu werfen, die in der paulinischen Tradition sonst nur noch im Kolosserhymnus (Kol 1,15) vorkommt.38 1.3
Zum Hintergrund der Bezeichnung εἰκὼν τοῦ θεοῦ in 2Kor 4,4
Zwei mögliche traditionsgeschichtliche Hintergründe sind hier zu diskutieren: zum einen die Weisheitstheologie mit der Vorstellung von der σοφία als εἰκὼν τοῦ θεοῦ, wie sie in SapSal 7,26 begegnet, zum anderen die Frage, ob und inwiefern eine Verbindung mit der Vorstellung von der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen nach Gen 1,26f gesehen werden kann. Beide Vorstellungen sind traditionsgeschichtlich miteinander verbunden,39 sie sind aber doch voneinander zu unterscheiden.40 1.3.1 Zur Weisheitstheologie
Auf die Frage nach der Anknüpfung an weisheitstheologische Vorstellungen ist bereits eingegangen worden.41 Zu 2Kor 4,4 wird auf die motivische Berührung
38 Einige Ausleger (vgl. Schmeller, 2Kor I, 235) wollen in 2Kor 4,4 deshalb ein „hymnisches Element“ erkennen. Dazu besteht allerdings kein Anlass. Es könnte eher umgekehrt gesagt werden, dass in den Hymnus Kol 1,15–20 ein „dogmatisches Element“ aufgenommen worden ist, durch das im Hymnus der zentrale Inhalt des christlichen Glaubens zur Sprache gebracht wird. 39 Nach SapSal 9,1–3 kommt es durch die Anteilgabe an der göttlichen Weisheit zur Realisierung der „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen, insofern dieser seinen Herrschaftsauftrag nun erfüllen kann (SapSal 9,4–12), indem er Gottes Willen erkennen kann (9,13–18), vgl. SapSal 10,1–4. Entscheidend ist, dass die Gabe der Weisheit eine begründende Funktion hat: Mit ihr gibt Gott Anteil an sich selbst. Der Mensch ist nicht von sich aus Gottes „Ebenbild“, sondern nur insofern er den ihm von Gott gegebenen Auftrag erfüllt und auf diese Weise Gott in seiner Schöpfung indirekt erfahrbar werden lässt. 40 Schmeller, 2Kor I, 245 verbindet die beiden Vorstellungen miteinander (s. dazu unten). 41 S. dazu oben in Kapitel 4 dieser Arbeit.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
zur σοφία in SapSal 7,26 hingewiesen.42 Wir hatten gesehen, dass die Entwicklung der Weisheitsmotivik von Anfang an mit der Frage nach der Gegenwart Gottes in der Schöpfung verbunden ist. Das lässt sich auch in der Sapientia Salomonis beobachten. In SapSal 7,17 heißt es, dass dem Salomo durch die Gabe des „Geistes der Weisheit“ (πνεῦμα σοφίας, V. 6) „untrügliche Erkenntnis dessen, was ist“ (τῶν ὄντων γνῶσις ἀψευδῆ), gegeben worden sei, nämlich „zu erkennen den Aufbau der Welt und die Wirkkraft der Elemente“ (εἰδέναι σύστασιν κόσμου καὶ ἐνέργειαν στοιχείων). Die Weisheit, so lässt sich formulieren, vermittelt demnach die Kenntnis davon, „was die Welt im Innersten zusammen hält“, ihr Strukturprinzip und damit auch ihre grundlegenden Elemente, nach denen sie „funktioniert“. Hans Hübner sieht hier die stoische Frage nach den Grundelementen der Welt aufgenommen.43 Diese Kenntnis der Struktur der Welt zielt darauf, ein entsprechendes Handeln des Menschen in seiner Welt zu ermöglichen: ein Handeln, das der Struktur der Wirklichkeit entspricht und ihm deshalb gerecht wird. In SapSal 7,26 wird nun der Begriff der ἐνέργεια aufgenommen. In der Weisheit spiegelt sich die „Wirkkraft Gottes“, mit der er in der Welt wirkt. In diesem Sinne ist die Weisheit „ein Bild seines Gutseins“ (εἰκὼν τῆς ἀγαθότητος αὐτοῦ), d. h. in ihr wird der gute Schöpfungswille Gottes sichtbar. Besonders interessant für unseren Zusammenhang aber ist die Tatsache, dass im unmittelbaren Kontext auch die Licht-Metaphorik und der Begriff der δόξα begegnet. In SapSal 7,25f heißt es: ἀτμὶς γάρ ἐστιν τῆς τοῦ θεοῦ δυνάμεως Denn sie ist ein Hauch der Macht Gottes καὶ ἀπόρροια und ein klares Ausströmen τῆς τοῦ παντοκράτορος δόξης εἰλικρι- der Herrlichkeit des Allherrschers, νής· διὰ τοῦτο οὐδὲν μεμιαμμένον deshalb dringt nichts Unreines εἰς αὐτὴν παρεμπίπτει in sie ein. ἀπαύγασμα γάρ ἐστιν φωτὸς ἀιδίου Denn sie ist Widerschein des ewigen καὶ ἔσοπτρον ἀκηλίδωτον Lichts und ein fleckenloser Spiegel τῆς τοῦ θεοῦ ἐνεργείας der Wirkkraft Gottes καὶ εἰκὼν τῆς ἀγαθότητος αὐτοῦ und ein Bild seines Gutseins. In der Weisheit spiegelt sich demnach das Wesen Gottes selbst wieder. Das Offenbarwerden der göttlichen δόξα zielt auf das Leben der Geschöpfe. Mit dem „ewigen Licht“ ist metaphorisch der göttliche Wille zum Leben gemeint, der sich in der Erschaffung des Lichts (Gen 1,3) ausspricht. In SapSal 7 geht es um die Offenbarungsfunktion der Weisheit, wobei an dieser Stelle eher von einer „Personifizierung“ als von „der Weisheit als Person“ zu sprechen wäre. Das Motiv erfährt eine deutlich andere Akzentuierung, wenn es in 2Kor 4,4 auf eine menschliche Person bezogen
42 So etwa bei Collins, Second Corinthians, 92; Schmeller, 2Kor I, 245; Wolff, 2Kor, 86. 43 Hübner, Weisheit Salomons, 100.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
wird. Denn dieser schöpferische Lebenswille, der Gottes Wesen entspricht, wird nach 2Kor 4,4 in Jesus Christus erkennbar. In ihm begegnet der Schöpfergott inmitten der Welt, nicht an ihrem Anfang und an ihren Grenzen, sondern in einer konkreten Begegnung, von der Paulus in 2Kor 4,4–6 redet. Diese Begegnung vollzieht sich präzise in seinem Zum-Glauben-Kommen, das die Erkenntnis enthält, dass die δόξα τοῦ θεοῦ, Gottes Wesen, das seinen Willen zum Leben impliziert, in der Person Jesus Christus erscheint. In 2Kor 4,7–15 führt Paulus aus, wie sich die Anteilhabe an dem in Christus begegnenden Schöpfergott vollzieht: Sie ist Teilhabe an seinem Sterben und an seinem durch die Auferstehung in der Überwindung des Todes neu gewonnenen Leben (2Kor 4,10). Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ lässt sich deshalb nicht auf den Aspekt des Todes oder der Auferstehung Jesu reduzieren.44 Sie gibt vielmehr dem gesamten Christusgeschehen seine Bedeutung. So ist die Struktur der Wirklichkeit auch für Paulus vom Schöpfergott bestimmt, ohne dass Christus dadurch zum „Prinzip“ der Welt erklärt wird. Die Wirklichkeit der Schöpfung wird nur durch den Geist einsichtig, und sie ist durch das Christusgeschehen geprägt. In diesem Sinne ist Jesus Christus für Paulus εἰκὼν τοῦ θεοῦ. In ihm wird sichtbar, wie Gott Leben schafft und wie es deshalb zu verstehen ist, dass er der „Schöpfer“ ist. 1.3.2 Zur Frage der „Gottebenbildlichkeit“
In seiner Untersuchung zum Motiv der Imago Dei hat Jacob Jervell das Motiv der εἰκὼν τοῦ θεοῦ in 2Kor 4,4 im Zusammenhang mit der in Gen 1,26f beschriebenen „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen gedeutet.45 Es wäre dann Ausdruck einer „Adam-Christologie“, nach der Jesus Christus als die Verwirklichung des „gottebenbildlichen Menschen“ angesehen wird.46 Zur Beurteilung dieser These ist zunächst der Kontext von Gen 1,26f zu betrachten: Die Erschaffung des Menschen „nach unserem (sc. Gottes) Bild und unserer Ähnlichkeit“ (κατ᾽ εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ᾽ ὁμοίωσιν), die Gen 1,26 LXX in den Blick fasst und die Gen 1,27 LXX erzählt (καὶ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον, κατ᾽ εἰκόνα θεοῦ ἐποίησεν αὐτόν), ist unlöslich mit dem „Herrschaftsauftrag“ verbunden, genauso wie dies auch in Ps 8,6 der Fall ist. Neben den Stellen Gen 5,1 und 9,6, die sich auf Gen 1,26f zurückbeziehen, sind dies die einzigen beiden Stellen, an denen das Motiv der „Gottebenbildlichkeit“ im Alten Testament vorkommt. Dieser Befund steht im Kontrast zu der reichen Wir-
44 Es geht deshalb an der Sache vorbei, wenn betont wird, dass nur der Auferstandene „Bild Gottes“ sei, wie dies bei Jervell, Imago Dei, 214 geschieht. Im Auferstandenen wird vielmehr sichtbar, wer die Person Jesus Christus ist: die Gegenwart Gottes in der Welt. 45 Jervell, Imago Dei, 174f, vgl. Vollenweider, Ebenbild Gottes, 57f. 46 S. dazu Dunn, Christology, 106f; Vollenweider, aaO., 57, Anm. 14.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
kungsgeschichte, die das Bild in der christlichen Tradition entfaltet hat.47 Samuel Vollenweider, der sich Jervells Interpretation anschließt, bemerkt selbst, dass die „Perspektive von Gen 1,26 … kontextuell recht eindeutig auf die Herrschaft über die Mitgeschöpfe, also gleichsam nach unten, ausgerichtet (vgl. Ps 8,6–9)“ ist.48 Hier konstatiert er einen entscheidenden Unterschied zu den neutestamentlichen Aussagen über die „Gottebenbildlichkeit“, in denen es „primär um die Gottesbeziehung, um die Teilhabe an göttlicher Herrlichkeit“ gehe.49 In diesem Sinne versteht Vollenweider auch 2Kor 4,4.6, indem er die Verse im Zusammenhang mit 2Kor 3,18 interpretiert. Die hier ausgesagte Verwandlung ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν verbindet er mit 2Kor 4,4.6 und erklärt: „Die Erleuchtung in den Herzen als Akt der neuen Schöpfung, worin Gottes Glanz vom Angesicht Christi her aufstrahlt (4,6), scheint weitgehend zusammenzufallen mit der geistgewirkten Spiegelschau der Herrlichkeit des Herrn mit ihrer Verwandlung der Glaubenden in das Ebenbild Gottes (3,18).“50
Im Anschluss an Jervells Interpretation von 2Kor 4,4 vor dem Hintergrund von Gen 1,26f lehnt Vollenweider deshalb ein Verständnis des Motivs der εἰκὼν τοῦ θεοῦ vor dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Weisheitstheologie, das oben im Anschluss an SapSal 7,26 besprochen wurde, ab.51 Vollenweider muss deshalb auch abweisen, dass sich das Motiv Kol 1,15 im Sinne von 2Kor 4,4 interpretieren lasse. Denn in Kol 1,15 ist der weisheitstheologische Hintergrund unstrittig.52 Es dürfte sich hier um eine Aufnahme von 2Kor 4,4 durch den Verfasser des Kolosserbriefs handeln. Wie aber ist der Zusammenhang zwischen 2Kor 3,18 und 2Kor 4,4.6 genau zu bestimmen? Vollenweider erklärt: „Die Eikon scheint die Doxa zu reflektieren, sie wird zum Spiegel, welcher das göttliche Licht in die Welt hineinstrahlt. Die Glaubenden werden ihrerseits zu Spiegeln für das Strahlen der göttlichen Herrlichkeit. Sie gewinnen Anteil an derjenigen Doxa, von der Christus umspielt ist.“53
47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Vollenweider, Ebenbild Gottes, 55. Ebd. Ebd. Vollenweider nennt Jak 3,9; 1Kor 11,7; 2Kor 4,4. AaO., 57. AaO., 58, Anm. 16, vgl. Jervell, Imago Dei, 173–176. Vollenweider, ebd, s. dazu die Hinweise zu Kol 1,15 aaO., 62f. AaO., 61.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
Offensichtlich besteht auch an dieser Stelle – wie bereits in 1Kor 2,7+854 – ein Begründungszusammenhang zwischen der δόξα τοῦ θεοῦ (2Kor 4,6), die Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (4,4) eignet, und der δόξα, in die hinein die Glaubenden verwandelt werden. Weil in Jesus Christus Gott selbst gegenwärtig ist, kommt es in der Begegnung mit ihm zur Begegnung mit Gott, die einen Menschen verwandelt. Ist damit aber die Vorstellung von Jesus Christus als dem „gottebenbildlichen Menschen“ verbunden? Das Motiv der δόξα τοῦ θεοῦ ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ wird von einigen Auslegern in einen direkten Zusammenhang mit dem Motiv der δόξα gebracht, die nach 2Kor 3,7 auf dem Angesicht des Mose erscheint. So erklärt Thomas Schmeller zu 2Kor 4,4: „Die für das Ende erwartete Wiederherstellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit des Menschen ist in Christus bereits Wirklichkeit.“55 Im Anschluss daran kommentiert er: „Die Manifestation göttlichen Glanzes auf dem Gesicht des Mose (3,7) wird hier überboten, denn das Gesicht Christi ist nicht verhüllt und der Glanz nicht vergänglich.“56 Die beschriebenen Interpretationen fordern eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Kontexte, in denen von der δόξα geredet wird. Traditionsgeschichtlich liegt ein Zusammenhang zwischen 2Kor 4,4 und SapSal 7,26 sehr viel näher als ein direkter Bezug zu Gen 1,26f. Um dies erläutern zu können, ist der Zusammenhang zwischen 2Kor 4,1–6 und 2Kor 3,4–18 näher zu betrachten. 1.4
Die δόξα auf dem Angesicht des Mose (2Kor 3,7; Ex 34,29f.35)
Wie bereits angesprochen, verdankt sich das Motiv der δόξα auf dem Gesicht des Mose in 2Kor 3,7 der von Paulus in 2Kor 3,4–18 vorgenommenen Interpretation der Erzählung Ex 34,29–35.57 Um die Funktion und die Bedeutung, die diese Erzählung und das in ihr enthaltene Motiv für Paulus gewinnt, zu erläutern, ist der Kontext zu beachten, in dem Paulus die Erzählung aufgreift. Dazu seien die Verse 2Kor 3,7–11 zitiert, wobei die den Text bestimmenden Oppositionen markiert sind:
54 S. dazu das Kapitel 3 dieser Arbeit. 55 Schmeller, 2Kor I, 245. 56 AaO., 249. Ebenso Grässer, 2Kor I, 158: „Anders als das Antlitz des Mose ist das des Christus bleibender ,Ort‘ der schöpferischen Gegenwart Gottes“, bereits Windisch, 2Kor, 140: „… uns leuchtet die Herrlichkeit Gottes ohne Hülle und ohne Aufhören auf dem Angesicht Christi entgegen“. Auch Wolff, 2Kor, 67f stellt einen direkten Zusammenhang zwischen 2Kor 3,7 und 4,6 her, wenn er erklärt: „Denn wie Mose einst von der Herrlichkeit Gottes am Sinai erfaßt wurde, so strahlte die Herrlichkeit Gottes bei der Erscheinung des Auferstandenen – bleibend – im Herzen des Apostels auf (4,6)“. 57 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit. S. zudem Jantsch, Gottesverständnis, 323f.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
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Εἰ δὲ ἡ διακονία τοῦ θανάτου ἐν γράμμασιν ἐντετυπωμένη λίθοις ἐγενήθη ἐν δόξῃ, ὥστε μὴ δύνασθαι ἀτενίσαι τοὺς υἱοὺς Ἰσραὴλ εἰς τὸ πρόσωπον Μωϋσέως διὰ τὴν δόξαν τοῦ προσώπου αὐτοῦ τὴν καταργουμένην,
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πῶς οὐχὶ μᾶλλον ἡ διακονία τοῦ πνεύματος ἔσται ἐν δόξῃ; εἰ γὰρ τῇ διακονίᾳ τῆς κατακρίσεως δόξα, πολλῷ μᾶλλον περισσεύει ἡ διακονία τῆς δικαιοσύνης δόξῃ.
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καὶ γὰρ οὐ δεδόξασται τὸ δεδοξασμένον ἐν τούτῳ τῷ μέρει εἵνεκεν τῆς ὑπερβαλλούσης δόξης.
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εἰ γὰρ τὸ καταργούμενον διὰ δόξης, πολλῷ μᾶλλον τὸ μένον ἐν δόξῃ.
Wenn aber der Dienst des Todes, der mit Buchstaben in Steine eingemeißelt war, in Herrlichkeit geschah, so dass die Israeliten nicht in das Angesicht des Mose schauen konnten wegen des Glanzes seines Angesichts, der vergänglich war, wie sollte da nicht noch mehr der Dienst des Geistes in Herrlichkeit sein? Denn wenn schon der Dienst der Verurteilung Herrlichkeit ist, um wieviel mehr ist der Dienst der Gerechtigkeit überreich Herrlichkeit? Denn das Verherrlichte ist in diesem Fall nicht verherrlicht in Anbetracht der unermesslichen Herrlichkeit. Denn wenn das Vergängliche durch Herrlichkeit (ausgezeichnet) war, um wieviel mehr (ist dann) das Bleibende durch Herrlichkeit (ausgezeichnet)? 58
In 2Kor 3,7 kommt Paulus deshalb auf die Mose-Erzählung zu sprechen, weil er mit ihr den in V. 6 eingeführten Gegensatz zwischen der διαθήκη γράμματος und der διαθήκη πνεύματος erläutern möchte. Dem entspricht die in den Versen 7 und 8 formulierte Gegenüberstellung der διακονία τοῦ θανάτου und der διακονία πνεύματος und der in V. 9 formulierten Opposition zwischen der διακονία τῆς κατακρίσεως und der διακονία τῆς δικαιοσύνης.59 Es ist eben jene διακονία, von der Paulus dann auch in 4,1 redet. Es ist sein Dienst, von dem Paulus hier spricht. In 2Kor 3,4ff beschreibt er den Charakter dieses Dienstes, bevor er in 2Kor 4,1–6 erläutert, wie er diesen Dienst anvertraut bekommen hat. Die Auslegung, die Paulus von Ex 34,29–35 gibt, ist ganz von seiner Sicht auf die Tora bestimmt, die sich durch die Christus-Begegnung verändert hat. Nur so ist es verständlich, dass Paulus den „Dienst“, der „mit Buchstaben in Steine eingemeißelt“ ist, d. h. sich auf die darin eingeschriebenen Worte – das Gesetz vom Sinai – bezieht, als διακονία τοῦ θανάτου bezeichnen kann. Mit dieser Wendung wird etwas über die Wirkung der Tora gesagt, die sie für den Menschen hat: Der Dienst des Mose als Vermittler der Tora ist διακονία τῆς κατακρίσεως, d. h. Mose
58 Zur Übersetzung Wolff, 2Kor, 62f. 59 Zur Bedeutung der antithetischen Begriffspaare für das Verständnis von 2Kor 3,4–18 s. Hofius, Gesetz und Evangelium, 75f.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
richtet das richtend verurteilende Wort aus. Diesem Urteil sind die Glaubenden durch Christus aber gerade entnommen (Röm 8,1). In 2Kor 3,7 begründet Paulus, dass auch die διακονία τοῦ θανάτου ἐν δόξῃ – „in Herrlichkeit“ besteht. Gemeint ist damit: Das durch Mose vermittelte Gesetz stammt von Gott selbst. Es ist Gottes Wort und hat deshalb an seiner δόξα Anteil. Das begründet Paulus mit einer Anspielung auf Ex 34,30, wo es heißt (in der Fassung der Septuaginta): καὶ εἶδεν Ααρων καὶ πάντες οἱ πρεσβύτεροι Ισραηλ τὸν Μωυσῆν καὶ ἦν δεδοξασμένη ἡ ὄψις τοῦ χρώματος τοῦ προσώπου αὐτοῦ, καὶ ἐφοβήθησαν ἐγγίσαι αὐτοῦ.
Aaron aber und alle Ältesten Israels sahen Mose und die äußere Erscheinung der Farbe seines Angesichtes war glänzend, und sie fürchteten sich davor, sich ihm zu nähern.
Die äußere Erscheinung des Angesichts des Mose spiegelt seine Begegnung mit dem heiligen Gott wider. Denn in Ex 34,29b war gesagt worden: δεδόξασται ἡ ὄψις τοῦ χρώματος τοῦ προσώπου αὐτοῦ ἐν τῷ λαλεῖν αὐτὸν αὐτῷ. Durch das direkte Reden Moses mit Gott hat sein Gesicht einen „Glanz“ angenommen, der als Widerschein des „Lichtglanzes“ Gottes verstanden werden kann, auch wenn in Ex 34,29–35 nicht explizit von der δόξα τοῦ θεοῦ die Rede ist. Aaron und die Ältesten nehmen den „Lichtglanz“ und seine Bedeutung jedenfalls wahr, denn ihr „Erschrecken“ vor Mose ist als ein Erschrecken vor dem Heiligen zu verstehen. Es ist die direkte Konfrontation mit dem heiligen Gott, die die Israeliten nicht ertragen können.60 Mose vermittelt ihnen die Begegnung mit dem Heiligen Gott, indem er ihnen „alles gebot, was κύριος ihm auf dem Berg Sinai gesagt hatte“ (V. 32). Hier wird auch deutlich, weshalb Paulus auf diese Erzählung rekurriert. Sie bringt in besonderer Weise zur Sprache, wie ungewöhnlich und besonders es ist, dass Gott direkt mit Mose spricht. Es ist eine Erzählung, die von einer direkten Gottesbegegnung spricht. Darauf kommt es Paulus an. Für Paulus ist diese durch Mose – und also durch die Tora vom Sinai – vermittelte Begegnung mit Gott ein Dienst, der zum Tod führt. Mose vermittelt Gottes richtendes Wort, sein Todesurteil über den Menschen, der sein Gesetz nicht tun kann. Diese Sicht trägt Paulus seinerseits an den alttestamentlichen Text heran. Sie ist bereits von seiner grundstürzenden Erkenntnis von „Damaskus“ her bestimmt, von der aus er eine neue Sicht auf die Funktion des Gesetzes entwickeln musste. Paulus
60 Auch Philo kennt die Auslegung, dass die Israeliten den Lichtglanz Gottes auf dem Gesicht des Mose nicht lange anschauen konnten: Philo Mos. II 70 (Jantsch, Gottesverständnis, 324; Wolff, 2Kor, 67). Die rabbinische Überlieferung führt dieses Unvermögen der Israeliten auf die Versündigung mit dem Goldenen Kalb zurück, SNu 5,3 § 1 (Billerbeck III, 515f).
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
hält fest: Das Gesetz ist Gottes Wort (vgl. Röm 7,12). Aber es führt nicht zum Leben, sondern zum Tod. Darum ist der „Dienst“ des Mose eine διακονία τοῦ θανάτου. Mit dem Motiv der δόξα τοῦ προσώπου αὐτοῦ (sc. Μωϋσέως) unterstreicht Paulus in 2Kor 3,7 die Heiligkeit der Tora. Er deutet das Motiv in 2Kor 3,13 aber noch weiter aus, indem er das Motiv der „Decke“ auf dem Angesicht des Mose als ein Hinweis auf das „Vergehen“ der δόξα auf dem Gesicht des Mose deutet. Damit sagt Paulus: Die durch Mose vermittelte Gottesbegegnung – die Tora vom Sinai – ist nicht von ewiger Dauer. Die Tora ist nicht das einzige und sie ist vor allem nicht das letzte Wort über den Menschen. Dieses letzte Wort über den Menschen enthält nach der Auffassung des Paulus das Evangelium, das er verkündet und dessen Wahrheit Gott selbst durch seinen Geist erschließt. Darum ist sein Dienst eine διακονία πνεύματος. In V. 11 hält Paulus diese Gegenüberstellung fest: die – durch Mose repräsentierte Tora und die in ihr liegende „Setzung“ (διαθήκη)61 – ist „das Vergehende“ (τὸ καταργούμενον). In den Versen 7b und 13, in denen Paulus auf den „vergehenden“ Glanz auf dem Gesicht des Mose zu sprechen kommt, verwendet er nicht zufällig dasselbe Wort (καταργέω),62 das im alttestamentlichen Text – wie überhaupt das Motiv des „vergehenden Lichtglanzes“ auf dem Gesicht des Mose – bemerkenswerte Weise gar nicht vorkommt. Es begegnet aber bei Paulus häufiger im Zusammenhang mit der Frage nach Gesetz und Verheißung, und zwar an solchen Stellen, an denen Paulus von der Außerkraftsetzung spricht.63 Die Formulierung in 2Kor 3,7b mit καταργέω im Blick auf den Glanz auf dem Gesicht des Mose ist ungewöhnlich. Sie ist offensichtlich ganz von der Aussageabsicht des Apostels her geprägt: Ihm geht es darum, der endenden Wirksamkeit der Tora als Gottes richtendem und tötendem Wort die bleibende Wirksamkeit des Evangeliums als Gottes endgültigem und zum Leben führenden Wort gegenüberzustellen. 2Kor 3,11 formuliert in einem Schluss a minore ad maius, dass es sich bei beiden genannten Größen um Gottes Wort handelt.64 Wenn es in V. 11b heißt, dass „das Bleibende“ umso mehr „in Herrlichkeit“ bestehe, dann ist damit das Evangelium gemeint, dem Paulus verpflichtet ist. Das Evangelium unterscheidet sich vom Gesetz nicht dadurch, dass nur jenes Gottes Wort wäre, das lässt sich im Blick auf beide Worte sagen. Es unterscheidet sich vielmehr dadurch, dass das Evangelium Gottes definitives Wort über den Menschen ist. Das Wort, das bleibt. Darum kann von der διακονία τοῦ πνεύματος gesagt werden, dass sie erst recht ἐν δόξῃ besteht, d. h. an Gottes Wirklichkeit teilhat. Was hier gesagt wird, das wird im Blick auf das Evangelium und den sich auf dieses beziehenden „Dienst“ gesagt. Weder 2Kor 3,8 61 In dieser „Setzung“ ist die Gottesbeziehung begründet, aus der heraus die Menschen in der damit begründeten „Ordnung“ leben. 62 Das Verb hat die Grundbedeutung „außer Wirksamkeit setzen“, „außer Geltung setzen“, „entkräften“. 63 Röm 3,31; 7,6; Gal 3,17; 5,4, vgl. Eph 2,15. 64 Hofius, Gesetz und Evangelium, 108.
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noch 3,11 sind deshalb bereits „christologisch“ zu interpretieren.65 In 2Kor 3,4–18 werden nicht Mose und Christus einander gegenübergestellt, sondern Mose und Paulus und damit verbunden: Gesetz und Evangelium.66 So wie Mose dem Gesetz „dient“ und es repräsentiert, so „dient“ Paulus dem Evangelium und repräsentiert es in diesem Sinne. Von hier aus sind die den Abschnitt abschließenden Verse 17 und 18 zu verstehen. Wir hatten bereits gesehen, dass V. 16 wohl ganz bewusst das Verb ἐπιστρέφειν verwendet, das in 1Thess 1,9 die „Zuwendung“ zu Gott bezeichnet. Paulus deutet die „Zuwendung zu Gott“ (und das damit verbundene Abnehmen der „Decke“) auf die Zuwendung zum κύριος (Jesus), die durch den Geist geschieht.67 In 3,18 beschreibt Paulus, was mit dieser „Zuwendung“ geschieht: ἡμεῖς δὲ πάντες Wir alle aber, ἀνακεκαλυμμένῳ προσώπῳ die wir mit aufgedecktem Angesicht τὴν δόξαν κυρίου κατοπτριζόμενοι die Herrlichkeit des Herrn wie in einem τὴν αὐτὴν εἰκόνα μεταμορφούμεθα Spiegel schauen, werden in dasselbe Bild ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichκαθάπερ ἀπὸ κυρίου πνεύματος. keit, wie vom Geist des Herrn. Insbesondere die Übersetzung der letzten Zeile („wie vom Geist des Herrn“) bedarf der Erläuterung. Die wörtliche Wiedergabe „wie vom Herrn des Geistes her“68 erscheint unvermittelt und führt teilweise zu recht gewundenen Auslegungen.69 An dieser Stelle liegt offensichtlich – wie etwa auch in 1Kor 1,17 und Röm 9,31 – die rhetorische Figur der Hypallage vor, auf die bereits hingewiesen wurde.70 Hervorgehoben wird damit, dass es der Geist des κύριος ist, durch den die beschriebene „Verwandlung“ geschieht. Damit wird auf V. 17b Bezug genommen, wo vom πνεῦμα κυρίου die Rede war. Zweierlei wird in 2Kor 3,18 gesagt: Erstens, dass die Glaubenden „mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn beschauen“. Sie sehen also die δόξα κυρίου, anders als diejenigen, die Mose folgen, und „auf deren Herzen“ deshalb „eine Decke“ liegt (V. 15). Es geht hier nicht um
65 So aber Wolff, 2Kor, 68, der darin den Widerschein der δόξα Jesu Christi ausgesagt sehen möchte – analog zu der (vergehenden) δόξα auf dem Angesicht des Mose. Es geht hier aber darum, dass beide „Verfügungen“ – Gesetz und Evangelium – von Gott stammen. Der Begriff der δόξα wird von Paulus in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. 66 Das unterstreicht Hofius, Gesetz und Evangelium, 78. 67 S. dazu oben Kapitel 2. 68 So übersetzt etwa Wolff, 2Kor, 69. 69 Das zeigt sich etwa bei Friedrich, Kor, 273f. Friedrich übersetzt zunächst (recht frei): „ … wie es vom Herrn aus geschieht, der im Geist wirkt“ (aaO., 273), spricht dann aber bei der Erklärung der Stelle vom „Herrn des Geistes“, als der Christus hier bezeichnet wäre (aaO., 276). Offensichtlich merkt Friedrich an dieser Stelle, was mit der Formulierung der Sache nach gemeint sein muss. Vgl. auch die entsprechenden Überlegungen bei Wolff, 2Kor, 78. 70 S. dazu oben in Kapitel 3 mit Anm. 42.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
einen Vergleich zwischen Mose und Christus, sondern um den Vergleich zwischen der „verdeckten“ und der „aufgedeckten“ Perspektive auf Gott. Wichtig ist Paulus, dass in der Zuwendung zu Jesus, die im Geist geschieht, das Wesen Gottes, Gott selbst, von den Glaubenden erkannt wird. Sie erkennen, wer Gott für sie ist und damit auch: wer Gott in sich selbst ist. Mit dieser inhaltlichen Erkenntnis der Glaubenden ist das zweite verbunden. Sie werden „in dasselbe Bild verwandelt“.71 Dass sie in „dasselbe Bild“ verwandelt werden, bedeutet nicht einfach, dass sie selbst die δόξα κυρίου erlangen und damit göttlich werden. Es meint vielmehr, dass sie in die in 3,17 beschriebene „Freiheit“ geführt und damit neu geschaffen werden als solche, die vom Tod befreit sind. In diesem Sinne wird Paulus in 5,17 von den Glaubenden als καινὴ κτίσις sprechen. Die Begegnung mit dem κύριος bewirkt demnach, dass sie durch seine „Herrlichkeit“ zu ihrer „Herrlichkeit“ verwandelt werden: ἀπὸ δόξης εἰς δόξαν. Sie werden neu geschaffen, in das „Bild“, das das Evangelium von ihnen hat: als Geschöpfe Gottes, die nicht mehr das richtende Wort Gottes trifft, sondern sein lebendig machendes Wort, das Evangelium. Von einer solchen, „in Christus“ geschehenden Verwandlung spricht Paulus auch an anderen Stellen. Hier wäre etwa an Gal 4,19 zu denken.72 Auch dort ist deutlich, dass Paulus daran denkt, dass die glaubende Existenz ganz von dem Urteil her bestimmt ist, das ihr vom Christusgeschehen aus gilt und die Glaubenden deshalb dem Urteil der Tora keine bleibende Geltung mehr zuerkennen. Darin besteht die „Verwandlung“: dass die „Freiheit“ – nämlich von Gesetz und Tod (vgl. Röm 8,2) – erlangt wird. Paulus hat so in 2Kor 3,4–18 beschrieben, was das Evangelium ist und wie es sich zur Tora verhält, dann aber auch, was es an den Glaubenden wirkt: In 2Kor 3,18 lässt sich eine inclusio zu 2Kor 3,3 beobachten, da Paulus an beiden Stellen von der Verwandlung der Glaubenden durch das Evangelium spricht, in dem Gott selbst zu ihnen spricht und mit seinem Geist an ihnen wirkt. Mit 2Kor 4,1 leitet Paulus nun einen zweiten Schritt seiner Argumentation ein. Mit διὰ τοῦτο nimmt er das zum Evangelium Gesagte auf73 und erinnert nun daran, wie ihm dieses Evangelium gegeben wurde. Er begründet demnach die in 2Kor 3,18
71 Zur Übersetzung s. BDR § 159,4 mit Anm. 4. 72 Hier formuliert Paulus: „Meine Kinder, um die ich wieder Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt gewinne“ (τέκνα μου, οὓς πάλιν ὠδίνω μέχρις οὗ μορφωθῇ Χριστὸς ἐν ὑμῖν). Mit den „Geburtswehen“ verweist Paulus auf seinen Verkündigungsdienst an den Glaubenden, durch die sie bereits „neu geboren“ wurden. Er fürchtet, sie könnten hinter diesen Neubeginn zurückfallen, in dem ihre Existenz durch die Christusgemeinschaft neu begründet wurde. Das bedeutet: Indem sie zum Glauben kommen, gewinnt Christus Gestalt in ihnen, ihr Bild wird verwandelt, weil es nun ganz vom Christusgeschehen her bestimmt ist, vgl. Röm 8,29f; Gal 2,20; 1Kor 15,51–57, vgl. Phil 3,10. 73 Jantsch, Gottesverständnis, 337.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
gegebene Beschreibung dessen, was mit den Glaubenden geschieht, mit der Begegnung, die ihm selbst widerfahren ist. Zwischen beiden Ereignissen gibt es eine Strukturanalogie: Was Paulus vor Damaskus erkannt hat, das erkennt auf seine und ihre Weise jeder und jede, der oder die durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben kommt: Die in 3,18 genannte δόξα κύριου meint offensichtlich dasselbe wie die in 2Kor 4,4 genannte δόξα τοῦ Χριστοῦ. Dass Jesus εἰκὼν τοῦ θεοῦ ist (2Kor 4,4), bedeutet, dass in ihm Gott selbst sichtbar wird.74 Diese Aussage ist die Grundlage für das, was in den Versen 5 und 6 gesagt wird. In 2Kor 4,4 spricht Paulus nicht von der „Gottebenbildlichkeit“ Christi, sondern von seiner „Gottheit“, davon, dass in ihm der Schöpfer selbst begegnet. 2Kor 3,7 (Mose) und 4,6 (Christus) liegen – auch wenn die Formulierungen einander nahe zu stehen scheinen – auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Während in 2Kor 3,7 vom „Glanz auf dem Gesicht des Mose“ geredet wird – in der beschriebenen Aufnahme der alttestamentlichen Erzählung –, entfaltet 2Kor 4,6 das, was mit 2Kor 4,4 angedeutet worden war, wenn Christus dort als εἰκὼν τοῦ θεοῦ bezeichnet und von der δόξα τοῦ Χριστοῦ geredet wird. Das Wort πρόσωπον hat in 2Kor 3,7 und in 4,6 unterschiedliche Bedeutungen. Deshalb dürfen 2Kor 3,7 und 4,6 nicht miteinander vermischt werden, wie dies in der Auslegung immer wieder geschieht. Das wird deutlich werden, wenn wir die Verse 5 und 6 im Zusammenhang betrachten. 1.5
Jesus Christus als Gottes rettende Gegenwart (2Kor 4,5f)
Zwischen den parallel zueinanderstehenden Versen 2Kor 4,4 und 4,6 weist Paulus in 2Kor 4,5 auf den Inhalt seiner Verkündigung hin, den er dichtgedrängt, aber präzise beschreibt. In 2Kor 4,5+6 heißt es: 5 Οὐ γὰρ ἑαυτοὺς κηρύσσομεν ἀλλ’ Ἰησοῦν Χριστὸν κύριον, ἑαυτοὺς δὲ δούλους ὑμῶν διὰ Ἰησοῦν. 6 ὅτι ὁ θεὸς ὁ εἰπών· ἐκ σκότους φῶς λάμψει, ὃς ἔλαμψεν ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν πρὸς φωτισμὸν τῆς γνώσεως τῆς δόξης τοῦ θεοῦ ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ.
74 Vgl. aaO., 338 und die Bemerkung: „Dabei ist zu bedenken, dass εἰκών das Abbild einer Sache meint, in dem die Sache selbst in Erscheinung tritt.“
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
5 Denn wir verkündigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus als κύριος, uns aber als eure Knechte um Jesu willen. 6 Denn Gott, der sprach: „Aus der Finsternis leuchte Licht!“, der hat es Licht werden lassen in unseren Herzen zur Erleuchtung der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi. Mit der Konjunktion γάρ schließt Paulus die Aussage begründend an das Vorangehende an. Möglicherweise steht hinter der negativen Formulierung („wir verkündigen nicht uns selbst“) ein entsprechender Vorwurf, der der Unterstellung, „das Wort Gottes zu verfälschen“ (V. 2) entsprechen würde.75 Vielleicht attestiert Paulus aber auch seinen Gegnern, dass sie „sich selbst zum Gegenstand der Verkündigung“ machen.76 Der begründende Anschluss in V. 5 an das Vorangehende macht deutlich, worin Paulus die Ablehnung seiner Botschaft begründet sieht: Er redet eben von jener δόξα, für die der Satan den Nicht-Glaubenden die Sinne verblendet hat. Der Anstoß erregende Inhalt seiner Evangeliumsverkündigung ist, dass Paulus Jesus als κύριος verkündigt. Paulus macht Jesus als Träger des heiligen Gottesnamens bekannt.77 Dass an dieser Stelle mit κύριος auf den Gottesnamen verwiesen wird, ergibt sich unmittelbar aus dem Kontext, wo von der δόξα τοῦ Χριστοῦ die Rede war (4,4), es wird dann aber auch durch die Erklärung in V. 6 sichtbar. In dieser dicht gedrängten Formulierung erinnert Paulus an das Grundbekenntnis des christlichen Glaubens, wie es in 1Kor 12,3, Röm 10,9 und in Phil 2,11 zur Sprache kommt. Auch die genannten drei Stellen lassen erkennen, dass Paulus sehr reflektiert von dem Bekenntnis zu Jesus als κύριος spricht. In 1Kor 12,3 erklärt der Apostel, dass die Aussage „Herr ist Jesus“ (κύριος Ἰησοῦς) nur „im heiligen Geist“ (ἐν πνεύματι ἁγίῳ) gemacht werden könne. Vom Wirken des Geistes war im Kontext von 2Kor 4,5 in 3,17f die Rede gewesen: Es ist demnach der „Geist des Herrn“ (τὸ πνεῦμα κυρίου), der die unverstellte Perspektive auf den Gotteswillen eröffnet. Röm 10,9 und Phil 2,11 liegen sachlich nahe beieinander: In beiden Fällen wird deutlich, dass das Bekenntnis zu Jesus als κύριος die Anerkenntnis des Heilshandelns Gottes durch ihn bedeutet. Insofern kommt in diesem Bekenntnis Gott selbst zur Geltung. In 2Kor 4,5 unterstreicht Paulus, dass er διὰ Ἰησοῦν für die Gemeinde
75 So Schmeller, 2Kor I, 246. 76 So Wolff, 2Kor, 86. Vgl. auch das „sich selbst Empfehlen“ in 2Kor 3,1; 12,10. 77 Es muss an dieser Stelle nicht angenommen werden, dass die Gegner des Paulus das Bekenntnis zu Jesus theoretisch bestreiten. Vielmehr geht es um die faktische Einsicht in die Bedeutung dieses Bekenntnisses, das nämlich jeden „Selbstruhm“ ausschließt (vgl. 1Kor 1,31; 2Kor 10,17) und auch jede Begründung auf eine menschliche Autorität (vgl. 1Kor 1,13; 2Kor 10,18).
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
die Funktion eines „Dieners“ hat: Seine Aufgabe besteht darin, die Jesus-ChristusGeschichte als Heilshandeln Gottes an den Glaubenden zu vermitteln. Die sachliche Begründung dafür, dass diese Geschichte Heilshandeln Gottes ist, gibt der in V. 6 positiv beschriebene Inhalt der Erkenntnis, die Paulus vor Damaskus erschlossen worden ist. Die begründende Funktion von V. 6 wird durch das kausal zu übersetzende ὅτι markiert. Hier spielt Paulus nun auf Gen 1,3 an. Ein Vergleich mit der Septuagintafassung der Stelle zeigt, dass Paulus hier auch den Kontext mit in Erinnerung ruft: Gen 1,3 LXX 2Kor 4,6a καὶ εἶπεν ὁ θεός ὁ θεὸς ὁ εἰπών· Γενηθήτω φῶς. ἐκ σκότους φῶς λάμψει, ὃς ἔλαμψεν ... καὶ ἐγένετο φῶς
Aufmerksam zu machen ist auf die gegenüber Gen 1,3 veränderten Formulierungen: In Gen 1,3 LXX ist ὁ θεός das Subjekt des Redens. Er ist in Gen 1,1 als der Schöpfer des Himmels und der Erde eingeführt worden. In 2Kor 4,6a wird daran erinnert und Gott mit dem in Gen 1,3 genannten Gott identifiziert: Der Gott, der Paulus begegnet ist, ist der, der am Anfang das Licht geschaffen hat. Über Gen 1,3 hinaus ist in 2Kor 4,6a davon die Rede, dass Gott „aus der Finsternis“ (ἐκ σκότους) heraus Licht hervorleuchten lässt. Der damit gezeichnete Gegensatz von Licht und Finsternis ist dem Erzählkontext von Gen 1,3 entnommen (V. 2b; 4b; 5a).78 Die Formulierung φῶς λάμψει steht anstelle der Wendung γενηθήτω φῶς in Gen 1,3 LXX. George H. Guthrie macht darauf aufmerksam, dass sich diese Formulierung ansonsten nur noch in Jes 9,1 LXX findet.79 Es ist nicht nötig, aufgrund dieser möglichen Anspielung auf Jes 9,1 LXX einen Bezug auf Gen 1,3 gänzlich zu bestreiten.80 Vielmehr blendet Paulus beide Textpassagen übereinander.81 Die Pointe besteht darin, dass Paulus das Schöpfungshandeln Gottes als Leben schaffendes und damit rettendes Handeln am Menschen versteht.82 So führt Paulus in 2Kor 4,6a das Verb λάμπειν ein und bereitet damit die Beschreibung des Handelns Gottes „in unseren Herzen“ in 4,6b vor, die mit demselben Verb gegeben wird. Während es in V. 6a im
78 Seifrid, Second Letter to the Corinthians, 201; Wolff, 2Kor, 88. 79 Guthrie, 2 Corinthians, 244. Jes 9,1 LXX: ὁ λαὸς ὁ πορευόμενος ἐν σκότει, ἴδετε φῶς μέγα· οἱ κατοικοῦντες ἐν χώρᾳ καὶ σκιᾷ θανάτου, φῶς λάμψει ἐφ᾽ ὑμᾶς.
80 So etwa Collange, Enigmes, 138f (s. dazu Wolff, 2Kor, 88). 81 Collins, Second Corinthians, 94 erklärt zutreffend: „Paul’s nonliteral citation echoes both Scriptures.“ 82 Seifrid, Second Letter to the Corinthians, 201 macht auf weitere Texte aus dem Jesajabuch und den Psalmen aufmerksam und erläutert: „In the book of Isaiah and the Psalms, in an act of creation, Yaweh crushes Rahab or the heads of Leviathan in order to subdue the chaotic forces in the sea. These passages of Scripture present creation as an act of salvation, just as Paul does here.“
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
Futur steht83 , steht es in V. 6b im Aorist. Was Gott Gen 1,3 zufolge befiehlt, das ist demnach in einem punktuellen Ereignis in der Vergangenheit eingetreten: in der Begegnung des Paulus mit Gottes Sohn (Gal 1,16). Auch wenn Paulus bereits vor seiner Bekehrung von Gott wusste, und auch wenn er ihn natürlich bereits damals als den Schöpfer der Welt verstanden hatte, so hat er doch jetzt erst – in dieser Begegnung – die δόξα τοῦ θεοῦ erkannt: die Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung durch sein schöpferisches Handeln. Von der Begegnung mit dem Schöpfer her erschließt sich so die Schöpfung. Diese Begegnung aber ist 2Kor 4,6b zufolge ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ84 Χριστοῦ erfolgt. Für das Verständnis der Aussage ist entscheidend, dass Paulus hier – anders als in 2Kor 3,7 im Blick auf Mose! – mit dem Wort πρόσωπον nicht auf das „Gesicht“ Jesu abhebt. Das Wort wird vielmehr im Sinne einer pars-pro-toto-Metonymie gebraucht und bezeichnet die gesamte Person Jesu.85 In der Hebräischen Bibel kann das Wort ָפּ ִניםdie „persönliche Gegenwart“ und das „persönliche Erscheinen“ Gottes bezeichnen.86 Es ließe sich an dieser Stelle auch auf Ps 27,8 hinweisen, wo der Beter zu Gott sagt: „Von dir sagt mein Herz: ,Sucht mein Angesicht!‘ Dein Angesicht, JHWH, suche ich.“ ()ְלָך ָאַמר ִלִבּי ַבְּקּשׁוּ ָפ ָני ֶאת־ָפּ ֶניָך ְיה ָוה ֲאַבֵקּשׁ. Wonach sich der Beter des 27. Psalms sehnt, das ist dem Paulus nach seinem eigenen Verständnis vor Damaskus widerfahren: Er ist Gottes Gegenwart begegnet in der Person Jesus Christus. Und auch an den Aaronitischen Segen lässt sich erinnern, wo es in Num 6,25 heißt: „JHWH lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“ () ָיֵאר ְיה ָ֧וה ָפּ ָניו ֵאֶליָך ִויֻח ֶנָּךּ. Deutlich ist an diesen Stellen, dass die ersehnte oder im Segen zugesprochene Gegenwart Gottes eine heilsame Gegenwart ist. Diese heilsame Gegenwart Gottes hat Paulus in der Begegnung mit der Person Jesu Christi, der ihm als Auferstandener begegnet ist, erfahren. Diese Begegnung lässt ihn den Schöpfergott erkennen. Von diesem Gott redet er zu den Korinthern. Noch einmal ist zu betonen, dass Paulus in 2Kor 4,6 nicht etwa von einem schöpferischen Handeln Gottes an Jesus Christus spricht. Er spricht vielmehr von einem eschatologischen Handeln am Menschen, an seinem Herzen. Dieses neu schaffende Handeln eröffnet die Perspektive des
83 Es ist an dieser Stelle Wiedergabe des hebräischen Jussivs. 84 Zur textkritischen Diskussion zur Stelle s. Metzger, Textual Commentary, 510. Die äußere Bezeugung der längeren Lesart ist stark, dennoch erklären sich die verschiedenen Varianten am besten aus der kürzeren Lesart Χριστοῦ, wie Metzger notiert. Die Parallelität zu V. 4 könnte diese kürzere Lesart stützen, möglicherweise möchte Paulus in 2Kor 4,6 aber gerade unterstreichen, dass es der mit dem Namen Jesus bezeichnete Mensch ist, in dem die δόξα τοῦ θεοῦ erscheint. Der innere Zusammenhang der Aussage spricht m. E. deshalb für die längere Lesart. 85 So mit Recht Seifrid, Second Corinthians, 203; Wolff, 2Kor, 87 mit Anm. 188. Zur Bedeutung „Person“ für πρόσωπον s. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1445, s.v. πρόσωπον 2. Paulus gebraucht das Wort πρόσωπον in der Bedeutung „Person“ in 2Kor 1,11. 86 Gesenius, Handwörterbuch, 647, s.v. ָפּ ֶנה2. So sagt Gott nach Ex 33,14 dem Volk zu, dass sein „Angesicht“ es begleiten werde ( ֵיֵלכוּ )ָפּ ַני, vgl. auch Dtn 4,37; Jes 63,9.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
Glaubens.87 Der Inhalt des Glaubens ist die heilsame Gegenwart des Schöpfers in der Person Jesus Christus. 1.6
Zur „Bekehrungsterminologie“ in 2Kor 4,6
Bereits im Frühjudentum wird die Schöpfungsmotivik mit der Bekehrungsthematik verbunden. Das lässt sich etwa in der Schrift Joseph und Aseneth beobachten. Es wäre allerdings ein traditionsgeschichtlicher Kurzschluss, wollte man aus der Beobachtung, dass hier die Bekehrung einer Heidin erzählt wird, folgern, Paulus könne in 2Kor 4,6 unmöglich von seiner eigenen „Bekehrung“ sprechen.88 Dieser Einwand übersieht, dass Paulus zwar davon überzeugt ist, dass es der Gott Israels ist, den er in der Begegnung mit Christus erkannt hat, gleichzeitig aber deutlich macht, dass er Gott dabei neu verstanden hat und dass Gott ihm dabei auch als Schöpfer neu begegnet ist. Die Beobachtung einer gewissen Parallelität zwischen 2Kor 4,6 und JosAs 8,10 spricht auch nicht gegen die Annahme, dass Paulus in 2Kor 4,6 von seiner individuellen Erfahrung spricht.89 So sehr die Christusbegegnung bei Damaskus für Paulus mit der Übertragung eines besonderen Amtes verbunden ist, so sehr ist die Erkenntnis, die er darin gewonnen hat, doch mit derjenigen Erkenntnis, die alle Glaubenden haben, vergleichbar. Es ist ja gerade jene Erkenntnis, die er in seiner Verkündigung kundtut und die sich den Glaubenden im Geist selbst erschließt. Auf die Passage aus Joseph und Aseneth sind wir bereits in Kapitel 2 dieser Arbeit gestoßen.90 Dort war deutlich geworden, dass auch in dieser Erzählung das Schöpfungshandeln Gottes mit einer konkreten Begegnung verbunden wird. So redet Joseph in JosAs 8,10 seinen Gott an und bittet ihn um die Bekehrung der Aseneth: κύριε ὁ θεὸς τοῦ πατρός μου Ἰσραὴλ Herr, der Gott meines Vaters Israel. ὁ ὕψιστος ὁ δυνατὸς τοῦ Ἰακὼβ Der Höchste, der Starke des Jakob, ὁ ζωοποιήσας τὰ πάντα der alles lebendig machte καὶ καλέσας ἀπὸ τοῦ σκότους und von der Finsternis ins Licht rief εἰς τὸ φῶς καὶ ἀπὸ πλάνης είς τὴν ἀλήθειαν καὶ ἀπὸ θανάτου εἰς τὴν ζωήν ...
und vom Irrtum zu der Wahrheit und vom Tod zum Leben …91
Besonders nahe an 2Kor 4,6 liegt die Formulierung καὶ καλέσας ἀπὸ τοῦ σκότους εἰς τὸ φῶς. Dieses „Rufen“, wobei auch an dieser Stelle an Gen 1,3 gedacht ist,
87 88 89 90 91
Das entspricht genau derjenige Argumentation, die Paulus in 2Kor 5,16f vorträgt. So aber von Bendemann, Christusgemeinschaft, 307. So mit Recht Schmeller, 2Kor I, 248. S. oben. Zur Übersetzung s. Burchard, JSHRZ II,4, 650f.
Schöpfungshandeln und Gotteserkenntnis
wird parallelisiert mit der Beschreibung ὁ ζωοποιήσας τὰ πάντα: Weil Gott als der Schöpfer der Welt geglaubt wird, darum traut Joseph ihm zu, dass er auch „vom Irrtum zu der Wahrheit“ und damit „vom Tod zum Leben“ führen kann. So wird die Bekehrung der Aseneth als „Lebendigmachen“, als eine Neuschöpfung verstanden: σὺ κύριε εὐλόγησον τὴν παρθένον ταύτην Du, Herr, segne diese Jungfrau καὶ ἀνακαίνισον αὐτὴν τῷ πνεύματί σου und erneuere sie wieder mit deinem Geist καὶ ἀνάπλασον αὐτὴν τῇ χειρί σου τῇ und schaffe sie wieder neu mit dei[κρυφαίᾳ] ner (verborgenen) Hand καὶ ἀναζωοποίησον αὐτὴν und mache sie wieder lebendig τῇ ζωῇ σου. durch dein Leben. In der Bekehrung der Aseneth verwirklicht sich demnach, worauf eigentlich bereits das Schöpfungshandeln Gottes in grundsätzlicher Weise zielt. Indem er sie mit seinem Geist erneuert, schafft er sie neu und führt sie vom Tod zum Leben. Wenn Paulus in ganz ähnlicher Weise das Schöpfungshandeln Gottes mit der Offenbarung in Christus verbinden kann, dann wird sichtbar, dass für ihn die Bekehrung eines Juden – von der im Blick auf seine eigene Person gesprochen werden kann – oder die Bekehrung eines „Heiden“ keinen grundsätzlichen Unterschied bedeutet. Zwar kennen Juden den wahren Gott, aber sie erkennen ihn nicht (Röm 10,2). So spricht die Beobachtung, dass Paulus die Bekehrung in 2Kor 4,6 als Neuschöpfung versteht, keineswegs dagegen, dass er damit sowohl seine eigene Bekehrung im Blick hat als auch den Wandel, den jeder vollzieht, der zum Glauben kommt. Paulus versteht die Begegnung mit Gott in Christus als eine lebensverändernde Begegnung mit dem Schöpfer, und in diesem Sinne als Neuschöpfung (vgl. 2Kor 5,17). Es wird deutlich, dass die in Christus geschenkte Erkenntnis eben auch für Juden eine neue Gotteserkenntnis ist: die Erkenntnis nämlich, dass der Schöpfer in Jesus Christus begegnet. Die Verwandlung besteht in einer neuen Wahrnehmung. Damit ist deutlich, dass Paulus in 2Kor 4,6 schöpfungstheologisch ausführt, was er in Gal 1,16 mit dem „Sohn-Gottes“-Titel andeutet. Von der Christusbegegnung ausgehend versteht Paulus Gott den Schöpfer neu. Die Begegnung in der Schöpfung wirkt zurück auf das Verständnis der Schöpfung „am Anfang“. Dieser Zusammenhang war bereits beim Motiv der „Schöpfungsmittlerschaft“ der Weisheit sichtbar geworden. Die Paulus-Schule greift den Zusammenhang dann direkt auf, wenn in Kol 1,15f die Rede von Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (V. 15) direkt mit dem Gedanken der „Schöpfungsmittlerschaft“ Jesu Christi (V. 16) verbunden wird. Die weisheitstheologischen Bezüge, die bei Paulus selbst bereits angelegt sind, werden hier nicht neu eingeführt, wohl aber vertieft.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
2.
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
Bis hierhin war immer wieder zu betonen, dass die verschiedenen Hinweise, die Paulus zu seiner Damaskus-Begegnung gibt, jeweils in bestimmbaren argumentativen Zusammenhängen stehen, in denen sie zu betrachten sind. Beachtet man aber die Kontexte, dann lässt sich gerade nicht behaupten, dass die Selbstzeugnisse des Paulus „ein disparates Bild“ ergeben würden.92 Vielmehr ergibt sich ein Gesamtbild, in das sich auch 2Kor 4,6 einfügt. Da für Paulus seine individuelle Begegnung und sein besonderes Amt unlöslich zusammenhängen mit der Glaubenserkenntnis aller Glaubenden,93 ist es auch nicht überraschend, dass die Grenzen immer wieder verschwimmen und er in 2Kor 4,6 „Bekehrungsterminologie“ aufnehmen kann.94 Sowohl in 1Kor 9,1 als auch in 15,8 redet Paulus in einer Weise von der Erscheinung des κύριος bzw. Christi, die diese Erscheinung als eine Gottesbegegnung darstellt. Gal 1,16 und 2Kor 4,6 sind demgegenüber „theozentrischer“ formuliert, belegen im Endeffekt aber dasselbe: In der Begegnung mit dem auferstandenen Jesus Christus hat Gott dem Paulus eine Begegnung geschenkt, und diese Begegnung hat deshalb nicht nur seine Sicht auf Jesus, sondern auch auf Gott selbst verändert und geprägt. Das betrifft auch und gerade den paulinischen Blick auf die Schöpfung. Auch die berühmte Passage Röm 1,19–21, die theologiegeschichtlich im Zentrum der Diskussion um eine „natürliche Theologie“ bei Paulus stand,95 lässt sich konsistent im Rahmen der paulinischen Theologie interpretieren. Für das Verständnis der Passage ist entscheidend, welche Funktion sie für die Gesamtargumentation des Römerbriefs hat. Unmittelbar bevor Paulus auf die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes in der Schöpfung eingeht, formuliert er in den Versen Röm 1,16f die 92 Gegen Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids …“, 237. Theobald macht mit Anm. 10 auf einige Unterschiede aufmerksam. Sie stellen unterschiedliche Akzentuierungen dar, die allerdings nicht widersprüchlich sind, sondern sich durchaus zusammenhängend interpretieren lassen. 93 Dieser exemplarische Charakter wird insbesondere in Phil 3,7–11 deutlich. Wie gesehen, scheitert daran eine der Grundthesen der New Perspective, nach der zwischen „Bekehrung“ und „Berufung“ zur Heidenmission grundsätzlich zu unterscheiden wäre. Die damit zurückgewiesene These steht offensichtlich auch im Hintergrund der Behauptung, man könne 2Kor 4,6 deshalb nicht als Hinweis auf die Bekehrung des Paulus ansehen, weil sie im Stil einer Heidenbekehrung dargestellt würde (s. dazu oben). 94 Zum Gegensatz von „Finsternis“ und „Licht“ wäre etwa auch an 1Petr 2,9 zu erinnern. 95 Zur Diskussion in der altkirchlichen Auslegung s. Schelkle, Paulus, 53–60, zur Diskussion in der Neuzeit s. Wilckens, Röm I, 116–121, vgl. Schmithals, Röm, 71f. Im Zusammenhang der konfessionellen Auseinandersetzung um die im Ersten Vatikanischen Konzil im 19. Jahrhundert dogmatisierten natürlichen Gotteserkenntnis (DH 3004) und der vehementen Ablehnung dieser These in der „Dialektischen Theologie“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Frage nach einer Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung zu einem „der kontroverstheologisch neuralgischen Punkte der Neuzeit“ (Wilckens, aaO., 118).
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
„Eingangsthese“ des Schreibens. Die mit Röm 1,18 beginnenden Ausführungen laufen in 3,20a auf die grundsätzliche Feststellung hinaus, dass „kein Fleisch“ (d. h.: kein Mensch) vor Gott ἐξ ἔργων νόμου „gerechtfertigt“ werde. Damit hat Paulus die Funktion des Gesetzes gegenüber der jüdischen Tradition neu bestimmt: Es dient nicht dazu, den Menschen im Leben in der Gottesgemeinschaft zu bewahren, sondern es dient zur „Erkenntnis der Sünde“ (3,20b). An diese Feststellung schließt sich mit 3,21–26 ein Abschnitt an, in dem Paulus erläutert, wodurch die δικαιοσύνη θεοῦ erreicht wird: durch „die Erlösung, die in Jesus Christus geschieht“ (V. 24). Die Abschnitte Röm 1,16f.18–3,20.21–26 werden durch das Stichwort δικαιοσύνη θεοῦ gerahmt (1,17a; 3,21). Für Paulus geht es zu Beginn darum zu klären, wie die Situation des vorfindlichen Menschen vor Gott ist, und wie er in ein heilvolles Gottesverhältnis gelangen kann. Die δικαιοσύνη θεοῦ aber wird nach Röm 1,16f durch das Evangelium geoffenbart, das Paulus hier (V. 16) – wie in 1Kor 1,18 – als δύναμις θεοῦ bezeichnet. Im Evangelium wirkt demnach Gott selbst, indem er Menschen, die das Evangelium hören, in eine Begegnung mit sich selbst führt, die sie zu solchen macht, die „glauben“ und dadurch „gerechtfertigt“ werden. Wie in 2Kor 4,1–6 deutlich geworden ist, erlebt Paulus Gottes schöpferisches Handeln primär darin, dass er Glaubende schafft. Diese Perspektive lässt sich auch am Beginn des Römerbriefs beobachten. Bereits die Voranstellung der „These“ Röm 1,16f macht es zwingend notwendig, die folgenden Ausführungen als Bemerkungen aus der Perspektive des Christusglaubens zu interpretieren. Diese Tatsache wird in der syntaktischen Anknüpfung der Passage 1,18–3,20 in V. 18 durch die kausale Konjunktion γάρ unterstrichen. Die Überzeugung, dass Gottes Zorngericht über alle „Gottlosigkeit“ (ἀσέβεια) und „Ungerechtigkeit“ (ἀδικία) der Menschen ergeht, ist ein Gedanke, den Paulus mit dem Frühjudentum teilt, er gilt für Paulus aber eben auch aus der Perspektive des christlichen Glaubens, der durch das Evangelium hervorgerufen wird.96 Worin sich Paulus allerdings vom Frühjudentum unterscheidet, ist die in Röm 1,18–3,20 entfaltete These, „dass auf Grund eigener Voraussetzungen gerade im Ernstnehmen dieser Wahrheit kein Mensch vor Gott gerecht sein kann“.97 Der
96 Dem entspricht es, wenn Paulus bei dem Hinweis auf das Endgericht in Röm 2,12–16, der durch die nach 1,18 erneute Nennung der ἡμέρα ὀργῆς in 2,5 vorbereitet wird, formuliert, wenn Gott „das Verborgene der Menschen richte“, geschehe dies κατὰ τὸ εὐαγγέλιον μου διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ. Damit sagt Paulus, dass vom Zorngericht Gottes um des Evangeliums von Jesus Christus willen die Rede sein muss. Der Verweis auf das Gericht macht nämlich deutlich, dass ein Mensch allein aufgrund des Christusgeschehens zum Heil gelangt, wie Röm 1,16 bereits formuliert hatte. Auch in Röm 2,12–16 spricht Paulus konsequent aus der Perspektive des Christusglaubens. 97 Eckstein, „Denn Gottes Zorn …“, 34f. Eckstein votiert dafür, das Präsens in Röm 1,18 futurisch zu übersetzen. Anders etwa Zeller, Röm, 54, der gerade in der präsentischen Fassung der Zornesoffenbarung den Aspekt sieht, in dem Paulus über die frühjüdische Auffassung hinausgehe. Ich schließe mich der futurischen Auslegung Ecksteins an. Zwar sieht Paulus die in der Gegenwart zu beobachtenden Phänomene (Röm 1,24–32) bereits als Auswirkungen des Gerichtshandelns Gottes
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Hinweis auf die Erkenntnis Gottes aus den Schöpfungswerken in Röm 1,19–21 steht im Zusammenhang einer Argumentation, die auf diese These hinausläuft. 19 διότι τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ 19 Denn was an Gott erkennbar ist 98 φανερόν ἐστιν ἐν αὐτοῖς· ist bekannt unter ihnen; ὁ θεὸς γὰρ αὐτοῖς ἐφανέρωσεν. denn Gott hat es ihnen offenbart. 20 τὰ γὰρ ἀόρατα αὐτοῦ 20 Denn seine unsichtbare Wirklichkeit 99 ἀπὸ κτίσεως κόσμου wird seit Erschaffung der Welt τοῖς ποιήμασιν νοούμενα καθορᾶται, an den Schöpfungswerken vernünftig wahrgenommen, ἥ τε ἀΐδιος αὐτοῦ δύναμις καὶ θειότης, seine ewige Kraft und Gottheit, εἰς τὸ εἶναι αὐτοὺς ἀναπολογήτους, damit sie unentschuldbar seien, 21 διότι γνόντες τὸν θεὸν 21 Denn obwohl sie Gott kannten, haben οὐχ ὡς θεὸν ἐδόξασαν ἢ ηὐχαρίστησαν, sie ihn nicht als Gott geehrt und ihm geἀλλ’ ἐματαιώθησαν ἐν τοῖς διαλογισμοῖς dankt, sondern sie sind in ihren Gedanαὐτῶν καὶ ἐσκοτίσθη ἡ ἀσύνετος αὐτῶν ken auf Nichtiges verfallen und ihr unverκαρδία. ständiges Herz wurde verfinstert. Zwei Beobachtungen sind im Zusammenhang unserer Fragestellung entscheidend: In V. 19a gibt Paulus eine Begründung dafür, dass die Menschen Gott an seinen Schöpfungwerken eigentlich wahrnehmen können müssten: Er selbst hat es ihnen offenbart. Gerade dieses Handeln Gottes aber mündet in den Finalsatz εἰς τὸ εἶναι αὐτοὺς ἀναπολογήτους – „damit sie unentschuldbar seien“. Das Offenbarungshandeln Gottes in der Schöpfung führt den Menschen faktisch nicht in die Gottesgemeinschaft. Es wird hier vielmehr im Sinne einer Anklage gegen den Menschen eingesetzt. „Paulus sieht den Menschen so, dass er immer schon Gott verfehlt hat, wiewohl ihm Gott in seiner Schöpfung ständig begegnet ist.“100 Rhetorisch geschickt knüpft Paulus an Überzeugungen des Frühjudentums an. Wenn er hier vermeintlich „unabhängig vom Glauben bzw. der Christusoffen-
an, er denkt aber doch auch an ein zukünftiges Gericht, in dem der „Zorn Gottes“ universal offenbar wird (1Thess 1,10; 5,1f). 98 Zur Formulierung τὸ γνωστὸν τοῦ θεοῦ („das an Gott Bekannte“ = „Gott in seiner Erkennbarkeit“ [Bultmann, γνωστός, 719]) s. BDR § 263,2 sowie Anm. 5, vgl. Röm 2,4 τὸ χρηστὸν τοῦ θεοῦ („das Gütige Gottes“ = „die Güte Gottes“); 1Kor 1,25 τὸ μωρὸν τοῦ θεοῦ (= „das Törichte an Gott“), τὸ ἀσθενές τοῦ θεοῦ (= „das Schwache an Gott“). 99 In Röm 1,20a ist nicht „die verborgene Seite Gottes“ gemeint, sondern die Tatsache, dass Gott seinem Wesen nach unsichtbar ist. Gemeint ist, wie Bultmann, ebd. formuliert „er, der Unsichtbare“, vgl. BDR ebd. 100 Eichholz, Paulus, 68.
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
barung“ formuliert,101 dann hat dies v. a. rhetorische Gründe: Er zielt auf das Einverständnis seiner Adressaten, vor dessen Hintergrund er sie dann umso wirksamer „überrumpeln“ und am Ende deutlich machen kann, dass alle Menschen des Christusgeschehens bedürfen (Röm 3,9–20.21–26).102 In Röm 1,19 erklärt Paulus, dass dem Menschen eigentlich und von Gott her bekannt sein müsste, wie er vor Gott steht und was seine Bestimmung als Geschöpf ist. Im weiteren Verlauf der Argumentation von Röm 1,18–3,20 wird aber deutlich, dass die Menschen diese Erkenntnis außerhalb des Christusglaubens subjektiv gerade nicht einholen. Die Erkenntnis der „Wahrheit“ (2Kor 4,2) ist auch nach 2Kor 4,1–4 für die „Verlorenen“ gerade verschlossen. Mit dem Christusgeschehen wird nämlich erst deutlich, dass die Situation, die Paulus in Röm 1,18ff schildert, für jeden Menschen unausweichlich ist und es niemanden gibt, der sich davon distanzieren kann. Auch die Rede vom „unverständigen Herz“, das „verfinstert wurde“ (Röm 1,21), erinnert an die Aussage von 2Kor 4,4 über die „Verblendung“ der „Ungläubigen“. Paulus reflektiert demnach darüber, weshalb diese „offenkundige“ Einsicht den Menschen, wie sie sind, nicht einfach zugänglich ist. Bereits im Zusammenhang mit der Auslegung von Röm 3,23103 ist deutlich geworden, dass Paulus nicht über einen „Urstand“ des Menschen spekuliert, sondern die Situation des Menschen phänomenologisch beschreibt. So spekuliert Paulus auch nicht darüber, ob der Mensch tatsächlich einmal in der Lage gewesen ist, Gott aus der Schöpfung heraus zu erkennen. Seine Aussage zielt vielmehr darauf, dass der Mensch eigentlich dazu in der Lage sein sollte. So deckt Paulus mit seiner Argumentation einen grundsätzlichen Widerspruch auf, der zwischen dem Willen Gottes für sein Geschöpf und seiner tatsächlichen Situation vor Gott, wie sie aus der Perspektive des Christusgeschehens erkennbar wird, besteht. Die „Schuld“ des Menschen, auf die er in der Perspektive des Gerichts angesprochen wird, besteht demnach nicht in einer freien Willensentscheidung gegen Gott, sondern sie hat einen Verhängnischarakter: Die Menschen existieren in einer Weise, die in eschatologischer Perspektive vor Gott keinen Bestand hat. Im Frühjudentum lässt sich ebenfalls beobachten, dass der Hinweis auf die Erkennbarkeit Gottes in der Schöpfung eine ganz bestimmte Funktion in einem Argumentationszusammenhang haben kann. Bei Philo kann der Hinweis dazu
101 So Schmithals, Röm, 74. Der Gedanke, dass die Menschen in ihrer Vorfindlichkeit dem Zorngericht Gottes verfallen müssten, steht eben nicht einfach „neben der Christusoffenbarung“, wie Schmithals aaO., 75 meint. 102 Wilckens, Röm I, 116 bemerkt treffend: „Die Rede [Röm] 1,18ff hat … den gleichen Charakter der Entlarvung des Adressaten wie die Rede des Propheten Nathan an David 2Sam 12: ,Du bist der Mann!‘“. Schmithals, Röm, 76 spricht von einer „auf ,Überrumpelung‘ angelegte[n] Argumentationsweise des Paulus“, konstatiert aber dennoch sachliche Widersprüche in den inhaltlichen Aussagen des Paulus (s. o.). 103 S. dazu oben in Kapitel 3.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
dienen, gegenüber Heiden für die Einsicht, dass Gott existiert, zu werben.104 Auch in der Stoa wird davon gesprochen, dass aufgrund der Schöpfung auf Gott als den „Baumeister“ der Schöpfung geschlossen werden kann.105 Im Zusammenhang mit der Auslegung von 1Kor 8,6 waren wir bereits auf Sib frgm. 1,35 gestoßen: Auch hier wird im Zusammenhang mit einer Anklage gegen die „Frevler“ von der Erkennbarkeit Gottes in der Schöpfung gesprochen. Sie dient dabei aber zum Aufruf zur Umkehr.106 Die Frage ist freilich, welcher „Gott“ dabei erkannt wird. Bereits Günther Bornkamm formuliert: „Die ,von unten nach oben‘ aufsteigende Gotteserkenntnis gelangt zu einer Gottheit, die nichts anderes ist als das Lebensprinzip der Welt selbst“.107 Im Zeus-Hymnus des Kleanthes wird Zeus angeredet als der „Gründer der Natur, der mit Gesetz alles lenkt“.108 Auch dieser Text weiß um die Bestimmung des Menschen zum Gotteslob, aber er begründet die Möglichkeit dazu mit der natürlichen Verwandtschaft des Menschen mit Gott (ἐκ σοῦ γὰρ γένος ἐσμέν ...).109 Dieser Gedanke lässt sich auch bei Philo finden (Philo opif. 25). Paulus argumentiert in Röm 1,19b anders: Er spricht nicht von einer natürlichen Verwandtschaft des Menschen mit Gott,110 sondern betont den Subjektcharakter Gottes: Er hat sich den Menschen offenbart. Damit weist „Paulus von vorneherein auf die Freiheit und Majestät Gottes“ hin, wie Bornkamm formuliert,111 der daraus wohl mit Recht folgert: „Eine Beschreibung des Wesens Gottes findet sich darum bei Paulus nicht, in der sich die von der Betrachtung der Welt via comparationis oder negationis aufsteigende Weisheit ergeht. Was dem Menschen in der Schöpfung offenbar wird, ist dies, daß Gott der unsichtbare, ewige, wirkende und fordernde Schöpfer ist.“112
104 Philo spec. I, 20.32–35; Leg. All I 32f; III, 97ff (vgl. Bornkamm, Offenbarung, 13; Lietzmann, Röm, 31f; Schmithals, Röm 77). Dabei schließt Philo sich einmal mehr direkt an Platon an, wenn er in Leg. All I 32 Plat. Tim 28c zitiert („Den Vater und Lenker aller Dinge nun zu erkennen und zu erfassen ist gewiss schwierig“), dann aber hinzufügt: „Doch darf man darum nicht darauf verzichten, nach ihm zu forschen“. Schließlich erklärt Philo (Leg. All I 33): „Stets haben die Werke den Meister erkennen gelehrt; denn wer hätte bei der Betrachtung von Bildsäulen oder Gemälden nicht sofort an den Bildhauer oder Maler gedacht, wer beim Anblick eines Kleides, Schiffes oder Hauses nicht gleich den Gedanken an den Weber, Schiffbauer oder Baumeister gehabt?“ (Übersetzung Cohn). 105 S. dazu etwa die Diskussion bei Cicero mit den Auffassungen des Zenon und Chrysipp (Cic.n.d. II 6,16; III 25f). 106 S. dazu oben in Kapitel 4. 107 Bornkamm, Offenbarung, 14. 108 Zitiert nach Forschner, Stoa, 156. 109 Zitiert nach Bornkamm, Offenbarung, 16. 110 Vgl. aber Apg 17,28. 111 Bornkamm, aaO., 20. 112 Ebd.
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
In der Schöpfung sind alle Menschen gleichsam „objektiv“ mit dem Anspruch des Schöpfers konfrontiert. Einmal mehr geht es Paulus darum, die vorfindliche Situation des Menschen phänomenologisch als eine Haltung zu markieren, die im Widerspruch zu Gottes Schöpferwillen steht. Subjektiv kann dies der Mensch allerdings gerade nicht einsehen. Es geht Paulus „also gar nicht um die Enthüllung des göttlichen Seins, sondern um die Aufdeckung der menschlichen Existenz“.113 Zum Vergleich mit Röm 1,19–21 bietet sich aber wohl vor allem SapSal 13,1–6 an.114 Hier wird deutlich, dass der Hinweis auf die Erkennbarkeit Gottes in der Schöpfung – ganz ähnlich wie bei Paulus – im Sinne einer Anklage geschieht. SapSal 13,1f: 1 Μάταιοι μὲν γὰρ πάντες ἄνθρωποι 1 Denn nichtig waren alle Menschen von φύσει, οἷς παρῆν θεοῦ ἀγνωσία Natur aus, bei denen Nichterkenntnis Gotκαὶ ἐκ τῶν ὁρωμένων ἀγαθῶν tes war, und aus den sichtbaren Gütern verοὐκ ἴσχυσαν εἰδέναι τὸν ὄντα mochten sie nicht, den Seienden zu erkenοὔτε τοῖς ἔργοις προσέχοντες nen, auch wenn sie sich den Werken zuἐπέγνωσαν τὸν τεχνίτην, wandten erkannten sie den Künstler nicht, 2 ἀλλ᾽ ἢ πῦρ ἢ πνεῦμα ἢ ταχινὸν ἀέρα 2 sondern Feuer oder Wind oder schnelle ἢ κύκλον ἄστρων ἢ βίαιον ὕδωρ Luft oder der Kreis der Gestirne oder das ἢ φωστῆρας οὐρανοῦ πρυτάνεις κό- gewalttätige Wasser oder die Leuchten des σμου Himmels, die die Welt beherrschen, θεοὺς ἐνόμισαν. hielten sie für Götter. Analog zur Auslegung von Röm 1,19–21 ist auch die Auslegung von SapSal 13 vor dem Hintergrund der theologiegeschichtlichen Diskussionen des 20. Jahrhunderts von der dogmatischen Diskussion um eine theologia naturalis bestimmt.115 Auch SapSal 13,1f stellt zunächst einmal phänomenologisch fest, dass es Menschen gibt, die – unsinniger Weise – Gott nicht als „den Seienden“ (τὸν ὄντα) erkennen, sondern ihn mit den Weltelementen identifizieren. Das Stichwort μάταιος, mit dem diese Haltung beschrieben wird, begegnet bei Paulus in dem Verb ἐματαιώθησαν
113 AaO., 21. 114 Vgl. Schmithals, Röm, 77; Zeller, Röm, 55. 115 Das lässt sich insbesondere von der Auslegung bei Hübner, Weisheit Salomons, 167 sagen. Da Hübner im Anschluss an die behauptete theologia naturalis davon spricht, Gott werde damit „verfügbar“ gemacht, ist deutlich, dass er Heideggersche (und Bultmannsche) Kategorien und Fragestellungen im Hintergrund hat. S. dazu auch den Verweis zu SapSal 13,5 auf die Diskussion um den Gedanken der analogia entis bei Karl Barth (aaO., 168). Barth bezieht sich für seine Vorstellung von der analogia fidei, die er einer analogia entis entgegensetzt, seinerseits auf Röm 12,6 (Barth, KD IV/3, 56). Freilich genügt der Verweis auf bestimmte Einzelstellen noch nicht, sondern das mit den Begriffen Gemeinte wird sowohl bei Barth als auch bei Bultmann in einer Gesamtargumentation entfaltet. Einige wichtige Beobachtungen zur Diskussion um die theologia naturalis im Zusammenhang mit Röm 1,19f notiert Zeller, Röm, 56.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
(Röm 1,21), mit dem Hinweis darauf, dass die Menschen in ihren Gedanken „zunichte gemacht“ worden seien, was parallel steht zur „Verfinsterung“ ihrer Herzen. Paulus stellt demnach – wie die Sapientia – fest, dass Menschen die Erkenntnis Gottes verfehlen. In der Sapientia wird mit dem platonischen Gottesbegriff des „Seienden“ ein weiterer Gedanke angedeutet: Die Wahrnehmung der Weltelemente müsste eigentlich dazu führen, nach ihrem Urheber zu fragen und so letzten Endes auf Gott als den Grund allen Seins zu stoßen. Die Gottesprädikation ὁ ὤν kann als eine bewusste Aufnahme von Ex 3,14 LXX verstanden werden. Sie richtet sich also nicht explizit gegen eine Offenbarungstheologie,116 interpretiert Gott aber doch von platonischen Vorstellungen her. Während Hans Hübner Gott damit in die Immanenz und die „Verfügbarkeit“ hineingezogen sieht,117 sieht Hermann Spieckermann hier das Gegenüber von Schöpfer und Schöpfung gewahrt.118 Im Hintergrund steht die platonische Unterscheidung von ὄν und γιγνόμενον, die einerseits als eine kategoriale Unterscheidung zu verstehen ist, andererseits aber auch einen Zusammenhang zwischen dem „Sein“ und dem „Werdenden“ behauptet. Denn die damit verbundene Gottesvorstellung ist vom Menschen aus entworfen. Aus dieser Vorstellung ergibt sich für die menschliche Erkenntnis der Weg eines Rückschlusses vom Sichtbaren auf Gott als den letzten Grund allen Daseins. Dieser Gedanke klingt in SapSal 13,1 an, wenn von der Erkenntnis „aus den sichtbaren Gütern“ (ἐκ τῶν ὁρωμένων ἀγαθῶν) gesprochen wird, er klingt aber auch bei Paulus an, wenn dieser in Röm 1,20 von Gottes Unsichtbarkeit spricht, angesichts derer es nur eine Gotteserkenntnis aus den von Gott geschaffenen Dingen geben könnte. Gleichwohl geht es Paulus offensichtlich nicht darum, den Gedanken der Erkennbarkeit Gottes aus der Schöpfung heraus zu begründen.119 Röm 1,19–21 und SapSal 13,1f ist der Gedanke gemeinsam, dass Menschen Gott in der Schöpfung nicht erkennen, obwohl sie das eigentlich sollten. Parallel zu der Rede von Gott als ὁ ὤν wird in SapSal 13,1 von Gott als τεχνῖτης geredet, eine Prädikation, die
116 So Spieckermann, Gott im Gleichnis, 111. 117 Hübner, Weisheit Salomos, 167. 118 Spieckermann, Gott im Gleichnis, 111 erklärt, die Sapientia Salomonis wolle „im bewussten Rekurs auf das Urdatum der Offenbarung des Gottes Israels als des einzig wahren Gottes in Ex 3,14 LXX unmissverständlich klarstellen, dass Gottes Erkennbarkeit in der Welt jenseits jeglicher Offenbarung nicht in einer Identität Gottes mit der Welt gründet. Gott bleibt das Gegenüber zur Welt auch da, wo er sich selbst wesenhaft der Welt einstiftet. Dies geschieht nicht mit dem Ziel, die Welt zu vergöttlichen, sondern in der Welt noetische Signale für die Gottessuche der Menschen zu setzen, die sie in der Welt zu Gott führen, indem sie zugleich über die Welt hinausweisen.“ S. dazu auch die bereits zitierte Stelle bei Philo Post. 19, wo der „Urgrund“ (ὁ αἴτιος) mit dem Schöpfer identifiziert wird. 119 Bornkamm, Offenbarung, 19 erklärt mit Recht im Blick auf Paulus: „Die Frage, wie die Gotteserkenntnis zustande kommt, beschäftigt ihn nicht weiter.“
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
nach 7,22 der σοφία zugesprochen wird. Hier wie dort geht es darum, in der Schöpfung Gott als den Urheber allen Daseins wahrzunehmen, der seiner Schöpfung gleichsam ein „Prinzip“ eingegeben hat. In SapSal 13,1–9 aber werden keine pneumatologischen Überlegungen angestellt.120 In diesem Kontext geht es nicht um die Entwicklung einer Erkenntnistheorie, sondern um eine Phänomenologie der θεοῦ ἀγνωσία. Eben das verbindet SapSal 13,1–9 mit Röm 1,19–21. Dazu gehört auch das entscheidende, beide Stellen miteinander verbindende Element, das Motiv der „Unentschuldbarkeit“. Nachdem der Verfasser der Sapientia den „unwissenden“ Menschen zugestanden hat, dass sie Gott immerhin suchen und finden wollen (V. 6), gelangt er in SapSal 13,8f dann doch zu dem Urteil: 8 πάλιν δ᾽ οὐδ᾽ αὐτοὶ συγγνωστοί· 8 Wiederum sind sie aber nicht entschuldbar 9 εἰ γὰρ τοσοῦτον ἴσχυσαν εἰδέναι 9 Denn wenn sie so viel zu erkennen verἵνα δύνωνται στοχάσασθαι τὸν αἰῶνα, mochten, dass sie die Welt erforschen konnτὸν τούτων δεσπότην πῶς τάχιον οὐχ ten, wie haben sie den Herrn dieser Dinge εὗρον; nicht schneller gefunden? Angesichts des vielen, was der Mensch von der Welt zu erkennen weiß, ist der Verfasser irritiert darüber, dass sie nicht auch Gott als den Herrscher der Welt gefunden haben. Ihre „Unentschuldbarkeit“ – in SapSal 13,8 mit dem Wort συγγνωστός („verzeihlich“, „entschuldbar“) zur Sprache gebracht, liegt darin, dass sie sich bei ihrer Erforschung der Welt von den Phänomenen haben bannen lassen und darüber die Frage nach Gott nicht zu Ende verfolgt haben. Für Paulus zeigt sich die θεοῦ ἀγνωσία konkret in der Verweigerung der Anerkennung Gottes im Lobpreis und im Dank (οὐχ ὡς θεὸν ἐδόξασαν ἢ ηὐχαρίστησαν, Röm 1,21). Die Menschen behandeln Gott nicht als Gott, sie lassen Gott nicht Gott sein. Das ist es, worauf es Paulus ankommt. Anders als SapSal 13 redet Paulus in Röm 1,18–3,20 grundsätzlich und von allen Menschen. Er unterscheidet Juden und Heiden hinsichtlich ihrer Situation vor Gott gerade nicht.121 Hat Röm 1,16f bereits Juden und Heiden genannt, so steuert die Argumentation in 3,22b auf das betonte οὐ γάρ ἐστιν διαστολή zu,122 dem der Hinweis, dass hier etwas über alle Menschen (πάντες) ausgesagt wird, in Röm 3,23 entspricht. Es ist geschickte Rhetorik, wenn Paulus in
120 Das Wort πνεῦμα in SapSal 13,2 bezeichnet nicht den „Geist“, sondern eines der Weltelemente und ist hier m. E. deshalb (wie in Joh 3,8a) mit „Wind“ zu übersetzen. So übersetzt auch Georgi, JSHRZ III/4, 448. Anders Septuaginta Deutsch z.St. 121 So bereits Schmithals, Röm 76f. Wischmeyer, Gerichtsrede, 374 spricht von einer „einheitlichen Anthropologie“ bzw. einer „universalen Schuldanthropologie“ des Paulus (aaO., 376). 122 Es ist bemerkenswert, dass Paulus diese Wendung gerade auch am Höhepunkt seiner Ausführungen zum Thema der Erwählung Israels gebraucht, in Röm 10,12.
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Röm 1,24–32 Beispiele nennt, bei denen jüdische Leser zunächst in eine „Heidenpolemik“ einstimmen könnten, diese dann aber in Röm 2,1.17ff direkt angesprochen werden, so dass die Polemik nun gerade auch sie selbst trifft.123 So gelingt es Paulus, deutlich zu machen, dass der Mensch, wie er ist, nicht der ist, als den Gott ihn gewollt hat. Diese Einsicht aber hat Paulus erst durch seine Christus-Begegnung gewonnen. Denn erst hier hat er erkannt, dass die Menschen in Jesus Christus in die Gemeinschaft mit Gott gelangen. Auf diesen Sachverhalt deutet Paulus in Röm 1,17 hin, wenn er die δικαιοσύνη θεοῦ als den entscheidenden Inhalt des Evangeliums beschreibt. Der Unterschied zwischen Juden und Heiden bleibt für Paulus zwar einerseits bestehen, da Israel in einer Hoffnungsgeschichte steht (Röm 9,4), er wird in einer entscheidenden Hinsicht aber gerade eingeebnet, insofern alle Menschen vor Gott gleich dastehen und nicht die sind, als die Gott sie gedacht hat. Die Funktion der Anklage, die der Hinweis auf die „natürliche Gotteserkenntnis“ gewinnt, wird im Frühjudentum deutlich akzentuiert. Dieter Zeller beschreibt die Entwicklung wie folgt: Wenn das hellenistische Judentum „einen Gedankengang der stoischaristotelischen Philosophie“ aufnimmt, „wonach das unsichtbare Weltprinzip in den von ihm hervorgebrachten Dingen geschaut werden kann“, so dient dies nun nicht mehr der „Läuterung des Kults“, wie in der stoischen und mittelplatonisch geprägten Philosophie, sondern es belegt von Seiten des Judentums „die schuldhafte Verirrung des Heidentums“.124 Wolfgang Harnisch hat herausgearbeitet, dass sich diese Anklagefunktion in der frühjüdischen Apokalyptik noch einmal verschärft, wie er am Beispiel der syrischen Baruchapokalypse zeigt. Der Verfasser der Baruchapokalypse setzt sich mit der Situation nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auseinander.125 In dieser Situation gewinnt die Tora für die Identität Israels eine zentrale Bedeutung. Schöpfung und Gesetz werden deshalb eng miteinander verbunden. In der also wohl einige Zeit nach dem paulinischen Römerbrief entstandenen Schrift126 heißt es (SyrBar 54,12–14): (12) Wer kann (denn) deine Wunder nachahmen, o Gott, und wer versteht dein tiefes Denken voller Leben? (13) Mit deinem Rat regierst du doch alle Schöpfung, die deine Rechte schuf, du hast den ganzen Quell des Lichts bei dir bereitgestellt, der Weisheit Schätze hast du unter deinem Thron bereitet. (14) Mit Recht gehen auch die zugrunde,
123 Zur rhetorischen Bedingtheit der Ausführungen des Paulus in Röm 1,18–3,20 s. o. 124 Zeller, Röm, 55. Neben SapSal 13 weist Zeller auch auf Arist 132.136ff hin. 125 Darauf weist bereits die Zuschreibung an Baruch, den Sekretär Jeremias, der die Zerstörung des (Ersten) Tempels anzukündigen hat, hin (Siegert, Einleitung, 369, vgl. Klijn, JSHRZ V/2, 107). 126 Siegert, Einleitung, 377 datiert die Schrift kurz nach der Zerstörung des Zweiten Tempels; Klijn, JSHRZ V/2, 114 etwas später, zwischen 100 und 130 n. Chr.
Gotteserkenntnis und Schöpfungserkenntnis. Ein Blick auf Röm 1,19–21
die dein Gesetz nicht lieben. Die Qualen des Gerichts werden auf die treffen, die sich nicht deiner Macht gebeugt haben.127
Auch hier wird gesagt, dass Gott an den Schöpfungswerken erkannt werden kann. Gleichzeitig sagt „Baruch“ das Gericht an gegen jeden, der das Gesetz Gottes nicht „liebt“ (SyrBar 54,16) und deshalb als „Ungerechter“ lebt. (17) Jetzt aber wendet euch nur dem Verderben zu, die ihr jetzt als Ungerechte lebt – streng wird man euch heimsuchen, weil ihr des Höchsten Einsicht ehemals verworfen habt. (18) Denn niemals haben seine Werke euch belehrt noch hat das Kunstwerk seiner allezeit bestehenden Schöpfung euch überzeugt. (19) Somit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst. (20) Du aber, Herr, belehre mich über das, was du mir offenbart hast. Und gib mir Auskunft über das, was ich dich frage. (SyrBar 54,17–20)128
Harnisch kommentiert diesen Abschnitt damit, dass die Schuld der „Frevler“ hier darin gesehen werde, „daß sie die Möglichkeit, Gott in der Schöpfung zu erkennen, sträflich verspielten“.129 Das aber bedeutet: „Die natürliche Gotteserkenntnis kommt nicht als eine offene, sondern als die von den Sündern sub specie des Endgerichts für immer verwirkte Möglichkeit in den Blick“.130 Harnisch erklärt: „Der Apokalyptiker verzichtet an dieser Stelle also bewußt darauf, die Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis positiv in Ansatz zu bringen.“131 So ist der Hinweis auf das „Kunstwerk“ der Schöpfung Gottes „nicht im Sinne eines Appells an den Menschen gemeint, sich durch die kunstvollen Werke der Schöpfung von der Existenz und Macht des Schöpfers überzeugen zu lassen. Der Gedanke von der Erkennbarkeit Gottes in der Schöpfung wird vielmehr nur a posteriori als Argument der Anklage gegen die Frevler aufgeboten.“132 Diese Argumentation a posteriori entspricht genau derjenigen des Paulus in Röm 1,18–3,20. Mit 1,16f hat er ja selbst markiert, dass er vom Evangelium ausgehend vom Gericht spricht. Und auch im Blick auf das Gesetz lässt sich für Paulus sagen, dass er vom Christusgeschehen aus zu einer Neubewertung des Gesetzes kommt. In Röm 1,17 schlägt sich das in der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4 LXX nieder: „Der aus Glauben Gerechte wird leben“.133 Und am Ende des 127 128 129 130 131 132 133
Übersetzung nach Klijn, JSHRZ V/2, 159f. Klijn, JSHRZ V/2, 160. Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 194. Ebd. (Hervorhebung von mir). AaO., 194, Anm. 2. Ebd. Zum paulinischen Verständnis von Hab 2,4 LXX s. oben in Kapitel 5 dieser Arbeit.
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Abschnitts 1,18–3,20 wird es dann im Fazit, das Paulus über das Gesetz zieht, erneut erkennbar. Paulus nimmt hier die Frage nach der Begründung der δικαιοσύνη, die in Röm 1,17 thematisiert wurde, noch einmal auf und stellt fest: διότι ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον αὐτοῦ. „Denn durch Werke des Gesetzes wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt.“ (Röm 3,20a) Angesicht der Grundsätzlichkeit der Ausführungen in Röm 1,18–3,20 lässt sich m. E. schwer bestreiten – wie dies im Anschluss an Stendahl immer wieder geschieht –, dass auch diese Aussage grundsätzlich gemeint ist und eine soteriologische Fundamentalaussage formuliert. Paulus unterstellt dabei nicht, dass jüdische Menschen sich ihrer Angewiesenheit auf Gottes Gnade nicht bewusst seien. Er bestimmt aber die Funktion des Gesetzes im folgenden Nachsatz neu: διὰ γὰρ νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας – „Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20b). Das ist die eigentliche und einzige Funktion, die das Gesetz für Paulus nun hat. In dieser Bestimmung der Funktion des Gesetzes liegt die Differenz zwischen dem paulinischen Denken vor und nach „Damaskus“. Kehren wir noch einmal zur syrischen Baruchapokalypse zurück, dann wird deutlich, wie unterschiedlich die Konsequenz ist, die sie im Vergleich mit Paulus aus der Tatsache der verwirkten Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis zieht. Noch einmal sei Harnisch dazu zitiert: „Der Hinweis auf das den Sündern drohende Zu-spät geschieht keineswegs in der Absicht, die Adressaten dieser Worte aus der Verantwortung für ihr Heil zu entlassen. Sie sind vielmehr an die ihnen im Gesetz eindeutig geoffenbarte Gotteserkenntnis gewiesen“.134
Ist die Gotteserkenntnis aus der Schöpfung de facto keine Möglichkeit, so gibt es doch Gotteserkenntnis aus dem Gesetz. Im Gegensatz dazu formuliert Paulus, dass das Gesetz nur Erkenntnis der Sünde bewirkt. Freilich ist auch darin eine Gotteserkenntnis enthalten, aber eben doch nur eine gleichsam negative: Im Gesetz wird das „Nein“ Gottes zum vorfindlichen Menschen offenbar, eben jenes „Zorngericht“, von dem Paulus in Röm 1,18 spricht. Zudem weitet Paulus das Urteil über den Menschen universal aus, indem er alle Menschen unter dem Gerichtsurteil stehen sieht. Die verwirkte Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis ist demnach eine universal verwirkte Möglichkeit. Dass dem so ist, das kann Paulus nur aus der Perspektive des Christusgeschehens sagen. So wird deutlich, dass sich auch die Ausführungen in Röm 1,19–21 stringent im Kontext der paulinischen Theologie interpretieren lassen.
134 Harnisch, Verhängnis und Verheißung, 194, Anm. 2. Harnisch verweist auf SyrBar 31,2–32,7; 44,2–45,2; 77,2–10.
Die Erkenntnis des Schöpfers
3.
Die Erkenntnis des Schöpfers
Der Gott, der nach Gen 1,3 das Licht geschaffen hat, ist dem Paulus nach 2Kor 4,6 in der Begegnung mit Jesus Christus erschienen. Er hat sich ihm als der Schöpfer erwiesen, indem er das Schöpfungslicht in seinem „Herzen“ hat aufleuchten lassen und so die Erkenntnis erschlossen hat, dass die Person Jesus Christus Ort der δόξα τοῦ θεοῦ ist. Diese Perspektive bestimmt auch die paulinische Rede von der Schöpfung in Röm 1,18–3,20, und ebenfalls in Röm 8,18–30, wo Paulus von der außermenschlichen Schöpfung spricht. Sind die Ausführungen im Römerbrief auch sehr viel grundsätzlicher gehalten als im Zweiten Korintherbrief, so kommen auch sie von der Begegnung her, die 2Kor 4,6 schildert. Diese Begegnung hat Paulus erfahren, sie ereignet sich in gewisser Weise aber bei jedem Menschen, der zum Glauben kommt. Von dieser Begegnung redet Paulus deshalb in dem sich an die Ausführungen Röm 1,18–3,20 anschließenden Abschnitt 3,21–26. Paulus nimmt auch an dieser Stelle wohl eine Tradition auf, die er im Sinne seiner Theologie interpretiert.135 In Röm 3,22 nimmt er die entscheidenden Stichworte aus Röm 1,17 auf, so auch die Rede von der δικαιοσύνη θεοῦ, und er expliziert nun den dort bereits genannten Glauben als πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ (3,22). In V. 25 ist einmal mehr Gott das Subjekt des Handelns, das sich in Jesus Christus vollzieht: ὃν προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριον διὰ [τῆς] πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων. Es ist bekannt, dass Paulus mit dem Begriff ἱλαστήριον ein Wort aufnimmt,
das in der Septuaginta als Übersetzung für das Wort ַכֹּפּ ֶרתgebraucht wird und das bei der Schilderung des Versöhnungstages in Lev 16,1–34 eine entscheidende Rolle spielt.136 Es bezeichnet dort die „Deckplatte“ der Bundeslade, deren Aufbau in Ex 25,10–22 beschrieben wird.137 Vorschläge, den Begriff ἱλαστήριον von der Grundbedeutung „zur Begütigung gehörig“138 her zu verstehen und im Sinne
135 Vgl. Öhler, Bausteine, 501. Zur Diskussion um die paulinische Interpretation der Formel s. Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 247–250. Theobald vertritt die These, dass Paulus mit seiner Interpretation in besonderer Weise den paulinischen Universalismus zum Ausdruck bringe, mit dem er gleichzeitig an der bleibenden Erwählung Israels festhalte. Auf diese Frage ist im folgenden Kapitel näher einzugehen. Die Frage, inwiefern die Sühnevorstellung für Paulus zentral ist – was etwa von Schnelle, Paulus, 507 vehement verneint wird – kann hier nicht diskutiert werden. Es sei lediglich bemerkt, dass sich diese Frage nicht allein traditionsgeschichtlich beantworten lässt, sondern nur dann, wenn die Sache, die Paulus zur Sprache bringen möchte, thematisiert wird: die Heilsbedeutung des Todes Jesu als eines Geschehens „für uns“ (Gal 3,13). 136 Lev 16,2.13.14.15; Roloff, ἱλαστήριον, 456 weist darauf hin, dass der griechische Begriff auch bei Philo die Deckplatte der Bundeslade bezeichnet, s. etwa Philo Cher. 25. 137 Von der ַכֹּפּ ֶרתist in Ex 25,17–22 die Rede. 138 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 762, s.v. ἱλαστήριον; Roloff, ἱλαστήριον, 455.
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Begegnung mit dem Schöpfer (2Kor 4,6)
eines „Beschwichtigungsmittels“ zu interpretieren,139 gehen m. E. an der Aussageintention des Paulus an dieser Stelle vorbei. Die Tradition, die er aufnimmt, ist von einer metaphorischen Deutung der Bundeslade bestimmt, mit der der Aspekt der heilsamen Gottesbegegnung im Blick ist, um den es Paulus in Röm 3,25 geht.140 Von der ַכֹּפּ ֶרתheißt es in Ex 25,22, in der Fassung der Septuaginta: καὶ γνωσθήσομαί σοι ἐκεῖθεν καὶ λαλήσω σοι ἄνωθεν τοῦ ἱλαστηρίου ἀνὰ μέσον τῶν δύο χερουβιμ – „Und ich werde mich dir von dort zu erkennen geben und ich werde
mit dir von der Sühnestätte herab sprechen“.141 Demnach ist das ἱλαστήριον der Ort142 der Gottesbegegnung, an dem Gott sich zu erkennen gibt. Das in Röm 3,25 angesprochene „Blut“ Christi spielt darauf an, dass durch das Sprengen des Blutes an die „Deckplatte“ (Lev 16,14f) die Begegnung mit Gott in einer Weise ermöglicht wird, die durch den Tod hindurch führt zum Leben.143 Diese heilsame Gottesbegegnung ereignet sich nach Paulus in Jesus Christus. Hier begegnet der heilige Gott so, dass diese Begegnung in die Gottesgemeinschaft führt. Hier kann er deshalb für den Menschen auch erkannt werden als der Gott, der er für ihn durch das Christusgeschehen ist. So setzt Paulus auch in Röm 3,25 Jesus Christus als Ort der Gottesbegegnung voraus. Darin ist diese Aussage 2Kor 4,6 vergleichbar. In der Begegnung mit Jesus Christus ereignet sich die Begegnung mit dem Schöpfer. In Jesus Christus wird deshalb das verwirklicht, was nach Röm 1,21 ausbleibt: die „Verherrlichung“ Gottes, in der Gott als Gott anerkannt und seine δόξα lobpreisend bekannt wird (Phil 2,11). Diese Zielvorstellung teilt Paulus nun wiederum mit der Stoa und auch mit Philo.144 Entscheidend ist allerdings, wie die Menschheit nach
139 So Eschner, Gestorben und hingegeben I, 46. 140 In diesem Sinne erklärt Wilckens, Röm I, 193: „So bleibt als Erklärung der Wortwahl von ἱλαστήριον nur die Annahme, daß der gekreuzigte Christus hier als Kapporät des Versöhnungsfestes, durch seinen Tod dieses ersetzend, von Gott öffentlich eingesetzt worden ist, als die Stätte der Gegenwart seiner heilschaffenden Gerechtigkeit, um ,durch sein Blut‘ Sühne für alle der Sünde verfallenen Menschen zu schaffen.“ 141 Übersetzung nach Septuaginta Deutsch. 142 Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 249 betont mit Recht die lokale Konnotation des Begriffs ἱλαστήριον, die er mit der Übersetzung „Sühneort“ wiedergibt. 143 Gese, Sühne, 104. 144 Vgl. den Zeus-Hymnus des Kleanthes, an dessen Ende es heißt: „Doch Du, Zeus, Allesgeber, Dunkelwolkiger, Hellblitzender, löse die Menschen aus ihrer unseligen Unwissenheit, verjage sie, Vater, aus ihrer Seele, gib, dass ihnen Einsicht zuteil werde, auf die vertrauend Du alles mit Gerechtigkeit lenkst, auf dass wir geehrt Dir die Ehre erwidern, indem wir unablässig Deine Werke besingen, wie es sich dem Sterblichen geziemt; haben doch weder die Menschen noch die Götter eine größere Ehrengabe, als stets das umfassende Gesetz in Gerechtigkeit zu lobpreisen.“ Zitiert nach Forschner, Stoa, 157, vgl. Bornkamm, Offenbarung, 18. Philo ebr. 117f: „Für den Zusammenklang und die Harmonie liegt ein gewichtiger Beweis darin, daß sie Gott das Geschenk darbringen, d. h. das Seiende durch das klare Bekenntnis geziemend ehren, dies ganze Weltall sei ein Geschenk von ihm … Jeder von uns findet sofort nach der Geburt das große Geschenk Gottes
Die Erkenntnis des Schöpfers
der Auffassung des Paulus zu diesem Ziel gelangt. Es ist deutlich geworden, dass für Paulus die konkrete Gottesbegegnung der Ausgangspunkt für die Rede von der Schöpfung und vom Schöpfer ist. Diese Begegnung aber ereignet sich in Jesus Christus. In ihm hat sich Gott dem Paulus als Schöpfer erschlossen. In Gesetz und Gnade begegnet dem Menschen Gott nicht als „Prinzip“ der Welt, sondern als Gegenüber, als Subjekt. Dieses Subjekt begegnet in heilsamer Weise in Jesus Christus, weil diese Begegnung in die Gottesgemeinschaft führt. Die paulinische Verkündigung zielt darauf, alle Menschen zu dieser Begegnung zu führen, die im Evangelium als δύναμις θεοῦ zu ihrer Verwirklichung kommt.
vor, die vollkommene Welt; denn ihr selbst und ihren besten Teilen hat er sie gnädig geschenkt.“ (Übersetzung Cohn).
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Siebtes Kapitel: Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
1.
Gottesbegegnung und „Rechtfertigungslehre“
Die Christus-Begegnung des Paulus vor Damaskus kann – auch angesichts der vielen Diskussionen, die um ihre Bedeutung geführt worden sind – durchaus als der „Ursprung“ der Theologie des Paulus1 verstanden werden. Die verschiedenen Hinweise, die Paulus in seinen Briefen zu diesem Ereignis gibt, sind weder einfach disparat2 noch bliebe verborgen, was Paulus vor Damaskus gesehen hat3 . Dass die Bemerkungen, die Paulus dazu macht, „diskret und durchweg interessegeleitet“ sind, dass sie einem argumentativen Ziel dienen und sich keiner autobiographischen Absicht verdanken, wie Michael Theobald mit Recht bemerkt,4 spricht keineswegs gegen die Annahme, dass sich aus ihnen ein zusammenhängendes Bild konstruieren lässt, das freilich etwas anderes als eine „detaillierte“ oder „objektive“ Beschreibung5 der Christus-Vision vor Damaskus bietet. Diese Begegnung hat für Paulus eine grundlegende Bedeutung, die er nur an manchen Stellen explizit macht, die sein Denken aber durchweg bestimmt. Die zurückhaltende Art, in der Paulus von „Damaskus“ redet, weist darauf hin, dass diese Begegnung für ihn einzigartig und deshalb nur schwer zu fassen war. Paulus versteht sie als eine Gottesbegegnung, die begrifflich nicht vollständig einholbar ist. Diese Gottesbegegnung prägt und verändert das paulinische Verständnis der jüdischen Tradition. Im Blick auf die Christologie bezieht sich Paulus immer wieder auf frühchristliche Traditionen. Das
1 So der Titel der Untersuchung von Dietzfelbinger, Berufung. 2 Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 237 (oben bereits zitiert). 3 So bemerkt etwa Öhler, Geschichte, 189: „An all den genannten Stellen spielt der Hinweis auf die Berufung auf Gott eine mehr oder weniger große Rolle im Zusammenhang der Verteidigung bzw. Absicherung des Apostolats des Paulus, eine objektive Darstellung ist das sicherlich nicht. Es ist aber auch bemerkenswert, dass Paulus dieses für ihn so umstürzende Ereignis nicht detailliert beschreibt. Was er gesehen und gehört hat, bleibt verborgen, Für Paulus war entscheidend, dass er damit zum Apostel wurde, der durch den Auferstandenen selbst mit der Verkündigung des Evangeliums beauftragt worden war.“ De facto argumentiert Öhler damit für ein Verständnis der Damaskus-Begegnung als „Berufung“, er unterschätzt aber die inhaltliche Bestimmtheit dieser Begegnung, die zum Ausgangspunkt der Theologie des Paulus und eben auch seiner „Rechtfertigungslehre“ wird. Die These, dass Paulus auf Damaskus nur Bezug nehme, wo er sich zu verteidigen hat (vgl. Schnelle, Paulus, 83) wurde oben bereits zurückgewiesen. 4 Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 237. 5 So Öhler, Geschichte, 189, der bemerkt, dass Paulus eine derartige Beschreibung nicht gebe (s. o.).
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
lässt sich auch zu Beginn des Römerbriefs beobachten. Seine „eigentliche“ theologische Denkleistung bezieht sich auf die Frage nach der Funktion des Gesetzes, die er von seiner Christuserkenntnis ausgehend neu beantworten muss und die er im Galater- und im Römerbrief tiefgreifend durchdenkt.6 Das, was man als die „Rechtfertigungslehre“ des Paulus beschreiben kann, ist für Paulus eine Konsequenz aus dem vor Damaskus Erkannten, auch wenn es sich erst in Auseinandersetzungen und Abgrenzungen inhaltlich herauskristallisiert und erst im Galater- und im Römerbrief begrifflich im Oppositionspaar von ἔγρα νόμου und πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ greifbar wird7 und auch in Phil 3,9 erkennbar ist.8 Die Auseinandersetzungen um die beschneidungsfreie Heidenmission werden allerdings bereits im frühesten Schreiben, das wir von Paulus haben, greifbar. Die scharfe Polemik gegen die Ἰουδαῖοι ergibt sich in 1Thess 2,14–16 aus dem Vorwurf, „dass sie uns hindern, zu den Heiden zu reden, damit sie gerettet werden“ (V. 16).9 Diese „Hinderung“ meint offensichtlich die Ablehnung einer Integration der Heiden in die Heilsgemeinschaft ohne eine Verpflichtung auf die Tora. Es besteht kein Anlass, die Verse 1Thess 2,14–16 dem Paulus abzusprechen.10 Sie fügen sich gut ein in sein Denken, auch wenn Paulus das hier getroffene scharfe und endgültige Urteil über „die Juden“ im Römerbrief korrigiert. Das aber bedeutet, dass Paulus offensichtlich von Anfang an mit Auseinandersetzungen um seine beschneidungsfreie Heidenmission konfrontiert war und diese zu bedenken hatte. Auch im Römerbrief betont Paulus von Anfang an, dass sich das Evangelium, dem er verpflichtet ist, an Juden und Heiden richtet. Diese zentrale Einsicht (Röm 1,16b) steht nicht zufällig in der Mitte des Abschnitts, in dem Paulus die Israel-Frage thematisiert (Röm 10,12 im Kontext von Röm 9–11). Paulus behält die grundlegende Unterscheidung der Menschheit in „Juden“ und „Heiden“ einerseits bei, er sieht sie aber in einer bestimmten Hinsicht als durch das Christusereignis relativiert an.11
6 In Gal 3,19 formuliert Paulus direkt die damit verbundene Frage: Τί οὖν ὁ νόμος; Zu dieser Frage s. insbesondere die Ausführungen in Gal 3,10–4,7; Röm 3,19f; 4,13–25; 5,13; 7,7–25. 7 Gal 2,16; 3,2.5.10; Röm 3,20.28, vgl. 3,27; 4,2.6; 9,12.32; 11,6. Zur Diskussion s. v. a. Hofius, „Werke des Gesetzes“, 49, zur Auseinandersetzung um die Wendung ἔγρα νόμου s. Bachmann, 4QMMT; ders., Keil oder Mikroskop?; ders., Merkwürdigkeiten; Landmesser, Umstrittener Paulus; Westerholm, Perspectives, 297–340. 8 Vgl. Wolter, Rechtfertigungslehre, 348. 9 1Thess 2,16a: … κωλυόντων ἡμᾶς τοῖς ἔθνεσιν λαλῆσαι ἵνα σωθῶσιν. Worin die σωτηρία sich konkret artikuliert, spricht Paulus in Röm 10,9 aus: im Bekenntnis zu Jesus Christus, in dem Gott an den Menschen handelt. Becker, 1Thess, 227 paraphrasiert die 1Thess 2,16 greifbar werdende Auffassung des Paulus mit den Worten: „Dadurch, daß die Juden die Heidenmission behindern, erweisen sie sich als Feinde gegen Gott wie gegen Menschen und laden Schuld auf sich.“ 10 Zu diesem Ergebnis kommt mit Recht auch Jantsch, Gottesverständnis, 125–129. 11 Das ließ sich etwa an 1Kor 1,23f beobachten: Bleiben die Gruppen von „Juden“ und „Griechen“ in ihrer Ablehnung der Kreuzesbotschaft voneinander unterscheidbar – für die einen ist sie ein
Gottesbegegnung und „Rechtfertigungslehre“
Das lässt sich besonders gut im Römerbrief beobachten, den Paulus bekanntlich an eine Gemeinde schreibt, die er nicht gegründet hat und die er noch nicht persönlich kennt.12 Sie besteht überwiegend aus Heidenchristen, aber auch aus gebürtigen Juden,13 und offensichtlich möchte Paulus diesen Zusammenhang in einer besonderen Weise thematisieren.14 Dieses Anliegen lässt sich direkt darin entdecken, dass Paulus in Röm 1,3f eine geprägte Tradition aufnimmt, deren inhaltliches Proprium darin gesehen werden kann, dass Paulus nur hier von der Abstammung Jesu ἐκ σπέρματος Δαυίδ (V. 3b) spricht.15 Diese Besonderheit führt viele Ausleger zu der Annahme, dass es sich in Röm 1,3f um eine vor-paulinische Tradition judenchristlichen Ursprungs handelt.16 Diese Annahme hat die Interpretation von Röm 1,3f nachhaltig bestimmt. Die methodischen Schwierigkeiten bei der Scheidung von
σκάνδαλον, für die anderen μωρία – so sind sie als „Berufene“ gerade miteinander verbunden, und
zwar: durch Christus, der für sie alle zu „Gottes Macht und Gottes Weisheit“ geworden ist. 12 Das wird bereits in Röm 1,8–15 deutlich. Auch die Apostelgeschichte belegt, dass es in Rom bereits eine christliche Gemeinde gibt, als Paulus dort ankommt (Apg 28,15). 13 Vgl. dazu die Grußliste in Röm 16,3–16. Lietzmann, Röm, 26 stellt fest, die römische Gemeinde sei „heidenchristlich“. Sowohl Apg 28,17, wo von dem Zusammentreffen des Paulus mit Juden in Rom berichtet wird, denen er das Evangelium verkündigt, die sich darüber aber gerade entzweien (28,25), als auch das von Sueton erwähnte „Claudius-Edikt“ (Suet. Cl. 25,4) lassen sich als Hinweise auf Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen und der entstehenden christlichen Gemeinde in Rom deuten, die mit den Missionserfolgen der Christusgläubigen im Kontext der Synagoge verbunden gewesen sein könnten (Schnelle, Paulus, 332). Auch Wilckens, Röm I, 34 weist das Urteil zurück, dass die Römische Gemeinde ausschließlich heidenchristlich gewesen sei, auch wenn Paulus die Israel-Frage aus einer christlichen Binnenperspektive heraus thematisiert, also in erster Linie „über“ Israel redet (vgl. ebd.) und er die Gemeinde in Rom als „christlichen Vorort der ἔθνη im Westen und also als wichtigen künftigen Mittelpunkt seiner Heidenmission in dieser Region im Blick“ habe. 14 Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids …“, 258. 15 Das Motiv Jesu als „Davidssohn“ begegnet im Neuen Testament vor allem in der Evangelienüberlieferung: In der Erzählung von der Blindenheilung Mk 10,47f parr. Mt 20,30f (Doppelüberlieferung in Mt 9,27), dann in Lk 18,38f, beim Einzug Jesu in Jerusalem Mk 11,10 und bei der Frage nach der Davidssohnschaft des Messias Mk 12,35–37 parr. Mt 22,42–45; Lk 20,41–44. Im Matthäusevangelium ist darüber hinaus in Mt 1,1; 12,23; 15,22; 21,9.15 von Jesus als „Davidssohn“ die Rede. Und schließlich sind die Stellen aus der lukanischen Geburtserzählung zu nennen: Lk 1,32, vgl. Apg 13,22f, der Sache nach aber auch die Rede von Josef als „Davidssohn“, durch den Jesus zum „Davididen“ wird: Mt 1,20; Lk 2,4. Im Johannesevangelium: Joh 7,42. Sie begegnet dann ein-Mal in der nachpaulinischen Tradition (1Tim 2,8), zwei-mal in der Johannesapokalypse (Offb 5,5; 22,16) und dann im zweiten Jahrhundert bei Ignatius von Antiochien (IgnEph 18,2; 20,2; IgnTrall 9,1; IgnRöm 7,3; IgnSm 1,1). S. dazu unten. 16 So etwa Käsemann, Röm, 6; Lohse, Röm, 64; Schlier, Röm, 22f; Schmithals, Röm, 48; Stuhlmacher, Röm, 21; Wilckens, Röm I, 56f; Zeller, Röm, 35. Vgl. Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“, 239 und die dort mit Anm. 24 genannten Autoren, zur älteren Forschung Schweizer, Gegensatz, 180.
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
Tradition und Redaktion sind inzwischen erkannt worden.17 Mit Recht ist deshalb darauf hingewiesen worden, dass die Auslegung kein zu großes Gewicht auf die Annahme paulinischer „Zusätze“ zur Tradition legen sollte.18 Genau dies ist aber – analog zur Auslegung von Phil 2,6–1119 – immer wieder geschehen. Hinter dem Verständnis von „Tradition“ und „Redaktion“ steht ein bestimmtes Bild der Entwicklung der frühen Christologie, das offengelegt werden muss, um am Text selbst diskutiert werden zu können. Grundannahmen der älteren Forschung sind offensichtlich aber auch noch in solchen Auslegungen wirksam, die diese eigentlich schon nicht mehr teilen. Die hinter der methodischen Frage liegende hermeneutische Frage besteht darin, wie das Verhältnis von Tradition und Interpretation genau zu bestimmen ist. Was bedeutet es, wenn Jesus als ἐκ σπέρματος Δαυίδ bezeichnet wird? Und was sagt diese Beschreibung über das Verständnis der Wirklichkeit Gottes in der Welt aus? Diesen Fragen möchte ich in diesem Kapitel nachgehen. Dazu ist zunächst der argumentative Kontext des Römerbriefs in den Blick zu nehmen.
2.
Der argumentative Kontext des Römerbriefs
Bei dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom handelt es sich um eines der spätesten Schreiben, die uns erhalten sind.20 Zudem lässt das Schreiben ein relativ weit entwickeltes Stadium der paulinischen Theologie erkennen. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Apostel sich gegenüber der ihm persönlich noch unbekannten Gemeinde, von der er offensichtlich Unterstützung erhalten möchte, in einer grundsätzlichen Weise erklärt. Dies alles begründet die nachhaltige Wirkung, die der Römerbrief entfaltet hat. Im Prozess der Kanonisierung stand er als das längste erhaltene Schreiben des Apostels von Anfang an meist am Beginn des Corpus Paulinum,21 so dass die paulinische Theologie in seinem Licht konstruiert wurde. In einem gewissen Kontrast dazu stellt sich die historische Genese der paulinischen
17 Exemplarisch Wolter, Röm I, 78, der erklärt: „Versuche, die ursprüngliche Gestalt der Tradition zu rekonstruieren, gibt es viele. Sie müssen jedoch allesamt scheitern, denn weder lassen sich die paulinischen Ergänzungen mit hinreichender Gewissheit identifizieren, noch kann man ausschließen, dass Paulus die Tradition verkürzt und Formulierungen weggelassen hat. Man kommt darum nicht über die Feststellung hinaus, dass sich in V. 3b–4a Traditionelles und Paulinisches so miteinander verbinden, dass sich das eine nicht vom anderen trennen lässt.“ S. dazu auch Jewett, Romans, 97ff. 18 Schreiner, Romans, 40. 19 S. dazu das folgende Kapitel 8. 20 Einige Ausleger halten den Römerbrief sogar für den spätesten Paulusbrief, so etwa Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids …“, 237, Anm. 12. S. dazu auch die Ausführungen zur historischen Verortung des Philipperbriefs zu Beginn von Kapitel 8 dieser Arbeit. 21 Vgl. Theobald, Römerbrief, 213f.
Der argumentative Kontext des Römerbriefs
Theologie dar, die in der Forschung unter dem Stichwort einer möglicherweise rekonstruierbaren „Entwicklung“ bzw. „Wandlung“ der Theologie des Paulus thematisiert wurde.22 Es lässt sich dabei beobachten, dass Paulus von einem klar bestimmbaren theologischen Konzept ausgehend in den einzelnen Situationen reagiert und so auch zu Klärungen und Vertiefungen gelangt, die Ausdruck der Tatsache sind, dass der Apostel die ihm begegnenden Ereignisse und Probleme durchweg theologisch behandelt und durchdenkt.23 Weil sich die Theologie des Paulus in konkreten Kontexten entfaltet, ist für das Verständnis des Römerbriefes die Situation der Gemeinde, an die Paulus schreibt, von Bedeutung. Bekannt ist der Hinweis bei Tacitus, dass den Römern der Glaube der Christusgläubigen als „Aberglaube“ (superstitio) galt. In seinen Annalen berichtet er von Maßnahmen Neros gegen die Christiani.24 So ist die Gemeinde in Rom
22 Grundlegend dazu Schnelle, Wandlungen; Theobald, Wandlungen, vgl. Landmesser, Entwicklung; Lindemann, Eschatologie; Sänger, Adressaten. Die Art der „Wandlungen“ und die Möglichkeit der Rekonstruierbarkeit werden unterschiedlich bestimmt. Theobald, aaO., 511, vgl. 506 sieht vor allem im Blick auf die Israel-Frage vom Ersten Thessalonicherbrief zum Römerbrief eine „Wandlung“ vollzogen. Diese Bestimmung ist einleuchtend. Umstritten ist hingegen die Frage, ob sich hinsichtlich der Eschatologie Entwicklungen im paulinischen Denken beobachten lassen. Lindemann, aaO., 82 sieht die Unterschiede der entsprechenden Äußerungen des Paulus kontextuell bestimmt und bestreitet daher eine „Entwicklung“. Landmesser, aaO., 193f arbeitet hingegen eine Entwicklungslinie zwischen dem Ersten Thessalonicherbrief über den Ersten Korintherbrief bis hin zum Philipperbrief heraus. 23 Landmesser, aaO., 194 weist im Blick auf die Frage nach der Eschatologie darauf hin, dass die zu beobachtende „Ausdifferenzierung keine wesentliche Veränderung der entscheidenden Inhalte der eschatologischen Aussagen des Paulus“ bedeute und erklärt: „Damit setzt Paulus Maßstäbe für eine theologische Theoriebildung überhaupt.“ Es ist gerade dieser Zusammenhang von innerer Konsistenz und der Flexibilität, auf konkrete Situationen zu reagieren, in der sich die Qualität einer Theologie zeigt. 24 Die Äußerung wird meist mit dem Brand Roms 64 n. Chr. in Zusammenhang gebracht. Hier fällt der Begriff superstitio: „Um also dieses Gerede aus der Welt zu schaffen, schob Nero die Schuld auf andere und bestrafte sie mit ausgeklügelten Martern. Es handelte sich um die wegen ihrer Untaten verhaßten Leute, die das Volk Christen zu nennen pflegte. Der Name geht auf Christus zurück, der unter der Herrschaft des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Dadurch für den Augenblick unterdrückt, flammte der verhängnisvolle Aberglaube (superstitio) später wieder auf, nicht nur in Judäa, der Heimat dieses Übels, sondern auch überall in der Hauptstadt, wo alle schrecklichen und schändlichen religiösen Bräuche von überallher zusammenkommen und geübt werden.“ Tac. Ann. XV 44,2f (Text und Übersetzung nach Guyot/Klein, Christentum, 17. Dabei wird die Lesart Christiani vorausgesetzt, während die Tusculum-Ausgabe, 748 Chrestianos liest [s. u.]). Schnelle, Paulus, 336 weist darauf hin, dass Sueton in seiner Nero-Darstellung (Suet. Nero 38,1–3) die Christen im Zusammenhang mit dem Brand Roms nicht erwähnt und versteht den Hinweis auf die Maßnahmen gegen die Christengemeinde deshalb allgemeiner: „Vielleicht gerieten die Christen schon vor 64 n. Chr. in das Visier der römischen Behörden, und der Römerbrief bezeugt diese Entwicklung in ihren Anfängen.“ (ebd.)
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
mit dem massiven Machtanspruch des Römischen Staates konfrontiert, der religiöse Züge trägt.25 Die Kreuzigung Jesu hingegen ist für die Römer ein unbedeutendes Ereignis. Angelos Chaniotis formuliert dazu aus heutiger Perspektive: „Was Millionen Menschen als das wichtigste Ereignis der Weltgeschichte betrachten, wird vom bedeutendsten Historiker der Kaiserzeit (sc. Tacitus) nur kurz erwähnt.“26 Auch Plinius habe nur „eine äußerst vage Vorstellung davon“ gehabt, „wer diese Christen sind“.27 Gleichzeitig wird in Rom die politische Dimension des Gottesglaubens sichtbar, auf die Udo Schnelle in letzter Zeit aufmerksam gemacht hat.28 Der religiöse Kult hat konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen, denn „Religion war als soziale Wirklichkeit von höchster Wichtigkeit für die Stabilität der Gesellschaft“, da „die kulturellen, militärischen und wirtschaftlichen Erfolge … den Römern als Zeichen der anhaltenden Gunst der Götter“ galten.29 Auch in Kleinasien wird der Geburtstag des Augustus als „Beginn der frohen Botschaften (εὐαγγελίαι) für die Welt“ bezeichnet.30 Hier wird deutlich, dass sich die „göttlichen“ Züge des Kaisertums – wie dies bereits bei den divinisierten hellenistischen Königen der Fall ist31 – an konkreten geschichtlich-politischen Taten festmacht, nämlich an dem militärisch erstrittenen und gesicherten Frieden für das Reich, in dem die Menschen leben. Der Gott, von dem Paulus redet, ist für ihn ebenfalls ein „Gott des Friedens“ (Röm 15,33; 16,20: ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης),32 aber es stellt sich die Frage, in welchem
25 Zur Situation der Gemeinde in Rom s. Lampe, Stadtrömische Christen; Schnelle, aaO., 331–336, Wilckens, Röm I, 33–42. Zur Bedeutung der Religion im Römischen Reich seit Augustus s. Chaniotis, Öffnung, 301–333.443–459; Rüpke, Pantheon, 192–217.218ff. 26 Chaniotis, Öffnung, 269. 27 Ebd. 28 Schnelle, Wege, 11–14. 29 AaO., 13f. 30 Das Dekret der Griechen von Asien für Augustus, griechischer Text bei Sherk, Roman Documents, 313f, deutsche Übersetzung zitiert nach Chaniotis, Öffnung, 301: „Die Vorsehung, die unser Leben ordnet, hat jeglichen Eifer und Ehrgeiz aufgebracht und das für unser Leben vollkommenste Gut geschaffen, indem sie Augustus hervorgebracht hat. Zur Wohltat der Menschen hat sie ihn mit jeglicher Tugend erfüllt und hat ihn uns und denen nach uns an ihrer Stelle zum Gott (Retter) gegeben, Er hat den Krieg beendet und den Frieden geordnet.“ Vgl. die Kommentierung bei Sherk, aaO., 337: „Augustus was σωτήρ, the savior of a war-torn and shattered world, the hope for the future, there bearer of εὐαγγελία.“ Chaniotis übersetzt mit „Gott“, was Sherk im Text mit dem Wort σωτήρ rekonstruiert. In einem anderen in diesem Zusammenhang stehenden Brief wird Augustus als θειότατος bezeichnet (Sherk, aaO., 329, vgl. aaO., 337). 31 S. dazu Chaniotis, aaO., 130–137. 32 Die Prädikation findet sich neben den genannten Stellen im Römerbrief auch in 1Thess 5,23; 2Kor 13,11; Phil 4,9, vgl. 1Kor 14,33. Das Stichwort εἰρήνη stellt Paulus betont an den Beginn des zweiten Hauptteils des Römerbriefes (Röm 5,1). Auch wenn hier an den „individuellen“ Frieden des Einzelnen mit Gott gedacht ist, so ist doch zu berücksichtigen, dass mit dem Stichwort „Frieden“
Gottes Evangelium als Ausgangspunkt der Rede von Gott (Röm 1,1f)
Sinne er dies ist. In diesem historischen Kontext gewinnt es an Bedeutung, dass Paulus den Römerbrief mit einer Tradition eröffnet, die von der Königsherrschaft Jesu Christi Zeugnis gibt und dabei die alte Thronverheißung an den Davididen aus 2Sam 7,12f aufnimmt. Denn diese Tradition greift ja ebenfalls eine Hoffnung auf, die sich auf die innerweltliche und politische Realisierung der Königsherrschaft Gottes bezieht, sich im Verlauf der Geschichte Israels dann allerdings wandelt und neu interpretiert wird.33 Paulus kann mit dieser Tradition demnach einerseits auf die Hoffnungsgeschichte Israels zurückgreifen, sich aber andererseits auch auf die Herrschaftsansprüche beziehen, mit denen die Römischen Christen konfrontiert sind. Diese Akzentuierung der Gottesherrschaft in Jesus Christus könnte gerade die entscheidende Intention bei der Aufnahme der Tradition in Röm 1,3f gewesen sein. Es geht dabei um eine Aussage über Gottes Wirklichkeit in der Welt. Durch das Geschehen, das hier geschildert wird, erhält nicht nur Jesus eine bestimmte Bedeutung, sondern auch Gott selbst. Um dies beschreiben zu können, soll zunächst der Text selbst in den Blick genommen werden.
3.
Gottes Evangelium als Ausgangspunkt der Rede von Gott (Röm 1,1f)
Zu Beginn des Römerbriefs weist Paulus ausdrücklich auf seine Berufung zum Apostel hin, die in der Christus-Begegnung bei Damaskus erfolgt ist.34 Anders als im Galaterbrief setzt Paulus sich an dieser Stelle aber nicht von einem möglichen Missverständnis (Gal 1,1: „Apostel …, nicht von Menschen …“) ab, sondern verbindet seinen Auftrag direkt mit dem Inhalt des Evangeliums, das er in Röm 1,3f entfaltet.35 Betont wird dabei, dass Gott bereits im Voraus angekündigt hat, was in Jesus Christus Ereignis geworden ist. In Röm 1,1f schreibt Paulus:
eben auch lebensweltlich-politische Aspekte verbunden sind, die das Verständnis des Begriffs mit beeinflussen. 33 Gese, Messias zeichnet diesen Prozess in einer theologisch tiefgehenden Weise nach. 34 Vgl. Schreiner, Romans, 32f; Wilckens, Röm, 62; Zeller, Röm, 34. 35 Wolter, Röm I, 79 erklärt, Paulus lasse in Röm 1,1 „gerade diejenigen Elemente fort, die den biographischen Bruch zwischen seiner pharisäischen Vergangenheit und seiner Tätigkeit als Verkündiger des Evangeliums thematisieren, obwohl sie ihm virtuell durchaus zur Verfügung gestanden hätten“. Gerade deshalb ist es aufschlussreich, dass Paulus den Inhalt seiner Christusbegegnung analog zu Gal 1,16 beschreibt. Der Ausgangspunkt der paulinischen Theologie ist die positive Erkenntnis dieser Begegnung. Aus dieser positiven Erkenntnis heraus ergeben sich dann auch die polemischen Abgrenzungen. Zu Beginn des Römerbriefs geht es Paulus eben gerade um die positive inhaltliche Entfaltung und ihre Verankerung in der heilsgeschichtlichen Tradition Israels.
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel, ἀφωρισμένος εἰς εὐαγγέλιον θεοῦ, ausgesondert für das Evangelium Gottes, ὃ προεπηγγείλατο διὰ τῶν προφητῶν das er im Voraus verheißen hat durch seine αὐτοῦ Propheten in (den) heiligen Schriften Παῦλος δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ, κλητὸς ἀπόστολος
ἐν γραφαῖς ἁγίαις
Neben Phil 1,1 ist Röm 1,1 die einzige Stelle, an der Paulus sich im Präskript als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ einführt.36 Nur im Römerbrief verbindet er diese Selbstbezeichnung allerdings direkt mit dem Aposteltitel, den er im Philipperbrief nicht gebraucht.37 Während das Wort δοῦλος („Sklave“, „Diener“) im hellenistischen Kontext „fast ausschließlich entwürdigenden, verächtlichen Sinn“ hat,38 bringt er im alttestamentlichen Kontext „Würde und Indienstnahme“39 zum Ausdruck. Die Bezeichnung „Knecht Gottes“ ( )ֶﬠֶבד ְיה ָוהverweist auf die Verpflichtung gegenüber einer höheren, göttlichen Autorität.40 Bereits Ernst Käsemann hat darauf hingewiesen, dass diese Titulatur, die Paulus auf sich anwendet, nicht als Ausdruck der Demut gegenüber der Römischen Gemeinde zu verstehen ist.41 Indem Paulus sich als „Knecht Christi Jesu“ bezeichne, gebrauche er einen Ehrentitel, mit dem „Jesus … kennzeichnenderweise an Gottes Stelle“ rücke.42 Die Würde dieser Bezeichnung ergibt sich daraus, wem Paulus dient, wem auch die Glaubenden in Rom dienen und wer sie deshalb miteinander verbindet.43 Die inhaltliche Akzentuierung des
36 In Phil 1,1 stellt Paulus sich gemeinsam mit Timotheus vor: Παῦλος καὶ Τιμόθεος δοῦλοι Χριστοῦ Ἰησοῦ. Vgl. zudem Eph 6,6; Kol 4,12; 2Tim 2,24; Jak 1,1; 2Petr 1,1; Jud 1; Offb 1,1; 2,20. 37 Die nachpaulinische Tradition hat die Bezeichnung in Tit 1,1 aufgenommen: Παῦλος δοῦλος θεοῦ, ἀπόστολος δὲ Ἰησοῦ Χριστοῦ. Oberlinner, Tit, 1 weist auf die auffälligen Übereinstimmungen zwischen dem Präskript des Titusbriefes (Tit 1,1–4) mit dem Präskript des Römerbriefes hin. An beiden Stellen findet sich eine ausführliche Beschreibung der „Funktion“ des Apostels. Wie in Röm 1,1 wird in Tit 1,2f die im Voraus ergangene Verheißung und deren Erfüllung angesprochen und wie in Röm 1,1 wird in Tit 1,3 an die Beauftragung des Paulus mit dem Dienst der Verkündigung erinnert. 38 Weiser, δουλεύω, 846. 39 Zeller, Röm, 34. 40 Schreiner, Romans, 32. Die Bezeichnung verdankt sich dem Sprachgebrauch der Septuaginta und ist auch in Qumran belegt (Wolter, Röm I, 79f). 41 Das meint etwa Wilckens, Röm I, 62. 42 Käsemann, Röm, 3. 43 Vgl. Wolter, Röm I, 80: „Zum semantischen Profil der Sklaven-Metapher gehört darum nicht nur das Merkmal der Unterwerfung und Abhängigkeit, sondern auch, dass ein Sklave nichts anderes tut als das, was sein Herr ihm aufträgt, und dass er nichts anderes ist als das Werkzeug seines Herrn. Es ist eben diese Konnotation, die Paulus hier zum Ausdruck bringen will, und darum sagt er nicht einfach nur, dass er ein Sklave ist, sondern wessen Sklave er ist. Er bietet damit gleich zu Beginn die Autorität desjenigen auf, dem sich auch die Adressaten seines Briefes zugehörig wissen.“
Gottes Evangelium als Ausgangspunkt der Rede von Gott (Röm 1,1f)
Römerbrief-Präskripts lässt bereits hier das Anliegen erkennen, eine gemeinsame Glaubensgrundlage zwischen der Römischen Gemeinde und Paulus zu benennen. Auch im Galaterbrief hatte Paulus sich als Χριστοῦ δοῦλος bezeichnet (Gal 1,10). Auch dort betont Paulus in besonderer Weise, wem er dient: nämlich Christus und keinem Menschen (vgl. Gal 1,1). Die Gegenüberstellung von „Menschen“ einerseits und Jesus Christus andererseits nimmt Paulus geradezu selbstverständlich vor.44 Er rechnet dabei offensichtlich mit dem Einverständnis der Glaubenden, an die er schreibt. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, dass für Paulus diese eigentlich unerhörte Würdestellung Christi gerade ein Charakteristikum des christlichen Glaubens ist, den er deshalb einst verfolgt hatte, bis ihm Christus als eben der erschienen ist, als den ihn die Christen verkündigten: als „Sohn Gottes“ (Gal 1,16). Die Prädikation Jesu als υἱὸς τοῦ θεοῦ gebraucht Paulus dann auch als „Inhaltsangabe“ seiner Evangeliumsverkündigung in Röm 1,3a, und sie bietet auch für die im Anschluss daran zitierte Formel den entscheidenden traditionsgeschichtlichen Hintergrund. Eine weitere Auffälligkeit der Selbstvorstellung im Römerbrief besteht darin, dass Paulus seine Selbstbezeichnung als ἀπόστολος mit dem Partizip κλητός verbindet und damit bereits darauf hinweist, was er dann als Aussonderung für das Evangelium Gottes (ἀφωρισμένος εἰς εὐαγγέλιον θεοῦ) beschreibt. Man kann hierin eine bewusste Anspielung auf seine Berufung erkennen, die Paulus zwar nicht entfaltet, auf die es ihm aber deshalb ankommt, weil er – ähnlich wie im Galaterbrief – gleich zu Beginn hervorheben möchte, dass sein Auftrag und seine Autorität im Inhalt des Evangeliums, das er zu verkündigen hat, begründet ist.45 Diesen Inhalt stellt er der Gemeinde in Röm 1,3f vor. Die seinen weiteren Ausführungen vorangestellte „These“ Röm 1,16f beschreibt dann den Charakter und die Wirkung des Evangeliums.46 Paulus unterstreicht, dass es das Evangelium Gottes ist, für das er „ausgesondert“ ist (1,1b, vgl. 15,16; 2Kor 11,7; 1Thess 2,2.8f). Hinter dieser Botschaft steht Gott selbst. Darum hebt Paulus hervor, dass diese Botschaft von Gott selbst angekündigt wurde, und zwar „durch seine Propheten“, „in heili-
44 S. dazu oben in Kapitel 5 dieser Arbeit. 45 Dieter Zeller macht darauf aufmerksam, dass das Partizip ἀφωρισμένος auf den in Gal 1,15f angesprochenen Gedanken der göttlichen Erwählung anspielt (Zeller, Röm, 34, ebenso Wilckens, Röm I, 62). Mit Recht hält er (im Gegensatz etwa zu Wilckens, ebd.) fest, dass Paulus den Römischen Christen gegenüber „die Rechtmäßigkeit seines Apostolats nicht wie Gal 1,1 zu verteidigen“ hat, es aber „wirkungsvoll“ herausstreicht (Zeller, ebd.). 46 Entscheidend ist die Charakterisierung des Evangeliums als δύναμις θεοῦ (1,16), die darin ihre Erläuterung findet, dass dem Evangelium die Macht zugeschrieben wird, zum Glauben zu führen und den Menschen dadurch in die Gottesgemeinschaft, die mit dem Stichwort δικαιοσύνη angesprochen ist, zu versetzen.
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
gen Schriften“.47 Die Formulierung macht zum einen deutlich, welche Bedeutung für Paulus die γραφαί haben, zum anderen ist dadurch erwiesen, dass er das in Röm 1,3f Beschriebene als eine Aussage ansieht, die in der Heiligen Schrift Israels gemacht wird. Aus diesem Zusammenhang heraus ist deutlich, dass Röm 1,3f vor seinem alttestamentlichen Hintergrund interpretiert werden muss. Als „heilige Schriften“ sind diese Texte, wie die Botschaft der Propheten, gegenwärtiges, weil göttliches Wort. Dieses göttliche Wort aber wird von Paulus ganz und gar von seiner Christus-Begegnung her verstanden, in der er seine Berufung erfahren hat. Gleichzeitig findet er es in der frühchristlichen Tradition vor, auf die er in Röm 1,3f Bezug nimmt. Wie in Röm 15,4 und in 1Kor 15,3f werden die „Schriften“ (γραφαί) im Plural genannt. So versteht Paulus das Evangelium im Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift angekündigt. Um dies aufzeigen zu können, nimmt er aber immer wieder auch auf ganz bestimmte Schriftstellen Bezug. Der Gott, der in den Propheten und den heiligen Schriften zur Sprache kommt, ist für Paulus ein gegenwärtig redender Gott.48 Um dieses gegenwärtige Reden zugänglich zu machen, bedarf es der Interpretation aus der Perspektive des Christusgeschehens und des Christusglaubens. Zu Beginn des Römerbriefes macht der Apostel der ihm persönlich noch unbekannten Gemeinde in Rom deutlich, dass er mit ihnen durch seinen Auftrag am Evangelium verbunden ist. Diese Bindung an das Evangelium versetzt die Glaubenden in ein spannungsvolles Verhältnis zu ihrer Umwelt, sowohl im römisch-hellenistischen Kontext als auch im Verhältnis zur jüdischen Gemeinde. Beide Gruppen werden von Paulus in Röm 1,16 ausdrücklich benannt. So weisen die einführenden Bemerkungen bereits darauf hin, was Paulus im Römerbrief ausführen wird. Was Paulus zu sagen hat, das hat seinen Grund im Inhalt des Evangeliums.
4.
Der Inhalt des Evangeliums (Röm 1,3f)
Die inhaltliche Entfaltung des Evangeliums zu Beginn des Römerbriefs ist von Hinweisen auf das Amt des Paulus gerahmt. Denn wie er sich in V. 1 als κλητὸς
47 Eine sachliche Nähe besteht zu Hebr 1,1f. Dabei lassen sich weitere Berührungen zu Röm 1,1–4 feststellen: der Hinweis auf das Reden Gottes durch die Propheten und die Vorstellung der Inthronisation des Sohnes, die in Hebr 1,5 mit 2Sam 7,14 belegt wird. 48 In diesem Sinn spricht Schneider, Gegenwart von „Gottes Gegenwart in der Schrift“. Ich betone an dieser Stelle noch deutlicher die Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Denn von der Erfahrung dieser Gegenwart aus ergibt sich für Paulus der Bezug auf „die Schrift“. Weil Jesus Christus für ihn Gottes Gegenwart ist, darum sieht er ihn in den „heiligen Schriften“ bereits beschreiben, seine Geschichte versteht er als integralen Bestandteil der Hoffnungsgeschichte Israels und gleichzeitig erhält diese Hoffnungsgeschichte eine entscheidende Wende, die sich in Gal 3,13 beobachten ließ (s. dazu das Kapitel 5 dieser Arbeit).
Der Inhalt des Evangeliums (Röm 1,3f)
ἀπόστολος vorgestellt hatte, so knüpft er in V. 5 an die Nennung des κύριος Ἰησοῦς Χριστός (V. 4b) an, von dem er sein Apostelamt empfangen hat (δι’ οὗ ἐλάβομεν χάριν καὶ ἀποστολήν). Das Stichwort χάρις nimmt den Gedanken der Berufung
(κλητός) auf,49 mit ἀποστολή wird das Amt als ἀπόστολος erinnert: In seinem Amt ist er auf jenes Ereignis verpflichtet, das er in den Versen 3 und 4 beschreibt. Gerade dies ist der Grund dafür, dass Paulus an dieser Stelle auf eine Tradition Bezug nimmt: Paulus steht in seinem Amt in einer Geschichte, in der auch die Römischen Glaubenden stehen. Er erinnert sie daran, wovon sie alle leben. Den Inhalt der im Folgenden zitierten Formel beschreibt Paulus mit „dem Sohn (Gottes)“ (περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ). Alles, was Paulus im Folgenden ausführen wird, ist von der mit diesem Titel beschriebenen Grundeinsicht her bestimmt. In Röm 1,3f heißt es:50 (3) περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ τοῦ γενομένου ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα,
(4) τοῦ ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ ἐν δυνάμει κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν, Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν
Bevor auf die Struktur der Formulierung und die Semantik der einzelnen Wörter eingegangen werden soll, ist zunächst der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Annahme einer vor-paulinischen Tradition in der Auslegungsgeschichte gehabt hat. Dabei lassen sich sprachliche von inhaltlichen Aspekten unterscheiden. Es finden sich in Röm 1,3f zum einen für Paulus ungewöhnliche Formulierungen, zum anderen ungewöhnliche Vorstellungen. Was zunächst die Formulierung anlangt, so ist auf den Parallelismus und den damit verbundenen Partizipialstil hingewiesen worden, der charakteristisch für Bekenntnisformulierungen ist.51 Ebenso ist auf die passivischen Formulierungen aufmerksam gemacht worden, die Parallelen in Bekenntnistexten haben.52 Zudem lässt sich darauf hinweisen, dass der Satzzusammenhang zwischen den Versen 3a und b unterbrochen wird. Dieser wird mit V. 4b mit Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν wieder aufgenommen.53 In V. 2 und dann in V. 4b begegnen zudem für Paulus charakteristische Formulierungen, von denen sich einige für Paulus ungewöhnliche Formulierungen in den Versen 3 und 4 absetzen: Das Verb ὁρίζειν, das bei Paulus sonst nicht vorkommt (s. aber ἀφωρίζειν V. 1b), aber in Apg 10,42 und 17,31 in ganz ähnlichen christologischen Zusammenhängen
49 50 51 52 53
Vgl. dazu 1Kor 15,10. Zur Übersetzung der Verse s. u. Schlier, Röm, 24; Wilckens, Röm I, 61; Wolter, Röm I, 78. Schlier, ebd. Er verweist auf Röm 4,25; 1Kor 15,3f; 1Tim 3,16. Schlier, aaO., 23; Wolter, Röm I, 78.
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
begegnet.54 Hinzu kommt die ungewöhnliche Formulierung πνεῦμα ἁγιωσύνης, für die Paulus normalerweise πνεῦμα ἅγιον schreibt,55 die aber in TestLev 18,11 belegt ist56 und die hebräische Wendung רוח הקדושׁwiedergibt. Als für Paulus ungewöhnliche Motive lassen sich zum einen die bereits angesprochene Bezeichnung Jesu ἐκ σπέρματος Δαυίδ sowie die Gegenüberstellung von κατὰ σάρκα und κατὰ πνεῦμα in V. 3b.4a in einem christologischen Zusammenhang nennen. Insbesondere das Nebeneinander der beiden mit κατά angeschlossenen Wendungen hat die Diskussion um ein hier angeblich greifbar werdendes frühes Stadium einer „Zweistufenchristologie“ angeregt.57 Bevor ich auf die Frage der Interpretation von Röm 1,3f selbst näher eingehe, möchte ich diese Diskussion zunächst beleuchten und ihre Auswirkungen für die gegenwärtige Auslegung durchsichtig machen.
5.
Das Problem einer „trennungschristologischen“ Auslegung von Röm 1,3f
In Rudolf Bultmanns Theologie des Neuen Testaments wird deutlich, wie sich das aus der Religionsgeschichtlichen Schule übernommene Bild von der Entwicklung der frühen Christologie auf die Auslegung von Röm 1,3f auswirkt. Bultmann sieht hinter Röm 1,3b den Titel „Davidssohn“ stehen, der aus der „nationalen [also: jüdischen] Tradition“ stamme und mit dem Messias-Titel identisch sei.58 Da er in der synoptischen Tradition nur selten vorkomme und auch bei Paulus ansonsten keine Rolle spiele, nimmt Bultmann an, der Titel habe „in der Urgemeinde keine große Rolle“ gespielt.59 Für Paulus habe der Titel „keine Bedeutung“, er lehne sich in Röm 1,3f aber „eine ihm überlieferte Formel“ an, um sich „dadurch der ihm fremden römischen Gemeinde als Apostel, der die rechte Lehre vertritt, auszuweisen“.60 Auch der „Sohn-Gottes“-Titel in Röm 1,4 stamme aus der Tradition. Bultmann erklärt:
54 Wilckens, Röm I, 57. Es ist dennoch zu fragen, ob es in Röm 1,4a dieselbe Bedeutung hat wie an den beiden genannten Stellen. Diese Frage ist insbesondere für die unten vorgestellte Auslegung von Käsemann, Röm, 9 von Bedeutung. S. dazu unten. 55 Zur paulinischen Formulierung s. Röm 5,5; 9,1; 14,17; 15,13.16; 1Kor 12,3; 2Kor 6,6; 1Thess 1,5.6 (Wolter, Röm I, 78). 56 S. die Übersetzung von Becker, JSHRZ III/1, 61: „Und er wird den Heiligen vom Baum des Lebens zu essen geben, und der Geist der Heiligung wird auf ihnen ruhen“. Zu TestLev 18,11 Käsemann, Röm, 9; Wilckens, Röm I, 57. 57 Exemplarisch Schweizer, Gegensatz; Wilckens, Röm I, 58, Wolter, Röm I, 86f und die aaO., 75 genannte Literatur. 58 Bultmann, Theologie, 52. 59 Ebd. 60 Ebd.
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„Den messianischen König meint auch der Titel ,Sohn Gottes‘, den Rm 1,3 gleichfalls als einen schon vor Paulus traditionellen bezeugt. Ob ,Sohn Gottes‘ schon im Judentum als Messiastitel gebräuchlich war, ist unsicher und umstritten; nachgewiesen ist er als solcher nicht. Doch muß es durchaus als möglich gelten, da Ps 2 der den König mit der altorientalischen Adoptionsformel als Sohn Gottes bezeichnet, wie in der christlichen Gemeinde, so schon im Judentum messianisch gedeutet wurde. Klar aber ist, daß dieser Titel weder im Judentum noch in der christlichen Gemeinde den mythologischen Sinn haben konnte wie später im hellenistischen Christentum, daß er also nicht den Messias als ein von Gott erzeugtes supranaturales Wesen bezeichnete, sondern einfach eine Königstitulatur war.“61
In der Tat besteht eine zentrale Frage für die Auslegung von Röm 1,3f darin, wie der Verweis auf David und die zwei-Mal (V. 3a; V.4a) begegnende Prädikation Jesu als υἱὸς τοῦ θεοῦ miteinander zu verbinden sind. Zu bemerken ist allerdings, dass in V. 3b nicht von Jesus als υἱὸς Δαυίδ (wie etwa in Mt 1,1) die Rede ist, sondern von seiner Abstammung ἐκ σπέρματος Δαυίδ gesprochen wird. Insofern werden hier nicht die Titel „Gottessohn“ und „Davidssohn“ zueinander ins Verhältnis gesetzt. Gesagt wird, dass der Gottessohn aus der Nachkommenschaft Davids stammt. Zudem ist danach zu fragen, wie der von Bultmann angesprochene Bezug auf Ps 2,7 beschrieben werden kann. Hier trifft Bultmann eine Grundentscheidung, die für die Diskussion folgenreich geworden ist: Er schließt sich der bereits angesprochenen These William Wredes an,62 die hinter Röm 1,4 stehende Tradition würde die Auffassung belegen, dass Jesus erst mit seiner Auferstehung „Sohn Gottes“ geworden sei – eben in Analogie zur „Adoption“ des Königs als „Sohn Gottes“ in Ps 2,7.63 So kommt Bultmann zu der Behauptung, die Tradition der markinischen Verklärungsgeschichte (Mk 9,7) würde im Verbund mit Röm 1,464 „beweisen“, dass „die Urgemeinde Jesus als den Sohn Gottes bezeichnet hat, der er eben durch die Auferstehung geworden ist“.65 Dieses frühe Verständnis der palästinischen „Urgemeinde“ unterscheidet Bultmann von demjenigen der „hellenistischen“ Gemeinde und diese wiederum von Paulus. Die damit getroffene Grundentscheidung wird sichtbar, wenn Bultmann erklärt:
61 AaO., 52f. 62 Vgl. Wrede, Messiasgeheimnis, 214 (s. dazu oben in Kapitel 1). 63 In diesem Sinne spricht etwa auch Seybold, Psalmen, 32 im Blick auf Ps 2,7 von „einer Art Adoptionsformel“, Die von Bultmann vorausgesetzte Bedeutung dürfte etwa bei Kraus, Psalmen I, 19 sichtbar werden: „Die Betonung der Gottessohnschaft des Königs (vgl. im AT auch Ps 89,27.28; 2Sam 7,13.14; 1Chr 28,6) nimmt auf den ägyptischen Benennungsgebrauch Bezug – jedoch ohne jegliche mythisch gegründete Vorstellung von einer physischen Zeugung. Der alttestamentliche König wird vielmehr ,Sohn Gottes‘ durch Berufung und zugesprochene Einsetzung.“ 64 Bultmann, Theologie, 53 schreibt fälschlicherweise Röm 1,3. 65 Ebd.
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„Aber freilich hat sie (sc. die Urgemeinde) den irdischen Jesus nicht, wie später die hellenistische Gemeinde, für einen ,Gottessohn‘ gehalten; und die Legende von Jesu Geburt aus der Jungfrau ist ihr noch unbekannt, wie auch Paulus sie nicht kennt.“66
Deutlich ist Bultmanns Absetzung von einem „mythischen“ Verständnis, wie er es in der ägyptischen Königsideologie und dann eben wieder in der hellenistischen Urgemeinde vorliegen sieht. Die Sicht, dass Jesus für die Gemeinde erst seit der Auferstehung „Sohn Gottes“ sei, begründet der Sache nach aber auch die viel kritisierte These Bultmanns, nach der „der historische Jesus“ nur zu den „Voraussetzungen“ der Theologie des Neuen Testaments gehöre.67 Umso überraschender ist es, dass ausgerechnet Ernst Käsemann, der seinen Lehrer an dieser Stelle bekanntlich massiv kritisiert hat,68 Bultmanns Verständnis von Röm 1,3f in der Römerbriefexegese bekräftigt. Bemerkenswert ist, dass Käsemann dabei sogar von der älteren Auslegung abrückt, wie sie Hans Lietzmann repräsentiert. Lietzmann hatte Röm 1,3f im Kontext der bei Paulus greifbar werdenden Christologie interpretiert und deshalb betont, dass sich bei Paulus die Bezeichnung „Sohn Gottes“ nicht einseitig auf den „Erhöhten“ beziehen lasse, sondern sowohl auf den irdischen (Röm 5,10; 8,32), den präexistenten (Röm 1,3; 8,3) als auch den „erhöhten“ (1Kor 1,9; 15,28; Gal 1,16) Christus bezogen sei. Folgerichtig erklärt Lietzmann: „Damit wird die auf den ersten Blick naheliegende Erklärung ausgeschlossen, welche eine adoptianische Christologie ergeben würde.“69 Für dieses Urteil verweist Lietzmann in erster Linie auf Röm 8,3, wo von der Menschwerdung des Gottessohnes die Rede ist. Käsemann stimmt Lietzmann nun zwar darin zu, dass Paulus mit dem Sohn-Gottes-Titel auch den präexistenten Christus im Blick hat, er erklärt aber: „Anders als Pls selber setzt die Formel jedoch noch nicht die Präexistenz und Gottessohnschaft des irdischen Jesus voraus (gegen Lietzmann). Die Antithese der beiden Zeilen und Verwendung des Terminus ,einsetzen‘ machen vielmehr deutlich, daß Jesus die Würde des Gottessohnes erst bei seiner Erhöhung und Inthronisation erhielt. So sprechen die beiden Partizipien ausdrücklich von einem ,Werden‘, nicht von einem Sein. Wie in Apg 2,36; 13,33 tritt hier eine adoptianische Christologie der frühen Christenheit zutage“.70
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Ebd. Bultmann, aaO., 1f. S. dazu Bauspiess, No quest, 148f. Käsemann, Problem; ders., Sackgassen s. auch ders., Neutestamentliche Fragen, 21. Lietzmann, Röm, 26. Lietzmann fügt hinzu, dass „unsere Stelle genau der Christologie von Phil 2,5–11“ entspreche. Er rechnet auch Gal 4,4 zu den Stellen über den „erhöhten“ Christus. Da es sich hierbei um eine Sendungsaussage handelt, muss die Stelle zu den Belegen, die auf den präexistenten Gottessohn bezogen sind, gerechnet werden. 70 Käsemann, Röm, 9.
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Für Käsemanns Auslegung ist demnach das Verständnis des in Röm 1,4 verwendeten Verbs ὁρίζειν, der als antithetisch bestimmte Parallelismus der Verse Röm 1,3b.4a sowie die Verbindung zu Apg 2,36 und 13,33 – wieder klingt Wredes These durch – entscheidend. Ferdinand Hahn hat sich diese Argumentation ausdrücklich zu eigen gemacht.71 Neben Hahn haben auch Eduard Schweizer und Klaus Wengst in diesem Sinne votiert.72 Schweizer erklärt: „Die Formel enthielt ursprünglich eine Christologie, nach der Jesus erst durch die Erhöhung zum Gottessohn eingesetzt wurde (Ag 13,33; 2,36; vgl. sachlich Mk 9,3.7). Die Gemeinde hat diese Sicht im Schema κατὰ σάρκα / κατὰ πνεῦμα kombiniert mit der vom offiziellen Judentum übernommenen Sicht Jesu als des irdischen Davididen. Paulus korrigiert, indem er υἱοῦ αὐτοῦ der ganzen Formel voranstellt.“73
Wie Schweizer erklärt auch Hahn die Worte περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ im Röm 1,3a als eine „Korrektur“ der Formel durch Paulus, wodurch dieser die „Zweistufenchristologie“ der Tradition „bereits etwas verwischt“ habe.74 Da die Argumentation implizit immer wieder vorausgesetzt zu werden scheint, sei sie hier etwas ausführlicher zitiert: „υἱὸς θεοῦ muß dementsprechend im Sinne der Übertragung einer Würde und Funktion verstanden werden; es handelt sich wieder um eine ausgesprochen alttestamentlichjüdische Denkweise. Auf keinen Fall darf die Vorstellung einer Gottessohnschaft im physischen Sinne eingetragen werden. Die königliche Prädikation aus Ps 2,7 ist hier aufgenommen. Der entscheidende Umbruch gegenüber der alten, zu Eingang nachgewiesenen palästinischen Anschauung75 liegt, wie bereits angedeutet, in der Übertragung der zuerst auf das endzeitliche Wirken bezogenen Prädikation auf Jesu gegenwärtige Wirksamkeit, genauer: auf seine Erhöhung. Es besteht keinerlei Grund, das Vorhandensein einer adoptianischen Vorstellung zu bestreiten, wenn dabei einerseits beachtet wird, daß dieser Terminus aus dem alttestamentlich-jüdischen Denken und nicht aus den späteren christologischen Streitigkeiten verstanden werden muß, und andererseits, daß diese ,Adoption‘ zum Gottessohn eine in besonderer Weise ausgezeichnete Davidssohnschaft, also eine erste christologische Stufe vorausgeht.“76
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Vgl. Hahn, Hoheitstitel, 254 (s. u.). Vgl. Wengst, Christologische Formeln, 112–117. Schweizer, πνεῦμα, 415, vgl. ders., Gegensatz, 180. Hahn, Hoheitstitel, 252 mit Verweis auf Schweizer, Der Glaube an Jesus den „Herrn“, 11. Vgl. Hahn, Hoheitstitel, 246: Das Motiv der Davidssohnschaft trägt im Frühjudentum „deutliche diesseitig-politische Züge“, sei im frühen Christentum aber vor apokalyptischen Hintergrund mit der Erwartung der Wiederkunft Christi verbunden worden. 76 Hahn, Hoheitstitel, 254.
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Die These, dass Paulus in Röm 1,3f eine christologische Vorstellung aufnehme, die er durch seine eigene Christologie korrigiere, wurde im Anschluss an Käsemann, Hahn, Schweizer und andere Exegeten zu einer festen Überzeugung der Forschung, ebenso wie die Auffassung, dass „die Gottessohnschaft (Jesu) mit der Einsetzung in das himmlische Messiasamt aufgrund der Auferstehung verbunden“ gewesen sei.77 Es ist allerdings zu fragen, wie plausibel diese These ist. Denn bereits die von Bultmann genannte Textpragmatik spricht entschieden gegen sie. Wenn Paulus mit der Aufnahme der Tradition in Röm 1,3f der Römischen Gemeinde zeigen möchte, dass sie eine gemeinsame Glaubensgrundlage haben, dann hat die Annahme, er hätte dazu eine Tradition verwendet, die seiner eigenen Christologie widerspricht, keinerlei Plausibilität. Zudem überschätzt die These den innovativen Charakter der paulinischen Christologie. Die Stellen, an denen Paulus von Jesus als „Sohn Gottes“ spricht, deuten darauf hin, dass der Apostel die Prädikation aus der Tradition übernommen hat.78 Das gilt insbesondere für diejenigen Stellen, an denen Paulus von einer „Sendungschristologie“ spricht wie Gal 4,4 und Röm 8,3. In seiner Rede von Jesus als „Sohn Gottes“ ist Paulus der frühchristlichen Tradition verpflichtet. Er integriert sie in seine eigene Theologie,79 und genau damit wirkt sie sich nun auch auf die paulinische Rede von Gott aus. Trotz ihrer inzwischen von einigen Auslegern erkannten Problematik80 bleibt die These einer „Zwei-Stufen-Christologie“, die in Röm 1,3f angeblich greifbar werde, auch in neueren Kommentaren wirksam. So kann etwa Matthias Konradt in seinem Matthäus-Kommentar ohne weitere Begründung behaupten, dass Paulus in Röm 1,3f eine judenchristliche Tradition aufnehme, „nach der Jesus der Nachkommenschaft Davids entstammt und durch die Auferweckung als Sohn Gottes eingesetzt wurde“.81 Matthäus unterscheide sich darin gerade von Paulus, da dieser – in bemerkenswerter Modifikation von Mk 1,1! (s. dazu unten) – im ersten Vers seines Evangeliums (Mt 1,1) Jesus als υἱὸς Δαυίδ vorstellt und dabei davon ausgehe,
77 Hahn, υἱός, 920. 78 Das bemerken auch Labahn/Labahn, Sohn Gottes, 103. Besonders deutlich ist dies m. E. in Gal 1,16; 2,20; 4,4.6; Röm 8,3. Schwieriger zu entscheiden ist etwa 1Thess 1,10, denn hier könnte Paulus den Titel bewusst verwenden, um den Bezug zur „Vater“-Prädikation Gottes in 1,1.3 herzustellen. Der Sache nach knüpft er aber auch hier an ihm vorgegebene Tradition an. 79 Hahn, υἱός, 921 formuliert mit Recht, dass sich trotz der relativ wenigen Stellen, an denen Paulus vom „Sohn Gottes“ spricht, „eine umfassende christologische Konzeption“ erkennen lasse. Dafür argumentieren ausführlich Labahn/Labahn, aaO., 119f (zusammenfassend). 80 Vgl. Labahn/Labahn, aaO., 104f. Die Autoren erklären, eine „Zweistufenchristologie“ treffe „nicht die Aussage der Tradition“. Sie sehen darin aber „zwei Phasen der Existenz Jesu (Christi) – Davidssohnschaft und Gottessohnschaft“ beschrieben, „deren Übergang die Auferstehung markiert“. Auch diese Bestimmung ist m. E. nicht zutreffend. Sie entspricht sachlich dem, was ich unten zur Auffassung von Ulrich Wilckens ausführen werde. 81 Konradt, Mt, 11.
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dass Jesus von Anfang an auch „Sohn Gottes“ sei. Darin sei eine Weiterentwicklung gegenüber Paulus zu erblicken.82 Derartige Entwicklungslinien sind in der Literatur schon früher behauptet worden: So zeichnet Ulrich Wilckens in seinem erstmals 1978 erschienenen Kommentar zum Römerbrief auf der mit Käsemann, Hahn und Schweizer eingeschlagenen Linie eine ganze Entwicklungsgeschichte der „Davidssohn“-Christologie nach, die in der vorpaulinischen Tradition beginne und bis zu den Ignatiusbriefen führe. Bezeichnend ist Wilckens‘ Bemerkung, dass das „traditionelle Sühnemotiv“, für das er auf 2Kor 5,21 und Gal 3,13 hinweist, Röm 1,3 „völlig fernliegt“. Der Skopus der Aussage sei deshalb auch „ganz anders“ als in Gal 4,4.83 Für die in Röm 1,3f aufgenommene vor-paulinische Tradition setzt Wilckens offensichtlich voraus, dass hier von einer „Einsetzung“ Jesu zum Sohn Gottes in der Auferstehung die Rede gewesen sei, bemerkt dann aber, dieser Gedanke sei „der paulinischen Christologie durchaus fremd“.84 In 2Tim 2,8 erblickt Wilckens dieselbe Tradition, aber noch ein älteres Traditionsstadium als Röm 1,3f, in der der Blick „ganz auf den Auferstandenen gerichtet [sei], der als Davidide und also als Messias ausgewiesen“ werde.85 Bei Ignatius von Antiochien, der in seinen Briefen ebenfalls Bekenntnistraditionen aufnimmt, setze sich dieser „Trend“ fort: Hier konzentriert sich das christologische Interesse der „Davidssohn“-Aussagen auf die Geburt Jesu (IgnEph 18,2; 20,2; Röm 7,3; Trall 9; Sm 1,1, vgl. Eph 7,2). Wilckens kommentiert: „Seine Auferstehung gehört, völlig getrennt davon, zu den späteren Stationen des Weges Christi, der mit dem grundlegenden Ergebnis (sic! Ereignis?) seiner Geburt beginnt. Die Davidssohnschaft, verbunden mit der Geburt aus Maria, bekräftigt die Menschheit Christi, die nicht nur von Ignatius selbst, sondern auch bereits von der ihm vorgegebenen antiochenischen Tradition stark betont wird.“86
So kommt Wilckens zu einer Beschreibung der Entwicklung der frühen Christologie, die in der Systematischen Theologie Wolfhart Pannenbergs ihre Ausformulierung erfahren hat. Demnach sei eine ursprünglich zeitlich gemeinte Abfolge zweier Stadien zu einer Zwei-Naturen-Lehre weiterentwickelt worden.87 Paulus habe eine Tradition übernommen, in der der Auferstandene
82 Ebd. 83 Wilckens, Röm I, 58. 84 Wilckens, ebd. Einen „Adoptionsakt“ sieht er hingegen in Apg 13,32f; Hebr 1,5; 5,5, vgl. 1Clem 36,2–5 ausgesagt (aaO., 59). 85 Wilckens, aaO., 59 mit Verweis auf Windisch, Christologie, 213–216. 86 Wilckens, aaO., 60. 87 Pannenberg, Systematische Theologie Band 2, 427, s. dazu Bauspiess, Geschichte, 433–435.
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„als der Messias aus Davids Geschlecht ausgewiesen werden sollte, als welchen eine bestimmte judenchristliche Tradition den irdischen Jesus prädizierte (2Tim 2,8 vgl. synoptische Tradition). Die vorpaulinische Tradition kehrt die Reihenfolge um, so daß nun von zwei Stadien des Weges Christi die Rede ist: einem irdischen als Davidssohn und einem himmlischen als Gottessohn. Paulus selbst sieht auch in dem irdischen Jesus den präexistenten Gottessohn, der durch das endzeitliche Auferstehungsgeschehen in die Schlüsselposition eschatologischer Macht eingesetzt worden ist. Die vorignatianische Tradition schließlich bezieht beide Aussagen auf die Geburt Jesu, so daß sie nun von seiner menschlichen und göttlichen Herkunft sprechen und so mit der Tradition von der Jungfrauengeburt verschmolzen werden. Mit diesem Stadium der Traditionsgeschichte stehen wir am Anfang der Entwicklung zur altkirchlichen Zweinaturenlehre.“88
Wilckens sieht m. E. zutreffend, dass für Paulus der präexistente Gottessohn und der irdische Jesus identisch sind. Er macht auch darauf aufmerksam, dass das Motiv der „Jungfrauengeburt“ bei Paulus noch nicht begegnet, in der Tradition dann aber eben aus dem christologischen Interesse heraus entsteht, die Menschheit des Gottessohnes zu unterstreichen.89 Aus 2Tim 2,8 entnimmt Wilckens den Hinweis, dass ursprünglich die Rede von dem Auferstandenen der Ausgangspunkt gewesen und dieser dann mit dem irdischen Jesus verbunden worden sei. Für die Sicht auf die älteste Tradition bleibt allerdings auch bei Wilckens die Vorstellung leitend, dass diese von einer Einsetzung zum Sohn Gottes mit der Auferstehung gesprochen habe. Diese Auffassung lässt sich mit Röm 1,3f allerdings nicht begründen. Denn die These muss einen Widerspruch zwischen Röm 1,3a – wonach Jesus von Anfang an „Sohn Gottes“ ist – und 4a – wonach er es erst durch die Auferstehung wird – behaupten, der keineswegs zwingend ist. Wenn der Hinweis auf die Herkunft Jesu von David in der späteren Traditionsentwicklung zum Erweis der „Messianität“ des Gottessohnes dient, dann ist zu fragen, weshalb er in einem früheren Stadium eine andere Funktion gehabt haben soll, nämlich die, zwei „Stadien“ des Lebens Jesu zu bezeichnen. Für die Exegese entscheidend ist die Frage, wie die syntaktischen Bezüge in Röm 1,4 genau zu bestimmen sind und in welches Verhältnis die Rede von Jesus als „Sohn Gottes“ zur Einleitung der Formel in Röm 1,3a (περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ)
88 Wilckens, Röm I, 60f. 89 Das ist für das Verständnis des παρθένος-Motiv in Mt 1,23 und in Lk 1,27 entscheidend. Dieses Motiv ist nicht im Sinne der Divinisierung eines Menschen zu verstehen, sondern es bringt „die Einwohnung Gottes in der Welt“ (Gese, Natus ex Virgine, 146) zum Ausdruck. Während Matthäus das Interesse erkennen lässt, Jesus, den „Sohn Gottes“ auch als „Sohn Davids“ zu erweisen, der mit dem in Jes 7,14 genannten „Immanuel“ identifiziert wird, geht es Lukas darum, das Wunder der Geburt des Gottessohnes zu unterstreichen (Lk 1,35), der von Anfang an „Gottes Sohn“ ist, in seine Herrscherstellung aber erst mit der Auferstehung eingesetzt wird (Apg 2,30f).
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gesetzt werden kann. Zu diskutieren ist hier insbesondere, wie die präpositionale Wendung ἐν δυνάμει syntaktisch zu beziehen ist: Ist sie adverbial auf ὁρισθέντος zu beziehen, dann redet Röm 1,4 von der „machtvollen Einsetzung zum Sohn Gottes“ durch (bzw. seit)90 der Auferstehung von den Toten.91 Lässt sie sich aber adnominal auf υἱὸς θεοῦ beziehen, dann spricht der Satz von der Einsetzung Jesu als Sohn Gottes in Macht.92 Diese Interpretation lässt sich problemlos im Kontext verstehen: Paulus greift eine Tradition auf, die von Jesus als dem „Nachkommen Davids“ (vgl. 2Sam 7,12)93 spricht und ihn gleichzeitig als „Sohn Gottes“ ausweist. Damit wird ein wichtiges Argument für das Verständnis der Aussage, das im Anschluss an Bultmann und Käsemann vertreten wurde, fraglich. Dass Jesus zum „Sohn Gottes in Macht“ erklärt wird, besagt, dass Jesus mit seiner Auferstehung als himmlischer König inthronisiert ist und nun er – eben der Gekreuzigte und Auferstandene – Gottes Königsherrschaft ausübt.94 Thomas R. Schreiner erklärt deshalb mit Recht: „The resurrection of Jesus did not ,make‘ him the Son of God; it declared and revealed in a powerful way that he was and had always been God’s Son.“95 Eine adoptianische Christologie lässt sich im Neuen Testament weder in Röm 1,4 noch in Apg 2,36 greifen.96 Vielmehr sprechen alle diese Stellen von Gottes Königsherrschaft in Jesus Christus, wie sie auch Phil 2,11 zur Sprache bringt. Eine adoptianisch-christologische Tradition lässt sich nur dann behaupten, wenn die
90 Zur Frage, ob die Präposition ἐκ an dieser Stelle kausal oder temporal zu übersetzen ist s. u. 91 So etwa Barth, Römerbrief, 5 („kräftig eingesetzt zum Sohn Gottes“), vgl. aber ders., Erklärung des Römerbriefes, 17, wo Barth Röm 1,4 paraphrasiert mit den Worten: „Nach dem Heiligen Geist durch seine Auferstehung von den Toten aber, d. h. durch seine Kraft als Sohn Gottes.“ (Barth, Erklärung des Römerbriefs, 17). Barth versteht die Aussage offensichtlich so, dass die Auferstehung Jesu aus seiner Gottessohnschaft resultiert, und nicht umgekehrt. 92 So die meisten Ausleger, etwa Käsemann, Röm, 2; Lohse, Röm, 65; Michel, Röm, 25; Schmithals, Röm 46; Schlier, Röm, 24; Stuhlmacher, Röm, 20; Wolter, Röm I, 90; Zeller, Röm, 33, vgl. bereits Bousset, Kyrios Christos (1 1913), 159, Anm. 1, vgl. 182f. Die Kommentare sind in dieser Entscheidung bemerkenswert einhellig, ohne dass sich dies immer auf die Auslegung auswirkt. 93 Daneben sind weitere Stellen zu nennen, an denen die davidische Herkunft des erwarteten Heilsbringers eine Rolle spielt: Jes 11,1–5.10; Jer 23,5f; 33,14–17; Ez 34,23f; 37,24f; PsSal 17,21–18,19. Schreiner, Romans, 40. 94 In diesem Sinne paraphrasiert Wilckens, Röm I, 65, Röm 1,4 mit den Worten, „dass Gott ihn (sc. Jesus) als seinem Sohn die Machtstellung des himmlischen Herrschers übertragen“ habe. Neben Phil 2,9–11 verweist Wilckens dafür auch auf 1Kor 15,23–28. Stuhlmacher, Röm, 22 formuliert präzise: „Mit der Auferweckung wurde Jesus gemäß Ps 110,1 zur Rechten Gottes ‚erhöht‘, d. h. in die Herrscherrechte eingesetzt, die dem Gottessohn gebühren.“ 95 Schreiner, Romans, 41. Die Gegenposition vertritt Wolter, Röm I, 89, der erklärt, ὁρίζειν bezeichne „die Versetzung Jesu in einen Status, den er bis dahin noch nicht eingenommen hatte: die himmlische Hoheitsstellung des Gottessohnes.“ 96 Zu Apg 2,36 s. Bauspiess, Geschichte, 452–457.
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jeweiligen Kontexte ausgeblendet und durch spekulative Annahmen ersetzt werden, wie dies erstmals bei William Wrede geschieht.97 Eine weitere Beobachtung kommt hinzu: Die Einführung der Formel mit der Wendung περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ rahmt die gesamte Formel, mit der Paulus den Römerbrief eröffnet als „feste Klammer“,98 die markiert, dass alles, was in ihr gesagt wird, eine Aussage über den „Sohn Gottes“ ist, der Jesus von Anfang an ist und als den Paulus ihn vor Damaskus erkannt hat (Gal 1,16). Er hat ihn darin als Träger der göttlichen δόξα erkannt (1Kor 2,8; 2Kor 4,6) und deshalb begriffen, dass die frühchristliche Tradition, die er energisch bekämpft hatte, die Wahrheit über Jesus aussagte. Der Bezug auf eine frühchristliche Tradition in Röm 1,3f zeigt, dass Paulus vor Damaskus die Wahrheit der bereits vor ihm formulierten Botschaft erkannt hat. Von dieser neu gewonnenen Perspektive aus werden die Heiligen Schriften Israels neu verstanden.
6.
Anfragen an das Konzept einer „Trennungschristologie“
Die Annahme einer „Trennungschristologie“ setzt ein religionsgeschichtliches Konzept voraus, das dem hellenistischen Christentum und mit ihm auch Paulus eine gegenüber der Tradition vorgenommene „Divinisierung“ und „Mythologisierung“ der Christologie unterstellt. Darauf hat bereits Martin Hengel aufmerksam gemacht.99 Im Blick auf Röm 1,3f gibt Hengel einen entscheidenden Hinweis, wenn er die David-Motivik in V. 3b direkt mit 2Sam 7,12f verbindet und Röm 1,3f als eine christologische Interpretation der „Nathan-Weissagung“ versteht.100 Dieser
97 S. dazu die Hinweise zu Wredes Position in Kapitel 1 dieser Arbeit. 98 So Grillmeier, Christus I, 81: „Deutlich tritt das Subjekt aller Aussagen hervor: es ist der ,Sohn Gottes, Jesus Christus, unser Herr‘. Gleich einer festen Klammer umschließt es zwei Reihen von Sätzen, die von eben diesem Subjekt gelten. Dieser Sohn Gottes ist der ganze Christus.“ 99 Hengel, Sohn Gottes, 33f: „Wenn Bultmann, seine Lehrer Bousset und Heitmüller und seine Nachfolger, die diese These bis zur Ermüdung, ohne sie freilich zureichend an den antiken Quellen zu verifizieren, wiederholten, recht hätten, dann müßte sich wenige Jahre nach dem Tode Jesu unter der geistigen Führung von Judenchristen wie Barnabas oder dem ehemaligen Schriftgelehrten und Pharisäer Paulus wirklich eine ,akute Hellenisierung‘, exakter eine synkretistische Paganisierung des Urchristentums ereignet haben, und zwar entweder in Palästina selbst oder aber im benachbarten Syrien, etwa in Damaskus oder Antiochien. Die Kritik des jüdischen Religionsphilosophen H.J. Schoeps an der Christologie des Paulus wäre dann voll und ganz berechtigt. Daß diese historisch höchst außergewöhnliche Entwicklung zur Verkündigung Jesu in einem radikalen, unvereinbaren Widerspruch stehen würde, ist einleuchtend. Man muß sich dann im Grunde zwischen Jesus und Paulus entscheiden.“ 100 AaO., 101. Hengel nennt Otto Betz als denjenigen Ausleger, der diesen Bezug als erster aufgewiesen habe (Betz, Was wissen wir von Jesus?, 59ff.64ff).
Anfragen an das Konzept einer „Trennungschristologie“
Linie sind nicht wenige Ausleger gefolgt.101 Sie wird aber häufig gerade im Sinne einer „Zwei-Stufen-Christologie“ gedeutet. So erklärt Dieter Zeller in seinem 1985 erschienenen Römerbrief-Kommentar, in Röm 1,4 sei „das messianische Amt“ gemeint, „in das der von David abstammende Jesus erst an Ostern eingesetzt wurde. Diese Spannung und das z. T. unpaulinische Formular machen es der modernen Forschung gewiß, daß Paulus in V. 3f eine alte christologische Prädikation aus dem palästinischen Judenchristentum verarbeitet hat.“102 Zeller scheint dabei zu spüren, dass diese These der Textpragmatik des Römerbriefes widerspricht (s. o.). So erklärt er: „Paulus verwendet die eigentlich für ihn schon ein wenig überholte Aussage möglicherweise, damit den Römern sein Evangelium nicht fremd vorkommt.“103 Weshalb aber sollte Paulus sich bei der Römischen Gemeinde mit einer Aussage vorstellen, die er selbst als „überholt“ ansieht, wenn er damit nicht weniger als die umfassende Darlegung seiner gerade für Judenchristen umstürzenden Theologie und Gesetzeslehre eröffnet? Auch Eduard Lohse geht in seinem 2003 erschienenen Kommentar davon aus, dass das in Röm 1,3f greifbar werdenden „urchristliche Bekenntnis“ eine „adoptianische Christologie“ erkennbar werden lasse.104 Er fügt dann aber sofort hinzu, es müsse dabei „beachtet sein, daß hier weder eine Andeutung vorliegt, die auf die Unterscheidung zwischen einander widersprechenden Formen christologischer Rede hinweist, noch Erwägungen einer sich später ausbildenden Trinitätslehre eingetragen werden dürfen.“105 Vielmehr gehe es „um die unvergleichliche Würde des erhöhten Christus“. Lohse folgt dem oben skizzierten Schema, wenn er schließlich ausführt: „Paulus macht sich das ihm vorgegebene Bekenntnis zu eigen, indem er es mit der Christusverkündigung der hellenistischen Christenheit verbindet und zu einer – freilich spannungsvollen Einheit – verschmilzt. Denn mit der hellenistischen Gemeinde sagt der Apostel, daß nicht erst der Auferstandene, sondern bereits der irdische Jesus und der präexistente Christus Gottes Sohn ist.“106
Zu fragen ist, für wen diese Einheit der Aussagen „spannungsvoll“ ist. Findet nicht gerade dann eine Eintragung späterer dogmengeschichtlicher Diskussionen in den
101 So etwa Lohse, Röm, 65f; Stuhlmacher, Röm, 22; Wolter, Röm I, 86; Zeller, Röm, 36. 102 Zeller, Röm, 35. 2Tim 2,8 sieht Zeller – anders als Wilckens (s. o.) – als von Röm 1,3f abhängig, und also als spätere Traditionsstufe an. 103 Zeller, Röm, 36. 104 Lohse, Röm, 66. 105 Ebd. 106 Ebd.
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Text statt, wenn man eine Alternative zwischen einem „metaphysischem“ „SohnGottes“-Verständnis und einer Aussage über die „Würde“ Jesu eröffnet? Die von Lohse apostrophierte „Sorge“ des antiken Judentums, dass dieser Titel im Sinne einer physischen Abstammung aufgefasst werden könnte, teilt der Apostel offensichtlich nicht. In Röm 1,4 bringt der Sohn-Gottes-Titel die einzigartige Relation Jesu zu Gott zum Ausdruck. So wird bereits in dem vorpaulinischen Bekenntnis in einer Weise von Jesus geredet, die spätere Ausdifferenzierungen notwendig macht. Zudem sorgte diese Art der Rede von Jesus offensichtlich schon früh auch in Rom für Auseinandersetzungen mit der jüdischen Gemeinde, weil deutlich wurde, dass mit ihr über das hinausgegangen wurde, was man im Rahmen des jüdischen Glaubens traditioneller Weise mit dem Titel „Sohn Gottes“ und etwa auch mit dem Titel „Christus“ verband. Möglicherweise deutet bereits das bei Sueton erwähnte „Claudius-Edikt“ auf diese Auseinandersetzungen hin.107 Eben diese Rede von Jesus, die ihn in eine unerhörte Nähe zu Gott brachte, hatte auch Paulus einst verfolgt. Gerade deshalb ist es verständlich, warum er gegenüber den Römischen Christen zu Beginn deutlich macht, dass ihm bei seiner Berufung die Wahrheit des Bekenntnisses zum „Sohn Gottes“ offenbart wurde (V. 3a). Er fühlt sich in seiner christologisch-theologischen Grundüberzeugung mit der Gemeinde in Rom verbunden. Und er muss in Röm 9–11 ausführlich thematisieren, was diese für das Verhältnis zum empirischen Israel bedeutet. Auch in Michael Wolters 2014 erschienenem Römerbrief-Kommentar ist die bei Zeller und Lohse begegnende Spannung spürbar. Wolter interpretiert Röm 1,3f als Erfüllung von 2Sam 7,12–14 und spricht im Blick auf Jesus davon, dass Gott ihn an Ostern „zu seinem Sohn gemacht“ habe.108 Wolter formuliert: „Jesu Auferstehung von den Toten und seine Einsetzung zum Sohn sind nicht zwei verschiedene Vorgänge, sondern fallen ineins. Mit beiden bezeichnet Paulus ein und
107 Suet. Cl. 25,4: „Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit“. S. dazu Schnelle, Wege, 23, der die Erklärungsversuche zurückweist, mit „Chrestos“ sei ein unbekannter jüdischer Aufrührer gemeint (s. dazu die mit Anm. 53 genannte Literatur). Auch die Erwähnung des ClaudiusEdikts in Apg 18,2 bei der Ankunft Aquilas und Priszillas in Korinth spricht m. E. dafür, dass es hier um Auseinandersetzungen der frühchristlichen Mission mit der Synagoge ging (ebd.). Die Tatsache, dass Jesus bereits unter Tiberius gekreuzigt wurde (Blank-Sangmeister, Claudius, 98, Anm. 170), spricht nicht gegen diese Lesart, da Sueton nur erwähnt, einige Juden seien durch „Chrestos“ zum Tumult angestiftet worden. Wilckens, Röm I, 35f nimmt an, dass es sich dabei um ein Missverständnis Suetons handelt. Auch in der oben bereits zitierten Passage Tac. Ann. XV 44,2–4 (Tusculum, 748) werden die Christen als „Chrestianos“ bezeichnet und diese Bezeichnung auf „Christus“ zurückgeführt. 108 Wolter, Röm I, 88.
Zur Exegese von Röm 1,3f
dasselbe Handeln Gottes: Jesu Auferstehung gibt mit seiner Erhöhung und Einsetzung in die himmlische Hoheitsstellung des Sohnes Gottes einher.“109
Wolter unterstreicht mit Recht die Bedeutung des Ostergeschehens für die Entstehung der Christologie. Er differenziert hier aber nicht zwischen Jesus als „Sohn Gottes“ und als „Sohn Gottes in Macht“. Diese Differenzierung ist für Röm 1,3f allerdings gerade entscheidend. Für Paulus erhält Jesus an Ostern keinen neuen ontologischen Status. Er wird allerdings als Herrscher offenbar. Es ist danach zu fragen, was dieser Erweis als Herrscher für Paulus genau bedeutet. Eine Differenz zu der ihm vorliegenden Tradition wird vom Text her jedenfalls nicht nahegelegt. Charakteristisch für die Tradition ist, dass sie die Aussage über Jesu Auferstehung mit der „Nathan-Weissagung“ verbindet und damit ins Licht der jüdischen Hoffnungsgeschichte stellt. Diesen Gedanken nimmt Paulus auf, weil es ihm im Römerbrief darum geht, dass auch seine Verkündigung im Horizont dieser Hoffnungsgeschichte formuliert wird. Die Diskussion um die Auslegung von Röm 1,3f stellt sich als überaus komplex dar, auch deshalb, weil eine Fülle von exegetischen Detailfragen zu klären ist, die unterschiedlich beurteilt werden. Vor allem aber scheint mir die Auslegung dadurch belastet zu sein, dass man sich einerseits von Eintragungen späterer christologischer Diskussionen schützen will, andererseits aber doch spürbar wird, dass in Röm 1,3f etwas gesagt wird, was zu theologischen Differenzierungen im Blick auf das Gottesverständnis nötigt. Ich möchte deshalb im Folgenden einige der Detailfragen behandeln, um im Anschluss daran eine konsequente Interpretation der beiden Verse im Kontext des Römerbrief-Präskriptes (Röm 1,1–7) von 2Sam 7,12f her vorzunehmen.
7.
Zur Exegese von Röm 1,3f
Zur Exegese des Textes ist die Analyse der Struktur im vorliegenden Kontext der Ausgangspunkt. Diese lässt sich folgendermaßen bestimmen:110 a περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ b τοῦ γενομένου ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα, c τοῦ ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ ἐν δυνάμει κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν,
d Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν
109 AaO., 89. 110 In diesem Sinn wird die Struktur etwa auch bestimmt bei Grillmeier, Jesus der Christus I, 81.
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Innerhalb der Verse lassen sich mehrere Entsprechungen beobachten. Eine entscheidende Frage besteht darin, wie diese genau zu beschreiben sind. Zunächst einmal ist eine Rahmung festzustellen zwischen der Einleitung der Formel mit περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ (a) und der Zielformulierung Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν (d). Beide Aussagen sind Prädikationen, die von Jesus Christus ausgesagt werden. Die jeweils verwendeten Personalpronomina machen deutlich, dass mit der Prädikation Jesu als υἱός seine Relation zu Gott bestimmt wird (αὐτοῦ), mit der Prädikation Jesu als κύριος aber seine Relation zu den Glaubenden (ἡμῶν), wobei Paulus sich ausdrücklich mit seinen Adressaten zusammenschließt. Das verstärkt sein Anliegen, eine gemeinsame Glaubensgrundlage am Anfang seines Schreibens zu benennen. Diese gemeinsame Grundlage ist in der geteilten Auffassung über die besondere Relation Jesu zu Gott begründet, die mit der Auferstehung Jesu offenbar geworden ist. Schon von V. 2 her ist deutlich, dass es Paulus darauf ankommt, das Bekenntnis als in „den heiligen Schriften“ angekündigt zu erweisen und damit als ein Geschehen von Gott her kenntlich zu machen, durch das Gott sich selbst für die Glaubenden bestimmt. Die Prädikation Jesu als υἱὸς αὐτοῦ, womit der Sache nach der Titel ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ gemeint ist,111 wird durch zwei Partizipialformulierungen näher bestimmt,112 die jeweils mit einer mit κατά mit dem Akkusativ formulierten Präpositionalwendung verbunden sind. Aus der strukturellen Parallelität ist allerdings keine einfache semantische Parallelität zu folgern. Die gleichartigen Präpositionen werden vielmehr inkonzinn verwendet.113 Unmittelbar deutlich ist dies im Blick auf die parallel zueinanderstehenden Präpositionen ἐκ bzw. ἐξ. In V. 3b meint ἐκ σπέρματος Δαυίδ „aus der Nachkommenschaft Davids“.114 In V. 4a ist eine analoge Bedeutung aber nicht sinnvoll. Hier kommt lediglich in Frage, dass sie kausal („aufgrund der Auferstehung“)115 oder aber temporal („seit der Auferstehung“)116 zu übersetzen ist.117 In jedem Fall ist deutlich, dass ἐκ σπέρματος Δαυὶδ semantisch nicht genau parallel
111 Vgl. Labahn/Labahn, Sohn Gottes, 97. 112 Wolter, Röm I, 86 weist darauf hin, dass sie einander in Form, Tempus, Kasus und Numerus entsprechen, stellt dann aber ebenfalls mit Recht fest, dass die Parallelität danach lockerer werde. 113 Zum „inkonzinnen“ Präpositionengebrauch s. Hofius, Christushymnus, 90 mit Anm. 64. Hier nennt Hofius auch Röm 1,3f. 114 Vgl. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 473, s.v. ἐκ 3.b. 115 Zu dieser Bedeutung s. aaO., 474, s.v. ἐκ 3.f. Röm 1,4 wird hier allerdings nicht genannt. 116 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 475, s.v. ἐκ 5.a. Auch hier findet Röm 1,4 keine Erwähnung. 117 In den Kommentaren zu Röm 1,4 entscheiden sich für die temporale Bedeutung etwa Lietzmann, Röm, 26; Käsemann, Röm, 2; Lohse, Röm, 65. Kausal übersetzen demgegenüber Michel, Röm, 25; Wengst, Christologische Formeln, 114; Wilckens, Röm, 55. Einen „Mittelweg“ zwischen beiden Varianten scheint Dieter Zeller zu beschreiten, der ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν mit „von der Auferstehung der Toten her“ übersetzt (Zeller, Röm, 36), ähnlich Wolter, Röm I, 75 („aus der Auferstehung von den Toten“).
Zur Exegese von Röm 1,3f
zu ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν verstanden werden kann: Es wird einmal von der Abstammung Jesu gesprochen und einmal von einem Ereignis, von dem an bzw. durch das Jesus als „Sohn Gottes in Macht“ herrscht. Mit der Auferstehung erreicht Jesus dabei eine bestimmte Funktion: die Funktion des eschatologischen Herrschers, in dem Gott seine Königsherrschaft aufrichtet.118 Von hier aus kann gefragt werden, wie die Bedeutung der ebenfalls parallel zueinanderstehenden Präpositionen κατά verstanden werden kann. In Satzglied b bezeichnet sie die „Abstammung“ Jesu, sie lässt sich demnach als „in Hinsicht auf das Fleisch“ oder „in Beziehung auf das Fleisch“ übersetzen.119 Die am nächsten stehenden Stellen im Römerbrief stehen in Zusammenhängen, in denen es um die Verankerung in der jüdischen Hoffnungsgeschichte geht: in Bezug auf Abraham (Röm 4,1) und in Bezug auf Israel (Röm 9,3.5). Die zuletzt genannte Stelle Röm 9,5 ist für die Auslegung besonders interessant, da sie sich wie Röm 1,3b auf Christus bezieht.120 Klar ersichtlich ist, dass an das Gegensatzpaar κατὰ σάρκα / κατὰ πνεῦμα (Röm 8,4–6.9–13) nicht vergleichbar ist mit dem, was in Röm 1,3f gesagt werden soll. In Röm 8 werden zwei verschiedene „Existenzweisen“ bezeichnet, durch die ein Mensch bestimmt sein kann.121 Der Hinweis auf Jesu Sein κατὰ σάρκα ist in Röm 1,3b zudem offensichtlich in einem positiven Sinn gemeint. Da der Geist, von dem in Röm 1,4 gesprochen wird, als Heiliger Geist identifiziert wird, ist auch klar, dass kein anthropologischer (Leib-Geist) Dualismus formuliert werden soll. Der Heilige Geist beschreibt hier nicht einen Teil Jesu, sondern die Größe, die an Jesus in der Auferstehung wirksam ist. Für Röm 1,4a legt sich deshalb eine Übersetzung von κατά mit „durch“ nahe.122 Walter Schmithals übersetzt in diesem Sinn,123 ohne seine Übersetzung eigens zu begründen. Dass Paulus diese Bedeutung der Präposition κατά kennt, wird durch 1Kor 12,8 belegt. Dort schreibt er:
118 Auf die Berührungen zur lukanischen Theologie habe ich oben bereits aufmerksam gemacht. Hier wäre auch auf Lk 22,69 hinzuweisen: Auch hier wird das Ereignis von Kreuzigung und Auferstehung als der Zeitpunkt genannt, ab dem Jesus im Himmel herrscht, s. dazu Bauspiess, Gegenwart des Heils, 130–137. 119 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 828, s.v. κατά II. 6. 120 Keine Parallele zu dieser Stelle ist 2Kor 5,16, die Wolter, Röm I, 86 in diesem Zusammenhang anführt, denn dort bezieht sich die Wendung κατὰ σάρκα nicht adnominal auf Χριστός, sondern adverbial auf ἐγνώκαμεν. 121 So mit Recht Wolter, Röm I, 86. 122 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 826f, s.v. κατά II. 5aδ. 123 Schmithals, Röm, 46: „…, der durch den Heiligen Geist eingesetzt wurde zum machtvollen Gottessohn in der Totenauferstehung“. Auch Käsemann, Röm, 9 erklärt, dass „der Geist der Heiligung“ als die die „Einsetzung“ „bewirkende Macht“ bezeichnet werde.
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ᾧ μὲν γὰρ διὰ τοῦ πνεύματος δίδοται λόγος σοφίας, ἄλλῳ δὲ λόγος γνώσεως κατὰ τὸ αὐτὸ πνεῦμα
Denn dem einen wird durch den Geist Weisheitsrede gegeben, einem anderen aber Erkenntnisrede durch denselben Geist.“
Durch die Parallelität der Sätze ist an dieser Stelle deutlich, dass κατὰ τὸ αὐτὸ πνεῦμα auf die Wendung διὰ τοῦ πνεύματος zurückverweist.124 Der Geist wird damit als die Größe angegeben, durch die Gott einem Menschen eine bestimmte Fähigkeit gibt. So ist an dieser Stelle deutlich, dass die Präposition κατά im Sinne von διά zu verstehen ist. Im Blick auf die Auferweckung Jesu ist 1Petr 3,18 zu vergleichen, wo es in einem christologischen Traditionsstück heißt: … θανατωθεὶς μὲν σαρκί, ζῳοποιηθεὶς δὲ πνεύματι. Es ist hier offensichtlich Gottes πνεῦμα, das lebendig macht.125 Dem entspricht die Aussage in Röm 8,11, dass der Geist Gottes derjenige Geist ist, „der Jesus von den Toten auferweckt hat“. So soll wohl auch in Röm 1,4 gesagt werden, dass Jesus durch Gott selbst – nämlich: durch seinen Heiligen Geist – als „Sohn Gottes in Macht“ eingesetzt wurde, und zwar im Ereignis der Auferweckung Jesu durch Gott. Durch dieses Handeln Gottes an Jesus bestimmt Gott seine eigene Herrschaft als diejenige des auferweckten Gekreuzigten. Die Verse Röm 1,3f lassen sich deshalb wie folgt übersetzen: 3 (das Evangelium Gottes), das von seinem Sohn handelt, der seiner menschlichen Herkunft nach aus dem Samen Davids geboren126 ist, 4 der durch den heiligen Geist zum Sohn Gottes in Macht eingesetzt wurde mit der Auferstehung von den Toten – von Jesus Christus, unserem Herrn. So wenig wie in Röm 1,3f wird in der Apostelgeschichte gesagt, dass Jesus durch das auferweckende Handeln Gottes an ihm zum Sohn Gottes „wird“. Vielmehr ist an Jesu Bestimmung als eschatologischer Richter gedacht (Apg 10,42; 17,31)127 oder seine Identität als χριστός und κύριος wird durch das auferweckende Handeln Gottes an ihm erwiesen (Apg 2,36)128 . Hier ist noch einmal die Frage nach der Bedeutung des Verbs ὁρίζειν aufzugreifen. Während das Wörterbuch von Bauer-Aland für
124 Das notieren Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 827. Wolff, 1Kor, 287 übersetzt „auf Grund desselben Geistes“ und notiert mit Anm. 250, dass es sich hier um eine „stilistische Variation“ handele und man hinter den wechselnden Präpositionen „kaum einen differenzierenden Sinn zu vermuten“ habe. 125 Feldmeier, 1Petr, 134, der auf JosAs 8,3.9; 12,1 hinweist. Vgl. aber auch Joh 6,63. 126 Zu γίνεσθαι im Sinne von „geboren werden“ – wie in Joh 8,58; Gal 4,4 – Bauer/Aland, aaO., 316 s.v. γίνομαι I.1a. 127 S. dazu die Übersetzung bei Roloff, Apg, 163 (Apg 10,42) bzw. aaO., 254 (Apg 17,31). 128 Bauspiess, Geschichte, 456.
Zur Exegese von Röm 1,3f
ὁρίζειν in Röm 1,4; Apg 10,42; 17,31 die Bedeutung „bestimmen“, „einsetzen“, „be-
stellen“ gibt,129 hat Thomas Söding darauf hingewiesen, dass das Wörterbuch von Liddel-Scott diese Bedeutung gar nicht angebe und hier stattdessen mit „ausweisen als“ zu übersetzen sei.130 Allerdings ist in Röm 1,4 wohl doch – ähnlich wie in IgnEph 3,2 an eine Einsetzung in ein „Amt“ gedacht.131 Das berechtigte Anliegen, gegen einen ontologischen „Statuswechsel“ zu argumentieren, verdeckt bei Söding die Vorstellung, dass Jesus mit der Auferstehung dieses „Amt“ antritt, nämlich als „Sohn Gottes in Macht“ zu herrschen. Die Verbindung des auferweckenden Handelns Gottes an Jesus, das mit dem als passivum divinum zu interpretierenden Passiv ὁρισθέντος zur Sprache gebracht wird,132 lässt sich bei Paulus auch an anderen Stellen beobachten: In 1Thess 1,10 wird – im Verbund mit 1Thess 5,9 – deutlich, dass Gott die Glaubenden durch Jesus Christus vor dem kommenden Zorngericht errettet. Die Auferweckung seines „Sohnes“ verändert auf diese Weise die Situation der Glaubenden vor Gott. Die Aussage in Röm 1,4 lässt sich gut auf der Linie der genannten Bekenntnisformulierungen interpretieren: Wie in 1Thess 1,10; Apg 2,36; 10,42; 17,31 wird die Rolle Jesu von Gottes auferweckendem Handeln an ihm her bestimmt. Damit wird unterstrichen, dass in dieser Tat Gott selbst sichtbar wird und in einem definitiven Sinn über das Schicksal der Menschen entscheidet. Dieser Gedanke wird am Ende von Röm 1,4 direkt ausgesprochen, wenn Jesus abschließend pointiert als ὁ κύριος ἡμῶν prädiziert wird. Hier wird die Nähe der Aussage zu Apg 2,36 besonders deutlich: Mit dem Kyriostitel ist an den heiligen Gottesnamen gedacht, dessen Anrufung im Horizont des Endgerichts Rettung bewirkt. Diese – anhand von Joel 3,5 LXX explizierte – Vorstellung kennen nachweislich sowohl Lukas (Apg 2,16–21) als auch Paulus (Röm 10,9). Im Römerbrief spielt dieses Bekenntnis dann gerade noch einmal im Zusammenhang mit der Frage nach der endzeitlichen Errettung Israels eine wichtige Rolle (Röm 10,9–13). So ist es kein Zufall, dass Paulus bereits zu Beginn des Römerbriefs mit der Aufnahme einer judenchristlichen Tradition unterstreicht, dass er im Bekenntnis zu Jesus als κύριος die Heilshoffnung Israels an den Glaubenden realisiert sieht. Für die Auslegung ist zu beachten, dass in b und c keine Entsprechung zwischen υἱὸς Δαυίδ und υἱὸς θεοῦ formuliert wird. Vielmehr wird vom Sohn Gottes ausgesagt, dass er ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα geboren worden sei. Das Verhältnis der beiden Satzglieder zueinander ist nicht im Sinne eines antithetischen, sondern
129 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1177 s.v. ὁρίζω 1.b. In diesem Sinne etwa auch Wolter, Röm I, 89f. 130 Söding, Kerygma ohne Jesus?, 6 mit Anm. 28, mit Verweis auf Liddel/Scott, Greek-English Lexicon, 1250f. Ähnlich Schreiner, Romans, 41, der das Verb mit „declare“ bzw. „show“ wiedergibt. 131 Bei Ignatius heißt es im Blick auf die ἐπίσκοποι, sie seien „bis an die Grenzen (der Erde) eingesetzt“ (κατὰ τὰ πέρατα ὁρισθέντες). SUC 1, 144f. 132 Wolter, Röm I, 89.
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eines synthetischen Parallelismus zu bestimmen.133 Die Teile b und c stellen also nicht zwei Titel oder zwei „Stadien“ des Lebens Jesu einander gegenüber, sondern sie bestimmen das in Teil a genannte gemeinsame Subjekt in zweifacher Weise: Es geht einmal darum, in welcher Geschichte Jesu steht, und es geht dann darum, welche Rolle er mit der Auferstehung von den Toten von Gott selbst erhalten hat. Auferstehung und „Erhöhung“ fallen dabei sachlich zusammen und stellen keine Alternative dar.134 Eine solche Alternative wird weder von Paulus noch bei Lukas, dem diese Auffassung immer wieder unterstellt wird,135 vorausgesetzt. Ebenso wenig lassen sich Kreuzigung und Auferstehung voneinander lösen: Der Gedanke von Röm 1,4 besteht darin, dass der gekreuzigte Jesus in seiner Auferstehung seine himmlische Machtstellung eingenommen hat, in der er eben als der Gekreuzigte und Auferstandene herrscht. Lässt sich demnach also gut begründen, dass Röm 1,3f von dem aus der Nachkommenschaft Davids Kommenden redet, der in der Auferstehung zum „Sohn Gottes in Macht“ erklärt wurde, dann ist weiter zu fragen, was die Wendung υἱὸς θεοῦ ἐν δυνάμει inhaltlich besagt. Wolter macht darauf aufmerksam, dass mit ἐν δυνάμει ein „Attribut Gottes“ auf Jesus übertragen werde,136 kommentiert dann aber wieder im Sinne des hier abgelehnten Verständnisses, wenn er erklärt: „Die Übertragung auf den Sohn will anzeigen, dass dessen Auferweckung von den Toten mit einer Erhöhung einherging, die ihn ganz auf die Seite Gottes gestellt hat.“137 In Röm 1,3f ist aber nicht die Frage im Blick, ob Jesus zu Gott „wird“, sondern vielmehr der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass er seit seiner Auferstehung in der Weise Gottes wirkt. Er ist darin als der κύριος offenbar geworden, den die Glaubenden anrufen und an dessen Gegenwart sie als Gottes eigene Gegenwart glauben. Die Vorstellung, dass Jesus seit der Auferstehung „sein königliches Amt“138 wahrnimmt, impliziert eben keine „adoptianische Christologie“. Wenn keine zwingenden Argumente dafür beizubringen sind, die Wendung ἐν δυνάμει als paulinischen „Zusatz“ zur Formel zu verstehen,139 dann ist es auch nicht not-
133 So mit Recht Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 326; Söding, Kerygma ohne Jesus?, 6. Etwas überraschend ist, dass Pietsch ebd. sich zunächst gegen die These einer „Zweistufenchristologie“ ausspricht, aaO., 328 aber dann doch formuliert, hier stünde eine „adoptianische“ Christologie im Hintergrund. Pietsch erklärt aaO., 326 völlig mit Recht, dass „schon für die vorpaulinische Tradition eine (heils-)geschichtliche Christologie vorauszusetzen“ sei, die „die Identität des Irdischen mit dem Erhöhten als dem Messias Israels und Herrn der Völker festhält“. 134 Mit Wolter, Röm I, 89. 135 Zur Begründung s. Bauspiess, Geschichte, 391–397. 136 Wolter, Röm I, 90. Als Belege nennt er Dtn 3,24; Jos 4,24; 1Chr 29,11; Ps 67,35 LXX; 76,15 LXX; 150,1 LXX; Jer 16,21. 137 Wolter, Röm I, 90. 138 Lohse, Röm, 66. 139 So für viele mit Recht Lohse, aaO., 65.
Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm 1,3f
wendig, eine „Spannung“ zwischen der paulinischen Einleitung des Bekenntnisses durch περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ in Röm 1,3a und der Aussage über die „Einsetzung“ zum „Sohn Gottes in Macht“ in V. 4a zu postulieren, so dass man Röm 1,3a als paulinische „Korrektur“ (Schweizer u. a., s. o.) verstehen müsste. Vielmehr lassen sich beide Aussagen sehr gut im Zusammenhang interpretieren: Der Sohn Gottes „herrscht“ seit seiner Auferstehung „in Macht“, d. h. in der Weise Gottes. Dieser „Herrscher“ aber stammt „aus dem Samen Davids“. Damit formuliert die Tradition eine entscheidende Aussage, die Paulus im Kontext des Römerbriefs aufnimmt. Für seine Adressaten ist die Frage nach der Machtstellung Jesu in dem Sinne entscheidend, dass sie verstehen müssen, wie Jesu „Macht“ angesichts der vor ihren Augen massiv präsenten religiös aufgeladenen militärisch-weltlichen Macht zu verstehen ist. Diese Frage beantwortet Paulus in Röm 1,3f mit dem Hinweis auf die gemeinsame Tradition. Dass es sich hierbei um eine Tradition handelt, lässt sich nicht aufgrund einer postulierten „Spannung“ zwischen der Formel auf der einen und der paulinischen Theologie und Christologie auf der anderen Seite begründen. Es wird vielmehr durch den für Paulus singulären Bezug auf die Nachkommenschaft Jesu ἐκ σπέρματος Δαυίδ in Röm 1,3b nahegelegt. Dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Bekenntnisaussage ist nun weiter nachzugehen.140
8.
Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm 1,3f
Bis hierher ist deutlich geworden, dass die Bekenntnisformulierung in Röm 1,3f keine stringent parallelen oder dichotomischen Beschreibungen der Person Jesu vornimmt. Es wird weder eine Entgegensetzung von „Davidssohn“ und „Gottessohn“ vorgenommen, noch wird eine Entgegensetzung von „Fleisch“ und „Geist“ formuliert. Gesagt wird vielmehr, dass der Sohn Gottes ἐκ σπέρματος Δαυίδ sei und dass dieser seit der Auferstehung als „Sohn Gottes in Macht“ herrscht. Die Formulierung ἐκ σπέρματος Δαυίδ aber hat ihren Haftpunkt in 2Sam 7,12. Dort heißt es in einer an David gerichteten Gottesrede (2Βασ 7,12 LXX):141 ἀναστήσω τὸ σπέρμα σου μετὰ σέ, Ich werde dir (David) deinen Nachkomὃς ἔσται ἐκ τῆς κοιλίας σου, men nach dir erwecken, der aus deinem Schoß sein wird, καὶ ἑτοιμάσω τὴν βασιλείαν αὐτοῦ und ich werde seine Königsherrschaft bereiten
140 Eine ausführliche Untersuchung zum Thema hat Pietsch, Rezeptionsgeschichte vorgelegt. 141 Die Übersetzungen der Septuaginta-Zitate folgen jeweils der Septuaginta Deutsch bzw. sind in Anlehnung an die dort gebotenen Übersetzungen formuliert.
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Das Stichwort τὸ σπέρμα σου ist der Ausgangspunkt für die Interpretation der „Nathan-Verheißung“. Die damit verbundene Hoffnung auf einen davidischen König spricht sich auch in den Psalmen 89 und 132 aus. So heißt es in Ps 88,4f LXX: 4 Διεθέμην διαθήκην τοῖς ἐκλεκτοῖς Ich habe einen Bund geschlossen mit μου, ὤμοσα Δαυιδ τῷ δούλῳ μου meinen Auserwählten, ich habe David, 5 ῞Εως τοῦ αἰῶνος ἑτοιμάσω meinem Knecht geschworen: Bis in τὸ σπέρμα σου Ewigkeit werde ich deine Nachkomκαὶ οἰκοδομήσω menschaft bereiten und errichten von εἰς γενεὰν καὶ γενεὰν τὸν θρόνον Generation zu Generation deinen σου. Thron. Und in Ps 131,11f LXX wird formuliert: 11 ὤμοσεν κύριος τῷ Δαυιδ ἀλήθειαν Der Herr hat dem David Wahrheit geκαὶ οὐ μὴ ἀθετήσει αὐτήν schworen und wird sie bestimmt nicht aufheben: ᾿Εκ καρποῦ τῆς κοιλίας σου θήσομαι Aus der Frucht deines Schoßes werde ἐπὶ τὸν θρόνον σου· ich (einen) auf deinen Thron setzen, 12 ἐὰν φυλάξωνται οἱ υἱοί σου wenn deine Söhne τὴν διαθήκην μου meinen Bund bewahren καὶ τὰ μαρτύριά μου ταῦτα, und diese meine Zeugnisse, ἃ διδάξω αὐτούς, die ich sie lehren werde, καὶ οἱ υἱοὶ αὐτῶν ἕως τοῦ αἰῶνος werden auch ihre Söhne bis in Ewigkeit καθιοῦνται ἐπὶ τοῦ θρόνου σου. auf deinem Thron sitzen. Das Besondere an dieser Thronverheißung besteht darin, dass sie an eine Dynastie gebunden wird,142 die Davididen. Man kann darin eine Konkretisierung der Heilshoffnungen erblicken, denn mit dieser Verheißung legt Gott sich fest, wie sich seine eigene Königsherrschaft, seine Gegenwart in der Welt, irdisch widerspiegeln soll. Mit der Entstehung der Hasmonäerherrschaft143 im zweiten Jahrhundert vor Christus hatten die damit verbundenen Hoffnungen neu an Nahrung gewonnen, gleichzeitig wurde in den gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen aber auch sichtbar, wie schwierig die Realisierung einer solch konkreten Hoffnung war. Die Entstehung unterschiedlicher Gruppierungen innerhalb des Judentums wie den Pharisäern, aber auch der Gemeinschaft von Qumran, ist im Zusammenhang dieser Auseinandersetzungen zu verstehen.144 In diesem Zusammenhang gewinnt
142 Gese, Davidsbund, 117, vgl. Oswald, Nathan, 55. 143 S. dazu die knappe Darstellung bei Bernhardt, Revolution, 1–11. 144 Vgl. Bernhardt, Revolution, 11; Schäfer, Geschichte, 83–89, vgl. Kollmann, Zeitgeschichte, 47–52.
Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm 1,3f
die Verheißung 2Sam 7,12ff in dieser Zeit neu an Bedeutung.145 Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Texte, die eine solche Neuinterpretation der Nathan-Verheißung erkennen lassen, aus dem Umfeld der beiden genannten Kreise stammen: aus den Psalmen Salomos (PsSal 17), die mit den Pharisäern in Zusammenhang gebracht worden sind146 und aus Qumran, wie immer man die dort gefundenen Texte mit den Bewohnern der Siedlung auch verbinden mag.147 Deutlich ist, dass sich gerade in dieser Zeit eine enge Verbindung zwischen Politik, Religion und nationaler Identität beobachten lässt.148 Der Verlust der Freiheit nach der Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahr 63 v. Chr. wurde deshalb von jüdischer Seite als harter Einschnitt empfunden.149 Martin Hengel hat vor diesem Hintergrund auf die politischen Auswirkungen der beschneidungsfreien Heidenmission des Paulus hingewiesen, die er hinter den Attacken seiner judaistischen Gegner stehen sieht.150 Einen Niederschlag dessen sieht er auch im Römerbrief: So verteidige sich Paulus in Röm 9,1ff gegenüber dem Vorwurf des „Verrats am Judentum“.151 Sosehr für die Auseinandersetzungen um die beschneidungsfreie Heidenmission des Paulus auch dieser politisch-gesellschaftliche Horizont eine Rolle spielen mag, so wenig trifft die Beschreibung Hengels den Argumentationsduktus von Röm 9,1ff im Anschluss an die Kapitel Röm 5–8. Denn Paulus muss nach dem furiosen „Finale“ in Röm 8,31–39 aus theologischen Gründen auf die Israel-Thematik 145 Burger, Davidssohn, 16. 146 So Holm-Nielsen, JSHRZ IV/2, 59; Riesner, Messias Jesus, 28. Kritisch zu dieser Annahme äußert sich Bernhardt, Revolution, 412. Deutlich ist jedenfalls, dass im Umfeld der Entstehung dieser Schriften immer wieder die Auseinandersetzungen um den Jerusalemer Tempel und den Hohenpriester als Repräsentanten des Judentums eine Rolle spielt (Bernhardt, aaO., 404.408 u. ö.). 147 Zur Diskussion s. Frey, Qumran und die Archäologie. Nicht wenige Forscher, wie etwa Bernhardt, Revolution, 414–419; Magness, Masada, 91; Kollmann, Zeitgeschichte, 40 vertreten nach wie vor die Auffassung, dass es sich bei den Bewohnern der Siedlung um die Essener gehandelt hat (kritisch dazu etwa Hirschfeld, Qumran, 293–297.307–310; Zangenberg, Qumran, 21). M.E. ist jedenfalls die These, dass die Bewohner der Siedlung in gar keiner Verbindung zu den in den Höhlen gefundenen Texten gestanden hätten, wenig plausibel. Die etwa bei Stegemann, Essener, 14f vorgetragenen Argumente sind jedenfalls nicht grundsätzlich widerlegt (vgl. dazu das Nachwort von Jeremias, aaO., 382–384). Um die Zurückhaltung gegenüber einer unkritischen Gleichsetzung der bei Plinius, Philo und Josephus beschriebenen Gemeinschaft der Essener mit den QumranLeuten zu markieren, spreche ich im Folgenden von der „Gemeinschaft von Qumran“, die m. E. auch in den dort gefundenen Texten greifbar wird. 148 Vgl. Hengel, Judentum, 560. Bernhardt, Revolution, 28–30 unterstreicht den unlöslichen Zusammenhang zwischen Religion und Politik in der Zeit der Hasmonäerherrschaft, der sich nicht zuletzt in der historisch schwierig zu beurteilenden Darstellung in den Quellen niederschlägt. 149 Hengel, aaO., 560. 150 AaO., 561. 151 Ebd., ähnlich Michel, Röm, 192: Paulus wird vonseiten der Synagoge als „Abtrünniger“ und „Verführer“ angesehen.
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zu sprechen kommen. Bis hierher hat Paulus thematisiert, dass sich alle Menschen unter dem Urteil des Gesetzes befinden (Röm 1,18–3,20), um im Anschluss daran die Rechtfertigung aus Glauben zu erläutern (3,21–4,25). In Röm 5,1–8,39 schließlich hat Paulus die Existenz der Glaubenden als Gerechtfertigte (5,1) entfaltet und dabei auch noch einmal die Existenz des Menschen unter dem Gesetz beleuchtet (7,7–25), von der er schließlich die in Christus bestehende Freiheit der vom Geist Bestimmten abhebt (8,1–11). Er hat damit deutlich gemacht, dass durch den Geist das Heilshandeln Gottes zum Ziel kommt, das auch in eschatologischer Perspektive nicht mehr aufgehoben werden kann. Er muss deshalb aus theologischen Gründen thematisieren, was mit Israel geschieht. Seine Argumentation bezieht sich dabei nicht auf judaistische Gegner, sondern auf das empirische Israel, das nicht an Jesus glaubt. Er versucht nicht, die genannten Israeliten zu überzeugen, sondern den Christusgläubigen einsichtig zu machen, was mit Israel geschieht. Die Leitfrage ist eine theologische, nämlich die, ob das Wort Gottes hinfällig geworden sei (Röm 9,6). Es geht darum, das Wort Gottes angesichts seiner Offenbarung in Jesus Christus zu begreifen und auf diese Weise die Behauptung der Identität des Gottes Israels mit dem Vater Jesu Christi theologisch zu denken. Michael Theobald hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Frage nach der Kontinuität mit den Heilshoffnungen Israels bereits den Eröffnungsabschnitt des Römerbriefs bestimmt.152 Paulus markiert bereits in Röm 1,16b, dass seine Botschaft sich an das Gottesvolk richtet (Ἰουδαίῳ τε πρῶτον …). Die für die Paulusbriefe einzigartige Aufnahme der davidischen „Herkunft“ Jesu (1,3b: ἐκ σπέρματος Δαυίδ) ist nicht einfach als Erinnerung an einen historischen Sachverhalt zu verstehen, sondern sie zielt auf die theologische Aussage, dass sich in Jesus Christus die Heilshoffnungen Israels erfüllen und dass er der in 2Sam 7,12 verheißene „Nachkomme“ Davids ist, in dem Gott seine Königsherrschaft aufrichtet. Damit formuliert Paulus sein Evangelium in die Hoffnungsgeschichte Israels hinein. Die Situation, in der die Nathan-Verheißung innerhalb des Judentums erneut an Bedeutung gewinnt, hat dabei Strukturanalogien zu der Situation, in der sich die Christengemeinde in Rom befindet, als Paulus an sie schreibt: Auch Israel steht nämlich vor der Frage, wie sich Gottes Herrschaft, an die es glaubt, zur menschlichen Lebenswirklichkeit verhält, die mit menschlichen Herrschafts- und Machtansprüchen verbunden ist. Die Frage nach Macht und Herrschaft und in diesem Zusammenhang auch der Divinisierung politischer Macht, die sich in der Bezeichnung der Römischen Kaiser als filius Dei äußert,153 musste für die Christengemeinde in Rom relevant sein. Hier konnte mit 2Sam 7,12ff eine Tradition mit dem Bekenntnis zu Jesus Christus verbunden werden, die im Judentum im Ringen seit dem Makkabäeraufstand bis zum Ende
152 Theobald, „Geboren aus dem Samen Davids“ (Röm 1,3), 240f. 153 S. dazu Schnelle, Wege, 18–20.
Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Röm 1,3f
der Hasmonäerherrschaft154 bereits reformuliert worden war. Dieser Interpretationsprozess lässt sich an einigen Stationen nachzeichnen. Dazu ist zunächst der Ausgangstext in den Blick zu nehmen, in dem sich Anknüpfungspunkte für die späteren Interpretationen finden. 8.1
Die „Nathan-Verheißung“ in 2Sam 7,12–16
Im siebten Kapitel des Zweiten Samuelbuchs wird erzählt, wie der Prophet Nathan von Gott zu „seinem Knecht David“ (2Sam 7,5a) gesandt wird, um ihm eine Botschaft von Gott auszurichten. Die in der Gottesrede ( )כֹּה ָאַמר ְיה ָוהformulierte Frage in V. 5b macht deutlich, dass an dieser Stelle die Frage nach dem Tempel als Ort der Gegenwart Gottes in der Welt thematisiert wird: „ – ַהַאָתּה ִתְּב ֶנה־ִלּי ַב ִית ְלִשְׁבִתּיDu willst mir ein Haus bauen, dass ich darin wohne?“
Man kann fragen, wogegen sich diese Intervention richtet. Sie ist wohl nicht grundsätzlich gegen den Bau eines Tempels gerichtet,155 wie dies etwa in Jes 66,1–4 der Fall ist. Die Rückfrage scheint sich vielmehr darauf zu beziehen, wer es ist, der ein „Haus“ für Gott bauen könnte.156 V. 6 macht deutlich, dass die Präsenz Gottes in einem „Haus“ alles andere als selbstverständlich ist und für Israel eine noch nie dagewesene Form der Gegenwart Gottes bedeutet.157 Rückgeblickt wird dabei auf Israels Befreiung aus Ägypten und Gottes Begleitung, die er dem wandernden Gottesvolk gewährt hat (V. 6+7). In dieser Begegnung entsteht das Gottesvolk Israel.158 Die mit David verbundenen messianischen Hoffnungen haben hier ihren 154 Josephus gebraucht die Begriffe „Hasmonäer“ und „Makkabäer“ synonym (vgl. Schäfer, Geschichte der Juden, 77, Anm. 1). Bernhardt, Revolution, 16 hält die in der Literatur gebräuchliche Differenzierung zwischen „Makkabäern“ und „Hasmonäern“ für „irreführend“. 155 Oswald, Nathan, 41. 156 Vgl. Gese, Davidsbund, 124: „Kein Wort findet sich darüber, daß ein Tempel Jahwes Wesen nicht entspreche (Jes 66,1–4 lehrt, wie so etwas formuliert wird), sondern es wird nur betont, dass Jahwe längst sich einen Tempel hätte bauen lassen können, wenn er gewollt hätte. Er befiehlt, ob ein Tempel gebaut wird oder nicht, er ist der Initiator, nicht ein Mensch, nicht David.“ Man kann fragen, ob hier wirklich gesagt werden soll, dass kein Mensch den Tempel bauen kann. Jedenfalls ist es nicht David, der ihn baut. Gott bestimmt also selbst über den Ort seiner Gegenwart. 157 „Jahwes Präsenz ist nach dieser Auffassung nicht an einen festen Ort gebunden, sondern er ist inmitten seines Volkes gegenwärtig.“ Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 19. Vgl. Oswald, Nathan, 42–44. Das Ansinnen Davids, Gott einen Tempel zu bauen, sei keineswegs negativ konnotiert. Gott signalisiere dem David aber, dass es „nicht notwendig“ sei und entbinde ihn damit „von der traditionell-religiösen Pflicht des Königs zum Tempelbau“. 158 Vgl. Gese, Messias, 129. Gese erklärt: „[I]n diesem Weg in die Geschichte entwickelt sich die Größe Israel zu einem auch vordergründig bedeutsamen politischen Faktor, und die Offenbarung durchdringt den Bereich menschlichen Seins bis in das Feld irdischer Macht.“
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Ausgangspunkt. Es geht um die Frage, wie Gott im Königtum Davids gegenwärtig ist. 2Sam 7 gibt auf diese Frage keine einfache Antwort, sondern lässt auch die Unverfügbarkeit erkennbar werden, in der sich Gottes Wirklichkeit in der Welt zeigt. Nicht David, sondern erst sein Sohn Salomo wird Gott „ein Haus bauen“. So entscheidet eben Gott selbst darüber, wo seine Gegenwart erfahren werden kann. Die Verheißung eines „Samens“ ( ֶז ַרע, griechisch σπέρμα) bzw. eines „Nachkommens“ in 2Sam 7,12 bedeutet demnach einerseits die Gewährung eines Ortes der Präsenz Gottes, macht aber deutlich, dass diese für den Menschen nicht einfach verfügbar ist. Zwar kommt es schließlich zum Tempelbau unter Salomo, aber die Erzählung bewahrt die Erinnerung, dass dies einzig und allein auf Gottes eigene Initiative hin geschah. Gott schenkt seine Gegenwart und wählt die Weise, in der diese erfahrbar wird.159 Die Wirkungsgeschichte des Textes ist demnach durch die „Tempelbaufrage“ einerseits, das Motiv des „Nachkommens“ ( ) ֶז ַרעin 2Sam 7,12 andererseits, das sich individuell, aber auch kollektiv deuten ließ, begründet.160 Im Masoretischen Text lauten die entscheidenden Verse (2Sam 7,12–14): ִכּי ִיְמְלאוּ ָיֶמיָך12 Denn wenn deine Tage erfüllt sind ְוָֽשַׁכְבָתּ ֶאת־ֲאבֶֹתיָך und du dich zu deinen Vätern legst, מִתי ֶאת־ ַז ְרֲﬠָך ַאֲח ֶריָך ֹ ַוֲהִקי dann werde ich deinen Samen erwecken nach dir, ֲאֶשׁר ֵיֵצא ִמֵמֶּﬠיָך der aus deinem Leib kommt ַוֲהִכיֹנִתי ֶאת־ַמְמַלְכתּוֹ׃ und seine Königsherrschaft festigen. הוּא ִיְב ֶנה־ַבּ ִית ִלְשִׁמי13 Er wird ein Haus bauen für meinen Namen, ְוכֹ ַנ ְנִתּי ֶאת־ִכֵּסּא und ich werde festigen den Thron ַמְמַלְכתּוֹ ַﬠד־עוָֹלם׃ seiner Königsherrschaft für ewig. ֲא ִני ֶאְה ֶיה־לּוֹ ְלָאב14 Ich werde ihm Vater sein ְוהוּא ִיְה ֶיה־ִלּי ְלֵבן und er wird mir Sohn sein, ֲאֶשׁר ְבַּהֲﬠוֹתוֹ wenn er verkehrt handelt, הַכְחִתּיו ְבֵּשֶׁבט ֲא ָנִשׁים ֹ ְו werde ich ihn züchtigen mit einer Menschenrute וְּב ִנ ְגֵﬠי ְבּ ֵני ָא ָדם׃ und mit Schlägen der Menschenkinder. Hier wird das irdische Königtum, das mit David und Salomo begründet wird, zur Repräsentation der Gegenwart Gottes, wie im Tempelbau (V. 13) sinnfällig wird. Der bleibende Bestand, der dem davidisch-salomonischen Königtum dabei zugesagt wird (ַﬠד־עוָֹלם, V. 13b), verlagert die Zusage der Gegenwart Gottes auf den Davididen, sie ist aber vor allem nicht an den Tempel gebunden, sondern an Gottes
159 Gese, Davidsbund, 127 formuliert, dass hier „polemisch das sola gratia der Davidverheißung zum Ausdruck gebracht“ werde. 160 Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 51. Albrecht Alt bemerkte: „Wir stoßen hier auf die ebenso einfache wie historisch triebkräftige Wurzel der Messiaserwartung, die später zu so großer Höhe erwachsen sollte“. Alt, Staatenbildung, 63f.
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Zusage.161 In diesem Zusammenhang wird dem König eine einzigartige Gottesnähe zugesagt, die in der Bezeichnung Gottes als seines „Vaters“ ( )ָאבund des Königs als dessen „Sohn“ ( )ִבּיzum Ausdruck kommt. Im unmittelbaren Kontext wird diese enge Relation durch V. 14b erläutert: Gott wird ihn „mit einer Menschenrute“ ( )ְבֵּשֶׁבט ֲא ָנִשׁיםund mit „menschlichen Schlägen“ ( )ְב ִנ ְגֵﬠי ְבּ ֵני ָא ָדםzüchtigen, so wie ein Vater seinen Sohn erzieht.162 Gott sagt demnach zu, den Davididen nicht zu verwerfen, auch wenn er Rückschläge zu erleiden hat, die als Gottes „Züchtigung“ verstanden werden (vgl. Ps 89,31–33),163 aber dennoch nur Schläge von Menschen sind. Gott wird ihn auch dann nicht fallen lassen, wenn der König versagt (vgl. Ps 89,4f).164 Vor diesem Hintergrund ist nun auch die Einsetzung zum „Sohn Gottes“ bei der Inthronisation des Königs zu verstehen, wie sie in Ps 2,7 und in Ps 89,27f (vgl. Ps 110,3) greifbar wird.165 Anders als in Ägypten ist der König in Israel kein menschgewordener Gott oder vergotteter Mensch.166 Er wird vielmehr bei seiner Inthronisation zum Sohn Gottes „adoptiert“, d. h. Gott sagt ihm die einzigartige Gottesnähe zu, von der 2Sam 7,14 redet. So ist „der Titel ,Sohn‘ für die der Daviddynastie gewährte Vater-Sohn-Relation von Jhwh und König reserviert worden“.167 Mit dem Titel des Königs als „Sohn Gottes“ verbindet sich demnach der Gedanke der Gegenwart Gottes im Königtum und auf diese Weise: in der menschlichen Lebenswirklichkeit. Die Septuaginta (2Βασ 7,12–14 LXX) formuliert die Verheißung mit den Worten: 12 καὶ ἔσται ἐὰν πληρωθῶσιν αἱ ἡμέραι σου καὶ κοιμηθήσῃ μετὰ τῶν πατέρων σου, καὶ ἀναστήσω τὸ σπέρμα σου μετὰ σέ, ὃς ἔσται ἐκ τῆς κοιλίας σου, καὶ ἑτοιμάσω τὴν βασιλείαν αὐτοῦ·
13 αὐτὸς οἰκοδομήσει μοι οἶκον τῷ ὀνόματί μου, καὶ ἀνορθώσω τὸν θρόνον αὐτοῦ ἕως εἰς τὸν αἰῶνα.
161 Oswald, Nathan, 58 erklärt, hier zeige sich „die durchgängige Charakteristik von 2Sam 7, politische Größen, sei es die Festigkeit des Thrones oder die Zukunft des Volkes, allein in ihrem Bezug auf Gott zur Sprache zu bringen“. 162 Gese, Davidsbund, 128. 163 Die Parallelüberlieferung in 1Chr 17 hat in V. 13 den Hinweis auf die Züchtigung getilgt (Gese, Davidsbund, 128). In Psalm 89 begegnet das Motiv der „Züchtigung“ in V. 33. 164 Oswald, Nathan, 56. 165 Oswald, ebd., vgl. Gese, Davidsbund, 128. 166 Kraus, Psalmen I, 18. 167 Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 88.
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14 ἐγὼ ἔσομαι αὐτῷ εἰς πατέρα, καὶ αὐτὸς ἔσται μοι εἰς υἱόν· καὶ ἐὰν ἔλθῃ ἡ ἀδικία αὐτοῦ, καὶ ἐλέγξω αὐτὸν ἐν ῥάβδῳ ἀνδρῶν καὶ ἐν ἁφαῖς υἱῶν ἀνθρώπων …
Hierher (aus 2Sam bzw. 2Βασ LXX 7,12) stammt also der Sache nach die Vorstellung des σπέρμα Δαυίδ, die in Röm 1,3 aufgenommen wird.168 In der NathanWeissagung ist der Gedanke des „Nachkommens“ und die Bezeichnung des Königs als Gottes „Sohn“ bereits miteinander verbunden, so wie dies dann auch in Röm 1,3f der Fall ist. Im Blick auf die aufgenommene Tradition ist es deshalb sicherlich nicht erst Paulus, der eine ihm vorgegebene „Sohn-Davids“-Christologie mit seiner „Sohn-Gottes“-Christologie verbinden würde.169 Vielmehr erläutern sich die Titel gegenseitig. Mit dem Hinweis auf den „Samen“ (τὸ σπέρμα, ) ֶז ַרעist die Verheißung der „ewigen“ Königsherrschaft aufgerufen, in der Gott selbst in der Welt gegenwärtig sein will. Mit diesem, über 2Βασ 7,13 LXX hinaus auch in V. 16 noch zweimal unterstrichenen εἰς τὸν αἰώνα (bzw. ἕως αἰώνος) weist die Verheißung auch noch über Salomo weit hinaus. Sie konnte deshalb auch gegen die historische Wirklichkeit als Hoffnung bestehen bleiben und in neuen Kontexten reformuliert werden. Wahrscheinlich verdankt sich die Erzählung bereits dieser Intention und ist vor dem Hintergrund des erfahrenen Verlusts des Tempels formuliert worden, wie Wolfgang Oswald verdeutlicht: Weil dem noch „tempellosen“ David der ewige Bestand der Dynastie verheißen wurde, steht auch der wieder „tempellose“ König Jojachin, der nach 2Kön 25,27–30 begnadigt wird, in dieser Verheißungsgeschichte.170 So macht bereits die Entstehung dieser Erzählung verständlich, weshalb sie später eschatologisch interpretiert werden konnte: Sie enthält die Hoffnung, dass die in der Geschichte immer nur gebrochen und flüchtig erfahrene Gegenwart Gottes, die politisch gefährdet und umstritten ist, in einem definitiven Sinn realisiert wird.
168 Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 328f. 169 Labahn/Labahn, Sohn Gottes, 105 weisen mit Recht darauf hin, dass bereits 2Sam 7 Davids- und Gottessohnschaft miteinander kombiniert. 170 Oswald, Nathan, 105 erklärt: „Die Begnadigung Jojachins bot den davidischen Anhängern des Königshauses die einmalige Chance, den legitimen Thronanspruch des deportierten Monarchen und darüber hinaus des gesamten Hauses Davids zu realisieren: … Dem noch tempellosen Dynastiegründer David wird der ewige Bestand der Dynastie verheißen, der wieder tempellose Jojachin ist der Nutznießer und daher der legitime König von Juda.“
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8.2
Der „Sohn Davids“ (PsSal 17)
Die in PsSal 2;8 und 17 begegnenden Anspielungen auf die politische Situation der eigenen Gegenwart lassen sich auf die Ereignisse um die Eroberung Jerusalems durch Pompeius im Jahr 63 v. Chr. beziehen.171 PsSal 2,2f versteht die Einnahme des Tempels offensichtlich als Folge der Schuld, die das Volk unter der Hasmonäerherrschaft auf sich geladen hat: Auf deinen Opferaltar stiegen fremde Heidenvölker, sie traten ihn nieder mit ihren Schuhen im Übermut, dafür, dass die Söhne Jerusalems das Heiligtum des Herrn befleckt, die Gaben Gottes durch Gesetzlosigkeiten entweiht hatten.172
Auch das Anliegen dieser Schuldzuweisung ist im Kontext deutlich: Es geht darum, den Glauben an Gottes Gerechtigkeit angesichts der schwer erträglichen politischen Situation aufrechtzuerhalten: Ich aber will dich für gerecht erklären, Gott, mit aufrichtigem Herzen, denn in deinen Urteilen (zeigt sich) deine Gerechtigkeit, Gott, denn du hast den Sündern vergolten entsprechend ihren Werken und gemäß ihren sehr schlimmen Sünden. Du hast ihre Sünden aufgedeckt, damit dein Gericht sichtbar werde, du hast ihr Andenken entfernt von der Erde. Gott ist ein gerechter Richter, und er sieht nicht auf die Person. (PsSal 2,15–18).
In diesem Zusammenhang (PsSal 2,26–32) wird wohl auch auf den Tod des Pompeius (48 v. Chr.) angespielt, der als gerechte Strafe angesehen wird.173 Die Hoffnung, dass sich Gottes Verheißungen in der eigenen Wirklichkeit realisieren, wird auch angesichts der politischen Situation, die gerade als Widerlegung der Heilshoffnungen verstanden werden könnte, festgehalten. Das geschieht mit einem theologischen Argument: Der eigenen zeitlichen Erfahrung wird in PsSal 17,1–3 das Wissen um Gottes Ewigkeit entgegengehalten:174
171 Holm-Nielsen, JSHRZ IV/2, 58, vgl. Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 141; Septuaginta Deutsch, 915. 172 Diese und die folgende Übersetzung nach Septuaginta Deutsch, 916. 173 Holm-Nielsen, JSHRZ IV/2, 58. 174 Übersetzung nach Septuaginta Deutsch, 928.
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1 Κύριε, σὺ αύτὸς βασιλεὺς ἡμῶν εἰς τὸν αἰώνα καὶ ἔτι· ὅτι ἐν σοί, ὁ θεός, καυχήσεται ἡ ψυχὴ ἡμῶν.
2 καὶ τίς ὁ χρόνος ζωῆς ἀνθρώπου ἐπὶ τῆς γῆς; κατὰ τὸν χρόνον αὐτοῦ καὶ ἡ ἐλπὶς ἐπ
1 Herr, du selbst (bist) unser König in alle Ewigkeit. Ja, in dir, Gott, soll sich unsere Seele rühmen. 2 Und was ist die Lebenszeit des Menschen auf der Erde? Entsprechend seiner Zeit ist auch seine Hoffnung auf ihn.
αὐτόν.
3 ἡμεῖς δὲ ἐλπιοῦμεν ἐπὶ τὸν θεὸν σω- 3 Wir aber wollen auf Gott hoffen, unseτῆρα ἡμῶν· ren Retter, denn die barmherzige Macht ὅτι τὸ κράτος τοῦ θεοῦ ἡμῶν unseres Gottes (besteht) in Ewigkeit, und εἰς τὸν αἰώνα μετ’ ἐλέους, die richtende Königsherrschaft unseres καὶ ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἡμῶν Gottes (besteht) in Ewigkeit über die Völεἰς τὸν αἰώνα ker. ἐπὶ τὰ ἔθνη ἐν κρίσει.
Die Anknüpfung in PsSal 17,4 und dann die Verse 21–25 machen deutlich, dass der Verfasser den Gedanken der ewigen Königsherrschaft Gottes der „NathanVerheißung“ 2Sam 7,12–16 entnimmt. Die in PsSal 17,3 zwei Mal begegnende Wendung εἰς τὸν αἰώνα, die bereits den Psalm in V. 1 einleitet (κύριε, σὺ αύτὸς βασιλεὺς ἡμῶν εἰς τὸν αἰώνα), lässt sich als Anspielung auf den in 2Βασ 7,13b.16b genannten Gedanken der ewigen Königsherrschaft begreifen, die dort ebenfalls mit εἰς τὸν αἰώνα zur Sprache gebracht wird (vgl. V. 16a: ἕως αἰώνος) und mit dem Davididen in Zusammenhang gebracht wird. Gerade angesichts der Erfahrung der Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit der innergeschichtlichen Wahrnehmung der Gegenwart Gottes ist der Gedanke der Ewigkeit für das Gottesverständnis zentral. Aufseiten des Menschen hingegen entspricht der Endlichkeit seines Lebens auch die Endlichkeit seiner Hoffnung (PsSal 17,2). Es ist die Erinnerung an Gottes Verheißung, die diese Endlichkeit transzendiert und immer wieder neu Hoffnung zu geben vermag. Unter Anspielung auf 2Sam 7,12f wird Gott an seinen eigenen Schwur erinnert (PsSal 17,4): Σύ, κύριε, Du, Herr, ᾑρετίσω τὸν Δαυιδ βασιλέα ἐπὶ Ισραηλ, hast David zum König über Israel erwählt, καὶ σὺ ὤμοσας αὐτῷ und du hast ihm geschworen περὶ τοῦ σπέρματος αὐτοῦ εἰς τὸν über seinen Nachkommen in Ewigkeit, αἰῶνα τοῦ μὴ ἐκλείπειν ἀπέναντί σου βασίλειον αὐτοῦ.
dass nicht enden werde vor dir sein Königtum.
Diese Hoffnung auf den „Nachkommen“ (τὸ σπέρμα αὐτοῦ [Δαυίδ]) lässt sich gegen die Erfahrung der eigenen Wirklichkeit stellen, an die mit den Versen 5b–20
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erinnert wird und mit der „das ganze Leid des jüdischen Volkes von Nepukadnezar bis Pompeius subsummiert“175 wird. Mit der „Königswürde“ des Davididen (βασίλειον αὐτοῦ, V. 4) ist der Gedanke der Königsherrschaft Gottes selbst (ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ, V. 3) verbunden. In V. 21 wird noch einmal an die „Nathan-Weissagung“ erinnert: ᾿Ιδέ, κύριε, Sieh, Herr, καὶ ἀνάστησον αὐτοῖς τὸν βασιλέα und erwecke ihnen ihren König, αὐτῶν υἱὸν Δαυιδ εἰς τὸν καιρόν, ὃν den Sohn Davids zum Zeitpunkt, den du εἵλου σύ, bestimmt hast, Gott, als König zu herrὁ θεός, τοῦ βασιλεῦσαι ἐπὶ Ισραηλ schen über Israel, deinen Knecht παῖδά σου
Hier wird die Heilshoffnung erstmals mit dem Titel „Sohn Davids“ (υἱὸς Δαυίδ) zum Ausdruck gebracht.176 Wie in 2Sam 7 wird mit dem Hinweis auf den καιρός, den Gott bestimmt, an die Unverfügbarkeit der Hoffnung erinnert. Die Formulierungen in PsSal 17,23f zeigen, dass auch Ps 2 im Hintergrund steht. Die dort in V. 7 angesprochene „Adoption“ des Königs zum „Sohn Gottes“ wird in V. 9 konkretisiert. Eine Gegenüberstellung der Formulierungen lässt die Bezugnahmen deutlich werden: Ps 2,9 LXX PsSal 17,23f ποιμανεῖς αὐτοὺς ἐν ῥάβδῳ σιδηρᾷ,
ἐν σοφίᾳ δικαιοσύνης ἐξῶσαι ἁμαρτω-
ὡς σκεῦος κεραμέως συντρίψεις αὐ-
λοὺς ἀπὸ κληρονομίας, ἐκτρῖψαι ὑπερη-
τούς
φανίαν ἁμαρτωλοῦ ὡς σκεύη κεραμέως, ἐν ῥάβδῳ σιδηρᾷ συντρῖψαι πᾶσαν ὑπόστασιν αὐτῶν, ὀλεθρεῦσαι ἔθνη παράνομα ἐν λόγῳ στόματος αὐτοῦ,
Die dem König zugesagte Gottesnähe realisiert sich in der machtvollen und sichtbaren Durchsetzung der Königsherrschaft. Bei dieser menschlichen Königsherrschaft geht es letzten Endes aber um die Verherrlichung Gottes selbst, um sein Sichtbarwerden in der Welt. So heißt es in PsSal 17,30b.31: … und er wird den Herrn verherrlichen sichtbar vor der ganzen Erde, und er wird Jerusalem reinigen in Heiligkeit, wie es auch von Anfang an war, sodass Heidenvölker kommen vom Ende der Erde seine Herrlichkeit zu sehen, als Gaben bringend ihre erschöpften
175 Feldmeier/Spieckermann, Menschwerdung, 143. 176 Burger, Davidssohn, 17, vgl. Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 242f, der darauf hinweist, dass in der Forschung umstritten ist, ob „Sohn Davids“ hier bereits als messianischer Titel verwendet wird.
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Söhne, und um zu sehen die Herrlichkeit des Herrn, mit welcher sie Gott verherrlicht hat.177
In der Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes geht es demnach darum, dass Menschen die δόξα κυρίου sehen (ἰδεῖν τὴν δόξαν κυρίου). In ihr wird die δόξα κυρίου und damit Gott selbst in der Welt sichtbar. Die Hoffnung auf die Realisierung der Aufrichtung der Königsherrschaft Gottes und damit der Verheißung von 2Sam 7 ist mit dem Kommen des „Davidssohns“ verbunden. 8.3
Die Interpretation von 2Sam 7,12ff in Qumran
Der bereits angesprochene Text, auf den im Zusammenhang mit der Auslegung von Röm 1,3f immer wieder hingewiesen wird,178 stammt aus einem messianischen Florilegium (4Q), das in Höhle 4 in Qumran gefunden wurde (4Qflor).179 Hier wird 2Sam 7,10f aufgenommen und auf die Gemeinschaft des Yahad bezogen (4Qflor I 1ff). Damit inszeniert sich die Gemeinschaft von Qumran als Gegenentwurf zum Jerusalemer Tempel. Sie ist „der wahre Tempel Gottes auf Erden, den er vor allem Bösen schützt“.180 Die Gemeinschaft von Qumran versteht sich demnach als das eigentliche Gottesvolk und spricht dem amtierenden Hohepriester ab, das wahre Judentum zu repräsentieren (vgl. 1QpHab). So wird der Gegenwart Gottes im Jerusalemer Tempel und im Hohepriestertum die Gegenwart Gottes in der eigenen Gemeinschaft entgegengesetzt. Daran zeigt sich: Der Ort und mit ihm die Art und Weise der Gegenwart Gottes in der Welt ist umstritten. Die Suche nach Gottes Gegenwart bei seinem Volk ist nach 4Qflor I mit der nach einem davidischen Nachkommen (2Sam 7,12) verbunden. In 4Qflor I 10f heißt es:181 וה[גיד לכה יהוהUnd Jahwe [verkünd]et dir, כיא בית יבנה לכהdass er dir ein Haus bauen wird, והקימותי את זרעכה אחריכהund ich werde deinen Nachkommen aufrichten nach והכינותי את כסא ממלכתו ]לעול[םdir und den Thron seines Königtums festsetzen [für im]mer.
177 Übersetzung nach Septuaginta Deutsch, 929. 178 So etwa bei Burger, Davidssohn, 19; Wolter, Röm I, 86; Zeller, Röm, 36, s. auch Kuhn, Röm 1,3f. und der davidische Messias als Gottessohn in den Qumranschriften, 111. S. dazu Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 212–219. 179 Zu 4Qflor = 4Q174 s. Stegemann, Essener, 170. 180 Ebd. 181 Zur Übersetzung Maier/Schubert, Qumran-Essener, 307 (vgl. Maier, Die Texte vom Toten Meer II, 165f), Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 214. Hebräischer Text (ohne Vokalisation) nach Lohse, Qumran I, 256.
Die Königsherrschaft Gottes im Geist
אני ]א[ה]יה[ לוא לאב והוא יהיה לי לבן הואה צמח דויד העומד עם דורש התורה
Ich [werde] ihm Vater sein und er wird mir Sohn sein. Dies ist der Spross Davids, der mit dem Gesetzeslehrer auftreten wird.
In dieser Auslegung von 2Sam 7,12 kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, der meist mit „Spross Davids“ übersetzt wird: צמח דויד.182 Er dürfte auf Jer 23,5; 33,15 zurückgehen,183 wo angekündigt wird, Gott wolle dem David einen „gerechten Spross“ ( ֶצַמח ַצ ִדּיקbzw. )ֶצַמח ְצ ָדָקהerwecken. Die Septuaginta übersetzt Jer 23,5 mit ἀνατολὴ δίκαια. Terminologisch weist Röm 1,3 deshalb direkt auf 2Sam 7,12 zurück. Die Tradition lässt sich als eine eigene Interpretation von 2Sam 7,12 begreifen, deren Wirkungsgeschichte im Frühjudentum gleichwohl aufschlussreich für das Verständnis der Tradition von Röm 1,3 ist. Die entscheidende Frage in der jeweiligen Gegenwart ist: Wer genau ist der in 2Sam 7,12 verheißene „Nachkomme“ aus dem Geschlecht Davids? So bleibt auch in 4Qflor I 11 geheimnisvoll, wer genau der צמח דוידist. Sein Auftreten wird jedenfalls von der Gemeinschaft erwartet.184 Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf die eschatologische Erfüllung der Königsherrschaft Gottes.185 Die dabei anklingenden186 Bezeichnungen „Gottessohn“ und „Nachkomme Davids“ werden wie in 2Sam 7,12–14 unmittelbar aufeinander bezogen. Die Sehnsucht nach Gottes Gegenwart wird gegen die Erfahrung der eigenen Wirklichkeit festgehalten und mit dem in 2Sam 7,12 verheißenen ֶז ַרע ָדּ ִודverbunden. Diese eschatologische Auslegung von 2Sam 7,12 tendiert auf die Frage, wer dieses σπέρμα Δαυίδ ist, mit dem Gottes Gegenwart Wirklichkeit wird.
9.
Die Königsherrschaft Gottes im Geist
Die Rede von Jesus als σπέρμα Δαυίδ und als υἱὸς θεοῦ lehnt sich in beiden Teilen an die Tradition von 2Sam 7,12–14 an. Die Pointe der frühchristlichen Interpretation besteht darin, dass Jesus als Gottessohn ἐκ σπέρματος Δαυίδ ist. Auf diese
182 Vgl. 4Qpatr 3f. 183 Burger, Davidssohn, 19. Vgl. Sach 3,8; 6,12. 184 Pietsch, Rezeptionsgeschichte, 218 erklärt: „Der Verfasser deutet also den verheißenen זרעauf den messianischen Davidssproß, der in der letzten Zeit mit dem „Erforscher der Tora“ auftreten wird. 185 AaO., 219. 186 Kuhn, Röm 1,3f, 109 hält fest, dass in den Qumrantexten die Bezeichnung des davidischen Messias als „Sohn Gottes“ nicht belegt sei, diese aber doch zeigen, „daß die atl. Aussagen vom davidischen König als Gottessohn (2Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27f; 1Chr 17,13; 22,10; 28,6, vgl. Jes 9,5) weiter lebten (sic!) und messianisch benutzt wurden“.
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Weise tritt die Tradition in den Diskurs um die jüdischen Heilshoffnungen und die Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes in der Welt ein. Genau diese Bedeutung hat das Motiv auch in der synoptischen Tradition. Auch dort zeigt sich, dass die ontologische Unterscheidung zwischen dem „Irdischen“ einerseits und dem „Erhöhten“ andererseits den neutestamentlichen Texten nicht gerecht wird. 9.1
Zur „Davidssohnschaft“ Jesu in der synoptischen Tradition
Die erste Perikope, in der im Markusevangelium das „Sohn-Davids“-Motiv vorkommt, ist die Erzählung von der Heilung eines Blinden in Jericho in Mk 10,46–52. Die Erzählung steht unmittelbar vor dem in Mk 11,1–11 erzählten Einzug Jesu in Jerusalem und stellt den bewussten Abschluss des zweiten Hauptteils des Markusevangeliums dar, dessen beide ersten Hauptteile durch eine Blindenheilung (Mk 8,22–26; 10, 46–52) abgeschlossen werden.187 Der Verfasser des Markusevangeliums macht damit deutlich, dass der Weg Jesu nach Jerusalem, an das Kreuz, der Weg ist, auf dem sich die eschatologische Blindenheilung ereignet, an deren Ende – am Kreuz – die Erkenntnis Jesu als Sohn Gottes steht (Mk 15,39). Die Ebenen der intendierten Leser und der in der Erzählung handelnden Personen werden hier zusammengeführt, indem es nun innerhalb der Erzählung zu jener christologischen Erkenntnis kommt, die der Evangelist als „Leseanweisung“ an den Beginn seines Evangeliums stellt (Mk 1,1.11). In diesem Zusammenhang ist auch die Verklärungsperikope zu sehen, in der Jesus als „Sohn Gottes“ proklamiert wird (Mk 9,7). An keiner dieser Stellen ist von einer „Adoption“ die Rede.188 Vielmehr geht es darum, dass Jesus als der erschlossen wird, der er von Gott her ist. Seine Taten und seine Verkündigung sind von hier aus zu verstehen. Der Verfasser des Markusevangeliums erzählt, wie Jesus nach Jericho kommt (Mk 10,46a), wo ein blinder Bettler am Wegesrand sitzt, der namentlich vorgestellt wird (10,46b). In V. 47 wird erzählt: καὶ ἀκούσας ὅτι Ἰησοῦς ὁ Ναζαρηνός ἐστιν ἤρξατο κράζειν καὶ λέγειν· υἱὲ Δαυὶδ Ἰησοῦ, ἐλέησόν με – „als er hörte, dass es Jesus von Nazareth ist, begann er zu schreien und zu sagen: ,Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!‘“ Der blinde (!) Bettler erkennt in Jesus von Nazareth den „Sohn Davids“, in dem sich das heilvolle Kommen Gottes zu seinem Volk ereignet. In V. 48 wird die Erzählung noch gesteigert: Die Menschen versuchen den Bettler zum Schweigen zu bringen, aber er schreit nur umso lauter. Jesus geht auf ihn zu und fragt ihm, was er von ihm erwartet. Der Blinde antwortet ihm: ραββουνι, ἵνα ἀναβλέψω (Mk 10,51b). Daraufhin sagt Jesus zu ihm: ἡ πίστις σου σέσωκέν σε (V. 52a). Der Blinde wird
187 Zur Gliederung des Markusevangeliums s. Eckstein, Der aus Glauben Gerechte, 228f. 188 Die oben referierte Behauptung von Rudolf Bultmann hat demnach keinen Anhalt am neutestamentlichen Text.
Die Königsherrschaft Gottes im Geist
geheilt und folgt Jesus „auf dem Weg“ (ἐν τῇ ὁδῷ), wie es am Ende (V. 52b) betont heißt. Was immer an historischer Erinnerung hinter dieser Erzählung stehen mag, im Markusevangelium ist die Anrede Jesu als „Sohn Davids“ in eine klar erkennbare theologische Matrix eingearbeitet.189 Indem Jesus als „Sohn Davids“ identifiziert wird, wird hervorgehoben, dass in der Person Jesu von Nazareth Gottes heilvolle Zuwendung zu den Menschen geschieht, die sich im entscheidenden und tiefsten Sinn am Kreuz erfüllt. Beim Einzug Jesu in Jerusalem skandiert die Volksmenge, dass nun die „Königsherrschaft unseres Vaters David“ kommt (Mk 11,10: εὐλογημένη ἡ ἐρχομένη βασιλεία τοῦ πατρὸς ἡμῶν Δαυίδ). Das Stichwort der βασιλεία weist erneut auf den Beginn des Evangeliums zurück, wo das erste Wort Jesu deutlich macht, dass mit seinem Auftreten die βασιλεία τοῦ θεοῦ da ist (Mk 1,15). Es ist das erste Wort, das Jesus im Markusevangelium spricht, dem das letzte Wort entspricht: dem Schrei in der Gottverlassenheit am Kreuz (Mk 15,34), bei dem Jesus als der Sohn Gottes erkannt wird (V. 39).190 Die „Sohn-Davids“-Motivik macht demnach auch im Markusevangelium deutlich: In dieser Geschichte erfüllt sich die mit David verbundene Hoffnung. Freilich in einer gänzlich unerwarteten und den Rahmen der Tradition transzendierenden Weise. Was der Evangelist Markus hier erzählt, das entspricht dem, was Paulus am Beginn des Römerbriefes unterstreicht: In der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat Gott seine Königsherrschaft durchgesetzt. Diese Wirklichkeit aber ist nicht unmittelbar und für alle evident. Sie wird nur durch das Evangelium und durch den Geist erschlossen. Blicken wir von hier aus auf das Matthäusevangelium, dann lässt sich zunächst feststellen, dass der Verfasser des ersten Evangeliums den „Sohn-Davids“-Titel betont an den Beginn seines Evangeliums stellt (Mt 1,1). Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach Mk 1,1 vor sich gehabt hat, wo Jesus als υἱὸς θεοῦ vorgestellt wird.191 Die Intention bei Matthäus
189 Bereits Burger, Davidssohn, 46 erklärt, dass die Anrede Jesu mit „Sohn Davids“ an dieser Stelle „nicht nur messianologischen, sondern bereits christologischen Klang“ habe (im Anschluss an Hahn, Hoheitstitel, 262). Dagegen erklärt Pesch, Mk II, 171, dass hier „nicht bereits urchristliche, Jesus in Gottes Hoheit zeichnende Christologie“ vorliegen müsse, sondern „jüdisch-volkstümliche Sohn-David-Erwartung“. Peschs Auslegung ist von demselben literarkritischen Optimismus geprägt wie die genannten Versuche der Rekonstruktion einer „Zwei-Stufen-Christologie“. Im Sinne eines christologischen Titels versteht Mk 10,47f auch Boring, Mark, 305. 190 S. dazu jetzt Bauspiess, Das letzte Wort Jesu. 191 Die Ursprünglichkeit der Worte υἱοῦ θεοῦ in Mk 1,1 ist bekanntlich textkritisch umstritten. Aufgrund der äußeren Bezeugung lässt sich kaum eine Entscheidung treffen. So müssen inhaltliche Kriterien den Ausschlag geben. Für die Gesamtkonzeption des Markusevangeliums ist leicht erkennbar, dass die bewusste Einführung Jesu als „Sohn Gottes“ am Anfang der narrativen Strategie des Evangelisten entspricht, zumal sich Gründe für die Auslassung angeben lassen, insbesondere die in den Handschriften verkürzt wiedergegebenen nomina sacra bei gleichen Endungen von Ἰησοῦ Χριστοῦ und υἱοῦ θεοῦ, die leicht zu einer Auslassung beim Abschreiben führen konnte.
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besteht nun sicherlich nicht darin, die Gottessohnschaft Jesu zu verdrängen.192 Vielmehr geht es dem Evangelisten in besonderer Weise darum, Jesu Geschichte als die Erfüllung der alttestamentlichen Heilshoffnungen zu erweisen. Das entspricht der Gesamtanlage seines Evangeliums, die Auseinandersetzungen insbesondere mit dem pharisäischen Judentum erkennen lässt. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass bei der Geburtsankündigung auch Josef als „Sohn Davids“ bezeichnet wird (Mt 1,20). Jesus wird nicht etwa von Gott, sondern von Josef „adoptiert“ und damit selbst zu einem „Sohn Davids“.193 Bei diesem Motiv geht es nicht um die historische Herkunft Jesu, sondern um den theologischen Gedanken eines Eintretens des Gottessohnes in die Hoffnungsgeschichte Israels. Ähnliches lässt sich im Blick auf das Motiv in der lukanischen Geburtsgeschichte sagen. Mit dem Motiv der Jungfrauengeburt unterstreicht Lukas, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist. Dieser wird, wie es in Lk 1,32 heißt „den Thron seines Vaters David“ einnehmen. Auch im Lukanischen Doppelwerk ist deutlich, dass diese Inthronisation mit Kreuz und Auferstehung erfolgt (Apg 2,30–36).194 Im Lukanischen Doppelwerk ist die Nähe zu Paulus an dieser Stelle besonders deutlich. Denn der Verfasser sieht in der Geistausgießung die Erfüllung von Joel 3,1–5 (LXX) (Apg 2,14–21) und verbindet auf diese Weise das Bekenntnis zu Jesus als κύριος wie Paulus in Röm 10,13, vgl. V. 9 mit Joel 3,5a LXX.195 Dass Jesus als κύριος erkannt und dementsprechend bekannt werden kann, ist nach Lukas wie Paulus zufolge auf das Wirken des Geistes zurückzuführen (vgl. 1Kor 12,3). Der Geist bewirkt, dass Jesus als der erkannt wird, der er von Gott her ist: Gottes Gegenwart bei den Menschen, mit der sich die Heilshoffnung Israels erfüllt. Das Verhältnis von Gottessohnschaft und Adoption ist in der Evangelien-Tradition im Verhältnis zu den Königspsalmen gleichsam „umgekehrt“, wie bereits Hartmut Gese mit Recht bemerkt hat:196 Hier wird nicht der „Sohn Davids“ bei der Inthronisation als „Sohn Gottes“ adoptiert, sondern umgekehrt: Der Sohn Gottes tritt ein in die Geschichte der Menschen und wird
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Zur Diskussion s. Metzger, Textual Commentary, 62. Konradt, Mt, 8 erklärt, dass Matthäus das Motiv der Gottessohnschaft bei Markus (Mk 1,11; 9,7; 15,39) vorgefunden habe, während die Einführung der Sohn-Davids-Motivik „auf seine eigene Hand zurück“ gehe. Dem widerspricht bereits die matthäische Fassung der Taufperikope in Mt 3,13–17. Durch den gegenüber Markus eingeschalteten Dialog mit dem Täufer (Mt 3,14f) markiert Matthäus, wie ungewöhnlich die Tatsache ist, dass sich Jesus der Bußtaufe unterzieht. Dies ist nur deshalb so ungewöhnlich, weil Jesus der Sohn Gottes ist, als der er dann in V. 17 proklamiert wird. V. 15 gibt die Antwort, weshalb Jesus sich taufen lässt: damit „alle Gerechtigkeit erfüllt wird“. Diese Erfüllung geschieht auch nach Matthäus in einem tiefen Sinn am Kreuz (Mt 27,54). So mit Recht Konradt, Mt, 8. Zur Auslegung s. Bauspiess, Geschichte, 317–321.448–452. Bauspiess, Geschichte, 420–432. Gese, Natus ex Virgine, 134.
Die Königsherrschaft Gottes im Geist
deshalb zum „Sohn Davids“.197 Wie für die hier erkennbar werdende Tradition ist auch für Paulus der Erweis Jesu als „Sohn Gottes in Macht“ kein Widerspruch dazu, dass Jesus von Anfang an „Sohn Gottes“ ist. Er ist vielmehr Ausdruck dessen, dass Gott im Ereignis der Auferstehung die mit der Sendung Jesu intendierte Aufrichtung seiner Königsherrschaft durchgesetzt hat. Diese, Jesus in die Hoffnungsgeschichte Israels einzeichnende, Botschaft stellt Paulus ganz bewusst an den Anfang des Römerbriefes. Blickt man auf weitere Passagen des Römerbriefs, dann wird deutlich, dass es für Paulus durchaus anspruchsvoll ist, theologisch zu denken, was er in Röm 1,3f mit der Aufnahme der Tradition gesagt hat. 9.2
Die Davidssohnschaft Jesu „nach dem Fleisch“
Dieter Zeller bemerkt zutreffend, dass das Motiv der „Davidssohnschaft“ Jesu nicht im Sinne einer historischen Information zu verstehen ist, sondern im frühen Christentum erst interessant geworden sei, „als das Urchristentum die paradoxe Messianität des auferweckten Gekreuzigten benannte“.198 Mit der in Röm 1,3f aufgenommenen Tradition intoniert Paulus ein Thema, dem er sich in den Kapiteln Röm 9–11 widmet: der Verwurzelung der Heilshoffnung in der Glaubensgeschichte Israels. In Röm 9,1–5 begegnet die Wendung κατὰ σάρκα zwei Mal, als Eröffnung des übergreifenden Zusammenhangs, der in die Eulogie in Röm 11,33–36 mündet. Da auch der Abschnitt Röm 9,1–5 auf eine Eulogie zuläuft, erweist sich der Abschnitt Röm 9–11 – ähnlich wie der erste Hauptteil des Ersten Thessalonicherbriefes – als durch Gebetstexte gerahmt.199 Auch im Zentrum des Abschnitts spricht Paulus von seinem Gebet zu Gott für die Israeliten (Röm 10,1). Die Kapitel Röm 9–11 werden 197 Treffend bereits Grillmeier, Jesus der Christus I, 82 zu Röm 1,3f: „Wir sind also nicht gezwungen zu sagen: Christus, ursprünglich nur Sohn Davids, ist Gottes Sohn geworden durch die wunderbaren Vorgänge bei der Geburt, der Taufe, der Auferstehung und Aufnahme in den Himmel. Im Gegenteil, das alles geschieht für Paulus um einen, der schon Sohn Gottes ist, aber nun dem Fleische nach aus dem Samen Davids geworden ist (Röm 1,3; Gal 4,4).“ 198 Zeller, Röm, 36; ähnlich Wolter, Röm I, 88: Paulus wolle „kenntlich machen, dass der Inhalt seines Evangeliums in den eschatologischen Heilshoffnungen Israels verwurzelt ist“. Wolter ergänzt: „Die Annahme, es wäre allein schon die genealogische Herkunft, die Jesus zum Messias Israels machte, und nicht erst Gottes österliches Handeln an ihm, geht weit am Aussagewillen des Textes vorbei.“ Erneut wird eine Spannung in Wolters Argumentation sichtbar, denn das „erst Gottes österliches Handeln“ an Jesus ihn „zum Messias Israels machte“, lässt sich eben nicht sagen. Angemessener wäre es zu sagen: In Gottes österlichem Handeln an Jesus wird erkennbar, dass Jesus der ist, in dem sich die Heilshoffnungen Israels erfüllen. Auch den Messias-Titel gebrauche ich in diesem Zusammenhang bewusst nicht. Zeller, ebd. bemerkt mit Recht, dass die beschriebene Entstehung der „Sohn-Davids-Motivik“ natürlich nicht ausschließt, dass die Herkunft Jesu aus der Nachkommenschaft Davids auch einen historischen Anhaltspunkt haben könnte, der freilich dann erst von Ostern her zur Geltung gebracht worden wäre. 199 S. dazu oben in Kapitel 2 dieser Arbeit.
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demnach ebenfalls ἔμπροθεν τοῦ θεοῦ formuliert. In Röm 9,2 spricht Paulus von „großer Trauer“, die ihn im Blick auf das empirische Israel ergreift. Das existentielle Ringen, in dem Paulus die Israel-Frage erörtert, wird auch in den folgenden Versen deutlich (Röm 9,3–5): 3 ηὐχόμην γὰρ ἀνάθεμα εἶναι αὐτὸς ἐγὼ ἀπὸ τοῦ Χριστοῦ ὑπὲρ τῶν ἀδελφῶν μου τῶν συγγενῶν μου κατὰ σάρκα, 4 οἵτινές εἰσιν Ἰσραηλῖται, ὧν ἡ υἱοθεσία καὶ ἡ δόξα καὶ αἱ διαθῆκαι καὶ ἡ νομοθεσία καὶ ἡ λατρεία καὶ αἱ ἐπαγγελίαι,
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ὧν οἱ πατέρες καὶ ἐξ ὧν ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα, ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεὸς εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν.
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Denn ich wünschte selbst verflucht zu sein, weg von Christus für meine Brüder, meine Volksgenossen dem Fleisch nach Sie sind ja Israeliten, denen die Sohnschaft und die Herrlichkeit und die Heilssetzungen und die Gesetzgebung und der (Gottes-)Dienst und die Verheißungen (gehören), denen die Väter sind und aus denen Christus dem Fleisch nach stammt, der Gott ist 200 über allen, sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.
Die Art, in der Paulus hier die Wendung κατὰ σάρκα gebraucht, entspricht dem, was sich in Gal 4,23.29; Röm 4,1 und 1Kor 10,18 beobachten lässt. In allen diesen Zusammenhängen erinnert Paulus an die Geschichte Israels, mit der er selbst durch seine Herkunft verbunden ist (vgl. Röm 11,14). So redet er in Röm 9,3 von den Israeliten als seinen „Volksgenossen der Herkunft nach“ (οἱ συγγενεῖς μου κατὰ σάρκα). Das Wort συγγενής begegnet bei Paulus noch drei Mal in der Grußliste des Römerbriefs (Röm 16,7.11.21). Hier bezeichnet Paulus damit offensichtlich Judenchristen.201 So zeigt sich am Ende des Römerbriefs noch einmal, dass Paulus sich auch innerhalb der christlichen Gemeinde mit seinen jüdischen Volksgenossen verbunden weiß. Das betont Paulus auch zu Beginn von Röm 9–11. Er formuliert den hypothetischen Wunsch „selbst verflucht zu sein“ (ἀνάθεμα εἶναι αὐτὸς ἐγώ)202 und damit „von Christus geschieden zu sein“ (ἀπὸ τοῦ Χριστοῦ)203 , und zwar um seiner „Geschwister willen“. Er knüpft damit der Sache nach an das an, was er in Röm 8 ausgeführt hat: Hier hat er die Christusgemeinschaft als das letzte und unverlierbare Ziel der menschlichen Existenz beschrieben (Röm 8,1–39). Damit macht Paulus deutlich: Alles, was er bis hierhin beschrieben hat, das droht verloren
200 Zur Übersetzung von Röm 9,5 s. u. 201 Wilckens, Röm II, 135f. 202 Zur Wendung ἀνάθεμα s. 1Kor 16,22; Gal 1,8.9. An allen Stellen ist deutlich, dass jeweils der Ausschluss aus der Heilsgemeinde gemeint ist. 203 Schlier, Röm, 283.
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zu gehen, wenn Israel sich dem Christuszeugnis verschließt. So wie es für die, die „in Christus Jesus sind“, keine Verurteilung mehr gibt (Röm 8,1), so liegt auf denen, die nicht „in Christus Jesus“ sein wollen, ein „Fluch“, den Paulus sogar selbst auf sich nehmen würde, wenn er Israel damit retten könnte.204 Indem Paulus die Angehörigen des Gottesvolkes an ihre Verbundenheit „dem Fleisch nach“ erinnert, macht er deutlich, dass sie in einer gemeinsamen Hoffnungsgeschichte stehen. Dass Paulus an diese „Hoffnungsgeschichte“ denkt, signalisiert er auch dadurch, dass er in Röm 9,4 die Wendung Ἰσραηλῖται anstelle der viel häufiger gebrauchten Bezeichnung Ἰουδαῖοι205 verwendet. Die Bezeichnung Ἰσραηλῖται begegnet in den Paulusbriefen nur drei Mal (Röm 9,4; 11,1; 2Kor 11,22).206 Auch wenn sich wohl keine strikte Alternative zwischen einer „religiösen“ und einer nicht-religiösen Konnotation der Bezeichnungen aufmachen lässt,207 wirkt die Bezeichnung Ἰσραηλῖται „archaisierend“208 und erinnert an Israels Erwählung,209 die in der alttestamentlichen Tradition mit einer Gottesbegegnung verbunden wird (Gen 32,29).210 Die sogenannten „Vorzüge“ Israels, die im Folgenden genannt werden, lassen sich besser als „Heilszuwendungen“ beschreiben, in der die besondere Beziehung Israels zu seinem Gott gründet: Ihre „Sohnschaft“ (υἱοθεσία) markiert die enge Verbindung mit Gott.211 Mit der δόξα ist wohl nicht Israels „Herrlichkeit“ gemeint, sondern daran gedacht, dass Gott seine „Herrlichkeit“ in ihrer Mitte offenbar werden ließ.212 Bei den διαθῆκαι ist an „Willenskundgebungen“ Gottes zu
204 Schlier, aaO., 285 stellt eine Analogie zur Bitte des Mose an Gott her (Ex 32,32), an der Stelle des Volkes von Gott aus dem „Buch“ getilgt zu werden. 205 Röm 1,16; 2,9.10.17.28.29; 3,1.9.29; 9,24; 10,12; 1Kor 1,22.23.24; 9,20; 10,32; 12,13; 2Kor 11,24; Gal 2,13.14.15; 3,28; 1Thess 2,14. 206 In Röm 9,6 bieten einige Handschriften die Lesart Ἰσραηλῖται anstelle von Ἰσραήλ, die aber schon aufgrund der äußeren Bezeugung als sekundär zu beurteilen ist. Die Bezeichnung Ἰσραήλ verwendet Paulus in Röm 9,6.27.31; 10,19.21; 11,2.7.25.26; 1Kor 10,18; 2Kor 3,7.13; Gal 6,16; Phil 3,5. 207 Kuhli, Ἰσραηλίτης, 502. Er verweist dazu auf die Differenzierung zwischen Ἰσραηλίτης und Ἰουδαῖος, die bei Josephus greifbar wird: In JosAnt II–XI spricht Josephus überwiegend von den Ἰσραηλῖται, in JosAnt XI 317–XX dann aber ausschließlich von den Ἰουδαῖοι. Die Bezeichnung Ἰουδαῖοι setzt sich demnach in der Zeit des Zweiten Tempels durch. 208 Kuhli, ebd. 209 Vgl. Dtn 14,1; Jer 31,9; Jub 15,30 (Wilckens, Röm II, 188; Zeller, Röm, 173). 210 Wolter, Röm II, 32: „Gott selbst hat seinem Volk den Namen ,Israel‘ gegeben.“ 211 Dazu ließe sich auf Hos 11,1 MT hinweisen (griechisch zitiert in Mt 2,15, die Septuaginta übersetzt an dieser Stelle mit τέκνα): ἐξ Αἰγύπτου ἐκάλησα τὸν υἱὸν μου, v. a. aber Ex 4,22, wo Israel als „erstgeborener Sohn“ Gottes bezeichnet wird, vgl. Jub 2,20 (Wilckens, Röm II, 188); Dtn 14,1f (Wolter, Röm II, 33f). 212 Zeller, Röm 173 mit Verweis auf Ex 16,10 (innerhalb der Mannaerzählung heißt es: „Und siehe, die Herrlichkeit des Herrn erschien in einer Wolke“). In Sir 45,3 heißt es von Mose: „Er (Gott) zeigte ihm seine Herrlichkeit.“ (ἔδειξεν αὐτῷ τῆς δόξης αὐτοῦ).
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denken.213 In einem entsprechenden Sinn begegnet das Wort im Plural im Sirachbuch im Kontext des „Väterlobs“ (Sir 44,12).214 Bemerkenswert dabei ist, dass im folgenden Vers (Sir 44,13) auch von der δόξα der Nachkommen die Rede ist. Gott hat durch die gerechten Väter „viel Herrlichkeit geschaffen“ (Sir 44,2). Gemeint sind also „Heilsverfügungen“ Gottes an sein Volk, in denen sich sein Wille zur Gemeinschaft mit diesem Volk zeigt.215 Die „Gesetzgebung“ (νομοθεσία) ist in diesem Sinne als Gabe Gottes zu verstehen: Israel hat das Gesetz erhalten, um Gottes Willen zu begreifen. Die mit dem Gesetz gegebene Verbindung Gottes mit seinem Volk zeigt sich im Kult, der mit λατρεία gemeint ist.216 Dieser ist dem Volk ebenso wie alles andere gegeben, damit es in ihm sein Gottesverhältnis bewahren kann. Der letzte Begriff macht besonders deutlich, worauf es Paulus im Ganzen ankommt: Israel hat die „Verheißungen“ (αἱ ἐπαγγελίαι) erhalten. Nach seinem Verständnis sagt die Schrift voraus, wie Gott an seinem Volk handeln will. Er wird darauf mit der Bezeichnung „Wort Gottes“ in Röm 9,6 zurückkommen: All das hat Gott seinem Volk zugesagt. In diesem Kontext wird auch deutlich, dass Paulus primär an Abraham als Verheißungsträger denkt (9,8f). Was Paulus damit meint, hat er in Röm 4 und in Gal 3 entfaltet217 : An Abraham wird erkennbar, dass Gott durch den Glauben „rechtfertigt“ und den Menschen dadurch neu schafft (Röm 4,3.17).218 Im Zusammenhang der Erinnerung an die „Heilszuwendungen“ Gottes steht nun die letzte Zeile (V. 5), in der von den „Vätern“ die Rede ist. In Röm 15,8 spricht Paulus davon, dass er in seinem Dienst für Christus die an die Väter ergangenen Verheißungen bekräftigt sieht. Auch in 1Kor 10,1 hatte Paulus von „unseren Vätern“ im Blick auf das Ἰσραὴλ κατὰ σάρκα (10,18) gesprochen. An die Erwähnung der „Väter“ schließt sich ein Halbsatz an, der zu einem der meist diskutierten Sätze aus den Paulusbriefen gehören dürfte. In Röm 9,5 formuliert Paulus: ὧν οἱ πατέρες καὶ ἐξ ὧν ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα. Mit diesem Hinweis schließt Paulus die Reihe der „Heilszuwendungen“ Gottes an Israel ab. Er versteht die Tatsache, dass Jesus geborener Jude ist, demnach gleichsam als Höhepunkt dieser „Heilszuwendungen“. Anders als in Röm 1,3 wird hier nicht auf die davidische Abstammung Jesu hingewiesen. Es ist also nicht speziell die Verheißung aus 2Sam 7,12 im Blick, sondern es 213 So Behm, διαθήκη, 132. 214 Vgl. Wilckens, Röm II, 188 mit Anm. 827. Auch Philo gebraucht das Wort im Plural (s. die Stellen bei Behm, διαθήκη, 131). Plural auch in Eph 2,12. 215 Wolter, Röm II, 35 spricht von „Bundeszusagen“. 216 Wilckens, Röm II, 188. Möglicherweise ist das Wort auch in einem umfassenderen Sinn zu verstehen und meint hier die umfassende Ausrichtung Israels auf seinen Gott (vgl. Wolter, ebd.). 217 Hier finden sich dementsprechend die meisten Vorkommen des Wortes ἐπαγγελία bei Paulus: Röm 4,13.14.16.20; Gal 3,14.16.17.18.21.22.29; 4,23.28. Darüber hinaus nur noch Röm 15,8; 2Kor 1,20; 7,1. 218 Dass dieser Glaube für Paulus Christusglaube ist, ergibt sich notwendig aus dem Gesamtkontext seiner Argumentation.
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wird eine allgemeine Aussage über die menschliche Herkunft Jesu gemacht. Das unterscheidet den Hinweis von Röm 1,3, weshalb sich hier kein direkter Vergleich herstellen lässt. Die Frage ist, wie der folgende Satz mit dem Ausdruck ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα zu verbinden ist, in dem Paulus eine Eulogie formuliert: ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεὸς εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν (Röm 9,5). Wird hier Christus als θεός bezeichnet („Christus, der Gott über allem ist, sei gepriesen …“) oder ist die Eulogie auf Gott zu beziehen? Im letztgenannten Fall wäre nach ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα ein Punkt zu setzen, und mit ὁ ὢν würde eine Gotteseulogie einsetzen („Gott, der über allem ist, sei gepriesen …“).219 Hans-Christian Kammler hat die gespaltene Diskussionslage, bei der sich eine Tendenz der englischsprachigen gegenüber der deutschsprachigen Forschung zu einer Deutung auf Christus feststellen lässt,220 zusammengefasst und einige wichtige Argumente zusammengetragen, die für eine Deutung auf Christus sprechen.221 Demnach lege bereits die Syntax die genannte Interpretation nahe.222 Zudem gebe es keinen Beleg für eine Eulogie, in der das Wort εὐλογητός nach dem gepriesenen „Gott“ oder „Herr“ stehe.223 Der Satzanschluss ὁ ὤν sei deshalb auf die unmittelbar vorausgehenden Worte ὁ Χριστὸς τὸ κατὰ σάρκα zu beziehen. Gegen eine solche Deutung haben sich explizit Jochen Flebbe224 und Michael Wolter 225 ausgesprochen. Interessant ist, dass beide in diesem Zusammenhang auf 1Kor 8,6 hinweisen.226 Wolter gibt dazu einen wichtigen Hinweis, auf den wir bei der Auslegung von 1Kor 8,6 bereits gestoßen sind: In dem Bekenntnis, das Paulus dort anführt, ist ὁ θεός Gattungsname (Appellativum).227 Dasselbe wäre in Röm 9,5 der Fall, wenn die Wendung auf Christus zu beziehen wäre.228 Paulus würde Christus hier nicht einfach mit dem Namen ὁ θεός bezeichnen, sondern würde sagen, dass Jesus seinem Wesen nach Gott ist. Wolter bemerkt, dass Paulus in 1Kor 8,6 feststellen würde, dass es „nur ein einziges Exemplar“ dieser Gattung, nämlich den „Vater“ gebe. Aus diesem Grund könne Paulus Christus
219 So etwa Wilckens, Röm II, 186; Zeller, Röm, 172. 220 Kammler, Röm 9,5, 166. In letzter Zeit zustimmend aufgenommen von Schnelle, Hellenismus, 147, vgl. Fee, Incarnation, 90f; Jewett, Romans, 567f; Pate, Romans, 187. Wie uneinig die Ausleger an dieser Stelle sind, zeigt sich auch darin, dass auch die Annahme einer Textverderbnis in Erwägung gezogen worden ist (s. Schreiner, Romans, 490; Wolter, Röm II, 39, vgl. Flebbe, Solus Deus, 271 mit Anm. 13, in der er sich mit Kammler auseinandersetzt). 221 Kammler, aaO., 166–180. S. auch die differenzierte und teilweise in den Argumenten übereinstimmende Argumentation bei Schreiner, aaO., 487–489. 222 AaO., 166 mit Verweis auf Zerwick, Analysis, 350. 223 Kammler, aaO., 168. 224 Flebbe, Solus Deus, 270f. 225 Wolter, Röm II, 40f, vgl. die Zusammenfassung der Diskussion aaO., 37–41. 226 Flebbe, aaO., 270; Wolter, aaO., 40. 227 Wolter, ebd. 228 Wolter, ebd., vgl. Kammler, aaO., 171.
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unmöglich θεός nennen.229 In unseren Überlegungen zu 1Kor 8,6 war aber gerade deutlich geworden, dass Paulus von dem einen Gott nicht nur im Blick auf den „Vater“ spricht, sondern das monotheistische Bekenntnis im Blick auf den πατήρ und den κύριος entfaltet. Gerade das Zusammenspiel der beiden Prädikationen erschließt nach Paulus, wer „Gott“ ist: Wie im alttestamentlichen Text Dtn 6,4 das Wesen „Gott“ mit dem Namen κύριος identifiziert wird, so identifiziert das frühchristliche Bekenntnis den einen Gott als θεὸς ὁ πατήρ und κύριος Ἰησοῦς Χριστός. Auch 1Kor 2,8 ließ sich als Gottesprädikation verstehen, die auf den irdischen Jesus bezogen wird. Und in Phil 2,9–11 wird Paulus davon sprechen, dass Jesus Träger des heiligen Gottesnamens ist.230 Dabei folgt Paulus der Tradition. Er macht sie sich aber ausdrücklich zu eigen und setzt sie ein, um damit gegenüber seinen Adressaten argumentieren zu können. Das könnte auch in Röm 9,5 der Fall sein: Paulus erinnert daran, dass Jesus Gott auch über Israel ist. Gerade deshalb stellt sich direkt im Anschluss (V. 6) die Frage, ob das Wort Gottes hinfällig geworden ist, wenn die Gottesgemeinschaft nun direkt in das Bekenntnis zu Jesus mündet, dem sich Israel gerade verschließt. So bezeichnet Paulus Jesus in der Mitte des Abschnitts in Röm 10,12 als κύριος πάντων, wobei er an dieser Stelle ausdrücklich die Wendung οὐ γάρ ἐστιν διαστολή aus Röm 3,22 wiederholt. Die Bezeichnung Jesu als κύριος πάντων lässt sich ebenfalls als Gottesprädikation verstehen.231 In Röm 10,9 macht Paulus deutlich, dass das Bekenntnis zu Jesus als κύριος zur Rettung führt und sich darin realisiert, was in Joel 3,5 LXX gesagt ist: die rettende Anrufung „des Namens des Herrn“. In der Anrufung Jesu als κύριος drückt sich nach Paulus der Glaube an das Handeln Gottes an Jesus zum Heil der Menschen aus: der Glaube daran, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat. So geht es in Röm 9,5 also sicherlich nicht darum, Jesus als „zweiten Gott“ neben dem „Vater“ zu etablieren. Der Vers lässt sich aber ganz auf der Linie interpretieren, auf der Paulus sonst von Gott und von Jesus Christus redet: Das Handeln Gottes an den Glaubenden und damit Gott selbst, werden in Jesus Christus erkennbar. In diesem Sinne ist er θεός, denn er hat für die Glaubenden die Bedeutung, die in der Heilsgeschichte Israels der handelnde Gott hat, an dessen Handeln Paulus in Röm 9,4 mit dem Verweis auf die „Väter“ erinnert hat. Dem entspricht es, wenn Paulus in 1Kor 10,18 von dem Ἰσραὴλ κατὰ σάρκα spricht und von „unseren Vätern“, die „unter der Wolke hindurchgegangen“ seien
229 Wolter, ebd. 230 S. dazu das folgende Kapitel. Auch die Wendung ἐν μορφῇ θεοῦ in Phil 2,6 ist m. E. nicht im abschwächenden Sinn gemeint, der zum Ausdruck bringe, dass Jesus „nicht θεός war“, wie Wolter, Röm II, 40 meint. 231 Hofius, Einer, 179 mit Verweis auf Esth 4,17c LXX; 4Q542 1 II,2f sowie Ps 85,6b im Vergleich mit Röm 10,12; Kammler, Röm 9,5, 177f mit Verweis auf Apg 10,36; 1QGenApoc 20,13; JosAnt XX 90; AssMos 4,2.
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(10,1). Die Väter sind auch nach dem „Bruch“, den Paulus vor Damaskus erlebt hat, „unsere Väter“, weil die Geschichte Gottes mit Israel Gottes Geschichte bleibt. Es gibt demnach eine Entsprechung zwischen der Glaubensgeschichte Israels und der Geschichte der an Christus Glaubenden: Trotz des fundamentalen Umbruchs, den Paulus gerade auch in seinem Gottesverständnis erfahren hat, versteht er die Geschichte Israels als „Urbild“ (τύπος) der Jesus-Christus-Geschichte (1Kor 10,6).232 Von diesem „Umbruch“ spricht Paulus der Sache nach auch in der Einleitung zum Römerbrief, denn der Hinweis auf die in seiner Berufung erfolgten „Aussonderung“ in 1,1 lässt sich ebenso als eine Anspielung auf die Damaskus-Begegnung verstehen233 wie der Hinweis in 1,5, dass Jesus durch „unseren Herrn Jesus Christus“ sein Apostelamt empfangen hat. Wenn Paulus in 1,9 „sein“ Evangelium, dessen Inhalt er in 1,3f ja skizziert hat, als das „Evangelium seines (sc. Gottes) Sohnes“ bezeichnet, dann klingt dabei der in Gal 1,16 beschriebene Inhalt der an Paulus ergangenen Offenbarung an. Dieser Inhalt ist der „Sohn Gottes“ selbst, die Erkenntnis, dass Jesus Christus die Gegenwart Gottes ist. Das bestätigte sich in 2Kor 4,6, wo deutlich wurde, dass die δόξα τοῦ θεοῦ in der Person Jesu erscheint.234 Von der damit gesetzten Perspektive ausgehend beschreibt Paulus im Römerbrief auch das, was im Blick auf Israel zu sagen ist. Die Entsprechungen zur Geschichte Gottes mit Israel kommen also aus der Perspektive des christlichen Glaubens in den Blick. Das entspricht wiederum dem, was wir im Ersten Korintherbrief beobachten konnten: Paulus erkennt in der in Ex 17,6 erwähnten πέτρα Jesus Christus selbst (1Kor 10,4). Für Paulus ist die Geschichte Israels der Horizont, innerhalb dessen die Gegenwart Gottes in der Geschichte der Menschen thematisiert wird. Ausdrücklich sagt Paulus zu Beginn des Römerbriefs, dass das Evangelium „dem Juden zuerst“ (Ἰουδαίῳ πρῶτον) gilt. Den Hinweis, dass sich das Evangelium an Juden und Griechen wendet, wiederholt Paulus in Röm 10,12 und verbindet ihn mit der Prädikation Jesu als κύριος πάντων. Diese Zusammenhänge legen zusätzlich nahe, dass das Appellativum θεός in Röm 9,5 auf Christus zu beziehen ist. Deutlich werden würde hier einmal mehr, dass Jesus für Paulus in dem Sinne an Gottes Stelle steht, dass Gott sich selbst durch sein Handeln in Jesus Christus erschließt. Es ist hier nicht von „substanzhafter“ oder abstrakter „Gottheit“ Jesu die Rede, wohl aber davon, dass man von Gott aus der Sicht des Paulus nach Damaskus nicht mehr unabhängig von seiner Gegenwart in Jesus Christus reden und denken kann. Es bleibt gleichwohl zuzugestehen, dass die direkte Bezeichnung Jesu als θεός singulär
232 In 1Kor 10,6 freilich in einem negativen Sinne: Die Väter in der Wüste sind für die Glaubenden „warnende Modelle“ geworden (Wolff, 1Kor, 211). 233 Auf den Zusammenhang weist etwa Zeller, Röm, 34 hin. 234 Flebbe, Solus Deus, 271 mit Anm. 13 bemerkt zu 2Kor 4,4, hier sei Jesus nur als „die Ikone Gottes“ bezeichnet. S. dazu die Ausführungen in Kapitel 6 dieser Arbeit.
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ist, ebenso wie eine an Jesus gerichtete Eulogie.235 Singulär sind allerdings auch die anderen genannten Gottesprädikationen (1Kor 2,8; Röm 10,12, vgl. 1Kor 8,6; Phil 2,6.9–11). Paulus kommt es offensichtlich nicht auf eine bestimmte Gottesprädikation an, sondern er erfährt in der Person Jesu die Gegenwart Gottes selbst, die in den unterschiedlichen Gottesprädikationen jeweils im Kontext zum Ausdruck gebracht wird. Die „Gottheit“ Jesu Christi ergibt sich für Paulus aus der Rolle, die Jesus im Heilsgeschehen hat. Paulus sieht die Heilszuwendung Gottes an Jesus Christus gebunden. Am Ende von Röm 9 hält Paulus fest, weshalb Israel den Weg, den Gott mit den Menschen gehen will, nicht erkannt hat (9,30–33). Es ist die Frage nach der δικαιοσύνη, die ihn dabei bewegt (V. 30+31). Die Frage nach der Gottesgemeinschaft, die damit aufgeworfen ist, ist für Paulus mit der Frage nach der Gotteserkenntnis unmittelbar verbunden. Dass Paulus gerade an dieser Stelle mit der Heiligen Schrift Israels argumentiert, zeigt seine Überzeugung, aus seiner jetzigen Perspektive Einsicht in den Willen Gottes erhalten zu haben. In einer Kombination von Motiven aus Jes 28,16 („siehe, ich lege einen Stein in Zion …“) und Jes 8,14 („Stein des Anstoßes“) macht Paulus deutlich, dass sich die Gotteserkenntnis daran entscheidet, dass Jesus Christus als der Ort der Gegenwart Gottes und damit als der Ort der Gottesgemeinschaft erkannt wird. Gerade diese Einsicht aber teilt die Mehrheit des Gottesvolkes nicht. Es sieht das Gesetz als den Raum an, in dem Gott begegnet. Für Paulus begegnet im Gesetz aber der richtende Gott (Röm 3,20; 5,13; 2Kor 3,6f). Bedeutsam ist, dass Paulus auch zu Beginn von Röm 10 die Gebetsperspektive einnimmt und seine Adressaten (Ἀδελφοί) direkt anspricht, indem er ihnen von seinem Gebet zu Gott für Israel berichtet. Hier formuliert Paulus einen entscheidenden Satz über die Gotteserkenntnis Israels: μαρτυρῶ γὰρ αὐτοῖς ὅτι ζῆλον θεοῦ ἔχουσιν ἀλλ’ οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν (Röm 10,2). Demnach „eifert“ Israel für Gott, d. h.: Es hat den Willen zur Gemeinschaft mit Gott. Aber es sucht diese Gemeinschaft – aus der Sicht des Paulus – auf dem falschen Weg: im Gesetz. Hier wird die Differenz deutlich, die Paulus zwischen den „Heiden“ und Israel sieht: Israel kennt den wahren Gott, während die Heiden vormals „Gott nicht kannten“ (Gal 4,8, vgl. 1Thess 1,9; 1Kor 12,2). Aber es verkennt Gott. So begründet Paulus seine These mit den Worten (Röm 10,3): ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην καὶ τὴν ἰδίαν [δικαιοσύνην] ζητοῦντες στῆσαι, ῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. „Da sie Gottes Gerechtigkeit verkennen und ihre eigene (Gerechtigkeit) zu errichten suchen, haben sie sich nicht der Gerechtigkeit Gottes untergeordnet.“ Israel richtet aus der Sicht des Paulus de facto „seine eigene Gerechtigkeit“ auf, weil es die Gerechtigkeit, die Gott geschaffen hat, nicht erkennt: Sie realisieren nicht die Gemeinschaft mit Gott, die er selbst eröffnet hat. Damit ist aber auch ein erkenntnistheoretischer
235 Ebd.
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Grundsatz angesprochen: Gott wird da erkannt, wo er sich zu erkennen gibt. Für Paulus steht fest, dass dies in Jesus Christus geschehen ist. Dieser Grundsatz ist der Ausgangspunkt seiner Argumentation. In den folgenden Versen wird deutlich, wie die christologische Grundüberzeugung des Paulus nun auch seine Theo-Logie umgestaltet. Er identifiziert zunächst das in Dtn 30,14 angesprochene „nahe Wort“ mit dem „Wort des Glaubens, das wir verkündigen“ (Röm 10,8).236 Spricht Dtn 30,14 in seinem ursprünglichen Kontext vom Gesetz, so sieht Paulus damit nun das Evangelium angesprochen. Wie im alttestamentlichen Kontext die Gabe des Gesetzes die Gottesgemeinschaft aufrichtet, so entsteht dies nach der Überzeugung des Paulus dadurch, dass es zum Glauben führt (Röm 10,17). Das Bekenntnis, in dem sich der Glaube artikuliert, ist nicht als eine vom Menschen zu erbringende Leistung verstanden, sondern nach außen tretender Ausdruck der Erkenntnis, die der Glaube impliziert: 9 ὅτι ἐὰν ὁμολογήσῃς ἐν τῷ στόματί σου κύριον Ἰησοῦν καὶ πιστεύσῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου ὅτι ὁ θεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν, σωθήσῃ· 10 καρδίᾳ γὰρ πιστεύεται εἰς δικαιοσύνην, στόματι δὲ ὁμολογεῖται εἰς σωτηρίαν.
9
Denn wenn du mit deinem Munde Jesus als κύριος bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden. 10 Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Munde aber bekennt man zur Rettung. Die in Röm 10,2 angesprochene ἐπίγνωσις θεοῦ wird für Paulus und die frühchristliche Tradition, der er hier folgt, im Bekenntnis zu Jesus als κύριος realisiert (vgl. 1Kor 12,3; 2Kor 4,5; Phil 2,11). Anhand der chiastisch verschränkt aufgenommenen anthropologischen Begriffe στόμα und καρδία entfaltet Paulus, was mit diesem Bekenntnis geschieht.237 Den anthropologischen Begriffen sind jeweils die Verben πιστεύειν und ὁμολογεῖν zugeordnet. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Paulus das κύριος-Bekenntnis zu Jesus als Realisierung der heilbringenden Anrufung des heiligen Gottesnamens versteht (Röm 10,13 mit Joel 3,5a LXX). Unmittelbar zuvor ruft er noch einmal die in Röm 1,16 aufgerufene Adressierung des Evangeliums an Juden und Heiden auf (Röm 10,12f).
236 S. dazu Eckstein, „Nahe ist dir das Wort“. 237 Vgl. Eckstein, aaO., 65f.
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12 οὐ γάρ ἐστιν διαστολὴ Ἰουδαίου τε καὶ Ἕλληνος, ὁ γὰρ αὐτὸς κύριος πάντων, πλουτῶν εἰς πάντας τοὺς ἐπικαλουμένους αὐτόν·
13 πᾶς γὰρ ὃς ἂν ἐπικαλέσηται τὸ ὄνομα κυρίου σωθήσεται. 12 Denn es gibt keinen Unterschied zwischen dem Juden und dem Griechen, denn es ist derselbe Herr aller, reich für alle, die ihn anrufen; 13 Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden. Im Kontext ist deutlich, dass mit dem κύριος Jesus gemeint ist. Die Zusammengehörigkeit von Juden und „Griechen“ sieht Paulus darin, dass sie einen gemeinsamen „Herrn“ haben. Joel 3,1–5 entfaltet die eschatologische Ausgießung des Geistes, die die heilbringende Anrufung des Gottesnamens vorbereitet: καὶ ἔσται πᾶς, ὃς ἂν ἐπικαλέσηται τὸ ὄνομα κυρίου, σωθήσεται (Joel 3,5a LXX). Da die Verbindung des frühchristlichen κύριος-Bekenntnisses mit Joel 3,5a LXX auch in der Apostelgeschichte belegt ist und dort breit entfaltet wird (Apg 2,14–21 im Kontext)238 , ist anzunehmen, dass Paulus diese Verbindung bereits vorgefunden hat. Die eschatologische Realisierung der Gottesgemeinschaft und die damit verbundene Erkenntnis, wer Gott für den Menschen ist, erweist sich in Jesus Christus. In ihm wird der wahre Gott erkannt. In soteriologischer Perspektive kennt Paulus gerade keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden.239 Sie alle stehen unter demselben κύριος. Jesus hat demnach für alle Menschen die Bedeutung, die im Alten Testament Gott hat. So sind Christologie und Gotteslehre einmal mehr unlöslich miteinander verbunden. Diese Verbindung markiert für Paulus die Differenz zwischen seiner Perspektive vor und nach seiner Damaskusbegegnung. In der Ausformulierung schließt er sich dem urchristlichen Glaubensbekenntnis an. So ist die Differenz, die Paulus markiert, eine theologische Differenz, ein Unterschied im Blick auf die Frage, wie Gott erkannt wird und wer er wesentlich ist. Auch unabhängig von der Frage, ob Paulus den Begriff θεός direkt auf Jesus anwenden kann, ist deutlich, dass die paulinische Rede von Gott unlöslich an die Person Jesu Christi gebunden ist. Im Hintergrund steht die Voraussetzung, dass von Gott nur aus der Begegnung heraus und von seinem Heilshandeln her geredet werden kann. Dieses Heilshandeln aber ist an eine Person gebunden. Die Erkenntnis Jesu Christi und die Erkenntnis Gottes hängen deshalb unlöslich zusammen. Von Jesus können deshalb auch Aussagen gemacht werden, die sich eigentlich nur von Gott machen lassen. Das zeigt, dass Paulus die „Gottheit“ Jesu Christi nicht begrifflich-ontologisch ausformuliert, wohl aber voraussetzt. Das wird beson-
238 Zur Auslegung s. Bauspiess, Geschichte, 420–432. 239 Vgl. Röm 3,22b im Kontext von 3,21–26 mit 10,12 im Kontext von 10,9–13, wo jeweils die Wendung οὐ γάρ ἐστιν διαστολή steht.
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ders deutlich erkennbar an der Stelle, an der er über das „Fleisch“ Jesu in einem theologischen Sinn reflektiert: in Röm 8,3. In Röm 8,1–4 formuliert der Apostel: 1 Οὐδὲν ἄρα νῦν κατάκριμα τοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ. 2 ὁ γὰρ νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόμου τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου.
3
Τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου ἐν ᾧ ἠσθένει διὰ τῆς σαρκός, ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί,
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ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα.
Die Aussage über die Sendung des Gottessohnes in das „Fleisch“ ist vor dem Hintergrund der beiden voraufgehenden Verse zu verstehen: 1 So gibt es nun keine Verurteilung für die, die in Christus Jesus sind. 2 Denn das Gesetz des Geistes, der zum Leben führt in Christus Jesus hat dich befreit vom Gesetz, das zu Sünde und Tod führt.240 Mit Röm 8,1 zieht Paulus die Konsequenz aus den Ausführungen, die er in Röm 7 zur Frage nach der Funktion des Gesetzes gemacht hat. Auch an dieser Stelle ist deutlich, dass die christologische Einsicht des Paulus seine Sicht auf das Gesetz grundlegend verändert hat.241 In Röm 7,5+6 beschreibt Paulus die alte und die neue Existenz der Glaubenden und entfaltet diese dann in 7,7–25a sowie in Röm 8,1–17.242 Was Paulus in Röm 7,6 mit einem mit betontem νυνί eingeleiteten Satz formuliert hat, das führt er in Röm 8,1ff aus: Die Glaubenden sind befreit vom Gesetz, d. h. von dem „Fluch“, den das Gesetz über den Menschen ausspricht. Für die, die „in Christus Jesus sind“, gibt es deshalb keinen „Verurteilung“ mehr, wie Röm 8,1 formuliert.243 Für das Verständnis der folgenden Aussage ist die Einsicht entscheidend, dass das Wort νόμος in den Versen 2 und 3 äquivok gebraucht wird. In Vers 2 hat es die Bedeutung „Gesetzmäßigkeit“, was an der Gegenüberstellung der beiden Existenzweisen deutlich wird: Die Gesetzmäßigkeit des Geistes, der zum Leben
240 Zur Auslegung von Röm 8,1–11 s. neben den Kommentaren Landmesser, Geist, vgl. Herzer, „Worin es schwach war durch das Fleisch“ (Röm 8,3). 241 Vgl. Herzer, aaO., 239: „Die Neubestimmung der Relation von Sünde und Gesetz ist bei Paulus christologisch begründet und läuft auf eine Apologie des Gesetzes und damit der Geltung von Gottes Gerechtigkeit hinaus.“ 242 Diesen strukturellen Zusammenhang hat Hofius, Der Mensch im Schatten Adams, 109 differenziert herausgearbeitet. 243 Das Nomen κατάκριμα kommt im NT nur bei Paulus vor, außer in Röm 8,1 nur noch zwei Mal, in Röm 5,16.18. Paulus verwendet das Wort also jeweils in den Zusammenhängen, in denen er die todbringende Wirkung der Geschichte Adams für den Menschen zum Ausdruck bringen möchte.
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führt,244 und die Gesetzmäßigkeit der Sünde, die mit dem Tod verbunden ist (vgl. Röm 6,23). Erst mit V. 3 kommt Paulus wieder auf die Tora zu sprechen.245 Dabei verbindet er eine Aussage über die Tora mit einem Satz über die Sendung des Sohnes „ins Fleisch“. Zuerst spricht Paulus von der „Unmöglichkeit“ für das Gesetz (τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου), die er darin sieht, dass es „schwach war durch das Fleisch“ (ἐν ᾧ ἠσθένει διὰ τῆς σαρκός). Dann fügt er hinzu, was Gott getan hat: „Gott sandte seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde“ (ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας). Auf diese Weise „verurteilte er die Sünde im Fleisch“ (κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί). Paulus will einerseits die Unfähigkeit des Gesetzes beschreiben, den Menschen zum Leben zu führen, andererseits sichtbar machen, was das Kommen Jesu ins „Fleisch“ bewirkt. Da Paulus nur selten von der Inkarnation Jesu (2Kor 8,9; Phil 2,6–8, vgl. Gal 4,4f) spricht und die Aussage sich mit „Sendungsaussagen“ vergleichen lässt, die in der johanneischen Tradition begegnen (Joh 3,16; 1Joh 4,9),246 ist erwogen worden, ob Paulus hier eine Tradition aufnimmt.247 Da sich diese inhaltlich schwer abgrenzen lässt, ist die Annahme allerdings umstritten.248 Es lässt sich allerdings erkennen, dass Paulus durch die Sendungsaussage im Zusammenhang mit der Erwähnung der σάρξ auf eine theologische Problematik stößt, die dadurch entsteht, dass er nun klären muss, in welchem Verhältnis der menschgewordene Gottessohn zur Sünde steht. Die komplizierte Syntax249 zeigt an, wie Paulus mit der Frage ringt. Das Wort σάρξ ist ein „Vorzugswort“ bei Paulus, bei dem sich fast die Hälfte der neutestamentlichen Belege finden.250 Darin schlägt sich die Tatsache nieder, dass Paulus einen theologischen σάρξ-Begriff entwickelt, mit dem er die Situation des Menschen unter der Macht der Sünde beschreibt. Emmanuel Rehfeld differenziert sachgemäß zwischen einem „theologischen“ und einem „psychischen“ σάρξ-Begriff bei Paulus.251 Mit dem „theologischen“ Begriff ist dabei die σάρξ als die von der Sünde bestimmte Existenz des Menschen gemeint, mit dem „psychischen“ Begriff
244 245 246 247 248 249 250
251
Der Genitiv lässt sich als genitivus finalis bestimmen. Landmesser, Geist, 135; Wolter, Röm I, 474. Landmesser, aaO., 137. So etwa Käsemann, Röm, 207; Schlier, Röm, 241; Schmithals, Röm, 261; Wilckens, Röm II, 124. So spricht sich Wolter, Röm I, 476 mit Anm. 28 ausdrücklich gegen die Annahme einer traditionellen Formel in Röm 8,3 aus. Zum Problem s. etwa Wilckens, Röm II, 124; Wolter, Röm I, 474f. Sand, σάρξ, 549 zählt 72 von insgesamt 147 neutestamentlichen Belegen bei Paulus und 25 in der nach-paulinischen Tradition (einschließlich Hebr). Auffällig ist, dass es im Römer- und im Galaterbrief gehäuft, im Ersten Thessalonicherbrief aber überhaupt nicht vorkommt. Rehfeld, Ontologie, 136–142. Das „theologische“ Verständnis wird besonders deutlich in Röm 7 und 8 (7,5, vgl. 14; 7,18.25; 8,5.6.7.8). Hier reflektiert Paulus darüber, wie ein Mensch in die Freiheit geführt wird.
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der Mensch als sterbliches Wesen, wobei der Begriff hier „zunächst ganz neutral die schöpfungsmäßige conditio humana“252 bezeichnet: Den Menschen in seiner Vergänglichkeit und Hinfälligkeit. Paulus nimmt hier, wie etwa auch das Johannesevangelium,253 alttestamentlichen Sprachgebrauch auf, der über die Septuaginta vermittelt ist, wo σάρξ Wiedergabe von ִ ּבָּשׂרist.254 In diesem Sinne könnte das Wort σάρξ in der Sendungsaussage in Röm 8,3 ursprünglich gemeint sein. Es fällt auf, dass Paulus an dieser Stelle gleich drei Mal das Wort ἁμαρτία verwendet: ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί
Er stellt dem Wort σάρξ das Wort ὁμοίωμα voran. Für Paulus ist die σάρξ die Sphäre, in der die Sünde herrscht. Paulus scheint in Röm 8,3 auf ein Problem zu stoßen, dessen er sich während der Formulierung bewusst wird: Er will mit der Tradition aussagen, dass Jesus in die von der Sünde beherrschte Wirklichkeit eingetreten ist. Die „Menschwerdung“ aber hat nach Paulus – wie auch für Joh 1,14 und Phil 2,6–8 – das Ziel des Kreuzestodes Jesu, mit der die Sünde vernichtet wird. Durch den bestimmten Artikel vor σάρξ signalisiert Paulus, dass Gott eben in dem Fleisch, das Jesus angenommen hat, die Sünde verurteilt hat. Erneut entspricht diese Aussage dem, was Paulus in Gal 3,13 im Anschluss an 1,16 gesagt hat: Weil Jesus Gottes Gegenwart ist, deshalb hat sein Tod am Kreuz Heilsbedeutung für den Menschen und verändert seine Situation vor Gott grundlegend. In diesem Sinne formuliert Paulus auch in Gal 4,4–7 eine „Sendungsaussage“, die parallel zu Röm 8,3 ist. An beiden Stellen markiert Paulus die Sendung des Sohnes als Akt der Befreiung der Glaubenden aus dem Machtbereich des Gesetzes, das den Menschen bei seiner Sünde behaftet und insofern unter deren Macht festhält. An beiden Stellen schließt sich daran eine Aussage über den Geist an, der nun den Menschen bestimmt (Röm 8,4; Gal 4,6). In diesem Zusammenhang rekurrieren die Wendungen κατὰ σάρκα und κατὰ πνεῦμα nun – anders als in Röm 1,3f – auf zwei unterschiedliche Größen, denen der Mensch ausgeliefert sein kann. Mit der Wendung σάρξ ἁμαρτίας in Röm 8,3 macht Paulus deutlich, dass die σάρξ die Sphäre ist, in der die Sünde herrscht. Deshalb war das Gesetz „unfähig“, womit Paulus meint: Es war unfähig, den Menschen zum Leben zu führen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil es an sich schlecht wäre, sondern weil es den Menschen nicht von der Macht der Sünde befreien kann.255 War Paulus als pharisäischer Jude davon überzeugt gewesen,
252 253 254 255
AaO., 135. Sand, σάρξ, 554. AaO., 549, s. Gen 6,3; Jes 31,3; 40,6 u. ö. Vgl. Wolter, Röm I, 475: „Die Machtlosigkeit des Gesetzes besteht darin, dass es nicht imstande ist, seine eigene Intention, nämlich die Erfüllung der Rechtsforderungen durchzusetzen.“
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dass die Tora zum Leben führt, so formuliert er im Galater- und im Römerbrief grundsätzlich, dass sie dazu gar nicht gegeben worden ist (Gal 3,21b, vgl. 2,21b, Röm 3,20). Paulus nimmt die frühchristliche Tradition auf, dass der Sohn Gottes in die menschliche Lebenswirklichkeit eingetreten ist, um die Macht der Sünde zu zerbrechen. Daraus ergibt sich ihm allerdings eine christologische Problematik. Er ergänzt καὶ περὶ ἁμαρτίας, womit er kenntlich macht, dass Jesus „um der Sünde wegen“ „ins Fleisch gesandt“ wurde.256 Insbesondere an der Interpretation des Begriffs ὁμοίωμα hat sich seit der Alten Kirche eine Diskussion entzündet, in der Röm 8,3 sowohl für einen „Doketismus“ – im Sinne Markions – als auch im Sinne der „vollen“ Inkarnation des Gottessohnes – im Sinne Tertullians – in Anspruch genommen wurde.257 Das Wort ὁμοίωμα begegnet in den Paulusbriefen noch einmal in einem ähnlichen Zusammenhang, in Phil 2,7.258 Es kann sowohl die „Gleichgestalt“ als auch die „Ähnlichkeit“ bezeichnen. In dieser Doppeldeutigkeit des Ausdrucks ist es begründet, dass sich bereits Tertullian mit Markion über dessen doketische Auslegung von Röm 8,3 auseinanderzusetzen hatte.259 Dieselbe Diskussion ist zu Phil 2,7 belegt (Tert.Marc. V 20).260 Markion verstand die Aussage in dem Sinne, dass Christus lediglich ein phantasma – ein „Trugbild“ des Fleisches gewesen sei. Voraussetzung dafür ist, dass Jesus als – „metaphysisch“ verstandener – Gottessohn nicht mit der materiellen Menschenwelt verbunden werden kann. Diese dogmatischen Diskussionen hat Paulus noch nicht im Hintergrund. Er geht von der Grundüberzeugung aus, dass in Jesus Christus der Gottessohn in die menschliche Lebenswirklichkeit eingetreten ist mit dem Ziel, die Sünde zu „verurteilen“, d. h. zu richten und ihrer Macht zu berauben (Röm 8,3).261 Wie im Zusammenhang von Gal 3,13 ist auch an dieser Stelle deutlich, dass die Gewissheit der Gegenwart Gottes in Jesus Christus der Ausgangspunkt für die paulinische Überzeugung ist, dass sein Tod am Kreuz für den Menschen eine befreiende Wirkung hat, an der der Mensch durch das Wirken des Geistes an ihm Anteil erhält. Inwiefern die „Fleischwerdung“ des Gottessohnes gedacht werden kann, reflektiert Paulus in diesem Zusammenhang nicht. Durch die Qualifizierung des Begriffs der σάρξ mit dem 256 Wolter, aaO., 469 übersetzt: „als ein ,Der-Sünde-wegen‘“. 257 Zur Diskussion in der Alten Kirche s. Schelkle, Paulus, 273–278; Wilckens, Röm II, 125f. S. dazu auch den Aufsatz von Overbeck, Ueber ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας Röm. 8,3 (1869). 258 Vgl. außerdem Röm 1,23; 5,14; 6,5 – neben Offb 9,7 die einzigen Stellen im Neuen Testament, an denen das Wort vorkommt. 259 So erklärt Tertullian in Tert.Marc. V 14: „Wenn der Vater Christus ,in die Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde‘ sandte, wird nicht deshalb auch das Fleisch, das man an ihm sehen konnte, ein phantasma genannt.“ Hunc si Pater misit in similitudinem carnis peccati, non ideo phantasma dicetur caro, quae in illo uidebatur. Text und Übersetzung nach Fontes Christiani 63/4, 1018f (Übersetzung Lukas), vgl. die Erläuterung zur Diskussion zwischen Tertullian und Markion aaO. mit Anm. 163. 260 S. dazu den Hinweis im folgenden Kapitel. 261 Zeller, Röm 152.
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Wort ἁμαρτία erinnert Paulus aber daran, dass der Sohn Gottes als Mensch in den Bereich der Sünde eingetreten ist. Ernst Käsemann hat wohl mit Recht bemerkt, dass an dieser Stelle das „Interesse am wahren Menschen … mit dem am wahren Gott aufeinander“ pralle, sich „jedoch auf eine dogmengeschichtliche Phase“ beziehe, „die zur Zeit des Apostels noch nicht erreicht ist, deren Problematik sich aber abzuzeichnen beginnt“.262 Und Michael Wolter formuliert: „Dass Jesus im ,Fleisch der Sünde‘ unter den Menschen gelebt hat und trotzdem der Gottessohn geblieben ist, der (mit den Worten von 2Kor 5,21 gesagt) im Unterschied zu allen anderen Menschen ,keine Sünde kannte‘ – diese Differenz markiert der Begriff ὁμοίωμα.“263 Mit Käsemann kann man im Begriff ὁμοίωμα eine „Dialektik“ gewahrt sehen zwischen „Identität“ und „Ähnlichkeit“, weshalb Käsemann das Wort in Röm 8,3 mit „Gleichgestalt“ übersetzt.264 Das Verhältnis des Menschen Jesus zur Sünde wird hier allerdings nicht entfaltet.265 Die Problematik ergibt sich daraus, dass „Sünde“ für Paulus Trennung von Gott bedeutet, während er ja gerade davon überzeugt ist, dass in Jesus Gott selbst gegenwärtig ist. Es ist dieselbe Paradoxie, die in Gal 1,16 und 3,13 zu beobachten ist: Paulus erlebt den Gekreuzigten als Gottes Gegenwart und versteht deshalb, dass sein Tod Heilsbedeutung für die Menschen haben muss. Aber wie genau die Inkarnation des Gottessohnes gedacht werden kann, sagt Paulus eben nicht. Die ontologischen Differenzierungen der Alten Kirche mussten sich an dieser Rede von Gott und von Jesus Christus notwendig anschließen, ohne dass man sie für Paulus selbst bereits voraussetzen kann. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus geht bei Paulus der begrifflichen Entfaltung voraus. 9.3
Tradition und Interpretation
Es ist deutlich geworden, dass die Rede von der Inkarnation des Gottessohnes das paulinische Denken an die Grenze des Aussagbaren führt. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus findet Paulus in der frühchristlichen Tradition wieder, die er in Röm 1,3f aufnimmt. Sie stimmt ein in den Interpretationsprozess der „Nathan-Verheißung“, der sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert beobachten lässt. Stellt man in Rechnung, dass die Art, in der die Psalmen Salomos die „Nathan-Verheißung“ interpretieren, in einen pharisäischen Kontext gehören könnte, dann würde auch erkennbar, wie sehr Paulus sich von dem Denken seiner ursprünglichen Tradition entfernt hat. Er teilt mit dem pharisäischen Judentum die
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Käsemann, Röm, 207. Wolter, Röm I, 477. Ähnlich Zeller, Röm, 152. Käsemann, Röm, 207. Zeller, Röm, 142 stellt mit Recht fest, dass über die Frage des „Gehorsams“ Christi in Röm 8,3 nicht nachgedacht werde.
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Die Königsherrschaft Gottes im Geist (Röm 1,3f)
Gewissheit, dass Gott seine Verheißung erfüllen wird. Aber er sieht diese Verheißung nun in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten erfüllt. In der Auferstehung von den Toten hat Gott Jesus als den „Sohn Gottes in Macht“, der seit seiner Auferstehung im Himmel herrscht, ausgewiesen. Dies geschah durch den Heiligen Geist. Erkennbar wird damit, dass Jesus der in 2Sam 7,12 angekündigte „Nachkomme“ ist, in dem Gott seine Herrschaft aufrichtet, die sich fundamental von dem unterscheidet, was unter Menschen als machtvolle Herrschaft gelten kann.266 Soweit folgt Paulus der Tradition, um der Gemeinde in Rom die gemeinsame Glaubensgrundlage zu verdeutlichen. Deshalb unterstreicht er in Röm 1,4b, dass Jesus ὁ κύριος ἡμῶν ist. Er ist es, der Paulus das Apostelamt verliehen hat (Röm 1,5, vgl. V. 1), und er ist es, der die Glaubenden in Rom als „Berufene“ erwiesen und eben zu Glaubenden gemacht hat. Es ist ein fulminanter Auftakt, mit dem Paulus den Römerbrief eröffnet, indem er das Christusbekenntnis einerseits von den Machtansprüchen weltlicher Herrscher absetzt und andererseits in den Heilserwartungen Israels verankert. Es ist der Gekreuzigte und Auferstandene, in dem Gott in der Gegenwart herrscht. Er ist Gottes Gegenwart. Diese Gegenwart aber wird nur erfahrbar durch den „Gehorsam des Glaubens“ (ὑπακοὴ πίστεως, Röm 1,5), durch die die zum Glaubenden Berufenen zu ἅγιοι werden, die von Gott geliebt sind (V. 6). So erschließt sich ihnen Gott als „unser Vater“ und Jesus als κύριος (V. 7), als die Paulus die Glaubenden in Rom ansprechen kann. Die Sendung des Sohnes in die Welt zieht notwendig die Sendung des Geistes in die Glaubenden nach sich, der nun in ihnen „wohnt“ (Röm 8,11b) und sie Gott als „Vater“ anrufen lässt (Röm 8,15; Gal 4,6). Die Evangeliumspredigt des Paulus zielt auf dieses Ereignis. Zu Beginn des Römerbriefs macht er deutlich, dass sich darin die Hoffnung von Juden und Griechen erfüllt. Wenn Paulus also hervorhebt, dass sich in Jesus die Heilshoffnungen Israels erfüllen267 , dann tut er dies nicht an der Christologie vorbei268 oder so, dass er einen Gottesbegriff „hinter“ Gottes Heilshandeln in Christus etabliert, sondern gerade so, dass er die Gottheit Gottes konsequent von der Christologie her entfaltet. Was bei den Christen im Glauben jetzt schon gegenwärtig ist, das soll sich in der Zukunft auch für das empirische Israel erweisen (Röm 11,26). Indem Paulus in die urchristliche
266 Vgl. Schmithals, Röm, 51: „Jesu Hoheit darf nicht irdisch-politisch aufgefaßt werden. Er ist kein ,Herr‘ nach der Art dieses Weltlaufs.“ 267 „Paulus verfolgt mit dem Hinweis auf Jesu Herkunft ,aus der Nachkommenschaft Davids‘ eine ganz ähnliche Intention wie mit V. 2 (gemeint ist Röm 1,2): Er will kenntlich machen, dass der Inhalt seines Evangeliums in den eschatologischen Heilshoffnungen Israels verwurzelt ist.“ (Wolter, Röm I, 88). 268 Deshalb funktioniert die These, die Flebbe, Solus Deus, 457 formuliert, wonach Paulus „Konflikte in der Auffassung über Religiöses nicht christologisch, sondern theologisch löse“, eben nicht (s. dazu oben in Kapitel 1).
Die Königsherrschaft Gottes im Geist
Tradition einstimmt, bestimmt er die Königsherrschaft Gottes und damit seine Gegenwart neu: Es ist die Königsherrschaft Gottes im Geist, von der der Glaube weiß. So ist Gott in der Person Jesu Christi in der Welt gegenwärtig und wird von den Glaubenden durch den Geist wahrgenommen. Er nimmt „Wohnung“ in den Glaubenden in Gestalt des Geistes dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 8,11). Die Gegenwart Gottes bei den Glaubenden tritt darin sichtbar nach außen in Erscheinung, dass sie Jesus als ihren κύριος bekennen (Röm 10,9). In diesem Bekenntnis ist Gott als derjenige, der Jesus von den Toten auferweckt hat, inhaltlich bestimmt (ebd.). Was „Gott-Sein“ und was „Herr-Sein“ in Wahrheit bedeutet, das lässt sich nach Paulus nur durch das Wirken des Geistes erkennen. Der Geist aber erschließt, wie Gott in der Welt gehandelt hat: in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von den Toten. In dieser Tat hat Gott seine Königsherrschaft aufgerichtet, auch wenn die politische Welt davon nichts erkennen kann. Was die Glaubenden bekennen, das ist eine Gegen-Wirklichkeit zu dem, was ihnen jeden Tag sichtbar vor Augen steht. Das Evangelium, das Paulus verkündigt, handelt also „von seinem (sc. Gottes) Sohn, aus der Nachkommenschaft Davids der menschlichen Herkunft nach, ausgewiesen als Sohn Gottes in Macht durch den Heiligen Geist in der Auferstehung von den Toten, von Jesus Christus, unserem Herrn.“ (Röm 1,3f). Weil die Römischen Christen wie Paulus Jesus in diesem Sinn als den κύριος bekennen, deshalb kann Paulus sie unter den Segen von „Gott unserem Vater“ stellen (V. 7). Die Rede von Gott als „Vater“ und von Jesus als „Herr“ erschließen sich auf diese Weise gegenseitig, genauso, wie es bereits in 1Kor 8,6 der Fall war.
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Achtes Kapitel: Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
1.
Phil 2,6–11 im Kontext des Philipperbriefs
Der Gedanke der „Menschwerdung“ des Gottessohnes, der bei Paulus in Gal 4,4 und in Röm 8,3 begegnet, führt die Rede von Gott an die Grenze des Denkbaren.1 Wir haben gesehen, dass Paulus diesen Gedanken nicht als eine Art theologische Theorie einführt, sondern von der konkreten Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes in Jesus Christus her entwickelt. Wie die Tradition vor und mit ihm, so fragt auch Paulus nach der Gegenwart Gottes in der Welt und im Leben der Menschen. Aber diese Frage hat für ihn eine eindeutige Richtung erhalten, die mit der Person Jesus Christus verbunden ist. Diese Ausrichtung bestimmt auch den Text, der am ausführlichsten auf die „Menschwerdung“ des Gottessohnes einzugehen scheint: den Christushymnus2 Phil 2,6–11. Die Auslegung dieses Textes im Kontext der paulinischen Theologie ist mit einigen Problemen behaftet. Denn sowohl die Frage nach dem Abfassungsort und der Abfassungszeit des Philipperbriefs als auch die Frage nach der Herkunft und der ursprünglichen Gestalt von Phil 2,6–11 sind umstritten. Wenn ich erst im letzten Kapitel meiner Untersuchung auf diesen Textabschnitt eingehe, dann deshalb, weil der Philipperbrief nach meinem Dafürhalten (gemeinsam mit dem Philemonbrief) das späteste Schreiben ist, das wir von Paulus haben.3 Paulus lässt selbst erkennen, dass er seinen Brief an die von ihm gegründete Gemeinde in Philippi (vgl. Apg 16,11–40) in Gefangenschaft geschrieben hat (Phil 1,7.13f.17, vgl. 1,23). Die Schilderung der Haftsituation des Paulus in Phil 1,12–26 passt sehr gut zu den Umständen, die die Apostelgeschichte von der Gefangenschaft des Paulus in Rom schildert, mit denen ihr Bericht endet (Apg 28,17–31). Dennoch vertritt inzwischen eine Mehrheit der Forscher die These einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus, in der sie den Philipperbrief (oder Teile
1 S. dazu jetzt Schnelle, Inkarnation, 325–333. 2 Zur Frage der Gattung des Textes s. unten. 3 Offen bleibt – wie zu Beginn dieser Arbeit erwähnt – die genaue Verortung des Kolosserbriefs in der Biographie bzw. nach dem Tod des Paulus (s. dazu oben in Kapitel 1). Bemerkenswert sind die zahlreichen Berührungen, die es zwischen der Situation des Kolosser- und des Philemonbriefs gibt, die den Kolosserbrief auch in eine situative Nähe zum Philipperbrief bringt. Für die Frage nach der Auslegung von Phil 2,6–11 wäre insbesondere die Verhältnisbestimmung zum Hymnus des Kolosserbriefs (Kol 1,15–20) interessant, die im Zusammenhang dieser Arbeit nicht geleistet werden kann.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
von ihm) verorten.4 Daraus ergäbe sich eine Datierung des Philipperbriefs in die Mitte der 50ger Jahre, vor dem Römerbrief, und damit in unmittelbarer Nähe zum Galaterbrief. Die „Gesetzespolemik“ des Galaterbriefs ließe sich dann direkt mit dem polemischen Abschnitt Phil 3,2–4,1 verbinden.5 Hier begegnet noch einmal die Frage nach dem sachlichen Ort der Rechtfertigungsthematik in der paulinischen Theologie. Wie gesehen taucht das Problem der beschneidungsfreien Heidenmission wohl schon im Ersten Thessalonicherbrief (1Thess 2,14–16) auf. Die sogenannte „Rechtfertigungslehre“ des Paulus wird aus dem Zentrum der Christusbegegnung heraus entwickelt. Dieser Zusammenhang lässt sich auch für die einzelnen Ausführungen des Philipperbriefs selbst beobachten. Die Thematik von Phil 3,2–4,1 ist jedenfalls kein Grund, den Philipperbrief in die Nähe des Galaterbriefs zu rücken. Als umstritten muss die These einer Abfassung des Philipperbriefs in Ephesus aber vor allem deshalb gelte, weil die Apostelgeschichte von einer Gefangenschaft des Paulus in Ephesus nichts weiß.6 Die Vertreter der „Ephesus-These“ verweisen unter anderem auf die Andeutungen, die Paulus in 1Kor 15,32 und 2Kor 1,8–11 macht und die sie als Hinweise auf eine Gefangenschaft in Ephesus deuten,7 es ist aber mit Recht gefragt worden, ob diese Andeutungen reichen, „um einen Gefängnisaufenthalt gegen das Schweigen der Quellen zu behaupten“.8 So lässt sich der Philipperbrief zu Beginn der 60ger Jahre, kurz vor dem Tod des Paulus, in
4 So z. B. Broer/Weidemann, Einleitung, 365; Heckel/Pokorny, Einleitung, 287f; Öhler, Geschichte, 211.235f; Standhartinger, Phil, 34; Theobald, Philipperbrief, 384; Walter, Phil, 17. S. dazu die ausführliche Diskussion bei Häusser, Phil, 20–29; Witherington III, Philippians, 9–11. Die Ephesus-These wurde bereits von Deissmann, Paulus, 11 [2. Auflage S. 13] vertreten, der als Begründer der These gilt (vgl. Schnelle, Paulus, 408, Anm. 30). Ebenfalls vertreten wurde die These von Bornkamm, Paulus, 245; Friedrich, Phil, 130f; Gnilka, Phil, 23 u. a. 5 In diesem Sinne erklärt Öhler, Geschichte, 211: „Paulus trug die schlechten Nachrichten aus Galatien in den Philipperbrief ein, um auch die dortigen Adressaten zu warnen. Tatsächlich eingetreten sein müssen diese Vorkommnisse in Philippi dann nicht.“ 6 Das räumt Standhartinger, Phil, 32 ein, versucht dann aber, das Argument zu entkräften. Es hängt letzten Endes an der Einschätzung der historischen Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte. In Apg 23,23–26,32 ist allerdings von einer Gefangenschaft des Paulus in Cäsarea die Rede. Auch diese Gefangenschaft ist in der Philipperbrief-Auslegung schon als Abfassungsort des Schreibens erwogen worden (vgl. Gnilka, Phil, 19; Lohmeyer, Phil, 3f; Witherington III, Philippians, 11). 7 Gnilka, aaO., 21f; Theobald, Philipperbrief, 283–285, vgl. auch die Argumentation bei Friedrich, Phil, 130f. Die genannten Stellen sind freilich nicht die einzigen Argumente, die für die Ephesus-These angeführt werden. Da ich die Frage hier nicht ausführlich diskutieren kann, beschränke ich mich auf diese Hinweise. Wir haben jedenfalls weder aus der Apostelgeschichte noch von Paulus selbst einen sicheren Hinweis auf eine Gefangenschaft in Ephesus. 8 Löhr, Philipperbrief, 207.
Phil 2,6–11 im Kontext des Philipperbriefs
Rom verorten.9 Noch schwieriger ist die Frage nach der literarischen Integrität des Schreibens zu beantworten, die mit der Frage nach dem Abfassungsort (bzw. den -orten) direkt verbunden ist.10 Hier ist insbesondere gefragt worden, ob sich die in Phil 3,2 einsetzende Polemik mit den übrigen Ausführungen verbinden lässt. Auffällig ist in der Tat, dass sich unmittelbar vor und nach dem postulierten Einschub ein fast gleichlautender Aufruf zur Freude findet (3,1; 4,4).11 Michael Theobald hat aufgrund der aus seiner Sicht „bis heute durch nichts entkräfteten Einsicht“ einer „literarkritisch relevanten ,Spannung‘“ zwischen Phil 3,1a und 3,1b–11 (im Anschluss an Joachim Gnilka) zwei ursprünglich selbständige Schreiben postuliert,12 für die sich jeweils ein eigener „Gipfel“ angeben lasse: Während das sogenannte „Christuslob“13 (Phil 2,6–11) den Gipfel des ersten Schreibens (Phil A) darstelle, biete das zweite Schreiben (Phil B) die „angewandte Rechtfertigungsbotschaft“.14 Es lässt sich indes zeigen, dass die Polemik in Phil 3,1b–4,1 der Sache nach mit dem in Phil 2,6–11 Gesagten unmittelbar zusammenhängt.15 Auch das Motiv der „Freude“ ist ein theologisch geprägtes Motiv, das mit der erfahrenen Gottesnähe verbunden ist, als dessen „Kehrseite“ sich die „Gesetzespolemik“ des Paulus begreifen lässt.16 Der Philipperbrief ist deshalb durchaus als ein zusammenhängendes und konsistentes Schreiben verstehbar. Für das Verständnis von Phil 2,6–11 ist entscheidend, dass Paulus den Text in einen paränetischen Zusammenhang stellt (Phil 1,27–2,18),17 in dem es für ihn seine Bedeutung erhält. Es ist die hier entwickelte Thematik, die ihn in Phil 3,2ff zu seiner scharfen Polemik führt, innerhalb deren er auf seine Christus-Begegnung bei Damaskus rekurriert.18 „Gotteslehre“ und „Ethik“ sind im Philipperbrief – ganz ähnlich wie in 1Kor 8,6 im Kontext von 1Kor 8,1–13 – unmittelbar miteinander verbunden. 9 Mit Fee, Philippians, 32–35; Schnelle, Paulus, 406–414; Witherington III, Philippians, 11: „It was written from Rome while Paul was under house arrest, and probably near the end of the judicial process, so in about 62.“ 10 Vgl. Häusser, Phil, 29; Standhartinger, Phil, 14–23. Gnilka verortete lediglich „Phil A“ (Phil 1,1–3,1a; 4,2–7.10–23) in der Gefangenschaft des Paulus, während der sogenannte „Kampfbrief “ (Phil 3,1b–4,1.8f) keine Gefangenschaft mehr voraussetze (Gnilka, Phil, 10–13). An diese Argumentation schließt sich Theobald, Philipperbrief, 379 an. 11 Phil 3,1: χαίρετε ἐν κυρίῳ; 4,4: Χαίρετε ἐν κυρίῳ πάντοτε· πάλιν ἐρῶ, χαίρετε (vgl. Gnilka, Phil, 7). Theobald, aaO., 380 sieht das Wortfeld der „Freude“ (1,5.7.12.16.27; 2,22; 4,3.15; vgl. 1,14f.17f) auf den „Gefangenschaftsbrief “ beschränkt, vgl. dazu bereits Gnilka, aaO., 9. Zum Motiv der „Freude“ s. unten. 12 Theobald, aaO., 379. 13 Zu den Bezeichnungen „Christuslob“ bzw. „Christushymnus“ s. unten. 14 Theobald Philipperbrief, 385. 15 S. dazu unten. 16 S. dazu die abschließenden Bemerkungen dieses Kapitels. 17 Landmesser, Performativ, 551. 18 S. dazu den entsprechenden Abschnitt in Kapitel 5 dieser Arbeit.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
2.
Zur Frage nach der Gattung von Phil 2,6–1119
Seit Ernst Lohmeyer galt Phil 2,6–11 in der Forschung als ein vor-paulinischer Text, der sich als eine Art „urchristlicher Psalm“ begreifen lasse.20 In der jüngeren Forschung ist diese These von Larry Hurtado wieder stark gemacht worden. Hurtado sieht den Text als ein Beispiel für eine frühchristliche Psalmeninterpretation an21 und verbindet damit seine These, dass Phil 2,6–11 in einem ursprünglich gottesdienstlichen Kontext verortet werden könne, in der die für die frühen Christusgläubigen charakteristische Verbindung von Christus- und Gottesverehrung zu beobachten sei: „Thus it is likely that singing/chanting (the singing was probably unaccompanied) in honor of Jesus was a very characteristic feature of early Christian worship.“22 Diese These fügt sich gut zu dem, was wir bis hierhin als ein Charakteristikum der paulinischen Rede von Gott herausarbeiten konnten: Paulus redet von Gott aus einer Beziehung zu Gott heraus, die er als von Gott selbst gestiftet versteht. In seiner Theologiebildung denkt Paulus der Begegnung mit Gott nach. Die Auslegung von Phil 2,6–11 war allerdings von Anfang an von christologischen und dogmatischen Überlegungen bestimmt, die von dem Text Differenzierungen erwarten, die er als ein liturgisch geprägter Text nicht bietet. Die Interpretation von Phil 2,6–11 hat diesen Aspekt zu berücksichtigen. In der auf Lohmeyer folgenden Forschung war Phil 2,6–11 immer wieder der Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der frühchristlichen Christologie, während die Frage nach Gott kaum thematisiert wurde. So argumentiert etwa Ulrich B. Müller in seiner Untersuchung zur „Menschwerdung des Gottessohnes“ im Rahmen jenes Bildes von der Entwicklung der Christologie, die im vorausgehenden Kapitel im Kontext der Auslegung von Röm 1,3f beschrieben wurde:23 Habe das Traditionsstück Röm 1,3f den irdischen Jesus zunächst „ganz als Mensch“ verstanden,24 so sei die Rede von Jesus anschließend mit einer Sendungschristologie verbunden und schließlich inkarnationstheologisch vertieft worden. Die in Phil 2,6f ausgesagte „Inkarnation“ sieht Müller als „Selbstkenose des Gottgleichen“ verstanden.25 19 Zur Frage der Gattung s. jetzt auch Standhartinger, 152–156. Sie spricht ebenfalls wieder von einem „Hymnus“ bzw. einem „Hymnusfragment“ (aaO., 156). 20 Lohmeyer, Phil, 91. AaO., 96 spricht Lohmeyer von Phil 2,6–11 als einem „Psalm“. Als „urchristlichen Psalm“ beschreibt auch Hofius, Christushymnus den Text im Untertitel seiner Untersuchung. Hofius nennt einige gewichtige Argumente für diese Gattungsbestimmung, auf die unten einzugehen ist. Zur Forschungsgeschichte s. auch die Überblicke bei Becker, Philipperbrief, 87–91; Frey, Philipperbrief, 12–17. 21 Hurtado, Lord, 148. 22 Ebd. 23 Müller, Menschwerdung, 20–28. 24 AaO., 14. 25 AaO., 28.
Zur Frage nach der Gattung von Phil 2,6–11
Nirgendwo sei die Menschwerdung in dieser Radikalität erfasst worden, nämlich als „Aufgabe der Göttlichkeit“.26 Sowohl der Begriff der „Göttlichkeit“ als auch der der „Menschwerdung“ ist klärungsbedürftig. Ähnlich wie Ernst Käsemann versteht Müller die in Phil 2,7a ausgesagte κένωσις – die im Text des Hymnus freilich nur als Verb vorkommt – als Preisgabe der Göttlichkeit.27 Damit stoßen wir auf die ersten Fragen, die für das Verständnis von Phil 2,6–11 entscheidend sind: Wie ist das Subjekt in Phil 2,6 genau zu bestimmen? Und wie ist die Aussage über seine κένωσις zu verstehen? Vor allem aber auch: Wie wird die Rede von Gott durch die Geschichte, die Phil 2,6–11 erzählt, geprägt? All diese sachlichen Fragen verbinden sich direkt mit der Beschreibung der Gattung. Mit der Gattungsthematik ist auch die Frage berührt, worin die gedanklichen Voraussetzungen für die in Phil 2,6–11 entwickelte Vorstellung erblickt werden können. Käsemann ging in seiner Auslegung von Phil 2,6–11 davon aus, dass im Hintergrund ein „AnthroposMythos“ gestanden habe, der für die Christologie „nutzbar gemacht“ gemacht worden sei.28 Der „Anthropos“ sei ein „himmlisches“ Wesen, das darum auch nicht einfach zum „Vorbild“ werden könne.29 Käsemann eröffnet damit eine Alternative zwischen einer „soteriologischen“ und einer „ethischen“ Interpretation des Hymnus, die in der neueren Forschung kritisch gesehen wird.30 Vor allem aber ist die für die Bultmann-Schule charakteristische Voraussetzung, einen „Mythos“ im Hintergrund zu vermuten, kritisiert worden. So bemerkt bereits Klaus Berger, dass die Forschung auf bestimmte Parallelen zu Phil 2,6–11 gar nicht habe stoßen können, weil man den Text im Anschluss an Käsemann von „Götterhymnen“ her habe erklären wollen.31 Berger selbst zieht Sir 44–50 und 1Makk 2,50–64 zum Vergleich heran32 und bestimmt den Text als „Christus-Enkomion“.33 Das in den genannten Texten erinnerte vorbildliche Verhalten der „Väter“ ist demnach die Folie, auf der das in Phil 2,6–11 geschilderte Verhalten des „Gottgleichen“ (Phil 2,6) verstanden werden soll. Im Anschluss an Bergers Gattungsbestimmung des Textes als „Christus-Enkomion“ hat Ralph Brucker seine Beschreibung von Phil 2,6–11
26 Ebd., vgl. 26f: Die „wirkliche Menschwerdung eines Gottwesens“ schließe „eine Aufgabe seiner Göttlichkeit“ ein und sei für die Antike ein ungewöhnlicher Gedanke. 27 Vgl. Käsemann, Kritische Analyse, 72. 28 Käsemann, aaO., 71, vgl. aaO, 69f.80. Die These geht auf Eduard Norden zurück, vgl. Berger, Hellenistische Gattungen, 1179 mit Anm. 158; Frey, Philipperbrief, 15. 29 Käsemann, aaO., 81: „Der Anthropos bleibt himmlisches Wesen und kann darum gar nicht Vorbild werden. Er offenbart Gehorsam, aber er macht ihn nicht zur Imitation vor. Er ist Urbild, nicht Vorbild, um es zugespitzt zu sagen.“ 30 S. dazu unten. 31 Berger, Hellenistische Gattungen, 1188. 32 AaO., 1180–1183. 33 AaO., 1178–1189 S. dazu auch Becker, Mimetische Ethik, 228 mit Anm. 34; Vollenweider, Schattengefechte, 225.
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als „Christuslob“ vorgenommen, die in der Forschung rezipiert wurde.34 Auf diese Weise sind in Absetzung von Lohmeyer und Käsemann sämtliche Grundannahmen der älteren Philipperbrief-Forschung in Frage gestellt worden: die These, es handele sich um einen vor-paulinischen Text, und die Annahme, dieser Text lasse sich als ein „Hymnus“ oder eine Art „Psalm“ beschreiben.35 Es lohnt sich, einige Aspekte der Argumentation Bruckers zu beleuchten: Tatsächlich lenkt er die Aufmerksamkeit auf einige Schwachstellen der älteren Philipperbrief-Auslegung, die auch für die Frage nach dem paulinischen Gottesverständnis relevant sind. So kritisiert er insbesondere die im Anschluss an Lohmeyers These vorgenommene Scheidung von Tradition und Redaktion in Phil 2,6–11, vor allem dann, wenn diese aus theologischen Gründen vorgenommen würde.36 Brucker erklärt völlig zu Recht, was sich – wie im vorangehenden Kapitel dieser Arbeit gezeigt wurde – auch im Blick auf Röm 1,3f sagen lässt: „Würde die Theologie des mutmaßlichen ,Hymnus‘ der Theologie des Paulus gänzlich widersprechen, dann wäre seine Aufnahme dieses Textes in seinen eigenen Brief kaum nachvollziehbar; es kann also nur um Nuancen gehen.“37
Diese Überlegung mahnt in der Tat zur Vorsicht gegenüber literarkritischen Annahmen, die dann eine ganze Menge an theologischer Beweislast tragen müssen. Zu nennen ist hier vor allem die bereits von Lohmeyer vertretene These, dass die Worte θανάτου δὲ σταυροῦ in der Mitte des Textes (Phil 2,8b) als ein nachpaulinischer Zusatz anzusehen seien.38 Die These begegnet auch noch in der Arbeit von Paul-Gerhard Klumbies.39 Brucker macht v. a. gegenüber Joachim Gnilka auf den zirkulären Charakter der literarkritischen Argumentation aufmerksam, die zunächst ein „Fehlen“ der Kreuzestheologie konstatiere und dieses dann als Argument für den vor-paulinischen Charakter des Textes ohne den Zusatz Phil 2,8b (θανάτου
34 Brucker, Christushymnen, 319. Die Bezeichnung wird aufgenommen von Theobald, Philipperbrief, 385f; Vollenweider, „Raub“, 415; ders., Politische Theologie, 463f. Allerdings möchte Vollenweider den Bezug von Phil 2,6–11 zu „alttestamentlich-jüdischen Hymnen“ nicht gänzlich in Abrede stellen (ders., „Raub“, 415). Er macht sich deshalb auch die Gattungsbestimmung Bruckers nicht gänzlich zu eigen, sondern schlägt vor, im Blick auf Phil 2,6–11 von einem „hymnischen Christuslob“ zu sprechen (ders., Schattengefechte, 225). 35 Vollenweider, „Raub“, 413f, vgl. Frey, Philipperbrief, 13–16. 36 Brucker, aaO., 314. Gnilka, Phil, 132 hatte diese Gründe gerade als „die entscheidendsten“ bezeichnet. 37 Brucker, ebd. 38 Lohmeyer, Phil, 96, vgl. Bornkamm, Christus-Hymnus, 178; Müller, Menschwerdung, 20; Käsemann, Kritische Analyse, 82; Gnilka, Phil, 124, zustimmend bereits Bultmann, Rez. Lohmeyer, Der Brief an die Philipper, 255. 39 Klumbies, Gott, 131.
Zur Frage nach der Gattung von Phil 2,6–11
δὲ σταυροῦ – „ja zum Tod am Kreuz“) auswerte.40 Dieses methodische Argument
lässt sich mit einer sachlichen Erwägung verbinden: Wir haben bereits im Zusammenhang mit der Auslegung von 1Kor 2,8 gesehen, dass sich die paulinische „Kreuzestheologie“ nicht als Korrektur einer vor-paulinischen „Herrlichkeitschristologie“ begreifen lässt.41 Genau dies aber nimmt Klumbies auch für Phil 2,6–11 an.42 Die „hochchristologischen“ Aussagen in Phil 2,6–11 können aber nicht gegen die „kreuzestheologische“ Aussage in Phil 2,8b ausgespielt werden. Der Zusammenhang von „hoher“ Christologie und Kreuzestheologie stellt vielmehr gerade das Proprium frühchristlicher Theologie dar, die Paulus vor Damaskus als wahr erkannt hat und an die er sich deshalb mit seiner eigenen Theologie anschließt.43 Es lässt sich dennoch fragen, ob aus der methodisch gebotenen Zurückhaltung mit Brucker gefolgert werden kann, dass Paulus selbst der „Verfasser des ganzen Abschnitts“ Phil 2,6–11 gewesen sei.44 Diese Annahme ist bei Brucker mit der Kritik an der Annahme verbunden, dass es sich bei dem Text um einen „Hymnus“ handele. So vermisst Brucker entscheidende Merkmale, die den Text als Poesie ausweisen würden, so die metrische Gestaltung45 und das „für antike Hymnen so typische dreiteilige Aufbauschema (Anrufung – Mittelteil – Bitte)“.46 An der Argumentation wird deutlich, dass Brucker die Gattungsfrage von antiken Götterhymnen her behandelt. Auch darin folgt er Berger, der Käsemanns Erklärung der Grundlage des Textes als eines „Mythos“ mit der Form von Götterhymnen verbunden hatte. Aus der These, dass Phil 2,6–11 eine Gottesgeschichte erzählt, folgt allerdings nicht notwendig, dass der Text deshalb als „Götterhymnus“ beschrieben werden müsse. Die Beschreibung des Textes als eines „Psalms“ weist in eine andere
40 Vgl. Gnilka, Phil, 132f. Brucker, Christushymnen, 314 hält dem mit Recht entgegen, dass der Gedanke des Kreuzes nur fehle, wenn man Phil 2,8b streiche. Dasselbe gilt für die Behauptung Gnilkas, dass Phil 2,6–11 kein ὑπὲρ ἡμῶν kenne: Der Aspekt „fehlt“ in Phil 2,6–11 nur dann, wenn man den Text von seinem Kontext isoliert. Ähnlich wie Gnilka argumentiert etwa auch Friedrich, Phil, 150. 41 S. dazu das Kapitel 3 dieser Arbeit. 42 „In Phil 2,8 durchbricht er (sc. Paulus) durch seinen Zusatz θανάτου δὲ σταυροῦ die dem Hymnus zugrundliegende Erhöhungschristologie bzw. Herrlichkeitschristologie und hält ihr die Kreuzestheologie als die angemessene Redeweise von Christus entgegen.“ Klumbies, Gott, 238. 43 Frey, Philipperbrief, 15 erklärt mit Recht, dass im Hintergrund der genannten These die „Stilisierung des Paulus als eines ,exklusiven‘ theologus crucis gestanden“ habe. Tatsächlich steht Paulus auch mit seiner Kreuzestheologie in frühchristlicher Tradition, auch wenn er sie im Rahmen des Ersten Korintherbriefs, aber eben auch im Philipperbrief (Phil 2,8; 3,18) in bestimmten Kontexten und Auseinandersetzungen akzentuiert. 44 Brucker, Christushymnen, 311, vgl. Vollenweider, Schattengefechte, 224. 45 Brucker, aaO., 306. 46 AaO., 318.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Richtung, denn in dieser Textgattung werden geschichtliche Erfahrungen, die als Gottes Handeln bekannt werden, mit dem Bekenntnis zu Gott verbunden. Auch der Satzanschluss mit dem Relativpronomen ὅς in Phil 2,6a spricht doch wohl eher für die ursprüngliche literarische Selbständigkeit von Phil 2,6–11 als dagegen.47 Ein Vergleich mit anderen Traditionsstücken, die in der neutestamentlichen Briefliteratur aufgenommen werden, bestätigt dies.48 Der in sich geschlossene Charakter des Textes und die gegenüber den Paulusbriefen eigentümliche Terminologie49 spricht eben immer noch für die Annahme, dass es sich hier um ein Traditionsstück handelt. Mit den literarkritischen Einwänden verbindet Brucker eine formgeschichtliche Bestimmung, auf deren theologische Implikationen ich aufmerksam machen möchte. Brucker rekurriert zunächst auf Bergers Bestimmung von Phil 2,6–11 als „Christus-Enkomion“, setzt sich dann aber auch von dieser Gattungsbestimmung ab.50 Er korrigiert Bergers Gattungsbestimmung mit dem Argument, dass Phil 2,6–11 „die Größe der ἀρετή, nicht die Summe der ἔργα“ aufzeige.51 So kommt er zu seiner formgeschichtlichen Bestimmung des Textes als „Christus-Lob“ (ἔπαινος) und bemerkt, dass die lateinische Bezeichnung laus Christi der Bezeichnung carmen Christi vorzuziehen sei.52 Entscheidend ist dafür – wie bereits bei Berger gesehen – die Frage, wie das Subjekt von Phil 2,6–8 bestimmt wird: Wird hier die Geschichte eines vorbildlichen Menschen erzählt oder wird hier eine Gottesgeschichte präsentiert? Die bereits von Lohmeyer verwendete Bezeichnung des Textes als carmen Christi53 spielt offensichtlich auf die Beschreibung an, die der Römische Statthalter Plinius seinem Kaiser Trajan am Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. gibt (Plinius, ep. X 96). Plinius beschreibt, was er bei seinen Verhören von den Christen erfahren hat:54
47 Nach Brucker (aaO., 312) spricht der Satzanschluss gerade für die Kontextabhängigkeit des Textes. 48 Vgl. Friedrich, Phil, 150, der bemerkt: „Wie andere urchristliche Traditionsstücke beginnt auch dieses Lied mit einem Relativsatz, der an den Christusnamen anknüpft (vgl. Röm 4,25; Kol 1,13.15; 1Tim 3,16; Hebr 1,3; 5,7; 1Petr 2,22).“ 49 S. dazu die bereits bei Lohmeyer, Phil, 91 mit Anm. 1 genannten Merkmale: Das aktivische κενόω in einem positiven Sinn, das für Paulus seltene Verb ταπεινόω, das Kompositum ὑπερυψόω, die Nomina μορφή und σχῆμα sowie die Wendungen ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ (anstelle von ἐν τῷ ὀνόματι τοῦ κυρίου bzw. Ἰησοῦ Χριστοῦ). 50 Brucker, Christushymnen, 319. 51 Ebd. 52 Ebd. Zur Abgrenzung zwischen Epainos und Enkomion s. aaO., 113: „Der Epainos zeigt die Größe der Tugend auf (daher könne auch jemand gelobt werden, der keine Taten vorzuweisen habe), das Enkomion dagegen befasse sich nur mit einzelnen Taten oder besser Leistungen (ἔργα) eines Menschen; es nimmt damit deutlich eine niedrigere Stufe ein.“ 53 Lohmeyer, Phil, 91. 54 Lateinischer Text und deutsche Übersetzung nach Guyot/Klein (Hg.), Das frühe Christentum, 40f.
Zur Frage nach der Gattung von Phil 2,6–11
Adfirmabant autem hanc fuisse summam vel culpae suae vel erroris, quod essent soliti stato die ante lucem convenire carmenque Christo quasi deo dicere secum invicem seque sacramento non in scelus aliquod obstringere, sed ne furta, ne latrocinia, ne adulteria committerent, ne fidem fallerent, ne depositum appelati abnegarent.
Sie versicherten aber, ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, dass sie an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang sich zu versammeln pflegten, Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang sangen und sich durch einen Eid verpflichteten, nicht etwa irgendein Verbrechen, sondern im Gegenteil keinen Diebstahl, Raub oder Ehebruch zu begehen, ein gegebenes Wort nicht zu brechen und anvertrautes Gut, das zurückverlangt wird, nicht zu verweigern.
Auch Hurtado verweist auf diesen Beleg zur Bekräftigung seiner These, dass die Christusgläubigen sich bereits in der frühen Zeit durch die besondere Art ihres Gottesdienstes ausgezeichnet hätten, in der Jesus Christus an die Stelle Gottes gerückt sei.55 Plinius gibt die Selbstauskunft der Christen an der Schwelle vom ersten zum zweiten Jahrhundert mit den Worten wieder, dass sie „Christus als Gott“ (Christo quasi deo) im Gottesdienst ein „Lied“ (carmen) gesungen hätten. Samuel Vollenweider hat indes darauf hingewiesen, dass Jesus Christus in Phil 2,6–11 nicht direkt angeredet wird.56 Allerdings ist auch in den Psalmen nicht immer Gott der direkt Angeredete. Das Gotteslob wird vielmehr dadurch artikuliert, dass Gottes Heilshandeln vergegenwärtigt und auf diese Weise zur Begründung der Anerkennung der Gottheit Gottes dient. Als ein Beispiel ließe sich auf Ps 114 hinweisen: Hier wird zunächst gesagt, dass Israel in der Herausführung aus Ägypten zu Gottes „Eigentum“ geworden sei (Ps 114,2). Meer und Berge werden als „Zeugen“ dieses Geschehens aufgerufen (V. 3–6) und schließlich wird die Erde dazu aufgerufen „vor dem Herrn zu erbeben“. Gegenüber den Größen, die für die Beständigkeit der Welt stehen, erweist sich der Gott Israels damit als die letztgültige Wirklichkeit.57 In ganz ähnlicher Weise läuft Phil 2,6–11 auf die Begründung der Anrufung Jesu als κύριος hinaus (Phil 2,11), in der sich dieser als die alles entscheidende Wirklichkeit der Menschen erweist. Dabei wird direkt gesagt, dass diese Anrufung „zur Ehre Gottes des Vaters“ geschieht. Indem die Anerkennung Gottes beschrieben wird, wird das Gotteslob artikuliert. In diesem Sinn lässt sich Phil 2,6–11 durchaus als eine Art
55 Hurtado, Lord, 148. 56 Vollenweider, Schattengefechte, 225. 57 Vgl. Kraus, Psalmen II, 783.
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„Psalm“ begreifen, der Gottes Epiphanie in der Welt mit seinem geschichtlichen Handeln verbindet.58 An der Bemerkung des Plinius ist zusätzlich interessant, dass neben der besonderen Art der gottesdienstlichen Feier auch bestimmte ethische Verhaltensgrundsätze genannt werden, durch die sich die Christusgläubigen auszeichnen.59 Denn dieser Zusammenhang ist für Phil 2,6–11 im Kontext gerade entscheidend. Die Frage ist, wie die Geschichte, die der Text erzählt, das Leben der Glaubenden bestimmt. Mit den alternativen Gattungsbeschreibungen als „Christuslob“ bzw. „Christushymnus“ sind zwei Optionen benannt, die sich mit der Alternative einer „ethischen“ bzw. einer „soteriologischen“ Interpretation des Hymnus verbinden lassen: Während eine „ethische“ Auslegung die Geschichte des „Gottgleichen“ als „Vorbild“ versteht, rückt die „soteriologische“ Interpretation den begründenden Charakter dieser Geschichte für das Gemeinschaftsleben der Glaubenden ins Zentrum. Die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung hat Vollenweider im Anschluss an Berger in Frage gestellt und betont, dass zwischen Christus als „Urbild“ und als „Vorbild“ keine Alternative aufgemacht werden dürfe.60 Es lässt sich allerdings fragen, ob damit nicht eine wichtige theologische Unterscheidung eingeebnet wird. Mit der Diskussion um die Gattung des Textes61 steht die Frage nach seiner Pragmatik. Diese aber lässt sich
58 So bereits Deichgräber, Gotteshymnus, 119: „Wie das alte Israel in seinem Hymnen Gottes Heilstaten in der Geschichte feierte und rühmte (z. B. Ex 15 und Ri 5), so rühmt die christliche Gemeinde Gottes geschichtliches Heilshandeln in seinem Sohne Jesus Christus.“ Zustimmend aufgenommen bei Müller, Phil, 92f, der in diesem Sinne im Blick auf Phil 2,6–11 „von einem aus Tatprädikationen bestehenden Christushymnus“ spricht (aaO., 92). 59 Konkret werden Verbote, die aus dem Dekalog stammen, genannt. Wie bereits gesehen, wird im Alten Testament der Dekalog in der Begegnung mit Gott und seinem Heilshandeln an seinem Volk verankert. Bei der Versicherung der Christen, sie würden „nicht etwa ein Verbrechen“ planen, dürfte freilich v. a. die Abwehr antichristlicher Polemik im Hintergrund stehen. Vgl. etwa der bei Tac. Ann. XV 44,5 genannte Vorwurf des „Hasses gegen das Menschengeschlecht“ (odium humani generis). 60 Im Gegensatz zu Käsemann, Kritische Analyse, 81 erklärt bereits Berger, Hellenistische Gattungen, 1188: „Christus ist Vorbild und Urbild zugleich.“ Vollenweider, „Raub“, 414 formuliert in ebendiesem Sinn: „Immerhin scheint sich eine die Forschung einst polarisierende Alternative mittlerweile relativiert zu haben: der Gegensatz von soteriologischer und ethischer Interpretation. E. Käsemanns Affirmation Christus ,ist Urbild nicht Vorbild‘, ist zu korrigieren: Weil er Urbild ist, ist er Vorbild.“ Vgl. Brucker, Christushymnen, 315. Im Anschluss an Hurtado spricht Brucker von Christus als „Lordly example“ (ebd.). Becker, Mimetische Ethik, 228 knüpft ebenfalls an Berger an und setzt sich gleichzeitig von ihm ab, indem sie von Christus als exemplum sprechen möchte (den Begriff verwendet auch Vollenweider, Schattengefechte, 225). Diese Gattungsbestimmungen unterscheiden sich von den Hymnen nach Becker dadurch, dass sie sich auf „menschliche Personen“ beziehen (ebd.). Zur damit verbundenen Pragmatik s. u. 61 Zur Diskussion s. den gesamten Aufsatz von Vollenweider, Schattengefechte.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
nur herausarbeiten, wenn Struktur und Inhalt des Textes in ihrem Zusammenhang genau betrachtet werden.62
3.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
Eine differenzierte Strukturanalyse von Phil 2,6–11 hat Otfried Hofius in seinem Buch zum Christushymnus Phil 2,6–11 vorgelegt, die die älteren Diskussionen aufnimmt und verarbeitet.63 In diesen Diskussionen lassen sich bestimmte exegetischtheologische Entscheidungen identifizieren, die im Hintergrund der heutigen Auslegung stehen: Lohmeyer gliederte den Text in sechs Strophen zu je drei Zeilen.64 Ausleger wie Bornkamm, Käsemann und Wengst sind dieser Gliederung gefolgt.65 Kritik daran äußerte bereits Joachim Jeremias, der insbesondere auf den parallelismus membrorum hingewiesen hat, durch den die Zusammengehörigkeit bestimmter Satzglieder, die bei Lohmeyer auseinandergerissen werden, einsichtig wird.66 Jeremias, selbst kommt zu einer Einteilung in drei Strophen zu je vier Zeilen, für die er allerdings nicht ohne Streichungen, d. h. nicht ohne die Annahme sekundärer Zusätze zum Hymnus, auskommt.67 Diese drei Strophen sieht er jeweils einem bestimmten Thema bzw. einem christologischen Status zugeordnet, wodurch Jeremias, zu einer folgenreichen Konsequenz kommt. So erklärt er: „Die erste Strophe handelt von dem Präexistenten …, die zweite von dem Irdischen, die dritte von dem Erhöhten. Da der Christushymnus Phil 2 vorpaulinisch ist, ist er der älteste
62 Eine weitere Möglichkeit der Gattungsbestimmung benennt Häusser, Phil, 144, der sich explizit gegen die Beschreibung von Phil 2,6–11 als „Hymnus“ ausspricht, aber dennoch davon ausgeht, dass es sich um ein vor-paulinischen Stück handeln könnte, das als „katechetisches Lehrstück“ zu beschreiben sei. M.E. ist Phil 2,6–11 aber kein katechetischer Text, da er eben – anders als in der Auslegungsgeschichte häufig geschehen – keine „Lehrstücke“ behandelt, sondern sich durch eine metaphorische, nicht begrifflich präzisierende Redeweise auszeichnet. 63 Hofius, Christushymnus, 4–12. Hofius schließt sich in seiner Analyse an die Beobachtung der Parallelismen an, auf die Jeremias, Gedankenführung, 274 aufmerksam gemacht hatte und verfeinert sie im Anschluss an die Strukturbestimmung von Deichgräber, Gotteshymnus, 122. 64 Lohmeyer, Phil, 90. 65 Bornkamm, Christus-Hymnus, 178, der allerdings darauf hinweist, dass die strophische Gliederung „umstritten“ sei; Käsemann, Kritische Analyse, 52; Wengst, Formeln und Lieder, 148. Wengst betont indes, dass von der Gliederung „nicht so viel ab“ hänge. 66 Jeremias, Gedankenführung, 274, vgl. ders., zu Phil 2,7, 310–312. Kritisch zu Lohmeyers Analyse der Struktur des Hymnus äußert sich bereits Bultmann, Rez. Lohmeyer, der Brief an die Philipper, 255. 67 Jeremias, Gedankenführung, 275f, vgl. Müller, Phil, 90f.
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Beleg für die die gesamte Christologie der Folgezeit grundlegend bestimmende Lehre von den drei Seinsweisen Christi.“68
Die mit dieser Bestimmung verbundene Konzentration auf die dogmatische Christologie ist in gewisser Weise charakteristisch für die Auslegungsgeschichte, die von der Frage nach dem jeweiligen ontologischen „Status“ Jesu Christi bestimmt ist. Gegen die These, dass in Phil 2,6–11 (drei) verschiedene christologische Stadien beschrieben werden sollen, spricht allerdings die Beobachtung, dass der Text eine zweigliedrige Struktur hat, die durch den Subjektwechsel, der zwischen den Versen 6–8 und 9–11 stattfindet,69 markiert wird: Während in den Versen 6–8 der „Gottgleiche“ (ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων) das Subjekt ist, wechselt dieses mit V. 9, wo nun θεός Subjekt ist. Während im ersten Teil (2,6–8) der Weg des „Gottgleichen“ erzählt wird, wird im zweiten Teil (2,9–11) Gottes Handeln an Jesus dargestellt. So entsteht im ersten Teil ein äußerster Gegensatz zwischen dem „Gottgleich-Sein“ Jesu (V. 6a) und seinem Tod am Kreuz (V. 8b).70 Der zweite Teil hingegen wird durch das Stichwort θεός umklammert, das in V. 9a Subjekt ist und auf das V. 11b schließlich hinausläuft. Bereits diese zweiteilige Struktur legt nahe, dass sich hier Christologie und „Gotteslehre“ wechselseitig bestimmen. Das findet seine Bestätigung darin, dass in der letzten Zeile (V. 11b) die bereits im Zusammenhang von 1Kor 8,6 als charakteristisch erkannte Zusammenstellung des christologischen Titels κύριος mit der Prädikation Gottes als πατήρ begegnet. Bemerkenswert ist zudem, dass Jesus im gesamten Text Phil 2,6–11 nicht als υἱὸς θεοῦ bezeichnet wird, sondern der ganze Text auf seine Prädikation als κύριος hinausläuft. Wenn Udo Schnelle bemerkt, dass der Sohn-Gottes-Titel „entscheidend zur Ausprägung der Präexistenz- und Inkarnationsvorstellung beitrug und deren maßgebliches Interpretament wurde“,71 dann ist diese Beobachtung im Blick auf Gal 4,4 (vgl. 1,16) und Röm 8,3 (vgl. 1,3f) sicherlich zutreffend. Im Blick auf Phil 2,6–11 muss die Beobachtung, dass der κύριος-Titel in Phil 2,11 entscheidend ist und der SohnGottes-Titel nicht vorkommt, aber dafür sensibilisieren, dass dieser Text in erster Linie auf die soteriologische Aussage hinausläuft, dass in dem Namen Jesu eben Gottes Name angerufen wird. Nicht die präzise Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Jesus Christus ist das Thema des Textes, sondern die Selbstbestimmung
68 Jeremias, aaO., 276. 69 Auf den Subjektwechsel machen einige Ausleger aufmerksam, so etwa Häusser, Phil, 145; Friedrich, Phil, 150; Walter, Phil, 57. Auch Müller, Phil 91 spricht von „der alles entscheidenden Zäsur“ in V. 9, die eine Zweigliederung des Textes nahelege. Vgl. auch Fee, Philippians, 90f. 70 Hofius, Christushymnus, 12: „Mit dem so betont am Ende der 1. Strophe stehenden Wort σταυρός ist sprachlich der äußerste Gegensatz zu den Worten ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων erreicht, mit denen der Hymnus in der ersten Zeile anhebt.“ 71 Schnelle, Inkarnation, 326.
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Gottes für die Menschen. Es geht in Phil 2,6–11 demnach ganz entscheidend um die Gegenwart Gottes in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus, die für die Menschen, die seinen Namen anrufen, Heil bedeutet. Phil 2,6–11 enthält genau die Akzentsetzung, die auch von Außenstehenden als das Charakteristikum des christlichen Glaubens erkannt werden konnte: dass die Glaubenden einen Gekreuzigten als κύριος anrufen und dass sie diese Anrufung als die legitime Form ihres Gottesglaubens ansehen. Die Spannung, die diesen Glauben auszeichnet, wird durch die Gegensätze markiert, die insbesondere die erste Strophe (Phil 2,6–8) bestimmen. Im Folgenden biete ich die Strukturanalyse, die Hofius herausgearbeitet hat72 und markiere dabei die antithetischen Entsprechungen bzw. den Verkauf der Argumentation, die für den Text aus meiner Sicht charakteristisch sind: 6 a ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων I b οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ, 7 a ἀλλ’ ἑαυτὸν ἐκένωσεν b μορφὴν δούλου λαβών, c ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος· d καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος 8 a ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν b γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου, c θανάτου δὲ σταυροῦ. 9
διὸ καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν
II
καὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα,
10 ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ πᾶν γόνυ κάμψῃ ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων
11 καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται ὅτι κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς εἰς δόξαν θεοῦ πατρός.
Während die erste Strophe sich durch einen Gegensatz auszeichnet, der zwischen dem Sein in der „Gottesgestalt“ (V. 6) und dem Tod am Kreuz besteht (V. 8), vollzieht die zweite Strophe einen Weg aus der mit V. 8 erreichten Tiefe bis zur universalen Anerkennung des κύριος Ἰησοῦς Χριστός, die „zur Ehre Gottes des Vaters“ (εἰς δόξαν θεοῦ πατρός) geschieht (V. 11). Die Gegensätze charakterisieren die erste Strophe insgesamt. Insbesondere fällt ins Auge, dass der zweimaligen Nennung
72 Hofius, Christushymnus, 8.
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von θεός in V. 6 die zweimalige Nennung von ἄνθρωπος gegenübersteht:73 Das Besondere, das die erste Strophe beschreibt, ist die Tatsache, dass der „Gottgleiche“ als Mensch erkennbar wird. Die Person Jesu, die namentlich zum ersten Mal in V. 10 genannt wird, wird damit als paradox beschrieben: Sie vereinigt Gegensätze in sich, die das Denken von Gott eigentlich nicht zusammenbringen kann.74 Ein Gegensatz wird auch zwischen μορφὴ θεοῦ und μορφὴ δούλου erkennbar.75 Das Thema der ersten Strophe ist demnach die paradoxe Gegenwart Gottes im gekreuzigten Jesus Christus.76 Es ist genau jene Erkenntnis, die Paulus nach Gal 1,16; 3,13 als seine „Damaskus“-Erkenntnis beschreibt (vgl. 1Kor 2,8; Röm 1,3f). Das Thema der zweiten Strophe wird insbesondere durch das Motiv des „Namens“ markiert, das in V. 9 eingeführt und in V. 10 aufgenommen wird. Da die christologische Prädikation κύριος in der Septuaginta Wiedergabe des Gottesnamens ist, wird in der zweiten Strophe erkennbar, dass der Hymnus Jesus als Gott bekennt, wenn er als κύριος angerufen wird. Die abschließende Zeile stellt fest, dass Gott selbst damit gerade nicht „enteignet“ wird. Vielmehr geschieht das Bekenntnis zu Jesus zur „Ehre“ Gottes. Im Bekenntnis zum κύριος Ἰησοῦς wird Gott selbst offenbar. Wo Jesus als κύριος erkannt wird, da wird Gott als πατήρ erkennbar. Gott der „Vater“ ist der in Jesus erschlossene Gott. Jesus als „Herr“ ist der von Gott her legitimierte himmlische Herrscher. In dieser Erkenntnis, die lobpreisend zur Sprache gebracht wird, werden die Geschöpfe in die ihnen angemessene Relation zu Gott versetzt: Sie bringen ihm Lobpreis und Anbetung dar und realisieren damit das Ziel des Schöpfungshandelns Gottes. Der Zusammenhang von κύριος-Bekenntnis und „Rettung“ verbindet den Text sachlich mit Röm 10,9. So wird die zentrale Intention von Phil 2,6–11 erkennbar: Sie besteht darin, zu begründen, was die Glaubenden tun, wenn sie Jesus als κύριος anrufen und weshalb sie darin gerade Gott die Ehre geben. So kann der Hymnus schließlich auch verständlich machen, weshalb die Anrufung des „Namens“ Jesu für die Menschen Heil bedeutet. Die durch Gegensätze charakterisierte Struktur des Hymnus macht es unwahrscheinlich, dass erst Paulus den Text durch die Hinzufügung der Worte θανάτου δὲ σταυροῦ kreuzestheologisch „korrigiert“ hat, so dass die „ursprüngliche“ Pointe 73 Eine ähnliche antithetische Entsprechung ließ sich bereits in Gal 1,1 beobachten (s. dazu oben in Kapitel 5). 74 Nicht nur im platonischen Kontext, sondern auch im alttestamentlichen Zusammenhang ist Gott geradezu dadurch „definiert“, dass er nicht Mensch ist (vgl. Num 23,19; Hos 11,9). 75 S. dazu unten. 76 Das hat bereits Martin Dibelius treffend formuliert: „Die Frage, die sich selbst stellte, war … nicht: ,cur deus homo‘ – Warum wurde Gott Mensch? – sondern, man könnte den Satz umdrehen: ,cur homo deus?‘ – wie zeigt dieses Leben, nach allem, was in ihm geschah, die charakteristischen Züge der Offenbarung?“ Dibelius, Evangelienkritik, 347. Migliore, Philippians, 80: „ … from the earliest years of the church, the crucified Jesus was confessed as belonging to the very identity of God.“ S. dazu auch Bauckham, God Crucified.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
des Textes auf der Menschwerdung gelegen hätte. Diese These begegnete aber, wie gesehen, seit Lohmeyer immer wieder, während Hofius 77 , Brucker78 und bereits Dibelius sie mit Recht in Frage gestellt haben.79 Neben inhaltlichen Erwägungen ist in diesem Zusammenhang auf eine strukturelle Beobachtung von Hofius hinzuweisen, die auch für die Gattungsbestimmung von Phil 2,6–11 relevant ist. Demnach liegt in Phil 2,8b eine Anadiplosis vor, bei der das letzte Wort der Zeile aufgenommen und in der folgenden Zeile weitergeführt wird.80 Es handelt sich dabei um eine rhetorische Figur, die – neben dem parallelismus membrorum – ein Strukturmerkmal von Psalmen ist,81 aber etwa auch in Joh 1,14 begegnet.82 Diese strukturelle Beobachtung unterstreicht, dass Phil 2,6–11 sich als Psalm begreifen lässt, in dem Theologie und Christologie miteinander verbunden werden. 3.1
Gottes Gegenwart in dem gekreuzigten Jesus (Phil 2,6–8)
ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ, ἀλλ’ ἑαυτὸν ἐκένωσεν μορφὴν δούλου λαβών,
Er, der in Gottes Gestalt war, erachtete dieses83 Gott-gleich-Sein nicht als (geraubte) Beute,84 sondern beraubte85 sich selbst, nahm Knechtsgestalt an,
ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος wurde den Menschen gleich καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος
und der Gestalt nach als Mensch befunden86 .
77 S. die ausführliche Argumentation bei Hofius, Christushymnus, 3–17. 78 Brucker, Christushymnen, 311. 79 Dibelius, Phil, 81, zitiert bei Hofius, Christushymnus, 16. Kritisch dazu auch Frey, Philipperbrief, 14f. 80 γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δὲ σταυροῦ (Hofius, Christushymnus, 10–12.104–106, zur rhetorischen Figur der Anadiplosis s. Hoffmann/von Siebenthal, Grammatik, 583, § 294n). Die Beobachtung einer Anadiplosis wird von Brucker, Christushymnen, 309.311 aufgenommen, aber nicht für die Gattungsbestimmung im Kontext der Psalmen ausgewertet. 81 Hofius nennt als Beispiele Ri 5,5.11; Ps 23,6 LXX; 44,2; 68,25.29.34; 113,8; 122,4f; 144,8 LXX; Hhld 2,15, vgl. Jes 26,6; Joh 1,14; OdSal 11,3. 82 καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρός … 83 Der Artikel vor εἶναι ἴσα θεῷ ist anaphorisch, gemeint ist: „Er erachtete das (soeben genannte) Gott-Gleich-Sein nicht als (geraubte) Beute“. S. dazu BDR § 399,1 mit Anm. 2 (s. dazu unten). 84 Das Nomen ἁρπαγμός bezeichnet „das Rauben“ (von ἁρπάζω „rauben“, „fortschleppen“, Bauer/ Aland, 6 Wörterbuch, 218, s.v. ἁρπαγμός 1., s.v. ἁρπάζω 1.) und sensu malo „das Geraubte“, „die Beute“ (aaO., s.v. ἁρπαγμός 2a). 85 Zu dieser Bedeutung („seiner Berechtigung berauben“, 2Kor 9,3) Bauer/Aland, aaO., 871 s.v. κενόω 3. 86 Bauer/Aland, aaO., 658 s.v. εὑρίσκω 2. (s. auch dazu unten).
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ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δὲ σταυροῦ.
Er erniedrigte sich selbst, war gehorsam bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz.87
Der Ausgangspunkt liegt bei einer Person, von der gesagt wird, dass sie „in Gottesgestalt“ war. Es ist eine Gottesgeschichte, die hier erzählt wird. Allerdings bot in der Auslegungsgeschichte bereits das erste Nomen, das im Hymnus begegnet – μορφή – einen Anknüpfungspunkt für Auseinandersetzungen. Schon Markion sah darin eine Abschwächung der Inkarnationsaussage gegeben: Es sei lediglich ein „Trugbild“ (phantasma) Fleisch geworden (Tert. Marc. V 20): Der Gekreuzigte habe gar nicht wirklich „Gottheit“ besessen. Ulrich B. Müller trägt dieses Verständnis in den Text ein, wenn er erklärt: „Was mit ,Gestalt‘ übersetzt ist (μορφή) scheint die intendierte Aussage realer Menschwerdung nicht genügend abzusichern, da der Hymnus sich im zweiten Satz (sc. in V. 7) zu weiteren Formulierungsansätzen genötigt sieht, um die Inkarnation auszusagen“.88
Es ist aber zu fragen, ob mit dem Wort μορφή tatsächlich betont werden soll, dass es sich hier nur um „scheinbare“ Gottheit bzw. „scheinbare“ Menschwerdung handele.89 Was die Frage nach der „Gottheit“ anlangt, so ist bereits aufgrund der Formulierung erkennbar, dass ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων und εἶναι ἴσα θεῷ einund dasselbe meint.90 Denn der Artikel vor der substantivierten Verbalaussage τὸ εἶναι ἴσα θεῷ ist anaphorisch aufzufassen:91 Es ist eben jenes „Sein in der Gottesgestalt“, das der „Gottgleiche“ nicht als „geraubte Beute“ ansieht.92 Eine „klassische“ Frage bei der Auslegung des Wortes ἁρπαγμός in V. 6b besteht darin, ob es im Sinne einer res rapienda oder einer res rapta aufzufassen sei.93 Im
87 Vgl. Hofius, Christushymnus, 137. 88 Müller, Menschwerdung, 20f. 89 S. dazu die Hinweise bei Müller, Phil, 93–96. Hier bemerkt Müller: „Der Ausdruck (sc. ἐν μορφῇ θεοῦ) meint … nicht die bloß äußere Erscheinungsform, so daß nur vom Gestaltwandel der Gottheit die Rede wäre, andererseits auch nicht die Substanz, so daß von einer Veränderung des Wesens gesprochen würde.“ AaO., 95. 90 So mit Recht Häusser, Phil, 156, ähnlich Witherington III, Philippians, 141 und bereits Gnilka, Phil, 117. 91 S. dazu den bereits oben genannten Paragraphen bei BDR § 399,1 mit Anm. 2 sowie Vollenweider, „Raub“, 428 mit Anm. 22. Trotz dieser grammatischen Einsicht votiert Vollenweider für eine andere Auslegung von Phil 2,6, in der die Identität von ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων und τὸ εἶναι ἴσα θεῷ gerade bestritten wird (s. u.). 92 Müller, Phil, 95 erklärt mit Recht: „Die Gottgleichheit eignet der Gestalt des Hymnus als einer vorgängigen Realität.“ 93 Vgl. Gnilka, Phil, 115–117; Häusser, Phil, 155f.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
ersten Fall (res rapienda) wird das „Gott-gleich-Sein“ als „zu raubende Sache“ verstanden: Der, von dem hier gesprochen wird, strebt das „Gott-gleich-Sein“ demnach nicht an, sondern geht einen anderen Weg, nämlich den Weg in den Tod und an das Kreuz. An dieses Verständnis konnte sich die These einer „Adam-Christologie“ anschließen, die Jesus als Gegenbild zu Adam dargestellt sieht: Während Adam das Gott-gleich-Sein gerade anstrebe, verweigere Jesus sich dieser Möglichkeit und werde deshalb zu höchster Ehre erhoben.94 Im zweiten Fall (res rapta) wird das „Gott-gleich-Sein“ als etwas angesehen, das Jesus bereits „hat“, das er aber nicht einfach „für sich behält“. Das „Gott-Gleich-Sein“ ist demnach gerade die Voraussetzung für die beschriebene Tat der „Selbstberaubung“. Der „Gottgleiche“ verhält sich nicht so, wie man es von ihm erwarten könnte, sondern er setzt sich einer Wirklichkeit aus, der er sich nicht aussetzen müsste: der menschlichen Lebenswirklichkeit. Müller betont mit Recht: „Die Gottgleichheit – das, was sonst niemandem außer Gott zukommt – eignet Christus bereits als ursprünglicher Besitz, ja ist Voraussetzung der Selbsterniedrigung, die er vollzieht, so daß jede Interpretation im Sinne der res rapienda fehlgeht.“95
Eine Deutung im Sinne der res rapienda hat Samuel Vollenweider allerdings erneut vorgeschlagen.96 Er nimmt dabei an, dass hinter Phil 2,6 „engelchristologische“ Vorstellungen stehen. So sei das „Sein in der Gottesgestalt“ in Phil 2,6 „möglichst konkret und visuell zu fassen“: „als Bekleidetsein des Präexistenten mit einem Herrlichkeitsleib bzw. einem Lichtkleid, dessen er sich in seiner Kenosis entledigt“.97 So trage der präexistente Christus im Urchristentum „angelomorphe Züge“.98 Das „Sein in der Gottesgestalt“ sei dabei nicht mit „seinem durch die Erhöhung gewonnenen ,Gott-gleich-Sein‘ … gleichzusetzen“. Erst durch die in V. 9–11 beschriebene „Erhöhung“ erlange Jesus Christus „die überragende Position als kultisch verehrter Träger des Gottesnamens und als Weltherrscher“.99 Auch wenn Vollenweider an anderer Stelle bemerkt, dass eine „konsequente angelologische Rekonstruktion der frühen Christologie … schweren methodologischen Bedenken“ unterliegen müsse,100 so ist sein Hinweis auf die „angelomorphen“ Züge Christi als eine Anspie-
94 95 96 97
S. dazu Standhartinger, Phil, 156–158. Müller, Phil, 95. Vollenweider, „Raub“, 429. Ebd. Für die Vorstellung verweist Vollenweider auf die Untersuchung von Podella, Lichtkleid Jahwes. 98 Vollenweider, aaO., 430. 99 Ebd. 100 Vollenweider, Monotheismus, 9.
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lung auf Entwicklungen im Zuge einer „Neuen Religionsgeschichtlichen Schule“101 zu verstehen, in der die Bedeutung angelologischer Vorstellungen für die Ausbildung der frühen Christologie wieder verstärkt thematisiert worden ist.102 Eine angelologische Rekonstruktion der frühen Christologie hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits der Albert-Schweitzer Schüler Martin Werner vertreten.103 Die „hohe“ Christologie hat ihren Ursprung nach dieser These in der Vorstellung von Engelwesen, die in besonderer Nähe zu Gott stehen.104 Vollenweider wirft indes die wichtige Frage auf, wie der Gedankenfortschritt zwischen den Versen 6–8 und 9–11 genau zu beschreiben ist. Die Annahme einer Identität zwischen ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων und τὸ εἶναι ἴσα θεῷ bezeichnet er als „nizänische Spielart“ der Interpretation von Phil 2,6–11,105 aus der sich das Problem ergebe, „dass die Erhöhung zum Kyrios (V. 9–11) nur akzidenziell zur Göttlichkeit Jesu“ hinzutrete.106 So erhalte Christus in V. 11 lediglich das, was ihm nach V. 6 bereits zukomme: „Jesus erlangt wieder jenen unüberbietbaren Status, den er von Anfang an innehatte. Was antik-jüdischem Verständnis zufolge das Gottsein überhaupt erst ausmacht – Gottesname, Weltherrschaft und kultische Verehrung – hat lediglich den Charakter eines bedeutungsvollen surplus“.107
Hier begegnet ein Argument, das uns bereits bei der Auslegung von Röm 1,3f beschäftigt hat. Es lässt sich allerdings fragen: Bedeutet die Einsetzung Jesu in seine
101 Vgl. Fossum, The New Religionsgeschichtliche Schule, 638–646; Hurtado, Lord, 11–18. 102 S. dazu Frey, Philipperbrief, 15f, aber etwa auch Schnelle, Inkarnation, 328: „Biblische Patriarchen wie Henoch (vgl. Gen 5,18–24) oder Mose umgeben Gott und wirken in seinem Auftrag. Zudem konnten Engel zeitweise eine menschliche Gestalt annehmen (vgl. Gen 18; Tob 12; JosAs 14; Hebr 13,2). Sie alle bezeugen die Weltzugewandtheit Gottes und zeigen, dass Gottes Macht überall präsent ist und alles seiner Kontrolle unterliegt. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott.“ Besonders aufschlussreich ist der von Schnelle in diesem Zusammenhang (aaO. mit Anm. 13) genannte Beleg Philo Somn I 232, wonach Gott „in der Gestalt von Engeln erscheint, ohne dabei sein Wesen zu verändern – denn er ist ja unveränderlich“. Die „Gestaltwerdung“ Gottes in Jesus Christus, die Phil 2,6–11 beschreibt, ist aber nicht in derselben Weise mit dem Gedanken der „Unveränderlichkeit“ Gottes verbunden, wie dies bei Philo der Fall ist. Vielmehr liegt der Akzent ja gerade darauf, dass die Geschichte des Gottgleichen das Verhältnis der Menschen zu Gott in einer grundlegenden Weise verändert (s. dazu unten). 103 Werner, Entstehung. S. dazu bereits Gilg, Bemerkungen zu Martin Werners Buch. 104 S. dazu jetzt auch die Arbeit von Bühner, Messianologie (s. dazu unten). 105 Vollenweider, „Raub“, 428. Vollenweider spricht sich allerdings auch ausdrücklich gegen eine „Adam-Christologie“ aus (vgl. aaO., 419f). 106 Ebd. 107 Ebd.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
himmlische Machtstellung wirklich nur dann etwas, wenn sie einen ontologischen „Statuswechsel“ bezeichnet? Ähnlich wie in Röm 1,4 geht es in Phil 2,6–11 darum, dass die Herrschaft Jesu durch seinen Weg an das Kreuz inhaltlich qualifiziert wird. Nur so kann sie ja Bedeutung auch für die Glaubenden haben. „Gottheit“ ist für den Hymnus keine Art Substanz, die man „haben“ oder „hergeben“ kann.108 Für Phil 2,6–11 ist vielmehr entscheidend, dass Gottes Handeln durch die JesusChristus-Geschichte inhaltlich qualifiziert wird. Es ist deshalb nicht angemessen, die Bedeutung der „Erhöhung“ Jesu auf ein „bedeutungsvolles surplus“ reduziert zu sehen, wenn Phil 2,6 bereits die volle Göttlichkeit seiner Person aussagt. Auch Vollenweiders Auslegung bleibt der Frage nach dem ontologischen „Status“ Jesu verhaftet, die den Hymnus selbst nicht beschäftigt. Denn in ihm geht es darum, den Weg zu beschreiben, den der „Gottgleiche“ geht und durch den er – zum Heil der Menschen! – zu seiner himmlischen Herrschaft gelangt.109 Wie aber ist dann die Rede vom „Raub“ der Gottgleichheit zu verstehen? Das in Phil 2,6b verwendete Wort ἁρπαγμός ist Hapaxlegomenon im Neuen Testament. Es lässt sich im Anschluss an die Septuaginta als „Beute“ übersetzen.110 Gemeint ist offensichtlich: Der „Gottgleiche“ erachtete sein „Gott-Gleich-Sein“ nicht als etwas, das ihm einfach als „Beute“ (oder auch als „Geschenk“)111 zugefallen ist oder als etwas, das er für sich selbst hat.112 Was das bedeutet, wird in den folgenden Zeilen beschrieben. Der Gegensatz zwischen „Gott“ und „Mensch“ findet seine Entsprechung in dem Gegensatz von μορφὴ θεοῦ und μορφὴ δοῦλου.113 Die erste Strophe macht deutlich, dass der Gottgleiche sich selbst dahingibt, indem er ein „Knecht“ wird. Seine Menschwerdung bedeutet demnach, dass der, der eigentlich Herrscher ist, nun als Diener auftritt. Hier wird nicht ein menschlicher „Gottesknecht“ beschrieben. Dargestellt wird vielmehr die Knecht-Werdung Gottes. Das Gegenüber von θεός und δοῦλος bedeutet einen Gegensatz, wie er schärfer
108 Man kann deshalb die Streitfrage nach der Bedeutung von ἁρπαγμός als res rapienda oder res rapta auch als eine Eintragung christologischer Streitigkeiten in die Auslegung von Phil 2,6–11 bezeichnen (vgl. Vollenweider, „Raub“, 428). 109 Das wird in 9–11 insbesondere durch das „Namens“-Motiv (Phil 2,9f) zur Sprache gebracht. 110 Das Wort ἁρπαγμός ist in der Septuaginta nicht belegt, wohl aber das gleichbedeutende Wort ἅρπαγμα (Lev 6,4 LXX; Ps 61,11 LXX; Sir 16,13 u. ö.) S. dazu Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 218 s.v. ἁρπαγμός 2a. 111 Vgl. Müller, Phil, 94. 112 Migliore, Philippians, 82 macht darauf aufmerksam, dass sich diese Bedeutung auch aus dem Zusammenhang mit Phil 2,4 her ergibt, so dass zumindest Paulus selbst Phil 2,6 in diesem Sinne versteht: „Christ did not take advantage of his status or rights as equal with God but instead looked not to his own interests but to the interests of others.“ Auf diese Verbindung mit dem Kontext im Philipperbrief werde ich unten eingehen. 113 Vgl. Brucker, Christushymnen, 309.
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nicht denkbar ist.114 Nun wird auch sichtbar, dass das Wort μορφή an dieser Stelle nicht gewählt wurde, um eine Abschwächung der Inkarnationsaussage vorzunehmen, sondern vielmehr um den Gegensatz von μορφὴ θεοῦ und μορφὴ δούλου zu markieren: Gott erscheint als „Knecht“. Diese „Knechtwerdung“ bedeutet im Zusammenhang konkret, dass er sich der „menschlichen Daseinsweise“ unterwirft.115 Ähnlich wie in Joh 1,14 ist mit dem Eingehen in die menschliche Lebenswirklichkeit der Weg an das Kreuz bereits vorgezeichnet (vgl. Joh 19,30). Und auch bei Paulus geschieht die Sendung „in Gleichgestalt des Fleisches“ mit dem Ziel des Kreuzestodes Jesu (Röm 8,3). Es geht bei der „Selbstentäußerung“ nicht um die „Preisgabe der Gottheit“, sondern um den Weg des Gottgleichen in den Tod am Kreuz. Freilich muss man diese Pointe verkennen, wenn man die Worte θανάτου δὲ σταυροῦ in Phil 2,8 als paulinischen Zusatz ansieht und deshalb die Menschwerdung als Ziel der „Selbstentäußerung“ betrachtet.116 Ohne die literarkritische These wird allerdings deutlich, dass auch für den Hymnus der Tod am Kreuz das eigentliche Ziel ist, dem die Menschwerdung des Gottgleichen zugeordnet ist.117 Gottes Wirklichkeit ist am Kreuz offenbar geworden. Das ist die Aussage, auf die, die erste Strophe hinausläuft. Von hier aus ist nun auch das Verb κενόω zu interpretieren. Joachim Jeremias, hat darauf hingewiesen, dass die Formulierung ἑαυτὸν κενοῦν nicht nur für den paulinischen, sondern überhaupt für den griechischen Sprachgebrauch ungewöhnlich ist.118 Er erklärt sich aber wohl doch am besten aus dem unmittelbaren Zusammenhang. Dafür ist der Hinweis wichtig, dass das Verb κενόω nicht nur „leer machen“,
114 S. dazu den Hinweis bei Hofius, Christushymnus, 61 auf Jes 43,24b: „Du hast mich zum Knecht gemacht – mit deinen Sünden“. Der Prophet sagt damit, dass das Volk seinem Gott seine Gottheit de facto genommen hat, ihn nicht als Gott, sondern im Gegenteil als „Knecht“ behandelt hat. Das Verhalten des Volkes Gottes entspricht dem, was Paulus in Röm 1,21 als das Verhalten aller Menschen beschreibt. 115 Brucker, Christushymnen, 308. 116 Exemplarisch Müller, Menschwerdung, 28; ders., Phil, 105: „Die eigentliche Konsequenz der Selbsterniedrigung und des Gehorsams ist mit der Nennung des Todes erreicht, die nochmalige Überbietung stört. Sie ist nur als typisch paulinische Zuspitzung verständlich.“ Noch einmal lässt sich fragen: Wen „stört“ die Nennung des Kreuzestodes? Nicht erst Paulus, sondern bereits die Tradition vor ihm verkündigte Gottes Gegenwart in dem gekreuzigten Christus und erregte gerade durch diese Verkündigung den Anstoß, den Phil 2,6–11 thematisiert. 117 Migliore, Philippians, 82f betont mit Recht, dass die in Phil 2,6 ausgesagte „Inkarnation“ nicht nur auf die Geburt Jesu rekurriert, sondern das gesamte irdische Leben, das im Tod am Kreuz kulminiert, im Blick hat. 118 Jeremias, παῖς θεοῦ, 208, vgl. Häusser, Phil, 147f. Jeremias folgert daraus, „daß die Christologie von V. 6–9 auf Jes. 53 HAT fußt“. Für diese These fehlen allerdings weitere Signale (gegen diese Deutung sprechen sich bereits Bornkamm, Christus-Hymnus, 180; Deichgräber, Gotteshymnus, 124; Hofius, Christushymnus, 59 mit Anm. 11 aus).
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
sondern auch „berauben“ bedeuten kann.119 Das Verb gehört demnach zu demselben semantischen Feld wie das Nomen ἁρπαγμός: Anstatt sein „Gott-Gleich-Sein“ als „Beute“ zu betrachten, lässt er sich seiner gleichsam „berauben“. Erkennt man diesen Zusammenhang, dann wird deutlich, dass die Verse Phil 6.7a miteinander chiastisch verschränkt sind:120 6 A ὃς ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων B οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ, 7a B ἀλλ’ ἑαυτὸν ἐκένωσεν A μορφὴν δούλου λαβών, Die antithetische Entsprechung von μορφὴ θεοῦ und μορφὴ δοῦλου findet in den beiden Verbalsätzen ihre Entfaltung. In den Teilen B wird gesagt, dass die „Selbstberaubung“ darin besteht, dass der „Gottgleiche“ sein Gott-Gleich-Sein nicht für sich „hat“, sondern Knechtsgestalt annimmt, und das heißt: an den Ort geht, an dem Gott per definitionem eigentlich gar nicht sein kann: in die menschliche Daseinsweise, die auf den Tod zuläuft. In den folgenden Zeilen Phil 2,7b.8a lässt sich nun wieder ein Chiasmus beobachten:121 7b A ἐν ὁμοιώματι ἀνθρώπων γενόμενος· B καὶ σχήματι εὑρεθεὶς ὡς ἄνθρωπος 8 B ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν A γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου, θανάτου δὲ σταυροῦ. Hier ist noch einmal daran zu erinnern, dass der zweimaligen Nennung von θεός in V. 6 der zweimaligen Nennung von ἄνθρωπος in V. 7b entspricht. Hatten die Verse 6.7a entfaltet, wie der „Gottgleiche“ sich zu seinem Gott-Sein verhält, so wird in den Versen 7b.8 entfaltet, was sein „Menschsein“ bedeutet. Interpretieren sich die Zeilen A gegenseitig, dann bestätigt dies, was oben bereits gesagt wurde: Dass der „Gottgleiche“ „in Gleichgestalt der Menschen wurde“ bedeutet in erster Linie, dass er sich der Sterblichkeit der Menschen ausgesetzt hat. Die Zeilen B erläutern diesen Vorgang: dass er „in Gestalt eines Menschen“ begegnet, ist Ausdruck seiner – freiwillig gewählten – Erniedrigung. Auf die Nähe der Aussage zu 2Kor 8,9 ist immer wieder hingewiesen worden.122 Dort schreibt Paulus an die Korinther, dass Jesus „um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war“ (δι’ ὑμᾶς ἐπτώχευσεν
119 Hofius, aaO., 59f; s. Gemoll, Wörterbuch, s.v. κενόω 1.a. Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 871, s.v. κενόω 3. „seiner Berechtigung berauben“, Passiv: „seine Bedeutung einbüßen“, mit Verweis auf 2Kor 9,3. 120 Vgl. Brucker, Christushymnen, 308. 121 Ebd. 122 So etwa bei Hofius, Christushymnus, 60; Migliore, Philippians, 84; Müller, Phil, 96; Walter, Phil, 58; Witherington III, Philippians, 152.
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πλούσιος ὤν). Das Verhalten der Glaubenden untereinander – hier konkret: die
Bereitschaft der Glaubenden, eine „Gnadengabe“ (χάρις) zu geben (2Kor 9,6–8) – erhält durch die „Gnade“ (χάρις) Christi, die in seiner Menschwerdung besteht, eine theologische Begründung. Das „Menschsein“ Jesu ist demnach eine Tat, ein Handeln Gottes, das den Glaubenden zugutekommt und an dem sich ihr eigenes Verhalten orientiert. Das Stichwort ὁμοίωμα in Phil 2,7b, das in Röm 8,3 bei Paulus in einem ganz ähnlichen Zusammenhang begegnet, „schillert“ zwischen „Gleichgestalt“ und „Ähnlichkeit“.123 Hier werden keine ontologisch präzisen Aussagen formuliert, sondern von einer unerhörten Begegnung gesprochen: dass Gottes Wirklichkeit in einem (gekreuzigten) Menschen begegnet. Dasselbe ist im Blick auf das Wort σχῆμα zu bemerken.124 Die Formulierung „in der (äußeren) Gestalt wie (der) eines Menschen befunden“, reflektiert nicht darüber, ob Jesus der Substanz nach ein „echter“ Mensch war oder nicht, sondern ist ganz von der äußeren Wahrnehmung her formuliert: Er begegnet als ein Mensch.125 Die semantische Offenheit dieser metaphorischen Redeweise126 hat die Auslegung durchgängig beschäftigt. Die Differenzierungen, die im Symbol von Nizäa gegenüber der Arianischen Christologie notwendig wurden, sind in Phil 2,6–11 angelegt, aber nicht präzise ausgearbeitet. Eine Auslegung vor dem Hintergrund späterer dogmatischer Differenzierungen überfordert den Text deshalb. Wohl aber konnte das Ungewohnte dessen, was hier gesagt wird, der Auslöser für spätere christologische und ontologische Differenzierungen werden. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass mit dem, was hier gesagt wird, nicht nur die Christologie, sondern auch die Gotteslehre weiterentwickelt wird. Denn indem die Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch in der Person Jesu ausgesagt wird, muss auch die Reflexion über Gott neu einsetzen. Damit ist auch die von Vollenweider gestellte Frage nach dem Fortschritt zwischen den beiden Strophen von Phil 2,6–11 beantwortet: Er besteht nicht in einem ontologischen „Statuswechsel“ Jesu, sondern in den durch seinen Weg an das Kreuz gestifteten Relationen: Für die Menschen ist Gott durch die Auferstehung und „Erhöhung“ Jesu
123 S. dazu oben in Kapitel 7 dieser Arbeit. 124 Das Wort begegnet im NT nur noch an einer einzigen weiteren Stelle in den Paulusbriefen: παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου (1Kor 7,31b). 125 S. dazu die bei Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 658, s.v. εὐρίσκω 2. gegebene Übersetzung von Phil 2,7b: „seinem Aussehen nach erschien er als Mensch“. 126 Auf die Bedeutung der metaphorischen Redeweise für Phil 2,6–11 macht Hofius, Christushymnus, 59 mit Recht aufmerksam: „Wo die Sprache des bloßen Begriffes unweigerlich an ihre Grenze stößt, da bietet sich gerade die Metapher als das angemessene sprachliche Ausdrucksmittel an. Die Metapher sieht ja – darin liegt ihr Wesen – „Bild“ und „Sache“ untrennbar ineinander und widersteht somit der Auflösung in eine nur noch begriffliche Aussage“. S. dazu auch aaO., 60.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
im Blick auf sein Verhältnis zu den Menschen definitiv und in heilsamer Weise bestimmt. Hofius erklärt mit Recht: „Mit der Erhöhung hat sich nicht die Macht und Herrlichkeit dessen verändert, der als der Präexistente bereits Gott gleich war; es ist vielmehr die Situation der Welt und des Menschen in ihr, die durch Jesu Tod und Erhöhung eine totale und radikale Veränderung erfahren hat.“127
In dem Geschehen, das Phil 2,6–11 schildert, verändert sich die Situation des Menschen vor Gott. Dadurch verändert sich aber auch der Blick des Menschen auf Gott. Was genau dabei geschieht, entfaltet die zweite Strophe. 3.2
Die Offenbarung des Namens Gottes (Phil 2,9–11)
διὸ καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν καὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα, ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ πᾶν γόνυ κάμψῃ ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται ὅτι κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς εἰς δόξαν θεοῦ πατρός.
Darum hat Gott ihn zur höchsten Höhe erhoben und ihm geschenkt 128 den Namen, der über alle Namen ist, damit in dem Namen Jesus sich jedes Knie beuge der Himmlischen und der Irdischen und der Unterirdischen und jede Zunge preisend bekenne129 : Kyrios ist Jesus Christus zur Ehre Gottes, des Vaters.
In Phil 2,9 findet der Subjektwechsel statt: War bis hierhin von der Tat des „Gottgleichen“ die Rede, so ist nun ὁ θεός das Subjekt des Handelns und der „Gottgleiche“ das „Objekt“.130 Diese Art des Redens vom Handeln Gottes an Jesus Christus lässt sich etwa auch in der Darstellung, die die Apostelgeschichte von der frühchristlichen Verkündigung gibt, beobachten (Apg 2,24; 3,15; 5,31; 10,40; 13,30; 17,31). Im sogenannten „Kontrastschema“ der Apostelgeschichte wird das Handeln Gottes
127 AaO., 66. 128 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1749 s.v. χαρίζομαι 1.: „aus Gunst gewähren“, „aus Gnade schenken“, „gütig spenden“. 129 Aus der Bedeutung „anerkennen“ entwickelt sich die spezielle Bedeutung „preisen“, mit der insbesondere das Gotteslob gemeint ist (Bauer/Aland, aaO., 560, s.v. ἐξομολογέω 2b). 130 Gnilka, Phil, 125 kommentiert: „Bisher handelte der Präexistente und Sich-Erniedrigende aus freien Stücken, jetzt aber wird er zum Objekt göttlichen Handelns.“ Ähnlich Friedrich, Phil, 153.
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an Jesus stets dem Handeln der Menschen an Jesus gegenübergestellt.131 Auch bei Paulus finden sich immer wieder Formulierungen, die Gott von seinem auferweckenden Handeln her bestimmen.132 Phil 2,9 macht deutlich, dass Gott das Subjekt der „Erhöhung“ Jesu ist. Diese „Erhöhung“ erfolgt mit der Auferstehung Jesu. In ähnlicher Weise wird in 1Thess 1,10 auf das auferweckende Handeln Gottes an „seinem Sohn“ hingewiesen, mit dem dieser als „Retter“ der Glaubenden offenbar wird. Demgegenüber fällt noch einmal ins Auge, dass der Christushymnus Jesus nicht als υἱός prädiziert. Er zielt vielmehr auf seine Prädikation als κύριος, wie sie auch in 1Kor 12,3 und in Röm 10,9 prominent im Blick ist. In Röm 10,13 ist die heilbringende Anrufung des „Namens“ mit Joel 3,5a LXX verbunden.133 In Phil 2,9–11 steht offensichtlich ein anderer alttestamentlicher Text im Hintergrund: Jes 45,23 LXX (Phil 2,10f, vgl. Röm 14,11). Geht es im Kontext von Röm 10,9–13 primär um die soteriologische Aussage, formuliert Phil 2,9–11 das christliche κύριος-Bekenntnis im Zusammenhang mit einem explizit monotheistischen Text. Das wiederum bringt die Ausführungen in die Nähe zu 1Kor 8,6, wo mit Dtn 6,4 ebenfalls ein monotheistischer Text mit der Prädikation Jesu als κύριος und Gottes als πατήρ verbunden wird. Das Ziel von Phil 2,9–11 ist es demnach, das Bekenntnis zu Jesus als Artikulation des Glaubens an den einen Gott zu präsentieren. In den Versen 2,9–11 ist in besonderer Weise die universalistische Perspektive im Blick. Das lässt sich sprachlich an der in jedem der drei Verse begegnenden Formulierung mit πᾶν / πᾶσα beobachten: (V. 9b: πᾶν ὄνομα, V. 10b: πᾶν γόνυ, V. 11a: πᾶσα γλῶσσα). In diesem Zusammenhang steht auch die κύριος-Prädikation. Die universale Gottesherrschaft wird damit – wie von 2,6–8 her deutlich wird – vom Kreuz Jesu her bestimmt. So lässt sich auch die Anknüpfung in V. 9a mit der kausalen Konjunktion διό verstehen: Der Fokus liegt darauf, dass Gott dem Gekreuzigten die Rolle gegeben hat, die eigentlich nur Gott selbst zukommt. Das wird mit dem im Neuen Testament nur hier begegnenden Kompositum ὑπερυψόω zur Sprache gebracht, das zum Ausdruck bringt, dass Jesus mit seiner Auferstehung die höchste denkbare Position erhält.134 Im unmittelbaren Kontext wird es durch die parallele Aussage in V. 9b interpretiert: διὸ καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν καὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα
Deshalb (– weil er ans Kreuz gegangen ist –) hat Gott ihn zu höchster Höhe erhoben und ihm den Namen geschenkt, (der) über alle Namen (ist).
131 S. dazu den in Kapitel 3 gegebenen Hinweis zum Zusammenhang des „Kontrastschemas“ mit dem Kontext von 1Kor 2,8. 132 S. etwa Röm 10,9 sowie 4,24; 8,11.34; Gal 1,1, vgl. 1Petr 1,21, in passiver Form Röm 6,4.9; 7,4; 1Kor 15,20, vgl. 2Tim 2,8. 133 Vgl. Apg 2,16–21. 134 Fee, Philippians, 99.
Zur Struktur und zur Aussage von Phil 2,6–11
Die „Erhöhung“ Jesu bedeutet demnach, dass Jesus als Träger des „Namens“ offenbar wird, „der über alle Namen ist“. Dieser „Name“ ist, wie im Zusammenhang deutlich wird, der heilige Gottesname.135 Jesus wird mit seiner Auferstehung als Gott offenbar. Wenn gesagt wird, dass Gott selbst ihm diesen Namen „geschenkt“ (bzw. „aus Gunst gewährt“) hat, dann wird damit unterstrichen, dass Jesus sich seine göttliche Würde nicht selbst aneignet. Vielmehr ist es Gott, der ihm seinen eigenen heiligen Gottesnamen gibt. Dieses Bekenntnis dürfte sich vor allem auch gegen den Vorwurf richten, dass die Glaubenden Jesus (oder Jesus sich selbst) eigenmächtig „zu Gott machen“ würden.136 Die in Phil 2,9a ausgesagte „Erhöhung“ steht den Aussagen in Apg 2,33 und 5,31 besonders nahe.137 Mit ταπεινόω ist in V. 8a Jesu Weg an das Kreuz gemeint, mit ὑπερυψόω in V. 9a seine Auferweckung. Dadurch wird der Kontrast hervorgehoben: Es ist gerade der Gekreuzigte, der zu höchster Höhe erhoben wird, was durch die Verwendung des Kompositums verstärkt wird. So bestätigt sich noch einmal, dass der gesamte Hymnus kreuzestheologisch konzentriert ist, und dass die Aussage über die Menschwerdung der kreuzestheologischen Aussage untergeordnet ist. Was das Motiv der Übereignung des „Namens“ anlangt, sind aus dem Neuen Testament zwei Stellen vergleichbar: Eph 1,20f und Hebr 1,4.138 In Eph 1,21 ist davon die Rede, dass Jesus durch seine Auferweckung „über jeden Namen, der genannt wird“ (ὑπεράνω … παντὸς ὀνόματος ὀνομαζομένου), erhoben worden sei. In Hebr 1,4 wird gesagt, Jesus habe durch den Antritt seiner himmlischen Herrschaft einen die Engel überragenden Namen „ererbt“ (διαφορώτερον παρ’ αὐτοὺς κεκληρονόμηκεν ὄνομα). In beiden Zusammenhängen geht es, wie in Phil 2,9–11, um eine Aussage über die Jesus übereignete Gottesherrschaft. Dabei wird jeweils auf Ps 110,1 angespielt (Eph 1,20; Hebr 1,3b). Diese Anspielung fehlt in Phil 2,9–11. Die Herrschaftsaussage in Phil 2,10f spielt vielmehr auf Jes 45,23 LXX an. Die Verbindung mit dieser Stelle ist für den zweiten Teil des Textes besonders charakteristisch.
135 „In jedem Fall wird Jesus als Träger des Gottesnamens angebetet, und der Gottesname ist untrennbar mit Jesus verbunden.“ Häusser, Phil, 167, vgl. Migliore, Philippians, 92f. Hofius, Christushymnus, 109 weist auf einen rabbinischen Beleg hin (MidrPs 9 § 6), der in der Literatur zuvor noch nicht genannt wurde: „ ,Ich will deinen Namen preisen, du Höchster‘ – deinen Namen, der über alle Namen erhaben ist.“ 136 S. dazu den entsprechenden Vorwurf, der in Joh 10,33 sichtbar wird, in dem die für den PhilipperHymnus charakteristische Entgegensetzung von ἄνθρωπος und θεός begegnet: σὺ ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν, die im Johannesevangelium nach der Spitzenaussage Joh 10,30 (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν) steht. 137 Lüdemann, ὑψόω, 982. Wie ich an anderer Stelle begründet habe, sind auch in der Apostelgeschichte Auferweckung und „Erhöhung“ miteinander identisch (Bauspiess, Geschichte, 396). Im Johannesevangelium hingegen ist mit der „Erhöhung“ Jesu seine Kreuzigung gemeint (Joh 3,14; 8,28; 12,32.34). 138 Vgl. Michel, Hebr, 106; Weiss, Hebr, 152 sowie Gese, Eph, 40; Gnilka, Eph, 95.
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Hier lässt sich die Verbindung von Tradition und Interpretation deshalb am besten beobachten. Zunächst einmal ist aber das „Namens“-Motiv weiter zu verfolgen. V. 10 ist mit der konsekutiven Konjunktion ἵνα angeschlossen: Die Übereignung des Namens erfolgt mit dem Ziel, dass Gott selbst in diesem Namen angerufen werden kann. Die Durchsetzung der Gottesherrschaft hängt demnach daran, dass Jesus als Träger des heiligen Gottesnamens offenbar wird. Es fällt auf, dass an dieser Stelle – in V. 10a –, der ersten Stelle, an der der Name dessen, von dem die ganze Zeit geredet wurde, fällt, nur der einfache Name „Jesus“, und nicht „Jesus Christus“ steht. Manche Ausleger haben daraus gefolgert, dass hier in besonderer Weise das „Menschsein“ Jesu betont würde.139 Die Gefahr, dass der „Gottgleiche“ von der Person Jesu getrennt werden könnte, scheint im Ersten Johannesbrief greifbar zu werden, wo tatsächlich einige Male der Name „Jesus“ in einem solchen Zusammenhang genannt wird (1Joh 2,22; 4,3.15; 5,1.5).140 Bei Paulus hingegen wird der einfache Jesus-Name auch in Aussagen über seine Auferweckung (Röm 8,11; 2Kor 4,14) bzw. seine Parusie (1Thess 1,10; 4,14) verwendet.141 Ansonsten begegnet das einfache „Jesus“ in Aussagen, die vom Leiden und Sterben Jesu sprechen (2Kor 4,10f; Gal 6,17). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang 1Kor 12,3: Sowohl die Verfluchung (ἀνάθεμα Ἰησοῦς) als auch das Bekenntnis zu Jesus als κύριος (κύριος Ἰησοῦς) werden mit dem „einfachen“ Namen verbunden. „Jesus“ ist Gegenstand der Verkündigung (2Kor 4,5) und er kann auch „anders“ (und damit gar nicht) verkündigt werden (2Kor 11,4). Es geht demnach wohl auch in Phil 2,10 nicht einfach um die Betonung der rein menschlichen „Natur“ Jesu. Die Pointe liegt vielmehr darin, dass es diese Person ist, die in der Geschichte begegnet ist, in der das Heil der Menschen liegt. Für Paulus und die frühchristliche Tradition gibt es nicht „den Menschen Jesus“ auf 139 So etwa Gnilka, Phil, 127, der erklärt: „Der Jesusname kann in diesem Zusammenhang nur die Menschheit dessen betonen, der hier erhöht wurde.“ Vgl. Lohmeyer, Phil, 97: „In diese Ewigkeit tritt mit einzigem Gewicht der Namen einer geschichtlichen Gestalt, Jesus.“ Im Anschluss daran erklärt Käsemann, Kritische Analyse, 89, dass die Gemeinde „beim Hören des Hymnus nun eben doch an den historischen Jesus denken mußte“. 140 S. dazu Bauspiess, „Doketismus“, 213–217. Die in den Ignatiusbriefen abgewehrte Vorstellung, dass Jesus nur „zum Schein“ gelitten habe (IgnTrall 10,1; IgnSm 2,1, vgl. 4,2), lässt sich im Ersten Johannesbrief nicht greifen (aaO., 216f). Deshalb ist auch zu fragen, ob die Bezeichnung „Doketismus“ die Position, gegen die der Erste Johannesbrief argumentiert, trifft. Erschwert wird die präzise Fassung des Begriffs „Doketismus“ dadurch, dass die Bezeichnung δοκηταί in der Alten Kirche zur allgemeinen Bezeichnung von „Häretikern“ wurde (aaO., 207f). Besonders bemerkenswert ist die Formulierung „Jesus bekennen“ in 1Joh 4,3, die zeigt, dass der Verfasser meint, dass auch der Mensch Jesus nur angemessen erkannt wird, wenn er als der Sohn Gottes angesehen wird. Da die Bestreitung in V. 2 mit „Jesus Christus“ formuliert ist, zeigt aber auch, dass es eine Trennung zwischen „Jesus“ und „Jesus Christus“ für den Verfasser des Ersten Johannesbriefes nicht gibt. 141 Einfaches „Jesus“ bei Paulus in Röm 8,11; 1Kor 12,3; 2Kor 4,5.10.11.14; 11,4; Gal 6,17; 1Thess 1,10; 4,14.
Das Motiv des „Namens“ bei Deuterojesaja und in Phil 2,10f
der einen und „Jesus Christus“ auf der anderen Seite. Es wird nicht erkennbar, dass dies in Phil 2,10 anders wäre. Wie in 1Kor 12,3 wird in Phil 2,9b deutlich gemacht, dass es eben der Name Jesu ist, an dem sich alles entscheidet. Das Stichwort ὄνομα beherrscht die Verse 9 und 10: 9 διὸ καὶ ὁ θεὸς αὐτὸν ὑπερύψωσεν καὶ ἐχαρίσατο αὐτῷ τὸ ὄνομα τὸ ὑπὲρ πᾶν ὄνομα, 10 ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ πᾶν γόνυ κάμψῃ ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων
Der Artikel in V. 10a verweist auf V. 9b zurück. Demnach ist der heilige Gottesname nun mit dem Namen Jesu unlöslich verbunden.142 In der Person, die mit diesem Namen bezeichnet ist, kommt es zur Durchsetzung der Gottesherrschaft, indem sich „alle Knie“ beugen und damit Gottes Herrschaft anerkennen. Damit wird vorbereitet, was in V. 11 gesagt wird: Im Bekenntnis zu Jesus (κύριος Ἰησοῦς, vgl. 1Kor 12,3) wird Gott gelobt und kommt so zu seiner Ehre. Gottes Ehre wird darin manifest, dass er in der Geschichte Jesu zum Heil der Menschen gehandelt und seine Herrschaft in eschatologischer Perspektive aufgerichtet hat. Auch wenn die Wendung ὑπὲρ ἡμῶν im Hymnus nicht vorkommt, so ist der Sache nach erkennbar, dass diese Geschichte eine Geschichte für die Menschen ist. Der Fokus liegt dabei auf der Erkenntnis der Einzigkeit Gottes. Es ist deshalb bedeutsam, dass das Motiv des „Namens“ gerade in dem Abschnitt aus dem Jesajabuch begegnet, auf den Phil 2,10 anspielt und in dem die Frage der Einzigkeit Gottes eine besondere Rolle spielt: bei Deuterojesaja.
4.
Das Motiv des „Namens“ bei Deuterojesaja und in Phil 2,10f
Die beiden letzten Verse spielen offensichtlich auf einen Vers im Buch Deuterojesaja an, das Paulus auch in Röm 14,11 zitiert143 und auf das der Text in der Fassung der Septuaginta rekurriert.144
142 Diskutiert wird, ob der Genitiv als Apposition aufzufassen ist („… der Name Jesus“) oder aber als genitivus possesivus verstanden werden kann („der Name, den Jesus hat“). Zur Diskussion s. Häusser, Phil, 166f; Vollenweider, Name, 182. Häusser hält die Frage für nicht entscheidbar. Vollenweider spricht sich gegen ein Verständnis aus, nach dem der Name „Jesus“ hier wie der Gottesname behandelt werde. 143 In Röm 14,11 wird Jes 45,23 auf Gott bezogen und der in V. 10 genannte „Richterstuhl“ ist τὸ βῆμα τοῦ θεοῦ, während Paulus in 2Kor 5,10 von dem βῆμα τοῦ Χριστοῦ spricht. Dieses Nebeneinander löst Paulus nicht auf, weil es für ihn keine Alternative darstellt. 144 Häusser, Phil, 148.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Jes 45,23 LXX
Phil 2,10f ἵνα ἐν τῷ ὀνόματι Ἰησοῦ
ὅτι ἐμοὶ κάμψει πᾶν γόνυ
πᾶν γόνυ κάμψῃ ἐπουρανίων καὶ ἐπιγείων καὶ καταχθονίων
καὶ ἐξομολογήσεται πᾶσα γλῶσσα
καὶ πᾶσα γλῶσσα ἐξομολογήσηται ὅτι
τῷ θεῷ κύριος Ἰησοῦς Χριστὸς εἰς δόξαν θεοῦ πατρός
Im Zusammenhang von Jes 45,14–25 geht es um die Begegnung Gottes mit seinem Volk, das dazu aufgerufen wird, sich seinem Gott als dem einzigen Gott zuzuwenden (V. 22). Es handelt sich um einen „der monotheistischen Spitzentexte der hebräischen Bibel, dessen Cantus firmus das Deuterojesajabuch durchzieht“.145 Das Niederknien und Bekennen „aller Zungen“ bringt die Anerkennung des Gottes Israels als des einzigen Gottes zum Ausdruck. Bereits bei Jesaja findet sich der Hinweis auf die Universalität des Geschehens (πᾶν γόνυ bzw. πᾶσα γλῶσσα), aber der eschatologische Ausblick wird in Phil 2,10f noch einmal gesteigert, wenn nun neben den Menschen auch die „Himmlischen“ und die „Unterirdischen“ genannt werden,146 die die Gottesherrschaft anerkennen. Das Bekenntnis zu dem einen Gott erhält eine konkrete Fassung durch das Bekenntnis zum κύριος Ἰησοῦς Χριστός. Das Thema des „Namens“ begegnet nicht in Jes 45,23, aber an anderen Stellen bei Deuterojesaja.147 Die Vision, die Deuterojesaja insgesamt entwirft, geht bereits weit über den Gedanken der irdischen Gottesherrschaft hinaus.148 In diesem Zusammenhang spielt auch das Motiv des „Namens“ wiederholt eine Rolle.149 Es wird im Kontext der sogenannten „Gottesknechtslieder“ eingeführt. Dies geschieht im unmittelbaren Anschluss an das erste Gottesknechtslied (Jes 42,1–4), in Jes 42,8.150 Mit der Gestalt
145 Vollenweider, Name, 183. 146 Gemeint sind damit nicht nur die Lebenden, sondern auch die Engel im Himmel und die Toten in der Unterwelt, also der gesamte, Himmel, Erde und Totenreich umfassendes Kosmos (Häusser, Phil, 167f im Anschluss an Hofius, Christushymnus, 53). 147 Zum Motiv des „Namens“ bei Deuterojesaja und Phil 2,6–11 s. Vollenweider, „Name“; ders., Monotheismus, 18; Hofius, aaO., 109–122. 148 Jeremias, Theologie, 261 erklärt: „So kündigt sich schon mit dem allerersten Satz der Botschaft DtJes’ eine neue Gestalt der Prophetie an, die beansprucht, weit über die historische Stunde, in der sie ergeht, hinaus gültig und Teil des Weltenplans Gottes zu sein, an dessen Verwirklichung Himmel und Erde mit all ihren Kräften beteiligt sind.“ 149 Jes 42,8; 48,9.11; 50,10; 51,15; 52,6; 54,5; 57,15, vgl. Vollenweider, Name, 183. 150 In der Auslegung wird diskutiert, ob die Verse 5–9 mit 1–4 zu einer Gesamteinheit zusammenzunehmen sind, vgl. dazu Elliger, Deuterojesaja, 224.
Das Motiv des „Namens“ bei Deuterojesaja und in Phil 2,10f
des „Knechtes“ werden konkrete geschichtliche Erfahrungen – wie die „Befreiung“ des Volkes durch Kyros II. – verbunden. Auf diese Weise werden Heilserwartungen umgeprägt, wie sich an der Weiterentwicklung der Gottesknechtsvorstellung von Jes 42 bis hin zu Jes 53 erkennen lässt: Die Durchsetzung der Gottesherrschaft realisiert sich anders, als Menschen sich das von sich aus vorstellen.151 Dieses Bewusstsein macht deutlich, dass die menschliche Erwartung durch die Heilserweise Gottes immer wieder auch korrigiert und durchbrochen wird. Für den Propheten bedeutet die Exilserfahrung eine Infragestellung der Gottesherrschaft. In diesem Zusammenhang greift er auf die Schöpfungstheologie zurück. Jes 42,5 ruft den Gott Israels als den Schöpfer des Himmels und der Erde in Erinnerung, um in V. 6 an den ergangenen „Ruf “ Gottes an sein Volk zu erinnern. Das Schicksal seines Volkes zieht Gottes Ehre und Gottheit gleichsam in Mitleidenschaft, weil er sich mit diesem Volk fest verbunden hat. Der Prophet begründet die Hoffnung auf die Errettung des Volkes mit Gottes Willen zur Durchsetzung seiner eignen „Ehre“. In diesem Zusammenhang heißt es (Jes 42,8 LXX): ἐγὼ κύριος ὁ θεός, Ich bin Kyrios, Gott, dies ist mein Name; τοῦτό μού ἐστιν τὸ ὄνομα· τὴν δόξαν μου ἑτέρῳ οὐ δώσω οὐδὲ τὰς ἀρετάς μου τοῖς γλυπτοῖς.
ich werde meine δόξα keinem anderen geben und meinen Lobpreis (werde ich nicht) den Gottesbildern (geben).152
Der „Name“ (τὸ ὄνομα) und die δόξα Gottes hängen hier unmittelbar zusammen. Das hat diese Stelle mit Phil 2,9–11 gemeinsam. Mit Gottes „Namen“ verbindet sich sein Wesen, sein Selbsterweis gegenüber den Menschen, denen er sich mit seinem Namen offenbart.153 Die δόξα aber kann hier im Sinne der Gottheit Gottes verstanden werden.154 So identifiziert Gott sich selbst als Gott, indem er seinen „Namen“ offenbart. Diese Selbst-Offenbarung Gottes und der Erweis seiner Gottheit
151 Jeremias, Theologie, 276 macht darauf aufmerksam, „dass der kurze Text (sc. Jes 42,1–4 MT) von einem siebenfachen ,Nicht‘ bestimmt ist, mit dem das Handeln des Knechts von einem erwartbaren, üblichen Vorgehen abgehoben werden soll“. 152 Vgl. die Übersetzung bei Septuaginta Deutsch, 1266: „Ich bin der Herr, Gott, dies ist mein Name; meine Herrlichkeit werde ich keinem anderen geben und meine vollbrachten Leistungen (nicht) den Götzenbildern.“ 153 Elliger, Deuterojesaja, 237 formuliert: „Der Name ist in alten Zeiten nicht Schall und Rauch, sondern birgt das Wesen des so Benannten. Der Name besagt, was Jahwe wirklich ist, so daß man übersetzen könnte: ,Ich bin Jahwe; das bin ich wirklich und wesenhaft.‘“ 154 Ebd.: „Jahwe, das heißt ,der‘ Gott, der Schöpfer und Erhalter der ganzen Welt, der Lenker der Geschichte und der Menschheit. Diese Funktionen – so kann V. 8b fortfahren – sind Jahwes ,Ehre‘, d. h. das, woran seine Gottheit, und zwar seine alleinige Gottheit, zu erkennen ist, genauer das, was dem erkennenden Menschen ,imponiert‘ (Wurzel כבד,schwer sein‘) und ihn zum anerkennenden ,Lobpreis‘ zwingt.“
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
geschehen nach Phil 2,9–11 in der Offenbarung Jesu als κύριος. Hier wird der Gott erkennbar, der Jesus von den Toten auferweckt hat, und das Bekenntnis zu Jesus bedeutet die rettende Anerkennung seiner Gottheit. Röm 10,9 liegt ganz auf dieser Linie, die Phil 2,9–11 beschreibt. Bei Deuterojesaja wird deutlich: Gott selbst wahrt die Heiligkeit seines Namens und verteidigt damit seine „Ehre“, die aufgrund des Triumphs der Völker über Israel in Frage gestellt werden könnte. An die Stelle des Gottes Israels drohen „Götzenbilder“ zu treten und die Rolle Gottes im Leben der Menschen einzunehmen. Dieser Gedanke wird in Jes 48,11 (vgl. V. 9) noch einmal wiederholt: ἕνεκεν ἐμοῦ ποιήσω σοι, Um meinetwillen handle ich an dir, ὅτι τὸ ἐμὸν ὄνομα βεβηλοῦται, weil mein Name entweiht wird, καὶ τὴν δόξαν μου ἑτέρῳ οὐ δώσω. und meine Ehre gebe ich keinem anderen. Angesichts dieser Gefahr geht es darum, dass der wahre Gott sich als Gott erweist und als solcher angebetet und gepriesen wird.155 In diesem Zusammenhang wird gerade bestritten, dass Gott seine mit den heiligen „Namen“ verbundene „Ehre“ einem anderen geben könne. Im Blick ist damit der „funktionale Gottesbegriff “: Die Aussage polemisiert dagegen, dass anderen Größen als dem Gott Israels gottgleiche Verehrung zukommen dürfe. Von hier aus fällt ein Licht auf Phil 2,9: Wenn es dort heißt, dass Gott Jesus „den Namen, der über allen Namen ist“, gegeben hat, dann könnte dies zunächst als ein Widerspruch zu der Aussage von Jes 42,8 und 48,11 erscheinen. Tatsächlich wird so aber gerade die Pointe von Phil 2,9–11 erkennbar: Gott setzt gerade darin seine δόξα durch, dass er sich in der Geschichte Jesu Christi als der wahre Gott erweist: als Gott „der Vater“, der sich mit den Menschen so verbunden hat, dass die sich in der Undankbarkeit ausdrückende Trennung von Gott (Röm 1,21) überwunden wird. Mit diesem Gedanken knüpft der Hymnus an die Heilshoffnung Deuterojesajas an. Dort wird gerade angesichts der Erfahrung von Finsternis dazu aufgerufen „auf den Namen Jahwes“ (ְבֵּשׁם ְיה ָוה, LXX: ἐπὶ τῷ ὀνόματι κυρίου) zu hoffen (Jes 50,10). In Jes 51,15f ist die mit dem „Namen“ Gottes verbundene Erinnerung an Gottes Schöpfungshandeln mit der Erwartung seines gegenwärtigen Handelns an seinem Volk verbunden. Von Gottes „Schöpfersein“ wird also im Blick auf die Gegenwart Gottes geredet, auf die in der Gegenwart erfolgende Begegnung, die das „Namens“-Motiv vorbereitet. In Jes 52,6 wird dementsprechend gesagt: „Deshalb wird mein Volk meinen Namen erkennen“. Mit dem „Namen“ Gottes ist demnach die heilsame Zuwendung zu seinem Volk verbunden, in der das Volk seinen Gott erkennt. Durch sein Heilshandeln bestätigt Gott die
155 Es geht auch hier um die „soteriologische Einzigkeit Jahwes für Israel“ (so Landmesser, Gott, 125 im Zusammenhang mit der Auslegung von 1Kor 8,6).
Das Problem einer „Adam-Christologie“
Beziehung, die er in der Namensoffenbarung gestiftet hat. Gottes „Namen“ zu erkennen bedeutet demnach: den seinen Menschen zugewandten Gott zu erkennen. Im Namen erweist sich die Gegenwart Gottes für die Menschen. Diese Gegenwart Gottes ist nach Phil 2,9–11 in Jesus Christus Ereignis. Auch Jes 54,5 lässt ein Motiv aufleuchten, das sich in Phil 2,9–11 wiederfindet: Indem Gott sich als „Retter“ und als Schöpfer erweist, offenbart er seinen „Namen“, den am Ende „die ganze Erde“ anrufen wird. Es geht demnach um die Durchsetzung der Gottesherrschaft: Gottes „Identität“ muss sich angesichts der konkreten geschichtlichen Erfahrung der Menschen erweisen. Die Hoffnung der Menschen ist damit verbunden, dass Gott seine eigene „Ehre“ durchsetzt und deshalb als „Retter“ auftritt, der die „Heiligkeit“ seines Namens (Jes 57,15) darin erweist, dass er Trost und Frieden schenkt (Jes 57,18f). Dieser Erweis der Identität Gottes vollzieht sich nach Phil 2,6–11 durch den Weg des „Gottgleichen“ an das Kreuz und durch seine Auferweckung von den Toten, in der er seine Herrschaft über die Welt durchsetzt. Wer der wahre Gott ist, dessen Gegenwart das Heil der Menschen, die ihn anerkennen, bedeutet, das erweist sich nach Phil 2,6–11 im Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Diese Erkenntnis ruft Paulus gegenüber den Philippern in Erinnerung, wenn er sie aus dem Gefängnis heraus an die Nähe des κύριος erinnert, die trotz aller Bedrängnis Grund zur „Freude“ ist und den in Jes 57,19 verheißenen Frieden Gottes an ihnen verwirklicht (Phil 4,4–7, vgl. 3,3). Auch in Phil 2,6–11 wird die Jesus-Christus-Geschichte als eine „für-uns-Geschichte“ erzählt, denn in der Auferweckung des Gekreuzigten wird der Menschen der Weg zu Gott eröffnet. Der Hymnus erzählt eine Gottesgeschichte, die von der Durchsetzung der Gottesherrschaft erzählt, in die die Menschen hineingenommen werden.
5.
Das Problem einer „Adam-Christologie“
Die Beobachtung, dass der Hymnus eine Gottesgeschichte erzählt, spricht gegen die Deutung von Phil 2,6–11 im Sinne einer „Adam-Christologie“.156 Eine solche ist prominent von James D.G. Dunn in seinem Buch Christology in the making vorgetragen worden.157 Ähnlich wie bereits im Zusammenhang mit der Vorstellung Jesus Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ thematisiert,158 verbindet auch Dunns These
156 S. dazu O’Brian, Philippians, 263–268; Sahlin, Adam-Christologie; Standhartinger, Phil, 156–158. 157 Dunn, Christology, 98–128, zu Phil 2,6–11 aaO., 114–121, vgl. Wanamaker, Son of God or Adamic Christology?; Cullmann, Christologie, 180–182. Kritisch dazu bereits Bornkamm, ChristusHymnus, 179f. 158 S. dazu oben in Kapitel 6 dieser Arbeit.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
den Gedanken der „Gottheit“ Jesu Christi mit dem Motiv der „Gottebenbildlichkeit“. Dunn erklärt Phil 2,6–11 „as an expression of Adam christology, one of the fullest expressions that we still possess“.159 Jesus Christus werde hier als Gegenbild zu Adam dargestellt: Jener sei mit derselben „archetypal choice“ wie Adam konfrontiert gewesen, habe sich – im Gegensatz zu Adam – aber nicht dazu entschieden, die „Gottgleichheit“ zu wählen.160 Während Adam durch den „Fall“ ein Sklave geworden sei, habe Christus freiwillig die Gestalt eines „Sklaven“, d. h. eines der Sterblichkeit unterworfenen Menschen gewählt.161 Dunn setzt das Wort μορφή in Phil 2,6a inhaltlich gleich mit εἰκών, so dass die Wendung ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων im Sinne der in Gen 1,26f ausgesagten „Gottebenbildlichkeit“ des Menschen aufzufassen sei (Gen 1,27a LXX: καὶ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον, κατ᾽ εἰκόνα θεοῦ ἐποίησεν αὐτόν).162 Schließlich kombiniert Dunn die Aussage über die „Gottebenbildlichkeit“ mit der Versuchung des ersten Menschenpaars durch die Schlange in Gen 3,5, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, die mit der Verlockung, dass die Menschen „wie Gott sein“ würden (ἔσεσθε ὡς θεοί), motiviert wird. Diese Aussage meint Dunn in der Wendung εἶναι ἴσα θεῷ wiederfinden zu können. Gemeint wäre dann: Jesus ist der „gottebenbildliche Mensch“, der im Gegensatz zu Adam nicht danach greift, wie Gott zu sein, sondern „Knechtsgestalt“ wählt und deshalb „erhöht“ wird. Gegen diese Deutung spricht allerdings bereits die Beobachtung, dass sich ein solches Verständnis der „Ursünde“ Adam nicht belegen lässt.163 So fehlt in frühjüdischen Quellen bislang ein Hinweis darauf, dass der Griff nach der „Gottgleichheit“ als die Ursünde Adams verstanden worden wäre.164 Vielmehr versteht das Judentum, wie auch Paulus selbst, den „Fall“ Adams als die „Übertretung“165 des „Gebotes“.166 Dunns Deutung resultiert aus einer Kombination von Gen 1,26f und 3,15, die am Text von Phil 2,6f keinen Anhalt hat und sich auch durch die frühjüdische Literatur nicht stützen lässt. Das bedeutet: Jesus wird in Phil 2,6–11 nicht als der „gottebenbildliche Mensch“ dargestellt. Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und von Jesus Christus als εἰκὼν τοῦ θεοῦ (2Kor 4,4) gilt es ebenso auseinanderzuhalten wie die Rede von der δόξα des Menschen (1Kor 2,7; Röm 3,23; 8,21) und der δόξα als Ausdruck für Gottes 159 Dunn, aaO., 114. 160 AaO., 117: „Christ faced the same archetypal choice that confronted Adam, but chose not, as Adam had chosen (to grasp equality with God).“ 161 Ebd. 162 Dunn, Christology, 115. 163 Hofius, Christushymnus, 117–120; Vollenweider, „Raub“, 419. Auch Müller, Phil, 95 erklärt, dass der Aspekt der Versuchung, wie Gott sein zu wollen im Sinne von Gen 3,5 „durch nichts angedeutet“ sei. 164 Hofius, aaO., 118f. 165 Vgl. die Rede von der παράβασις in Röm 5,14 und vom παράπτωμα in Röm 5,15.17f. 166 Vgl. die Rede von der ἐντολή im Röm 7,7–13. Hofius, Christushymnus, 119f.
Gottesverständnis und Ethik im Philipperbrief
Gottheit (1Kor 2,8; Phil 2,11).167 Die Jesus-Christus-Geschichte wird in diesem Text nicht als die Geschichte eines exemplarischen Menschen erzählt, sondern als die Geschichte dessen, in dem Gott selbst als Mensch unter die Menschen tritt und damit die Gemeinschaft mit sich selbst eröffnet.
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Gottesverständnis und Ethik im Philipperbrief
Es ist deutlich geworden, dass der von Paulus in Phil 2,6–11 aufgenommene Text ein Bild von der Gottesherrschaft entwirft, das von der Jesus-Christus-Geschichte aus geprägt ist. Es ist demnach ein ganz bestimmtes Gottesverständnis, das hier entworfen wird und das für die Glaubenden konkret Orientierung geben kann. Die Frage, wie Phil 2,6–11 zu verstehen ist, entscheidet deshalb mit darüber, wie der Bezug dieser Geschichte auf das Leben der Glaubenden genau bestimmt werden kann. Paulus leitet den Text mit einem Imperativ ein, der für das Verständnis der Einbettung in den Kontext entscheidend ist: τοῦτο φρονεῖτε ἐν ὑμῖν ὃ καὶ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (Phil 2,5). Die Wirklichkeit, die der Hymnus beschreibt, lässt sich für Paulus demnach als die Wirklichkeit der glaubenden Existenz ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ beschreiben.168 Da der Hymnus nicht auf bestimmte Einzelereignisse des Lebens Jesu abhebt, sondern seine gesamte Geschichte als Gotteshandeln beschreibt,169 legt es sich nahe, am Ende von Phil 2,5 nicht ein Vergangenheitstempus (ἦν), sondern ein präsentisches ἐστίν zu ergänzen: Der Hymnus beschreibt eine gegenwärtige Gottes-Wirklichkeit, ein Geschehen, das gleichsam einen „Raum“ eröffnet, in dem sich die Glaubenden bewegen.170 Dass der irdische Jesus hier als „Vorbild“ in Erinnerung gerufen würde, legt sich vom Gesamtzusammenhang her nicht nahe.171
167 S. dazu oben die Ausführungen in Kapitel 3 dieser Arbeit. 168 So bereits Dibelius, Phil, 72, dagegen Häusser, Phil, 150, der meint, man müsse dann zwingend ein φρονεῖν δεῖ ergänzen (so etwa Käsemann, Kritische Analyse, 91). 169 Zentral ist die oben herausgearbeitete Einsicht, dass für den Hymnus die entscheidende „Tat“ Jesu der Weg an das Kreuz ist. Seine Menschwerdung geschieht mit diesem Ziel. Es ist also kein bestimmtes „ethisches“ Verhalten, dass mit „Erniedrigung“ gemeint ist, sondern das „Eingehen in die menschliche Daseinsweise“, die auf den Tod zuläuft (s. o.). 170 So bereits Barth, Phil, 53: „ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ bezeichnet eben die Wirklichkeit, den Ort, den Raum, in dem sich die Angeredeten befinden.“ 171 Vgl. Fee, Phil, 92, der zwischen einer Ergänzung mit „was“ oder „is“ allerdings keine Alternative eröffnen möchte und zu einer „ethischen“ Interpretation tendiert, s. auch Häusser, Phil, 150f, der ähnlich argumentiert, dann allerdings feststellt, dass „christliche Ethik nicht auf die imitatio des Beispiels Christi verkürzt werden dürfe.“ AaO., 151.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Phil 2,5 ließe sich demnach übersetzen: „Seid so untereinander gesinnt, wie es in Jesus Christus ist“.172 Christof Landmesser hat auf die charakteristische Verwendung der Imperative im Gesamtabschnitt Phil 1,27–2,18 aufmerksam gemacht,173 die für den Zusammenhang von Soteriologie und Ethik im Philipperbrief entscheidend ist. Die von Käsemann eröffnete Alternative zwischen einer „ethischen“ und einer „soteriologischen“ Interpretation enthält eine wichtige theologische Differenzierung, die sich nicht einfach einebnen lässt.174 Sichtbar wird das daran, dass sich Käsemann in diesem Zusammenhang von Lohmeyers Deutung absetzt, Paulus wolle mit dem Verweis auf Jesu Tod am Kreuz in Phil 2,8b auch die Philipper zur Bereitschaft zum Martyrium auffordern.175 Demgegenüber hatte Käsemann – im Anschluss an Karl Barth – festgestellt, dass „die Christologie“ – es lässt sich ergänzen: und die „Gotteslehre“ – „im Rahmen der Soteriologie in den Blick“ komme.176 Die Philipper sollen nicht wiederholen, was Christus am Kreuz getan hat, sie sollen vielmehr aus der in Kreuz und Auferstehung eröffneten Wirklichkeit heraus leben.177 Der Aspekt der „soteriologischen“ Interpretation des Hymnus verweist auf die Unterscheidung von Soteriologie und Ethik, die freilich beide Aspekte nicht voneinander trennt, sondern gerade ihren Zusammenhang beschreibbar macht. Dieser Zusammenhang lässt sich im Kontext von Phil 1,27–2,18 an mehreren Motiven beobachten: In Phil 2,2 begegnet das Motiv der „Freude“, das für den Philipperbrief charakteristisch ist (Phil 1,4, vgl. 1Thess 1,6; Phil 2,19; 3,1a; 4,1.4): Es verweist darauf, dass
172 Das Verb φρονεῖν bedeutet zunächst „denken“, „urteilen“, „meinen“, dann aber auch „den Sinn richten auf “, „bedacht sein auf “ und schließlich „gesinnt sein“ (Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1726f s.v. φρονέω). 173 Landmesser, Performativ, 551f. Landmesser weist auch darauf hin, dass der Abschnitt insgesamt durch Imperative strukturiert wird: Er nennt πολιτεύεσθε (1,27), πληρώσατε (2,2), φρονεῖτε (2,5); κατεργάζεσθε (2,12), ποιεῖτε (2,14), χαίρετε καὶ συγχαίρετέ μοι (2,18). Zur Verwendung der Imperative als Performative s. u. 174 Gegen die oben genannten Auffassungen von Berger und Vollenweider. 175 Lohmeyer, Phil, 96 paraphrasiert die paränetische Absicht des Paulus mit den Worten: „Wie er gehorsam bis zu solchem Tode war, so seid auch ihr es.“ 176 Käsemann, Kritische Analyse, 71, vgl. aaO., 91: „Paulus selber hat also im Hymnus eine Darstellung des Heilsgeschehens erblickt.“ Barth, Phil, 53: „Nicht durch den Verweis auf das Beispiel Christi will Paulus das in V. 1–4 Gesagte bekräftigen, sondern indem er das Sinnen, von dem da die Rede war, gleichsetzt dem Sinnen, das geboten, das selbstverständliche Aufgabe ist, innerhalb der mit der Formel ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (in Christus Jesus), bezeichneten Ordnung.“ 177 Ähnlich Becker, Mimetische Ethik, 233, die mit Recht feststellt, dass die Philipper von Paulus gerade nicht aufgefordert werden, „wie Christus zu leiden, sondern für ihn bzw. seinetwegen Leiden auf sich zu nehmen (1,29: […] τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν)“. Becker spricht deshalb (mit Jürgen Roloff) von einem „Christusprinzip“. Die Formulierung ist dann treffend, wenn das „Prinzip“ als strukturgebendes Moment und damit als wirklichkeitsbegründend verstanden wird.
Gottesverständnis und Ethik im Philipperbrief
Paulus das Handeln Gottes an den Glaubenden wahrnimmt.178 Der κύριος, von dem Phil 2,6–11 redet, ist der Grund der Freude, und zwar deshalb, weil er „nahe“ ist (Phil 4,5). Er ist für Paulus eine gegenwärtige Person, die das Leben der Glaubenden bestimmt. Wenn Paulus davon spricht, dass die Philipper „seine Freude voll machen“ sollen (2,2), dann ist damit offensichtlich gemeint: Sie sollen sich in ihrem Alltagsleben von dem Geschehen bestimmen lassen, das der Hymnus besingt. Es ist gut denkbar, dass Paulus sie konkret an den bei ihnen gefeierten Gottesdienst erinnert: In diesem wird Jesus als gegenwärtiger Herr gefeiert und damit gleichzeitig Gott die Ehre gegeben. Was sich universal erst in der Zukunft realisiert, das ist in der Gemeinde bereits Gegenwart, denn „in der Gemeinde wird ja schon in der Gegenwart Gott die Ehre gegeben mit dem Bekenntnis κύριος Ἰησοῦς Χριστός (Phil 2,11 in Verbindung mit Röm 10,13)“.179 Der Imperativ „richtet untereinander den Sinn auf das, was in Jesus Christus (der Fall ist)“ (Phil 2,5) ist im Grunde genommen keine Aufforderung, sondern ein Zuspruch jener Wirklichkeit, die der Hymnus besingt. Soteriologie und Ethik sind bei Paulus nicht voneinander zu trennen,180 sie lassen sich aber dennoch voneinander unterscheiden. Dabei ist der Begründungszusammenhang entscheidend: Das Handeln eines Menschen bewirkt nach Paulus nicht die Gottesgemeinschaft, sondern umgekehrt versetzt die in Christus hergestellte und bestehende Gottesgemeinschaft einen Menschen in die Freiheit zu handeln. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, hat Landmesser vorgeschlagen, an die Stelle des Begriffspaares von „Indikativ“ und „Imperativ“ den Begriff eines „christologischen Performativs“ zu setzen. Dieses ist „die Sprachform, mit welcher dem Hörer wirksam zugänglich gemacht wird, wovon die Rede ist“.181 Diese Pragmatik, die Phil 2,6–11 für Paulus hat, unterstreicht noch einmal die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier einen Text vor uns haben, der seinen ursprünglichen Sitz im Leben im Gottesdienst hat. Damit bestätigt sich die Bedeutung, die das gottesdienstliche Bekenntnis für die paulinische Rede von Gott hat, denn der Gottesdienst ist der Ort, an dem Gottes Gegenwart gefeiert und bekannt wird. Zwei Stichworte aus dem Hymnus verknüpfen ihn mit seinem unmittelbaren Kontext und machen die Verbindung von Glaubensbekenntnis und Ethik deutlich:
178 Zum Motiv der „Freude“ im Philipperbrief s. von Gemünden, Freude. Von Gemünden bemerkt abschließend, bei Paulus erfülle „die Freude schon die Gegenwart und spannt sich bis in die Zukunft – die Äonenwende ist für ihn ja schon in Christi Tod und Auferstehung heraufgeführt und harrt ihrer Vollendung bei dessen Parusie.“ AaO., 253. 179 Landmesser, Performativ, 551. 180 AaO., 577. 181 AaO., 575. Hier werden Einsichten aus der Sprechakt-Theorie John L. Austins aufgenommen, vgl. Landmesser, Wahrheit, 10–13. Zu der damit verbundenen Diskussion in der Paulusforschung s. Zimmermann, Jenseits von Indikativ und Imperativ. Auch der Gedanke von „Transformation und Partizipation“ (Schnelle, Paulus, 463) tendiert in die damit eingeschlagene Richtung.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Paulus erinnert die Philipper daran, dass sich nicht in κενοδοξία – in sinnloser „Ehrsucht“ leben sollen (V. 3a). Das Gegenbild zur κενοδοξία ist in V. 3b die ταπεινοφροσύνη. Ganz konkret wird damit beschrieben, was das Christusgeschehen für die Glaubenden bedeutet: Wenn die „Erniedrigung“ Jesu, nämlich sein Gang an das Kreuz (2,8) gerade dazu führt, dass am Ende Gott zu seiner „Ehre“ (δόξα) kommt (2,11), dann spiegelt sich darin das Geschehen wieder, von dem die Glaubenden leben und das nun auch ihr Miteinander prägen soll: Sie sollen deshalb nicht wie Jesus am Kreuz sterben, wohl aber in „Liebe“ (ἀγάπη, V. 2) miteinander leben und gerade auf das achten, was dem anderen dient (V. 4).182 Wird Gott in Jesus Christus als ein Gott „für uns“ erkennbar, dann kann nun auch das Leben der Glaubenden ein Leben „füreinander“ sein. Wie sehr das Gotteshandeln das Leben der Glaubenden prägt, unterstreicht der sich an den Hymnus anschließende Abschnitt 2,12–18. Die Aussage in V. 12, dass die Glaubenden „mit Furcht und Zittern ihr eigenes Heil wirken“ sollen (μετὰ φόβου καὶ τρόμου τὴν ἑαυτῶν σωτηρίαν κατεργάζεσθε), wird in V. 13 damit erläutert (der Satz wird mit einem begründenden γάρ eingeleitet!), dass Gott es ist, der das Wollen und Wirken bewirkt (θεὸς γάρ ἐστιν ὁ ἐνεργῶν ἐν ὑμῖν καὶ τὸ θέλειν καὶ τὸ ἐνεργεῖν ὑπὲρ τῆς εὐδοκίας). Der sich daran anschließende Imperativ: πάντα ποιεῖτε χωρὶς γογγυσμῶν καὶ διαλογισμῶν (V. 14) bestätigt, dass die durch Gott selbst geschaffene Wirklichkeit das Leben der Glaubenden in einem umfassenden und tiefgreifenden Sinn bestimmt. Die Perspektive, die der Hymnus eröffnet, bestimmt den Philipperbrief von seinem Anfang an. So richtet Paulus seine Adressaten bereits in Phil 1,6 auf den „Tag Christi“ aus (vgl. 1,10; 2,16). Mit dem hier aufgenommenen Motiv des „Tages Christi Jesu“, hinter dem traditionsgeschichtlich die יוֹם יהוה-Tradition steht,183 ist das Thema der Eschatologie von Anfang an präsent. Das „Werk“, dessen Vollendung Paulus Phil 1,6 zufolge erwartet, ist Gottes Werk. Der Glaube richtet die Philipper auf den kommenden „Tag“ hin aus, und diese Ausrichtung bestimmt ihr gegenwärtiges Leben. Ein solcher Ausblick findet sich auch in anderen paulinischen Schreiben, insbesondere im Ersten Thessalonicherbrief, wo zu Beginn von der „Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ (1Thess 1,3) die Rede ist. Aus dem Gesamtzusammenhang des Ersten Thessalonicherbriefes wird deutlich, dass diese Perspektive ein zentrales Thema des Schreibens darstellt (1Thess 1,9f; 2,19;
182 Vgl. Migliore, Philippians, 82 (s. o.). 183 S. dazu Wendebourg, Tag des Herrn, 177f: „Wie in 1Kor 1,8 ist der Tag „forensisch“ gedacht. An ihm werde darüber befunden, ob die Gemeinde diesem [von Gott gesetzten] Anfang gemäß [dem „ersten Tag“ Phil 1,5] gelebt hat“ (aaO., 178). Dabei spreche Paulus der Gemeinde auch den „Beistand Gottes“ zu. Das ist m. E. zu wenig gesagt. Denn das Kommen Jesu Christi zu seiner Gemeinde am „Tag des Herrn“ (1Thess 5,2) bzw. am „Tag Jesu Christi“ (Phil 1,6) bedeutet für die Glaubenden die Rettung vor dem Zorngericht und damit umfassendes Heil und Leben.
Gottesverständnis und Ethik im Philipperbrief
3,13; 4,13–18), in 5,1–11 in ausdrücklicher Aufnahme der יוֹם יהוה-Tradition.184 Diese verdankt sich wohl ursprünglich dem Gedanken an Gottes rettendes Eingreifen im Krieg. In der Tradition der Gerichtsprophetie wandelt es sich dann aber in eine Gerichtsansage an Israel (Am 5,18–20, vgl. Jes 2,11ff).185 Das Motiv steht auch im Eingangsteil des Ersten Korintherbriefs (1Kor 1,8).186 Im Ersten Thessalonicherbrief wird besonders deutlich, dass der „Tag“ der Parusie Christi für die Glaubenden kein Tag des bedrohlichen Gerichts ist. Nach 1Thess 1,10 werden die Glaubenden gerade dem „Zorngericht“, das offensichtlich ein Vernichtungsgericht ist, entnommen. Nach 1Thess 5,9 sind sie gerade nicht zum Zorngericht bestimmt. Auch in der Danksagung des Philipperbriefs geht es für Paulus mit dem eschatologischen Ausblick nicht um ein „Drohen“ mit dem Gericht, sondern vielmehr um die Eröffnung einer Perspektive zur Wahrnehmung der eigenen Gegenwart. Erwartet die alttestamentliche Tradition das Kommen Jahwes, so wird nun das Kommen Jesu Christi erwartet. Bereits darin zeigt sich, dass das für die Gotteslehre zentrale Theologumenon des Endgerichts bei Paulus eine christologische Interpretation erfährt, mit der er auf dem Boden der frühchristlichen Tradition steht. Dem entspricht, dass der eschatologischen Anrufung des Gottesnamens zur Rettung (Joel 3,5a) der Anrufung Jesu Christi entspricht, mit der das Heil verwirklicht wird (Phil 2,11, vgl. Röm 10,9, vgl. V. 13) und die Einzigkeit Gottes anerkannt wird, indem Jesus Christus bekannt wird. Phil 2,11 ist deshalb – wie 1Kor 8,6 – Ausdruck eines „christologischen Monotheismus“.187
184 AaO., 158–168. 185 Vgl. aaO., 81–85. 186 AaO., 172–177. Wendebourg sieht den Sinn des Hinweises auf den „Tag des Herrn“ im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung der „Enthusiasten“ in Korinth. Paulus erinnere die Gemeinde daran, „daß die Korinther noch nicht am Ziel sind“ (aaO., 173). Dieser Text steht Phil 1,6.10 besonders nahe (aaO., 177). Der „eschatologische Ausblick“ gehört demnach zu „den wiederkehrenden Bestandteilen der Danksagung“ (aaO., 172). 187 Vollenweider, Name, 183. Damit unvereinbar ist m. E., was Paulus in 1Kor 15,24–28 ausführt. Denn nur hier spricht Paulus davon, dass „der Sohn“ sich nach der Vollendung seines Erlösungswerkes Gott unterwerfen werde (V. 28). Damit wird eine deutlich andere Vorstellung entworfen, als dies in Phil 2,10f, aber etwa auch in 1Thess 4,17b der Fall ist, wo sich gerade in der Gemeinschaft mit Jesus Christus auch die Gottesgemeinschaft vollendet. Die ältere Auslegung hat das damit verbundene Problem sehr viel schärfer erkannt, als dies in der neueren Forschung der Fall zu sein scheint. So bemerkt etwa Heinrici, 1Kor, 474, Anm. 1 zu 1Kor 15,24–28: „Das eschatologische Stück hebt sich als eigenartig von allen sonstigen Endverkündigungen ab.“ Vgl. das Referat der Erklärungsversuche seit der Alten Kirche aaO., 473f und die Bemerkung bei Bachmann, 1Kor, 449, Anm. 1, die andeutet, welche Probleme die Stelle der später entwickelten Trinitätslehre gemacht hat. Jantsch, Gottesverständnis, 273–293 erörtet das Problem und stellt am Ende fest, dass „diese Frage letztendlich offen bleiben“ müsse. Bemerkenswert ist, dass in 1Kor 15,24–28 der absolut gebraucht Titel ὁ υἱός (V. 28) dem absolut gebrauchten Titel ὁ πατήρ (V. 24) gegenübersteht. Die konsequente wechselseitige Erschließung beider Prädikationen wird damit verlassen. Da 1Kor 15,29 sehr gut an
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Im Blick auf die Einbettung von Phil 2,6–11 in den Kontext des Philipperbriefs ist die Beobachtung interessant, dass das Motiv des „Tages Christi“ in dem sich unmittelbar anschließenden Abschnitt 2,12–18 noch einmal vorkommt (V. 16). In diesem Zusammenhang wird – ähnlich wie in 1,6 – betont, dass Gott die Erlangung des Heils am Gerichtstag wirkt (2,13). Besonders nahe zur Perspektive von Phil 2,6–11 ist das Motiv des „Tags Christi“ im Kontext von Phil 1,10. Was in Phil 1,9–11 im Blick auf die Existenz der Glaubenden ausgeführt wird, das findet in Phil 2,9–11 im Blick auf das Handeln Gottes in Jesus Christus seine Entfaltung. So lässt sich Phil 2,9–11 gleichsam als Entfaltung der Wendung διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ in Phil 1,11 begreifen. Nach Phil 1,11 führt die „Frucht der Gerechtigkeit, die in Jesus Christus besteht“, also die Existenz der Glaubenden, die von Gott selbst ins Werk gesetzt worden ist und vollendet wird (Phil 1,5f) εἰς δόξαν καὶ ἔπαινον θεοῦ – „zur Ehre und zum Lob Gottes“. Dem entspricht es, wenn im Hymnus die „Erhöhung“ Jesu Christi εἰς δόξαν θεοῦ πατρός geschieht (Phil 2,11). Das Gotteslob ist damit als eschatologisches Ziel benannt. Dass Gott zu seiner „Ehre“ (δόξα) kommt, ist die Umkehrung dessen, was Paulus in Röm 1,21 als Kennzeichen der Trennung des Menschen von Gott beschrieben hat: Indem das Gotteslob laut wird, erhalten Schöpfer und Geschöpf den ihnen gemäßen Ort. Indem das in Jesus Christus bestehende „Werk“ am Ende als letzte Wirklichkeit erwiesen wird, kommt es zur Anerkennung der Gottheit Gottes. Genau darauf läuft auch der Christushymnus in Phil 2,11 hinaus. Die in 1,6 anvisierte Vollendung des „Werkes“ Gottes am „Tag Christi“ zielt demnach auf die Durchsetzung der Gottesherrschaft. Es bedeutet dabei keine „Relativierung“ der Bedeutung Jesu Christi, wenn sowohl Phil 1,11 als auch 2,11 in das Gotteslob münden.188 Vielmehr wird darin deutlich, dass Paulus eben von Gottes Herrschaft und Wirklichkeit redet, wenn er von Jesus Christus spricht. Dass diese Rede von Gott auch eine politische Dimension gewinnen könnte, deutet Paulus in Phil 1,27 zumindest an. Der Abschnitt 1,27–2,18 wird mit einem der angesprochenen Imperative eröffnet, dessen Formulierung auffällig ist. Nur
V. 23 anschließt, ist zu erwägen, ob es sich bei dem Abschnitt um eine Glosse handelt. In jedem Fall lässt sich 1Kor 15,24–28 nicht zum Ausgangspunkt der Erklärung der paulinischen Rede von Gott machen. Zur nach-paulinische Rezeption der Stelle s. Eph 1,20–23 (vgl. Gese, Vermächtnis, 191). Hier wird nun gerade betont, dass Christus „alles in allem (τὰ πάντα ἐν πᾶσιν) erfüllt“ (V. 23). Wird hier eine „Korrektur“ von 1Kor 15,24–28 vorgenommen? 188 So bemerkt allerdings Brucker, Christushymnen, 301 zum Proömium Phil 1,3–11, die Hinweise auf den Tag Christi werde „eingerahmt und damit relativiert durch das Lob Gottes“. Brucker weist mit Recht darauf hin, dass sich das Gebet des Paulus in 1,3.9 an Gott richtet und dass Gott es ist, der „das Werk“ nach 1,6 in den Philippern „vollenden“ wird. Das bedeutet aber doch nur, dass eben Gott in Jesus Christus handelt. Ähnlich erklärt Brucker aaO., 317, dass die Aussagen über Christus in Phil 2,11 und Röm 15,7 durch die an Gott gerichtete Doxologie „ihre Relativierung“ finden. Hier ist eine Alternative vorausgesetzt, die Paulus gerade nicht kennt.
Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“
an dieser Stelle findet sich in den Paulusbriefen das Verb πολιτεύεσθαι.189 Es kann die Bedeutung „Bürger sein“ haben,190 aber eben auch allgemeiner „sein Leben führen“ bedeuten.191 Es liegt nahe, dass Paulus das Wort bewusst gebraucht und es im Zusammenhang mit dem ebenfalls nur einmal gebrauchten Nomen πολίτευμα in Phil 3,20 verwendet.192 In Phil 3,20 ist deutlich, dass mit dem πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς eine transzendente, „himmlische“ Wirklichkeit gemeint ist. Diese transzendente Wirklichkeit wird im Evangelium zur Sprache gebracht. An beiden Stellen wird sichtbar, dass die Wirklichkeit, von der die Christen bestimmt werden, an Jesus Christus gebunden ist, oder präziser: dass diese Wirklichkeit in Jesus Christus besteht.193 Es ist die transzendente Wirklichkeit Gottes, die hier zur Sprache gebracht wird, deren universales Offenbarwerden mit dem „Tag des Herrn“-Motiv verbunden ist. So ist die Rede von Gott mit der Rede von Jesus Christus unlöslich verbunden. Wenn Paulus den Abschnitt Phil 1,27–2,18 mit dem Zuspruch dieser Wirklichkeit einleitet, dann erinnert er die Glaubenden wirksam daran, wovon sie leben und worauf sie zugehen.194
7.
Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“
Es ist deutlich geworden, dass es in Phil 2,6–11 um eine inhaltliche Bestimmung der Gottesherrschaft geht, die das gegenwärtige Leben der Glaubenden bestimmt. Bei der Rede von der „Übereignung“ des Gottesnamens an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus geht es „um die Selbstbestimmung Gottes durch Jesus Christus“.195 In Phil 2,6–11 ist deshalb nicht von einer „Vergottung“ eines Menschen die Rede, es handelt sich hier vielmehr um die Entfaltung der Gegenwart Gottes in diesem Menschen, in Jesus, um seine „paradoxe Identität“, die den Gottesglauben der Christusgläubigen bestimmt. Eine „Adam-Christologie“ wird hier ebenso wenig entworfen wie eine „Vorbild“-Christologie. Die Geschichte Jesu Christi begründet vielmehr einen Wirklichkeitsraum, in dem die Glaubenden leben. Bereits 189 Im Neuen Testament begegnet es darüber hinaus nur noch ein einziges Mal, in Apg 23,1. 190 Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1376, s.v. πολιτεύομαι 1. 191 2Makk 6,1; 11,25; 3Makk 3,4; 4Makk 2,8; 1Clem 21,1; Pol 5,2 (Bauer/Aland, 6 Wörterbuch, 1376, s.v. πολιτεύομαι 3). 192 Landmesser, Performativ, 555; Vollenweider, Politische Theologie, 459. S. dazu auch Ebel, „Unser πολίτευμα aber ist in den Himmeln“ (Phil 3,20), 153–168. 193 Landmesser, aaO., 555 formuliert: „Der Ausdruck umschreibt in Phil 3,20 den Sachverhalt, der das Leben der Christen jetzt schon gültig bestimmt: die Zugehörigkeit zur Gottesgemeinschaft und damit die Zugehörigkeit zu dem Retter und Herrn Jesus Christus, der vom Himmel her erwartet wird.“ 194 Vgl. aaO., 575. 195 Vollenweider, Monotheismus, 14.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Käsemann hat auf eine gewisse Verwandtschaft der Vorstellungen einer „AdamChristologie“ zu einer „Engel-Christologie“ hingewiesen.196 Die Entscheidung, mit der Adam auf der Erde konfrontiert war, wird hier gleichsam in die himmlische Welt verlegt: Nun ist es ein Engelwesen, das seine „Gottheit“ nicht festhält, sondern preisgibt. Von einer solchen „Entscheidung“ spricht Phil 2,6–8 aber gar nicht. Die erste Strophe des Hymnus erzählt vielmehr den Gegensatz von θεός und ἄνθρωπος, der im Gekreuzigten zusammenfindet. Deshalb erweisen sich sowohl eine Auslegung im Sinne einer „Adam-Christologie“ als auch im Sinne einer „Engelchristologie“ als unsachgemäß. Denn die Art und Weise, in der Phil 2,6–11 von Jesus Christus redet, verdankt sich weder einem „Mythos“ noch der Vorstellung von verschiedenen „Göttern im Himmel“. Sie verdankt sich der Begegnung mit der Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Diese Begegnung prägt das Leben der Glaubenden. Das Zusammenleben der Glaubenden wird durch diesen inhaltlich präzise bestimmten Gottesglauben geprägt. Der christliche Gottesglaube gewinnt auf diese Weise in den Paulusbriefen eine klar erkennbare Kontur, die ihn vom jüdischen Gottesglauben unterscheidet. Hier ist noch einmal auf die Kritik Wolfgang Schrages zurückzukommen, die dieser an der These Hurtados geäußert hatte, wonach die Entstehung der frühen Christologie als eine Art „Explosion“ zu verstehen sei.197 Mit dem Hinweis auf 1Hen 48,5 macht Schrage geltend, dass bereits im Frühjudentum bestimmten „Mittlergestalten“ kultische Verehrung entgegengebracht worden sei.198 Diese Diskussion begegnet heute bei Peter Schäfer wieder.199 Mit Daniel Boyarin teilt Schäfer die Überzeugung, „dass binitarische Vorstellungen fest im Judentum des Zweiten Tempels verankert sind“.200 Er unterscheidet sich aber von Boyarin in der Beurteilung der Entwicklung der frühchristlichen Christologie. Diese sei nicht als einfache Fortschreibung frühjüdischer Vorstellungen zu verstehen, sondern die frühjüdischen Vorstellungen seien ihrerseits auch „als Antwort auf die neutestamentliche Botschaft von Jesus Christus“201 zu begreifen. So geht Schäfer von Wechselwirkungen zwischen Frühjudentum und entstehendem Christentum aus, in der sich die Vorstellung zweier „Götter im Himmel“ im Judentum herausbildet. Die Pointe des 196 Käsemann, Kritische Analyse, 70 bemerkt zu einer Interpretation von Phil 2,6b (οὐχ ἁρπαγμὸν ἡγήσατο τὸ εἶναι ἴσα θεῷ) im Sinne einer res rapienda, diese Erklärung setze voraus, „daß Christus die Versuchung bestanden hat, der Adam oder Satan bei seinem Offb. 12,4ff. erwähnten Himmelssturz zum Opfer gefallen sind“. Bei Cullmann, Christologie, 181f wird dieser Zusammenhang deutlich: Mit der „Gestalt Gottes“, in der Jesus Christus nach Phil 2,6 „im Uranfang war“, sei „gerade die Gestalt des Himmelsmenschen gemeint …, der allein Gottes echtes Ebenbild darstellt“. 197 Hurtado, Jesusverehrung, 271. 198 Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 160f. 199 Schäfer, Götter, 53–56. 200 AaO., 155. 201 AaO., 156.
Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“
Frühchristentums bestehe dabei darin, dass die zweite göttliche Gestalt Mensch wird, während „im Judentum des Zweiten Tempels die göttliche oder halbgöttliche Gestalt neben Gott niemals Mensch“ werde.202 Es stellt sich aber die Frage, in welcher Richtung man diese Entwicklung verlaufen sehen kann. Phil 2,6–11 geht von der Gegenwart Gottes in dem gekreuzigten Christus aus und entwickelt von hier aus die Vorstellung seiner „Menschwerdung“. Das Ziel der geschilderten Geschichte besteht darin, begründen zu können, wie gerade in dieser Person Gottes Name angerufen und Gott zu seiner Ehre kommt. Die Auseinandersetzung, in der das entstehende Christentum mit dem Frühjudentum eintritt, und die sich auch in der Biographie des Paulus widerspiegelt, hat in diesem exklusiven Anspruch für Jesus Christus ihren Grund. Denn mit dieser unlöslichen Bindung der Rede von Gott an die Person Jesu Christi erfuhr die „Gotteslehre“ eine Umgestaltung, die im Rahmen der jüdischen Tradition nicht einfach nachvollzogen werden konnte. Es gibt mehrere Gründe, die nahelegen, dass eine Passage wie 1Hen 48,5 nicht die Voraussetzung für Phil 2,6–11 darstellt, sondern vielmehr als Reaktion zu begreifen ist. Diese Reaktion belegt, als wie ungewöhnlich und provokativ eine solche Rede von Gott empfunden wurde. In 1Hen 48,2–5 heißt es: (2) Und in dieser Stunde wurde jener Menschensohn in Gegenwart des Herrn der Geister genannt, und sein Name vor dem Haupt der Tage. (3) Und bevor die Sonne und die beiden (Tierkreis-)Zeichen geschaffen wurden, bevor die Sterne des Himmels geschaffen wurden, ist sein Name vor dem Herrn der Geister genannt. (4) Und er wird für die Gerechten ein Stab sein, damit sie sich auf ihn stützen und nicht fallen, und er wird das Licht der Völker und die Hoffnung derer sein, die in ihrem Herzen Kummer haben. (5) Alle, die auf dem Festland wohnen, werden vor ihm niederfallen und (ihn) anbeten, und sie werden preisen, rühmen und lobsingen den Namen des Herrn.203
In der Tat sind die Aussagen, die hier vom „Menschensohn“ gemacht werden, bemerkenswert. Von ihm wird gesagt, dass „sein Name“ vor der Erschaffung der Gestirne „genannt“ worden sei (48,3). Auf diesen Hinweis wird in 48,6 noch einmal Bezug genommen, wenn es heißt, er sei „erwählt worden und verborgen vor ihm, ehe der Äon geschaffen wurde, und bis in Ewigkeit (wird er sein)“.204 Es handelt sich demnach um eine Gestalt, die Gott bereits vor der Erschaffung der Welt dazu 202 AaO., 153. Ähnlich bereits Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit, 160f, der feststellt, dass eine kultische Verehrung des „Menschensohns“ im Frühjudentum „offenbar nicht als Widerspruch zur Anbetung des einen Gottes aufgefaßt worden“ sei, „auch wenn zu berücksichtigen bleibt, daß es sich dabei um himmlische Wesen handelt.“ 203 Übersetzung nach JSHRZ V/6, 590. 204 AaO., 590f.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
auserwählt hat, die Welt zu richten und die „Gerechten“ zu erretten (48,5). Das Offenbarwerden dieser Gestalt artikuliert sich darin, dass „alle, die auf dem Festland wohnen“ „vor ihm niederfallen und ihn anbeten“. Dieses Motiv berührt sich ebenso mit Phil 2,9–11 wie das Motiv des „Namens des Herrn“: Das eschatologische Offenbarwerden des „Menschensohnes“ führt nach 1Hen 48,5 dazu, dass der „Name des Herrn“ gepriesen wird. Im „Menschensohn“ setzt sich demnach die Gottesherrschaft durch. 1Hen 48,5 hat dabei eine Interpretation von Dan 7,13 vorgenommen. Schäfer sieht Dan 7,13 als den Ausgangspunkt „aller binitarischer Spekulationen im Judentum“ an,205 es ist aber umstritten, wie sich die Anknüpfung an das Danielbuch genau beschreiben lässt. Dass bereits das Danielbuch selbst die Gestalt, die aussieht „wie ein Mensch“ (ֱא ָנשׁ ְכַּבר, LXX: ὡς υἱὸς ἀνθρώπου) als eine Individualgestalt versteht, ist vom vorliegenden Kontext her unwahrscheinlich. Eine kollektive Deutung der Gestalt ist nicht ohne Grund „unter Neutestamentlern weit verbreitet“, wie Ruben A. Bühner kritisch notiert.206 Sie ergibt sich aus dem unmittelbaren Kontext des Danielbuchs. Die Menschen-Gestalt der Symbolgestalt in Dan 7,13 hat ihre Bedeutung im kontrastierenden Gegenüber zu den zuvor genannten wilden Tieren (Dan 7,3–7), die Herrschaften symbolisieren, die zwar von Menschen ausgeübt werden, ihrem Wesen nach aber unmenschlich sind. Demgegenüber wird das Reich, das die Gestalt, die „wie ein Mensch“ aussieht, repräsentiert, einerseits als aus dem Himmel kommend, andererseits als menschlich charakterisiert.207 Auffällig ist die Parallelität zwischen den Versen Dan 7,14 und 7,27, die den Visionsteil Dan 7,1–14 und den diese Vision deutenden Teil Dan 7,15–27 jeweils abschließen. In V. 14a wird gesagt, dass der Menschengestalt die „Herrschaft“ (LXX: ἐξουσία) übergeben wird.208 In V. 27a heißt es dann, dass die Herrschaft dem „Volk der Heiligen des Höchsten“ gegeben wird. Parallel zueinander ist die jeweils folgende Aussage, dass es sich dabei um eine ewige Herrschaft bzw. um ein ewiges „Königreich“ (βασιλεία) handele. Im vorliegenden Kontext des Danielbuches wird die dem „Menschensohn“ übergebene Königsherrschaft deshalb auf die Übergabe der Königsherrschaft an das Gottesvolk gedeutet. Die „kollektive“ Deutung wird demnach im Danielbuch selbst vorgenommen: Der „wie ein Mensch“ symbolisiert das Gottesvolk Israel, das von
205 Schäfer, Götter, 25: „Ausgangspunkt aller binitarischer Spekulationen im Judentum ist der rätselhafte ,Menschensohn’ des biblischen Buchs Daniel.“ 206 Bühner, Messianologie, 109. 207 So etwa auch Porteous, Dan, 90. Kritisch dazu Plöger, Dan, 112. 208 In der Theodotion-Version heißt es: ἡ ἀρχὴ καὶ ἡ τιμὴ καὶ ἡ βασιλεία. Da es mir in diesem Zusammenhang nicht um eine ausführliche Erörterung der Auslegung von Dan 7 geht, gehe ich zunächst von der griechischen Textüberlieferung aus, weil hier die begriffliche Nähe zu den neutestamentlichen Texten deutlicher wird. Zu einer möglichen Entwicklung von der aramäischen zur griechischen Fassung im Blick auf die Vorstellung einer Individualgestalt s. u.
Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“
seinem Gott erwartet, dass er ihm eine Herrschaft geben wird, die menschliche Züge tragen wird. Die Deutung von Dan 7,13 auf eine Individualgestalt lässt sich nur dann vertreten, wenn man Dan 7,1–27 literarkritisch dekomponiert und die Verse 15–27 als sekundäre Deutung versteht.209 Für eine solche Dekomposition besteht indes kein Anlass.210 Aus diesem Grund legt es sich auch nicht nahe, in Dan 7,13 eine Engelgestalt oder den Messias angekündigt zu sehen.211 Auch die These, dass die griechische Textüberlieferung eine Individualisierung der Gestalt in Dan 7,13 vorantreibe, ist wohl mit Recht zurückgewiesen worden.212 Vielmehr konnte die geheimnisvolle Rede von dem ὡς υἱὸς ἀνθρώπου zum Anknüpfungspunkt für eine spätere messianische Deutung werden.213 Einen solche individualisierende Interpretation liegt erstmals in den Bilderreden des Äthiopischen Henochbuchs vor. Aus diesem Abschnitt stammt auch die von Schrage angesprochene Passage 1Hen 48,2–5. Es ist bekannt, dass das Äthiopische Henochbuch über mehrere Stufen gewachsen ist. Nicht zuletzt die Tatsache, dass in dem in Qumran gefundenen Exemplar des Henochbuchs die „Bilderreden“ nicht enthalten sind,214 spricht dafür, dass sie bereits in die christliche Zeit gehören. Folker Siegert erklärt mit Recht zu den „Bilderreden“ (1Hen 37–71): „Um eine Einsicht wird man nicht umhin können: Dies ist ein später Text; er kann erst in christlicher Zeit angesetzt werden. Das ist die Zeit, wo die Kirche ihr Verhältnis zum Judentum klärt – abgrenzend, überbietend, enterbend, oder wie auch immer – und wo auf jüdischer Seite nicht mehr damit zu rechnen ist, dass unbeeinflusst von allem Christentum einfach nur ,jüdisch‘ gedacht wird – nicht, solange man Griechisch schreibt und dieselben Themen behandelt, etwa den himmlischen Menschensohn.“215
209 Bühner, Messianologie, 109, Anm. 7 schildert solche literarkritische Erklärungen, die davon ausgehen, dass der individuellen Gestalt Dan 7,13 mit Dan 7,15–27 eine kollektive Deutung entgegengesetzt worden sei. 210 Vgl. Hofius, Dan 7,13–14, 249. 211 Hofius, aaO., 250; Porteous, Dan, 91, vgl. Plöger, Dan, 113. 212 So Bühner, Messianologie, 111f. Die von Bühner vertretene Deutung formuliert bereits Hengel, „Setze dich zu meiner Rechten“, 332f. Kritisch dazu Hofius, Dan 7,13–14, 255–261, der nach eingehender Erörterung zu dem Ergebnis kommt: „Die Aussage der griechischen Übersetzung ist keine andere als diejenige des aramäischen Textes.“ (AaO., 261). 213 Plöger, Dan, 113f; Porteous, Dan, 91. Bühner, Messianologie, 111 formuliert zurückhaltend, dass die Septuagintafassung eine messianische Deutung von Dan 7,13 „begünstigt“ haben könnte und für den Übersetzer „zumindest nicht ausgeschlossen werden“ könne (aaO., 112). 214 Vgl. Maier/Schubert, Qumran-Essener, 18. 215 Siegert, Einleitung, 211. Siegert sieht zwei Möglichkeiten der Bezugnahme: Entweder überbiete ein jüdischer Autor die Christologie durch sein Henoch-Bild oder „ein Christ imitiert jüdisch vorgegebene Henoch-Texte, um sie ,christlicher‘ zu machen.“ (AaO., 212). In beiden Fällen ist die
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
So lässt sich 1Hen 48,2–5 als eine spätere Interpretation von Dan 7,13 begreifen: Die im Danielbuch erwartete Gottesherrschaft in Gestalt der Herrschaft der „Heiligen des Höchsten“ wird für dem Verfasser der „Bilderreden“ in eschatologischer Perspektive Wirklichkeit in der Gestalt des „Menschensohns“. Wie in 1Hen 62,7–9 kommt ihm die Aufgabe der Durchführung des Gerichts zu, und an ihm entscheidet sich demnach das Heil oder Unheil der Menschen. Schäfer bemerkt dazu, dass dem „Menschensohn“ damit „Attribute, die sonst Gott allein vorbehalten sind“, zugeschrieben werden.216 Und wie Schrage erklärt auch Bühner, dass der „Menschensohn“ in 1Hen 48,5 gottgleiche Verehrung empfange.217 Gerade in der Verbindung von der dem „Menschensohn“ entgegengebrachten Verehrung und dem Lobpreis Gottes lässt sich eine Nähe dieses Textes zu Phil 2,9–11 erblicken.218 Im Vergleich mit Phil 2,6–11 – wo von dem „Menschensohn“, wie bei Paulus insgesamt, keine Rede ist – fällt indes auf, dass von dem „Menschensohn“ in 1Hen 48 keine Geschichte erzählt wird. Er ist eine Mittlergestalt, durch die die Durchsetzung der Gottesherrschaft konkret wird. Aber diese Mittlerschaft ist nicht durch seine Geschichte geprägt. An der Gestalt des „Menschensohns“ wird die Hoffnung festgemacht, dass Gott seine „Auserwählten“ erretten und die Welt richten wird – und so seine Gottheit vor aller Welt erweisen wird. Auf diese Weise wird auch ausgeschlossen, dass diese Hoffnung sich an einer anderen Gestalt – wie dem gekreuzigten Jesus von Nazareth – festmachen ließe. Dem Glauben an einen gekreuzigten Menschen als Ort der Gegenwart Gottes in der Welt wird eine Himmelsgestalt entgegengesetzt, die im Himmel bleibt und keine irdische Geschichte hat, in der Gott sich selbst zu erkennen gibt. Damit wird der Kontrast zu Phil 2,6–11 deutlich: Die hier greifbar werdende frühchristliche Christologie hat ihren Ursprungsort nicht in der Vorstellung von einem „Himmelswesen“, sondern in der geschichtlichen Begegnung mit Jesus. Von hier aus lesen die Christusgläubigen die Texte der jüdischen Tradition neu. Sie treten damit in einen Interpretationsprozess ein, der sich in einer strukturell vergleichbaren Weise auch in der frühjüdischen Literatur beobachten lässt. Hermeneutisch ist hier von Wechselwirkungen auszugehen, in der sich jüdische und christliche Gottesvorstellungen voneinander abgrenzen.
Interpretation von Dan 7,13 im Sinne der „Menschensohn“-Gestalt in den Bilderreden als Reaktion auf die neutestamentliche Christologie anzusehen (so auch Hofius, Dan 7,13–14, 262f). 216 Schäfer, Götter, 55. 217 Bühner, Messianologie, 150. 218 Für Schäfer, Götter, 56 klingt der zweite Halbsatz in1Hen 48,5 hingegen „wie der etwas lahme Versuch, die visuelle und inhaltliche Gewalt dieser Theophanie wieder einzuschränken und dem Leser oder Hörer pflichtgemäß einzuschärfen, dass er diesen Menschensohn nicht etwa mit Gott gleichsetzen soll“. „In Wirklichkeit“ aber habe „der Autor genau dies getan“.
Der eine Gott und die Vorstellung „zweier Götter“
In diesem Sinne dürfte m. E. auch die bemerkenswerte Passage aus dem sogenannten hebräischen Henochbuch (3Henoch)219 einzuschätzen sein, in der „Henoch in den höchsten Engel Metatron verwandelt wird“220 und ihm der Name „kleiner JHWH“ verliehen wird.221 Das Motiv des „Namens“ hat dieser Text mit Phil 2,9 gemeinsam. Nach Schäfer wird hier der „Höhe- und vorläufige … Endpunkt der binitarischen Vorstellungen des Judentums“ erreicht.222 So komme „in keiner dieser (zuvor besprochenen) Apokalypsen […] ein Engel Gott so nahe – nicht nur räumlich, sondern auch in seiner äußeren Erscheinung und vor allem in seinem Rang – wie Metatron.“223 Dort heißt es zunächst von Gott her: „Metatron, meinen Knecht, habe ich zum Fürsten und Prinzen eingesetzt über alle Fürsten meines Königreiches und über alle Söhne der Höhen.“ 224 Und schließlich spricht Henoch selbst: „Er setzte sie [die Krone] auf mein Haupt und nannte mich „Kleiner/Junger JWJ“ von seiner ganzen Familie in der Höhe, wo es heißt: Denn mein Name ist in ihm (Ex 23,21).“ 225 Schäfer versteht „die Gestalt Metatrons als eine Reaktion auf die neutestamentliche Botschaft von Jesus Christus“, wobei er auf Phil 2,6–11 hinweist.226 Mit Recht stellt er heraus, dass die Richtung, in der die Erhöhung Metatrons erzählt wird „von unten nach oben“ verläuft, während in Phil 2,6–11 eine Bewegung „von oben nach unten“ (V. 6–8) und dann wieder „von unten nach oben“ (V. 9–11) erzählt wird.227 Schäfer kommentiert: „Man könnte also letztlich behaupten, daß Metatron in der Tat die Rolle Jesu Christi einnimmt, aber ohne die mythische und – für jüdische Leser – inakzeptable Paketlösung mit Jesu göttlichem Ursprung und menschlicher Geburt, geschweige denn seinem grausamen Tod am Kreuz.“228
219 220 221 222 223 224 225 226
Zu diesem Text und seiner Bezeichnung s. Siegert, Einleitung, 220f. Schäfer, Götter, 109. S. dazu Schäfer, Götter, 109–149; ders., Ursprünge, 430–439. Schäfer, Götter, 119. Schäfer, Ursprünge, 432. Übersetzung bei Schäfer, Götter, 120f. Übersetzung bei Schäfer, aaO., 122. Schäfer, Ursprünge, 436. Schäfer wendet sich an dieser Stelle gegen die These von Daniel Boyarin, der den „Binitarismus“ des vorchristlichen Judentums als Vorstufe zur neutestamentlichen Christologie ansieht. 227 Schäfer, aaO., 437. 228 AaO., 438. Zur Bedeutung der Gestalt Metratrons im Zusammenhang mit der Auslegung von Phil 2,6–11 s. bereits Hofius, Christushymnus, 79f mit Anm. 15. Hofius bestreitet, dass die rabbinischen Quellen den Gedanken der Schöpfungsmittlerschaft Metatrons kennen, wie Käsemann, Gottesvolk, 70f behauptet hatte.
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Die Durchsetzung der Gottesherrschaft (Phil 2,6–11)
Was Schäfer hier als christliche „Paketlösung“ beschreibt, das ergibt sich für Paulus aus der Begegnung mit Gottes Wirklichkeit in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Diese Begegnung lässt ihn ganz neu von Gott denken und reden, und er findet sich damit in der frühchristlichen Tradition, die er einst verfolgt hatte, wieder. Der Ausgangspunkt dieser Rede von Gott ist nicht die Vorstellung „zweier Götter im Himmel“. Denn Paulus wie die frühchristliche Tradition reden nicht von „zwei Göttern“, sondern von dem einen Gott, der im κύριος Jesus als der „Vater“ (ὁ πατήρ) der Glaubenden offenbar wird. Der Christushymnus des Philipperbriefs ist für Paulus Ausdruck dieses monotheistischen Glaubens, eines differenzierten Monotheismus, den Paulus nicht erfunden, sondern in der frühchristlichen Tradition vorgefunden hat. Von dieser Tradition aus erschließt sich ihm auch die jüdische Tradition neu: Es ist derselbe Gott, der in Jesus offenbar wird, es ist sein Name, der im Namen Jesu angerufen wird. Wo dieser Name angerufen wird, da wird in der christlichen Gemeinde bekannt, dass der κύριος nahe ist (Phil 4,5) und dass die Gemeinde deshalb allen Grund hat, sich zu „freuen“ (4,4) – selbst noch im Gefängnis, selbst noch im Tod, der für den Paulus des Philipperbriefs nichts anderes mehr bedeutet, als „bei Christus zu sein“ (1,23).229 In der Person Jesus Christus begegnet Paulus der im Glauben gegenwärtige Gott, von dem Paulus glaubt, dass er seine Herrschaft einst universal sichtbar durchsetzen wird. Aus dieser Gewissheit, die ihren Grund in der so bestimmten Rede von Gott hat, können er und die Glaubenden, an die er schreibt, jetzt bereits leben. Von hier aus ist es auch verständlich, weshalb Paulus immer dann scharf polemisiert, wenn der grundlegende Charakter der in Jesus Christus begründeten Gottesbeziehung in Frage gestellt wird. Die Gotteswirklichkeit, die für den Menschen ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ Ereignis ist (2,5), ist eben jene Wirklichkeit, die Paulus selbst erfahren hat, als er „in ihm“ – in Christus – die „Gerechtigkeit aus Gott“ gefunden hat (Phil 3,9), die eben nicht in Frage gestellt werden darf (3,3). Von Gott lässt sich nur aus der von ihm selbst gestifteten Beziehung heraus reden. Diese Beziehung aber ist unlöslich an die Person Jesus Christus gebunden. So lässt sich das Gotteslob in Phil 2,11 durchaus im Zusammenhang mit der in Phil 3,2 einsetzenden Polemik begreifen. An beiden Stellen wird deutlich, worin das Leben eines Menschen sein Fundament hat: in Gottes Heilshandeln an ihm, das sich in Jesus Christus ereignet.
229 Es ist dieselbe Perspektive, die Paulus in Phil 4,17b für die Glaubenden im Blick auf die Parusie Christi entwirft. Die παρουσία τοῦ κυρίου (4,15) ist die eschatologische „Gegenwart des Herrn“. Im Christushymnus des Philipperbriefs wird sie bereits vorweggenommen und damit erfahrbar gemacht.
Epilog: Perspektiven der paulinischen Rede von Gott
Am Ende der Untersuchung komme ich zur Ausgangsfrage zurück: Am Anfang stand die Beobachtung, dass die Frage nach dem Gottesverständnis des Paulus relativ lange ein Schattendasein in der Forschung geführt hat. Die Gründe für diese „Vernachlässigung“ wurden allerdings unterschiedlich bestimmt: Während die einen eine existentialtheologische Theologie im Gefolge Rudolf Bultmanns mit ihrer Furcht vor einer Rede von Gott „an sich“ dafür verantwortlich sahen, wurde von anderer Seite darauf hingewiesen, dass die Forschung das Gottesverständnis des Paulus als bloße „Voraussetzung“ angesehen habe, die lediglich den Rahmen darstelle, in dem der Apostel Christologie, Soteriologie und Ethik entfalte. Gegenüber einer zu starken Akzentuierung der „Christozentrik“ des Paulus wird in der neueren Forschung eine Wahrnehmung seiner „Theozentrik“ eingefordert. Diese Forderung steht in einem direkten Zusammenhang mit der Frage, inwiefern man mit Paulus eine „Ablösung“ vom Judentum sehen kann oder ob er sich nicht hinsichtlich seiner Gotteslehre ganz im Rahmen des jüdischen Glaubens begreifen lasse. Die Untersuchungen dieser Arbeit erlauben es, einige Perspektiven im Blick auf die aufgeworfenen Fragen zu formulieren: Zunächst ist festzustellen, dass für Paulus „Theozentrik“ und „Christozentrik“ unlöslich ineinander verschränkt sind. Paulus redet von dem in Jesus Christus gegenwärtigen Gott. Gerade deshalb kommt in seinen Briefen aber auch Gott selbst neu zur Sprache. Eine Darstellung der paulinischen Theologie hat deshalb auch die Eigenart der paulinischen Rede von Gott zu thematisieren. Die wechselseitige Beeinflussung der Christus-Erkenntnis des Paulus und seines Gottesverständnisses lässt sich an dem Zusammenhang der Gottesprädikation ὁ πατήρ und der Christusprädikation ὁ κύριος in konzentrierter Form beobachten.1 Der damit markierte Zusammenhang durchzieht die Paulus-Briefe wie ein roter Faden, der ins Zentrum seiner Theologie weist. So lässt sich ein übergreifender Bogen spannen, der in 1Thess 1,1 beginnt und bis zum Philipperbrief verläuft.2 Es ist bemerkenswert, dass Paulus beide Prädikationen – die Christusbezeichnung ὁ κύριος und die Gottesbezeichnung ὁ πατήρ – als durch den Heiligen Geist ermöglicht versteht (Gal 4,6; Röm 8,15; 1Kor 12,3b). Wenn ein Mensch in dieser Weise von
1 Ich verweise dazu noch einmal auf die grundlegenden Untersuchungen von Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann zum Thema: Feldmeier/Spieckermann, Gott, 51–92. 2 Am Ende des Philipperbriefs begegnet diese Verbindung noch einmal: Zuerst spricht Paulus einen Lobpreis für „Gott, unseren Vater“ (τῷ δὲ θεῷ καὶ πατρὶ ἡμῶν, Phil 4,20) aus und endet dann mit einem Zuspruch der „Gnade des Herrn Jesus Christus“ (ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ, 4,23).
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Perspektiven der paulinischen Rede von Gott
Gott redet, so ist Paulus überzeugt, dann handelt Gott bereits an ihm, indem er ihn die Gegenwart Gottes in Jesus Christus erkennen lässt. Das Bekenntnis zu Jesus als κύριος impliziert den Glauben daran, dass Gott ihn von den Toten auferweckt und als den Träger des heiligen Gottesnamens offenbar gemacht hat. Dass Jesus Träger des Gottesnamens ist, bedeutet, dass sich Gott in dieser Person für den Menschen anrufbar macht und ihn in eine heilsame Beziehung zu sich selbst versetzt. Diese Beziehung zu Gott findet ihren Ausdruck in der Anrede Gottes als „Vater“. Insofern ist die Auferstehung Jesu als Tat Gottes grundlegend für die paulinische Rede von Gott.3 In dieser Tat bestimmt Gott sich selbst als ein Gott für die Menschen. Dieses „für uns“ (ὑπὲρ ἡμῶν) ist der entscheidende Erkenntnisgewinn, der für Paulus aus der Einsicht, dass in der Person Jesus Christus Gott selbst begegnet, folgt (Gal 1,16; 2Kor 4,6 mit Gal 3,13, vgl. 2Kor 5,14–21). Von dieser grundlegenden Einsicht ausgehend redet Paulus von Gott. Gegen skeptische Stimmen aus der neueren Forschung ist an der grundlegenden Bedeutung der Damaskus-Begegnung für die paulinische Theologie festzuhalten. Sie belegt, dass Paulus aus der Begegnung heraus von Gott redet. Seine Theologie hat ihren Ursprung in der Begegnung mit dem lebendigen Gott, sie artikuliert sich deshalb primär im Gotteslob (1Thess 1,2–5) und sie tendiert in eschatologischer Perspektive auf das universale Gotteslob aller Geschöpfe (Phil 2,9–11).4 Paulus redet vor Gott von Gott (vgl. 2Kor 2,17). Insofern bleiben Gott und Mensch voneinander unterschieden, auch wenn ein Mensch nach der Auffassung des Paulus nur aus der von Gott gewährten Beziehung aus von Gott reden kann. In dieser Einsicht liegt das Recht, aber eben auch die Grenze der Position Bultmanns. Denn auch als der Gott-in-Beziehung bleibt Gott für den Menschen immer ein Gegenüber. Erweist sich die paulinische Rede von Gott als stringent aus der Begegnung heraus entworfen, so lässt sich gleichzeitig auch von der Traditionsabhängigkeit der paulinischen Rede von Gott sprechen. Denn Paulus schließt sich gerade in dem grundlegenden Zusammenhang von κύριος-Bekenntnis und der Bezeichnung Gottes als πατήρ an die frühchristliche Tradition an.5 Dass dies der Fall ist, legen bereits die entsprechenden Präskripte der Paulusbriefe nahe, für die dieser Zusammen-
3 Vgl. 1Thess 1,1; 1Kor 6,14; 15,15; 2Kor 4,14; Röm 4,24; 8,11; 10,9, vgl. Eph 1,20; Kol 2,12. 4 Zur grundlegenden Bedeutung der Doxologie für die Theologie sei noch einmal auf Jeremias, Theologie, 25 hingewiesen. 5 Man sollte deshalb nicht Paulus zum eigentlichen „Begründer“ des Christentums erklären, wie es in popular-wissenschaftlichem Zusammenhang immer wieder geschieht. S. exemplarisch Fried, Jesus oder Paulus. Hengel, Sohn Gottes, 34 hat auf die Diastase, die zwischen Jesus und Paulus aufgemacht wird im Blick auf das Buch von Schoeps, Paulus hingewiesen. Hier wird auch deutlich, dass die These einer „Vergottung“ Jesu mit der religionsgeschichtlichen Annahme pagan-hellenistischer Einflüsse auf die frühchristliche Theologie zusammenhängt. Demgegenüber ist zu betonen, dass die frühe Christologie auf dem Boden der jüdischen Tradition formuliert wird.
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hang charakteristisch ist.6 Denn am Beginn seiner Schreiben möchte der Apostel offensichtlich Einigkeit mit seinen Adressaten herstellen. Hier wird sichtbar, dass die gemeinsam geteilte Identität gerade in der bestimmten Rede von Gott begründet wird. „Traditionellen“ Charakter haben auch die Bekenntnisformulierungen in 1Kor 8,6 und in Phil 2,6–11. An beiden Stellen lässt sich beobachten, wie die frühchristliche Tradition jeweils in Anknüpfung an die jüdische Tradition begründet, dass der eine Gott in Jesus Christus begegnet. Für Paulus wie für die frühchristliche Tradition ist Jesus Christus Gottes Gegenwart.7 Von dieser erfahrenen Gegenwart Gottes aus erschließt sich Gott selbst. 1Kor 8,6 und Phil 2,6–11 entfalten das Bekenntnis zu Jesus als Träger des heiligen Gottesnamens und zu Gott als „Vater“ explizit als monotheistisches Glaubensbekenntnis und gerade nicht als die Vorstellung „zweier Götter“ oder eines Gottes und eines „Halbgottes“. Es findet deshalb auch keine „Verdopplung“ des Glaubensobjekts statt, wie im Anschluss an Bousset implizit suggeriert wurde, vielmehr wird der eine Gott inhaltlich präzise bestimmt. Im Frühchristentum findet keine „Vergottung“ Jesu statt, sondern Gott wird von der Erfahrung seiner Gegenwart in Jesus Christus gegenüber der jüdischen Tradition neu verstanden. Gleichzeitig lässt sich eine entscheidende Gemeinsamkeit mit der jüdischen Tradition feststellen: Auch diese versteht Gott von der konkreten Begegnung in seiner Geschichte mit Israel und der Menschheit, von seinem Heilshandeln her. An diese Bewegung der Rede von Gott, die sich in den alttestamentlichen Texten entdecken lässt, können die frühchristliche Tradition und Paulus selbst mit ihrer Interpretation der Heiligen Texte Israels anknüpfen. Dabei wird Jesus Christus nicht einfach zu Gott „hinzugefügt“, sondern vom Christusglauben aus werden Entsprechungen sichtbar, die zwischen der Jesus-Christus-Geschichte und der Geschichte Gottes mit Israel bestehen. Insofern überformt Paulus die Tradition auch nicht einfach, aber er interpretiert sie aus der Perspektive des Christusglaubens neu. Das ließ sich an mehreren Beispielen beobachten: 1. So ist bereits im Alten Testament „der lebendige Gott“ nicht nur der Gott, der am Anfang die Welt geschaffen hat. Es ist vielmehr der, der als der rettende und der richtende Gott mitten im Leben erfahren und bezeugt wird. Die Rede von dem „lebendigen und wahren Gott“ (1Thess 1,9) ist bereits traditionsgeschichtlich mit dem Ausblick auf sein rettendes Kommen verbunden, das nach
6 1Thess 1,1; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Röm 1,7; Phil 1,2; Phm 3. Die Paulus-Schule führt diese Tradition fort: Eph 1,2; Kol 1,2f; 2Thess 1,2; 1Tim 1,2; 2Tim 1,2. 7 Ich nehme damit eine Formulierung auf, die Julius Schniewind im Blick auf die Christologie der Synoptiker geprägt hat, vgl. Schniewind, Mt, 15 (zu Mt 1,23); aaO., 188. Demnach ist Jesus in Person „Gottes eigene Gegenwart.“ Hans Joachim Iwand hat diese Beschreibung Schniewinds aufgenommen: Iwand, Predigtmeditationen (I), 645: „Jesus ist mehr als ein Rabbi, Jesus ist die ,praesentia Dei in Person‘ (Schniewind).“
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1Thess 1,10 durch Jesus Christus geschieht und mit der Offenbarung des Zorngerichts Gottes, in dem sich der „lebendige Gott“ als der wahre Gott erweist (Jer 10,10). Die Vorstellung von dem „lebendigen Gott“ findet im Ersten Thessalonicherbrief ihre Entsprechung in dem Verweis auf die konkreten Erfahrungen der Glaubenden mit dem Geist Gottes (1,5), der ihnen das Evangelium als Gottes eigenes Wort erschlossen hat (2,13). Es ist demnach konkret die Erfahrung mit dem Evangelium, auf die Paulus seine Adressaten verweist (vgl. 1Kor 2,1–5; 15,11; Gal 3,1f). Gleichzeitig bestimmt er ihre Existenz als eine Existenz vor Gott (1Thess 1,3; 3,9) und vor Jesus Christus (2,19). Paulus redet von dem gegenwärtigen Gott, und er rekurriert in seiner Rede von Gott auf gemeinsam geteilte Erfahrungen mit Gottes Gegenwart. Diese Erfahrungen erhalten durch das Christusgeschehen einen theologischen Interpretationsrahmen, in dem sie verstanden werden können. 2. Mit der Weisheitstheologie und auch mit der frühjüdischen Apokalyptik teilt Paulus die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt. Gleichwohl „übernimmt“ Paulus nicht einfach ein bestimmtes „Konzept“ von der präexistenten σοφία und „überträgt“ es auf Jesus Christus. Er nimmt vielmehr die mit dem Motiv der σοφία verbundene Fragestellung auf und bezieht sie auf seine Erfahrung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus, die er in besonderer Weise vor Damaskus gemacht hat (Gal 1,16; 1Kor 9,1; 2Kor 4,6; Röm 1,1–5; Phil 3,7–11). Thematisch greifbar wird die Gegenwart Gottes mit dem Motiv der δόξα, das Gottes Wesen bezeichnet. Die wesenhafte Offenbarung ist nach Paulus in dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus geschehen, den er deshalb als den κύριος τῆς δόξης bezeichnet (1Kor 2,8). Tod und Auferstehung Jesu sind das Geschehen, durch das die Glaubenden zu jener δόξα geführt werden, zu der Gott sie bestimmt hat (2,7). Hier gewinnt auch der Gedanke der Ewigkeit Gottes an Bedeutung, in dem sich die biblische Gottesvorstellung mit dem platonischen Gottesgedanken berührt: Gott ist der letzte Grund der Wirklichkeit, seine δόξα begründet deshalb die δόξα des Menschen, mit dem Paulus das ewige, unverlierbare Leben des Geschöpfs bezeichnen kann (neben 1Kor 2,7 Röm 8,21, vgl. 1Kor 15,43). Das Motiv des κύριος τῆς δόξης lässt erahnen, dass der Ausgangspunkt dieser Rede von Jesus die erfahrene Gegenwart Gottes im Gottesdienst ist, was in der Anspielung des Motivs auf alttestamentliche Psalmen (vgl. Ps 24; 29) erkennbar wird und sich eben auch in Phil 2,6–11 äußert. Im Ersten Korintherbrief stehen offensichtlich auch apokalyptische Vorstellungen im Hintergrund (vgl. 1Hen), in denen die in der Gemeinde geglaubte Gegenwart Gottes im Sinne einer apokalyptischen Theologie aufgenommen wird. Die verborgene Wirklichkeit Gottes in der Welt, deren Offenbarwerden für das Ende der Zeit erwartet wird, bestimmt Paulus präzise als die Gegenwart Gottes im gekreuzigten Jesus Christus. Vor Damaskus hat sich ihm bestätigt, was er vorher verfolgt hat und was er in frühchristlichen Bekenntnistexten
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wiederfindet. So ist für die paulinische Rede von Gott beides konstitutiv: Die individuelle Christus-Begegnung und die frühchristliche Bekenntnistradition, deren Ursprung mit den Ostererscheinungen verbunden ist (vgl. 1Kor 15,3–11). 3. Weil die Rede von dem gegenwärtigen Gott von der Erfahrung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus her bestimmt ist, kann diese Rede konkrete Handlungsorientierung für die Gemeinden geben. Paulus weiß, dass es „sogenannte Götter“ gibt (λεγόμενοι θεοί, 1Kor 8,5), also Größen, die beim Menschen die Rolle einnehmen, die nur der wahre Gott einnehmen soll. In diesem Sinne ließ sich bei Paulus ein „funktionaler Gottesbegriff “ beobachten. Wenn aber wirklich erkannt wird, wer Gott ist, dann wird auch erkannt, wer der andere Mensch ist: ein „Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist“ (1Kor 8,11). In demselben Sinn bewirkt die wirksame Erinnerung der Jesus-Christus-Geschichte (Phil 2,6–11), dass die Glaubenden auf das achten, was dem anderen dient (Phil 2,4). Gottesverständnis, Soteriologie und Ethik sind unlöslich miteinander verbunden. Die Pointe des „Monotheismus“ besteht in der Bestimmtheit der Rede von Gott, die das menschliche Handeln orientiert. Mit seiner Rede von dem einen Gott argumentiert Paulus deshalb nicht nach „außen“, sondern innerhalb der Gemeinde, für die entscheidend ist, wer der Gott ist, an den sie glaubt. Dass Paulus gleichwohl davon überzeugt ist, dass der Gott, an den er glaubt, der eine und wahre Gott ist, ist dabei nicht zu bestreiten. Darin dürfte ein Grund dafür liegen, dass Paulus durchweg von ὁ θεός redet und damit auch einen Allgemeinheitsanspruch für seine Rede von Gott erhebt.8 Ein weiterer Grund für ὁ θεός als bevorzugter Gottesbezeichnung bei Paulus liegt in der bereits notierten Beobachtung, dass κύριος zur bevorzugten Bezeichnung für Jesus Christus wird. Es ist aber auch auffällig, dass Paulus eben nicht nur vom „Vater“ redet, sondern auch ὁ θεός als „Name“ Gottes gebraucht. 4. Die Passagen, in denen Paulus von seiner Damaskus-Begegnung redet, machen deutlich, dass er diese Begegnung als eine Gottesbegegnung versteht, in der Gott sich inhaltlich bestimmt.9 Von hier aus wird verständlich, wie Paulus die
8 Damit wäre die Rede von ὁ θεός in der frühgriechischen Philosophie zu vergleichen: Im polytheistischen Kontext der frühgriechischen Philosophie ist mit dem determinierten ὁ θεός vor allem die Vorstellung verbunden, dass es trotz aller Vielfalt der Gottesvorstellungen eine „klar empfundene Einheit der religiösen Welt“ gebe (so Kleinknecht, θεός, 67). 9 Hier ist insbesondere an das zu erinnern, was in Kapitel 6 zur Formulierung ἐν προσώπῳ Ἰησοῦ Χριστοῦ (2Kor 4,6b) ausgeführt wurde: Damit ist nicht ein „Glanz“ auf dem Gesicht Jesu – analog zu Mose (2Kor 3,7) – gemeint, sondern die Person Jesu als Repräsentation des Wesens Gottes dargestellt. Wonach sich der Beter von Ps 27,8 sehnt, das ist dem Paulus nach 2Kor 4,6 widerfahren: Er ist Gottes Gegenwart begegnet in der Person Jesus Christus. Parallel dazu steht das Motiv von Jesus als der εἰκὼν τοῦ θεοῦ in 2Kor 4,4. Gal 1,16 („Sohn Gottes“ als Inhalt der Offenbarung), 1Kor 9,1 (der κύριος als Gegenstand des „Sehens“) und der Theophanieterminus ὤφθη in 1Kor 15,8 bestätigen, dass Paulus seine Christus-Begegnung als Gottes-Begegnung versteht.
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alttestamentliche Tradition neu liest. Der in der Tradition bezeugte Wille Gottes wird nun neu verstanden, weshalb Paulus nun das ὑπὲρ ἡμῶν in Dtn 21,23 wiederfinden kann (Gal 3,13). Weil Jesus Gottes Gegenwart ist, ist seine Geschichte Gottesgeschichte, in der Gott an den Menschen zu ihrem Heil handelt. Im Glauben an Jesus werden sie in dieses Heilshandeln, das sich in der Aufweckung Jesu von den Toten manifestiert hat, hineingenommen (Röm 10,9–13; Phil 2,9–11). 5. So erhält nun auch die Rede von Gott dem Schöpfer eine charakteristische Wendung: Der Schöpfer-Gott (Gen 1,3) und mit ihm die δόξα τοῦ θεοῦ begegnet in der Person Jesus Christus (2Kor 4,6). Die Gegenwart Gottes in der Welt wird in seinem schöpferischen Handeln am Menschen erschlossen, durch das ihm die Augen für den in Christus gegenwärtigen Gott geöffnet werden. Neuschöpfung und Schöpfung (in dieser Reihenfolge!) sind insofern direkt miteinander verbunden (2Kor 5,17). Diesen Zusammenhang unterläuft Paulus auch in Röm 1,18–32 nicht. Denn in 1,19–21 geht es dem Apostel nicht darum, die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis aus der Schöpfung zu begründen, vielmehr formuliert er hier eine aus der Perspektive des Christusglaubens entworfene Phänomenologie der ἀγνωσία θεοῦ des vorfindlichen Menschen. Er kann dabei an einen Diskurs anknüpfen, der in der Apokalyptik zu beobachten ist und in der sich die etwa in der Stoa behauptete Möglichkeit, Gott in der Schöpfung zu erkennen, zur Anklage gegen den Menschen wendet (SyrBar 54,12–20, vgl. SapSal 13,1–9). Die Aufforderung des jüdischen Apokalyptikers angesichts der verwirkten Möglichkeit einer „natürlichen Gotteserkenntnis“, sich dem Gesetz zuzuwenden, um Gott dort zu finden, ist für Paulus seit seiner ChristusBegegnung keine Möglichkeit mehr. Denn während das Gesetz nur Erkenntnis der Sünde vermittelt (Röm 3,20) und von Paulus als das richtende Wort Gottes verstanden wird (2Kor 3,7–11),10 versteht Paulus Jesus Christus als die rettende Gegenwart Gottes, in der sich die auf die Deckplatte der Bundeslade bezogene Verheißung (Ex 25,22: „… von dort aus will ich euch begegnen“) in einem unerwarteten Sinn erfüllt (Röm 3,25). In dieser, vom Christusgeschehen aus geprägten Rede von der Schöpfung unterscheidet sich Paulus grundlegend von der Stoa und auch von Philo. 6. Für Paulus ist Gott demnach kein „Prädikat“ von „Welt“, auf den als ihr letzter Grund reflektiert wird,11 sondern er ist in einem bestimmten Sinn Subjekt, das „personal“ begegnet. Die so zu beschreibende bestimmte Rede von Gott wirkt sich auch auf das Verständnis menschlicher Herrschaft aus, die in der Zeit des
10 Diese Funktion des Gesetzes lässt sich nach Paulus nur aus der Perspektive des Christusglaubens heraus erkennen. Das Gesetz bewirkt demnach nicht Erkenntnis der Sünde, sondern erweist die Trennung des Menschen von Gott a posteriori, vom Christusgeschehen aus betrachtet. 11 In diesem Sinne stellt Theissen, Mystik, 283 mit Recht fest, dass Paulus in 1Kor 1,18ff eine Haltung kritisiere, „die aus der Welt auf Gott zurück schließt“.
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Paulus unmittelbar mit religiösen Vorstellungen und damit mit bestimmten Gottesbildern verbunden war. Das lässt sich besonders gut im Römer-, aber auch im Philipperbrief beobachten (Röm 1,3f; Phil 3,20). Der Rekurs auf die „heiligen Schriften“ und auf die frühchristliche Tradition wird in Röm 1,3f in einer charakteristischen Weise erkennbar. Es ist wieder die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Welt, die bereits die frühjüdische Auslegung von 2Sam 7,12f in den letzten beiden Jahrhunderten v. Chr. bewegt (PsSal 17; 4Qflor I) und die das frühchristliche Bekenntnis auf seine Weise rezipiert. Die „Nathan-Weissagung“ bietet sich zu Beginn des Römerbriefs in besonderer Weise an, weil hier auch die politische Dimension der Heilshoffnungen Israels im Blick ist und gleichzeitig festgehalten wird, dass Gott selbst den Ort seiner Gegenwart wählt und diese gewährt. So erhält das aus der Perspektive des Christusglaubens entworfene Bild der Königsherrschaft Gottes, die im Heiligen Geist wirksam ist, ein kritisches Moment gegenüber der in der eigenen Wirklichkeit wahrnehmbaren weltlichen Herrschaft. Im Blick auf Röm 1,3f haben sich die Voraussetzungen der Forschung als besonders nachteilig erwiesen: Während Paulus mit der Tradition die Vorstellung der Gottesherrschaft von der Christologie aus inhaltlich bestimmt, hat die Forschung hier eine „Zwei-Stufen-Christologie“ eingetragen, die die inhaltliche Bestimmung der Gottesvorstellung gerade verdeckt. Röm 1,3f erschließt sich aber erst dann, wenn das Bekenntnis als eine spezifische „Antwort“ auf die Frage gelesen wird, um die viele Menschen im ersten Jahrhundert nach Christus ringen: Wie verhält sich Gottes Herrschaft zu menschlicher Macht, die im Kaisertum Gott-gleiche Züge erhält? 7. Auch der Christus-Hymnus des Philipperbriefs ist von der Erfahrung der Gegenwart Gottes in dem gekreuzigten Jesus Christus zu verstehen: Weil Gott sich in ihm erschlossen hat, darum rufen die Glaubenden ihn (nach ihrem eigenen Anspruch) mit Recht als κύριος an. Dabei ist mitzuhören, in welchen Konflikt hinein12 dieses Bekenntnis formuliert wird: Nicht die Glaubenden – wie der vor-christliche Paulus meinte – sondern Gott selbst hat Jesus den heiligen Gottesnamen gegeben und ihn damit als den Ort seiner Präsenz in der Welt erkennbar werden lassen. Die Entstehung einiger bestimmter Himmelsgestalten wie dem „Menschensohn“ in den Bilderreden des Äthiopischen Henochbuchs oder Metatron im Hebräischen Henochbuch lässt sich gut als Reaktion auf einen Text wie Phil 2,6–11 begreifen. Diese jüdischen Reaktionen belegen auf ihre Weise, als wie innovativ die frühchristliche Rede von Gott, die in den Paulusbriefen greifbar wird, empfunden worden ist. Die Entstehung der „hohen“ Christologie ist nicht aus der Adaption „binitarischer Vorstellungen“ des Frühjudentums zu
12 Hier ist an die grundlegende Einsicht zu erinnern, dass die Rede von Gott in bestimmten Konfliktsituationen eine Bedeutung hat (Moxnes, Theology).
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erklären. Sie gründet nicht in mythologischen Vorstellungen von Engelwesen, sondern in einer geschichtlichen Erfahrung: in der Begegnung mit der Gegenwart Gottes in Jesus Christus. Die im Anschluss daran entwickelte Vorstellung von der Inkarnation des Gottessohnes, die bei Paulus noch nicht vollständig durchgeführt wird, ist Kennzeichen der Umgestaltung der Gotteslehre, die bereits bei Paulus und der von ihm aufgenommenen Tradition in ihren Grundzügen greifbar wird. Sie führt das theologische Denken an seine Grenzen, an denen die Gotteslehre entweder umgestaltet oder aber der Gedanke der Menschwerdung Gottes als unvereinbar mit dem Bekenntnis zu dem einen Gott verworfen werden muss. Im weiteren Verlauf der Geschichte der christlichen Theologie führt dies zur Entstehung doketistischer Christologien, die den Gedanken der Gottheit Jesu Christi festhalten, diese aber nicht mehr vereinbaren können mit seinem Kommen „ins Fleisch“.13 Diese Sicht der Entwicklung wird im Blick auf Paulus durch das zu Röm 8,3 Gesagte bestätigt: Erkennbar wird, dass Paulus den Gedanken der Sendung Jesu Christi „ins Fleisch“ kennt, ihn aber noch nicht vollständig zu Ende denken kann. Das theologische Nach-Denken setzt bei der Erfahrung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus ein. Das zeigte sich auch im Kontext von 1Kor 2,8 und 1Kor 8,6, aber auch bei der Beschreibung dessen, was Paulus vor Damaskus zu sehen bekommen hat.14 Die damit verbundene Gewissheit ist der unhintergehbare Ausgangspunkt der paulinischen Theologie im weiteren und im engeren Sinne.15 Sie prägt das paulinische Gottesverständnis fundamental.
13 Bei aller Unterschiedlichkeit, die sich im Einzelnen zu den jeweils greifbar werdenden Konzeptionen erkennen lässt, könnten derartige Positionen in folgenden Texten erkennbar werden: 1Joh 4,2f; 2Joh 7; IgnTrall 10,1; IgnSm 2,1, vgl 4,2; Iren.haer I 24,2; PsTert.haer 6,1; Epiphan.pan XLI 1,3.7f. S. dazu Bauspiess, „Doketismus“, 207–217. Zur Problematik der Beschreibungskategorie „Doketismus“ s. u. In seiner umfangreichen Untersuchung zu „Doketismus und Inkarnation“ aus dem Jahr 2014 hat Wichard von Heyden überzeugend herausgearbeitet, dass die Entwicklung „doketistischer“ Vorstellungen auf die Vorstellung der „Menschwerdung“ Gottes reagiert. Das bedeutet, dass die Inkarnationschristologie nicht ihrerseits als Reaktion auf „doketistische“ Vorstellungen zu verstehen ist. Von Heyden, Doketismus und Inkarnation, 2. Von Heyden erklärt ebd.: „Doketismus entwickelt sich erst dort, wo die im Hintergrund stehenden Konzepte nicht mehr verstanden und daher unter veränderten Blickwinkeln, wiederum mit Mitteln der Mystik, neu gedeutet werden.“ 14 S. dazu die Kapitel 3–5 dieser Arbeit. 15 In einem erkenntnistheoretischen Sinn lässt sich dieser unhintergehbare Ausgangspunkt mit Landmesser, Wahrheit, 459–479 als „christologisches Präferenzkriterium“ beschreiben. Landmesser erklärt aaO., 464: „Im Glauben an Jesus Christus ist das Präferenzkriterium offensichtlich schon verankert. Dieses christologische Präferenzkriterium ist – wie jedes andere Präferenzkriterium auch – logisch weder begründbar noch zu bestreiten.“ In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Landmesser zu 1Kor 8,6 erklärt, dass für Paulus „die Identität des Gottesgedankens vor dem Hintergrund des Christusgeschehens präzise in seiner christologischen Entfaltung“ bestehe (Landmesser, Gott denken, 222, s. dazu oben in Kapitel 4 dieser Arbeit).
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8. Phil 2,6–11 macht deutlich, dass die Geschichte Jesu Christi als Gottesgeschichte verstanden wird, in der Gott seine Herrschaft über die Geschöpfe durchsetzt. Diese Geschichte ist für den Menschen nicht einfach wiederholbar. Es handelt sich vielmehr um eine von Gott gewährte Wirklichkeit, die Paulus seiner Gemeinde im Philipperbrief deshalb wirksam zuspricht. Die Unterscheidung von Jesus Christus als sacramentum und als exemplum erweist sich deshalb auch für das Verständnis des Zusammenhangs von Gotteslehre, Christologie, Soteriologie und Ethik in der paulinischen Theologie als zentral.16 So ist deutlich geworden, dass die „Gotteslehre“ des Paulus nicht als Alternative zur Christologie, sondern gerade von dieser aus erschlossen werden muss. Von hier aus wird das Charakteristikum dieser Rede von Gott erkennbar. Die eigentliche Absetzung des paulinischen Gottesverständnisses von einem „metaphysischen“ Gottesverständnis liegt nicht darin, dass Theologie ausschließlich als Anthropologie zu konzipieren wäre. Sie liegt vielmehr darin, dass Paulus Gott nicht im platonischen Sinn als αἰτία oder als „Prinzip“ der Welt begreift, sondern als Gegenüber zur Welt und zum Menschen, das gleichwohl in der Welt konkret begegnet. Deshalb redet Paulus von dem Gott, der in seinem Namen (κύριος) begegnet. Von diesem Namen aus wird er als „Vater“ erkennbar. Deshalb ist Gott der Vater Jesu Christi (2Kor 1,3; 11,31, vgl. Kol 1,3; Röm 15,6) und der Vater der Glaubenden (1Thess 1,1.3; 3,11.13; 1Kor 1,3; Röm 1,7). Diese Rede von Gott als dem „Vater“ unterscheidet sich signifikant von der Art und Weise, in der im hellenistischen Kontext von Gott als „Vater“ geredet wird. Wir hatten gesehen, dass Paulus auch in 1Kor 8,6 nicht von Gott als dem „Prinzip“ der Welt redet. Seine Rede von dem einen Gott ist von der Begegnung im Christusgeschehen her bestimmt. Diese Art der Rede von Gott nimmt den Duktus des Bekenntnisses von Dtn 6,4 auf, in dessen Zusammenhang das Handeln Gottes an seinem Volk erinnert wird: der Auszug aus Ägypten, in dem sich Gott als der Gott Israels erwiesen hat. Die Haltung der „Liebe“ zu Gott (1Kor 8,3, vgl. Dtn 6,5) resultiert aus dieser Rettungserfahrung. Das Handeln Gottes an den Glaubenden „durch“ Jesus (1Kor 8,6b) ist als das Erlösungshandeln zu verstehen, mit dem er seine Schöpfung zum Ziel führt. Auch in 1Kor 8,6 ist Gott der „Vater“ als der, der in Jesus Christus an den Menschen handelt. Aber auch im alttestamentlichen Kontext wird die „Vater“-Bezeichnung Gottes
16 Zu dieser Unterscheidung s. Luther, WA 10, 11 (vgl. Bauspiess, No quest, 149f). Der Begriff des exemplum wird im Blick auf Phil 2,6–11 in der neueren Forschung etwa von Becker, Mimetische Ethik, 226–229 verwendet, vgl. Vollenweider, Schattengefechte, 225. Die lutherische Unterscheidung ist m. E. treffender als die im Anschluss an Käsemann die Diskussion beherrschende Alternative von Christus als „Urbild“ und „Vorbild“ (s. dazu oben in Kapitel 8 dieser Arbeit). Auf diese Weise lässt sich auch die Alternative von „Indikativ“ und „Imperativ“ im Richtung eines „Performativs“ (vgl. Landmesser, Performativ) aufheben.
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mit dem Heilshandeln Gottes am Menschen verbunden.17 Paulus steht in seinem Verständnis der „Vaterschaft“ Gottes dem alttestamentlichen Denken demnach sehr viel näher als der Stoa. Für dieses Denken ist charakteristisch, dass es Gott von der Begegnung her versteht. Dieses Moment macht die alttestamentliche Tradition für Paulus anschlussfähig: Er findet in den biblischen Texten das Geschehen wieder, das er von Christus her neu begreift. So wird ihm die Tradition der Hebräischen Bibel und der Septuaginta zum „Alten Testament“, zu einer aus der Perspektive des Christusglaubens gelesenen Bibel. In diesem Interpretationsprozess wird das Alte Testament aber nicht einfach überformt, sondern Paulus entdeckt vom Christusglauben aus Entsprechungen zur Geschichte Gottes mit Israel. So ist es auch aus historisch-kritischer Sicht verstehbar, weshalb Paulus daran festhält, dass der Vater Jesu Christi kein anderer als der Gott Israels ist und sich deshalb die an Israel ergangenen Verheißungen in Jesus Christus erfüllen.18 Die Pointe der Rede von Gott als πατήρ liegt für Paulus darin, dass es der in Jesus Christus begegnende Gott ist, an den Paulus mit der frühchristlichen Tradition glaubt. Dieser Aspekt ist in der Forschung durchaus gesehen worden, er wurde dabei allerdings immer wieder in einem historisierenden Sinn verzeichnet. Diese Historisierung ist bereits bei Joachim Jeremias, angelegt, von der sich die neuere Forschung zunehmend abzusetzen versucht, ihm dabei aber gerade im entscheidenden Punkt folgt, insofern sie die Anrede „Abba“ als Ausdruck des besonderen „Gottesverhältnisses“ des Menschen Jesu versteht.19 Der Rekurs auf das „Gottesverhältnis Jesu“20 aber überspringt den Zusammenhang, der zwischen den Paulusbriefen und dem Markusevangelium besteht. Denn nicht die Erzählung des Markusevangeliums, die die Gottesanrede „Abba“ im Munde Jesu überliefert 17 So bemerkt bereits Jeremias, Abba, 17 zu Jer 31,9: „Das entscheidend Neue dabei ist, daß die Erwählung Israels zum Erstgeborenen in einem geschichtlichen Akt, nämlich beim Auszug aus Ägypten, sichtbar geworden ist. Diese Verbindung der Vaterschaft Gottes mit einer geschichtlichen Tat bedeutete eine tiefgreifende Umgestaltung des Vaterbegriffs.“ Vgl. Jes 63,16; Jer 3,19, aber auch 2Sam 7,14. Im Zusammenhang mit der Schöpfung des Menschen Dtn 32,6; Mal 2,10, zum Unterschied zur altorientalischen Vorstellung Jeremias, aaO., 16. 18 Es besteht deshalb überhaupt kein Anlass, das Alte Testament als „Buch der Kirche“ preiszugeben. 19 Exemplarisch ist die Beschreibung bei Zimmermann, Namen, 47f: „Aufgrund des sehr viel differenzierteren Blicks auf die frühjüdischen Quellen, der vor allem durch die sprachgeschichtlichen Analysen Schelberts und Fitzmyers als auch durch die textlichen Analysen Strotmanns als auch durch die neuen Qumranfunde möglich geworden ist, scheint deutlich zu sein, dass die von Jeremias postulierte Einzigartigkeit des Gottesverhältnisses Jesu, die sich genau in der ,Abba‘-Anrede manifestierte, korrigiert werden muss: mit der Vateranrede steht Jesus und stehen die ntl. Schriftsteller in frühjüdischer Tradition, wenngleich einige von ihnen diese Anrede und Bezeichnung deutlich betonen. Somit beschränkt sich das Besondere des Gottesverhältnisses Jesu sicherlich nicht auf die Anrede Gottes mit ,Vater‘.“ 20 Theologiegeschichtlich im Hintergrund steht Schleiermachers „Übersetzung“ des „Seins Gottes“ in Jesus in ein „Gottesbewusstsein“, vgl. Schleiermacher, Glaube II, § 96, 57.
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(Mk 14,36), ist der älteste Beleg, sondern die beiden Stellen aus den Paulusbriefen, an denen der Apostel die Anrede ἀββά mit ὁ πατήρ übersetzt und auf das Wirken des Geistes zurückführt (Gal 4,6; Röm 8,15), sind die frühesten Belege für die christliche Anrede Gottes als „Vater“. Hier wird der Ursprung der Rede von Gott als Vater im Gebet und im Gottesdienst greifbar,21 auf den wir auch an anderen Stellen in den Paulusbriefen gestoßen sind (von 1Thess 1,1ff an bis zu Phil 2,6–11). Der Gott, mit dem die Glaubenden sich in ihrer Gegenwart verbunden wissen, erhält die ihm gebührende „Ehre“ gerade dadurch, dass er als „Vater“ erkennbar wird, der in Christus an den Menschen gehandelt hat (Phil 2,11). Wenn Gott als „Vater“ angeredet wird, dann übernehmen die Glaubenden damit nicht einfach das „Gottesverhältnis Jesu“, wie in der neueren Forschung geradezu durchgängig behauptet wird.22 Vielmehr wird das in Jesus begründete und bestehende Gottesverhältnis der Glaubenden realisiert. So werden die Glaubenden im Kontext von Gal 4,6 und Röm 8,15 als υἱοὶ θεοῦ (Röm 8,14) bzw. als υἱοί (Gal 4,6a) bezeichnet. Für Paulus ist der mit ἀββά ὁ πατήρ angeredete Gott nicht der „Gott Jesu“, sondern der in Jesus Christus gegenwärtige Gott.23 Denn durch Gottes Heilshandeln in Jesus Christus wird ein neues Gottesverhältnis begründet: Die Glaubenden sind „Söhne“ oder „Kinder Gottes“, weil sie durch das Christusgeschehen in ein neues Verhältnis zu Gott versetzt werden. Sie haben damit nicht einfach das „Gottesverhältnis“ Jesu, sondern eine Beziehung zu Gott, die in Jesus besteht, mit dem sie wie mit Gott verbunden sind und der wie Gott ihr Gegenüber ist. Diese von Gott her begründete Beziehung zu den Glaubenden artikuliert sich in der Anrede ἀββά ὁ πατήρ, bei der Paulus konkret an das Vaterunser denken dürfte. Im Blick auf die entsprechende Erzählung des Markusevangeliums ist zu berücksichtigen, dass diese in einem theologischen Gesamtrahmen steht: Hier wird nicht einfach eine Szene historisch berichtet, sondern es wird erzählt, was Paulus in Gal 4,6 und Röm 8,15 sagt: Die Beziehung der Glaubenden zu Gott wird dadurch gestiftet, dass der „Kelch“, um dessen „Vorübergehen“ Jesus in Mk 14,36 bittet, eben nicht an ihm vorübergehen kann. Erst am Kreuz wird Jesus für die Menschen als „Sohn Gottes“ erkennbar (Mk 15,39) und nur vom Kreuz her eröffnet sich Gottes
21 Exemplarisch Mussner, Gal, 275f (zu Gal 4,6); Wilckens, Röm II, 137; Zeller, Röm, 160 (zu Röm 8,15). 22 S. dazu die in Kapitel 1 zitierten Äußerungen von Feldmeier und Vollenweider sowie die oben in Anm. 19 zitierte Bemerkung von Zimmermann, Namen, 48. Ergänzend weise ich auf Böttrich, Gottesprädikationen, 68 hin: „Jesu besonderes Verständnis von der Vaterschaft Gottes, das in der Frömmigkeit seiner Zeit einen neuen Akzent setzt, wird in Gestalt variierender Vater-Prädikationen für das Gottesverhältnis der christlichen Gemeinde prägend.“ 23 Ebenso wenig lässt sich (mit Dalferth, Wirkendes Wort, 54) Jesus als „Exeget der Gegenwart Gottes“ verstehen. Jesus ist für Paulus in Person Gottes Gegenwart.
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Gegenwart, wie das Motiv des Zerreißens des Tempelvorhangs im unmittelbar voraufgehenden Vers Mk 15,38 zeigt. Auch das Markusevangelium erzählt demnach nicht vom „Gottesverhältnis“ Jesu, sondern von dem in Jesus begründeten und bestehenden Gottesverhältnis der Glaubenden.24 Der Evangelist Markus steht hier seinerseits in der frühchristlichen Tradition, in der auch Paulus steht.25 Da sowohl die Anrede Gottes als „Vater“ als auch die Anrede Jesu als κύριος durch den Heiligen Geist erschlossen wird (Gal 4,6; Röm 8,15; 1Kor 12,3b), und der Glaube an Gott nach Paulus konkret durch das Wirken des Geistes, der das Evangelium als Wort Gottes erschließt (1Thess 1,5; 2,13; 1Kor 2,10; Gal 3,1f) wirksam wird, lässt sich von einer „trinitarischen“ Struktur der paulinischen Rede von Gott sprechen.26 Gemeint ist damit nicht, dass Paulus eine Trinitätslehre formulieren würde oder eine solche in die Paulusbriefe eingetragen werden soll. Gemeint ist damit aber, dass für Paulus Vater, Sohn und Geist drei unmittelbar miteinander verbundene Größen sind, die für die Rede von Gott grundlegend sind (vgl. 2Kor 13,13). Dieser Zusammenhang unterstreicht, dass für Paulus die Beziehung eines Menschen zu Gott grundlegend für seine Rede von Gott ist. Diese Beziehung begründet Gott selbst. So unterstreicht das Motiv des Geistes die Unhintergehbarkeit der Perspektive des Christusglaubens für die paulinische Rede von Gott. Die Begegnung mit Gottes Gegenwart in Jesus Christus ist der Ausgangspunkt der paulinischen Rede von Gott. Die einzigartige Weise, von Gott zu reden, die der Pharisäer Paulus einst als Blasphemie angesehen hat, wird ihm zum Anfang einer Rede von Gott, die den Blick auf den Menschen und sein Heil fundamental neu prägt und so konkret Orientierung geben kann. Paulus knüpft dabei an die frühchristliche Tradition an, die das Christusgeschehen als „nach den Schriften“ geschehen versteht (1Kor 15,3f; Röm 1,2). Insofern stellt sich Paulus in dieser Rede von Gott ganz bewusst in eine vor ihm beginnende Tradition. Im Horizont dieser Tradition redet er von Jesus Christus als der Gegenwart Gottes und auf diese Weise von dem gegenwärtigen Gott. Paulus begründet damit keine gänzlich neue Rede von Gott. Auch in der Christologie ist Paulus nicht innovativ. Seine eigentliche theologische Leistung kann vielmehr darin gesehen werden, dass er die Konsequenzen des in Jesus Christus gegenwärtigen Gottes in den Briefen an seine Gemeinden in konkreten Kontexten zur Sprache bringt. In dieser Konkretion des Gottesverständnisses liegt das Potential der paulinischen Rede von Gott für die gegenwärtige Theologie. Im Anschluss an Paulus von Gott zu reden würde deshalb bedeuten, von dem gegenwärtigen Gott zu reden, der der Theologie zu denken gibt. 24 Boring, Mark, 399 bemerkt mit Recht zu Mk 15,36, dass für den Evangelisten Markus Gott und Jesus „not finally separable persons“ seien. 25 Dass die Gethsemane-Erzählung bereits unter dem Einfluss der bei Paulus greifbar werdenden frühchristlichen Theologie entstanden ist, erwägt bereits Bultmann, GST, 333. 26 Hier nimmt Paulus ein Motiv aus der Weisheitstheologie auf.
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Personenregister (nur die im Haupttext genannten Namen)
A Aquin, Thomas von 61 Assmann, Jan 52, 53, 199 B Bachmann, Michael 235 Baur, Ferdinand Christian 20, 24, 137 Becker, Eve-Marie 222 Berger, Klaus 383, 385, 386, 388 Bornkamm, Günther 306 Böttrich, Christfried 54 Bousset, Wilhelm 35–42, 44–46, 48, 56, 82, 97, 194, 195, 211, 231, 427 Boyarin, Daniel 418 Brucker, Ralph 383–386, 393 Bühner, Ruben A. 420, 422 Bultmann, Rudolf 18–20, 24, 25, 31, 39–41, 48, 58, 62, 180, 209, 328–330, 332, 335, 383, 425, 426 C Chaniotis, Angelos 322 Conzelmann, Hans 152 D Dahl, Nils Alstrup 18, 20 Dalferth, Ingolf U. 42 Deissmann, Adolf 40, 41, 43, 45, 48 deSilva, David A. 252 Dibelius, Martin 96, 98, 393 Dunn, James D.G. 29, 235, 252, 409, 410 E Elliot, Neil
264
F Feldmeier, Reinhard 37, 56–59, 98, 216 Fiedler, Peter 265 Fitzmyer, Joseph A. 56, 195 Flebbe, Jochen 27–31, 34, 42, 44, 132, 365 Forschner, Maximilian 215, 265, 274 Frankemölle, Hubert 263, 264 Friedrich, Gerhard 101, 102, 110, 120 G Gese, Hartmut 182 Geyer, Hans-Georg 56 Gielen, Marlis 139 Gnilka, Joachim 381, 384 Guthrie, George H. 283, 298 H Hahn, Ferdinand 331–333 Harnack, Adolf von 36, 37, 62, 96, 97, 115 Harnisch, Wolfgang 310–312 Heidegger, Martin 20 Hengel, Martin 246 Heyden, Wichard von 50 Hofius, Otfried 50, 208, 389, 391, 393, 401 Holtz, Traugott 81, 91, 102, 124, 126, 127 Hoppe, Rudolf 132 Hübner, Hans 90, 287, 308 Hurtado, Larry W. 45, 47–51, 56, 59, 69, 195, 196, 382, 387, 418 J Jantsch, Torsten 31–35, 42, 96, 103, 120, 132, 222, 229 Jeremias, Joachim 389, 398, 434 Jeremias, Jörg 75
476
Personenregister (nur die im Haupttext genannten Namen)
Jervell, Jacob 288, 289 Jüngel, Eberhard 23 K Kammler, Hans-Christian 151, 365 Kant, Immanuel 18 Käsemann, Ernst 324, 330–333, 335, 375, 383–385, 389, 412, 418 Keener, Craig S. 252 Klumbies, Paul-Gerhard 16, 22, 24–28, 32, 34, 37, 45–47, 62, 63, 91, 102, 103, 121, 126, 132, 208, 384, 385 Konradt, Matthias 188, 332 Körtner, Ulrich H.J. 64 Kraus, Hans-Joachim 106, 107, 114, 115 Küng, Hans 23 L Landmesser, Christof 412, 413 Lang, Friedrich 140 Lietzmann, Hans 330 Lincicum, David 221 Lindemann, Andreas 23, 24, 39, 208 Lohmeyer, Ernst 382, 384, 386, 389, 393, 412 Lohse, Eduard 337, 338 Luther, Martin 18, 20, 140 M Melanchthon, Philipp 18 Merklein, Helmut 139 Moltmann, Jürgen 23 Moxnes, Halvor 20–22, 28, 181, 234 Müller, Ulrich B. 269, 382, 383, 394, 395 N Niehoff, Maren R. 218 Norden, Eduard 96 O Oswald, Wolfgang
352
P Pannenberg, Wolfhart Poplutz, Uta 114
333
R Rad, Gerhard von 180 Rehfeld, Emmanuel 372 Reinmuth, Eckart 91 Rendtorff, Rolf 162 Richardson, Neil 37 Ricoeur, Paul 60, 64, 65 Roloff, Jürgen 100 Rosa, Hartmut 65 Rüpke, Jörg 53 S Sanders, Ed P. 41, 235 Sänger, Dieter 258 Schäfer, Peter 26, 47, 418, 420, 422–424 Schleiermacher, Friedrich 18, 62 Schmeller, Thomas 284, 290 Schmidt, Werner H. 114 Schneider-Flume, Gunda 60 Schnelle, Udo 41, 50, 51, 239, 263, 322, 390 Schrage, Wolfgang 45–48, 54, 188, 203, 418, 421, 422 Schreiber, Stefan 85 Schweitzer, Albert 41, 274, 396 Schweizer, Eduard 331–333, 345 Seeberg, Alfred 96, 101 Sellin, Gerhard 137 Siegert, Folker 421 Slenczka, Notger 62 Söding, Thomas 343 Spieckermann, Hermann 37, 56–59, 98, 184, 186, 308 Stendahl, Krister 20, 29, 235, 236, 246, 252, 263, 312
Personenregister (nur die im Haupttext genannten Namen)
T Theißen, Gerd 41, 130, 274 Theobald, Michael 317, 348, 381 Thüsing, Wilhelm 31, 35, 42–45, 222 V Vollenweider, Samuel 57, 59, 289, 387, 388, 395–397, 400 W Wengst, Klaus 331 Werner, Martin 396 Westerholm, Stephen 256, 265
Westermann, Claus 164 Wilckens, Ulrich 98, 99, 119, 333, 334 Wolff, Christian 152, 160, 188, 210 Wolter, Michael 240, 338, 339, 344, 365, 375 Wrede, William 37, 38, 58, 329, 331, 336 Z Zeller, Dieter 160, 203, 211, 216, 222, 310, 337, 338, 361 Zimmermann, Christiane 54–56, 74, 104, 105, 112, 113, 120, 132
477
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
Altes Testament Schriften des masoretischen Kanons Genesis – 1–3 LXX 174f – 1,2 298 – 1,3 34; 184; 284; 287; 297; 300; 313; 430 – 1,3 LXX 298 – 1,4 298 – 1,5 298 – 1,6 184 – 1,9 184 – 1,11 184 – 1,14 184 – 1,20 184 – 1,24 184 – 1,26f 286; 288–290; 410 – 1,26f LXX 176 – 1,26 289 – 1,26 LXX 288 – 1,27 410 – 1,27 LXX 176, 288 – 1,28 LXX 176 – 2 LXX 178 – 3 LXX 174; 176; 178 – 3,7 LXX 174 – 3,1–24 173 – 3,1–9 173 – 3,5 410 – 5,1 288 – 9,6 288 – 12,3 254 – 15,6 240; 254 – 17,1–14 240
– 32,29 363 – 41,45 123 Exodus – 3,14 56 – 3,14 LXX 308; 115 – 13,21f LXX 231 – 15,21 75 – 17,6 231f; 367 – 17,6 LXX 231 – 20,4 111 – 23,21 423 – 25,10–22 313 – 25,22 430; 314 – 32,6 232 – 32,6 LXX 231 – 34,29–35 125; 290–292 – 34,29f 290 – 34,29 292 – 34,30 292 – 34,32 292 – 34,34 LXX 125 – 34,35 290 Leviticus – 16,1–34 313 – 16,14f 314 – 18,5 LXX 254 Numeri – 6,25 299 Deuteronomium – 4 220 – 4,32 109 – 4,33 220 – 4,34 220
480
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
– – – – – – – – – – –
4,34 LXX 220 4,35 205; 220 4,35 LXX 220f 5,6–8 LXX 221 5,4 220 5,8 111 5,23f 220 5,26 109; 118 6,4f LXX 202 6,4 LXX 194; 211f; 221 6,4 50; 53; 194; 201f; 205; 211f; 221; 223; 231; 366; 402; 433 6,5 201f; 433 6,5 LXX 220 6,12 221 6,12 LXX 221 7,7f 83 10,17 208 21,23 LXX 254; 257–261 21,23 68; 148; 430 27,9 LXX 255 27,10 LXX 255 27,15–26 LXX 255 27,26 LXX 254–257; 260 28,1ff LXX 255 28,1 LXX 255 30,14 369 32,40 106
– – – – – – – – – – – – – – – – Josua – 3,10 109 1. Samuel – 17,4 109 – 17,10 109 – 17,36 109 – 17,37 109 – 20,1–12 106 – 20,3 106 – 20,12 106 – 20,13 106 – 20,21 106
2. Samuel (= 2Kön LXX) – 4,9 108 – 7 350; 356 – 7,6f 349 – 7,8 98 – 7,8 LXX 98; 119 – 7,10f 356 – 7,12f 69, 323; 336; 339; 431 – 7,12ff 347f; 356 – 7,12 108; 335; 345; 348; 350; 352; 357; 364; 376 – 7,12 LXX 345; 352 – 7,12–14 338; 350; 357 – 7,12–14 LXX 351 – 7,12–16 349; 354 – 7,13 LXX 352; 354 – 7,14 98; 351 – 7,16 352; 354 1. Könige – 1,29 108 – 2,24 108 2. Könige – 2,2 106 – 2,4 106 – 2,6 106 – 19,4 109 – 19,16 109 – 25,27–30 352 Jesaja – 2,11ff 415 – 8,14 368 – 9,1 LXX 298 – 25,8 113 – 28,16 368 – 29,14 LXX 145 – 42 407 – 42,1–4 406 – 42,8 406; 408 – 42,8 LXX 407 – 44,2 83
Altes Testament
– 44,8 205 – 45,5 205 – 45,14–25 406 – 45,22 406 – 45,23 LXX 118; 402f; 406 – 48,9 408 – 48,11 408 – 49,1–6 249 – 49,18 LXX 118 – 50,10 408 – 51,15f 408 – 52,6 408 – 53 407 – 54,5 409 – 57,15 409 – 57,18f 409 – 57,19 409 – 59,20 LXX 123 – 66,1–4 349 Jeremia – 1,5 202; 249 – 9,22f 268 – 10,10–16 111; 115; 119f; 132 – 10,10 109; 111; 129; 428 – 10,11 111 – 10,12f 111 – 10,14f 110 – 16,14 107 – 23,5 357 – 23,7f 107 – 33,15 357 Ezechiel – 1,4ff 168 – 1,4 168 – 1,28 168 Hosea – 2,1 LXX 118 Joel – 3,1–5 LXX 360; 402
– 3,5 415 – 3,5 LXX 223; 343; 360; 366; 369f Amos – 3,2 202 – 5,18–20 415 Habakuk – 2,4 254; 256 – 2,4 LXX 311 Psalmen – 2,2 LXX 159 – 2,7 329; 331; 351; 355 – 2,9 355 – 8 LXX 175f – 8,6–9 289 – 8,6 288 – 8,6 LXX 174–177 – 8,7 LXX 176 – 23 LXX 165 – 23,7–10 LXX 163f – 24 164; 169, 428 – 24,7–10 169 – 27,8 299 – 28 LXX 165 – 28,1–4 LXX 165 – 28,3 LXX 163; 165; 167 – 28,4 LXX 165 – 28,9 LXX 165 – 29 164; 169; 428 – 29,3 169 – 32,10 LXX 159 – 88,4f LXX 346 – 89,4f 346; 351 – 89,27f 351 – 89,31–33 351 – 104,23 183 – 109,1 LXX 211 – 110,3 351 – 114 387 – 114,2 387 – 114,3–6 387
481
482
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
– 131,1f LXX 346 – 132,1f 346 Hiob – 28 181–183 – 28,1–11 182 – 28,12 181f – 28,20 181f – 28,23 182 – 28,25–27 182 – 28,27 182 – 28,28 144; 181; 183 Sprüche (Proverbien) – 1,20–33 LXX 184 – 3,19 LXX 183 – 8 LXX 183f – 8,13 LXX 183 – 8,22–30 LXX 182 – 8,22–31 LXX 210 – 8,22 LXX 183; 210 – 8,23–25 LXX 183 – 8,30 LXX 183 – 8,31 LXX 184 – 8,32 LXX 184 – 9 LXX 183 – 9,3 LXX 184 Daniel – 3 112 – 3,35 83 – 6 111f – 6,1 112 – 6,11f 112 – 6,17 112 – 6,17 LXX 112 – 6,21 112 – 6,21 θ’ 112; 121 – 6,23 113 – 6,27 113; 122 – 6,23 θ’ 113 – 6,27 θ’ 113 – 7,1–27 421 – 7,1–14 420
– – – – – – –
7,3–7 420 7,13 420–422 7,14 420 7,15–27 420f 7,27 420 12,2 113 12,7 113
Zusätzliche Schriften der Septuaginta 1. Makkabäer – 2,50–64 383 2. Makkabäer – 2,21 246 – 8,1 246 – 14,38 246 4. Makkabäer – 4,26 246 – 5,2 198 – 16,20 94 – 16,21 94 – 16,22 94 Sapientia Salomonis – 1,6 185 – 2,23f 177; 178 – 7 186 – 7,6 287 – 7,17 287 – 7,22 186; 210; 309 – 7,24 186 – 7,25f 287 – 7,25 186 – 7,26 186; 286f; 289f – 8,6 210 – 9,1–3 178 – 9f 183 – 9,9 210 – 10,1–4 177 – 13 309 – 13,1–9 309 – 13,1–6 307 – 13,1f 307f
Altes Testament
– 13,1 150; 308 – 13,5 150 – 13,6 309 – 13,7 150 – 13,8f 309 – 13,8 309 – 13,9 185 – 14,6 185 – 18,4 185 Sirach – 1,8 210 – 10,14 159 – 24 183 – 24,3–7 210 – 24,3 184; 186 – 24,8f 184 – 24,8 184 – 24,12 184 – 24,23 184 – 42,15–25 185 – 42,16 185 – 42,25 185 – 43,27 184 – 43,30–33 184 – 44–50 383
– 44,2 364 – 44,12 364 – 44,13 364 – 45,1 83 Psalmen Salomos – 2 353 – 2,2f 353 – 2,15–18 353 – 2,26–32 353 – 8 353 – 17 347; 353; 431 – 17,1–3 353 – 17,2 354 – 17,3 355 – 17,4 354f – 17,21–25 354 – 17,21 355 – 17,23f 355 – 17,30f 355 Baruch – 3,16–19 181 – 3,16 159 – 3,37 83 – 4,1 184
483
484
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
Neues Testament Matthäusevangelium – 1,1 329; 332 – 1,20 360 – 26,63 117 Markusevangelium – 1,1 332; 358f – 1,11 358 – 1,15 359 – 8,22–26 358 – 9,3 331 – 9,7 329; 331; 358 – 10,46–52 358 – 10,46 358 – 10,47 358 – 10,48 358 – 10,51 358 – 10,52 358f – 11,1–11 358 – 11,10 359 – 12,32 205 – 14,36 57; 435 – 15,34 359 – 15,38 435 – 15,39 358f; 435 Lukasevangelium – 1,32 360 Johannesevangelium – 1,14 373; 393; 398 – 3,16 372 – 12,31 158 – 12,32 283 – 14,30 158; 283 – 16,11 158; 283 – 19,30 398 Apostelgeschichte – 2,14–21 360; 370; 343 – 2,24 401 – 2,30–36 360 – 2,33 403
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
2,36 38; 330f; 335; 342f 3,15 401 5,31 401; 403 9,1–22 245 9,21 244 10,1–11,18 85; 263 10,40 401 10,42 342f 10,44–46 85 11,15 85 11,16f 85 11,18 85 13,30 401 13,33 330f 14 100 14,10 100 14,12 100 14,14 100 14,15–17 99f 14,15 99f; 104 14,17 100 16,11–40 379 17 100 17,1–9 33; 71 17,5 71 17,13 33 17,23–31 99 17,23 99 17,24 99 17,30f 99 17,30 99 17,31 99; 342f; 401 17,32 99f 18,1–18 66 18,1–17 141 18,24 138 18,27–19,1 138 28,17–31 67; 379
Neues Testament
Römerbrief – 1–3 172 – 1,1–7 339 – 1,1–5 428 – 1,1f 323 – 1,1 324–326; 367; 376 – 1,2 340; 436 – 1,3f 63; 68; 75; 143; 160; 317; 319; 323; 326–330; 332–334; 336f; 339; 342; 344f; 356; 361; 367; 375; 377; 382; 384; 390; 392; 396; 431 – 1,3 319; 325; 327–331; 338; 340f; 352; 357; 364f – 1,4 38; 327; 329; 331; 335; 337f; 340f; 343–345; 376; 397 – 1,5 327; 367; 376 – 1,6 376 – 1,7 213; 376f; 433 – 1,9 367 – 1,16f 232f; 307; 311; 325 – 1,16 85; 149; 318; 326; 348; 369 – 1,17 256; 303; 311–313 – 1,18–3,20 172; 219; 254; 260; 303; 305; 309; 311–313; 348 – 1,18–32 430 – 1,18 303; 312 – 1,19–23 150 – 1,19–21 220; 302; 304; 307–309; 312; 430 – 1,19 304–306 – 1,20f 100 – 1,20 308 – 1,21–32 207 – 1,21 172; 245; 305; 308f; 408; 416 – 1,23 207 – 1,24–32 207 – 2,1 310 – 2,17ff 310 – 3,9–20 305 – 3,20 303; 312; 368; 374; 430 – 3,21 303
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
3,21–26 219; 303; 305; 313 3,21–25 264 3,21–4,25 348 3,22 35; 309; 313 3,23f 172 3,23 173–176; 252; 305; 309; 410 3,24 303 3,25 313f; 430 3,26 35 4 28; 364 4,1 341 4,3 364 4,17 21; 132, 364 5,1–8,39 347f 5,1–5 79 5,8 230 5,10 330 5,12–21 177 5,13 368 6,3 231 6,23 372 7 254 7,5f 372 7,7–25 372 7,7f 174 7,12 248; 274; 292 8,1–39 362 8,1–17 371 8,1–11 348 8,1–4 371 8,1–3 371 8,1 292 8,2 295 8,3 50; 260; 330; 332; 371–375; 379; 390; 398; 400; 432 8,4 373 8,9ff 88 8,9–11 178 8,11 179; 251; 342; 375; 377; 404 8,14 435 8,15 57; 213; 219; 251; 376; 425; 435f
485
486
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
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8,18–30 313 8,21 171; 209; 410; 428 8,28 179; 201 8,31–39 347 8,32 330 8,33 84 8,34 122 9–11 90; 253, 318, 338, 361f 9,1ff 347 9,1–5 361 9,2 362 9,2f 272 9,3–5 362 9,3 341; 362 9,4 310; 363 9,5 341; 364–367 9,6 348; 364; 366 9,8f 364 9,11 84 9,19ff 118 9,19–21 118 9,24 118 9,26 118 9,30–10,6 264 9,30–33 368 9,30f 272 9,31 294 10,1 361 10,2 248; 301; 368 10,3 368 10,8 369 10,8–17 118 10,9–13 343; 430 10,9 213; 223; 297; 343; 360; 377; 392; 402; 415 10,12 318; 366–369 10,13 360; 369; 402; 413; 415 10,17 65; 369 11,1 363 11,5 84 11,7 84
– 11,14 362 – 11,25–31 28 – 11,26 123; 376 – 11,28 84 – 11,33–36 361 – 14,8f 119 – 14,9 119 – 14,10–23 225 – 14,10 119; 225 – 14,11 118; 402; 405 – 14,13 225 – 14,14 119 – 14,20 225 – 15,4 326 – 15,7 29 – 15,8 364 – 15,33 322 – 16,7 362 – 16,11 362 – 16,13 84 – 16,20 322 – 16,21 362 1. Korintherbrief – 1Kor 32 – 1–3 135f; 140; 151; 196 – 1 149 – 1,1 71 – 1,2 93; 143; 154; 212; 223; 228 – 1,3 213; 433 – 1,4f 197 – 1,7 154 – 1,8 415 – 1,9 228; 330 – 1,10 143 – 1,11 143; 154 – 1,12ff 154 – 1,12 137; 142f – 1,13 142; 228; 231 – 1,17 144–146; 294 – 1,18ff 149 – 1,18–4,21 196
Neues Testament
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
1,18–3,4 143; 150 1,18–2,16 183; 280 1,18–2,5 144 1,18–31 151f 1,18–25 138; 140; 143–145; 151f; 156 1,18 85; 143–146; 151; 155f; 160; 281; 283; 303 1,19 145f 1,20–25 145 1,20 145; 152 1,21 145; 150f; 160 1,22f 147 1,22 146f 1,23 146–148; 259 1,24 144; 146–148; 151; 153 1,26–31 143–145 1,26 144 1,30 144; 146; 151; 153 1,31 268 2 149; 178 2,1–5 153f; 148; 152; 223; 281; 428 2,2 148 2,4f 156 2,4 148 2,5 148; 152; 155 2,6–3,4 144 2,6–16 139; 142; 146; 152; 155; 170; 172; 180 2,6–9 143f; 155; 157–160; 171; 175; 187 2,6–8 138; 156; 185 2,6f 151 2,6 139; 144; 151–158 2,7–9 157 2,7f 141; 158; 169; 188; 282; 289 2,7 138; 144; 152; 154; 156–158; 161; 171; 176; 179; 209; 410; 428 2,8–10 151 2,8 63; 68f; 135; 138f; 144; 152f; 158f; 160f; 163; 170; 180; 185; 187; 193; 232;
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
262; 285; 336; 366; 368; 385; 392; 411; 428; 432 2,9 179; 182; 201 2,10–16 143f; 149; 155; 160; 187 2,10–12 161 2,10 161; 180; 189; 208; 436 2,11 187 2,12 167 2,16 153; 187 3 142; 193 3,1–4 143f; 154 3,1 153 3,2 153 3,3f 143 3,3 143 3,4ff 143 3,4–6 137; 142 3,6 138 3,10 142 3,11 142; 215 3,16 119 3,22 137; 142 4 200 4,6 137; 284 4,16 86 5 196 5,9 141; 196 6,14 136 8 223 8,1–11,1 193; 196f; 210; 231 8,1–13 193; 196f; 199; 201; 203; 207; 211; 220; 223; 226; 228; 243; 381 8,1–6 201f 8,1–3 199f; 204 8,1 196f; 200f; 203–205 8,2 200 8,3 64; 179; 200–202; 207; 209; 433 8,4–6 199; 204 8,4f 226 8,4 199; 204–206; 211f; 214 8,5f 38; 201
487
488
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
– 8,5 195; 199; 204–207; 211; 284; 429 – 8,6 15; 26; 34; 39; 42f; 50; 59; 63; 67; 101; 193–195; 198f; 201f; 204; 207–216; 219; 221–224; 228–232; 306; 365f; 368; 377; 381; 402; 415; 427; 432f – 8,7–13 199; 201f – 8,7–10 223f – 8,7 199; 224f – 8,8 225 – 8,9 199 – 8,10 199; 225f – 8,11–13 227f – 8,11 199; 216; 221; 225; 227; 429 – 8,12f 199 – 8,12 199; 228 – 9 196 – 9,1–11,1 223 – 9,1–27 224 – 9,1 223; 232; 249f; 280; 302; 428 – 9,2 223 – 9,16 250 – 9,20 274 – 10,1ff 231 – 10,1 231; 364; 367 – 10,2 231 – 10,4 231f; 367 – 10,6 367 – 10,7 231 – 10,14ff 232 – 10,14–21 232 – 10,18 362; 364; 366 – 10,19f 207 – 10,21 211; 226; 232 – 10,28 197 – 10,33 86 – 11,1 86; 196 – 11,18 143 – 11,23ff 223 – 11,23–25 143 – 11,23 243 – 12,2f 212
– 12,2 96f; 205; 213; 223; 368 – 12,3 97; 213; 297; 360; 369; 402; 404f; 425; 436 – 12,8 193; 341 – 12,25 143 – 13,4 200 – 13,10 155 – 13,12 64; 202 – 14 54 – 14,20 155 – 14,25 54 – 15 136; 171 – 15,1ff 223 – 15,1 81 – 15,3–11 429 – 15,3–5 143 – 15,3f 154; 326; 436 – 15,3 242; 243 – 15,8 249; 280; 302 – 15,9 244; 247 – 15,11 85; 428 – 15,20 178 – 15,22 178 – 15,28 54; 59; 330 – 15,32 380 – 15,35–57 216 – 15,42–49 179 – 15,42f 177 – 15,42 177f – 15,43 171; 177; 209; 428 – 15,44–49 178 – 15,49 178 – 15,53–55 179 – 16,12 137 2. Korintherbrief – 2Kor 32 – 1,1 71 – 1,2 213 – 1,3 433 – 1,8–11 380 – 1,19 71
Neues Testament
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
2,6–16 138 2,12f 278 2,14–7,4 34; 278–280 2,14–4,6 281 2,14 280f 2,15f 281 2,15 283 2,17 281; 426 3 126 3,1–3 281 3,1 281 3,2 281 3,3 118f; 126; 281; 295 3,4ff 291 3,4–18 125; 279; 281; 290; 294f 3,6f 368 3,6 291 3,7–11 279; 281; 430 3,7–9 279 3,7 281f; 290–293; 296 3,8 291; 293 3,9 293 3,11 293f 3,13 293 3,14 125 3,15 294 3,16 101f; 121; 125 3,17f 297 3,17 125; 294f 3,18 160; 281; 289; 294–296 3,19 294 4,1–6 279f; 282; 290f; 303 4,1–4 305 4,1f 282 4,1 279; 281; 291; 295 4,2 281; 297; 305 4,3f 281; 283 4,4–6 28 4,4 43; 160; 186; 279; 280; 283; 284; 286–290; 296f; 410 – 4,5 280; 296f; 369; 404
– 4,6 16; 34; 68; 249; 277; 279–282; 285; 289; 296f; 298; 299–302; 313; 314; 336; 426; 428; 430 – 4,7–15 288 – 4,10f 404 – 4,10 288 – 4,14 225; 404 – 5,10 119; 122 – 5,14–21 426 – 5,16 160 – 5,17 216; 295; 301; 430 – 5,19 256 – 5,21 260f; 333; 375 – 6,14–18 119 – 6,16 98; 118f – 6,18 59; 98 – 7,5–7 278 – 8,9 50, 372 – 8,18 98 – 9,6–8 400 – 10–13 34 – 11,4 404 – 11,7 325 – 11,17 81 – 11,22 363 – 11,31 433 – 13,13 436 Galaterbrief – Gal 32 – 1–3 239 – 1–2 238 – 1 245; 248 – 1,1 27; 240–242; 250; 283; 323; 325 – 1,3 213; 242 – 1,4 242; 250 – 1,5 245 – 1,6f 238 – 1,6 27; 252 – 1,8f 243 – 1,10 325 – 1,11–2,23 244
489
490
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
– – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
1,11–24 237–240 1,11–23 283 1,11f 241 1,11 239; 243 1,12 243f 1,13f 234; 271 1,13 244; 246f; 262; 271 1,14 246 1,15–23 265 1,15f 27; 245; 247f; 251; 256; 263; 285 1,15 244; 248f 1,16 16; 68; 81; 83; 244; 246; 248f; 253f; 256; 261; 280; 285; 298; 301f; 325; 330; 336; 367; 373; 375; 390; 392; 426; 428 1,23f 245 1,23 81; 95; 244; 247; 262 1,24 27; 245 2 239; 245 2,1–10 238 2,4 239 2,5 239; 247 2,7–9 262 2,7 262 2,11–23 238 2,14 239; 246; 247 2,15–21 264 2,16ff 239 2,16 34; 240; 256 2,19 27 2,20 249f 2,21 374 3 364 3,1–14 264 3,1f 243; 244; 262; 428; 436 3,1 148 3,2 65; 85; 223; 245; 247f 3,6–9 254 3,8 27; 254 3,10–14 252; 254; 265
– 3,10 254f; 257 – 3,11 254 – 3,13 68; 252; 254; 256f; 259–261; 285; 333; 373–375; 392; 426; 430 – 3,17 27 – 3,21 374 – 3,22 35 – 3,23 126 – 3,26–29 59 – 3,26 27; 35 – 4,3 126; 253 – 4,4–7 88; 242; 373 – 4,4–6 50; 126; 251 – 4,4f 251; 260; 372 – 4,4 250; 332f; 379; 390 – 4,5 252 – 4,6 57; 213; 219; 250f; 373; 376; 425; 435f – 4,7 27; 251 – 4,8f 251f – 4,8 206; 251; 368 – 4,9 101f; 121; 126; 202; 251 – 4,19 295 – 4,24 362 – 4,29 362 – 5,6 80 – 5,12 268 – 6,13f 269 – 6,14 269 – 6,15 216 – 6,17 404 Epheserbrief – 1,2 213 – 1,20f 403 – 1,21 403 Philipperbrief – 1,1 71; 268; 324 – 1,2 213 – 1,3–11 266 – 1,4 412 – 1,5f 416
Neues Testament
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – –
– – –
1,6 274; 414; 416 1,7 379 1,9–11 416 1,10 414; 416 1,11 416 1,12–26 379 1,12 266 1,13f 379 1,15 266 1,16 267 1,17 379 1,18 266 1,23 54; 379; 424 1,27–2,18 381; 412; 416f 1,27 416 2,2 412–412 2,3 412 2,4 412; 429 2,5 411–413; 424 2,6ff 38 2,6–11 25; 38; 49; 59; 63; 69; 75; 143; 160; 213; 226; 320; 379; 381–393; 409–411; 413; 414–419; 422f; 427–429; 431; 433; 435 2,6–8 50; 372f; 390f; 393–341; 402; 417 2,6f 382; 410 2,6 368; 383; 391f; 394f; 397; 399 2,7 374; 383; 399f 2,8 25; 384f; 391; 398f; 403; 414 2,9–11 366; 368; 390; 395; 401–405; 407–409; 420; 422; 426; 430 2,9 392; 401f; 403; 405; 408; 423 2,10f 402; 406 2,10 392; 404f 2,11 54; 207; 213; 216; 223; 297; 314; 335; 369; 387; 390f; 395; 411; 413-416; 424; 435 2,12–18 414; 416 2,12 414 2,13 414; 416
– 2,16 414; 416 – 2,19 412 – 3 32 – 3,1–4,1 381 – 3,1–11 381 – 3,1 267; 381; 412 – 3,2ff 268 – 3,2–4,1 380 – 3,2–11 237; 263; 264; 267; 269; 274 – 3,2–9 264 – 3,2 266–268; 381; 424 – 3,3 268f; 409; 424 – 3,4–6 269 – 3,4 269 – 3,5f 234; 269 – 3,5 271f – 3,6 244; 247 – 3,7ff 274 – 3,7–11 16; 248; 269; 428 – 3,7 272 – 3,8f 68; 272 – 3,8 263; 265; 272 – 3,9 35; 271–273; 318; 424 – 3,10 273 – 3,20 417; 431 – 3,21 216 – 4,1 412 – 4,4–7 409 – 4,4 267; 381; 412; 424 – 4,5 267; 413; 424 Kolosserbrief – 1,1 67 – 1,2f 213 – 1,15f 301 – 1,15 43; 280; 286; 289 1. Thessalonicherbrief – 1Thess 32 – 1–3 263 – 1,1ff 435 – 1,1–3,13 127
491
492
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
– 1,1–10 82; 84; 95; 102; 105; 113; 116; 118f; 125f; 128 – 1,1–8 103 – 1,1 71–75; 77; 82; 83; 98; 116f; 126–12; 213; 425 – 1,2ff 80 – 1,2–3,13 74 – 1,2–10 73; 76; 79 – 1,2–7 155 – 1,2–5 426 – 1,2f 74; 77f; 82 – 1,2 75–78; 80 – 1,3 74–80; 82; 86; 93f; 103f; 116; 122; 126f; 129; 414; 428 – 1,4–7 73; 76f; 82f; 85; 91; 95; 130; 132 – 1,4f 84; 148 – 1,4 83f; 131; 202 – 1,5–7 148 – 1,5 84–87; 126; 130; 146; 156; 223; 281; 428; 436 – 1,6f 91 – 1,6 80; 84–87; 89; 92f; 196; 412 – 1,7 85; 88; 90; 96 – 1,8–10 77; 88; 90f; 132 – 1,8 32; 35; 76; 89–95; 102; 127; 132 – 1,9f 63; 73; 76; 91; 95f; 99; 101–105; 110; 113; 115; 119f; 126; 414 – 1,9 32; 67f; 73; 76; 90f; 95–97; 100–105; 110; 115f; 118; 120f; 123; 126–130; 132; 140; 205; 294; 368; 427 – 1,10 68; 76; 79; 82; 90f; 94; 96f; 99f; 111; 114–117; 121–123; 128; 343; 402; 415; 428 – 2,1 130 – 2,2 325 – 2,5 129 – 2,8f 325 – 2,8 130 – 2,9 130 – 2,10 129
– 2,13 65; 85; 87; 92; 126; 130; 428; 436 – 2,14–16 33; 89f; 131; 259; 318; 380 – 2,14 88f – 2,16 131; 318 – 2,18 72; 283 – 2,19 79; 129; 414; 428 – 3,2 73; 130 – 3,5 72; 283 – 3,6–10 82 – 3,6–9 80 – 3,6 72f; 80f; 93 – 3,7 80; 82 – 3,8 82; 128f – 3,9 78; 80; 82; 87; 428 – 3,10 154 – 3,11–13 74 – 3,11 74; 78; 127 – 3,13 74; 78f; 127; 415 – 4,1–5,28 128 – 4,1 74 – 4,3 128 – 4,4 128 – 4,6 128 – 4,7 128 – 4,13–5,11 154 – 4,13–18 415 – 4,13 79 – 4,14 123; 154 – 4,15 92 – 4,17 54; 79; 129 – 5,1–11 122; 128; 415 – 5,2 79 – 5,4 79 – 5,8 79 – 5,9f 122 – 5,9 122; 128f; 343; 415 – 5,10 122 – 5,23 76; 79; 128 – 5,24 128 – 5,27 72
Neues Testament
2. Thessalonicherbrief – 1,2 213 – 1,11 80 – 3,1 92 1. Timotheusbrief – 1,2 213 – 1,12–17 279 – 1,13 244; 279f – 1,16 279f – 3,15 118f – 4,10 118f 2. Timotheusbrief – 1,2 213 – 2,8 333f Philemonbrief – 1,1 71 – 5 35
Hebräerbrief – 1,3 403 – 1,4 403 – 6,1 104 – 10,31 118 Jakobusbrief – 2,19 205 1. Petrusbrief – 1,21 94 – 3,18 342 1. Johannesbrief – 2,22 404 – 4,3 404 – 4,9 372 – 4,15 404 – 5,1 404 – 5,5 40 Offenbarung – 10,5f 118 – 14,4 225
493
494
Stellenregister (nur die im Haupttext genannten Belege)
Frühjüdische Schriften Äthiopisches Henochbuch (= 1Hen) – 1Hen 68; 428 – 22 166 – 22,11 166 – 22,14 166f – 25,3 167 – 25,7 167; 169 – 27,2 168 – 27,3–5 167 – 36,4 168 – 37–71 166; 421 – 40 168 – 40,2 168 – 40,3 168 – 48 422 – 48,2–5 419; 421f – 48,3 419 – 48,5 4148–420; 422 – 48,6 419 – 62,2 169 – 62,7–9 169; 422 – 62,7 169 – 63,1f 168 – 75,3 169 – 81,3 169 – 83,3 169 Hebräisches Henochbuch (=3Hen) – 3Hen 423 Syrischer Baruch – 54,12–20 430 – 54,12–14 310 – 54,16 311 – 54,17–20 311 Griechischer Baruch – 4,15 175 – 4,16 173; 175 Apokalypse des Mose – 19,3–20,2 173 – 19,3 173
– 20,1f 174 – 20,2 173f – 21,6 174 Sibyllinen – 1,7–11 219 – 1,19 220 – 1,20f 220 – 1,27 220 – 1,35 220; 306 Qumran Pesher Habakuk (1QpHab) – 1QpHab 356 Florilegium (4Qflor) – 4Qflor I 356; 431 – I, 1ff 356 – I, 10f 356 – I, 11 357 Tempelrolle (11Q 19) – 64,6–13 258 – 64,12 258 – 64,17f 258 Flavius Josephus Contra Apionem – 2,79f 149 – 2,112–114 149 Joseph und Aseneth – 8,5 123 – 8,10 123; 300 – 11 124 – 11,10 124; 129 – 11,11 124 Philo von Alexandrien De Abrahamo – 268 94 De gigantibus – 9 187
Weitere antike Literatur
De migratione Abrahami – 40 187 De opificio mundi – 25 306 – 170–172 217 – 170 217
– 171 205, 218 – 172 218 De posteritate Caini – 19 217 De praemiis et poenis – 46 187
Frühchristliche Schriften Ignatius von Antiochien Brief an die Epheser – 3,2 333 – 7,2 333 – 18,2 333 – 19,1 158 – 19,2 158 – 20,2 333 Brief an die Magnesier – 8,1 246 – 10,3 246 Brief an die Philadelphier – 6,1 246 Brief an die Römer – 7,3 333
Brief an die Smyrnäer – 1,1 333 Brief an die Trallianer – 9 333 Justin Dialogus cum Tryphone Judaeo – 89,2 257 – 93,4 258 Tertullian Adversus Marcionem – V 20 374; 394
Weitere antike Literatur Aristoteles Metaphysica – 1069a 18–19
229
Diogenes Laertios Vitae – VII 135–136 230 – VII 147 230 Marc Aurel Selbstbetrachtungen – IV 23 215
Platon Timaios – 27–28 229 – 28 116; 214; 217; 229 – 30 218 Plinius Epistulae – X 96
149; 386
495