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German Pages 484 Year 2014
Andreas Hetzel Die Wirksamkeit der Rede
Sozialphilosophische Studien Herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers | Band 2
Editorial Die Reihe Sozialphilosophische Studien siedelt sich auf einem Problemfeld an, das durch das Soziale im weitesten Sinne markiert ist – auf einem offenen Feld, auf dem sich Überschneidungen und Konvergenzen, Konfliktzonen und Kritikpotenziale mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen begegnen. Sozialphilosophie, wie sie die Reihe vertritt, versteht sich demnach nicht als eine philosophische Disziplin unter anderen, sondern als Querschnittsprogramm. Wie »die Kultur« in den Kulturwissenschaften, so ist »das Soziale« ein Operator und kein Gegenstand: Das Soziale lässt sich nicht sagen, sondern es zeigt sich in seinen Vollzugsformen. Entsprechend werden in der Reihe sowohl grundlegende systematische Studien zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Sprechens über das Soziale als auch materiale Untersuchungen publiziert, an denen sich Erscheinungsweisen und Strukturformen des Sozialen ablesen lassen. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Bedorf und Kurt Röttgers.
Andreas Hetzel (PD Dr. phil.) lehrt Philosophie in Darmstadt und Medienwissenschaften in Klagenfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sprachphilosophie, Rhetorik, Politische Theorie sowie Sozial- und Kulturphilosophie.
Andreas Hetzel
Die Wirksamkeit der Rede Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie
Drucklegung mit freundlicher Förderung durch die DFG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
1. Einleitung | 9
1.1 Von der Sprache zur Rede | 9 1.2 Renaissancen der Rhetorik | 21 1.3 zÖon lógon Écon oder Mensch, Sprache und Welt | 28 1.4 Die Negativität der Rede | 38 1.5 Zur Kritik einer handlungstheoretischen Pragmatik | 54 2. Rhetorik und Philosophie | 73
2.1 Eine Kultur der Rede | 73 2.2 Rhetorischer und philosophischer lógoV | 82 2.3 Rhetorischer Akosmismus | 108 2.4 Medialität des lógoV, Agonalität der lógoi | 123 2.5 Die Einheit von res und verbum | 149 2.6 Rhetorik, Logik und Argumentation | 156 3. Die Politik der Rede | 187
3.1 Rhetorik und radikale Demokratie: Die Polis | 187 3.2 Rhetorische Politik und philosophische Politikverleugnung | 210 3.3 Der Ruf des kairóV. Zur Situationalität der Rede | 235 3.4 Rhetorische Zeit | 265 3.5 Die Bildung des rhetorischen Subjekts | 278 4. Elocutio: Die Lehre der Formen und Figuren | 293
4.1 Reflexionen der Sprachform | 293 4.2 Die Macht der Tropen | 306 4.3 Die Positivierung des Scheins | 326 4.4 Geste, Stimme und Schrift | 340 5. Die Wirksamkeit der Rede | 367
5.1 Die Logosmystik und ihre modernen Transformationen | 368 5.2 Mythologie der Rhetorik: Helena, Peitho und die Chariten | 392 5.3 ]³joV und pájoV als entechnische Überzeugungsmittel | 430
6. Schlussbemerkung | 443 7. Siglen und Literatur | 445
»Reden aber sind Handlungen unter Menschen, und zwar wesentlich wirksame Handlungen.« GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL »Denn es ist einer der merkwürdigsten und erregendsten Sachbestände gerade griechischen Denkens, dass in ihm von Anfang an, das heißt bereits bei Homer, eine prinzipielle Scheidung zwischen Reden und Handeln nicht statthat, daß der Täter großer Taten auch immer gleichzeitig ein Redner großer Worte sein muss – und dies nicht nur, weil große Worte gleichsam erklärend die großen Taten begleiten müssten, die sonst stumm der Vergessenheit anheimfielen, sondern weil das Reden selbst von vornherein als eine Art Handeln aufgefasst wurde.« HANNAH ARENDT »Wir fangen an, oder sollten es tun, voller Entsetzen zu spüren, dass Sprache möglicherweise auf sehr zerbrechlichen Fundamenten ruht – auf einem dünnen Netz, gespannt über einem Abgrund. Das ist zweifellos der Grund, weswegen Philosophen absolute ›Erklärungen‹ für sie anbieten.« STANLEY CAVELL
Einleitung
1.1 V ON
DER
S PRACHE ZUR R EDE
Redend teilen wir uns einander mit und stiften so eine gemeinsame Welt. Erfahrungen konturieren sich in Rede und Gegenrede, selbst die flüchtigsten Sinneseindrücke und Gefühle drängen nach verbalem Ausdruck. Was sind unsere Gedanken anderes als latente Worte, was wäre Wirklichkeit, wenn nicht der Inbegriff des Mitteilbaren? Noch das Unbenennbare verweist auf den Namen, noch das Schweigen partizipiert am Reden. Als Subjekte sind wir immer schon angerufen worden, antworten in unserem Sein auf Ansprüche. Bereits vor unserer Geburt werden Erwartungen an uns adressiert, finden wir uns in Geschichten verstrickt. Zugleich verfügt die Rede über eine Kraft, die Last alter Erzählungen von uns zu nehmen, neue Geschichten beginnen zu lassen. Im Versprechen etwa entwerfe ich eine gemeinsame Zukunft, die sich der Drohung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen entgegenstellt; in Sprechakten des Verzeihens werde ich von meinem Gegenüber aus einer Schuld entlassen, die nichts anderes wäre als das Festgelegtsein auf die alten Geschichten. Im Reden können wir uns freiund gefangen setzen. Worte verletzen und heilen. Sie stiften Vertrauen und unterminieren es. Sie bauen an einer gemeinsamen Welt und kündigen sie auf. In ihren Möglichkeiten, die von der Bergpredigt bis zur Sportpalastrede, von der Liebeserklärung zum Exekutionsbefehl, von der tastenden Frage zum Dogma, von der Dichtung Hölderlins zu den Phrasen der Boulevardpresse, vom freundlichen Gruß zur Hasssprache reichen, umreißt die Rede den Horizont des menschlichen Miteinander- und In-der-Welt-Seins. Als Medium aller Medien und Bezugsgewebe aller Beziehungen ist uns
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Rede das schlechthin Selbstverständlichste. Als permanenter Vollzug und Übergang lässt sie sich andererseits nie gänzlich erfassen und theoretisch verobjektivieren. Die klassische Rhetorik reflektiert auf unser redendes Miteinander- und In-der-Welt-Sein gerade in seiner Flüchtigkeit. Sie entfaltet ein Sprachdenken, dessen zentrale Motive sich mit solchen der neuzeitlichen Sprachphilosophie immer wieder berühren aber selten einfach zur Deckung bringen lassen. In systematischer Hinsicht betont Rhetorik vor allem zwei Dimensionen des Redens, die wir in einer ersten Annäherung mit den beiden mo1 2 dernen Konzepten der Performativität und der Negativität charakterisieren können. Performativität besagt nichts anderes, als dass unsere Rede in der jeweiligen Aktualität ihres Vollzugs eine spezifische Wirksamkeit entfaltet. Rede wirkt, indem sie sich vollzieht und sie vollzieht sich als Wirkung. Ihre Wirksamkeit kommt ihr nicht als Eigenschaft zu, sondern gründet in nichts anderem als ihrem Vollzug; Negativität wäre zunächst als Name für genau diese Ungegründetheit zu verstehen. In ihrer Wirksamkeit lässt sich Rede nicht reduktionistisch erklären, nicht auf ihr vorgängige mentale Instanzen, soziale Institutionen oder gar physikalische Tatsachen zurückführen, die dann als Ursachen ihrer Wirksamkeit fungieren würden. In einer gewissen Hinsicht ist Rede nichts anderes als die sich verkörpernde Abwesenheit des Grundes im Subjekt, im Sozialen und in der Welt. Mit der Betonung einer Negativität der Rede lässt sich weiterhin zeigen, dass Welt zwar immer durch Rede vermittelt ist, andererseits aber auch nie in ihr aufgeht. Beide
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Vgl. hierzu Andreas Hetzel, »Das Rätsel des Performativen. Sprache, Kunst und Macht«, in: Philosophische Rundschau, 51. Jahrgang, Heft 2, 2004, 1-28.
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Zum Konzept der Negativität vgl. Andreas Hetzel (Hg.), Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm, Bielefeld 2009; ferner Harald Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität. Poetik und Hermeneutik Bd. 6, München 1975; Richard J. Bernstein, »Negativity. Theme and Variations«, in: Praxis International 4/1981, 87-100; Michael Theunissen, »Negativität bei Adorno«, in: Ludwig v. Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz, Frankfurt/M. 1983, 41-65; Wolfgang Bonsiepen, »Artikel Negation, Negativität«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 671-686; Theo Kobusch, »Artikel Nichts, Nichtseiendes«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, a.a.O., Sp. 805-836; Thomas Rentsch, Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/M. 2000.
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Seiten beziehen sich aufeinander nur in ihrem Unterschiedensein, aktualisieren sich ausschließlich in einer paradoxen Begegnung, einer Begegnung in der Differenz; diese Begegnung wiederum vermittelt sich über eine weitere Negativität: Rede und Welt begegnen sich nur dann, wenn sich zwei Subjekte, die sich entzogen sind, etwas in der Welt adressieren. Die antiken Rhetoriker tragen diesem Negativismus dadurch Rechnung, dass sie der schöpferischen Macht und sozialen Wirksamkeit der Rede einen Akosmismus3 korrespondieren lassen: eine Art negative Kosmologie, die von der Unvollständigkeit, Mangelhaftigkeit und Kontingenz des Weltganzen ausgeht. Dessen Unvollständigkeit macht Rede sowohl möglich wie notwendig. Der Negativismus der Rhetorik ließe sich insofern am besten mit einem Diktum Paul Valérys zusammenfassen: »Wäre das Ganze im 4 Augenblick da, vollständig gegeben, so gäbe es keine Sprache.« In ihrer Negativität und Performativität hebt sich rhetorische Rede vom philosophischen Konzept einer Sprache ab, die immer in etwas anderem gründet und selbst als Grund beansprucht werden kann. Vorliegende Arbeit widmet sich dem Ziel, die über ein begründungslogisches Konzept von Sprache hinausweisenden Dimensionen der Rede zurückzugewinnen. Sie stellt sich dazu in den Horizont der von der antiken Redekunst artikulierten Sprachreflexionen. Die klassische Rhetorik beschränkt sich nicht nur auf ein praktisches Bildungsprogamm, sondern sucht auch theoretische Antworten auf die Frage, wie mit Sprache Wirkungen entfaltet, Überzeugungen vermittelt, Situationen verändert, Stimmungen gewendet und soziale Institutionen geschaffen werden. Die Antwortversuche der alten Rhetoriker stehen in ihrer Differenziertheit denen der neuen Sprachphilosophie in Nichts nach. Im Anschluss an die Sprachauffassung der rhetorischen Tradition, wie sie etwa in den Werken von Protagoras, Gorgias, Isokrates, Aristoteles, Cicero und Quintilian entfaltet wird, entwirft die vorliegende Studie eine breit angelegte Theorie sprachlicher Wirksamkeit. Das systematische Interesse der historischen Rekonstruktionen liegt in einem adäquaten Verständnis der pragmatischen, persuasiven und performativen Dimension unseres Sprechens. Das Rhetorische erschöpft sich in keinem psychologisch beschreibbaren Über-
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Vgl. hierzu Kapitel 2.1. Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, übers. v. Markus Jakob et al., Frankfurt/M. 1987, 493.
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reden bzw. Überzeugen. Hinter der rhetorischen Idee sprachlicher Wirksamkeit verbirgt sich vielmehr eine breiter angelegte Theorie rednerischer Welterzeugung. Im griechischen Verb peíjein, welches im Mittelpunkt der sophistischen Theorie der Beredsamkeit steht, wird etwa bei Gorgias von Leontinoi und Isokrates ein geschichtsmächtiges, vor allem auch politisch zu verstehendes Bewirken und Hervorbringen mitgedacht, das über ein psychologisch beschreibbares Überzeugen hinausgeht. Im peíjein, das mit überreden, überzeugen, entscheidenden Einfluss ausüben, jemanden zu etwas bringen übersetzt werden kann, verdichtet sich für die frühen Rhetoriker eine poietische, Welt, Geschichte und Gesellschaft stiftende Kraft der Rede. Ein eigenständiges Sprachdenken wurde der Rhetorik von Seiten der Linguistik und Philosophie selten zugestanden. Geschichtliche Abrisse der Sprachphilosophie ignorieren die Antike entweder vollständig oder beschränken sich auf Platons Kratylos5 sowie die Texte des Aristotelischen Organon. Das Nicht-Wahrnehmen der antiken Rhetorik von Seiten der Sprachphilosophie hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Sprachphilosophie ihren Gegenstand von vornherein repräsentationalistisch konzipiert und Sprache weniger als soziale und politische Kraft untersucht. Der gängige Blick auf die Rhetorik ist heute ein historisierender. Rhetorik gilt als etwas Gewesenes, das durch Philosophie und Linguistik überwunden wurde. Gegenüber diesem historisierenden Zugang möchte ich darauf beharren, dass die zeitgenössische Sprachphilosophie in der antiken Rhetorik eine interessante Gesprächspartnerin finden könnte. Auch wenn sich Rhetorik als die zentrale Bildungsinstitution, die sie in der Antike verkörperte, nicht ohne weiteres wiederbeleben lässt, so können ihre systematischen Potentiale ausgehend von bestimmten Defiziten und Problemlagen der Gegenwartsphilosophie sehr wohl aktualisiert werden. Das Unterfangen, ein Sprachverständnis der Rhetorik rekonstruieren zu wollen, mag zunächst befremden, findet sich doch in der rhetorischen Tradition keine begriffliche Entsprechung von Sprache im neuzeitlichen Sinne. Wie Martin Heidegger bemerkt, haben »die Griechen kein Wort für Spra-
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»Truly philosophical investigations into language was first started by Socrates and then fully developed by his followers, the philosophers of the fourth century.« Carl Joachim Classen, »The study of language amongst Socrates’ Contemporaries«, in: ders. (Hg.), Sophistik, Darmstadt 1976, 215-247, hier: 247.
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che, sie verstanden dieses Phänomen ›zunächst‹ als Rede (lógoV).« Aus der Sicht der antiken Rhetorik zeichnet sich Rede durch ihre Adressiertheit (bevor eine Äußerung etwas in der Welt repräsentiert, wendet sie sich an ein bestimmtes Auditorium), ihre Wirksamkeit (alles Sprechen verändert Einstellungen und Situationen), ihre Figurativität (die eigentliche Bedeutung geht der übertragenen Rede nicht einfach voraus) sowie ihre Performativität (sprachliche Äußerungen lassen sich nie vollständig auf außersprachliche Gründe reduzieren, etwas an jedem Sprechen gründet in seinem je konkreten Vollzug) aus. Das Sprechen definiert sich für die Rhetoriker geradezu durch eine mehrdimensionale Wirksamkeit. Genau dieses Wirksamkeitspotential möchte die vorliegende Studie rekonstruieren, kontextualisieren und kritisch auf die neuzeitliche Sprachphilosophie, insbesondere auf das Projekt einer handlungstheoretischen Sprachpragmatik, beziehen. Der Weg über die antike Rhetorik soll nicht dazu dienen, der Sprachphilosophie zu entkommen, sondern ihr zentrales Konzept, das der Sprache selbst, zu dislozieren, es von subjektphilosophischen, transzendentalistischen und essentialistischen Annahmen zu befreien. Die Arbeit bewegt sich also auf dem Feld der Sprachphilosophie, deren Fundament, der Begriff der Sprache selbst, permanent befragt werden soll. Die Idee der Sprache trägt in gleicher Weise einen historischen Index wie die Idee des Menschen; beide sind durch und durch neuzeitlichen Ursprungs. Politisch bindet sich die Idee einer Sprache zunächst an die Nation und die ihr korrespondierende Vorstellung einer homogenen Nationalsprache. Mit der Ausbildung der europäischen Nationalstaaten im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges verstärken sich die Konzeptionen einer sprachlichen, einer ethnischen und einer kulturellen Identität wechselseitig. So wie die Einheit der Nationalsprachen erst im Zuge einer Autokolonisation, einer Homogenisierung diverser Idiome und Dialekte, etabliert werden konnte, so verdankt sich auch die Idee der Sprache einer vergleichbaren Homogenisierung und Standardisierung. Zum Modell der Sprache werden nationale Einzelsprachen, die jeweils einem klar unterschiedenen Regime unterstehen, einer Grammatik und einem Lexikon folgen. Die gewaltsame Geschichte der Standardisierung wird dabei invisibilisiert und mit der Mythologie einer ursprünglichen Volkssprache überschrieben. Vor der Sprache liegt die ba-
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Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 121972 [1927], 165.
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bylonische Vielfalt der Stimmen, vor der Muttersprache die permanente Übersetzung.7 Ein Begriff der Sprache verdeckt, dass wir es immer nur mit konkreten Äußerungsereignissen zu tun haben. Diese sind nach Wilhelm von Humboldt das einzige Absolute, d.h. nur sie sind wirklich unhintergehbar. Die antike Rhetorik wusste davon Rechenschaft abzulegen, wenn sie auf ein 8 Konzept der Sprache verzichtete und stattdessen der actio , dem je aktuellen, wirklichen Sprechen den höchsten Stellenwert einräumte. Die Rhetorik thematisiert nie die Sprache9 sondern immer nur konkret situierte Rede. Die Identität der Sprache und der Sprachen verdankt sich nicht nur der politischen Einheit der Nation, sondern auch der epistemischen Einheit einer Welt, die von Descartes bis Kant über das Subjekt, im 19. Jahrhundert dann über die positiven Wissenschaften und ihre Anschauungsformen stabilisiert wird. Die Idee der Sprache verweist auf mehreren Ebenen auf die Dominanz eines wissenschaftlichen Weltbilds. Das Denken der Sprache wurde in der Neuzeit immer weiter wissenschaftlich bereinigt. Sprache wurde analog zur Wissenschaft konzipiert, als ein Medium der Erschließung und Repräsentation von Welt. Das Ideal für die Sprache gaben einerseits die Mathematik – etwa in der Konzeption einer mathesis universalis
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Vgl. Rada Iveković, »On Permanent Translation (We are in Translation)«, in: Transeuropéennes 22, 2002 (Translating, Between Cultures/Traduire, entre les cultures), 121-145.
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Actio lässt sich, darin den modernen Begriff der Performativität antizipierend, sowohl als Ausführung bzw. Vollzug, wie auch als praktische Wirkung übersetzen.
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Die Antike kannte allerdings Konzepte, die bestimmte Aspekte unseres modernen Sprachbegriffs vorwegnehmen. So verwendet die Stoa den Begriff der fwn® in einem weiten Sinne, der Stimme, Laut und sprachliches Zeichen umfasst. Die zugehörige Lehre t²V fwn²V wird dabei innerhalb der Dialektik und nicht innerhalb der Rhetorik verhandelt. Ein weiterer Stellvertreter wäre aüd (vgl. FDS 477), der selten gebräuchlich war und eher zur Bezeichnung der lautlichen Seite von Sprache diente, so schon sehr früh an einer Stelle bei Hesiod, an der redende Pferde erwähnt werden (Hesiod Theog. 97) oder bei Homer, der das Schwirren der Bogensehne bildlich als aüd bezeichnet (Il. 19, 418; vgl. auch Od. 21, 411). Siehe hierzu die Arbeit Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie von Wolfgang Ax, Göttingen 1986.
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bei Descartes und Leibniz – andererseits wissenschaftliche Protokollsätze – so bei Locke und Hume – ab. Auf diesen Zusammenhang haben Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge und Karl-Otto Apel in seiner Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico hingewiesen.10 Alle Formen von Sprache, die nicht als wissenschaftsanalog galten, wurden zur Zeit der Konsolidierung der Nationalsprachen mit dem Verdikt des Wahnsinns belegt. Die Sprache der Wissenschaft gab das Paradigma aller Sprachuntersuchungen ab. Darüber hinaus sollte Sprachphilosophie selbst nach Art einer positiven Wissenschaft betrieben werden. Dies führte zu einem naturalisierten und objekthaften Verständnis von Sprache. Seinen Höhepunkt findet diese Entwicklung ausgerechnet in derjenigen Philosophie, die reklamiert, einen linguistic turn11 vollzogen zu haben, eine Umstellung aller zentralen Fragen auf solche der Sprache und des Sprachgebrauchs. Für einen Protagonisten des linguistic turn wie Rudolf Carnap12 »bedeutet Sprechen: Einfangen in Begriffe, Zurückführen auf wissenschaft-
10 Foucault rekonstruiert die Entstehung der Idee der Sprache als Prozess einer Scheidung der Wörter von den Sachen im Übergang von der Renaissance zu Klassik. Statt sich, wie in der Renaissance, wechselseitig zu umschließen und im Modus der Ähnlichkeit zu assoziieren, heben sich die Worte aus der Sicht der Klassik von den Dingen ab, repräsentieren sie. Sprache wäre dann nichts anderes als der Inbegriff der auf ihre Repräsentationsleistung reduzierten Worte (vgl. etwa Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1991 [1966], 76ff.; zu Foucaults Sprachtheorie ferner Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt/M. 1992, sowie Dirk Quadflieg, Das Sein der Sprache. Foucaults Archäologie der Moderne, Berlin 2006). In vergleichbarer Weise konsolidiert sich die neuzeitliche Idee der Sprache für Apel dadurch, dass rhetorische und logosmystische Deutungen der Rede durch rationalistische und empiristische Ansätze verdrängt werden (vgl. Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 21975, 17ff.). Für Foucault wie für Apel verdankt sich die Entstehung der Sprache letztlich einer Verdrängung ihrer Wirksamkeitsdimension zugunsten ihrer Repräsentationsfunktion. 11 Vgl. hierzu die Beiträge in Richard M. Rorty (Hg.), The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method, Chicago/London 1992 [1967]. 12 Rudolf Carnap/Hans Hahn/Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis, Wien 1929, 17.
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lich eingliederbare Tatbestände«. Der ganze Reichtum dessen, was geschieht, wenn gesprochen wird, reduziert sich hier auf eine begriffliche Bewältigung von Wirklichkeit, die sich an der naturwissenschaftlichtechnischen Beherrschung von Welt ausrichtet. Bedeutung erschöpft sich dann in dem, was sich dieser Bewältigungsstrategie fügt: »Ein Satz besagt nur das, was an ihm verifizierbar ist. Daher kann ein Satz, wenn er über13 haupt etwas besagt, nur eine empirische Tatsache besagen.« Die Philosophie des linguistic turn markiert ihrem eigenen Selbstverständnis nach keinen Bruch mit der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie und Erkenntniskritik, sondern setzt deren Projekt mit anderen Mitteln fort. So verweist Michael Dummett darauf, dass die Wendung auf die Sprache mit Kants Analyse der Urteilsformen beginnt.14 Autoren wie Russel, Frege und der frühe Wittgenstein folgen Kant in der Einsicht, dass unser Erkenntnisvermögen wesentlich von unserer Fähigkeit zu sprechen abhängig sei. Sie untersuchen Sprache, um auf diesem Weg die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis besser verstehen zu können, als es ohne Sprachanalyse möglich gewesen wäre. Die Sprachanalyse des linguistic turn versteht sich insofern als eine abgewandelte Form der Erkenntnistheorie. Dies gilt auch noch für Arbeiten aus der jüngsten Zeit, etwa für die 2005 von Friedrich Kambartel und Pirmin Stekeler-Weithofer vorgelegte Monographie Sprachphilosophie. Probleme und Methoden, die sich explizit in die Tradition Kants stellt und Sprache als Instrument der Erkenntniskritik thematisiert, um sich zugleich von einer Betrachtung der »Sprache selbst«15 abzuheben. Eine Wendung auf die »Sprache selbst«, die nicht länger im Dienste des Projektes der Erkenntniskritik stehe, schwebe in der Gefahr, so auch Jens Kertscher16, die Sprachphilosophie »mit dem Anspruch einer prima
13 Rudolf Carnap, »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in: Erkenntnis 2 (1931), 219-241, hier: 236. 14 Michael Dummett, Wahrheit. Fünf philosophische Essays, übers. v. Joachim Schulte, Stuttgart 1982 [1978], 47-48. 15 Friedrich Kambartel/Pirmin Stekeler-Weithofer, Sprachphilosophie. Probleme und Methoden, Stuttgart 2005; vgl. hierzu auch Jens Kertscher, »Pragmatik oder Hermeneutik – einige neuere Arbeiten zur Sprachphilosophie«, in: Philosophische Rundschau, Bd. 54, Heft 4, Dezember 2007, 330-356, hier: 343. 16 Jens Kertscher, »Pragmatik oder Hermeneutik – einige neuere Arbeiten zur Sprachphilosophie«, a.a.O., 330.
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philosophia« zu überlasten. Dem Dilemma, das sich hier andeutet – Sprachphilosophie muss sich entweder auf eine Propädeutik der Erkenntnistheorie beschränken oder die Metaphysik beerben, indem sie Sprache als letzten Grund allen Seins hypostasiert –, möchte die vorliegende Arbeit dadurch entkommen, dass sie nicht länger Sprache als System, sondern Rede als Praxis fokussiert, als eine Praxis, die sich nicht darin erschöpft, den Bereich des Theoretischen zu stabilisieren, noch auch den Anspruch erhebt, den Grund allen Seins zu verkörpern. Ein Denken rednerischer Praxis widerstreitet insofern einem Denken des Grundes (und damit einer prima philosophia), als Praxis ihren Zweck in sich selbst hat bzw. ihre Grundlosigkeit positiviert.17 Von einer auf ein Propädeutikum der Erkenntniskritik reduzierten Sprachphilosophie und einer repräsentationalistisch verkürzten Deutung der Sprache vermochte sich auch der nachwittgensteinsche pragmatic turn, der den linguistic turn eher fortschreibt als überwindet, nicht völlig zu befreien. Die Dimension des Pragmatischen wird häufig18 im Paradigma des Repräsentationalismus rekonstruiert, sie ergänzt die repräsentationalistische Sprachauffassung eher, als dass sie sie ersetzen würde. Dies gilt selbst für die avanciertesten Ansätze sprachanalytischer Philosophie, so etwa für Donald Davidson, der Sprachfähigkeit insofern kognitivistisch verkürzt, als er sie »in erster Linie als Fähigkeit« expliziert, »die Äußerungen, Absichten und Überzeugungen anderer Sprecher zu interpretieren«19. Während Davidson
17 In diesem Sinne beziehe ich mich auf die Rhetorik nicht mit dem Ziel einer Zurückweisung der Vernunft, sondern stelle die rhetorische Rationalität in den Dienst einer postfoundationalistischen Kritik an einem Rationalismus, der sich auf das Prinzip »Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit« (Christian Wolff, Erste Philosophie oder Ontologie, Lateinisch-Deutsch, Hamburg 1985 [1736], § 70 [S. 150]) beruft. Nicht alles an der Rede, so lehrt uns demgegenüber die Rhetorik, lässt sich umstandslos auf Gründe zurückführen. – Zum Konzept einer postfoundationalistischen Vernunft vgl. Ernesto Laclau, Emanzipation und Differenz, übers. v. Oliver Marchart, Wien 2002 [1996], 79-103. 18 So etwa bei Paul Grice, John Searle, Jürgen Habermas und Robert Brandom, nicht dagegen bei Ludwig Wittgenstein, John Austin und Stanley Cavell. 19 Jens Kertscher, »Pragmatik oder Hermeneutik – einige neuere Arbeiten zur Sprachphilosophie«, a.a.O., 332; zu Donald Davidsons Sprachphilosophie vgl.
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Praxis tendenziell in ein Interpretationsgeschehen auflöst, soll hier umgekehrt nach dem praktischen Kern noch jeder Interpretation gefragt werden. Positionen, die sich in die Tradition des linguistic turn stellen, beanspruchen Sprache als Explanandum und Explanans. Den Protagonisten der entsprechenden Ansätze geht es einerseits darum, philosophische Probleme von der (in philosophischen Aussagen verwendeten) Sprache her zu lösen, andererseits darum, Sprache selbst verstehbar zu machen. Sie verkennen tendenziell den medialen Charakter von Sprache (d.h. die Sprachlichkeit ihres eigenen Tuns) und brechen gerade nicht mit einem (in Bezug auf den linguistic turn) vorkritischen Subjekt-Objekt-Denken. Im Gegenteil: Sie unterstellen Sprache diesem Denken, weisen ihr einen Platz in der Ordnung der Dinge an. Doch wer Sprache vergegenständlicht und anderen ontologischen Domänen abstrakt gegenüberstellt, verfehlt gerade ihr Eigentümliches. Die Relationen im Bereich der Sprache lassen sich nicht im Rekurs auf außersprachliche Domänen erklären. Wir müssen zunächst und in aller Entschiedenheit davon ausgehen, dass sich alles Wesentliche in der Sprache (etwa die Sprachlichkeit der Sprache selbst) jeder reduktionistischen Erklärung verweigert. Mit den Worten Wittgensteins: »Die Erklärungen haben 20 irgendwo ein Ende.« Die Sprachlichkeit der Sprache lässt sich allenfalls mit Begriffen umstellen und indirekt konturieren, nicht jedoch in Begriffe auflösen oder einfach explizit machen. Gleichwohl werden wir, nicht zuletzt aus Mangel an konzeptuellen Alternativen, weiterhin mit den traditionellen Kategorien der Sprachphilosophie arbeiten müssen: mit einem Sprechersubjekt, seinen Intentionen, seinen Äußerungen, den Adressaten dieser Äußerungen, den Wirkungen, die die Äußerungen in den Adressaten erzeugen, sozialen Kontexten der Äußerungen, ihnen korrespondierenden pragmatischen Regeln, einer Welt, auf die sich Äußerungen beziehen usw. Wie Nietzsche und Wittgenstein gezeigt haben, postulieren wir, verführt vom Sprachgebrauch selbst, solche Einheiten sowohl im Alltag wie auch in der Philosophie; darüber hinaus gehen wir von Identitäts- und Kausalitätsverhältnissen zwischen diesen
ders., Wahrheit und Interpretation, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1990 [1984]. 20 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, 225-380, hier: 238 (§ 1).
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Einheiten aus, die den Übergang zwischen ihnen erklären sollen. So unterstellen wir etwa eine Identität zwischen dem Gehalt einer Äußerung und einer ihr zugrunde liegenden Intention. Ein Kausalverhältnis besteht etwa zwischen dem Vollzug der Äußerung selbst und der Wirkung, die sie im Adressaten hervorruft. Doch hätten wir es hier tatsächlich mit Identität und/oder kausaler Verursachung zu tun, dann läge gerade keine kommunikative Beziehung vor, sondern allenfalls eine physische Verursachung. Im Gegensatz zur physikalischen Verursachung wird die lebensweltliche Kommunikation von einer irreduziblen Negativität heimgesucht. In der menschlichen Lebenswelt gibt es nur dort etwas zu sagen, wo nicht bereits notwendig feststeht, was gesagt werden muss. Weiterhin können wir nur deshalb etwas meinen bzw. intendieren, weil zwischen dem Sagen und dem Meinen ein Abstand bestehen bleibt. Wir sagen nie genau das, was wir meinen, und wir meinen nie genau das, was wir sagen.22 In genau diesem Sinne wäre Nietzsches Rede von der Unvermeidbarkeit der Lüge zu reinterpretieren. Diese Rede besagt nicht, dass alles Sprechen Lügen sei. Sie legt allerdings nahe, dass wir nur vor dem Hintergrund der Fähigkeit zu lügen (einer Kluft zwischen Sagen und Meinen) etwas sagen können. Das Sprachdenken der antiken Rhetorik zeichnet sich dadurch aus, dass es den pragmatic turn immer schon vollzogen hat; Sprache wird hier primär von ihrer öffentlichen und politischen Wirksamkeit her als Praxis gedacht. Aus der Sicht der Rhetorik gilt »für alle Formen der menschlichen Sprache [...], daß sie unweigerlich ›politischer‹ Natur sind«23. Wirksamkeit tritt hier nicht nachträglich zu einer selbstgenügsamen, in ihrem Weltbezug verankerten Sprache hinzu. Jede Bedeutung einer Äußerung vermittelt sich für die antiken Rhetoriklehrer über die politisch-praktische Bedeutsamkeit, die diese Äußerung gewinnt oder doch zu gewinnen vermag. Statt die Sprache im Kontext einer theoretischen Philosophie auf ihre außersprachlichen Bedingungen der Möglichkeit zu befragen, thematisieren Rhetoriker eine je konkrete Rede in ihren praktischen Relevanzzusammenhängen.
21 Vgl. KSA 1, 871-890. 22 »Seltsamerweise scheint man nur dann wirklich sagen zu können, was man meint, wenn man eine Weise des Sprechens beschreibt, die nicht meint, was sie sagt.« (Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, übers. v. Jürgen Blasius, Frankfurt/M. 1993 [1969], 108). 23 A.a.O., 254.
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Im folgenden Abschnitt gehe ich kurz auf aktuelle Renaissancen der Rhetorik als Theorieprogramm ein und identifiziere ein Forschungsdesiderat an der Schnittstelle von Rhetorik und Sprachphilosophie (1.2). Daraufhin stelle ich zunächst die Frage nach dem Verhältnis von Mensch, Rede und Welt im Horizont der Antike (1.3) und in einer negativistisch ausgerichteten Tradition neuzeitlichen Sprachdenkens (1.4). Ferner hebe ich die rhetorische Theorie sprachlicher Wirksamkeit systematisch von derjenigen der nach-wittgensteinschen Pragmatik ab (1.5). In den anschließenden Kapiteln rekonstruiere ich das explizite und implizite Sprachdenken der antiken rhetorischen Tradition im Detail. Im Mittelpunkt steht hier der klassische Kanon rhetorischer Werke von Gorgias, Isokrates, Aristoteles, Cicero und Quintilian. Die systematischen Aspekte, unter denen das rhetorische Sprachdenken rekonstruiert wird, sind die Differenz von rhetorischem und philosophischem lógoV (2), die politische Dimension der Rede (3), die Bedeutung der Tropen und Figuren (4) sowie insbesondere die Theorie einer Wirksamkeit der Rede (5). Die Kerngedanken finden sich im Kapitel 5.2, dass im Zuge einer Rekonstruktion rhetorischer Myhen und Mythologeme (Helena, Peitho und die Chariten) eine Theorie des rhetorischen peíjein andeutet. Das vorliegende Buch bildet die überarbeitete Fassung des ersten Teils meiner im Juli 2008 am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der TU Darmstadt eingereichten Habilitationsschrift Rhetorisches Sprachdenken. Eine Pragmatik jenseits der Handlungstheorie. Wichtige Hinweise verdankt die Überarbeitung den vier Gutachtern: Gerhard Gamm, der mir über Jahre ein geduldiger und stets wohlwollender Gesprächspartner war, sowie Alfred Nordmann, Kurt Röttgers und Tilman Borsche. Die Habilitationsschrift geht auf das durch die DFG geförderte Forschungsprojekt »Rhetorik und Pragmatik« (GA 616/1-1) zurück, das ich von 1997 bis 1999 an der TU Darmstadt bearbeitet habe. Der DFG danke ich für die großzügige Förderung. Alle Freunde, Kollegen und Studierenden, mit denen ich Teile oder Aspekte des Buches im Laufe der Jahre diskutiert habe, kann ich an dieser Stelle unmöglich erwähnen. Besonders hervorheben möchte ich aber die großzügige und uneigennützige Hilfe, die mir Susanne Gödde und Philipp Wicht in einer Vielzahl von altphilologischen Fragen gewährt haben. Ein kenntnisreicher und kritischer Leser war darüber hinaus Gerald Posselt, der mir die Augen für viele rhetoriktheoretische Fallstricke geöffnet hat, in denen sich meine Argumentation immer wieder zu verfan-
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gen drohte. Stets inspirierend waren darüber hinaus Gespräche und gemeinsame Seminare mit Markus Lilienthal, Reinhard Heil, Jens Kertscher, Marc Rölli, Petra Gehring und Peter Wiechens in Darmstadt, Andreas Oberprantacher in Innsbruck sowie Rainer Winter und Matthias Wieser in Klagenfurt. Viele der Überlegungen, die in dieses Buch eingegangen sind, habe ich zuerst im Rahmen von Vorträgen erprobt; Anregungen und fruchtbare Kritik erntete ich hier insbesondere von Tobias Nikolaus Klass, Thomas Bedorf, Burkhard Liebsch, Dirk Quadflieg, Wim Weymans, Heidi Sallaveria, Oliver Marchart, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und Quentin Skinner. Erste wesentliche Konturen der Arbeit zeichneten sich in (häufig bis in die tiefe Nacht reichenden) Teenachmittagen bei Hassan Givsan ab, der mir über Jahre seine Gastfreundschaft schenkte und mich von seiner Unnachgiebigkeit profitieren ließ.
1.2 R ENAISSANCEN
DER
R HETORIK
Wie wir in Kapitel 2 sehen werden, ist die Rhetorik bereits in der Antike von der Philosophie bekämpft und immer wieder erfolgreich aus den akademischen Debatten verdrängt worden. Diese Verdrängung gelang allerdings nie vollständig, immer wieder kam es zu Renaissancen der Rhetorik. Insbesondere in Zeiten, in denen die Philosophie in eine Krise geriet und um ein neues Selbstverständnis rang, besannen sich Philosophen auf ihre alte Gegenspielerin und bezogen von ihr neue Inspiration. In diesem Sinne scheint mir auch die heutige Zeit günstig für eine Renaissance der Rhetorik, zu der die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Neben einer kritischen Infragestellung von sprachphilosophischen Selbstverständlichkeiten soll das Folgende auch zu einem erweiterten Verständnis von Rhetorik beitragen. Rhetorik ist mehr als eine wissenschaftliche Disziplin: Sie steht darüber hinaus für eine elementare Kulturtechnik, die wissenschaftliche und praktische Anteile in sich vereint. In den Konzepten der Rede und der Rhetorizität24 deuten sich, so meine Hoffnung, Perspektiven für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften an. Deren Situation zeichnet sich gegen-
24 Vgl. hierzu John Bender/David E. Wellbery, »Rhetoriciality: On the Modernist Return of Rhetoric«, in: dies. (Hg.), The Ends of Rhetoric. History, Theory, Practice, Stanford 1990, 3-42.
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wärtig einerseits dadurch aus, dass bestimmte Großbegriffe wie Sprache, Medium, Kommunikation, System, Gesellschaft oder Kultur konkurrierende Universalitätsansprüche formulieren und das Ganze der (nicht nur sozialen) Wirklichkeit auf den theoretischen Begriff zu bringen beanspruchen. Andererseits kommt es zu einer Pluralisierung und immer schnelleren Ablösung von Paradigmen und turns, die so den Anschein einer Beliebigkeit erwecken, der auch den Ruf der Geisteswissenschaften insgesamt tangiert. Ein rhetorical turn könnte dieser Gefahr vielleicht insofern entkommen, als die Rhetorik wie kaum eine andere Disziplin immer schon in turns zu denken vermochte. Sie begreift die Welt weniger als ein über Großbegriffe zu stabilisierendes Gefüge von Bedeutungen, denn als Prozess einer permanenten Übersetzung, Übertragung, Wendung, Ersetzung, Verschiebung, Überkreuzung und Auseinandersetzung, kurz: von Bedeutungsbildungen, die weder einen Ursprung kennen noch ein letztes Ziel. Welt und Rede lassen sich aus rhetorischer Sicht niemals vorab definieren, sondern stellen sich mit jedem Äußerungsakt aufs Neue als Problem ein. Alle zentralen Begriffe der Rhetorik sind insofern travelling concepts25, Begriffe ohne eindeutigen Ursprung, die sich mit ihren jeweiligen Verwendungskontexten ändern, die nicht nur eigensinnig angeeignet werden können, sondern dies auch explizit wollen. Gegenüber standardisierenden Großbegriffen wie Sprache, Medium, Kommunikation, Gesellschaft und Kultur heben die rhetorischen Begriffe auf eine Situationalität ab, die die Begriffe selbst destabilisiert, ihre Grenzen öffnet, die turns regelrecht provoziert. Aufgrund der angedeuteten Offenheit erlebt die Rhetorik nach der Mitte des 20. Jahrhunderts (und damit nach dem Ende der großen Erzählungen) eine ganze Reihe von Renaissancen: als Wissenschaftstheorie (a), Argumentationstheorie (b), Literatur- (c), Rechts- (d) und Medientheorie (e), innerhalb der Ethnologie und Kulturtheorie (f), der politischen Theorie (g) und schließlich auch als praktische Rhetorik (h). (a) Im Zuge einer von Autoren wie Thomas Kuhn und Paul Feyerabend eingeleiteten selbstkritischen Wende der Wissenschaftstheorie, die sich vom Konzept eines kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritts verabschiedet und an dessen Stelle die Diskontinuität unterschiedlicher historischer Paradigmen setzt, interessieren sich Wissenschaftshistoriker zuneh-
25 Vgl. Mieke Bal, Travelling Concepts in the Humanities: a Rough Guide, Toronto 2002.
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mend für Metaphern und Metaphernfelder, die den basalen Weltzugang innerhalb eines Paradigmas präfigurieren. Max Black und Mary Hesse26 arbeiten heraus, wie Metaphern in den Naturwissenschaften »neue Ansichten 27 organisieren« , indem sie Bedeutungen filtern, transformieren und erweitern, um so neue »wissenschaftliche Möglichkeiten«28 zu schaffen. In seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie aus dem Jahre 1960 bemerkt Hans Blumenberg, dass Metaphern auch in der Philosophie die »Substruktur des Denkens« bestimmen, dass sich aus ihrem historischen Wandel etwas über die »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtwei29 sen« lernen lässt. In vergleichbarer Weise beschreiben Lucie OlbrechtsTyteca und Chaim Perelman, wie »bestimmte Epochen und bestimmte philosophische Richtungen offenbare Vorlieben bei der Wahl von Analogieträgern«30 zeigen; während sich das Denken des 17. und 18. Jahrhunderts eher in räumlichen Analogien bewege, bevorzuge das moderne Denken zeitliche. Für Ivor Armstrong Richards schließlich hat noch der Verzicht auf Metaphern in der Philosophie eine metaphorologische Relevanz: Das Denken der Philosophen wird auch noch von denjenigen Metaphern gelenkt, auf die sie bewusst verzichten.31 Was für die Naturwissenschaften
26 Vgl. Mary Hesse, »The Explanatory Function of Metaphor« [1964], in: Yehoshua Bar-Hillel (Hg.), Logic, Methodology, and Philosophy of Science, Amsterdam 1972, 249-259. 27 Max Black, »Die Metapher« [1954], in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, 55-79, hier: 72; vgl. ferner ders., Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy, Ithaca 1962. 28 Max Black, »Die Metapher«, a.a.O., 79. 29 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M. 1998 [1960], 13. – Blumenberg untersucht in diesem Werk insbesondere wahrheitstheoretische Metaphern, etwa diejenige der »nackten Wahrheit«. In späteren Werken erweitert er diese Untersuchungen um Metaphern der Lesbarkeit der Welt, der Säkularisierung, des (theoretischen) Schiffbruchs und des Ausgangs aus der Höhle – um nur einige besonders prominent gewordene Beispiele zu nennen. 30 Lucie Olbrechts-Tyteca/Chaim Perelman, Die Neue Rhetorik. Eine Abhandlung über das Argumentieren, übers. v. Freyr R. Varwig, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 [1958], 555 (im Folgenden im Text zitiert unter der Sigle NR). 31 Ivor Armstrong Richards, The Philosophy of Rhetoric, Oxford/New York 1979 [1936], 92.
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und für die Philosophie gilt, lässt sich auch auf die Geschichtswissenschaften übertragen; so arbeitet Hayden White in seiner Metahistory grundlegende Tropen geschichtswissenschaftlicher Darstellung heraus, die, wie etwa die Metapher und die Ironie, die unterschiedlichen Konzepte von Geschichte im 19. Jahrhundert prägen.32 (b) In der Argumentationstheorie haben Autoren und Autorinnen wie 33 Lucie Olbrechts-Tyteca, Chaim Perelman, Stephen Toulmin und Rüdiger 34 Bubner darauf hingewiesen, dass sich die Praxis des Argumentierens nicht auf formallogische Kalküle reduzieren lässt und daraus die Konsequenz gezogen, rhetorische und topische Verfahren wiederzubeleben. Argumentation wird von den genannten Autorinnen und Autoren lebensweltlich rekontextualisiert: Sie findet vor dem Hintergrund kontingenter Situationen statt, die sich durch einen Mangel an Evidenz und die Notwendigkeit zu handeln auszeichnen. (c) In der Literaturtheorie des 20. Jahrhunderts lässt sich eine gewisse Abkehr von der Fokussierung auf die klassische Trias von Autor, Werk und historischem Kontext beobachten, die mit einer zunehmenden Hinwendung auf Fragen der literarischen Darstellung einhergeht. Die Fragen nach Autor, Werk und Kontext brechen sich nun in der grundlegenderen Frage nach dem wie der literarischen Darstellung, die in rhetorischen Begriffen formuliert wird.35 Diese Tendenz hebt mit dem New Criticism36 und dem litera-
32 Vgl. Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, übers. v. Peter Kohlhaas, Frankfurt/M. 1994 [1973]. 33 Vgl. Stephen Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, übers. v. Ulrich Berk, Weinheim 1996 [1958]. 34 Vgl. Rüdiger Bubner, Dialektik als Topik, Frankfurt/M. 1990. 35 Zur Rhetorisierung der Literaturwissenschaft insgesamt vgl. Edward P.J. Corbett (Hg.), Rhetorical Analyses of Literary Works, New York 1969, sowie Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1960. 36 Vgl. etwa Ivor Armstrong Richards, Prinzipien der Literaturkritik, übers. v. Jürgen Schlaeger, Frankfurt/M. 1985 [1924]; Renè Wellek/Austin Warren, Theorie der Literatur, übers. v. Edgar u. Marlene Lohner, Frankfurt/M. 1971 [1955]; Renè Wellek, Grundbegriffe der Literaturkritik, übers. v. Edgar u. Marlene Lohner, Stuttgart 1965 [1963].
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turwissenschaftlichen Strukturalismus an und findet ihre Fortsetzung in Hermeneutik38 und Dekonstruktion39. (d) Die Rechtswissenschaft beginnt sich hierzulande seit den 1950er Jahren auf ihre Anfänge in der antiken Gerichtsrede zu besinnen; der Mainzer Rechtswissenschaftler Theodor Viehweg prägt den Begriff einer »rhetorischen Rechtstheorie«40, um damit der sprachlichen, genauer: sprachpragmatischen Verfasstheit des Rechtsgeschehens entsprechen zu können. In vergleichbarer Weise interpretieren die amerikanischen Critical Legal Studies41, die sich vor allem mit dem Namen Stanley Fish42 verbinden, Recht als textuellen Raum, als Raum der Gesetze und Kommentare, der Beratungsgespräche und Urteilssprüche, und nutzen dabei das Differenzierungspotential klassischer Rhetorik. (e) Medientheoretiker, die sich für die Wirkung von massenmedialen Inhalten und Vermittlungsformen interessieren, berufen sich in den letzten Jahren verstärkt auf die Ergebnisse rhetorischer Persuasionsforschung. Die Fragestellungen reichen dabei von der spezifischen Wirkungsweise des elektronischen Wortes, d.h. des Wortes im Internet und Email-Verkehr, bis hin zu rhetorischen Effekten der Intermedialität, d.h. etwa der Verbindung von Stimme und Schrift mit Bildmedien.43 Dabei zeigt sich, dass trotz aller
37 Vgl. Jan Mukařovský, Kapitel aus der Ästhetik, übers. v. Walter Schamschula, Frankfurt/M. 1978 [1966]; Roman Jacobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 19211971, übers. v. Elmar Holenstein et al., Frankfurt/M. 1989. 38 So etwa bei Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1972 [1960], und Hans-Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, München 1977. 39 Vgl. etwa die Arbeiten der sogenannten Yale-Critics (Paul de Man, Geoffrey Hartmann, Harold Bloom und Jay Hillis Miller); zusammenfassend dazu Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, übers. v. Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg 1988 [1982]. 40 Vgl. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, München 51974; ders., Rhetorische Rechtstheorie, Freiburg 1982. 41 Wendy Brown (Hg.), Left Legalism, Left Critique, Durham 2003. 42 Stanley Fish, Doing what comes naturally: change, rhetoric, and the practice of theory in literary and legal studies, Durham 1999. 43 Victor J. Vitanza, Writing for the World Wide Web, Boston 1998; Richard A. Lanham, The electronic word: democracy, technology, and the arts, Chicago
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und durch alle elektronischen Vermittlungsformen in letzter Konsequenz immer noch das Wort wirkt und zählt. (f) Auf die Verwobenheit des Rhetorischen mit dem Kulturellen wird neuerdings insofern aufmerksam gemacht, als sich Kultur für viele Theoretiker weniger als fixes Ensemble von Symbolen und Bedeutungen beschreiben lässt, denn als Praxis der Bedeutungsbildungen und -umbildun44 gen. Die Rhetorizität des Kulturellen unterstreichen Ethnologen wie James W. Fernandez45 und Kulturhistoriker wie Hayden White46 oder Stephen Greenblatt47. Während Fernandez in erster Linie die Funktion rhetorischer Tropen in kulturellen Symbolsystemen untersucht und die Autoren des New Historicism die Bedeutung von Tropen innerhalb narrativer Rekonstruktionen von Kulturen in den Vordergrund stellen, gebührt Ralf Konersmann das Verdienst, erstmals deutlich auf die Metaphorizität von Kultur als solcher hingewiesen zu haben.48 (g) In der gegenwärtigen politischen Theorie speist sich eine Renaissance des Rhetorischen aus mindestens drei Quellen, die allesamt mit einer Skepsis gegenüber rationalistischen Modellen einer Begründung des Politischen in universellen Vernunft- und Rechtsprinzipien zu tun haben. Unter dem Einfluss der Demoskopieforschung und in der Zurückweisung exper-
1998; ders., The economics of attention: style and substance in the age of information, Chicago 2006. 44 Vgl. dazu zusammenfassend Andreas Hetzel, Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001. 45 Vgl. James W. Fernandez, Persuasions and Performances. The Play of Tropes in Culture, Bloomington 1986, sowie ders. (Hg.), Beyond Metaphor. The Theory of Tropes in Anthropology, Stanford 1991. 46 Vgl. Hayden White, Metahistory, a.a.O., sowie ders., Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, übers. v. Brigitte Brinckmann-Siepmann u. Thomas Siepmann, Stuttgart 1991 [1986]. 47 Vgl. Stephen Greenblatt, »Grundzüge einer Poetik der Kultur«, in: ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, übers. v. Jeremy Gaines, Frankfurt/M. 1995 [1990], 107-122, sowie ders., »Kultur«, in: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995, 48-59. 48 Vgl. Ralf Konersmann, »Kultur als Metapher«, in: ders. (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig 1996, 327-354.
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tokratischer Ansätze lässt sich zunächst eine Revalidierung des Konzeptes der Meinung49 beobachten, die in der Philosophie seit Platon verpönt war. So erweist sich die Meinung heute »als moderne Gestalt dessen, was in der antiken Polis als Ethos apostrophiert wurde. Im Medium der Meinung findet das moderne Subjekt seinen Entfaltungsraum.«50 Darüber hinaus ändert sich in unserer spätmodernen Mediengesellschaft der Aggregatzustand des Politischen, welches sich immer mehr auf den Modus der Inszenierung verwiesen sieht.51 Schließlich kommt es im Kontext radikaldemokratischer Positionen zu einer Revalidierung des rhetorischen Agonismus.52 (h) Eine institutionelle Renaissance der Rhetorik lässt sich nicht zuletzt an der Etablierung der sogenannten praktischen Rhetorik an vielen Bildungsinstitutionen festmachen. Diese Renaissance knüpft allerdings leider weniger an die klassische rhetorische Tradition an, als vielmehr an popularisierte Ergebnisse der neueren Kommunikationspsychologie und Managementtechniken.53 Dieser Katalog kann natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Was an dieser Stelle allerdings frappiert, ist das weitgehende Ausbleiben einer sprachtheoretischen Renaissance der Rhetorik. Die neuere Sprachphilosophie hat sich, bis auf wenige Ausnahmen, nicht von der allgemeinen Renaissance der Rhetorik informieren lassen. Ein solcher Versuch, das Denken der Sprache auf die Rhetorik hin zu öffnen, erscheint mir insofern aussichtsreich und geboten, als sich die Rhetorik wesentlich als Reflexion auf Sprache versteht und ein Konzept der Sprache – oder besser:
49 Vgl. Peter Ptassek/Birgit Sandkaulen-Bock/Jochen Wagner/Georg Zenkert, Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt, Göttingen 1992. 50 Peter Ptassek/Birgit Sandkaulen-Bock/Jochen Wagner/Georg Zenkert, »Einleitung« zu dies., Macht und Meinung, a.a.O., 1-8, hier: 8. 51 Vgl. Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992. 52 Vgl. hierzu Andreas Hetzel, »Klassische Rhetorik und radikale Demokratie«, in: Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Perspektiven und Kritik der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, 25-56. 53 Vgl. zu Anspruch und Wirklichkeit praktischer Rhetorik insgesamt Heike Mayer, »Rhetorik – alte und neue Universitätsdisziplin«, in: Jahrbuch Rhetorik, Bd. 24 (2005), 121-127.
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der Rede – in ihr Zentrum stellt. Neben einer Philosophie der Sprache hat es spätestens seit der klassischen Antike auch eine Rhetorik der Sprache gegeben, eine Thematisierung der Sprache als Rede, die weitgehend ihrer 54 Rekonstruktion harrt.
1.3 zÖon lógon Écon UND W ELT
ODER
M ENSCH , S PRACHE
Die Rekonstruktion des Sprachdenkens der klassischen Rhetorik erfolgt hier nicht aus historischem oder philologischem55 Interesse. Ich hoffe vielmehr, dass sich aus der rhetorischen Thematisierung von Rede allgemeinere Lehren über das Verhältnis von Rede, Mensch und Welt ziehen lassen. In diesem wie dem folgendem Abschnitt versuche ich, mich im Gespräch mit der antiken Rhetorik dem Verhältnis von Rede, Mensch und Welt auf einer abstrakten, teilweise vielleicht sogar spekulativen Ebene zu nähern. Diese erste Vorverständigung lehnt sich zunächst an die Aristotelische Definition des Menschen als zÖon lógon Écon an, die in Abschnitt 1.4 durch Beobachtungen einer negativistischen Tradition neuzeitlichen Sprachdenkens
54 Am Rande sei angemerkt, dass das Historische Wörterbuch der Rhetorik keine Lemmata zu »Sprache« und »Sprechen« enthält. 55 Obwohl die Philologie eines der letzten Residuen einer Erforschung der klassischen Rhetorik darstellt, scheint es mir doch wichtig, die Rhetorik nicht den Philologen allein zu überlassen. Den Grund dafür mag eine antike Anekdote veranschaulichen: Es war ein junger Schüler namens Philologos, der Cicero, die Verkörperung der Rhetorik, an die Häscher des Antonius ausgeliefert und damit das Wort an die Macht verraten hatte (vgl. Plut. Cic. 48). Antonius ließ die disiecta membra rhetoricae, Kopf und Hände Ciceros, »auf der Rednerbühne aufstecken, ein scheußlicher Anblick für die Römer, die freilich nicht Ciceros Antlitz zu sehen glaubten, sondern ein Abbild der Seele des Antonius.« Dieser verfiel, von dem Anblick selbst betroffen, auf einen »anständigen Gedanken« und lieferte den Philologos der Pomponia aus, der Schwägerin Ciceros: »Seiner Person mächtig geworden, zwang sie ihn [...], sich sein Fleisch Stück für Stück abzuschneiden, es zu braten und zu essen« – eine Tätigkeit, der viele – natürlich nicht alle – Erben des Philologos noch heute nachgehen (vgl. Plut. Cic. 49).
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ergänzt werden, für die etwa Hegel, Humboldt und Heidegger als Zeugen beansprucht werden können. Bereits in der Antike wird der Mensch als ein Wesen charakterisiert, dessen Lebensvollzüge rednerisch strukturiert sind. Wer jemand jeweils ist, hängt davon ab, was über ihn – in Orakelsprüchen, Weissagungen, Verwünschungen, Tauf- und Initiationsritualen – gesagt wurde und was er selbst sagt. Das Subjekt konstituiert sich in einem Feld von Anrufungen, Adressierungen und Appellen, über Akte des Verzeihens, Versprechens, des zu- oder abgesprochenen Vertrauens. Alle existentiellen Lebensfragen hängen von rednerischen Praktiken ab, die in letzter Konsequenz die Macht haben, Leben zu geben und zu nehmen. Dieses Bewusstsein einer rednerischen Konstituiertheit von Subjekt und Welt verdichtet sich in der aristotelischen Definition des Menschen als zÖon lógon Écon (vgl. Arist. Pol. I 1253a)56. Philosophen, Literaten und Rhetoriker, die sich von Berufs wegen mit Sprache beschäftigen, fragen seit jeher immer auch nach der Bedeutung dieser Definition, danach also, was eigentlich geschieht, wenn geredet und zugehört bzw. geschrieben und gelesen wird. Bereits den antiken Autoren ist dabei der Gedanke geläufig, dass wir mit unseren Worten etwas bewirken. Die rhetorische Tradition betont, dass sprachliche Äußerungen sogar in erster Linie durch eine ihnen spezifische Wirksamkeit57 charakterisiert werden können, die sich sowohl auf den Hörer als auch auf den Sprecher und die beiden gemeinsame Welt erstreckt. Das Subjekt wird im antiken Denken gänzlich in einem sprachlichen Wirksamkeitsgefüge verortet, es erscheint eher als Resultat der Rede denn als ihr Ursprung. Die Rhetorik artikuliert in diesem Zusammenhang eine
56 Klassische Texte werden hier wie im Folgenden im Text nach den in der Forschungsliteratur üblichen Siglen nachgewiesen. Eine Auflistung der Siglen findet sich zu Beginn des Literaturverzeichnisses. 57 Diese Wirksamkeit unterscheidet sich von physikalischen Wirkungen dadurch, dass sie sich im Medium von Worten bricht: »Denn welche Aufgabe hätte der Redende noch«, fragt Aristoteles in der Poetik, »wenn sich die angemessene Wirkung auch ohne Worte einstellte?« (Arist. Poet. 1456b) Die Worte schieben sich als Medien zwischen die Absichten des Redners, die Rede selbst und das Redeziel, etwa die Veränderung einer sozialen Situation. Sie entdeterminieren das Verhältnis der an der kommunikativen Situation beteiligten Instanzen, das insofern nicht als Verhältnis der Verursachung begriffen werden kann.
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Sprach-Anthropologie, die in Ciceros – vom Stoiker Panaitos inspirierter – Lehre der vier Masken am augenfälligsten wird.58 Das Subjekt begegnet uns hier nicht als Urheber der Rede, sondern als Darsteller, der vier Masken (personae) trägt; es ist letztlich nichts anderes als das Zusammenspiel dieser Masken und hat keine ihnen vorausgehende Existenz. Die Maske, próswpon oder persona, markiert den Ort der Äußerung, den Ort, an dem die Stimme erscheint, oder besser: den die Stimme passiert. Der Ursprung der Stimme bleibt hinter der Maske verborgen; die Maske ist konstitutiv nach außen gekehrt, sie ist Äußerung oder, so die anfängliche Bedeutung von próswpon, Antlitz. Als erste Maske gilt Cicero die Maske des Vernunftwesens, das insofern als zÖon lógon Écon beschrieben werden kann, als es über die Fähigkeit des lógon didónai (vg. Plat. Men. 81a) des Gebens von Gründen verfügt: Quarum una personis »communis est ex eo, quod omnes participes sumus rationis« (Cic. de off. I 107). Als zweite Maske führt Cicero diejenige an, »die jedem einzelnen persönlich zugewiesen ist« (Cic. de off. I 107), ihre oder seine Individualität. Zwischen den Individuen existieren »maiores varietates«, größere Unterschiede, sowohl in körperlicher als auch in geistiger Hinsicht; sie sind, wie auch schon Aristo59 teles hervorhebt , radikal verschieden. Die persönliche Besonderheit gilt es nicht nur zu akzeptieren, sondern auch bewusst auf sich zu nehmen, sie als Aufgabe zu begreifen. Die dritte Maske ergibt sich aus dem, was »uns der Zufall oder die Gelegenheit zuweist« (Cic. de off. I 115), aus den je konkreten Lebensumständen, in denen wir uns vorfinden, die sich in unserem Habitus niederschlagen und die ebenfalls von Mensch zu Mensch nicht unterschiedlicher sein können. Als vierte Maske gilt eine Weise des Daseins, zu der wir uns selbst entscheiden, eine je besondere Lebenslage, die wir aktiv angenommen, zu unserer eigensten Sache gemacht haben. Erst als Konzert der vier personae steht das Subjekt gänzlich im lógoV, in welchem es vorusprünglich mit allen anderen Menschen verbunden ist. Diese Verbindung ergibt sich weniger daraus, dass alle Menschen an einer gemeinsamen Sprache und Vernunft partizipieren; sie existieren im lógoV nur als unendlich individuierte, unterschieden durch ihre körperliche und geistige Natur,
58 Vgl. hierzu Manfred Fuhrmann, »Persona, ein römischer Rollenbegriff«, in: Odo Marquardt/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität. Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, 83-106. 59 Vgl. Arist. Pol. II 1261a.
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durch die kontingenten Umstände ihrer sozialen Existenz und durch die freie Wahl des je eigenen Charakters. Die rhetorische Anthropologie bindet den ÁnjrwpoV in einem wesentlichen Sinne an den lógoV. Diese Bindung geschieht allerdings nicht im Sinne einer einfachen Subordination unter ein alle Sprecher überwölbendes Sprachgeschehen oder Sprachsystem. Am lógoV partizipieren kann das Subjekt nur als individuiertes, als von allen anderen unendlich verschiedenes. Der rhetorische lógoV positiviert insofern die Differenz zwischen den sich wechselseitig entzogenen Individuen. Aufgrund genau dieser Entzogenheit durchdringen sich für Hans-Georg Gadamer »der rhetorische und der hermeneutische Aspekt der menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise. Es gäbe keinen Redner und keine Redekunst, wenn Verständigung und Einverständnis derer, die ›ein Gespräch sind‹, nicht gestört wäre und die Verständigung nicht gesucht werden müßte.«60 Die Rede ist nach Gadamer von einer vorgängigen Defiziens der Verständigungsverhältnisse abhängig; gesprochen werden muss, weil kein Hintergrundkonsens über die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation besteht, weil Kommunikation immer schon gestört ist. Nicht zuletzt in diesem Sinne lässt sich lógoV nicht umstandslos als Sprache (und/oder Vernunft) übersetzen. Die neuzeitlich-philosophische Idee einer Sprache konnotiert die Vorstellung eines identitären Ensembles von Regeln, denen sich die einzelnen Sprecher im Sprechen unterwerfen. Doch noch in einer weiteren Hinsicht geht der lógoV-Begriff nicht in demjenigen der Sprache auf. Während die Sprache ihren Wirkungen vorausgeht und – in ihren syntaktischen und semantischen Dimensionen – unabhängig von ihrer Wirksamkeit beschrieben werden kann, fällt der rhetorische lógoV mit seiner Wirksamkeit zusammen – und dies schon in vorklassischer Zeit. Im neunten Gesang der Ilias (die wie die Odyssee zum größten Teil aus Reden besteht61) spricht Phoinix, der Lehrer des Achilleus, zu seinem Schüler: »Darum sandte er [gemeint ist Achills Vater Peleus, A.H.] mich her, um dich das alles zu lehren: Beides, beredt in Worten zu sein und
60 Hans-Georg Gadamer, »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, in: Jürgen Habermas/Dieter Henrich/Jacob Taubes (Hg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971, 57-82, hier: 65. 61 Darauf verweist bereits Platon, für den der Text der Odyssee in »Reden« und »das zwischen den Reden« (Plat. Pol. III 393b) zerfällt.
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62 rüstig in Taten.« (Il. IX, 442/443) Légein und práttein, Sprechen und Handeln, bilden hier eine integrale Einheit. Zusammen verkörpern sie das höchste Bildungsideal des homerischen Menschen.63 Hannah Arendt, die diese Stelle kommentiert, weist zu Recht darauf hin, dass Sprechen und Handeln den homerischen Menschen als gleichursprünglich gelten: »Und dies nicht nur, weil ja offenbar alles politische Handeln, sofern es sich nicht der Mittel der Gewalt bedient, sich durch Sprechen vollzieht, sondern auch in dem noch elementareren Sinne, daß nämlich das Finden des rechten Wortes im rechten Augenblick, ganz unabhängig von seinem Informations64 und Kommunikationsgehalt an andere Menschen, bereits Handeln ist.« Spätestens die Sophisten begreifen das sich bei Homer andeutende Verweisungsverhältnis von Sprechen und Handeln als ein Verhältnis der Identität. Sie versuchen, wie Thomas Buchheim ausführt, »das Handeln in das Reden zu integrieren und so den Gegensatz aufzuheben [...]. Reden wurde auf diese Weise in der Sophistik das eigentlich Praktische und eigentlich Bewirkende.«65 Das Reden, welches sowohl von Gorgias als auch von Isokrates als Triebfeder des sozialen Lebens interpretiert wird, gilt ihnen auch als stärkste politische Kraft, wenn nicht sogar als Inbegriff des Politischen selbst. Praxis als Medium der Selbstinstituierung der Polis ist wesentlich rednerisch verfasst: »Es war die Polis, der eingezäunte Raum der freien Tat und des lebendigen Wortes, die ›das Leben aufglänzen machte‹ – tòn bíon lampròn poieîsjai«66, wie Arendt den Theseus aus Oidipus auf Kolonos zitiert. Die Polis ist das agonale Gespräch, der Disput, das Zusammentreffen von Rede und Gegenrede. Als Praxis weist das Reden immer schon über individuelles Handeln hinaus.
62 Vgl. auch Quint. inst. or. II 3, 12: »Sit ergo tam eloquentia quam moribus praestantissimus, qui ad Phoenicis Homerici exemplum dicere ac facere doceat.« 63 Noch Platon, der sowohl die Praxis als auch die Rede in ihre Grenzen zu weisen sucht, bedient sich immer wieder formelhaft der Wendungen práttein kaì légein (vgl. etwa Plat. Pol. I 350a; II 389d) oder lógoi kaì ]érgoi (Plat. Men. 86c), wenn er die Tugendhaftigkeit einer Person hervorheben will, die sich im Zusammenspiel von Tun und Reden offenbart. 64 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 81994 [1958], 29. 65 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986, 90. 66 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2000 [1963], 362.
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In Platons Theaitetos wird der Sophist Protagoras mit den Worten zitiert: »Der Arzt bewirkt Veränderungen durch Arzneien [farmákoiV], der Sophist dagegen durch Reden [lógoiV].« (Plat. Theait. 167a 5-6)67 Die Reden des Sophisten erscheinen an dieser Stelle als wirk- und wirklichkeitsmächtig: Sie bilden die Ordnung der Dinge nicht nur ab, sondern greifen praktisch in sie ein und verändern sie. »Lange vor Austin und Searle«, so 68 Kurt Röttgers, »haben die Sophisten die performative Wende vollzogen.« 69 Wie das fármakon, das zugleich Gift und Heilmittel sein kann, sind die Wirkungen der Reden konstitutiv ambivalent. Rede kann, etwa in Form des Versprechens, des Verzeihens oder des Vertrauenaussprechens, soziale Integration gewährleisten; zugleich können Worte aber auch entzweien, verletzen und, wie die antiken Tragöden wussten, töten. Wie wir noch sehen werden, verläuft die entscheidende Linie zwischen Platon und den Sophisten entlang der Frage, wie die Wirksamkeit der Rede zu bewerten sei. Während Platon die Kraft der Rede im Namen einer übersprachlichen Vernunft zu bezähmen sucht, wird sie von den Sophisten rückhaltlos positiviert. Für Michael Emsbach entwickeln die Sophisten »eine Theorie der Sprache, in der Sprache nicht allein in Wechselwirkung mit menschlichen 70 Handlungen, sondern selbst als eine Handlung betrachtet« wurde. Aufge-
67 Platon selbst erkennt die Wirkmächtigkeit der Rede weiterhin dadurch an, dass er die Dichtung und die Reden in seiner Politeia ausführlichst behandelt. Darin, dass »eben Dichter sowohl als Redner [...] gar verkehrt reden in den wichtigsten Dingen« (Plat. Pol. III 392b), liegt für Platon die größte Gefahr für das Gemeinwesen, eine Gefahr, die indirekt von der Wirksamkeit der Rede zeugt. 68 Kurt Röttgers, »Der Sophist«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Das Leben denken – Die Kultur denken. Bd. 1, Leben, Freiburg/München 2007, 145-175, hier: 151. 69 Zur Ambivalenz des fármakon vgl. Jacques Derrida, »Platons Pharmazie«, in: ders., Dissemination, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995 [1972], 69-192. – Als fármakon wird die Rede auch in der jüdisch-christlichen Tradition begriffen, so etwa im Brief des Jakobus: »Doch die Zunge kann kein Mensch zähmen, dieses ruhelose Übel voll von tödlichem Gift: Mit ihr preisen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die als Abbild Gottes erschaffen sind. Aus ein und demselben Mund kommen Segen und Fluch.« (Jak 3, 8-10) 70 Michael Emsbach, »Pragmatisches Denken in der griechischen Sophistik«, in: Herbert Stachowiak (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 1, Hamburg 1986, 89-107, hier: 89.
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griffen und pointiert wird diese sophistische Vorstellung einer sprachlichen Wirksamkeit – die sich letztlich allerdings gerade nicht mit dem Begriff der Handlung fassen lässt – von Thukydides, der als Schüler des Gorgias tief im rhetorischen Denken verwurzelt ist. In seinem Peloponnesischen Krieg lobt er die Athener wie folgt: »Wenn wir unsere Rede etwas länger ausdehnen, so ist dies kein Verstoß gegen unsere Gewohnheit; es ist bei uns zu Lande üblich, der langen Red’ entraten, wo ein Wort genug, doch pflegen wir, wenn die Stunde es gebietet, in längeren Ausführungen etwas Förderliches darzulegen, das heißt, durch Worte zu tun, was Not ist [lógoiV tò déon prássein]« (Thuk. Pel. IV 17, 2). Indem hier durch das Sprechen selbst etwas getan wird, erscheint das Reden als eine performative Macht. Die Wirksamkeit der Rede lässt sich nicht nur auf die nachträglichen Handlungsfolgen reduzieren, die sich daraus ergeben, dass wir mit unseren Worten eine kognitive Überzeugung herstellen, verstärken oder widerlegen, sondern zeigt sich bereits im Praxis verwirklichenden Vollzug der Rede selbst. Rhetorik kann vor diesem Hintergrund insgesamt als Vollzugsform von Performativität gelesen werden; sie lehrt dem Redenden, »wie er redend Verständiges über Praxis sagen und durch Reden handelnd auf sie 71 einwirken kann« . Wenn bei den antiken Rhetoren von práttein die Rede ist, sollten wir nicht voreilig an unseren neuzeitlichen Begriff des Handelns denken. Als Subjekt sprachlichen Handelns gilt insbesondere den Rhetorikern der ersten Stunde, Gorgias und Isokrates, nicht ein Autor oder Urheber des Sprechens, der dieses gleichsam von außen kontrolliert und wie ein Instrument gebraucht, um mit ihm bestimmte Zwecke zu verfolgen, sondern in gewisser Weise das Reden selbst, der lógoV oder die lógoi. Als zÖon lógon Écon ist der Mensch seinem Sprechen nicht vorgeordnet, sondern erscheint immer auch als dessen retroaktiver Effekt. Anhaltspunkte dafür finden sich bereits in den Begriffen des lógoV und des Écein selbst. Im lógoV decken sich für die Griechen Aspekte, aus deren Trennung die neuzeitliche Vernunft geradezu hervorgeht: Sprache und Sprechen, Denken und Sprechen, monologische und dialogische Rede, Sagen und Gesagtes, Sagen und Gesagtwerden, Wort (als kleine) und Rede (als große sprachliche Einheit). Zunächst bedeutet lógoV Sammlung und Einheit, dann Zählung im Sinne von
71 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg/ München 1993, 48.
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Erzählung (diskursiv) und Rechnung (mathematisch). Als lógoV gilt den Griechen nicht nur das Sprechen, das Äußern von Worten und das Reden im Sinne von Tätigkeiten, die wir verrichten. LógoV meint darüber hinaus immer auch das, wovon die Rede ist, ihren Sinn, dann die Vernunft, sofern sie sich durch Rede äußert, und die Gründe, die wir für etwas anführen können, sowie das Gespräch, die Unterredung und Unterhaltung. Er kann auch explizit für die Beredsamkeit und die Macht der Beredsamkeit stehen und wird damit zu einem Synonym von Rhetorik insgesamt.72 LógoV benennt ferner den Spruch, insbesondere den Götter-, Orakel- oder Kernspruch, sowie das Gerücht, das Gerede und die öffentliche Rede, das also, was über jeden Einzelnen immer schon gesagt worden ist. Der lógoV markiert nicht nur, was ich in konkreten Situationen jeweils sage, sondern umfasst und aktualisiert noch in meinen vermeintlich autonomen Äußerungen auch, was immer schon über mich gesagt wurde und mich somit konstituiert. Die Fäden meiner Rede nehme ich von anderswo auf und verwebe sie mit einem vorgängigen Text, der immer auch etwas über mich selbst aussagt, über mein ]³joV, den Ruf, in dem ich stehe.73 Auch das Verb Écein im Aristotelischen zÖon lógon Écon verdient eine eingehendere Betrachtung. Das Verb Écein bedeutet nicht nur haben und halten, sondern auch bewohnen. Das zÖon lógon Écon muss also nicht, wie in der Neuzeit üblich, als ein Wesen übersetzt werden, dem Rede als Eigenschaft oder Kompetenz zukommt. Es könnte darüber hinaus auch als dasjenige Wesen interpretiert werden, das den lógoV bewohnt. »Die Griechen existierten in der Rede«74, heißt es bei Heidegger. Von einem Bewusstsein des Menschen als eines Redebewohners zeugen noch Karl Kraus mit seiner Charakterisierung der Schriftsteller als derjenigen, »die in
72 So etwa bei Plutarch, der berichtet, dass Demosthenes als Knabe die Gelegenheit bekam, im Gerichtshof den Redner Kallistratos zu hören. Er beneidet den Redner um seinen Ruhm, doch »noch mehr staunte er über die Macht der Beredsamkeit [toû dè lógou m£llon Êjaúmase] und erkannte, daß sie alles zu bezwingen und zu bezaubern vermag.« (Plut. Dem. 5). 73 Zum ]³joV vgl. Kapitel 5.3. 74 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 68.
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dem alten Haus der Sprache wohnen« , sowie der späte Heidegger, der von der Sprache als dem »Haus des Seins«76 spricht. Beachtenswert an der Aristotelischen Definition ist aber auch der dritte Terminus, zÖon. Aristoteles unterscheidet den Bereich der Lebensvollzüge in zwei große Teilgebiete, den der biologischen Funktionen (zw®) und den der menschlichen Lebensformen (bíoV), die wiederum in eine theoretische (bíoV jewrhtikóV) und eine praktische (bíoV politikóV) Lebensweise zerfallen. Indem er vom zÖon lógon Écon spricht, wird die Partizipation des Menschen am lógoV von Aristoteles auf einer Ebene angesiedelt, die der Unterscheidung von Erkennen und Handeln noch vorausliegt. Der Mensch bewohnt den lógoV auf einer ähnlich fundamentalen Ebene wie das Tier seine Umwelt; der lógoV wird somit zur Welt des Menschen. Damit wird von vornherein deutlich, dass die Wirksamkeit des lógoV nur unzureichend als instrumentelle Handlungswirksamkeit charakterisiert werden kann. Einen lógoV, den wir bewohnen und der uns konstituiert, können wir nicht wie ein Werkzeug externalisieren und verwenden. Auch die klassische Tragödie kann als Zeugnis eines Bewusstseins der Wirkmächtigkeit von Rede gelesen werden. Hannah Arendt schreibt: »Wenn (wie es am Ende der Antigone heißt) ›große Worte die großen Streiche von den hohen Schultern‹ erwidern und vergelten, so ist das, was sich ereignet, etwas Großes und der rühmenden Erinnerung Würdiges. Dass das Reden in diesem Sinne eine Art Handlung ist, daß der Untergang zu einer Tat werden kann, wenn man ihm Worte entgegenschleudert, während man untergeht – auf dieser Grundüberzeugung beruht die griechische Tragödie 77 und ihr Drama, ihr Gehandeltes.« Tragödien wie König Oedipus und Antigone führen das Geschehen, welches sie darstellen, als Sequenz sprachlicher Wirkungen vor78, die von Orakelsprüchen, Flüchen und Weissagungen ausgehen – Worten, die, wie Hölderlin formuliert, »faktisch«, ja »tödlichfaktisch« werden können, »weil der Leib, der es [= das Wort] ergreifet,
75 Karl Kraus, »Bekenntnis«, in: ders., Ausgewählte Gedichte, München 1920, 40. 76 Martin Heidegger, »Wozu Dichter?«, in: ders., Holzwege, Frankfurt/M. 1994 [1950], 269-320, hier: 310. 77 Hannah Arendt, Was ist Politik? (Fragmente aus dem Nachlass 1950-1959), hrsg. v. Ursula Ludz, München 2005, 48. 78 Vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/M. 2005.
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wirklich tötet.« Nur von seinen vergangenen und gegenwärtigen Äußerungen her lässt sich das Subjekt der Tragödie ansprechen; sein eigenes Sprechen, das nie ganz sein eigenes ist, subjektiviert es, unterwirft es der Ordnung des Mythos und lässt es, wie im Falle der Antigone, zugleich mit dieser Ordnung brechen. Nichts anderes zeigt die Tragödie, als dass die Sprache, die wir sprechen, uns zugleich ermächtigt und entmächtigt. Tragisch an der Tragödie sind letztlich die sich uns entziehenden Effekte dessen, was wir sagen. Die Tragödie lehrt, dass die Wirkungen des Sprechens sich gerade nicht mit den Intentionen des Sprechers decken. Was gesagt wird, verwirklicht sich in einer für alle Beteiligten unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Weise. Die Wirksamkeit des Sprechens richtet sich dabei nicht nur und primär auf die Adressaten einer Rede. Sprachliche Äußerungen wirken vielmehr in mehreren Dimensionen zugleich. Deutlich wird das etwa am Fluch, den Oedipus gegen die Mörder Kreons ausspricht und der sich letztlich am Fluchenden selbst verwirklicht. Zu vergleichbaren Einsichten kommt auch das rhetorische Sprachdenken. Gorgias begreift die Rede als »peijoûV dhmiourgóV« (Plat. Gorg. 453a), als eine Meisterin der Überredung oder große Bewirkerin80, deren Kraft sich auf alle am kommunikativen Prozess beteiligten Instanzen auswirkt. So wie jede Äußerung auf ihren Sprecher zurückfällt und diesen subjektiviert, so subjektiviert sie auch ihre Adressaten und »setzt« die vermeintlich außersprachlichen Tatsachen, über die sie zu sprechen vorgibt. Zu einer Sache, är²ma81 oder res, wird etwas nur, sofern wir mit Worten auf es Bezug nehmen. Da diese Bezugnahme grundsätzlich im Rahmen einer Praxis erfolgt, wird sprachliche Referenz im Kontext der Rhetorik eher als eine politische denn als eine semantische expliziert; die Frage der Referenz
79 Friedrich Hölderlin, »Die Trauerspiele des Sophokles«, in: ders., Sämtliche Werke, hrsg. v. Paul Stapf, Bd. 2, Darmstadt o.J., 419-431, hier: 428. 80 Isokrates, ein direkter Schüler des Gorgias, spricht von einer »lógwn dúnamiV«, einer »Macht des Wortes« (vgl. Isocr. or. V 21), Cicero von einer »magna vis orationis« (Cic. de off. 132), Quintilian von einer »opifex persuadendi« (Quint. inst. or. II 15, 4). Thukydides und der Autor des anonymen spätantiken Traktats Perì %YqouV (Über das Erhabene) kennen eine deinóthV genannte »schreckliche Redegewalt« oder »Wortgewalt« (vgl. Thuk. Pel. 3, 37; Peri Hypsous 12, 4). 81 Tó är²ma bedeutet zunächst das Gesagte, das Wort, den Spruch oder Ausspruch; erst im NT wird es im Sinne einer Sache verwendet.
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ist mindestens ebenso eine Frage der Macht wie eine Frage der Wahrheit. PrâxiV und práttein stehen in der Antike für ein Tätigsein, das rednerisch vermittelt ist: für das politische Tätigsein in der Polis, das sich in Rede und Gegenrede organisiert; jede Praxis entfaltet sich im Medium agonaler lógoi. Ein Einzelner könnte aus dieser Perspektive gar nicht handeln.
1.4 D IE N EGATIVITÄT
DER
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Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts hat für die Wirksamkeit der Rede einen neuen Begriff geprägt: Sie spricht von der performativen Dimension sprachlicher Äußerungen. Als »performativen Satz« definiert John L. Austin jeden Satz, von dem sich sagen lässt, »den Satz äußern heißt: es tun. [...] Das Schiff taufen heißt [...] die Worte ›ich taufe‹ usw. äußern.«82 Das englische Verb to perform bedeutet zunächst einfach durchführen, vollziehen, machen oder tun. Das Performative markiert jene Kraft sprachlicher Äußerungen, die es ihnen erlaubt, in und durch ihren bloßen Vollzug etwas zu bewirken und bestimmte Folgen zu zeitigen. Der vorliegenden Studie ist es vor allem darum zu tun, diese der Rede inhärierende Kraft ausgehend von der antiken Rhetorik genauer verstehen zu wollen sowie umgekehrt die Rhetorik als eine Theorie des Performativen zu rekonstruieren. In meinem Versuch, Grundzüge einer Theorie sprachlicher Performativität zu skizzieren, orientiere ich mich an einer Tradition, die unser Sprechen nicht primär über seine Repräsentationsfunktion ausgezeichnet sieht. Zu diesen nicht-repräsentationalistischen, die Pragmatik gegenüber der Semantik auszeichnenden Sprachdenkern rechne ich die antiken Rhetoriker wie Gorgias, Isokrates, Cicero und Quintilian. Aufgegriffen wird das rhetorische Sprachdenken von den Humanisten der Renaissance wie Lorenzo Valla83 und Marius Nizolius84. Deren Überlegungen zur Wirksamkeit der
82 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), hrsg. u. übers. v. Eike von Savigny, Stuttgart 1979 [1962], 29. 83 Vgl. Hanna-Barbara Gerl, Rhetorik als Philosophie. Lorenzo Valla, München 1974. 84 Vgl. Marius Nizolius aus Barsello, Vier Bücher über die wahren Prinzipien und die wahre philosophische Methode gegen die Pseudophilosophen, übers. v. Klaus Thieme, München 1980 [1553]; vgl. hierzu auch Matthias Wesseler, Die Einheit
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Rede werden wiederum im 18. Jahrhundert von Giovanni Battista Vico systematisiert.85 Im 19. Jahrhundert zeichnet Wilhelm von Humboldt86 Sprache als Ênérgeia aus, spricht ihr eine Kraft des »selbsttätigen Setzens«87 zu und begreift als wesentliches Charakteristikum des Wortes seine »lebendige Wirksamkeit«88. In der Semiotik des amerikanischen Pragmatismus und in der Sprachkritik Friedrich Nietzsches werden, auf der Schwelle der Moderne, Intuitionen der rhetorischen Tradition konsequent gegen repräsentationalistisch verkürzte Sprachtheorien ausgespielt. Im 20. Jahrhundert ist es dann vor allem die Sprachpragmatik Wittgensteins und Austins, die sich um ein umfassendes Verständnis sprachlichen Wirkens bemüht. Alle erwähnten Traditionen pragmatischen bzw. nicht-repräsentationalistischen Sprachdenkens zu rekonstruieren und aufeinander zu beziehen, würde den Rahmen dieser bei weitem Arbeit sprengen; ich beschränke mich hier also weitgehend auf die antiken Rhetoriker. Mit dem Ausgang von der Rhetorik soll eine gewisse Geschichtsvergessenheit der Sprachpragmatik des 20. Jahrhunderts korrigiert werden, die sich etwa in Austins Anspruch ausdrückt, die Wirksamkeit der Rede erstmals entdeckt und zufriedenstellend
von Wort und Sache. Der Entwurf einer rhetorischen Philosophie bei Marius Nizolius, München 1974. 85 Vgl. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann, Hamburg 1990 [1744]. 86 Zu Humboldts Sprachphilosophie vgl. Tilman Borsche, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981, ferner Georg Zenkert, »W. v. Humboldt: Schriften zur Sprache«, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hg.), Von Platon bis Derrida. 20 Hauptwerke der Philosophie, Darmstadt 2005, 188-206. 87 Wilhelm von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]«, in: ders., Schriften zur Sprachphilosophie. Werke Bd. III, Darmstadt 1996, 368-756, hier: 606. 88 Wilhelm von Humboldt, »Vergleichendes Sprachstudium und Sprachentwicklung«, in: ders., Schriften zur Sprachphilosophie, a.a.O., 1-25, hier: 15. – Humboldt weiß sich hier durchaus im Einklang mit der rhetorischen Tradition; er beschreibt den »Gebrauch der Sprache« als den »eigentlichen Sitz der Beredsamkeit« (A.a.O., 22).
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beschrieben zu haben. Die nach-wittgensteinsche Sprachpragmatik ist sich einer historischen Abhängigkeit von der Rhetorik nicht bewusst. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass die Sprachpragmatik systematisch gesehen eine Lücke besetzt, welche die Ausgrenzung der Rhetorik aus dem philosophischen Diskurs seit dem Beginn der Neuzeit hinterlassen hat. Zur Beantwortung der Frage, was passiert, wenn gesprochen wird, schlage ich eine Pragmatik jenseits der Handlungstheorie vor. Diese Pragmatik jenseits der Handlungstheorie richtet sich insbesondere gegen einen instrumentalistisch verkürzten Begriff von »Sprache«, wie er für die Sprachpragmatik nach Austin (d.h. nicht für Austin selbst), also etwa für John Searle, Paul Grice, Jürgen Habermas und Robert Brandom maßgeblich wird. Bei diesen Autoren hat sich eine andere Antwort auf unsere Frage durchgesetzt: Immer wenn gesprochen wird, haben wir es mit Handlungen zu tun; das Äußerungsereignis wird als Sprechhandlung interpretiert. Der Handlungsbegriff der Sprachpragmatik unterscheidet sich dabei wesentlich vom prâxiV-Begriff der antiken Autoren; seine Wurzeln liegen in der neuzeitlichen Subjektphilosophie, wie sie von Descartes begründet wird. Handlungen werden von der Sprachpragmatik durch das Vorliegen von Intentionen, durch die Befolgung von Regeln, durch ihr Eingebettetsein in Institutionen sowie durch ihre Verwiesenheit auf Begründungen expliziert. Das Sprechereignis wird im Rahmen einer solchen Handlungstheorie auf das Zusammenspiel dieser vier Pole zurückgeführt, wobei sich die verschiedenen Versionen der Sprachpragmatik darin unterscheiden, dass sie jeweils einen dieser Pole gegenüber den anderen auszeichnen (Grice zeichnet den Pol der Intentionalität aus, Searle eine Mischung aus konstitutiven Regeln und Intentionalität, Habermas das Gründe-Geben und Brandom das Gründe-Geben in Kombination mit dem Befolgen sozialer Regeln). Etwas zu sagen, bedeutet aus der Sicht dieser Theorien, innerhalb eines gegebenen
89 Potenziert wird diese Geschichtsvergessenheit noch von Wolfgang Stegmüller: »Eigentlich ist es ein Skandal. Und zwar ein beschämender Skandal für alle diejenigen, welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon längst vor J.L. Austin dessen Entdeckung machten, deren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen.« (Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd II, Stuttgart 81987, 64.)
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institutionellen Rahmens dadurch eine Intention zum Ausdruck zu bringen, dass ich bestimmten, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln folge sowie mit dem Gesagten einen Geltungsanspruch verbinde, den ich unter Rekurs auf transzendentale Bedingungen der Möglichkeit jeder Kommunikation zu begründen vermag. Diese handlungstheoretische Pragmatik erklärt Sprache in letzter Konsequenz reduktionistisch. Mentale Intentionen, diskursive Regeln, soziale Institutionen und rationale Strategien des Begründens werden als Bedingungen der Möglichkeit von Rede hypostasiert und dem Vollzug der je konkreten Rede vorgeordnet; Äußerungen realisieren oder aktualisieren diese extrasprachlichen Bedingungen. Sie sind nichts anderes als die Realisierungen ihrer transzendentalen Möglichkeitsbedingungen. Um ein berühmtes Feuerbach-Zitat in der Terminologie Noam Chomskys zu reformulieren: Die Performanz wird (innerhalb der Sprechakttheorie) von der Kompetenz immer überwältigt. Sprache als Struktur geht der Äußerung als Ereignis logisch wie genealogisch voraus. Eine rhetorische, d.h. nicht-handlungstheoretische Pragmatik würde das Verhältnis von Kompetenz und Performanz demgegenüber enthierarchisieren und von einer verwickelten Relation wechselseitiger Konstitution und Dekonstitution beider Seiten ausgehen. Was Humboldt über die Begriffe schreibt, gilt ihr für alle sprachlichen Einheiten: »Denn was der zweckmäßige Gebrauch dem Gebiet der Begriffe abgewinnt, wirkt auf sie berei90 chernd und gestaltend zurück.« Von den angedeuteten handlungstheoretischen Reduktionen möchte ich das Sprechereignis wieder befreien und auf einen irreduziblen Eigensinn der Rede hinweisen. Etwas an ihr gründet in eigentümlicher Weise in sich selbst und ist somit weder auf mentale oder soziale, noch gar auf physische (etwa neuronale91) Ursachen zurückzuführen. Am Reden gerade scheitert die für die sprachanalytische Handlungstheorie zentrale Unterscheidung von Handlung und Ereignis.92 Was ich sage, ereignet sich immer auch in
90 Wilhelm von Humboldt, »Vergleichendes Sprachstudium und Sprachentwicklung«, a.a.O., 9. 91 Die Möglichkeit einer Neurolinguistik antizipierend, bemerkt Paul Valéry: »Die Worte sind noch mehr Teil unserer selbst als die Nerven. Wir kennen unser Gehirn ausschließlich vom Hörensagen.« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte, a.a.O., 472). 92 Vgl. etwa Donald Davidson, Handlung und Ereignis, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1985 [1980].
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einer Weise, die über die Intentionen eines Akteurs hinausweist. Dass unser Reden in sich selbst gründet, soll nicht heißen, dass sich Sprache totalisieren lässt, dass alles immer schon und immer nur Sprache wäre, dass Sprache mit anderen Worten immer schon bei sich wäre – etwa im Sinne jener vorreflexiven Vertrautheit mit sich, die von Friedrich Heinrich Jakobi bis Dieter Henrich als Charakteristikum des Selbstbewusstseins angeführt wird. 93 Ausgehend von Hölderlin , Hegel und Humboldt wäre demgegenüber auf einer konstitutiven Negativität der Rede zu bestehen, darauf, dass sie nie bei sich ist und insofern niemals vollständig verobjektiviert werden kann. Sie begegnet uns nur als sich selbst unangemessene94, von sich differierende95; sie überschreitet sich, darin wäre jedem Sprachidealismus zu widersprechen, konstitutiv auf ihr Anderes.
93 Wie kein anderer hat Hölderlin die Nicht-Verobjektivierbarkeit von Sprache umkreist: In ihrem Briefroman Die Günderode gibt Bettina von Arnim einen Bericht von Hölderlins Freund Sinclair wieder, der sich anhörte, was jener »über die Verse und über die Sprache sage, wie wenn er nah dran sei, das göttliche Geheimnis der Sprache zu erleuchten, und dann verschwinde ihm wieder alles im Dunkel, und dann ermatte er in der Verwirrung und meine, es werde ihm nicht gelingen, begreiflich sich zu machen; und die Sprache bilde alles Denken; denn sie sei größer wie der Menschengeist, der sei ein Sklave nur der Sprache, und so lange sei der Geist im Menschen noch nicht der vollkommne, als die Sprache ihn nicht alleinig hervorrufe.« (Bettina von Arnim, Die Günderode [1840], in: dies., Werke und Briefe, Frankfurt/M. 2004, Bd. 1, 392/393). 94 Als systematische Entfaltung dieser Unangemessenheit der Sprache an sich selbst ließe sich Hegels Wissenschaft der Logik lesen. Hinweise auf eine solche Lektüre finden sich in Bruno Liebrucks, Der menschliche Begriff. Sprache und Bewußtsein Bd. 6, Frankfurt/M. 1974. 95 Dass alles Sprechen und Schreiben von sich differiert, wird von Jacques Derrida im Konzept einer différance ausgedrückt, einer Kraft, die das Sich-von-sichUnterscheiden aller Äußerungen antreibt, deren Iteration immer auch als Alteration verstanden werden mzss. Der Neologismus différance »bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses Wortes [différer – aufschieben/(von einander) verschieden sein].« (Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1983, 44). Sie erzeugt die Differenz der Rede von sich selbst, sie spaltet sie und schiebt die Möglichkeit ihrer Selbstidentität unendlich auf.
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Jede Äußerung überschreitet sich auf einen Adressaten, einen Sprecher und auf etwas in der Welt. In den Worten des Aristoteles: »Aus dreierlei nämlich ist die Rede zusammengesetzt: aus einem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, und jemanden, zu dem er redet.« (Arist. Rhet. I 3 1358b) Alle drei Faktoren oder Kategorien rhetorischer Kommunikation sind von einander und vom lógoV unabhängig und absolut unterschieden. Doch zugleich werden sie vom lógoV, der ihre Unterschiede aufrechterhält, sie positiviert und in ihrer Unterschiedenheit aufeinander bezieht, mitkonstituiert. Dem Adressaten wird dabei innerhalb des rhetorischen Kategoriensystems ein Primat eingeräumt: »Das Ziel [téloV] des Redens bezieht sich auf diesen letzteren, ich meine den Hörer« (Arist. Rhet. 1358b). »Ziel« wäre dabei sicher nicht räumlich zu verstehen, als Richtung, in die die Rede zielt. Das Ziel ist demgegenüber im Sinne der Aristotelischen EntelechieLehre diejenige Instanz, innerhalb derer jeder lógoV seine Erfüllung findet. Der Zuhörer oder das Auditorium bilden eine Art Attraktor, der das Zusammenspiel der Kategorien rhetorischer Kommunikation im Medium des lógoV antreibt. Überzeugend ist die Rede nicht an sich, sondern nur, »im Hinblick auf irgendjemand« (Arist. Rhet. 1356b). Es ist also gerade nicht die Intentionalität des Sprechers, die am Anfang der Rede steht, sondern der Andere, der sich, so Aristoteles weiter, als Zuschauer (jewróV – im Falle der epideiktischen Rede) und/oder Entscheider (krit®V 96 – im Falle der politischen Rede und der Gerichtsrede) zu meiner Rede verhält. Redner wie Demosthenes oder Lysias überantworten ihre Reden diesem Attraktor ganz explizit, wenn sie sie mit dem Vokativ ¥ ÁndreV 'Ajhnaîoi, o Männer von Athen, einleiten. Aristoteles beendet seine Rhetorikvorlesungen, die er damit selbst als Rede zu erkennen gibt, exemplarisch mit einem Apell an den als Entscheider verstandenen Zuhörer: »Ich habe gesprochen, ihr habt es gehört, ihr habt es nun – urteilt!« (Arist. Rhet. 1420a 6) Alle Erklärungen der Rede aus etwas Außersprachlichem setzen bereits Rede voraus. Mentale Intentionen, diskursive Regeln, soziale Institutionen und rationale Strategien des Begründens können nicht vor und ohne Rede
96 Der von Aristoteles im rhetorischen Kontext eingeführte krit®V oder Entscheider steht am Anfang der Entwicklung des Kritik-Begriffs. Vgl. die Monographie von Fee-Alexandra Haase, Kritik. Historische Begriffe der Sprache und Literatur einer Wissenschaft und Kunst von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Onlineveröffentlichung unter: http://www.fachpublikationen.de/dokumente/01/1a/inhalt.html.
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gedacht werden. Intentionalität als Gerichtetsein des Bewusstseins auf etwas wird nur verständlich vor dem Hintergrund von Zeichen, die sich auf etwas beziehen. Das »von etwas« des Bewusstseins, das Edmund Husserl als Index seiner Intentionalität anführt, ist nach dem Modell des »von etwas« sprachlicher Zeichen gebildet – darin liegt das Unbewusste der Husserlschen Phänomenologie. Diskursive Regeln, die den Bereich dessen festlegen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sinnvoller Weise gesagt werden kann, sind selbst sprachlich codiert oder lassen sich zumindest immer in der Form sprachlich codierter Regeln explizit machen (und damit auch revidieren). Institutionen bestehen eher aus symbolischen denn aus materiellen Gütern, sie haben ihren Sitz eher in der Sprache als in der physikalischen Wirklichkeit. Eine Vernunft schließlich, die sich an das Geben und Verlangen von Gründen bindet, sieht sich auf Reden als Medien der Vermittlung und Aushandlung von Geltungsansprüchen verwiesen. Ein rationaler Grund wird erst dann zu einem Grund, wenn er als solcher vorgebracht, geäußert wird, wenn er sich in der Rede artikuliert. Wir stehen mit anderen Worten immer schon in der Rede, doch die Rede bildet keine geschlossene Region des Seins. Indem er sie zugleich aufeinander bezieht und in dieser Beziehung voneinander unterscheidet, setzt der Vollzug der Rede überhaupt erst die unterschiedenen Instanzen des Sprechers und seines Adressaten sowie des Denkens und der Welt; im Sprechen vermittelt sich die Bewegung zwischen dem Anderen und mir mit der Bewegung zwischen meinem Denken und der Welt. Ein reines Denken vor oder jenseits dieser Vermittlungsbewegung wäre demgegenüber eine Denkunmöglichkeit. Wir leben in einer Welt aus Rede, einer Rede, »die das Ich in der Welt zwar mitsamt den anderen Entitäten vorfindet, die aber insofern einzigartig ist, als sie die einzige Entität darstellt, mit deren Hilfe es 97 sich von der Welt unterscheiden kann.« Allem Denken wohnt die Möglichkeit inne, geäußert zu werden, eine Möglichkeit, ohne die es für die Rhetoriker kein Denken wäre: »Das passende Wort ist das sicherste Zeichen für das richtige Denken« (Isocr. or. II 7); wir durchdringen etwas in Gedanken erst dann wirklich, wenn wir es auch auszudrücken vermögen. Die vermeintliche Folge, die Äußerung, konstituiert hier retroaktiv ihre Ursache, den Gedanken. Walter Benjamin drückt dies wie folgt aus: »Das Sagen ist nämlich nicht nur der Ausdruck, sondern die Realisierung des Den-
97 Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 111.
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kens.« Ein Gedanke gewinnt Klarheit und Distinktheit immer nur als sagbarer; er hebt sich im Artikuliertwerden vom diffusen Horizont vorbewusster Zustände, bloßer Möglichkeiten des Sagens, ab. Dem Geäußertwerden kommt in der rhetorischen Tradition ebenso wie bei modernen Autoren (etwa bei Hegel, Humboldt und Benjamin) ein Primat gegenüber dem geäußerten Gehalt zu. Für Cicero etwa ist es »besser, beredt zu sprechen, wenn man es nur mit Einsicht tut, als noch so scharf, doch ohne Redegabe zu denken, weil das Denken nur um sich selbst kreist, während die Redegabe diejenigen mit einbezieht, denen wir gemeinschaftlich verbunden sind.« (Cic. de off. I 156) Der Gedanke wird vom Wort her strukturiert, er wird im Adressiertwerden an andere aus der unfruchtbaren Bewegung eines Umsich-selbst-Kreisens herausgehoben; im Adressiertwerden hebt sich der Gedanke von anderen Gedanken ab und lässt sich somit auf andere Gedanken beziehen. Was ich denke, adressiere ich potentiell immer schon an andere. Jede Repräsentation bringt das, was sie präsentiert, jemand anderem in einer bestimmten Hinsicht dar99, nähert sich darin, wie Lévinas ausführt, der Gabe: »Die Sprache, die die Sache dem Anderen bezeichnet, ist eine ursprüngliche Enteignung, eine erste Gabe.«100 Wie jede andere Gabe bewirkt auch diejenige der Repräsentation etwas im Empfänger. Sextus Empiricus schreibt in seiner Darstellung der stoischen Sprachlehre: »Etwas anzuzeigen und offenkundig zu machen heißt, etwas zu bewirken« (FDS 700). Die signifizierende Funktion des Zeichens bleibt von seiner adressierenden Funktion abhängig; insofern ist das Zeichen seine Wirksamkeit und damit »kein intellektuell begreifbarer Gegenstand« (FDS 700), nichts Vorliegendes. »Hinsichtlich des Zeichens [shmeîon]«, so Sextus weiter, »muß man Urteilsenthaltung [epoc®] üben« (FDS 704), es lässt sich als letzter Hori-
98 Walter Benjamin, »Denkbilder«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV. 1, Frankfurt/M. 1980, 305-438, hier: 429. 99 Paul Ricœur deutet Repräsentation von hier aus konsequent als ein »wieder zurück Geben« von etwas, dessen bloße Möglichkeit ich vom Anderen empfangen habe. Vgl. etwa Paul Ricœur, Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, Münster 2003, sowie ders., Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004 [2000]. 100 Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, übers. v. W. N. Krewani, München/Freiburg 1987 [1961], 252.
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zont allen Seins nicht selbst als Fall eines Seienden, als Gebung nicht selbst als Gegebenes repräsentieren oder theoretisch begreifen. Welt konstituiert sich immer nur als etwas, was wir uns wechselseitig sprachlich darbieten (oder zumindest darbieten könnten), um mit dieser Darbietung eine mehrdimensionale Wirksamkeit zu entfalten. Mit Lévinas: »Indem ich ein Ding bezeichne, bezeichne ich es einem Andren.«101 In einer solipsistischen Welt – darin behält Wittgensteins Privatsprachen-Argument102 sein tiefes Recht – ließe sich eine äußere Wirklichkeit nie deutlich von inneren Zuständen abheben. Erst vom Anderen wird mir eine von mir unabhängige Realität verbürgt. Ohne Andere würde die Welt ihre Widerständigkeit und Objektivität einbüßen. Als Bewohner eines privatsprachlichen Universums würde mir, wie bereits Schelling hervorhebt, mein Selbst wie im Traum widerfahren und sich nicht von der äußeren Welt unterscheiden lassen.103+104 Der Andere hält ebenso den Abstand zwischen mir und der Welt aufrecht, wie die Welt den Abstand zwischen mir und dem Ande-
101 A.a.O., 84. 102 Einer allein kann aus Wittgensteins Perspektive keiner Regel folgen (und damit keine Sprache sprechen), da er sich nie sicher sein könnte, ob er wirklich der Regel folgt oder ihr nur zu folgen glaubt. Jede Regelbefolgung verweist auf einen Primat des Anderen, dessen Perspektive die Kluft zwischen dem Glauben, einer Regel zu folgen, und dem wirklichen Befolgen einer Regel aufrechterhält. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., 345 (§ 202). 103 »Das Traumartige des Traumes besteht« für Schelling »darin, daß keine wirkliche Grenze zwischen Träumer und Geträumten besteht: das, was dem Träumer im Traum begegnet, ist immer nur er selber; so daß zwischen ihm und dem Geträumten keine eigentliche Distanz besteht. Das Bewußtsein ist in sich selbst verfangen und gerade deshalb kein bewußtes Bewußtsein. Denn der Träumer kann zu dem, worin er befangen ist, keine urteilende und besinnende Distanz einnehmen, weil das, was vor ihm zu sein scheint, stets nur er selber ist, es in Wahrheit also in ihm ist.« (Axel Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt/M. 1996, 101). 104 Bei Seneca wird der öffentliche Vortrag zur Bedingung dafür, dass der Rede Wirksamkeit und performative Kraft zukommt. Das private Deklamieren verhält sich dazu wie ein Handeln im Traum: »Wenn ich auf dem Forum rede, tue ich wirklich etwas. Wenn ich [dagegen] deklamiere, kommt es mir so vor, als ob ich [...] im Traum renne und schaffe.« (Sen. Contr. III praef. 12)
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ren. Rede wäre als Vermittlung dieser beiden Abstände zu lesen. Die verschiedenen Dimensionen der Semiose oder des Zeichenprozesses (Syntax, Semantik und Pragmatik), wie sie etwa von Charles Morris105 oder Karl 106 Bühler beschrieben wurden, liegen nicht einfach abstrakt nebeneinander im Raum, sondern sind vollständig durcheinander bedingt. Mit dem ersten Erheben der Stimme ist zugleich der Andere als Adressat dieser Stimme anwesend. Ich selbst, nur ich selbst, bräuchte nicht zu sprechen.107 Nicht sprechend würde ich mit der Welt zusammenfallen. Reden wäre die Praxis, mit der der Andere mir die Welt adressiert und mit der ich dem Anderen die Welt adressiere. In gewisser Weise bleibt uns nur, dieses Reden vorauszusetzen. Damit kommt die philosophische Reflexion allerdings nicht an ein Ende. Es gilt vielmehr, den Raum des Redens gerade in seiner Entzogenheit und Übergängigkeit konsequent auszuschreiten. Anderer, Ich und Welt als Instanzen, zwischen denen sich Rede als kommunikativer Prozess entspannt, können überhaupt nur deshalb als eigenständige und gesonderte Bereiche des Seins erscheinen, weil sich unser Reden gegenüber diesen Instanzen immer auch zum Verschwinden bringt. Augustinus, dessen Denken tief in der rhetorischen Sprachlehre verwurzelt ist, definiert das sprachliche Zeichen in diesem Sinne als »das, was dem Verstand sich selbst und etwas über sich selbst hinaus zeigt«108. Das Andere unseres Redens, das sich in Sprecher, Adressat und Welt aufteilt, kann als Resultat einer Selbstüberschreitung und damit auch Selbstauslöschung von Rede begriffen werden, deren phonetische oder graphematische Materialität den Rest verkörpert, der nicht in dieser Bewegung aufgeht. Das Entscheidende an der Rede ist nicht ihrer phonetische oder graphematische Präsenz, sondern ihr Verschwinden, ihr Übergehen in ein Anderes. In den Worten
105 Vgl. Charles William Morris, Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik der Zeichentheorie, übers. v. Roland Posner, Frankfurt/M. 1988 [1938]. 106 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. 107 Bernhard Waldenfels merkt in diesem Sinne an, dass es »ohne das Fremde, das sich dem Zugriff entzieht, nichts zu sagen und zu tun gäbe, was nicht im Grunde schon gesagt und getan ist« (Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994, 17). 108 Aurelius Augustinus, De dialectica, hrsg. v. Jan Pinborg, Dordrecht/Boston 1975, V, 86/88.
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von Valéry: »Der Philosoph glaubt an das Wort an sich – und so sind denn seine Probleme die Probleme der Wörter an sich, Wörter, die sich, wenn man sie festhält und isoliert, semantisch verdunkeln«; demgegenüber betont 109 Valéry, dass »Sprache nichts als Übergang« ist. Ihr Charakter als Übergang verbietet es, dass wir uns ein vollständiges Bild von ihr machen110, sie auf ein System abbilden können. Eine solche Möglichkeit würde einen Standpunkt nicht nur außerhalb des Raumes, sondern auch außerhalb der Zeit voraussetzen. Dass wir gänzlich in der Rede stehen, bedeutet, dass wir selbst in ihre Übergänge einbegriffen sind, sie nie stillstellen können. Rede wäre insofern als ein Medium sui generis zu charakterisieren, das einerseits etwas erscheinen oder sich ereignen lässt, indem es sich ihm gegenüber zum Verschwinden bringt, das dieses Andere, welches es zur Erscheinung bringt, aber zugleich selbst mit einem Verschwinden bedroht, indem es sich an seine Stelle setzt, es ersetzt. Hegel beschreibt diese zweite Seite des Mediums als seine »negative Natur«111: So wie es etwas in seinem Unterschiedensein von anderem erzeugt, hebt das Medium der Rede tendenziell auch alle Unterschiede auf. Unser Sprechen kann allein schon deshalb nicht auf außersprachliche Gründe reduziert werden, weil es nicht von der gleichen Welt ist wie diese Gründe, oder präziser: weil es zugleich von dieser Welt ist und nicht von dieser Welt. Dass ein Satz etwas bedeuten kann, impliziert sowohl, dass er ein Teil der Welt ist, als auch, dass er, indem er bedeutet, über die Welt
109 Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 534. 110 Nach Wittgenstein können wir uns nicht nur kein vollständiges Bild der Sprache machen, sondern müssen uns grundsätzlicher fragen, »ob unsere Sprache vollständig ist« (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., 245 (§ 18), Hervorhebung A.H.). Ihre konstitutive Unvollständigkeit expliziert Wittgenstein in einer diachronen wie synchronen Hinsicht, in dem er Sprache an gleicher Stelle mit einer in ständigem Umbau begriffenen Stadt analogisiert: »Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.« 111 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werkausgabe, Bd. 3, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1990 [1807], 139.
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hinaus weist. Dieses Über-sich-Hinausweisen wird in den Tropen oder rhetorischen Figuren unmittelbar anschaulich. So expliziert die Metapher einen »unmöglichen« Zug jeder Äußerung: ihre nie vollständig zu rationalisierende Kraft, sie selbst zu sein und zugleich etwas anderes. In diesem Sinne existiert eine Äußerung nicht so, wie alles andere. Sprachliche Äußerungen können nie angemessen zum Gegenstand einer Ontologie (und damit einer wissenschaftlichen Erklärung) gemacht werden. Sie weisen über sich hinaus auf etwas Anderes, das sie zugleich bewirken; dieses Andere, die Konsequenz der Rede, wäre zugleich als ihre paradoxe Essenz zu begreifen. Rede entzieht sich auch insofern ihrer Rationalisierung, als wir nie Rechenschaft über ihre Herkunft ablegen können. Zunächst kommen die Worte und Sätze von Anderen, wir hören und lesen112 sie. Schwieriger wird es mit den Sätzen, die wir selbst bilden und in die Welt entlassen. Welchen Status hat dieses Bilden? Hat es einen grundsätzlich anderen Charakter als das Hören und Lesen? Die Worte entspringen, ohne dass wir uns auf ihren Quellpunkt zurückwenden könnten. Valéry kann insofern fragen: »Woher ist dir, du einsamer Geist, die Sprache, die du sprichst, überkommen?«113
112 Hören und Lesen gehen mit einer Aneignung einher, die das Gehörte und Gelesene einerseits realisiert, andererseits aber auch transformiert. Jedes Hören oder Lesen eines Satzes vollzieht einen (von einer Unbestimmtheit heimgesuchten) Übersetzungsakt, der uns uns nie sicher sein lässt, ob die Lektüre dem Gelesenen angemessen ist. Der Versuch, diese Angemessenheit zu beurteilen, wäre wiederum nur eine weitere Lektüre. Paul de Man schreibt: »Lesen bedeutet zu verstehen, zu fragen, zu wissen, zu vergessen, zu löschen, zu entstellen, zu wiederholen – mit anderen Worten, Lesen ist die endlose Prosopopöie, durch die den Toten Gesicht und Stimme verliehen wird, mit der sie die Allegorie ihres Hinscheidens erzählen und wodurch wir die Möglichkeit haben, sie unsererseits anzusprechen.« (Paul de Man, Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., S.176) Und weiter: »Lesen ist ein Akt des Verstehens, der niemals beobachtet werden kann, für den es keine wie immer gearteten Vorschriften gibt und der auch nicht verifizierbar ist. Ein [...] Text ist kein phänomenales Ereignis, das irgendeine Form von positiver Existenz besäße, weder als natürliches Faktum noch als Tätigkeit des Geistes.« (A.a.O., 190). 113 Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 536. – Bei Lichtenberg heißt es ganz vergleichbar: »Wo habe ich diese Gedanken her, die ich hier schreibe?« (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, in: ders., Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, Bde. 1-2, München 1968-1971, B 130)
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Die Innenseite der persona, die wir sind, bleibt uns entzogen. Wir befinden uns immer schon auf der Seite derjenigen, die die Worte vernehmen, auf der Seite der Leser und Hörer einer Rede, die sich durch uns ausdrückt. Ich bin meinem Reden nicht als Souverän vorgeordnet. Das »Ich« ist vielleicht nur das Trugbild eines außersprachlichen Anfangs der Rede in der Rede, ein Trugbild freilich, das immer wieder reale Effekte zeitigt. Rede, negativistisch gedeutet, wäre die Kraft, Illusionen wirklich werden zu lassen. In den Worten von Karl Kraus: »Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht 114 verarmt.« Rede setzt sich, wie Wilhelm von Humboldt115 und Ferdinand de Saussure116 mit unterschiedlichen Akzentsetzungen hervorgehoben haben, aus Nichtidentitäten zusammen: Sie ist die Kraft, die Identitäten daran hindert, sich in sich abzuschließen. Diese negativistische Position, die Rede wesentlich in sich selbst, in ihren internen Differenzen, gegründet sein lässt, zeichnet sich bereits in der Antike ab. Für Augustinus etwa ist »jedes Wort mehrdeutig«, »eine Wegkreuzung mit vielen Pfaden [...]. Und obwohl jedes Wort mehrdeutig ist, erklärt niemand die Mehrdeutigkeit der Wörter mit etwas anderem als mit Wörtern«117. Worte beziehen ihren Wert daraus, dass sie sich wechselseitig bestimmen; sie bilden einen Verweisungszusammenhang, der auf nichts anderem ruht als auf der Tätigkeit des Differenzierens
114 Karl Kraus, »Die Sprache«, in: ders., Die Sprache, Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1987, 371-373, hier: 373. 115 Humboldt weist darauf hin, dass in der Sprache »jedes [...] nur durch das Andre, und Alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht« (Wilhelm von Humboldt, »Vergleichendes Sprachstudium und Sprachentwicklung«, a.a.O., 3). 116 Sprachliche Zeichen wirken und gelten für Saussure »nicht vermöge eines in ihnen selbst enthaltenen Wertes, sondern ihre Geltung beruht auf ihrer gegenseitigen Stellung.« Und weiter: »Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im Allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder« (Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, 141 u. 143). 117 Augustinus, De dialectica, 106/108.
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und Verweisens. In De lingua Latina schreibt Varro: »Jedes Wort hat zwei Wesenszüge, nämlich von welcher Sache her und für welche Sache das Wort gebildet ist.«118 Dem ersten Aspekt widmet sich die Êtymología, dem zweiten eine Disziplin namens perì shmainoménwn. Für letztere folgt eine Bedeutung aus allen anderen, »wie in den Gewölben die rechte Seite genauso dank der linken steht wie die linke dank der rechten.«119 Als Beispiel für ein solches semantisches, sich über einem Nichts aufspannendes Gewölbe erwähnt Varro die Dichotomie von Vater und Sohn, zwei Begriffe also, die sich wechselweise definieren. Er lässt die Möglichkeit anklingen, dass das von ihm beschriebene Gewölbe die gesamte Sprache umfasst, einen phantastischen, ständig im Umbau begriffenen Palast, dessen Zentrum der leere Raum ist, den die Architektonik umwölbt und auf den sie sich zugleich stützt. Äußerungsereignisse beziehen sich vor allem anderen, also auch noch bevor sie sich auf Ich, Andere und etwas in der Welt beziehen, auf andere Äußerungsereignisse. Meine Sätze befragen und beantworten andere Sätze, die ihnen vorausgegangen sind, Sätze, die ich selbst geäußert habe, zugleich aber auch Sätze anderer. Die Frage nach der Autorschaft hat hier allenfalls einen sekundären Stellenwert. Indem ich etwas sage oder schreibe, spreche oder schreibe ich an bestehenden Texten fort, kann selten ganz neu anfangen; bereits im ersten Anfang war das Wort. Im Prinzip verweist jeder Satz auf alle anderen, auf alles, was jemals gesagt wurde und auf alles, was noch gesagt werden könnte. Aufgrund der Uneinholbarkeit und Nichtexplizierbarkeit aller Bezüge ist die Sprache, wenn wir denn überhaupt an ihrem Begriff festhalten wollen, strukturiert wie das Unbewuss-
118 Marcus Terentius Varro, De lingua Latina, X 59. 119 Ebd. – Wie eine sozialphilosophische Variante dieses Arguments liest sich folgende Bemerkung Senecas: »Wir sind zur Gemeinschaft geboren. Unsere gesellige Zusammengehörigkeit hat große Ähnlichkeit mit einem Steingewölbe, das einstürzen würde, wenn die Steine nicht durch ihre gegenseitige Lage dies verhinderten und eben dadurch den Bau haltbar machten. [Habeamus in commune: in commune nati sumus. Societas nostra lapidum fornicationi simillima est, quae, casura nisi in vicem obstarent, hoc ipso sustinetur].« (Sen. epist. XV, 95, 53). Seneca, »Briefe an Lucilus, Zweiter Teil – Brief 82-124«, in: ders., Philosophische Schriften, Bd. IV, Hamburg 1993, 164.
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te : Von keinem Ort aus könnte auch nur ein Bruchteil ihrer Möglichkeiten und Bezüge überblickt und kontrolliert werden. Gleichwohl verweist ein Satz nicht auf alle Sätze mit gleicher Notwendigkeit oder Intensität. In einer besonderen Schuld steht er etwa gegenüber den Sätzen, die ihm unmittelbar vorausgehen und unmittelbar folgen. Unsere Sprechakte sind in der Regel sequenzabhängig.121 Je weiter ich mich vom aktuellen Satz in die Vergangenheit bzw. Zukunft entferne, desto unbestimmter wird der Bezug, der gleichwohl immer gewahrt bleibt. So wie im Reich der belebten Natur alle Lebewesen mit allen anderen verwandt sind und auf gemeinsame Vorfahren zurückblicken können, so partizipieren in gewisser Weise auch alle Äußerungen an einer Geschichte und einem Gespräch. Letztlich hängen noch die Möglichkeiten der Zeit und des Raumes von der Sequenzialität der Rede ab. Zeit gibt es nur, weil dieser Satz, dieser Gedanke jetzt, auf einen ihm vorausgehenden Satz und Gedanken antwortet und zugleich nach einem weiteren Satz verlangt, der ihm antworten, ihn interpretieren, zurückweisen oder unterstützen wird. Diese konstitutive Verzeitlichung eröffnet wiederum die Möglichkeit des Denkens: »Insofern das Denken immer ›sprachlich stattfindet‹ und – wie groß auch immer seine Geschwindigkeit und seine Fähigkeit zum Überflug sein mag – notwendigerweise eine operative Zeit in sich selbst impliziert, kann es nie vollständig mit sich selbst zusammenfallen.«122 Denken erbt gleichsam die Übergängigkeit der Rede und stiftet Raum und Zeit eher, als dass es sie zur Voraussetzung hätte.123
120 Vgl. Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Bd. XI, Weinheim 1996, 26. 121 In der Sprechakttheorie von John Searle wird die Sequenzabhängigkeit von Sprechakten weitgehend ignoriert. 122 Giorgio Agamben, Die Zeit die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, übers. v. Davide Giuriato, Frankfurt/M. 2006, 80. 123 Besonders deutlich hervorgehoben wurde die Übergängigkeit des Denkens von William James. Im Kapitel 9 seiner Principles of Psychology beschreibt er Denken als einen Strom, aus dem das Selbst eher hervorgeht, als dass sich das Denken im Bewusstesein eines personalen Selbst vollziehen würde. Vgl. William James, The Principles of Psychology I, in: The Works of William James, Bd. 8, Cambridge/Mass./London 1981 [1890], 219ff.
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Jeder Satz adressiert sich an einen anderen, will ihm etwas zu verstehen geben; er bedarf eines anderen Satzes, der ihn interpretiert. Dass sich Sätze wechselseitig interpretieren können, kann allerdings auch als Indiz dafür genommen werden, dass sie in einer anderen Hinsicht singulär bleiben. Zwischen den Sätzen interveniert eine Übersetzungsunbestimmtheit. Nach Jean-François Lyotard vermag nur eine Politik oder Diskursart, die »die 124 Einsätze und Zwecke festlegt« , die Verkettung von einem Satz, der, wie Lyotard im Anschluss an Gorgias, Protagoras und Antisthenes hervorhebt, zunächst ein singuläres, inkommensurables Ereignis bleibt, mit einem anderen Satz zu lenken und den leeren Raum zwischen den Sätzen zu überbrücken. Diese Diskursart (die nicht als Tiefenstruktur interpretiert werden sollte, sondern selbst nur aus Sätzen besteht), verleiht einer Welt, einem Sprachspiel oder einer Kultur Konsistenz, indem sie die Abgründe zwischen den einzelnen Äußerungsereignissen, wie vorläufig auch immer, überbrückt. Das Subjekt erscheint von hier aus als ein Gegenspieler des Diskurses. Es geht der Rede nicht voraus, sondern findet seinen Ort in den Abgründen zwischen den Sätzen oder Äußerungsereignissen; es hindert die Diskursart immer wieder neu daran, sich zu totalisieren. Das Subjekt wird einerseits vom Diskurs als ein Unterworfenes (subiectum) konstituiert, durch dessen Äußerungen hindurch sich der Diskurs Geltung verschafft. Umgekehrt vermag es das Subjekt aber auch, Sätze in einer überraschenden, neuen, subversiven Weise zu verketten, die die Grenzen der Diskurse verschiebt. Als Statthalter der Unmöglichkeit einer Sprache diskontinuiert das Subjekt die Sprache zu singulären Äußerungen. Es rhythmisiert den Strom der Signifikanten und schafft so eine durch Freiheit artikulierte Welt.125
124 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, übers. v. Joseph Vogl, München 21989 [1983], 60. 125 Die sich hier bereits andeutende Theorie des rhetorischen Subjekts, die in Kapitel 3.4 weiter ausgeführt wird, korrespondiert insofern mit einer von Alain Badiou konstatierten »zweiten Epoche des Subjekts, das nicht mehr das grundlegende, zentrierte und reflexive Subjekt ist, dessen Beschreibung von Descartes bis Hegel verläuft und bis Marx und Freud [...] lesbar bleibt. Das zeitgenössische Subjekt ist leer, gespalten, a-substantiell, irreflexiv« (Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, übers. v. Gernot Kamecke, Berlin 2005 [1985], 17).
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1.5 Z UR K RITIK EINER P RAGMATIK
HANDLUNGSTHEORETISCHEN
Ein systematisches Anliegen der Rekonstruktion rhetorischen Sprachdenkens, denen sich die Kapitel 2 bis 5 widmen werden, richtet sich auf die Korrektur einer instrumentalistischen Tendenz der neueren Sprachpragmatik. Die seit der Antike in der Rhetorikdiskussion thematisierte Vorgängigkeit der Rede vor den Sprechern und ihren Intentionen macht es unmöglich, Sprache ausschließlich als Instrument zur Verwirklichung von subjektiven Zwecken zu behandeln. Sprachliche Äußerungen können nicht zureichend im Rahmen einer intentionalistischen Handlungskonzeption als »Sprechakte« beschrieben werden. Vor diesem Hintergrund soll nun die von John L. Austin bis zu Karl-Otto Apel reichende Sprachpragmatik kritisch befragt werden. Das rhetorische Sprachdenken der Antike und der frühen Neuzeit scheint mir in Bezug auf die Thematisierung der Wirksamkeit von Rede ein Reflexionsniveau markiert zu haben, hinter das die neueren, an Austin anschließenden sprachpragmatischen Diskussionen über weite Strecken wieder zurückfallen. Diesen Verdacht äußert bereits der frühe Apel, wenn er schreibt: »In der Tat läßt sich die [rhetorisch gestimmte, A.H.] Sprachkonzeption des Humanismus nicht aus dem Horizont einer Sprach-Pragmatik rekonstruieren, welche lediglich das Funktionieren der Verständigung in synchronisch überschaubaren Kommunikations- und Interaktions-Spielen zwischen Sender und Empfänger studiert.«126 Das in der rhetorischen Tradition verwurzelte Sprachdenken der Renaissance entfaltet, wie Apel beeindruckend zeigt, eine breiter angelegte Theorie sprachlicher Wirksamkeit, die sich einem einfachen Handlungskonzept entzieht. Gegen eine verdinglichende Perspektive, welche Sprache von außen als Erkenntnisobjekt beschreibt, ließe sich mit der rhetorischen Tradition auf die Unmöglichkeit eines sprachexternen Standpunktes der Sprachbeschreibung127 hinweisen. In den Worten von Hans Georg Gadamer: »Wahrhaft
126 Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, a.a.O., 12. 127 Vgl. hierzu auch Wittgenstein: »Daß ich bei meinen Erklärungen, die Sprache betreffend, schon die volle Sprache [...] anwenden muß, zeigt schon, daß ich nur Äußerliches über die Sprache vorbringen kann.« (Philosophische Untersuchungen, a.a.O., 301 (§ 120).
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universale Sprachlichkeit [...] bezeugt […] die Rhetorik.« Seit Gorgias und Isokrates insistiert Rhetorik auf der Sprachlichkeit eines jeden Zugangs zur Welt und somit auch zur Sprache selbst. Insofern organisiert sich Rhetorik weniger als Theorie der Sprache denn vielmehr als Kunstlehre der Rede. Jedes Sprechen über die Rede erfolgt für die Rhetorik bereits auf deren Feld, nimmt bereits in Anspruch, wovon es zu sprechen vorgibt. Alle Unterscheidungen im Feld der Rede bleiben insofern kontingent, als wir über kein externes Maß zur Beurteilung der Angemessenheit dieser Unterscheidungen verfügen. Letzte Unterscheidungen (wie die vom späten Apel unterschiedenen fundamentalen Weltbezüge oder Geltungsansprüche der Sprache) werden von der Rhetorik nicht zugelassen. Man könnte das rhetorische Sprachdenken mit einer Formulierung von Bruno Liebrucks129 und Günter Wohlfart130 auch als »dialektisches Sprachdenken« bezeichnen: als ein Denken, das sich bewusst ist, nie klar von seinem Gegenstand, der Rede, unterschieden werden zu können. Die Rhetorik begreift sich im Gegensatz zur Linguistik und zur analytischen Pragmatik nicht als Metasprache, die von außen auf eine Objektsprache (oder besser: auf ein Sprachobjekt) zugreift, sondern als eine sprachliche Praxis131, die sich in ihrem eigenen Vollzug über sich selbst aufzuklären sucht, in dieser Selbstaufklärung allerdings nie an ein Ende kommt und sich immer wieder neu verfehlt.132 Rheto-
128 Hans Georg Gadamer, »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, a.a.O., 59. 129 Vgl. Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, Einleitung, Spannweite des Problems, Frankfurt/M. 1964, 190ff. 130 Vgl. Günter Wohlfart, Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel, Freiburg/München 1984, 24. 131 Cicero schreibt: »So ist nicht die Beredsamkeit aus einem theoretischen System, sondern das theoretische System aus der Beredsamkeit entstanden.« (Cic. de or. I 146) 132 Augustinus vergleicht die sprachliche Erkundung der Sprache mit dem Versuch, die Finger der einen Hand mit denen der anderen zu reiben, wobei sich beide Seiten bis zur Ununterscheidbarkeit verschränken: »Mit Wörtern Wörter zu behandeln [verbis de verbis agere], ist genauso verwickelt wie ein Verflechten und Reiben der Finger mit den Fingern: bis auf den, der es selber tut, kann einer kaum unterscheiden, welche Finger jucken und welche den juckenden helfen wollen« (Augustinus, De mag. V, 14. CCSL 29). Jede Unterscheidung von Objekt- und Metasprache wird hier sinnlos.
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rik kann als Kontext einer Selbstvergewisserung der Rede gelten. Spätestens mit der Sophistik »wird sich der lógoV seiner selbst bewußt und erforscht seine eigenen Möglichkeiten.«133 Im Bewusstsein, die Erforschung des lógoV nur vom lógoV aus betreiben zu können, zeigt sich die Rhetorik mit der Poetik verschwistert; auch deren theoretische Reflexionen »treten nicht als Abhandlungen neben das poetische Werk, sondern sind integrierter Bestandteil der Dichtungen selbst, stehen also unter dem Gesetz der Form, über das sie etwas aussagen.«134 Das Sprachdenken der rhetorischen Tradition bleibt ein immerwährender Prozess und lässt sich nicht als System darstellen. Für Quintilian verkörpert die Rhetorik eine Einheit von Kunst (ars), Künstler (artifex) und Kunstwerk (opus) (vgl. Quint. inst. or. II 14, 5), eine vis, facultas, potestas, dúnamiV, zusammenfassend: eine peijoûV dhmiourgóV (Quint. inst. or. II 15, 3/4); sie beruht »auf der Betätigung, nicht auf dem Erfolg [in actu posita, non in effectu]« (Quint. inst. or. II 17, 25). Rhetorik fällt mit ihrem Vollzug zusammen, sie formiert sich eher als Praxis denn als Poiesis, eher als performance denn als Produktion: »actum, id est prâxin« (Quint. inst. or. III 6, 26) nennt Quintilian die Rhetorik. Die Rhetoriker werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass den von ihnen formulierten Maximen eher ein rekonstruktiver als ein normativer Stellenwert zukommt. »Ich gedenke«, so führt etwa Cicero aus, »nichts vorzutragen, um damit Regeln aufzustellen – vielmehr will ich mich so verhalten, daß ich als Kritiker erscheine, nicht als Schulmeister.« (Cic. or. 112) Die Theorie der Rhetorik geht der Praxis des Redens nicht voraus, sondern folgt ihr; auch darin, so Quintilian, berührt sich die Rhetorik mit der Poetik: »Früher nämlich ist die Dichtung entstanden als das Studium der Dichtung« (Quint. inst. or. IX 4, 115). Das Bild der Rhetorik als eines starren, präskriptiven Regelsystems, das für die sich seit dem 18. Jahrhundert verstärkende Rhetorikfeindschaft verantwortlich ist, schuldet sich weniger den antiken Quellen als der Rhetorik des Barock – etwa derjenigen Johann Christoph Gottscheds –, in der die rhetorische Terminologie vom Geist des Rationalismus kolonialisiert wird.
133 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 166. 134 Eckart Schäfer, »Nachwort« zu ders. hrsg. u. übers., Horaz, Ars Poetica/Die Dichtkunst, Stuttgart 1997, 55-67, hier: 55.
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Gegenüber der angedeuteten Offenheit des rhetorischen Redekonzepts wird Sprache insbesondere bei John Searle135 und Jürgen Habermas136 – um die beiden prominentesten gegenwärtigen Sprachpragmatiker zu nennen – 137 in mindestens vier Dimensionen vergegenständlicht: (a) Zum Objekt wird sie erstens aus der Perspektive einer Theorie, die vorgibt, Sprache von außen beschreiben und kategorisieren zu können. Der Blick, den Searle und Habermas (aber auch viele andere, im Grunde der Mainstream der neueren Linguistik und sprachanalytischen Philosophie) auf Sprache werfen, nimmt implizit einen sprachlich (und einzelsprachlich) neutralen Punkt in Anspruch. Die Sprachpragmatiker sprechen ausschließlich über die Sprache. Man könnte das sprechakttheoretische Projekt vor diesem Hintergrund als das paradoxe Unterfangen begreifen, die performativ-pragmatische Dimension der Sprache deskriptiv auflösen zu wollen. Searle und Habermas behaupten indirekt einen logischen Primat der Deskription über die Präskription, da ihnen die Sprechakttheorie als Instrument einer propositionalen Rekonstruktion illokutionärer Strukturen dient. Alle nicht-assertiven Sprechakte ließen sich, so lautet ein Credo beider Autoren, im Rahmen der Sprechakttheorie in assertive umformulieren, nicht aber umgekehrt. Die Präskription »Öffne bitte das Fenster« ließe sich in die Deskription »X befiehlt Y, das Fenster zu öffnen« transformieren, »denn auch die Bedeutung der nichtassertorischen Sätze findet ihre Aufklärung im Rekurs auf jene Bedingungen, durch die assertorische Sätze wahr gemacht
135 Vgl. etwa John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übers. v. Rolf u. Renate Wiggershaus, Frankfurt/M. 1983 [1969]. 136 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 4
1987 [1980].
137 Vgl. hierzu auch Andreas Hetzel, Zwischen Poiesis und Praxis, a.a.O., 254-272. – Mit der nun folgenden Kritik sollen natürlich nicht die Verdienste beider Autoren um ein pragmatisches Sprachverständnis geleugnet werden. Gegenüber Searle und Habermas geht es mir vor allem darum, die von ihnen mitgetragene pragmatische Wende zu radikalisieren, und das heißt vor allem: unausgewiesene vorpragmatische Implikationen der Sprachpragmatik sichtbar zu machen. Eine detailierte Auseinandersetzung mit beiden Autoren, aber auch mit Austin, Cavell und Brandom, veröffentliche ich demnächst unter dem Titel Eine Pragmatik jenseits der Handlungstheorie.
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werden«. Eine Deskription könne umgekehrt nicht in eine Präskription übersetzt werden. Michel de Certeau hat demgegenüber in einer wenig beachteten Kritik an Searle und Habermas gezeigt, dass jede Deskription, etwa die Beschreibung der Lage eines Zimmers, auf einer präskriptiven Grundlage beruht: »Beschreibungen bestehen hauptsächlich aus Handlungs-Anweisungen.«139 Am Beispiel der Geschichte der Landkarte, die zunächst eine kodifizierte Handlungsanweisung für Pilger war, die deren Routen vorschrieb, und erst viel später als Abbild eines Landes begriffen wurde, weist de Certeau die pragmatische Genealogie vermeintlicher Repräsentationen exemplarisch nach.140 Ein Primat des Theoretischen über das Praktische zeichnet sich ferner in einem gewissen Kognitivismus der Sprechakttheorie ab. Ein Sprechakt gelingt für Habermas nur dann, wenn Sprecher und Hörer einerseits die »Erfüllungsbedingungen« des Sprechaktes kennen und darüber hinaus auch noch in der »Kenntnis der Bedingungen für das Einverständnis, welches die Einhaltung der interaktionsfolgenrelevanten Verbindlichkeiten erst begründet«141, zusammenkommen. Der Sprechakt bezieht seine Kraft aus dem gemeinsamen Wissen um seine Möglichkeitsbedingungen. (b) Doch nicht nur als Erkenntnisobjekt wird Sprache in der Pragmatik verdinglicht, sondern auch als ein Instrument des Handelns. Sprechhandlungen werden als Sonderfälle eines, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, instrumentalistischen Handlungsbegriffs diskutiert. Ein sprachexternes Subjekt bedient sich der Sprache als eines Instrumentes der Übermittlung illokutionärer Angebote, hinter denen sich mentale Intentionen und konstitutive Regeln142 verbergen. Die konstitutive Regel des Sprachsystems und die
138 Jürgen Habermas, »Zur Kritik der Bedeutungstheorie«, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988, 105-135, hier: 115. 139 Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 1988 [1980], 221. 140 Vgl. a.a.O., 220-226. 141 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., Bd. 1, 403. 142 Für Searle bedeutet »eine Sprache sprechen […], Sprechakte in Übereinstimmung mit Systemen konstitutiver Regeln zu vollziehen« (John R. Searle, Sprechakte, a.a.O., 61). Im Gegensatz zu bloß »regulativen« Regeln, die rein konventionell sind und die Entitäten, deren Verhalten sie regeln, nicht zugleich auch erzeugen
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Intention des Sprechers bestimmen dabei die illokutionäre Rolle des Sprechaktes so wie den illokutionären Effekt im Hörer. Aus der einen bestimmten Intention und der einen bestimmten Regel folgt der eine bestimmte Sprechakttyp, welcher nur eine bestimmte Art von Reaktion vorsieht: Die Reaktion auf den Sprechakt lässt nur die Ablehnung oder die Akzeptanz des vom Sprecher erhobenen illokutionären Angebots zu. Letztlich verbirgt sich hinter der Sprechakttheorie, wie neuerdings insbesondere Judith Butler143 hervorhebt, eine mechanistische Sprachauffassung. Gegen Searle hebt Butler hervor, dass der Sprecher die persuasiven und perlokutionären Wirkungen seines Sprechaktes nie vollständig zu kontrollieren vermag. »Der Sprechakt sagt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er sagen will.«144 Die »Beziehung zwischen Sagen und Tun« im Sprechakt bleibt für Butler »unbestimmt«145, und das aus mindestens drei Gründen: Zum einen produziert der Sprecher seinen Sprechakt nicht einfach nur, sondern wird umgekehrt auch von seiner Äußerung produziert bzw. rückwirkend in eine Sprecherposition gesetzt. Das sich äußernde Subjekt geht seiner Äußerung nicht einfach voraus, sondern konstituiert sich für Butler, die hier an Louis Althussers146 Überlegungen zu einer subjektivierenden Anrufung anknüpft, im Vollzug der Äußerung.147 Die Performativität der Äußerung erstreckt sich somit nicht nur auf die mit der Äußerung
(Searle erwähnt als Beispiel Verkehrsregeln), bringen konstitutive Regeln das, was sie regeln sollen, zugleich hervor (so eine Figur im Schachspiel, in der sich eine Regel materialisiert). Das, was Searle mit den konstitutiven Regeln erklären möchte, die Performativität sprachlicher Äußerungen, wird in den konstitutiven Regeln also bereits vorausgesetzt. 143 Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Kathrina Menke u. Markus Krist, Berlin 1998 [1997]. 144 A.a.O., 22. 145 A.a.O., 133. 146 Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, übers. v. Rolf Löper, Hamburg/Berlin 1977 [1970], 140ff. 147 Judith Butler, Haß spricht, a.a.O., 41. Ein vergleichbares Argument in bezug auf die Autorschaft von Texten findet sich bereits bei Nietzsche: »Das ›Werk‹, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll; die ›grossen Männer‹, wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein« (KSA 5, 224).
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instituierte soziale Tatsache, sondern auch auf die sich äußernde Instanz. Der performative Prozess verliert damit jeden außersprachlichen Halt und kann nie vollständig kontrolliert werden. Darüber hinaus bleibt das Verhältnis zwischen Sprecher, Sprechakt und pragmatischem Effekt auch deshalb unterbestimmt, weil sich jede Äußerung, die »das Subjekt erschafft, zugleich von etwas anderem herleitet«148, von einer Sprache, die nicht nur die Sprache des sprechenden Subjektes selbst ist. Alle Äußerungen verweisen auf Kontexte ihrer Bedeutung und Geltung, die nie vollständig eingeholt, geschweige denn formalisiert werden können. Jede Äußerung sagt immer auch mehr oder etwas anderes, als der Sprecher mit ihr zu sagen beabsichtigt hat: »Obgleich das Subjekt zweifellos spricht und es kein Sprechen ohne Subjekt gibt, übt das Subjekt nicht die souveräne Macht über das aus, was es sagt.«149 Mit Derrida weist Butler weiter darauf hin, dass jeder Sprechakt tendenziell ein Zitat ist und selbst zitiert werden kann. Mit der Iterierbarkeit des Sprechaktes hängt wesentlich auch seine Alterierbarkeit zusammen, ein »Bruch mit früheren Kontexten«, welcher einhergeht mit »der Möglichkeit, Kontexte zu inaugurieren, die erst noch wirklich werden müssen.«150 Mit jedem Sprechakt werden die institutionellen Rahmenbedingungen, die nach Searle über die Legitimität der mit dem Sprechakt erhobenen Geltungsansprüche entscheiden, neu aufs Spiel gesetzt. Die performative Äußerung hat insofern eine »unvorhersehbare Zukunft«151 und nähert sich einem Ereignis an. Auch der frühe Apel weist auf die »unvorhersehbare Zukunft« jeder Äußerung hin, auf das Versprechen, welches sich in jedem Satz ausdrückt; gegen Morris und Wittgenstein macht er geltend, »daß in der Sprache Sinn aufleuchten kann, der alles bisherige Verhalten des Menschen einschließlich des ›Sprachgebrauchs‹ und jeden bisher vorstellbaren Situationskontext transzendiert: der Mensch kann als Sprachwesen die Situation seines Inder-Welt-seins ändern. Gerade deshalb ist aller ›Sinn‹ durch zukünftige Praxis ›vermittelt‹.«152
148 Judith Butler, Haß spricht, a.a.O., 29. 149 A.a.O., 55. 150 A.a.O., 215. 151 A.a.O., 202. 152 Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, a.a.O., 35.
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(c) Eine dritte Dimension der Verdinglichung, in die sich die neuere Sprachpragmatik verstrickt, lässt sich an Apels späterem Konzept und Begriff einer »Transzendentalpragmatik«153 festmachen. In der Tradition philosophischer Vermögenstheorien und Kataloge unterschiedlicher Typen von Vernunft und Welt begreifen Habermas und Apel auch die Sprache als strukturiert durch bestimmte Geltungsdimensionen, die sich zur Äußerung transzendental verhalten. Der Bezug der Sprache auf theoretische Wahrheit, praktische Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit bilde die transzendentale Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Äußerung, welche deren Materialität, Individualität und Geschichtlichkeit radikal entwerte. Auch hier ließe sich mit Derrida, Butler und der rhetorischen Tradition entgegnen, dass sich die Frage nach den Geltungsdimensionen mit jedem Sprechakt neu stellt. Ein emphatisch verstandener performativer Akt schafft allererst den institutionelle Rahmen, der ihm Gültigkeit zu verleihen vermöchte, ein Gedanke, den Habermas andeutet, ohne ihm in seiner eigenen Version einer Pragmatik konsequent Rechnung zu tragen: »Offensichtlich bringen wir mit dem Vollzug von Sprechakten auch die Bedingungen, unter denen Sätze erst geäußert werden können, performativ hervor.«154 Die Performanz wirkt auf die Kompetenz zurück. Gleichwohl kommt der Kompetenz bei Habermas ein Primat zu, so dass er »pragmatische Universalien«155 zu benennen können glaubt, die in der kommunikativen Verständigung nicht selbst zu Debatte gestellt werden dürfen. Jeder Versuch, die pragmatischen Universalien zu hinterfragen, verstricke sich in einen performativen Selbstwiderspruch. (d) Am deutlichsten zeigt sich das Maß der Verdinglichung in der neueren sprachpragmatischen Diskussion an einer spezifischen Verkennung des Performativen, die hier nur angedeutet werden kann. Das Konzept des performativer Äußerungen, welches die rhetorische Idee der Persuasion be-
153 Vgl. etwa Karl-Otto Apel, »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«, in: ders., (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, 10-173. 154 Jürgen Habermas, »Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie (1979/71)«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, 11-126, hier: 89. 155 Ebd.
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erbt , wird von Austin in seinen von 1955 bis 1960 in Oxford gehalten und 1962 posthum unter dem Titel How to do Things with Words veröffentlichten Vorlesungen zur Sprechakttheorie eingeführt. Austin, der klassische Philologie studiert hat, dürfte mit dem Sprachdenken der antiken rhetorischen Tradition vertraut gewesen sein, geht allerdings an keiner Stelle auf eine mögliche Vorbildfunktion antiker Autoren für seine eigene sprachpragmatische Theorie ein. Er beginnt mit einer einfachen Überlegung: Unsere Worte erschöpfen sich nicht darin, Sachverhalte wiederzugeben; mit manchen Äußerungen schaffen wir vielmehr auch Tatsachen. Die Worte richten sich nicht nur nach der Welt, sondern die Welt richtet sich in vielen Fällen auch nach unseren Worten. Jede Sprachphilosophie, die Sprache ausschließlich über ihre repräsentative Funktion zu begreifen trachtet, blendet also einen wesentlichen Zug aus. Mit diesem Einwand greift Austin ein wesentliches Argument der rhetorischen Tradition gegenüber allen repräsentationistischen Philosophien auf. Austin unterscheidet in der Anfangsphase seiner sprachpragmatischen Theorie zwei Typen von Äußerungen: Performativa, mit denen ich eine Handlung vollziehe oder eine Institution schaffe, und Konstativa, mit denen ich einen bereits bestehenden Sachverhalt wiedergebe. Mit einer performativen Äußerung wird eine Handlung vollzogen, indem wir einen Satz aussprechen; sie lässt sich folgendermaßen formalisieren: »Indem ich x gesagt 157 habe, habe ich y getan.« Performativ wäre eine sprachliche Äußerung, die im Vollzug etwas anderes schafft oder – in der Sprache des Aristoteles – eine prâxiV, die zugleich poíhsiV ist. Bereits für Wittgenstein bedeutet eine Sprache zu sprechen, an einer Lebensform teilzuhaben. Die Bedeutung von Worten ergebe sich aus den je spezifischen Weisen, sie im Kontext einer Lebensform zu verwenden. Diese Lebensform habe keinen gegenüber dem Sprachgebrauch transzendentalen Status, da sie selbst nur in einem bestimmten Gebrauch von Worten bestehe. Der Gebrauch der Sprache bleibe ihrem Wesen insofern nicht äußer-
156 Joachim Knape schreibt hierzu: »Was Austin […] als pragmatic turn der Sprachphilosophie postuliert, ist für Rhetoriker seit zweieinhalbtausend Jahren selbstverständlich: Sprache bildet nicht nur Sachverhalte ab, sondern Sprache handelt immer auch.« Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, 118. 157 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., 138.
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lich: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« An diese Einsicht Wittgensteins knüpft Austin an. Sprache lässt sich für Wittgenstein und Austin nicht hinreichend über ihre Semantik und Grammatik 159 begreifen, sondern erst dann, wenn man ihren Gebrauch berücksichtigt. Bestimmte Institutionen führen sich aus Austins Sicht ausschließlich darauf zurück, dass sie sprachlich für bestehend erklärt werden. Paradigmatisch hierfür ist das Eröffnen einer Sitzung mit den Worten »Hiermit öffne ich die Sitzung!« oder das Schließen einer Ehe mit den Worten »Hiermit erkläre ich euch für Mann und Frau!« Am Anfang der Entwicklung seiner sprachpragmatischen Theorie glaubt Austin noch, mit den Performativa eine bestimmte Sonderklasse von Äußerungen entdeckt zu haben, die er von den Konstativa abheben könne. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen kommt er allerdings mehr und mehr zu der Einsicht, mit im Performativen einen allgemeinen Zug der Sprache freigelegt zu haben, an dem jede Äußerung partizipiere. Die anfängliche Dichotomie von Konstativa und Performativa wird deshalb abgelöst durch eine Trichotomie von drei neuen Grundbegriffen: dem lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akt.160 Die Lokution steht für die bloße Äußerung an sich. Die Illokution verkörpert den je spezifischen Handlungscharakter, der sich mit der jewei-
158 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., 262. – Diese häufig zitierte Sentenz Wittgensteins sollte nicht voreilig als Kern seiner Theorie der Sprache verstanden werden; Wittgenstein möchte mit ihr vielmehr, weit bescheidener, eine, wenn auch »große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ – wenn auch nicht [...] alle Fälle seiner Benützung« klären (ebd.). Einen »allgemeinen Begriff der Bedeutung« hält Wittgenstein dagegen für eine philosophische Mystifikation, die »das Funktionieren der Sprache wie einen Dunst umgibt« (A.a.O., 239). 159 Im Gegensatz zur pragmatischen Gebrauchstheorie der Bedeutung, für die es immer der Sprecher ist, der Äußerungen in spezifischer Weise verwendet und ihnen damit einen Sinn verleiht, ist es für Cicero der Hörer und damit die Aneignung des Gesagten, die ihm seine Bedeutung verleiht. Am Ende seiner Tugendlehre, die er an seinen Sohn adressiert, redet er diesen explizit an: »Da hast du, mein Sohn Marcus, ein Geschenk vom Vater; es ist zwar meiner Meinung nach bedeutend, doch die Bedeutung wird der Art entsprechen, wie du es annimmst [ut acceperis].« (Cic. de off. III 123) 160 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., 112ff.
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ligen Äußerung verbindet. Hinter der Perlokution wiederum verbirgt sich der Effekt, den ich mit einer Äußerung in der Welt erziele. Auch den ehemaligen Konstativa kommt vor diesem Hintergrund eine illokutionäre Rolle zu, auch mit Behauptungen werden Handlungen vollzogen. Wenn ich eine Behauptung aufstelle, erhebe ich einen Anspruch auf Zustimmung.161 Aus diesem Grund können wir, so Austin, »nicht mehr übersehen, daß eine 162 Handlung vollzieht, wer eine Feststellung trifft.« Die Konstativa fallen also nicht weiter aus dem Bereich der Performativa heraus. Auch behauptende, beschreibende und Tatsachen feststellende Sätze werden von Austin dem Bereich sprachlicher Handlungen zugeschlagen. Die illokutionäre Rolle jeder beliebigen Äußerung kann mit sogenannten illokutionären Verben explizit gemacht werden. Diese Verben, »die ihrer Bedeutung nach besonders performativ aussehen, [dienen] einer speziellen Aufgabe: sie machen explizit, welche Handlung genau man damit, daß man die Äußerung tut, vollzieht.«163 Der Satz »Alle Schwäne sind weiß« kann, ohne dass sich sein Sinn wesentlich verändern würde, umgeformt werden in den Satz »Ich behaupte, dass alle Schwäne weiß sind«. Der Satz »Schließe bitte das Fenster!« kann umformuliert werden in »Ich fordere Dich hiermit dazu auf, das Fenster zu schließen!« »Ich fordere auf« und »ich behaupte« markieren die spezifische illokutionäre Rolle dieser Beispielsätze; sie machen den Handlungsmodus der Aussagen explizit. Da sich zu jeder Äußerung ein solches illokutionäres Verb finden lasse, können alle Äußerungen, so folgert Austin weiter, als Handlungen begriffen werden. Die Ausdehnung der Geltungssphäre des Performativen, die sich mit dem Übergang von der Dichotomie Konstativa – Performativa zur Trichotomie Lokution – Illokution – Perlokution verbindet, geht in einer anderen Hinsicht mit einer Beschneidung der Kraft des Performativen einher. Slavoj Žižek schreibt in diesem Zusammenhang: »Weit von einer einfachen Ausarbeitung der ursprünglichen Einsicht, wie ›man Dinge mit Worten‹ macht, entfernt, hat die Verlagerung von performativen zu illokutionären Akten einen bedeutenden Verlust zur Folge: Bereits bei einer unmittelbaren, ›na-
161 Vgl. hierzu auch schon Quintilian: »Denn die Erzählung ist ja nicht dazu erfunden, daß der Richter eine Sache nur kennenlernt, sondern weit mehr dazu, daß er ihr zustimmt.« (Quint. inst. or. IV 2, 19-24) 162 Vgl. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., 158. 163 A.a.O., 81.
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iven‹ Annäherung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das wirklich Subversive am Begriff des Performativs im Laufe dieses Übergangs auf irgendeine Art verlorengegangen ist.«164 Geht es bei der Klasse der Performativa, die der frühe Austin von den Konstativa unterscheidet, noch um instituierende oder poietische Äußerungen, mit denen wir dadurch etwas bestehend machen, dass wir es für bestehend erklären, so implizieren die illokutionären Akte nur noch den allgemeinen Handlungscharakter der Sprache, die Tatsache, dass wir, wenn wir sprechen, immer auch handeln. Der Übergang vom Austin der Konstativa und Performativa zum Austin der Lokution, Illokution und Perlokution entspricht also in etwa dem Übergang vom welterzeugenden peíjein des Gorgias und Isokrates zum kommunikationspsychologischen persuadere Ciceros. Noch deutlicher wird die Verkürzung der Performativität im Übergang von Austin zu Searle, welcher die Theorie der Sprechakte seines Lehrers vorgeblich nur zu systematisieren sucht.165 Die illokutionäre Rolle, die jeder Äußerung zukommt, bildet für Searle nur noch eine Seite dieser Äußerung. Die andere Seite werde von einem propositionalen Gehalt verkörpert, der unabhängig von der Pragmatik einer Äußerung auf etwas in der Welt referiere.166 Searle unterscheidet »zwischen dem illokutionären Akt und
164 Slavoj Žižek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, übers. v. Isolde Charim, Köln 1993, 109/110. 165 Vgl. John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, a.a.O. 166 Ausgehend von Fichte ließe sich zeigen, dass bereits die Proposition eine Handlung vollzieht; die Verbindung von einem Subjekt »der Stein« mit einem Prädikat »ist rauh« kann, so Fichte, nur als Akt verständlich gemacht werden und impliziert damit bereits die Freiheit eines Subjektes, das diesen Akt vollzieht. Im Aussagesatz selbst ist dieser Akt für Fichte nicht reflektiert (vgl. dazu Gerhard Gamm, Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität, Berlin/Wien 2004, 121-124). Auch dem Mittelalter war der Aktcharakter von Aussagesätzen bewusst: »Die in einem Zeichen involvierte Prädikation ist stets als in Anführungen gesetzt zu lesen. Wenn ich sage, ›Die rotweißgrüne Flagge bedeutet Italien‹, dann stellt dieser Satz stets etwas dar, was die Scholastik einen actus signatus genannt hat, denn er setzt ein implizites Subjekt (oder ein Ich) voraus, das die Aussage bildet und sie in Anführungszeichen setzt: Ich sage (ich erkläre; ich verkünde), daß die rotweißgrüne Flagge Italien bedeutet« (Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 46).
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dem propositionalen Gehalt des illokutionären Aktes« und führt weiter aus: »Wir können die Regeln für den Ausdruck von Propositionen – also die Regeln für Referenz und Prädikation – unabhängig von den Regeln für 168 die Indikation illokutionärer Rollen untersuchen.« Propositionen sind demnach zwar immer an illokutionäre Verwendungskontexte gebunden, ihre Gültigkeit bleibe aber von diesen Verwendungen unberührt. Jede Äußerung bezieht sich für Searle also immer auch auf eine schon an und für sich bestehende Welt. Letztlich löst Searle Performativität gänzlich in propositionale Gehalte auf. In seinem Aufsatz How Performatives Work aus dem Jahr 1989 richtet er sich zunächst gegen Austins Universalisierung der Performative und schlägt vor, nur explizit performative Äußerungen (bzw. Deklarative) als Performativa gelten zu lassen. Diese Performativa haben für ihn nun einen zweistufigen propositionalen Gehalt: Seine »analysis of performatives as declarations has the consequence that the illocutionary structure of ›I order you to leave the room‹ is: [...] Declare (that I order (that you leave the room)). [...] The propositional content of the declaration is: that I order you to leave the room, even though the propositional content of the order is: that 169 you leave the room.« Die illokutionäre Rolle des Befehls erscheint hier einfach als eine weitere, höherstufige Proposition. Pragmatik verliert damit letztlich jede Daseinsberechtigung und wird vollständig resemantisiert. Die Schaffung von Welt durch Rede wird von Searle nur noch als Sonderfall behandelt. Er überantwortet diese Schaffung einem speziellen Typ von Sprechakten, den Deklarativa. Diese verkörpern genau das, was Austin anfänglich mit dem Begriff des Performativen meinte. Žižek charakterisiert die Deklarativa, Searle zitierend, wie folgt: »Den ›raffiniertesten Fall‹ bilden jedoch, gemäß Searle, die Deklarationen: Sie haben eine doppelte Ausrichtung, sowohl Welt-auf-Worte, als auch Worte-auf-Welt. Nehmen wir die Proposition ›Die Sitzung ist geschlossen‹ – was vollbringt der Sprecher,
167 John R. Searle, Sprechakte, a.a.O., 49. 168 A.a.O., 51. 169 John Searle, »How Performatives Work« [1989], in: ders., Consciousness and Language, Cambridge 2002, 156-179, hier: 162. – Vgl. hierzu auch Eckard Rolf, Der andere Austin. Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus, Bielefeld 2009, 112114.
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indem er das behauptet? Er bringt einen neuen Sachverhalt in der Welt hervor (die Tatsache, daß die Sitzung geschlossen ist); dies ist also eine Weltauf-Worte-Ausrichtung – wie aber macht er das genau? Indem er statuiert, daß die Sitzung geschlossen ist, d.h. indem er in seiner Äußerung diesen Sachverhalt als bereits vollzogen darstellt – kurz gesagt, er vollzieht den Akt, indem er ihn als bereits vollzogen beschreibt. In den Deklarationen versucht der Sprecher ›herbeizuführen, daß etwas der Fall ist, in dem er es als den Fall seiend repräsentiert ... wenn er Erfolg hat, verändert er die Welt dadurch, daß er sie als so verändert repräsentiert‹.«170 Im Performativen beginnt die Welt, ihren Repräsentationen zu folgen. Die Folge geht hier der Ursache voraus. Der performative Akt sperrt sich insofern gegen jede begründungslogische Deutung; er ist unbegründbar und steht für die Möglichkeit einer grundstürzenden Freiheit auf dem Feld der Rede. Das Performative lässt sich allerdings auch nicht einfach vom Konstativen ablösen; es hat vielmehr selbst einen konstativen Kern: »Um wirksam zu sein, muß das ›reine‹ Performativ (der Sprechakt, der seinen eigenen propositionalen Gehalt hervorbringt) eine innere Spaltung ertragen und die Form seines Gegenteils, des Konstativs, annehmen.«171 Der performative Sprechakt, der etwas hervorbringt, gibt vor, die Institution, die er in Wirklichkeit hervorbringt, zu repräsentieren. Er erstellt ein Faktum, indem er dessen Existenz kontrafaktisch unterstellt.172 Austins Entdeckung des Performativen leitet auch schon dessen Verdrängungsgeschichte ein. Insbesondere Searle depotenziert die Philosophie des Performativen in mehreren Schritten. Zunächst integriert er sie in eine intentionalistische Bewusstseinsphilosophie.173 Intentionalität gehe den Sprechakten und der Sprache insgesamt voraus. Für den frühen Searle weisen sich Sprechakte noch über ihre illokutionäre Rolle selbst aus. Unabhängig von den Intentionen des Sprechers identifiziere sich ein Satz über seine illokuti-
170 Slavoj Žižek, Grimassen des Realen, a.a.O., 110/111. 171 A.a.O., 111. 172 Man könnte das Performative also selbst – mit einem Begriff von Habermas und Apel – als »performativ-pragmatischen Selbstwiderspruch« bezeichnen. Es ist dem Performativ wesentlich, dass es sich widerspricht. Es behauptet auf der performativen Ebene etwas, was propositional (noch) gar nicht vorliegen kann. 173 Vgl. John R. Searle, Intentionalität. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, übers. v. Andreas Kemmerling, Frankfurt/M. 1987 [1983].
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onäre Rolle selbst als Behauptung, Befehl, Deklaration oder Ausdruck eines Gefühls. Diese illokutionäre Autonomie des Satzes nimmt Searle in seinem Intentionalitätsbuch zurück. Sprechakte transportieren nun eine ihnen externe, mental verankerte Intentionalität. Searles Sprachbetrachtung fällt damit hinter das reflexive Niveau Austins und erst recht des rhetorischen Sprachdenkens zurück. Sprachphilosophie wird zu einer Unterdisziplin der philosophy of mind. Allen sprachlichen Äußerungen liegen nun geistige Zustände zugrunde. Was sich in Sprache ausdrückt, sind nur noch die immer wieder gleichen Typen von Intentionen solcher Subjekte, die der Sprache vorausgehen und Äußerungen als Instrumente des Intentionstransports benutzen. Das Ziel, welches die vorliegende Studie anvisiert, wäre, wie bereits angedeutet, die Vorbereitung einer Pragmatik jenseits einer derartigen Handlungstheorie. Die Wirkung der Sprache geht aus der Perspektive einer solchen, rhetorisch informierten Pragmatik über das Zeitigen kommunikativer (etwa illokutionärer und perlokutionärer) Effekte hinaus. Äußerungen wirken auch jenseits und unabhängig von mentalen Intentionen wie sprachlichen Regeln, nicht zuletzt wirken sie auf einer Ebene der Weltkonstitution. Mentale Intention bilden dann allenfalls Schatten des Sprechereignisses, wie das Mentale überhaupt als eine Art Vorhof oder -feld beschrieben werden könnte, welches den Fluss der Rede umgibt. Die Sprachpragmatik depotenziert gerade das Pragmatische, das sie in ihrem Namen führt, indem sie es auf außersprachliche, mentale, soziale und logische Gründe reduziert. Ausgehend von der Rhetorik wäre demgegenüber zu zeigen, wie unser Sprechen immer auch genau die Rahmenbedingungen setzt, von denen aus Sprechereignisse in der neueren Sprachpragmatik abgeleitet werden sollen: Intentionen, Regeln und Institutionen. Im Ausgang von der rhetorischen Tradition lässt sich die Wirksamkeit der Rede als Welt konstituierende und dekonstituierende Kraft explizieren. Es geht mir also um eine Erweiterung der Pragmatik zu einer Energetik im 174 Humboldtschen Sinne. So wie Energetik von Humboldt nicht im Sinne
174 »Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes [...], ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn.« Wilhelm von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen
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eines Physikalismus verstanden wird, ist es mir hier nicht um eine Naturalisierung der Rede zu tun. Schon bei Humboldt wird Wirkung an Differenz geknüpft. Humboldt steht hier in der Tradition Herders, der in seinen Studien zur hebräischen Poesie erstmals auf die Bedeutung des Parallelismus175 hinweist, darauf, dass sich in der Sprache alles auf Entgegensetzungen gründet. Humboldt ergänzt diese Beobachtung mit der Bemerkung, dass überall dort, wo eine Differenz vorliegt, eine Kraft gewirkt hat. Differenzen176 erscheinen aus seiner Warte als Spuren eines differierenden Tätigseins der Rede. Hier findet sich bereits Derridas Konzept einer différance antizipiert, eines Differenzen erzeugenden Prinzips in der Sprache, das sich allerdings nicht hypostasieren lässt. Es fällt mit der Bewegung des je aktuellen Redens zusammen. Als Rede kann diejenige Kraft gelten, die Welt und Bewusstsein (unter anderem grammatisch) voneinander trennt und damit allererst auf einander bezieht. Die Fähigkeit, einen prädikativen Satz wie »Ich sehe die Amsel im Schnee« bilden zu können, ist die Voraussetzung dafür, dass ich die Amsel Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830-1835]«, a.a.O., 418. 175 Johann Gottfried Herder, »Vom Geist der hebräischen Poesie [1782]«, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. XI, hrsg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1979, 213475. – Herders Schrift ist insofern bemerkenswert, als sie bereits, wie die späteren Arbeiten Humboldts, die Wirksamkeit von Sprache mit ihrer Differenzialität zusammendenkt. Von der hebräischen Sprache schreibt Herder, dass in ihr das Verbum dominiert, welches die Sache »in Handlung setzt«; das Hebräische sei »gleichsam ein Abgrund der Verborum, ein Meer von Wellen, wo Handlung in Handlung rauschet« (S. 227). Diesem Handlungscharakter korrespondiere ein strenger Parallelismus, in welchem sich zwei Glieder wechselseitig »bestärken, erheben, bekräftigen« (S. 237). Alles in der Sprache verweist für Herder letztlich auf eine Verdoppelung, eine Iteration, die, so wäre mit Derrida zu ergänzen, immer auch mit einem Alterieren einhergeht, das sich mit der Handlung berühre. 176 Diese Bedeutung der Differenz ignorieren die derzeit viel diskutierten holistischen Ansätze in der Sprachphilosophie, die Sprache – wie mir scheint in unscharfer Weise – über ihr Zusammenspiel mit Denken und Intersubjektivität zu explizieren suchen. Vgl. etwa John McDowell, Geist und Welt, übers. v. Thomas Blume et al., Paderborn/München/Wien/Zürich 1998 [1996]; ferner Georg Bertram, Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist 2006.
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dort tatsächlich sehen kann. Kants Postulat eines »ich denke«, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, wäre von hier aus zu erweitern. Seine Wahrheit hat dieses Postulat im Satz- und damit Redecharakter des »ich denke«: Zu erweitern wäre es um alle anderen Sätze, mithin um Rede überhaupt, um Rede in all ihren, von Kant weitgehend ungenutzten Möglichkeiten, die alle meine Vorstellungen müssen begleiten können, ganz unabhängig davon, in welchen Sätzen sie sich jeweils artikulieren. Ich denke nicht nur, dass dort eine Amsel im Schnee sitzt; sie dort zu sehen, impliziert auch, dass ich in der Lage bin, anderen von ihr zu berichten. Vermittelt über das System der Personalpronomen ist mit jeder Erwähnung des Ich schon das Du, und nicht nur das Du, auch das Ihr, Wir, Sie..., mitgesetzt. Dass Ich in der Lage bin, Dir etwas zu berichten, impliziert bereits die weitere Fähigkeit, Dritten von meinem Verhältnis zu Dir Rechenschaft abzulegen. Das System der Personalpronomen repräsentiert nicht einfach eine Sphäre der Relationen und Austauschverhältnisse von Ich und Anderen, sondern eröffnet diese Sphäre zugleich. Bereits den Personalpronomen eignet eine performative Kraft. Das Denken wiederum korrespondiert mit einer fast endlosen Reihe anderer Verben, die Vorstellungsinhalte einem Vorstellungssubjekt entgegensetzen, wie wahrnehmen, erinnern, träumen, vermuten, hoffen. Die neuzeitliche Subjektphilosophie erklärt sich aus der Auszeichnung des »ich« und des »denke« gegenüber anderen möglichen Personalpronomen und Verben, eine Auszeichnung, die sich letztlich durch nichts rechtfertigen lässt. Hegel bemerkt in diesem Sinne: »Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt. [...] In alles, was ihm zu einem Innerlichen, zur Vorstellung überhaupt wird, was er zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt«177, auch, wie Hegel bereits im Kapitel über Sinnliche Gewissheit in der Phänomenologie zeigt, in die Vorstellung des »ich« und des »ich denke«. Für Hegel stehen wir, im Gegensatz zur Auffassung Kants, mit und in all unseren Reflexionen immer schon im Feld der Rede; wir können weder das »ich« noch apriorische Kategorien aus der Rede isolieren, um sie ihr als organisierende Prinzipen vorzuordnen.
177 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: ders., Werkausgabe, Bd. 5, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1990 [1816], 20.
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Es wird in dieser Arbeit nie darum gehen können, Sprache vollständig im Sinne eines explizit gemachten Erkenntnisgegenstandes zu verstehen oder gar zu erklären; es kann nur darum gehen, vereinseitigende Erklärungen abzuweisen. Darin liegen die Grenzen jeder Sprachphilosophie und jeder Linguistik. Als vielleicht tiefgründigste sprachphilosophische Äußerung lässt sich insofern der Eingangsvers des Johannes-Evangeliums lesen: »Im Anfang war das Wort«, es war bereits dort, wir werden es in letzter Konsequenz immer nur vorausgesetzt haben können. Es erklären zu wollen, kann nur bedeuten, es aus sich selbst heraus zu verstehen, der ihm immanenten Bewegung mit- und nachzugehen. Worte liegen nicht einfach in Zeit und Raum vor, sondern sind Weisen eines Am-Werk-Seins. Dass das Wort »im Anfang« war, könnte insofern auch bedeuten, dass es im Anfang bleibt, dass sich in und mit jedem Wort ein Anfang ereignet. Als Anfang, nach Hegels Deutung »die Einheit von Sein und Nichts«178, steht das Wort, etwas am Wort, immer jenseits des Seins; im Wort weist das Sein über sich hinaus und wird zugleich erst ausgehend von dieser Abweichung sichtbar. Auch die Tradition der Logosmystik179, die sich aus den im Prolog des Johannesevangeliums artikulierten Einsichten heraus entfaltet, formuliert über weite Strecken ein tieferes Verständnis der Sprache als die neuere Sprachphilosophie. Die Versuchung, der diese Sprachphilosophie immer wieder erliegt, besteht darin, einen Punkt jenseits der Sprache beziehen und die Sprache von hier aus beherrschen zu wollen. Derrida hat in hervorragender Weise die Logik dieser Versuchung herausgestellt: In gewisser Weise ist es die Sprache selbst, die uns suggeriert, wir könnten sie überschreiten. Mit der Sprache geht fast notwendig die Gefahr einer Verkennung einher: das partielle Vergessen ihrer welteröffnenden Kraft, das komplementäre Hypostasieren eines Anderen der Sprache. In diesem Sinne lässt sich Sprache weder als ein System der Repräsentation von Welt, noch als ein Regeln unterliegendes Spiel, noch als Moment in einer intentionalen Handlungskette begreifen – zumindest dann nicht, wenn man Welt, Regel und Intention von der lebendigen Rede abstrahiert, sie ihr gegenüber absolut setzt. Welt, Regel und Intention lassen sich nur ausgehend von lebendiger Rede denken. Diese ist nicht sekundär, kommt nicht zu einer von ihr unabhängigen Welt hinzu, ist aber andererseits auch
178 A.a.O., 73. 179 Vgl. Kapitel 5.1.
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nicht, im Sinne des Heideggerschen apriorischen Perfekts, »immer schon« da. Ein Ziel der Rhetorik bestünde darin, Rede aus sich selbst heraus zu verstehen, ohne auf einen wiederum reduktionistischen Sprachidealismus zu verfallen.
2. Rhetorik und Philosophie
2.1 E INE K ULTUR
DER
R EDE
Die rhetorische Tradition der Antike erstreckt sich über mehr als fünf Jahrhunderte von Teisias und Korax, deren Wirken in Syrakus nach dem Ende der Tyrannis des Hieron im Jahre 467 v. Chr. einsetzt, bis zur römischen Rhetorik der Zeitenwende und von dort weiter bis zu Augustinus. Auf ihrem Weg durch die Jahrhunderte durchquert die Rhetorik eine ganze Reihe disparater Stationen. Heike Mayer kann insofern schreiben: »Nur eines gibt es nicht – die rhetorische Tradition, als eine ursprüngliche Normgebung, vor der alles Nachfolgende nur als Nachformung, Verformung oder Abwei1 chung Interesse beanspruchen könnte.« Die Geschichte der Rhetorik ist selbst eine Geschichte permanenter Transformationen, ihre Protagonisten stehen für Lebensentwürfe und Kommunikationsstile, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Der politische Gesandte Gorgias, ein Magier des Wortes, erobert mit seiner rednerischen Brillianz Athen im Sturm.2 Isokrates, 1
Heike Mayer, Lichtenbergs Rhetorik. Beitrag zu einer Geschichte rhetorischer Kollektaneen im 18. Jahrhundert, München 1999, 14.
2
Vgl. Diodor: »Der Führer der Gesandtschaft war der Rhetoriker Gorgias, der in der Redekunst alle Zeitgenossen überragte. Er war der erste, der Regeln für die Rhetorik aufstellte [...]. Als Gorgias in Athen eintraf und der Volksversammlung vorgeführt wurde, redete er zu ihnen über das Bündnis und versetzte die Athener, die von Natur aus klug und dialektisch begabt waren, mit der Neuheit seiner Ausdrucksweise in Erstaunen.« (Diod. Hist. Bibl. 12, 53 2-4, eigene Übersetzung) – Aufgrund seines Erfolgs wird Gorgias gewährt, purpurne Gewänder zu tragen und sich in Delphi mit einer goldene Statue zu verewigen (vgl. Pausanias X 18, 7).
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sein Schüler, repräsentiert eher den zurückgezogenen Kunstschriftsteller, der allerdings zugleich ein wichtiges politisches Anliegen vertritt, den Panhellenismus. Demosthenes, ein Politiker sui generis3, tritt als Stratege und Mahner gegen die Tyrannis auf. Aristoteles, dessen Lebensdaten sich mit denen des Demosthenes decken (384-322 v. Chr.), wirkt als Philosoph, Lehrer, Enzyklopädist und unterstellt sein Leben ganz der Wissenschaft. In Cicero verkörpert sich die fast unmöglich zu nennende Einheit von Politiker, Philosoph, Rhetoriker und Redner, Quintilian füllt demgegenüber die Rolle eines vom Staat besoldeten Professors der Redekunst aus. In all diesen unterschiedlichen Typen und Entwürfen hält sich allerdings etwas durch, das mit den permanenten Transformationen selbst zusammenhängt: ein Bewusstsein der Performativität und Negativität oder Grundlosigkeit der Rede, dem wiederum ein Ethos des verantwortlichen Umgangs mit der Wirksamkeit der Rede entspricht. Vor allem dieses Ethos stiftet eine gewisse Kontinuität der rhetorischen Tradition. Im Vergleich zur Entwicklung der antiken Philosophie oder des antiken Rechts bleibt sich das rhetorische Denken von den Anfängen im 5. Jahrhundert bis in die Spätantike relativ treu; die grundlegenden Gliederungsschemata der Disziplin, die Arbeitsschritte des Redners, die Terminologie und das Sprachverständnis (die Deutung von Sprache als wirkender Rede) ziehen sich weitgehend unverändert durch die Jahrhunderte. Das klassische Griechenland lässt sich insgesamt als eine Kultur des lógoV in all seinen Bedeutungen (Wort, Rede, Erzählung, Vernunft, Denkvermögen, Gedanke, Grund, Sinn...) begreifen. Als höchste Gestalt der paideía, der Gebildetheit, gilt den Griechen die Fähigkeit des eÜ légein, des gut Sprechens.4 Dieses gut Sprechen muss zunächst in einer sehr weiten Bedeutung genommen werden5; es differenziert noch nicht zwischen schön
3
der allerdings auch mit den Lehrschriften des Isokrates vertraut war (vgl. Plut. Dem. 5).
4
Vgl. hierzu etwa Heinrich Gompertz, Sophistik und Rhetorik – das Bildungsideal des eu legein in seinem Verhältnis zur Philosophie des 5. Jahrhunderts, Leipzig/Berlin 21965, sowie Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., Berlin 1933-1955.
5
Dafür spricht unter anderem das Kompliment eÜ légeiV (»Wohl gesprochen!«), welches Sokrates, wenn auch meist ironisch, seinen Dialogpartnern macht, wenn diese eine längere Argumentation vorgetragen haben (vgl. etwa Plat. Ion 530d).
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sprechen, überzeugend argumentieren und im moralischen Sinne wahrhaftig sprechen. Als Kunst und Kunstlehre des guten Sprechens in diesem weiten Sinne verstehen die Griechen die ärhtorik técnh. Rhetorik steht in ihrem Denken sowohl für eine dúnamiV toÿ eÜ légein, eine Kraft oder natürliche Fähigkeit, gut zu sprechen, als auch für eine Êpist®mh oder técnh toÿ eÜ légein, eine Wissenschaft, Kunst oder Kunstlehre des guten 6 Sprechens. An der Frage, ob es sich bei der Rhetorik um eine Wissenschaft oder eine bloße Fertigkeit handelt, entzündet sich der Streit zwischen Sokrates und den Sophisten. Die Rhetorik umfasst aber nicht nur eine Technik, Kunst oder Fähigkeit des guten Sprechens, sondern auch ein Bildungsprogramm, dessen Ziel in der Vorbereitung der Schüler auf das politische und juristische Leben der Polis liegt, auf das Sich-Bewähren im öffentlichen Diskurs. Das umfangreichste erhaltene Werk der antiken Rhetorik, Quintilians Institutiones Oratoriae, ist in erster Linie ein pädagogischer Traktat, der alle Fragen der Erziehung vom Säuglingsalter an erörtert. Auch Ciceros De oratore handelt weniger vom System der Rhetorik als vielmehr von den Kompetenzen und dem Bildungsweg des idealen Redners. Der Brutus schließlich, Ciceros Geschichte der Beredsamkeit, mündet in einer Autobiografie, die die Bildungsstufen des Autors zum Gegenstand hat. Die Rhetorik als Kunstlehre zeichnet sich durch einen Doppelcharakter aus: Sie beinhaltet sowohl Anweisungen zur Herstellung von Reden, als auch einen Kanon von Mitteln zu ihrer Beurteilung. Sie steht in dieser Hinsicht der Poetik7 nahe, von der sie nicht immer klar abgegrenzt werden kann. So deutet etwa auch die Poetik des Aristoteles eine Theorie sprachlicher Wirksamkeit und Figurativität an. Die Sprache der Tragödie erzeugt Furcht und Mitleid, vermag uns aber zugleich von diesen Affekten zu befreien. Sie wird wirksam nicht durch einen Bericht über Tatsachen, sondern durch »Nachahmung einer Handlung [mímhsiV práxewV]« (Arist. Poet.
6
Zu den Faktoren, welche die Griechen dazu bewogen haben, die natürliche Fähigkeit gut zu sprechen über die Schaffung eines technischen Vokabulars zu einer Kunstlehre auszubauen vgl. David M. Timmerman/Edward Schiappa, Classical Greek Rhetorical Theory and the Disciplining of Discourse, Cambridge 2010.
7
Vgl. Andreas Hetzel, »Das Unmögliche in der Poesie. Zum Verhältnis von Ästhetik und Poetik«, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hg.), Das unendliche Kunstwerk, Bodenheim 2007, 59-87.
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1449b), wobei die »Nachahmung« hier in einem doppelten Sinne zu verstehen ist: Einerseits erzählt die dichterische Sprache von einer Handlung, andererseits handelt sie selbst. Die Forderung, die Horaz später an die Dichtung stellt, könnte auch rhetorisches Sprechen definieren: »Es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen.« (Horaz, ars poet. 99/100) Und weiter: »Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen.« (Horaz, ars poet. 334) Dieses poetische Ideal einer wirksamen Sprache sollte noch die neuzeitlichen Poetiken beeinflussen, wie folgendes Herder-Zitat zeigt: »Ist die Poesie das, was sie seyn soll, so ist sie ihrem Wesen nach würkend.«8 Wie die Poetik versteht sich die Rhetorik als eine eminent praktische Wissenschaft. Sie fragt danach, um eine Formulierung Samuel Ijsselings aufzugreifen, »was geschieht, wenn gesprochen oder geschrieben wird«9. Ihre praktische Ausrichtung spiegelt sich bereits in dem Umstand, dass die ersten großen Theoretiker der Rhetorik, die Sizilianer Korax, Teisias10 und Gorgias, gleichzeitig Praktiker waren. Die drei erhaltenen Reden des Gorgias von Leontinoi veranschaulichen diese Einheit von rednerischer Theorie und Praxis sehr deutlich: Sie lassen sich auch als Theorien der Rede lesen, reflektieren auf ihre eigene rhetorische Verfasstheit. Besonders deutlich lässt sich das am Lobpreis der Helena11 zeigen, der eigentlich ein Lobpreis der Rede ist12, eine »Demonstration der vollständigen Macht der Rede über die Menschen«13. Wir werden auf diesen Text noch mehrfach zurückkommen. Auch Cicero spricht in seinen rhetorischen Traktaten und Dialogen als
8
Johann Gottfried Herder: »Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten« (1778), in: Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. 8, 334-436, hier: 338.
9
Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988. 15.
10 Von Korax und Teisias sind keine Texte überliefert; eventuell handelte es sich bei beiden Autoren sogar nur um eine Person. 11 Vgl. Gorgias 3-16. 12 Vgl. dazu Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt 1995, 27ff. 13 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, übers. v. Brigitte Mannsperger u. Ingunn Tveide, Darmstadt 2001 [1995], 136.
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Praktiker, bzw. lässt seine Figuren ausgehend von der Praxis über die Rhetorik sprechen. Im Dialog De oratore betont Crassus ausdrücklich, dass er »früher zur Praxis als zur Theorie gekommen« (Cic. de or. I 78) sei. Quintilian bemerkt mehrfach, dass sich der springende Punkt der Rhetorik »nicht durch die Regeln der Kunst vermitteln« (Quint. inst. or. IX 4, 117) lasse und dass »das, was beim Redner das Wichtigste ist, nicht nachahmbar ist: Talent, Erfindungsgabe Kraft des Ausdrucks, Gewandtheit und alles, was sich nicht im Lehrbuch lernen läßt« (Quint. inst. or. X 2, 12). Roland Barthes spricht von der Rhetorik zusammenfassend als von einer »Technik«, einer »Moral«, einer »gesellschaftlichen Praxis« und einer »Praxis des Spiels«14, bei der nicht das System, sondern der Vollzug im Vordergrund steht. Im Verb peíjein wird etwa bei Gorgias und Isokrates neben dem Überzeugen auch ein ursprüngliches Bewirken und Hervorbringen mitgedacht; oder präziser: Wirkung und Überzeugung kommen im peíjein zur Deckung; »das Überzeugtsein ist eine Wirkung der Rede im Hörer«15, die Wirksamkeit der Rede manifestiert sich in Überzeugungen, erstreckt sich aber zugleich darüber hinaus auch auf Handlungen, Gefühle und ganze Situationen, die in der Rede verändert und manchmal sogar erst geschaffen werden. Die Tätigkeit des Redners figuriert hier, noch vor jeder rein kommunikativen Deutung, als eine poietische, welterschließende und welterschaffende Tätigkeit. Unter dem Einfluss der Philosophie, die die Wirksamkeit der Rede gegenüber der theoretischen Erkenntnis abwertet, bildet sich mit Aristoteles und der römischen Rhetorik ein schwächeres Verständnis sprachlicher Wirksamkeit als Persuasion aus. Das Persuasive wird etwa von Cicero über drei kommunikationspsychologische Funktionen definiert (»ita omnis ratio dicendi tribus ad persuadendum rebus est nixa«, Cic. de or. II 115). Es dient dem »Beweis der Wahrheit«, dem »Gewinn der Sympathie« und der »Beeinflussung der Gefühle«. Dieser Definition lässt sich allerdings entnehmen, dass die römische Rhetorik im Gegensatz etwa zur platonischen Philosophie nicht zwischen Argumentieren und Beeinflussen
14 Roland Barthes, »Die alte Rhetorik«, in: ders., Das semiologische Abenteuer, übers. v. Dieter Hornig, Frankfurt/M. 1988 [1970], 15-101, hier: 16/17. 15 Josef König, Einführung in das Studium des Aristoteles an Hand einer Interpretation seiner Schrift über die Rhetorik, Freiburg/München 2002, 48 (Hervorhebung vom Verfasser, A.H.).
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unterscheidet. Im Anschluss an Cicero ließe sich die rhetorische Lehre vom Persuasiven also als Beitrag zu einer umfassenden, argumentative und präargumentative Anteile integrierenden Lehre von der Überzeugung lesen. Mindestens zwei Dimensionen sprachlicher Wirksamkeit zeichnen sich vor dem Hintergrund dieser äußerst verknappten Vorblicks auf die noch ausstehenden Rekonstruktionen rhetorischen Sprachdenkens ab: Die Wirksamkeit der Rede gilt in der Frühzeit der sophistischen Rhetorik erstens als Macht eines schöpferischen Bewirkens, einer sprachlichen poíhsiV. Von Aristoteles bis Cicero und Quintilian wird die Kraft der Rede zweitens als Schlüsselkonzept einer Theorie der Kommunikation begriffen, die Momente des logischen Beweisens, ästhetischen Überwältigens sowie affektiven, klanglichen und körperlichen Verführens als gleichberechtigte Elemente vereint. In ihrem Versuch, die Wirksamkeit der Rede theoretisch zu durchdringen, hat die antike rhetorische Tradition kein System der Sprachreflexion vorgelegt. Einen Systemcharakter der Rhetorik streitet bereits Isokrates ab. In seiner Rede Gegen die Sophisten kritisiert er deren Anspruch, das System der Redekunst auf eine vollständige Zahl von Elementen bringen und diese Elemente ihren Schülern als fertigen Wissensbestand vermitteln zu können. Die sophistischen Rhetoriklehrer »behaupten, das Wissen um die Worte ließe sich genauso weiterreichen wie die Kenntnisse der Buchstaben« (Isocr. or. XIII 10). Bei dem Vergleich der Elemente der Rhetorik mit denen des Alphabets entgehe den Sophisten, »daß sie als Beispiel für eine schöpferische Sache eine Kunst mit ganz festen und engen Grenzen anführen. Wer außer ihnen wüßte nämlich nicht, daß der Umfang der Buchstaben unveränderlich ist und immer gleich bleibt, so daß wir immer dieselben Buchstaben für dasselbe anwenden, während im Bereich der Reden ganz das Gegenteil zutrifft.« (Isocr. or. XIII 12) Bei der Rede komme es darauf an, den kairóV, »die passende Gelegenheit [kairóV] zu treffen« und für diese Gelegenheit eine »angemessene Darstellung« zu finden. Eine gute Rede zeichne sich insofern durch »Neuheit der Gedanken« (Isocr. or. XIII 13) aus. Da jede Situation, jeder Gegenstand, anders und neu sei, ist in der gelungenen Rede gerade das angemessen, »was in nichts einer früheren Äußerung eines anderen Redners gleicht.« (Isocr. or. XIII 12) Im Kontext der Rhetorik denkt Isokrates hier die Geschichtlichkeit der Rede. Diese muss sich immer wieder neu erfinden, sich immer wieder anders werden, um dem Gebot der Angemessenheit zu genügen. Eine solche Aufforderung
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zur Kreativität lässt sich nur schwer mit einem axiomatischen System vereinbaren. Der Eindruck eines Systemcharakters der Rhetorik resultiert vor allem aus der Vorliebe der antiken Autoren für trichotomische und pentatomische Ordnungsmuster. So werden etwa drei Typen von Hörern, drei Typen der Rede, fünf Teildisziplinen der Rhetorik, fünf Teile der Rede usw. unterschieden. Diese Unterteilungen haben aber keinen apodiktischen Charakter. Darin unterscheidet sich das rhetorische System vom philosophischen, welches jedes seiner Elemente als an seinem jeweiligen Ort notwendig zu definieren beansprucht. Bei den fünf Arbeitsschritten der Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio, actio, memoria) handelt es sich demgegenüber »nicht um Elemente einer Struktur, sondern um Akte einer fortschreitenden Struk16 turierung« ; es sind eher Bearbeitungsstufen der Rede als kategoriale Seinsbereiche. Sie konvergieren in dem einen Ziel rednerischer Wirksamkeit. Isokrates schreibt: »Ich pflege nämlich allen, die sich mit meiner Philosophie beschäftigen, zu raten, sich zu überlegen, was durch die Rede und ihre Teile erreicht werden soll.« (Isocr. epist. VI 8) Das, was ereicht werden soll, gilt als Flucht- und Angelpunkt. An der dispositio lässt sich zeigen, dass die Wirksamkeit nicht nur den Fokus für die actio bildet. Zur dispositio (die lateinische Übersetzung der griechischen táxiV, von der unsere Taktik abgeleitet ist) führt der Autor ad Herennium im Sinne des Isokrates aus: »Diese Anordnung der Punkte vermag ebenso wie die Aufstellung der Soldaten sehr leicht bei der Rede, so wie jene im Kampfe, den Sieg zu verschaffen.« (Auct. ad Her. III, 18) Die rhetorische Tradition nimmt hier den neuzeitlichen Begriff des Dispositivs17 vorweg. Für die rhetorische Tradition gilt, »daß die Ordnung des Materials als pragmatisches Problem aufgefaßt wird«18. In diese Richtung deutet auch Cicero. Von Antonius heißt es im Brutus, er »nahm regelmäßig alles zur Sache Gehörige wahr, und alles wurde an seinem rechten Ort, wo es am meisten nutzen und wirken konnte, wie vom Feldherrn die Reiter, Fußsol-
16 A.a.O., 53. 17 Vgl. etwa Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, sowie Gilles Deleuze, »Was ist ein Dispositiv?«, in: François Ewald/Bernhard Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt/M. 1991, 153-162. 18 Heike Mayer, Lichtenbergs Rhetorik, a.a.O., 105.
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daten und Leichtbewaffneten, so von ihm auch an den bestgeeigneten Stellen einer Rede eingesetzt.« (Cic. Brut. 139) Quintilian schließlich schreibt: »In der Fähigkeit, den Stoff zu gliedern, gleicht die Redekunst der Kunst des Feldherrn.« (Quint. inst. or. VII 10, 13) Bei der Feldherrenkunst ist nicht nur die räumliche Aufstellung entscheidend, sondern auch die zeitlich Abfolge, in der die einzelnen Truppenteile eingesetzt werden. Noch die Bilder der memoria werden nach dem Grad ihrer Wirksamkeit ausgewählt und im Palast der Erinnerung19 angeordnet: »Bilder müssen wir also in der Art festlegen, die man am längsten in der Erinnerung behalten kann. Das wird der Fall sein, wenn wir ausnehmend bemerkenswerte Ähnlichkeiten festlegen; wenn wir nicht stumme und unbestimmte Bilder, sondern solche, die etwas in Bewegung bringen, hinstellen« (Auct. ad Her. III, 37). Die Trennung der fünf Bearbeitungsstufen bleibt immer vorläufig und hat nur einen heuristischen Sinn. Darüber hinaus werden die drei- und fünfgliedrigen Ordnungsschemata ständig relativiert. So wird bereits im ersten erhaltenen Lehrbuch, der lange Zeit fälschlicherweise dem Aristoteles zugeschriebenen Rhetorik an Alexander20 aus der Zeit um 330 v. Chr., das Schema der »drei Gattungen öffentlicher Reden«, Volksrede, Festrede und Gerichtsrede, zu einem siebenfachen Schema erweitert: »die empfehlende und warnende, preisende und scheltende, anklagende, verteidigende und prüfende Rede« (Anax. Rhet. 1421b). In ähnlicher Weise multipliziert Quintilian die drei klassischen Redestile – hoher, mittlerer und niedriger Stil – in sieben Stile: hoch, klein, strahlend, glatt, drohend, gedämpft und trotzig (vgl. Quint. inst. or. XI 1, 3). Die Siebenzahl fungiert hier als Sinnbild für eine prinzipiell unendliche Zahl möglicher Stile: »Und so lassen sich fast unzählige Spielarten auffinden, die sich jedenfalls in einem Punkt unterscheiden; wie wir ja in der allgemeinen Einteilung gelernt haben, daß vier Winde aus ebenso viel Achsenpunkten des Himmels wehen, während dabei doch so viele in der Mitte zwischen ihnen mit wieder verschiedenen
19 Die für die antike rhetorische Gedächtniskultur leitende Metaphorik eines »Palastes der Erinnerung« verweist nicht einfach auf einen leeren Raum, sondern auf das Wohnen als Praxis der Aneignung eines Gebäudes. 20 Vgl. hierzu Manfred Fuhrmann, »Untersuchungen zur Textgeschichte der pseudoaristolelischen Alexander-Rhetorik«, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1964, Nr. 7. Mainz 1965, 33-45.
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Namen und manche auch sich fassen lassen, die für Gegenden oder Flüsse charakteristisch sind.« (Quint. inst. or. XII 10 67) Rede erscheint hier so komplex und überdeterminiert wie das Klima. Zwar lassen sich bestimmte Unterscheidungen treffen, doch haftet allen ein gewisses Maß an Willkür an. Die Rhetorik bedient sich des Systems zu heuristischen und didaktischen Zwecken, geht aber nicht von einem System der Rede vor dem Vollzug des Redens selbst aus. Im Gegenteil: Sie entzieht einem transzendentalphilosophischen Verständnis von Sprache den Boden, kennt keine apriorischen Rahmenbedingungen sprachlicher Poiesis und Praxis. Derjenige, der spricht, dasjenige, worüber gesprochen wird, und derjenige, an den sich eine Äußerung wendet, lassen sich aus der Perspektive der Rhetorik nie vollständig vom Vollzug des Äußerns abheben. Die Wirksamkeit der Rede erstreckt sich auch auf die Instanz eines Sprechers, der nicht von grundsätzlich anderer (etwa mentaler) Art ist als das Gesprochene. In De Inventione hinterfragt Cicero die Möglichkeit einer schweigenden Weisheit ohne die Kraft der Rede (vgl. Cic. de inv. I 2, 3), einer mentalen Kompetenz vor der Performanz. So wie die Intention des Sprechers dem Sprechakt nicht einfach vorgeordnet ist, fällt auch derjenige Aspekt der Welt, auf den sich eine Äußerung bezieht, in keinen anderen ontologischen Bereich als in den der Äußerungen selbst. Die Unterscheidung von Wort und Sache (unter der die Rhetorik den Sachverhalt versteht, der in der Rede zur Debatte steht) wird etwa bei Cicero, ausgehend von der Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Performanz und der konkreten Redesituation, als Unterscheidung innerhalb 21 der Rede selbst begriffen.
21 Vgl. dazu Kapitel 2.3.
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2.2 R HETORISCHER UND
PHILOSOPHISCHER
lógoV
Im Folgenden soll es nicht darum gehen, eine neue Geschichte der antiken Rhetorik zu schreiben.22 Ich möchte vielmehr zentrale Motive des rhetorischen Sprachdenkens der Antike benennen und diskutieren. Ich lese die antiken rhetorischen Traktate also in erster Linie als sprachreflexive Texte. In diesem Abschnitt werde ich zunächst zeigen, wie sich der Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie ausgehend von einer unterschiedlichen Interpretation des lógoV verstehen lässt. Im Streit zwischen Philosophie und Rhetorik, der immer auch als ein Streit um die richtige Interpretation des lógoV zu lesen ist, kommt es dabei zu ständigen Verschiebungen, die es unmöglich machen, der Rhetorik einen fest umrissenen Ort zuzuweisen. Philosophie und Rhetorik kritisieren und befruchten sich wechselseitig, stehen in einem ständigen Dialog, tauschen gelegentlich die Rollen, stellen sich gegenseitig in Frage und versöhnen sich teilweise wieder neu. Dass das uns heute vertraute disziplinäre Schema nicht ohne weiteres auf die klassischen Texte angewendet werden kann, zeigt sich etwa daran, dass Isokrates den Sokrates in seiner Rede Gegen die Sophisten zu eben diesen rechnet23 und sich selbst demgegenüber als Philosoph und Rhetoriklehrer bezeichnet. Den Begriff filosofía verwendet Isokrates im Sinne eines auf das öffentliche Leben vorbereitenden und die Rhetorik ausdrücklich mitumfassenden Bildungsprogramms.24 Im Panegyrikos und in seiner Antidosis-Rede gebraucht er Rhetorik und Philosophie synonym: Die »Lehrer der Philosophie erläutern ihren Schülern alle Formen, die in einer Rede
22 Zur Geschichte der antiken Rhetorik vgl. etwa George A. Kennedy, A new history of classical rhetoric, Princeton 1994; Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Zürich 41995; Werner Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 51994; Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988; Gert Ueding, Klassische Rhetorik, München 32000; Gert Ueding (Hg.), Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität, Tübingen 2005; Wilfried Stroh, Die Macht der Rede. Eine kleine Geschichte der Rhetorik im alten Griechenland und Rom, Berlin 2009. 23 Auch Aristophanes konnte Sokrates in seinen Wolken zu den Sophisten rechnen. 24 Vgl. Takis Poulakos/David Depew (Hg.), Isocrates and Civic Education, Austin 2004.
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Verwendung finden.« (Isocr. or. XV 183) Die »Philosophie« wie die »Kunst der Rede«, die beide in Athen erfunden wurden, stehen für eine Disziplin, »die uns zum Handeln die nötigen Fähigkeiten verlieh [próV te tàV práxeiV ähmâV Êpaídeuse]« (Isocr. or. IV 47). Philosophie und Rhetorik werden hier als Künste eingeführt, die zum Handeln ermächtigen, ihnen habe Athen letztlich seine Vorrangstellung vor allen anderen Poleis zu verdanken. Letztlich definieren beide Disziplinen die ideale Gestalt Griechenlands; Isokrates behauptet, »daß eher ›Helene‹ genannt wird, wer an unserer Bildung als wer an unserer gemeinsamen Abstammung teilhat.« (Isocr. or. IV 50) Er vertritt ein Rhetorik mit Philosophie vereinendes Bildungsprogramm, das sich in Opposition zur Platonischen Trennung beider Disziplinen begibt. Platon, der große Konkurrent – eine Konkurrenz, die sich auch auf die Gunst der Schüler und damit auf Geld erstreckt – des Isokrates, spricht sich zur gleichen Zeit nicht, wie häufig unterstellt, eindeutig gegen die Rhetorik 25 aus , sondern plädiert in seinen Dialogen Gorgias, Phaidros und Politeia für eine Schirmherrschaft der Philosophie über die Rhetorik.26 Der Rhetor, welcher nur die äußerlichen Mittel der Darstellung lehren und verwenden könne, bleibe auf den Philosophen als den Hüter des Wissens verwiesen. In der Platonischen Akademie hatte die Rhetorik als Unterrichtsfach ihren festen Ort, sie wurde dort unter anderem von Aristoteles gelehrt. Platon begreift die Beredsamkeit als bloß äußerliche Fertigkeit, der sich der Philosoph – und nur der Philosoph – bedienen dürfe, wenn er Nichtphilosophen die Wahrheit vermitteln wolle. Im Dialog Menexenos zeichnet sich sogar das positive Bild einer Rhetorik ab, die nicht von der Philosophie beherrscht werden muss. Zunächst bekennt Sokrates hier, dass er sich selbst in der Redekunst habe unterrichten lassen; als seine Lehrerin gibt er Aspa-
25 Platons Dialoge sind von Reden durchsetzt, die klassischen Dispositionsschemata der Rhetorik folgen. Deutlich sichtbar wird das etwa an Agathons Lobrede auf Eros im Symposion (194e) oder in der gesamten Apologia. 26 Insbesondere der Phaidros skizziert das Programm einer philosohischen Rhetorik. – Zu Platons Rhetorikverständnis vgl. Antje Hellwig, Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen 1973 sowie Heinrich Niehuis-Pröbsting, Überredung zur Einsicht. Der Zusammenhang von Philosophie und Rhetorik bei Platon und in der Phänomenologie, Frankfurt/M. 1987.
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sia , die zweite Frau des Perikles an, die auch ihren Gatten in der Rhetorik ausgebildet habe. Der Dialog gibt vor allem eine Rede der Aspasia wieder, die Sokrates dem Menexenos aus dem Gedächtnis rezitiert. Diese Rede, die ein Loblied der Rhetorik (Plat. Menex. 236 d/e) und der Demokratie (Plat. Menex. 238d) anstimmt, konterkariert antirhetorische und antidemokratische Motive in anderen Platonischen Dialogen. Von Sokrates weiß man darüber hinaus, dass er selbst als Redner in der Volksversammlung auftrat, sich mithin sowohl rhetorisch als auch (tages-) politisch betätigt hat. So verteidigte er 406 v. Chr. als einziger die Strategen, die südöstlich von Lesbos eine Seeschlacht gegen die Spartaner gewinnen konnten, aufgrund eines aufkommenden Sturmes aber nicht in der Lage waren, die Schiffbrüchigen in den eigenen Reihen zu retten und die Gefallenen zu bergen. Bei ihrer Rückkehr nach Athen wurde ihnen deswegen der Prozess gemacht (der sogenannte Arginusenprozess28). Bei Aristoteles wird die von Platon behauptete Vorrangstellung der Philosophie über die Rhetorik beibehalten, aber zugunsten der Position des Isokrates29 abgeschwächt.30 Aristoteles macht sich in der Akademie zu-
27 Die Milesierin Aspasia – Rhetorikerin, Politikberaterin, Lehrerin – war eine der wenigen Frauen in der frühen Geschichte der Rhetorik; ihre Stimme wurde von der Überlieferungsgeschichte zum Verstummen gebracht. Der Aspasia hat Antisthenes ein nicht erhaltenes Buch gewidmet (vgl. Diogenes Laertios, VI 16). Wie die klassische Philosophie ist auch die klassische Rhetorik weitgehend patriarchal verfasst. Zu Aspasia vgl. Fee-Alexandra Haase, »Aspasia – Historische Persönlichkeit und fictio personae. Schriftliche und bildliche Formen der Überlieferung einer Wissenschaft in Platons Dialog Menexenos, Raphaels Fresko Schule von Athen und in modernen Quellen«, in: PhiN (Philologie im Netz) 19, 2002, 4354 (http://web.fu-berlin.de/phin/phin19/p19t2.htm). 28 Vgl. Diod. Hist. Bibl. XIII 101-103; zur Rolle des Sokrates im Prozess vgl. Xenophon Hell. I 7. 29 Cicero weist darauf hin wie »Aristoteles, ein Mann von höchster Begabung, Wissen und Gedankenfülle, weil er durch den Ruhm des Redners Isokrates beeindruckt war, begann, junge Leute in der Redekunst zu unterweisen und die Gelehrsamkeit mit der Beredsamkeit zu verbinden« (Cic. tusc. disp. I 4,7). 30 Es ließe sich zeigen, dass Aristoteles einige Leitkategorien seiner Philosophie der Transformation bzw. Dekontextualisierung rhetorischer Kategorien verdankt, so z.B. das Konzept der Kategorie selbst, die den rhetorischen Möglichkeiten einer
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nächst einen Namen als Rhetoriklehrer. Er verfasst etwa um 360 v. Chr. den nicht überlieferten rhetoriktheoretischen Dialog Gryllos31, der sich mit Isokrates auseinandersetzt. Schon im Gryllos führt er aus, dass er die Rhetorik als Kunst der Argumentation begreift, nicht dagegen als Lehre vom Redeschmuck. Aristoteles hinterlässt weiterhin eine (ebenfalls verschollene) Summe der Rhetorikgeschichte sowie der rhetorischen Lehrmeinungen seiner Zeit. Der wichtigste Beitrag des Aristoteles zur Rhetoriktheorie, gleichzeitig einer der wichtigsten rhetorischen Schriften überhaupt, ist die Rhetorik, ein Vorlesungsmanuskript, an und mit dem er höchstwahrscheinlich während der 40 Jahre, die er als Lehrer und Wissenschaftler tätig war, permanent gearbeitet hat. Die Rhetorik als Lehre von den Enthymemen rückt hier an die Seite der Dialektik und erscheint somit selbst als philosophische Disziplin. Auch Cicero knüpft dezidiert an Isokrates an und bemüht sich um eine Versöhnung zwischen Rhetorik und Philosophie, deren Wege sich in den Jahrhunderten nach Aristoteles zunächst trennen, in der Person Ciceros aber wieder zusammentreffen:32 »Nach meiner Meinung hätte Platon, wenn er sich auf dem Felde der öffentlichen Rede hätte versuchen wollen, die Fähigkeit gehabt, sich wirkungsvoll und wortreich auszudrücken, und es wäre Demosthenes, wenn er den Wunsch gehabt hätte, die Lehren Platons umfassend darzustellen, möglich gewesen, das glänzend und eindrucksvoll zu tun. Im selben Sinne urteile ich auch über Aristoteles und über Isokrates, von denen jeder mit der eigenen Beschäftigung zufrieden war und die anderen verachtete.« (Cic. de off. I 4) In seinem Orator, dem Entwurf eines idealen Redners, räumt er ein, »dass ich zum Redner geworden bin nicht in
Präzisierung der Anklage (kathgoría) entsprechen. So ließe sich die erste Kategorie, die Substanz, als philosophisches Pendant zum Angeklagten dechiffrieren. Vgl. hierzu die Anmerkung 29 des Herausgebers Thomas Buchheim in: Gorgias, 180. – In der Antike hat bereits Quintilian darauf hingewiesen, dass sich die Aristotelischen Kategorien auf strittige Hinsichten der Beurteilung von Handlungen in Gerichtsprozessen zurückführen lassen (vgl. Quint. inst. or. III 6, 23-28). 31 Vgl. die Liste der Werke des Aristoteles in Diog. Laert. V 22-27; zum Gryllos vgl. Quint. inst. or. II 17, 14. 32 Das Werk Ciceros ließe sich vor diesem Hintergrund als Pendant zu frühromantischen und frühidealistischen Versuchen einer Versöhnung zwischen Mythos, Literatur und Rhetorik einerseits und Philosophie andererseits lesen.
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den Lehrstätten der Rhetoren, sondern in den Hallen der Akademie.« (Cic. or. 12) Die Härte und Ernsthaftigkeit der philosophischen Auseinandersetzungen – Cicero wägt in seinem eigenen Philosophieren immer wieder Argumente der Akademie, der Peripatetiker und der Stoa gegeneinander ab – habe ihn gut auf die politischen Auseinandersetzungen vorbereitet. Durch Platon und die anderen Philosophen, so Cicero weiter, sei die Rhetorik »in besonderem Maße kritisiert und zugleich auch gefördert worden.« (Cic. or. 12) Gerade durch die philosophische Kritik, so legt es Cicero nahe, gelang es der Rhetorik, eine eigene Position und Sprache auszuformulieren. Cicero führt weiter aus, dass der ideale Redner, den zu entwerfen er sich im Orator vornimmt, »ohne Philosophie nicht zustande kommen kann.« (Cic. or. 14) Er schränkt allerdings ein: »Nicht als ob alles auf ihr beruhte! Aber sie sollte in einer Weise Hilfe leisten wie das Körpertraining der Palaestra beim Schauspieler.« (Cic. or. 14). Der römische Rhetoriker richtet sich hier impliziert gegen Platons im Gorgias vorgetragenen Versuch, die Rhetorik zur Hilfwissenschaft der Philosophie zu erklären. Cicero kehrt Platons Argumentation einfach um. Die Disputation über philosophische Fragen wird ihm zu einer Vorübung für praktisch-politische Auseinandersetzungen – ein Argument, dass sich eine in die hochschulpolitische und gesellschaftliche Defensive geratene Philosophie auch heute wieder häufig zu eigen macht, wenn es darum geht, ihren gesellschaftlichen und didaktischen »Nutzen« zu definieren und die von ihr vermittelten Kompetenzen zu benennen. Auch Quintilian begreift die Philosophie als Vorübung33 der Rhetorik: »Durch ihre Wechselreden und Fragen bereiten die Schriften der Jünger des Sokrates den künftigen Redner aufs beste vor.« (Quint. inst. or. X 1 35) Zugleich beklagt Quintilian, dass die Rhetoriker nur deshalb auf Schriften der Philosophen zurückgreifen müssten, weil sie diesen zuvor etwas von ihrem eigenen Gebiet abgetreten hätten: »Daß wir aber vieles aus der Lektüre der Philosophen entnehmen müssen, ist durch einen Fehler der Redner gekommen, die ja jenen auf dem edelsten Gebiet, das zum Wirken der Redner
33 Kulturhistorisch gesehen blieb die Philosophie in der Antike tatsächlich weitgehend ein Beiwerk der Rhetorik: »Den von Platon und Isokrates angezettelten Streit um die richtige Jugendbildung hatten sie [= die Redner] [...] für sich entschieden. Philosophie blieb fast das ganze Altertum hindurch ein eher fakultatives Zweitstudium zu einer quasi selbstverständlichen rhetorischen Grundausbildung« (Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 254/255).
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gehört, den Platz geräumt haben« (Quint. inst. or. X 1 35). In letzter Konsequenz sollten die Redner aber in Bezug auf Platon Vorsicht walten lassen und sich bewusst machen, »daß doch die Lage anders ist bei Prozessen und philosophischen Erörterungen, Forum und Hörsaal, Lebensregeln und Lebensgefahren [fori et auditori, praeceptorum et periculorum].« (Quint. inst. or. X 1, 36) Der Philosoph agiere in einer artifiziellen Umgebung, er weiche der Auseinandersetzung auf dem Forum aus und ziehe sich in den Hörsaal34 zurück. Die Autoren, die uns heute als Hauptvertreter der antiken Rhetoriktheorie gelten, stehen meist selbst schon in einem reflexiven oder sogar gebrochenen Verhältnis zur Rhetorik. Die Rhetorik des Aristoteles ließe sich eher als Versuch einer philosophischen und argumentationstheoretischen Transformation der Rhetorik lesen. Der Autor der Rhetorik an Herennius – wahrscheinlich ein gewisser Cornificius35 – spricht explizit als »Philosoph«, der nur selten Zeit hat, sich der »Technik der Rede« (Auct. ad Her. I 1) zu widmen. Der Politiker Cicero und der Pädagoge Quintilian wenden sich ganz explizit gegen den zu ihrer Zeit üblichen, aus ihrer Sicht formalistischen Rhetorikunterricht. Unser heutiger Blick auf die antike Rhetorik fällt also meist über die Schultern von rhetorischen Außenseitern. Darüber hinaus ist nur ein Bruchteil sowohl der rhetorischen Traktate als auch der Redenliteratur der Antike überliefert. Quintilian spricht im Geleitwort zu seinem eigenen Werk in Bezug auf die Rhetorik seiner Zeit von »einschlägigen Schriften, deren Zahl kaum abzuschätzen ist« (Quint. inst. or. 1). Bereits Jahrhunderte zuvor verfasste Aristoteles seine verschollene Summe des in den rhetorischen Theorien seiner Zeit gesammelten Wissens (tecnón synagwg®).36 Der heutige Interpret muss sich, was die antike Rhetorik be-
34 Ein Vorwurf, der wiederum gerade aus dem Munde Quintilians, des ersten staatlich besoldeten Professors in der abendländischen Geschichte, eigentümlich klingt. 35 Vgl. Anton Hafner, Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der Rhetorik ad Herennium, Bern 1989, sowie Friedhelm L. Müller, Kritische Gedanken zur antiken Mnemotechnik und zum Auctor Ad Herennium, Stuttgart 1996. 36 Vgl. Klaus Schöpsdau, »Das Nachleben der Technon Synagoge bei Cicero, Quintilian und in den griechischen Prolegomena zur Rhetorik«, in: William W. Fortenbaugh/David C. Mirhady (Hg.), Peripathetic Rhetoric after Aristotle, New Brunswig/London 1994, 192-216.
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trifft, mit Resten begnügen, die keinen Anspruch auf Authentizität erheben können. Zumindest was die Überlieferungsgeschichte der Texte betrifft, ist die Philosophie siegreich aus dem Konflikt mit der Rhetorik hervorgegangen – man vergleiche nur die Überlieferungslage der Platonischen Texte im Vergleich zu derjenigen der Sophisten. In seiner dem späteren Cäsar-Mörder Brutus gewidmeten Geschichte der Beredsamkeit weist Cicero auf die parallele Entstehung von Philosophie und Rhetorik hin: »Sobald man aber begriff, welche Wirkung [vis] eine sorgfältige, planmäßig ausgearbeitete Rede hat, fanden sich auch plötzlich zahlreiche Lehrer der Redekunst. Gorgias von Leontinoi, Thrasymachos aus Kalchedon, Protagoras aus Abdera, Prodikos aus Keos, Hippias aus Elis standen jetzt in hohem Ansehen [...]. Ihnen trat Sokrates entgegen, der regelmäßig ihre Lehren durch die Scharfsinnigkeit seiner Erörterungen zunichte machte. Aus den inhaltsreichen Unterredungen mit ihm erwuchsen die gelehrtesten Männer. Zum ersten Mal, so heißt es, entdeckte man damals jene Philosophie, die nicht wie zuvor von der Natur handelte, sondern in der über das Gute und Böse und über ethische Fragen in der Lebensführung der Menschen disputiert wird.« (Cic. Brut. 30/31) Philosophie formiert sich für Cicero als Kritik der und Digression von der Rhetorik. Beide Disziplinen partizipieren an der Kraft der Rede, am lógoV, doch beide versuchen, dem lógoV eine spezifische Deutung zu geben. Den alten Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie möchte ich hier nicht entlang der, für die Diskussionen im späten 20. Jahrhundert bedeutsam gewordenen, Linie von Universalismus und Relativismus rekonstruieren, sondern entlang der Linie Wirksamkeit und Repräsentation. Der philosophische lógoV repräsentiert eine ewige Ordnung des Seins, der rhetorische lógoV schafft eine immer veränderliche soziale Wirklichkeit. Beiden lógoi liegt kein dritter zugrunde. Die Frage kann also auch nicht lauten, welche von beiden Disziplinen den lógoV besser beschreibt. Der Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie spaltet den lógoV, macht es unmöglich, ihn jenseits dieser für das abendländische Denken konstitutiven Konfliktlinie zu lesen. Cicero scheint in der zitierten Passage seines Brutus von der Möglichkeit eines gemeinsamen Horizonts auszugehen, der einen Vergleich zwischen Rhetorik und Philosophie möglich machen könnte – sein Anliegen besteht darin, beide Disziplinen wieder in einer »rhetorica philosophorum« (Cic. de fin. II 6 17) zusammenzuführen. Ihren gemeinsamen Horizont sieht
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er einerseits in der Bezogenheit auf den lógoV, andererseits darin, dass sich Philosophie und Rhetorik mit Ethik und gelingender Lebensführung befassen. Sokrates tritt den Sophisten entgegen, teilt mit ihnen aber noch bestimmte Prämissen, führt mit ihnen ein ein Gespräch, über das Philosophie und Rhetorik als feindliche Brüder aufeinander bezogen bleiben. Bezeichnenderweise geht Cicero an dieser Stelle nicht auf Platon ein, der dieses Gespräch in gewisser Weise aufkündigt bzw. für unmöglich erklärt. Seit Platon kommt es zu einem wachsenden Unvernehmen zwischen Rhetorikern und Philosophen. In seinem 1995 erschienenen Buch La Mésentente. Politique et Philosophie (dt. Das Unvernehmen37) bemüht sich der französische Philosoph Jacques Rancière um eine Neudefinition der politischen Philosophie. Was gegenwärtig unter dieser Bezeichnung an unseren Universitäten gelehrt werde, erschöpfe sich darin, die Positionen der Klassiker politischen Denkens von Platon bis Rousseau auf ihre Kompatibilität zu den Legitimationsrhetoriken unserer liberalen westlichen Demokratien zu befragen. Gegen diese antipolitische Tendenz plädiert Rancière entschieden für die Rückkehr eines Politischen, welches sich für ihn an einen radikalen Widerstreit bindet. Eine Politik, die diesen Namen verdiene, lasse sich nicht innerhalb der Grenzen einer Institution einschließen, sondern falle zusammen mit dem Kampf um die Ziehung dieser Grenzen. In dieser Perspektive steht das Politische für einen grundlegenden Streit, in dem alles aufs Spiel gesetzt wird: der Gegenstand des Streits und die Kriterien, mit deren Hilfe er geschlichtet werden könnte, ebenso wie die Identität der streitenden Parteien. Der eigentliche politische Streit drehe sich darum, wer und was überhaupt zum Streit zugelassen wird. Politik konstituiert sich insofern erst durch den Streit um das Dasein und die Definition des Politischen.38
37 Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übers. v. Richard Steurer, Frankfurt/M. 2002 [1995]. 38 Es verwundert nicht, dass gerade die beiden Gegenwartsphilosophen, die den Widerstreit ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen, Jean-François Lyotard und Jacques Rancière, affirmativ an rhetorische Rationalitätsformen anknüpfen. Lyotard nimmt in sein Hauptwerk Der Widerstreit je einen längeren Diskurs zu Protagoras und zu Gorgias auf, die er als Vordenker seines Konzeptes des Widerstreits einführt. Rancière zitiert demgegenüber mehrfach Thrasymachos als Gewährsmann.
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Als einen klassischen politischen Streit in diesem Sinne lässt sich auch die Auseinandersetzung zwischen Philosophen und Rhetorikern interpretieren. Auch in diesem Streit steht alles zur Debatte: der Status des Streits, die Identität der streitenden Parteien, sowie die Sprache, in der der Streit ausgetragen werden kann. Es ist, wie wir im Anschluss an Isokrates und Cicero gesehen haben, zunächst weder ausgemacht, dass es die Philosophie und die Rhetorik vor der Aufnahme ihrer Auseinandersetzung überhaupt gibt, noch auch, dass sich zwischen beiden immer eine klare Grenze ziehen lässt. Auf ihrem zugleich gemeinsamen und getrennten Weg kommt es im Verhältnis von Philosophie und Rhetorik zu immer wieder neuen Verschiebungen und Verwerfungen. Beide Disziplinen kritisieren und befruchten sich wechselseitig, tauschen argumentative Muster und Inhalte, kommunizieren und verweigern sich der Kommunikation. So wie Plutarch um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung bíoi parállhloi, parallele Biographien, von großen Griechen und Römern geschrieben hat, so ließen sich auch die Geschichten der großen Philosophen und Rhetoriker des Abendlandes als Parallelgeschichten (re-)konstruieren. So wäre Platon nur schwer ohne die Sophisten zu denken, die er in seinen Dialogen kritisiert und gegenüber denen er sich als Philosoph abzugrenzen sucht; die Sophistik wiederum reagiert als ganze kritisch auf den mit der frühen Philosophie artikulierten Anspruch auf eine überzeitliche Wahrheit. Die rationalistische Philosophie eines Descartes lässt sich über weite Strecken nur als Einspruch gegen den rhetorisch informierten RenaissanceHumanismus lesen und findet in Vico wiederum einen an der rhetorischen Tradition geschulten Gegner. Hamanns und Lichtenbergs Metakritiken der Vernunftkritik Kants speisen sich ebenso aus rhetorischen Motiven wie die frühromantischen Invektiven gegen die Systementwürfe des frühen Idealismus. Die Ächtung Nietzsches durch die akademische Philosophie seiner Zeit bemüht alte rhetorikfeindliche Klischees, während Nietzsche selbst eine explizit rhetorische Rationalitätskritik gegen seine vernunftgläubigen philosophischen Zeitgenossen vorträgt. In der Philosophie unserer Tage aktualisieren schließlich poststrukturalistische und neopragmatistische Denker rhetorische Reflexionsformen und ziehen damit den Verdacht auf sich, eher der Literatur als der Philosophie zugerechnet werden zu können. Der »Streit
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zwischen Philosophie und Rhetorik« dauert »im Auf und Ab von Depragmatisierung und Repragmatisierung bis in unsere Gegenwart«39. Doch das Bild der bíoi parállhloi stößt in diesem Zusammenhang schnell an seine Grenzen. Die Positionen der Philosophie und der Rhetorik sind selten wirklich so klar unterscheidbar wie in den oben erwähnten Opponentenpaaren nahegelegt. An vielen Stellen der gemeinsamen Geschichte beider Disziplinen lassen sich, wie wir bereits gesehen haben, vielmehr Überlappungs- und Hybridisierungszonen beobachten. Das Bild zweier Parallelen, die sich durch die Jahrhunderte ziehen, erweist sich als vereinfachende Konstruktion. Ein möglicher Unterschied zwischen beiden Disziplinen zeigt sich allerdings darin, dass sie mit ihrem Gegensatz in einer jeweils spezifischen Weise umgehen. So behaupten Platon und Aristoteles eine Autonomie der Philosophie gegenüber der Rhetorik, nicht allerdings umgekehrt eine Autonomie der Rhetorik gegenüber der Philosophie. Die Grenze ist aus der Sicht der beiden Väter der abendländischen Philosophie nur in eine Richtung durchlässig. Für die Rhetorik bleibt die Möglichkeit einer Grenzziehung dagegen überhaupt umstritten. Cicero kritisiert jene »so unsinnige, nutzlose und tadelnswerte Trennung zwischen Sprache [lingua] und Herz [cor], die dazu führte, daß uns die einen denken, die anderen reden lehrten« (Cic. de or. III 61). Die Trennung zwischen Philosophie und Rhetorik wird hier auf eine Spaltung des lógoV in Rede und Geist, zurückgeführt, die allerdings nur die Philosophie vorgenommen habe. Diese beharre auf der Notwendigkeit dieser Trennung, die sich etwa in der Differenz von Argumentation und Persuasion manifestiere. Während die Philosophen, so jedenfalls ihr Selbstbild, mit guten Gründen überzeugen, bedienen sich die Rhetoriker sprachlicher Kunstgriffe, mit denen sie ihr Auditorium überreden bzw. manipulieren. Während die Philosophie der Wahrheit verpflichtet sei, lehre uns die Rhetorik die Kunst des Lügens. Die gemeinsame Geschichte von Philosophie und Rhetorik als Geschichte distinkter bíoi parállhloi zu konstruieren, wäre vor diesem Hintergrund also selbst schon eine philosophische Operation. Philosophie glaubt an die Möglichkeit, die Grenzübergänge schließen, den Grenzverkehr unterbinden oder zumindest weitgehend kontrollieren zu können. Die Rhetorik wettet demgegenüber darauf, dass sich die Geschichte in Termini einer prinzipiellen Ununterscheidbarkeit fassen lässt, einer ständigen Vermengung und Vermi-
39 Bernhard Waldenfels, Antwortregister, a.a.O., 33.
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schung beider Seiten, und setzt eher auf die Schmuggler, Nomaden und Migranten als auf die Grenzschützer. Philosophie und Rhetorik partizipieren im klassischen Griechenland zunächst gemeinsam an der Kultur eines wenn auch umkämpften lógoV. Mit der sokratisch-platonischen Philosophie kommt es innerhalb dieser Kultur zu einer fundamentalen Spaltung. »Seit Platon heißt nur das um seiner selbst willen betriebene Streben nach einer von den Schlacken des Interesses und der Perspektivität gereinigten theoretischen Erkenntnis ›Philosophie‹, nicht ein auf praktisch-politische Wirksamkeit angelegtes, an den je 40 bestehenden Werten und Meinungen orientiertes Bildungsbemühen.« Der lógoV zerfällt in eine reine Vernunft, den noÿV als vernünftige Einsicht in die Sachen, der sich die Philosophie annimmt, und in die bloßen Wörter, die Ónómata, welche der Rhetorik überlassen bleiben (vgl. etwa Plat. Krat. 440c 3-5). Der philosophische lógoV orientiert sich normativ am noÿV, an der vernünftigen Einsicht in die Sachen, am Bedeutungswissen der Ideen, ohne dies jedoch als solches in Worte fassen zu können. Tilman Borsche arbeitet heraus, dass die Einführung des noÿV als eines prädiskursiven Vernunftvermögens intuitiver Einsicht in den Wesensgehalt der Dinge für die Platonische Spaltung des lógoV-Begriffs in ein philosophisches und ein rhetorisches Moment verantwortlich ist.41 Konstitutiv für den noÿV-Begriff wird in Borsches Deutung die Ökonomie eines unerreichbaren Maßstabes: Der lógoV findet sein Kriterium an der unmittelbaren Ideenschau des noÿV, vermag diesem Kriterium aber niemals gerecht zu werden. Aus der Betonung dieses Unvermögens resultieren nicht zuletzt einige der skeptischen Einschätzungen der Macht des lógoV in den Platonischen Spätschriften, vornehmlich die Dramatisierung der Aporie, dass der lógoV als Ort der Wahrheit keinen Index sui et falsi, kein eindeutiges Kriterium der Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen zu verbürgen vermag. Die skeptische Betonung dieser Aporizität bildet dabei aber gleichsam nur die andere Seite jener im noÿV-Begriff formulierten Verpflichtung der Rede auf einen prädiskursiven Begriff von Wahrheit und Vernunft. Die Platoni-
40 Thomas Schirren/Thomas Zinsmaier, »Einleitung«, zu dies. (Hg.), Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2003, 7-31, hier: 9. 41 Vgl. dazu Tilman Borsche, Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1990, 37106.
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sche Depotenzierung sprachlicher Vernunft (des lógoV) verdankt sich ihrer vorgängigen Überforderung durch die unmögliche Möglichkeit des noÿV. In eine vergleichbare Richtung wie Borsche argumentiert auch Hannah Arendt: »Worte sind, wie Plato meint, zu ›schwach‹ für das Wahre, das daher überhaupt in der Rede nicht gefaßt werden kann, und Aristoteles bestimmte das höchste Vermögen des Menschen, den nous, als eine Fähigkeit, 42 der sich das zeigt, ›von dem es einen logos nicht gibt‹« . Und weiter: »Liest man das Höhlengleichnis in Platos ›Staat‹ im Sinne griechischer Geschichte, so kann einem schwerlich entgehen, daß die periagogae, die Umkehr, die Plato von dem Philosophen verlangt, im Grunde auf eine Umstülpung der homerischen Weltordnung hinausläuft«43, einer Weltordnung, die noch ganz dem Ideal des eÜ légein und der agonalen (und damit politischen) lógoi verpflichtet war. Die Philosophie konstituiert sich als Hüterin des noÿV, der im Sinne einer überzeitlichen Vernunft gegenüber der alltäglichen, situationsgebundenen Rede ausgezeichnet wird. Sie findet zu ihrem Begriff über eine Abwendung von der alltäglichen Rede. Cicero führt dieses Schisma auf die sokratisch-platonische Philosophie zurück: »Die Vertreter jener alten Zeit bis hin zu Sokrates verbanden jede Erfahrung und Erkenntnis aller Dinge, die zu den Sitten der Menschen, ihrem Leben, der Tugend und dem Staate in Beziehung standen, mit der Redekunst. Später wurden [...] durch Sokrates und danach ebenso durch sämtliche Sokratiker die Meister der Beredsamkeit von den Vertretern der Gelehrsamkeit geschieden; die Philosophen verachteten die Redekunst, die Redner schätzten die Weisheit gering und mieden jegliche Berührung mit der Gegenseite, abgesehen von dem, was die einen von den anderen entlehnten; und dabei könnten sie gemeinsam aus dieser Quelle schöpfen, wenn sie sich nur entschlossen hätten, bei ihrer früheren Gemeinsamkeit zu bleiben.« (Cic. de or. III 72) Diese frühere Gemeinsamkeit liegt in der Immanenz des lógoV, der sich gerade nicht in eine geistige und eine sprachliche Seite dividieren lässt, sondern von einer
42 Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., 284. 43 Ebd. – Platons periagwg® wäre selbst als das Ergebnis eines rhetorischen Überzeugens zu interpretieren. Hinweise in diese Richtung liefert Cicero, für den gerade der Rede die Kraft zukommt, die Lebensweise der Menschen »mit einem Mal umzukehren [subito convertere]« (Cic. de inv. I 3).
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anderen, nicht ontologischen sondern politischen Differenz strukturiert wird: der Differenz widerstreitender lógoi. Während die Philosophie zwischen dargestellten Gehalten und äußerlichen Formen der Darstellung unterscheidet, hält die rhetorische Tradition an der Kontinuität des lógoV fest. In der Antike versteht sich die Rhetorik nicht nur als ars bene dicendi, als Kunst des schönen Redens, sondern zuvor noch als ars persuadendi, als Kunst des Überzeugens und Überredens. Das griechische peíjein und das lateinische persuadere differenzieren nicht 44 zwischen argumentativem Überzeugen und bloß affektivem Überreden. Die Rhetorik versteht sich als umfassende Lehre vom lógoV, die der Philosophie als Gesprächspartnerin und Kritikerin zur Seite steht. Von Seiten der Philosophie wird die Rhetorik im Verlaufe ihrer gemeinsamen Geschichte allerdings immer mehr in den Vorhof der Macht des lógoV verbannt und nur als Hilfswissenschaft akzeptiert. Die Rhetorik kleide die nackte, vorsprachliche Wahrheit, mit der es die Philosophie zu tun habe, sprachlich ein. Die Rede kommt für Platon erst nachträglich zur Wahrheit hinzu. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich der historische Gorgias von Platon. Für Gorgias wäre Wahrheit, wie wir später noch sehen werden, nur im Relationengefüge der Reden möglich. Die Philosophen suchen den Streit zwischen Rhetorik und Philosophie in erster Linie als einen theoretischen Streit um die Wahrheit und die Möglichkeit der Erkenntnis zu definieren; demgegenüber begreifen ihn die Rhetoriker als einen politisch-praktischen Streit um die Einrichtung des Gemeinwesens.45 Der Streit dreht sich also zunächst um den Status des Streites selbst. Während die Philosophie der Rhetorik vorwirft, eine Wahrheit zu verleugnen, die den Streit schlichten könnte, halten die Rhetoriker den Philosophen entgegen, dass sie in ihrer Suche nach überzeitlicher Objektivität
44 Aus der Perspektive der Philosophie: noch nicht. – Einschränkend lässt sich allerdings anmerken, dass das Griechische für das überreden im pejorativen Sinne ein eigenes Verb kennt: Ânapeíjein (vgl. etwa Lysias XIII 59). Peíjein ohne Präfiz tendiert insofern eher gegen überzeugen. Eine ähnliche Unterscheidung kennt auch das Lateinische; wenn persuadere mit einem Nebensatz kombiniert ist, der eine Accusativus-cum-Infinitivo-Struktur aufweist, bedeutet es überzeugen, in Kombination mit einem durch ut eingeleiteten Nebensatz dagegen überreden. Diesen Hiweis verdanke ich Philipp Wicht. 45 Vgl. Kapitel 2.2.
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ein Politisches verleugnen, welches erst im unaufhebbaren Streit Gestalt annimmt: »Rhetoric was born in bitter controversy; and its most important legacy to us is a highly ramified debate, not a body of doctrine.«46 Für die Rhetorik stellt ein Fall, wie ihn Rancière mit seinem Begriff des Unvernehmens benennt, in gewisser Weise die Regel dar. Gemäß der rhetorischen Statuslehre beginnt jeder Streit damit, »den eigentlichen Gegenstand des Streitfalles zu bestimmen« (Cic. de or. II 104), der gerade nicht von vorn herein für beide Parteien festliegt. Die Philosophie lässt sich auf die Offenheit des Streites nicht wirklich ein, sondern versucht ihn als Streit um dóxa und Êpist®mh zu definieren und damit, bevor er noch ausgetragen wird, zu entscheiden, da die Êpist®mh gegenüber der dóxa immer Recht behält. Philosophie und Rhetorik können sich als Disziplinen immer nur in der Kritik aneinander formieren und stabilisieren. In sich bleiben sie jeweils gebrochen. Philosophie oszilliert zwischen einer unbedingten Freiheit des Hinterfragens, die sich gegen alle absoluten Gewissheiten richtet – verkörpert etwa in der Gestalt des Sokrates der frühen Platonischen Dialoge, der eingespielte Selbstverständlichkeiten subvertiert – und einer Suche nach letzten Gewissheiten – die sich u.a. in der Ideenlehre Platons spiegelt. Die Rhetorik bejaht den offenen und nicht zu beendenden Disput, ohne sich allerdings auf einen bloßen Partikularismus oder Subjektivismus zurückzuziehen. Den Rhetorikern ist bewusst, dass das Erheben einer partikularen 47 Forderung notwendig mit Universalisierungseffekten einhergeht. Die Straftaten, die in den antiken Gerichtsreden thematisiert werden, werden nicht nur als Verbrechen gegen ein Individuum begriffen, sondern auch als Verbrechen an der Gemeinschaft, dem Menschen oder gar den Göttern. Ergokles, der sich gegen Gastfreunde der Athener verging, schadete, so Lysias, nicht nur diesen Gastfreunden, sondern der Polis insgesamt: »Bedenkt, ihr Männer von Athen, dass nicht über Ergokles allein geurteilt wird, sondern über die ganze Stadt.« (Lysias or. XXVIII 10) Einem Angeklagten, der bezichtigt wird, widerrechtlich den Stumpf eines heiligen Ölbaums ent-
46 Robert Wardy, The Birth of Rhetoric, Gorgias, Plato and their successors, London/New York 1996, 2. 47 Mit Deleuze und Guttari gesprochen behaupten die Rhetoriker »keine Relativität des Wahren, sondern im Gegenteil eine Wahrheit des Relativen« (Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt/M. 2000 [1991], 151).
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fernt zu habe, legt Lysias folgende Argumentation in den Mund: »Nun achte ich die Bäume aber ebenso sehr wie mein Vaterland und meinen sonstigen Besitz [...]. Wie hätte ich also – es sei denn, ich wäre mir selbst von allen Menschen der allergrößte Feind – versuchen können, den heiligen Ölbaum von diesem Grundstück zu beseitigen [...]?« (Lysias or. VII 25/27). Diese Argumentation, die sich auf eine Art Menschheit in meiner Person beruft, klingt fast schon kantianisch. Ein wirklicher Disput kommt auch für die Rhetoriker nur zustande, wenn die jeweiligen Opponenten einen unbedingten Anspruch stellen, wenn sie nicht nur als sie selbst sprechen, sondern als Vertreter eines ihre partikulare Perspektive transzendierenden Allgemeinen. Die Position dieses Allgemeinen lässt sich für die Rhetoriker, und darin unterscheiden sie sich von den Philosophen, allerdings nicht unvermittelt beziehen. Jeder Redner spricht primär als er selbst, als konkretes geschichtliches Individuum. Darüber hinaus hat das Allgemeine in der Rhetorik einen anderen Status als in der Philosophie. Als das rhetorische Allgemeine kann die Polis gelten, der Raum widerstreitender Parteien, Ansprüche und Stimmen, während das philosophische Allgemeine durch den kósmoV oder den noÿV verkörpert wird, durch eine überpolitische Instanz. Der Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie wird sich nie entscheiden lassen. Es wird immer möglich sein, die Philosophie als rhetorische Strategie zu beschreiben, als Rhetorik einer außerrhetorischen Gewissheit oder prädiskursiven Wahrheit. Umgekehrt lässt sich jederzeit die »Rhetorik als Philosophie« rekonstruieren, so der Titel eines Buches von Ernesto Grassi48; Rhetorik hat als solche philosophische Implikationen. Während der idealtypische Rhetoriker den Streit als Ereignis und Performanz auf Dauer stellt, situiert sich der Philosoph auf der Seite seiner Auflösung und damit potentiell auf der Seite des Siegers. Chaim Perelman charakterisiert die argumentative Strategie des Philosophen wie folgt: »If two man defend opposing theses on the same issue, at least one of them is irrational since he is necessarily mistaken; all disagreement is a sign of error and proves that seriousness is lacking. Neither rationalism nor empiricism, which have dominated modern philosophy, can, from this point of view, give any place to rhetoric, except as a technique of presenting ideas and putting them in form.«49 Während sich der Philosoph als Sprachrohr eines 48 Vgl. Ernesto Grassi, Rhetoric as Philosophy, Pennsylvania 1980. 49 Chaim Perelman, »Rhetoric and Philosophy«, in: Philosophy and Rhetoric, Vol. 1 (1968), No. 1, 15-24, hier: 17.
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transsubjektiven Wahrheitsgeschehens inszeniert, versteht sich der Rhetoriker als Position oder Funktionsstelle in einem gesellschaftlichen Kräftefeld. Während der Rhetoriker uns dazu anhält, den Dissens auszuhalten, möchte ihn der Philosoph überwinden. Die philosophische Polemik gegenüber der Rhetorik beginnt mit Platons frühen Dialogen, zunächst mit dem Euthydemos, der die »Redenmacherkunst« auf eine Stufe mit den Künsten der »Zauberer« und »Schlangenbeschwörer« stellt (Plat. Euth. 289e-290a). Aufgegriffen wird diese Kritik im Gorgias, den Platon etwa um 388/87 v. Chr. verfasst, also noch zu Gorgias Lebzeiten (der verschiedenen Quellen zufolge über 100 Jahre alt geworden ist). Der Dialog »spielt« aber bereits 40 Jahre vor der Niederschrift, kurz nach dem Eintreffen des Gorgias in Athen (427 v. Chr.), also etwa zur Zeit von Platons Geburt. Sokrates erhebt in diesem Dialog den Vorwurf, die Rhetorik sei ein bloßes Instrument der Manipulation von Meinungen und der Ausübung von Macht. Er weist der Rhetorik ihren festen Ort in einem System der Künste und Wissenschaften zu. Sokrates unterscheidet dabei zunächst Künste, die auf den Leib wirken, Kosmetik, Gymnastik, Kochkunst und Heilkunst, von solchen Künsten, die auf die Seele 50 wirken, Rhetorik und Philosophie (vgl. Plat. Gorg. 465b ff.). In einem Analogieschluss wird nun unterstellt, dass sich die Rhetorik so zur Seele verhalte, wie die Kosmetik und die Kochkunst zum Körper. Umgekehrt, so die Unterstellung, wirke die Philosophie so auf die Seele, wie Gymnastik und Heilkunst auf den Körper. Kosmetik, Kochkunst und Rhetorik gelten somit als bloß äußerliche oder schmeichelnde Künste, während die Gymnastik, die Heilkunst und die Philosophie auf das Wesentliche des Menschen zielen: auf die physische Konstitution und die Beschaffenheit der Seele. Platon klagt immer wieder ein, dass das Wissen um die Sache vor dem Wort kommen muss. Nur derjenige könne ein guter Rhetor sein, der vorab um die Wahrheit wisse. Das zu Vermittelnde geht der Bewegung der Vermittlung voraus. Cicero, dessen De oratore sich über weite Strecken als kritischer Kommentar zu Platons Rhetorikkritik lesen lässt51, kehrt diese
50 Ähnlicher Vergleiche bedient sich Platon immer wieder; siehe etwa Plat. Pol. I 332b. 51 Zu Beginn des ersten Buches heißt es: »Crassus, warum halten wir es nicht wie
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Denkform um. »Über jedwedes Thema, aus welchem Fach, aus welchem Sachgebiet auch immer, wird der Redner besser und wirkungsvoller sprechen als der Erfinder und Urheber selbst, wenn er es wie den Fall eines Klienten kennt.« (Cic. de or. I 51) Sokrates könne gar nicht, so Cicero, als Sieger aus dem Gespräch mit Gorgias hervorgegangen sein, denn »entweder ist Gorgias von Sokrates nie besiegt worden und Platons Dialog ist nicht wahr; oder er ist tatsächlich besiegt worden und es ist klar, daß es daran lag, daß Sokrates beredter und wortgewandter und, wie man auch sagen kann, der wortreichere und bessere Redner war.« (Cic. de or. III 129). Platon verwickele sich im Gorgias also letztlich in einen performativen Selbstwiderspruch. Er »bekämpft die Rhetorik selbst mit rhetorischen Mitteln« und liefert ein Paradebeispiel für eine »Rhetorik der Antirhetorik«52. Gleichzeitig wird von Cicero aber auch darauf hingewiesen, dass die Beherrschung der Theorie und Praxis der Rede ein »universales Wissen« (Cic. de or. II 5) voraussetze, da die Rhetorik, darin mit der Philosophie übereinkommend, »kein abgegrenztes Feld« (Cic. de or. II 5) des Wissens zum Gegenstand habe. Wissen existiert aus rhetorischer Sicht nie an sich. Alles Wissen verweist vielmehr auf Kontexte seiner Artikulation und Anwendung. Friedrich Schlegel geht so weit, Rhetorik als praktische Realisierung der Philosophie zu definieren: »Es gibt eine materiale, enthusiastische Rhetorik die unendlich weit erhaben ist über den sophistischen Mißbrauch der Philosophie, die deklamatorische Stylübung, die angewandte Poesie, die improvisierte Politik, welche man mit demselben Namen zu bezeichnen pflegt. Ihre Bestimmung ist, die Philosophie praktisch zu realisieren, und die praktische Unphilosophie und Antiphilosophie nicht bloß dialektisch zu
Sokrates in Platons Phaidros? Daran hat mich nämlich deine Platane hier erinnert; sie breitet ihre Zweige ja so schattenspendend über diesen Ort wie jene, deren Schatten Sokrates aufsuchte und die wohl weniger durch das Rinnsal, das dort beschrieben wird, als durch Platons Darstellung groß geworden ist.« (Cic. de or. I 28) Bereits hier zeichnet sich ab, dass Cicero Platons Dialog gegen dessen eigenen Anspruch als Literatur liest, dass er ihn einer rhetorischen Lesart unterzieht, welche ihr Augenmerk eher auf die Art der Darstellung als auf die dargestellten Gehalte richtet. Philosophie wird von Cicero also wieder – in genauer Umkehrung des Platonischen Gestus einer Integration der Rhetorik in die Philosophie – in die Rhetorik integriert und als Rhetorik gelesen. 52 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 121.
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besiegen, sondern real zu vernichten. Rousseau und Fichte verbieten auch denen, die nicht glauben, wo sie nicht sehen, dies Ideal für chimärisch zu halten.«53 Rhetorik, wie sie sich für Schlegel etwa in Rousseaus und Fichtes politischen Interventionen ausdrückt, ist von hier aus nichts anderes als eine ins Praktische überführte Philosophie, eine Philosophie, die sich nicht selbst in einen über allen Wassern schwebenden noÿV kontrahiert, sondern auf konkreten historischen Schauplätzen agiert. Die Philosophie reklamiert für sich ein Deutungsmonopol. Die Existenz anderer Deutungsmächte hat sie immer wieder beunruhigt. Das gilt für ihr Verhältnis zu Mythos, Religion und Literatur ebenso wie für ihr Verhältnis zur Rhetorik. Anders verhält es sich zumindest zeitweise einzig in ihrem Verhältnis zu Theologie und Wissenschaften. Während sie sich im Mittelalter mit der Rolle einer Magd der Theologie begnügt, stellt sie sich seit dem Beginn der Neuzeit in den Dienst der Wissenschaften, deren Ergebnisse sie allenfalls noch interpretiert und an öffentliche Kommunikationen anschlussfähig macht, deren Deutungshoheit sie aber selten hinterfragt. Seit Platon beschneidet die Philosophie das Feld der Rhetorik immer weiter. Bereits zu Zeiten Ciceros »ist der Umfang des Faches durch Aufteilung und Abtrennung verringert worden« (Cic. de or. III 132). Von ihrem anfänglichen Doppelcharakter bleibt nur die (die elocutio betonende) ars bene dicendi übrig. Die ars persuadendi, die noch von Aristoteles zwischen Dialektik und Rhetorik aufgeteilt wurde, wird nach und nach ganz von der Philosophie absorbiert. Aristoteles selbst bildet hier eine Ausnahme. Er bezeichnet die Rhetorik im ersten Satz seines gleichnamigen Werkes als Ge54 genstück (ÂntístrofoV) zur Dialektik. Nietzsche (wie viele Interpreten nach ihm) sieht in dieser Formulierung eine versteckte Kritik an Platon, welcher die Rhetorik als ÂntístrofoV zur Kochkunst und zur Kosmetik (vgl. Plat. Gorg. 465b) verstanden wissen wollte.55 Der Großteil der Aristo-
53 Friedrich Schlegel, »Fragmente«, in: ders., Kritische Ausgabe in 35 Bänden, hg.v. Ernst Behler unter Mitwirkung v. Jean-Jaques Anstett und Hans Eichner, Paderborn-Darmstadt-Zürich 1958f., Bd. 2, 147-272, hier: 187. 54 Quintilian unterscheidet das Rhetorische und das Dialektische als zwei Modi der Rede, ihr Unterschied ist mithin ein innerrhetorischer: »Nun gibt es ja zwei Arten der Rede, einmal die fortlaufende, die man rhetorisch nennt, sodann die zerspaltene, die dialektisch heißt.« (Quint. inst. or. II 20 7) 55 Friedrich Nietzsche, »Einleitung zur Rhetorik des Aristoteles«, in: ders., Werke.
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telischen Rhetorik widmet sich argumentationstheoretischen Fragen, insbesondere den Enthymemen. Wenn die Rhetorik von Aristoteles als ÂntístrofoV der Dialektik bezeichnet wird, dann ist davon auszugehen, dass er beide als Einheit begreift: »Wie die Strophe und Antistrophe Elemente eines einzigen chorischen Liedes darstellen, so bilden auch Rhetorik und Dialektik eine gewisse Einheit, insofern sie beide dem Zustandebringen von lógoi dienen und dadurch logoiabhängige Strukturmerkmale miteinander teilen müssen.«56 Auf das Verhältnis von Rhetorik und Dialektik werden wir in Kapitel 2.6 näher eingehen. Die philosophische Kritik der Rhetorik unterstellt dieser häufig mangelnde Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit. Gegenüber der philosophischen Êpist®mh, der es um Wahrheit zu tun sei, bilde die Rhetorik eine bloße técnh, eine instrumentelle und manipulative Praxis, die sich einerseits zum unmittelbaren persönlichen Profit einsetzen, andererseits als Lehrsystem profitabel verkaufen lasse.57 In der philosophischen Kritik der Rhetorik spielt der Vorwurf des Instrumentalismus immer wieder eine zentrale Rolle. Die Kritik an der Rhetorik berührt sich mit einer breiteren Ökonomie- und Technikverachtung. Die técnh wird mit dem Materiellen und Niederen assoziiert, mit der Überlebenssicherung, die eher den Sklaven obliegt als den freien Bürgern. Die Sophisten wurden von den Philosophen als Techniker des lógoV verachtet, während die Philosophen mit dem noÿV gleichsam die Seele des lógoV verwalten. Sophistik umfasse ein Moment von Technizität
Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, zweite Abteilung, Bd. 4, Berlin/New York 1995, 521-612, hier: 533. – Innerhalb eines Schemas der Künste und Scheinkünste, die in Analogie zu Gegenständen und ihren Schattenbildern arrangiert werden, definiert Platon die Rhetorik im Gorgias als Schattenbild (eÌdwlon) der Rechtspflege und als korrespondierendes Gegenstück (ÂntístrofoV) der Kochkunst (vgl. Plat. Gorg. 465b) 56 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 60. 57 Vgl. etwa Plat. Pol. I 337d, wo Thrasymachos als geldgieriger Rhetor eingeführt wird, oder Plat. Men. 91c, wo von Protagoras behauptet wird, dass er »mehr Geld verdient [habe] als Phidias, der Schöpfer von so schönen Werken«. – Aristoteles begreift die técnh als eine Verfassung (äéxiV), die »mit Überlegung und richtiger Einsicht etwas bewirkt« (Arist. EN IV, 4, 1140a 10). Die técnh wird von ihm also konsequentialistisch, von ihren Wirkungen her, gedacht.
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und Vermittlung, wohingegen die Philosophie auf ein unmittelbares Wissen zugreifen könne. Das Adjektiv sofóV, das den Sophisten zu ihrem Namen verhilft, lässt sich mit geschickt, kundig, kompetent, klug und weise übersetzen. »Der Aspekt der Technizität bildet die Brücke zwischen der heutigen und der ältesten faßbaren Bedeutung des Wortes sophistes, das zunächst generell den 58 Meister seines Faches bezeichnet.« Das Wort »sophon umfaßt also das ganze Feld dessen, was wir mit den Adjektiven ›geschickt‹, ›kundig‹, ›kompetent‹, ›klug‹ und ›weise‹ umschreiben.«59 Bereits hier sehen wir, dass sich in der Verachtung der Rhetorik durch die Philosophie auch ein gesellschaftliches Standesdenken manifestiert. Der bíoV jewrhtikóV, der sich über die Praxis erhebt, fühlt sich gleichzeitig dazu berufen, die Polis zu beherrschen. Der philosophische Kosmos ist durch und durch hierarchisiert. Während die Philosophie als Êpist®mh den höchsten Regionen des Kosmos zugewandt bleibt, sind die técnai, etwa die técnh ärhtorik®, auf die unteren Seinsbereiche beschränkt. Aus der Sicht von John Dewey werden »die anerkannten Bedeutungen« in der Platonischen Philosophie »in einer Rangfolge angeordnet, die von der Klassenstruktur der griechischen Gesellschaft abgeleitet und bestimmt war«60. Wie wir in Kapitel 3.1 noch genauer beleuchten werden, lässt sich Platons Versuch einer Hierarchisierung von Wissenstypen nicht von einer antidemokratischen Politik trennen. Aus der Perspektive Ihrer Kritiker machen sich die Rhetoriker einer Grenzverletzung schuldig. Sie lassen die Worte und die ihnen korrespondierende técnh öffentlich zirkulieren. Den Philosophen kommt es demgegenüber auf eine Ökonomisierung der Rede an, auf ihre Bindung an einen oÏkoV und damit an die Herrschaft eines Hausvaters (despóthV). Die philosophische Kritik an der Rhetorik ähnelt strukturell der Kritik an der Chrematistik, wie sie Aristoteles im ersten Buch seiner Politik übt. Aristoteles richtet sich hier gegen die Kapitalwirtschaft und die Fiktionalisierung des Geldes. Geld ist nur innerhalb der Parameter einer Ökonomie legitim, die letztlich auf Subsistenz- und Tauschwirtschaft fußt; ein »geldheckendes
58 Thomas Schirren/Thomas Zinsmaier, »Einleitung« zu: dies. (Hg.), Die Sophisten, a.a.O., 12. 59 Ebd. 60 John Dewey, Logik. Die Theorie der Forschung, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2002 [1938], 78.
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Geld«, das sich von der räumlichen und logischen Mitte des oÏkoV entfernt, wird demgegenüber zu einer Gefahr für die Gesellschaft. Ähnlich gefährlich werden die lógoi, die sich vom noÿV und der Âl®jeia entfernen, die sich den Kosmos zu verändern anschicken, die praktisch werden und sich ins Handgemenge des Alltags begeben, ganz gegen den rechten Gebrauch oder kurz: katachrestisch.61 Die Philosophie plädiert für eine polizeiliche Kontrolle über die Rede, die sie immer wieder an die Ordnung eines als unveränderlich geltenden Kosmos bindet und damit entpolitisiert. Die Rhetorik verteidigt sich immer wieder gegen den Vorwurf, sie sei eine bloß manipulative und damit zutiefst unmoralische Disziplin. Quintilian etwa verweist auf Lysias, der dem Sokrates, nachdem dieser angeklagt wurde, eine Verteidigungsrede anbot, die Sokrates allerdings ablehnte. Quintilian schreibt: »Schon dieses eine Beispiel zeigt deutlich, daß nicht das Überreden, sondern das Gut-Reden als Ziel beim Redner festgehalten werden muß, da ja zuweilen das Überreden das Bild des Redners entstellt. Nicht für die Freisprechung erwies es sich also als nützlich, wohl aber, was mehr ist, für den Menschen.« (Quint. inst. or. XI 1, 11) Im Gut-Reden, welches das Ziel aller Bemühungen des Redners darstelle, stecke mehr als die Fähigkeit des Überredens. »Gut« ist hier durchaus auch im Sinne ethischer Geltung gemeint. Nützlich erscheint das Gut-Reden nicht in Bezug auf ein strategisches Ziel, sondern »für den Menschen«, im Sinne eines moralischen Subjekts. Die nützlichen und die gerechten Dinge, tà díkaia kaì tà sumféronta (Isocr. or. XVIII 68), werden bereits bei Isokrates miteinander identifiziert. Der gute Redner redet für die gute Sache, indem er etwa für die Unschuld des Sokrates plädiert. Darüber hinaus verkauft sich die Redekunst nicht an jedermann und nicht für jeden Zweck: »Auch verteidigen wird ja der gleiche Redner nicht jedermann, wird den rettenden Hafen der Beredsamkeit nicht auch für Seeräuber öffnen und sich zum Beistand vor allem durch den Fall bestimmen lassen.« (Quint. inst or. XII 7 4) Der Beistand des Redners kommt, wie Cicero hervorhebt, besonders den Schwachen und Anteilslosen zu gute. Der Redner habe die Verteidigung der Anklage vorzuziehen, »und das um so mehr, wenn man jemandem zu Hilfe
61 Die von Aristoteles denunzierte Chrematististik und die Katachrese, die Trope der Substitution und Setzung, beinhalten beide das Substantiv cr²ma, die Sache, die man gebraucht.
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kommt, der durch den Einfluß eines Mächtigen gefährdet und bedrängt zu sein scheint« (Cic. de off. II 51). Als Beispiel gibt Cicero seine eigene Rede gegen Lucius Sulla und zugunsten des Sextus Roscius an. Man könnte auch die von Isokrates verfasste Rede Gegen Lochites anführen, die er für einen mittellosen Mandanten aus dem niederen Volk schreibt (vgl. Isocr. or. XX 19), der sich gegen Übergriffe und Verleumdungen eines reichen und mächtigen Bürgers zur Wehr setzen muss. Die Rhetorik kennt nicht nur die Wortergreifung des Redners, sondern auch die komplementäre Strategie des Verleihens der Stimme an diejenigen, die aufgrund ihrer mangelnden Bildung oder sozialen Position nicht selbst zu sprechen vermögen. Insofern ist der Redner keineswegs automatisch ein Sprachrohr der Macht. Jacques Rancière schreibt in Bezug auf Demosthenes: »Während des gesamten monarchischen Zeitalters stand die demokratische Rhetorik des Demosthenes für einen außerordentlichen Grad der Beredsamkeit, die zwar der höchsten Macht als imaginäres Attribut zugeschrieben wurde, jedoch immer bereit war, zu ihrer demokratischen Funktion zurückzufinden, indem sie ihre kanonischen Formen und topischen Bilder dem transgressiven Auftritt von nicht autorisierten Sprechern auf der öffentlichen Bühne lieh.«62 Ein Missbrauch der Redekunst lässt sich nicht kategorisch ausschließen, wäre aber moralisch verwerflich: »Was kann denn so unmenschlich sein, wie wenn man die Beredsamkeit, die uns von der Natur zum Wohl der Menschen und zu ihrer Rettung verliehen wurde, zum Unheil und Verderben der Guten einsetzt?« (Cic. de off. II 51) Der Redner sieht sich hier auf seine Urteilskraft und sein Taktgefühl verwiesen. »Jedenfalls nun schickt es sich für einen Mann, wie wir ihn uns als Redner wünschen, nicht, wissentlich Ungerechtes zu verteidigen.« (Quint. inst. or. XII 7, 7) Zur wissentlichen Verteidigung des Ungerechten eignet sich andererseits natürlich auch die Philosophie, die ebenfalls missbraucht werden kann und die sich in ihrer langen Geschichte immer wieder als Instrument der Legitimation von Unfreiheit und Ungleichheit hat missbrauchen lassen. Gegen den Einwand, der Redner wolle sein Publikum manipulieren, lässt sich weiterhin anführen, dass die antiken Rhetoriker einen gewissen Eigensinn des Publikums anerkannten, das sich nicht so einfach manipulieren lässt wie häufig von Rhetorikkritikern unterstellt. Zwar wissen die Red-
62 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. v. Maria Muhle, Berlin 2006 [2000], 33.
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ner, »daß die Hörerschaft am Ende der Rede nicht mehr genau dieselbe ist wie zu Beginn« (NR 31). Daraus folgt aber nicht, dass das Auditorium beliebig gesteuert werden könne. In mindestens der gleichen Weise, in der der Redner das Auditorium subjektiviert, subjektiviert das Auditorium umgekehrt den Redner. Perelman und Olbrechts-Tyteca führen als Beleg dafür eine Demosthenes-Stelle an: »›Niemals‹, sagte er, ›machen eure Redner euch gut oder schlecht; ihr selbst macht aus ihnen, was ihr wollt. Ihr nämlich nehmt euch nicht ausdrücklich vor, euch ihrem Willen zu beugen, sie dagegen richten sich nach den Wünschen, die sie bei euch mutmaßen. Habt also den Willen zum Guten, dann wird alles gut gehen! Denn entweder wird dann niemand Schlechtes raten, oder der, welcher zu Schlechtem rät, wird nichts davon haben mangels einer Hörerschaft, die bereit ist, sich überreden zu lassen.‹« (Dem. Peri Syntaxeos I 36, zit. n. NR 31). Redner und Publikum beeinflussen sich für Demosthenes wechselseitig. Das Auditorium fügt sich nicht in die Rolle eines passiven Objekts der Manipulation, sondern erweist sich als eigensinniger Akteur, dessen Eigensinn auf den Redner zurückwirkt. Demosthenes appelliert regelrecht an diesen Eigensinn, wenn er etwa am Ende einer längeren Ausführung fordert: »Urteilt [krínate] selbst, wenn ihr alles gehört habt, []epeidàn äápant) ]akoúshte]« (Dem. Erste Rede gegen Philipp IV 14). Der Rhetor lässt sein Publikum urteilen, er räumt ihm einen Freiheitsspielraum ein. Er behandelt es nicht, sondern lässt es handeln, aktiviert es. Statt es mit einer notwendigen Lösung zu konfrontieren, lässt der Redner das Publikum selbst eine Lösung finden, eine mögliche Lösung zu seiner eigenen Sache machen, an die es sich dann um so stärker gebunden fühlt. Demosthenes deutet im gleichen Kontext bereits ein Ideal der Falsifizierbarkeit an: »Hat ein anderer einen besseren Rat, so folgt ihm.« (Dem. Dritte Olynthische Rede III, 18) Ein Ratschlag oder Argument gilt ihm nur solange, bis es durch einen besseren Ratschlag oder ein besseres Argument abgelöst wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Rhetorik und Philosophie lässt sich an einem konstitutiven Aufklärungsoptimismus vieler Philosophen festmachen, an der impliziten Unterstellung, dass das Wissen um die Wahrheit automatisch auch zu richtigem Handeln führe. Für Gert Ueding »hat die Rhetorik nie die sokratische Überzeugung geteilt, daß das Erkennen des Richtigen und Guten auch schon zum entsprechenden Handeln oder
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nur zur entsprechenden Gesinnungsänderung führt.« Ueding weist mit dieser Beobachtung darauf hin, dass sich ausgehend von der Rhetorik eine Ideologiekritik der Philosophie betreiben ließe. Philosophen gehen häufig von einer Art Selbstverwirklichung der Wahrheit aus. Die Rhetoriker bestehen demgegenüber darauf, dass eine Wahrheit »an sich«, vor ihrer Vermittlung und Aneignung, keine Relevanz hat; erst eine Wahrheit, die ein Publikum zu seiner eigenen Sache macht, spielt eine wie auch immer geartete Rolle. Das bloße Beharren auf der reinen Wahrheit ändert nichts und wird schnell dogmatisch; es blendet die konkreten, häufig widersprüchlichen sozialen und geschichtlichen Verhältnisse aus. »Es gehört seit Sokrates zu den idealistischen Irrtümern jeder Aufklärungsepoche, daß man das Wahre nur auszusprechen habe, damit es seine Wirkung tue und den Men64 schen und damit seine Welt verändere.« Beispiele gegen diese Unterstellung finden sich sowohl auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene. Vom Standpunkt wissenschaftlicher Wahrheit aus betrachtet, wissen wir, welche Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden müssten oder welche Ernährungsweise unserer Gesundheit zuträglich ist. Trotz dieses Wissens handeln wir aber in der Regel so, als ob wir über dieses Wissen nicht verfügen würden. Nicht umsonst wird die für unsere Zeit charakteristische Rationalitätsform als zynische Vernunft charakterisiert. Den antiken Rhetoren war dieser zynische Zustand höchst vertraut. Deutlich wird dies etwa an Demosthenes’ Reden gegen Philipp, die das Athenische Volk immer wieder zum beherzten militärischen Eingreifen gegen den Tyrannen und potentiellen Aggressor aufrufen. Demosthenes kritisiert an Philipp vor allem, dass sich in seiner Person alle Macht konzentriert, »daß er, ein einziger, über alles Herr ist, über öffentliche und geheime Angelegenheiten, und daß er zugleich Heerführer, unumschränkter Monarch und Finanzverwalter ist« (Dem. Erste Olynthische Rede I, 4). Der eigentliche Skandal besteht für Demosthenes allerdings weder in Philipps Machtfülle noch in seinen expansiven Absichten. Auch nicht darin, dass die Athener Bürger diese Absichten nicht erkennen würden. Im Gegenteil. In Athen ist man sich der Gefahr bewusst, schätzt die Lage richtig ein. Doch aus Trägheit und Kriegsangst handelt das Volk nicht. Das richtige Wissen – Philipp hat den aggressiven Charakter seiner Politik durch die Eroberung
63 Gert Ueding, Klassische Rhetorik, München 32000, 75. 64 A.a.O., 79/80.
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anderer Stadtstaaten deutlich gezeigt – führt nämlich gerade nicht automatisch auch zum diesem Wissen angemessenen Tun. Es muss noch etwas zum Wissen hinzutreten.65 Diesem Hinzutretenden, einem eher emotionalen als rationalen Movens, nimmt sich der Redner an. Er versucht, die wahre Sache zu einer Sache des Handelns zu machen, zu einer Sache, die dann nicht an sich wahr ist, sondern sich rückwirkend vom erfolgreichen Handeln her als wahr erweist. Die Philosophie suggeriert demgegenüber nur allzu häufig, dass aus dem wahren Wissen notwendig das richtige Handeln folgt, dass alles Handeln mit anderen Worten in einem wahren Wissen verankert werden müsse. Für Demosthenes würde dagegen erst der erfolgreiche Widerstand gegen Philipp retroaktiv die Deutung der Situation verifizieren. Worte machen für Demosthenes nur dann Sinn, wenn ihnen Taten folgen. Sie sind nicht Abbild von etwas, sondern Vorbilder für und Bewirker von Taten: »Alle Reden erscheinen, wenn die Taten fehlen, als etwas Nich66 tiges und Grundloses« (Dem. Zweite Olynthische Rede II 12). Demosthenes sieht sich genötigt, immer wieder auf diesen Punkt hinzuweisen, weil die antimakedonischen Argumente die öffentlichen Debatten in Athen beherrschen, aus ihnen aber keine Konsequenzen gezogen werden. Die meisten Bewohner sind sich darin einig, in Philipp eine Gefahr zu sehen, doch die Rüstungsanstrengungen bleiben zu zögerlich. Beraten, Reden und Handeln (bouleúesjai kaì tò légein kaì tò práttein, Dem. Zweite Olynthische Rede II, 30) bilden für Demosthenes eine Einheit. Das Reden verweist hier auf zwei es flankierende Dimensionen: das öffentliche Beratschlagen und das kollektive Handeln. Dem Handeln kommt dabei ein
65 Ähnlich argumentieren Jesus und Paulus in Bezug auf das Gesetz des Alten Testaments. Es genügt nicht, die Gesetze zu kennen und das Leben blind an ihnen auszurichten. Es muss noch etwas hinzukommen, ein prädiskursiver, ihren Geist erst erfüllender Überschuss, ein pl®roma (Matt 5, 17), das von Paulus als Gnadengabe (cárisma, Röm 3, 21ff., Röm 5, 15ff. – dem hier zugrundeliegenden Substantiv cáriV werden wir in Kapitel 5.2 als rhetorischem Grundbegriff wiederbegegnen), von Jesus als Liebe charakterisiert wird. 66 Hegel sollte in bezug auf die griechischen Rhetoren schreiben: »Reden aber sind Handlungen unter Menschen, und zwar sehr wesentlich wirksame Handlungen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen übder die Philosophie der Geschichte [1837], in: ders., Werke, a.a.O., Bd. 12, 13.
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Primat zu: »Denn das Handeln, das in der zeitlichen Folge nach dem Reden und Abstimmen kommt, steht an Bedeutung voran und ist ausschlaggebender.« (Dem. Dritte Olynthische Rede III, 15) Die Verdrängung der Rhetorik aus der Philosophie gelingt nie vollständig. Philosophie und Rhetorik bleiben in einem kritischen Dialog. Innerhalb der Philosophie selbst kommt es immer wieder zu einem Eingedenken ihrer eigenen Rhetorizität, so etwa im Renaissance-Humanismus und in der deutschen Frühromantik. Auch die Entstehung der philosophischen Ästhetik, die dem Wahrähnlichen und Wahrscheinlichen im 18. Jahrhundert gegenüber der Wahrheit ein neues Recht einräumt, ließe sich als eine Wiederentdeckung der Rhetorik innerhalb der Philosophie begreifen. Die Ästhetik rehabilitiert mit dem eÎkóV, dem Wahrähnlichen und Wahrscheinlichen67, eine genuin rhetorische Denkform. Die Rhetorik selbst ist auf diese Wiederaneignungen angewiesen. Eine rhetorische Vernunft lässt sich nicht hypostasieren. Sie entfaltet ihr argumentatives Potential erst in der kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophie. Es kann hier also nicht darum gehen, der Philosophie im Namen der Rhetorik den Prozess zu machen. Eine Verteidigung der Rhetorik, die von mir durchaus beabsichtigt ist, soll nicht zu ihrem Sieg über die Philosophie führen. Ein solcher Sieg wäre eine Niederlage. Außerdem kann ich hier nicht vom Boden der Rhetorik selbst aus über die Rhetorik schreiben. Meine eigene Auseinandersetzung bleibt eine philosophische. Sie ist, auch dann, wenn sie das Projekt der Theorie immer wieder in Frage stellt, auf einer theoretischen Ebene angesiedelt. Wie sieht nun die implizite Theorie des lógoV der antiken Rhetorik näher aus? Worin unterscheidet sich der rhetorische vom philosophischen lógoV? Trotz aller gebotenen Vorsicht – ein Versuch der Rekonstruktion antiken Sprachdenkens schwebt immer in der Gefahr des Anachronismus: Bereits unser heutiger Begriff von Sprache scheint dem antiken Denken ja nicht wirklich angemessen zu sein – möchte ich nun die Hauptcharakteristika des rhetorischen Sprachdenkens angeben. Ich unterscheide dabei zunächst vier Punkte: den Akosmismus der Rhetorik, der den lógoV auf die Abwesenheit einer kosmischen Ordnung bezieht (2.3), die Medialität des
67 »Ist es denn nicht so, daß die Rhetorik gar nicht durchaus den Anspruch erhebt, immer die Wahrheit zu sagen, wohl aber immer das Wahrscheinliche [veri similia]?« (Quint. inst. or. II 17 39).
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lógoV (2.4), die Einheit von Wort und Sache (2.5) sowie die Privilegierung der Wahrscheinlichkeit gegenüber der logischen Wahrheit (2.6).
2.3 R HETORISCHER A KOSMISMUS 68 Die Philosophie Platons bemüht sich darum, menschliche Praxis in einer zeitlosen Ordnung zu verankern, die sich am ehesten als kósmoV beschreiben lässt, als geordnete, in sich geschlossene und harmonische Welt. In dieser lässt sich jeder Sachverhalt sowohl logisch als auch genealogisch auf höchste Prinzipien zurückführen, die Platon »Ideen« nennt. Die Ideen werden wiederum von einem Gott stabilisiert, der in einer kosmologischen Synthesis die Einheit des Weltganzen garantiert. Der »Gott ist einfach und wahr und verwandelt sich weder selbst noch hintergeht er andere«; er offenbart sich »weder in Erscheinungen noch in Reden« (Plat. Pol. II 382e), sondern bleibt ganz bei sich. Er gibt allenfalls seine Identität an die Ideen und die diesen Ideen entsprechende Welt im Rahmen einer Emanation weiter, wobei sich diese Identität in den äußeren, materiellen Regionen der Welt nach und nach abschwächt. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, diese Bewegung umzukehren und alles periphere Sein wieder auf die Identität des Zentrums zurückzuführen. Unser klassizistisch-schöngeistiges Griechenland-Ideal, das sich etwa in Winckelmanns Rede von »edler Einfalt und stiller Größe« als Charakteristikum der griechischen Kunst ausdrückt, ist nach wie vor stark vom kósmoV-Gedanken der Platonischen Tradition geprägt. Als differentia specifica zwischen Antike und Moderne wird dabei immer wieder auf die kosmologische Geschlossenheit des antiken und auf die akosmistische Offenheit des modernen Weltbildes hingewiesen. Blickt man weniger auf die Philosophie als auf die Rhetorik, dann zeigt sich, dass auch die Antike mit einem akosmistischen Denken69 vertraut war.
68 In stark gekürzter Form finden sich die Gedanken dieses Abschnitts bereits in meinem Aufsatz »Rhetorical Acosmism and radical democracy« (2005), Onlineveröffentlichung unter: http://www.rpe.ugent.be/Hetzel_paper.pdf 69 Mit der Unterscheidung zwischen einem kosmistischen und einem akosmistischen Denken folge ich Alain Badiou. Der Diskurs der griechischen Philosophie ist für Badiou »kosmisch, denn er verortet das Subjekt in der Vernunft einer natür-
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Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet ein Philosoph, der wieder affirmativ an die antike rhetorische Tradition anknüpft, diesen akosmistischen Zug in der Kultur des klassischen Griechenland freigelegt hat: Friedrich Nietzsche. In seinem Frühwerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik sieht Nietzsche die Kultur des klassischen Griechenland durch zwei polare Prinzipien strukturiert, ein apollinisches und ein dionysisches. Während Apollon eher als Gott des Kosmos gelten kann, als Gott der Ordnung, der Umfriedung und der geschlossenen Form, verkörpert Dionysos eine chaotisch-meontische Kraft. Er wird als Gott der Überschreitung, Entsetzung und Öffnung verehrt. Wie zweifelhaft Nietzsches Lektüren aus philologischer Sicht auch immer sein mögen: Sein Grundgedanke, dass die klassisch-griechische Kultur sich nicht auf einen Kosmismus reduzieren lässt, kann kaum bestritten werden. Explizit formuliert wird die akosmistische Position der Rhetorik in einem der frühesten überlieferten Dokumente rhetorischen Denkens, in der Rede des Gorgias über das Nichtsein, auf die sich sowohl sein Ruhm als auch sein zwielichtiger Ruf70 gründen. Diese Rede wurde seit der Antike immer wieder71 (eine wichtige Ausnahme bildet Hegel72) als Beleg für die Absurdität rhetorischer Musterreden gedeutet. Gorgias führe hier die Kraft
lichen Totalität.« (Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, übers. v. Heinz Jatho, München 2002, 79). Als »akosmisch« (a.a.O., 81) bezeichnet Badiou demgegenüber das Denken eines Ereignisses, das etablierte Ordnungen entsetzt. 70 Stellvertretend für viele Urteile über Gorgias sei hier nur dasjenige von Wilhelm Dilthey angeführt, der die Rede über das Nichtsein als eine »nihilistische Brandschrift« disqualifiziert, die »den äußersten Punkt bezeichnet, zu welchem eine gehaltlose Skepsis fortging« (Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Bernhard Groethuysen u.a., Leipzig 1914, 176). 71 So noch bei Gert Ueding, Klassische Rhetorik, a.a.O., 25, und bei Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 67-69. Robert Wardy (The Birth of Rhetoric, a.a.O., S.6-24) vertritt demgegenüber die These, dass die Frage danach, ob die Rede als philosophischer Text ernst genommen werden wolle, nicht entscheidbar sei, dass aber gerade diese Nichtentscheidbarkeit ihr zentraler Gehalt sei. 72 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke, a.a.O., Bd. 18., 433-440.
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der Rede, so lautet eine gängige Interpretation, dadurch vor, dass er bewusst für eine hochgradig kontraintuitive Position argumentiere. Gegenüber diesen Deutungen möchte ich auf einer gewissen Ernsthaftigkeit des Textes bestehen, die etwa darin zum Ausdruck kommt, dass er von Sextus Empiricus überliefert wird, dem es nicht um rhetorische Musterreden, sondern um skeptische Argumente zu tun ist. Die Rede über das Nichtsein verleiht einem Gedanken Ausdruck, der für die gesamte rhetorische Tradition maßgeblich werden sollte: Der lógoV vermag sich nicht durch einen Rekurs auf eine letzte, ihm vorgängige Weltordnung zu begründen und zu legitimieren, sondern nur aus seinem Vollzug. Die Rede über das Nichtsein soll hier insofern nicht als heimliche Metaphysik oder Fundamentalontologie der Rhetorik begriffen werden. Die Rhetorik ruht auf keinem theoretischen Fundament, sondern auf einem praktisch-politischen, welches das Bildfeld einer Fundamentierung nicht zulässt. Gleichwohl zieht sich ausgehend von der Schrift des Gorgias ein akosmistischer Geist durch die rhetorische Tradition, und sei es nur in Form einer Skepsis gegenüber begründungslogischen Fragen: »Rhetorik ist«, so Markus H. Wörner, »nicht dazu da, die Fundierung ihrer eigenen Voraussetzungen zu betreiben«73. Olympiodor (vgl. Gorgias IX) datiert die Rede über das Nichtsein auf die Jahre 444-441 v. Chr.; sie fällt damit etwa in die Akme, die Lebensmitte, des Rhetors. Überliefert ist der Text in zwei Fassungen oder besser: in Form von zwei Paraphrasen, die beide leider eher die Resultate als den Gang der Argumentation selbst wiedergeben; ich gehe im Folgenden in erster Linie von der ausführlicheren Paraphrase aus, die Sextus Empiricus im siebten Buch seines Hauptwerks Adversus mathematicos liefert.74 Zwischen dieser Paraphrase und dem Zeitpunkt der Niederschrift der Rede klafft eine Lücke von etwa sechs Jahrhunderten. Sextus, einer der wichtigsten Vertreter der antiken Skepsis, richtet sich in seinem Werk gegen Mathematiker und dogmatische Philosophen, die an eine objektive Erkenntnis und an die Möglichkeit apodiktischer Schlussfolgerungen glauben. Nachdem er andere Sophisten wie Protagoras als Vertreter eines Relativismus diskutiert hat, wendet er sich dem Gorgias zu, den er als »Referenz für jene« anführt, »die
73 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 55. 74 Vgl. Gorgias, 55-64; die zweite Paraphrase findet sich im Pseudo-Aristotelischen Traktat De Melisso, Xenophane, Gorgia, vgl. Gorgias, 41-54.
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das krit®rion aufheben« (Sext. Adv. math. VII 65). Was mit dem krit®rion gemeint ist, wird am Ende des Textes deutlich; dort heißt es rückblickend: »Das sind nun bei Gorgias die Aporien: da verschwindet das kriterion der Wahrheit [ÂlhjeíaV krit®rion].« (Sext. Adv. math. VII 87) Gorgias wird neben anderen Sophisten als Kronzeuge für die Unhaltbarkeit einer korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit zitiert. Sextus nennt zunächst den Titel der Schrift, Perì toû m ÓntoV Ë Perì fúsewV (Über das Nichtsein oder über das Physische, Sext. Adv. math. VII 65). Mit dem Nichtsein hat es bereits auf der lexikalischen Ebene seine eigene Bewandtnis. Parmenides, auf dessen um 500 v. Chr. erschienenes Lehrgedicht Gorgias Bezug nehmen dürfte, unterscheidet sprachlich zwei Modi der Negativität: das oük ]ón und das m ]ón. Während das oük ]ón als einfache Negation begriffen werden kann, als Aussage, dass etwas Bestimmtes innerhalb einer vorgegebenen Ordnung nicht ist, steht das m ]ón für ein Nichtsein schlechthin, welches jede Ordnung bedroht. Für Parmenides gilt das m ]ón als Inbegriff des Nichtseinsollenden, all dessen also, was das Sein in seiner Identität, Vollkommenheit und Zeitlosigkeit (in den Worten von Klaus Heinrich: »das unveränderliche Sein: kugelförmig, 76 in festen Grenzen« ) bedroht: als Zeit, Differenz, Mannigfaltigkeit, Mangel, Meinung und, so ließe sich im Vorblick auf Aristoteles vermuten, als prâxiV, als Bereich der Kontingenz und des Andersseinkönnens.77 Parmenides stellt das normativ ausgezeichnete Sein in das Zentrum sowohl der
75 Die Übersetzung schließt sich hier wie im Folgenden Thomas Schirren und Thomas Zinsmeier (Hg.), Die Sophisten, Stuttgart 2003, 63-73, an, weicht aber in einzelnen Fällen von dieser Ausgabe ab. 76 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Basel/Frankfurt /M. 21985, 15. 77 Auf eine Verbindung des Nichtseins mit Praxis im antiken Denken verweist John Dewey: Das »praktische Handeln [...] befaßte sich mit einer niederen Region des Seins, in welcher der Wandel herrscht und die deshalb Sein nur ehrenhalber genannt werden kann, denn sie zeigt durch eben diese Tatsache des Wandels einen Mangel an einer sicheren Grundlage an. Sie ist mit Nicht-Sein infiziert.« (John Dewey, Die Suche nach Gewißheit, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 1998 [1929], 22) – Dewey war mit den erhaltenen Reden des Gorgias vertraut; vgl. dazu seinen Artikel »Nihilism« in: Dictionary of Philosophy and Psychology, hrsg. v. James Mark Baldwin, New York 1902, 177.
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Philosophie als auch des kósmoV, die sich wechselseitig spiegeln. Die Korrespondenz beider Ordnungen wird durch die Göttin Dike garantiert, die, so das Proömium, dem Philosophen das Lehrgedicht diktiert (vgl. DK 28 B1). Philosophie legt Zeugnis von einem Sein ab, das »aus einem Glied und unbeweglich und nicht entstanden« (DK 28 A 34, B 10) ist. Die philosophische Erkenntnis (nóhsiV) hebt sich dadurch von der alltäglichen Meinung (dóxa) ab, dass sie auf dieses ewige, vollkommene, mit sich identische Sein bezogen bleibt, welches sich dadurch auszeichnet, »daß es ist und daß nicht ist, daß es nicht ist« (DK 28 B 2). Platon folgt Parmenides in dieser Deutung des Nichtseins als eines Nichtseinsollenden. Sokrates fragt in der Politeia: »Wie könnte etwas, was ja nicht ist [m ]ón] erkannt werden?« (Plat. Pol. V 477a). Das an den noÿV gebundene Erkennen wird an gleicher Stelle von der dóxa abgehoben, der bloßen Meinung, die am Nichtsein partizipiert. Der noÿV richtet sich demgegenüber auf das (parmenideisch interpretierte) Sein; Sokrates behauptet, »dass das vollkommen Seiende auch vollkommen erkennbar ist« (Plat. Pol. V 477a); Sein und Erkennen verstärken sich für ihn wechselseitig. Der Begriff des Nichtseins enthalte dagegen eine Denkunmöglichkeit. Während sich der noÿV auf das Sein richtet, »ist das Nichtseiende [m ]ón] ja auch vorzustellen unmöglich« (Plat. Pol. V 478b). Die Philosophie habe also »das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende« (Plat. Pol. VI 78 484b) zu ihrem Anliegen zu machen. Bereits im Titel der Rede des Gorgias, die sich explizit dem von Parmenides mit einem Bannfluch belegten und für unmöglich erklärten m ]ón annimmt, kündigt sich eine Umwertung der von der Philosophie beanspruchten Werte an. Gorgias bezieht Partei für genau das Prinzip, das die Philosophie im Moment ihrer Geburt verwirft; für eine Negativität, die das Sein daran hindert, sich in seiner Vollkommenheit abzuschließen. Nach Hegel besteht die Leistung des Gorgias im »Aufzeigen des Nichtansich-
78 In seinem Dialog Sophistes mildert Platon sein Verdikt gegenüber dem Nichtsein ab und erkennt seine Notwendigkeit für die Erklärung von Bewegung und Veränderung an. Er reduziert das Nichtsein hier allerdings auf ein Verschiedensein, das immer noch als Modus des einen Seins gilt: »Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.« (Plat. Soph. 257b)
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seins des Seins« ; Vollkommenheit kann nicht ohne Mangel gedacht werden, Ewigkeit nicht ohne Zeit, Identität nicht ohne Differenz. Gorgias rehabilitiert das m ]ón gegenüber seiner Verurteilung durch Parmenides und zeigt, dass jedes Sein von einem Nichtsein daran gehindert wird, sich zu totalisieren. Nach der Erwähnung des Titels der Rede des Gorgias stellt Sextus die drei zentralen Thesen vor: Gorgias »etabliert drei Punkte der Reihe nach: 1) daß nichts ist; 2) daß, wenn es ist, es dem Menschen nicht erfaßbar ist; 3) daß, wenn es erfaßbar ist, man es wenigstens nicht aussprechen und den Mitmenschen mitteilen könnte.« (vgl. Sext. Adv. math. VII 65) Diese drei Thesen werden nun im Folgenden der Reihe nach referiert. Die erste These, »daß nichts ist«, könne sich auf drei mögliche Gegenstandsbereiche beziehen: das Seiende, das Nichtseiende oder etwas, das sowohl seiend als auch nichtseiend ist. Gorgias beginnt mit dem Evidentesten, dem Nichtseienden: »Das Nichtseiende [m ]ón] ist nicht [o]uk Éstin]« (Sext. Adv. math. VII 67), denn sein Nichtsein liegt bereits in seinem Begriff beschlossen. Würde es sein, dann bestünde die aporetische Möglichkeit, das etwas »zugleich sein und nicht sein« (Sext. Adv. math. VII 67) könnte, eine Möglichkeit, die 80 aus logischen Gründen ausgeschlossen werden muss: »Insofern man nämlich das Nichtseiende denkt [noeîtai], wird es nicht sein, insofern aber das Nichtseiende ist, wird es wiederum sein [Ésti]. Schlechterdings ist es aber ungereimt, dass etwas zugleich ist und nicht ist.« (Sext. Adv. math. VII 67) Bemerkenswert ist an dieser Stelle die Entgegensetzung von Sein und Denken, die im weiteren Verlauf noch mehrfach wiederholt wird, so auch im Zusammenhang des Erweises des Nichtseins des Seienden: »Wenn nämlich das Gedachte [fronoúmena], sagt Gorgias, nichts Seiendes ist [oük Éstin Ónta], wird das Seiende nicht gedacht [froneîtai].« (Sext. Adv. math. VII 77) Und etwas weiter: »Die gedachten Dinge [...] sind keine seienden Dinge.« (Sext. Adv. math. VII, 78). Mit dieser Unterscheidung von
79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., 435. 80 Gorgias bezieht sich immer wieder auf logische Gesetze. Er betont, dass seine gesamte Argumentation »gemäß der Vernunft«, katà lógon (Sext. Adv. math. VII, 77), verläuft. – Das Nichtseiende kann auch deshalb nicht sein, weil dann, wenn das Nichtseiende wäre, das Seiende nicht sein könnte, was erneut einen logischen Widerspruch enthielte, da dass Seiende per definitionem ist.
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Denken und Sein hebt sich Gorgias von Parmenides ab, für den die Identität von Denken und Sein im Zentrum der Philosophie steht: »Daß man es erkennt, ist dasselbe, wie daß es ist [tò gàr aütò noeîn Êstín te kaì eÏnai]« (DK 28 B 3), lautet eine seiner zentralen Thesen. Das Sein sowohl des Nichtseins als auch des Seins wird für Gorgias demgegenüber immer dann ausgeschlossen, wenn wir es denken. Dem Denken kommt hier eine negative Macht zu. Es ist einerseits das Andere des Seins, andererseits dasjenige, was das Sein daran hindert, sich in sich abzuschließen. Mit der These, dass das Nichtseiende nicht ist, wiederholt Gorgias fast wörtlich die These des Parmenides: »oük Ésti m eÏnai« (DK 28 B 2); er gibt dieser These allerdings eine vollkommen andere Deutung. Während Parmenides das Nichtsein aus dem Kosmos ausschließt, besagt die These vom Nichtsein des Nichtseins bei Gorgias, dass das Nichtsein sich in einer anderen Weise einstellt oder Geltung verschafft als in der eines Seienden. Das Nichtsein gilt ihm als etwas, das alles Seiende überbordet, das im Überborden des Seins aufgeht. Nachdem er die Möglichkeit ausgeschlossen hat, dass das Nichtseiende ist, wendet sich Gorgias dem Seienden zu. Seine Argumentation gegen das 81 Sein des Seienden bedient sich eleatischer Argumentationsmuster. Das Seiende, so Gorgias, könne entweder als etwas Immerwährendes, als etwas Gewordenes oder als etwas aus Immerwährendem und Gewordenem Zusammengesetztes vorgestellt werden (vgl. Sext. Adv. math. VII 68). Würden wir das Sein, wie Parmenides, als immerwährend, ungeworden und statisch begreifen, dann hätte es keinen »Anfang« [Ârc®n]. Das, was ohne Anfang ist, gilt als unbegrenzt [Ápeiron], das Unbegrenzte aber ist, wie Platon später ausführen wird, »jenseits des Seins und des Wesens« (vgl. Plat. Pol. 509b u. 516c; ferner Plat. Phileb. 23c-28a) angesiedelt. Wäre ein unbegrenztes Sein irgendwo in der Welt, so Gorgias, dann »gibt es von die-
81 Eine Nähe zu Zenon von Elea besteht im Stil der Argumentation, nicht dagegen in den Gehalten, für die argumentiert wird. Zenon, ein Schüler des Parmenides, will mit seinen Paradoxa ja gerade für einen ontologischen Monismus und gegen die Möglichkeit von Vielheit und Veränderung argumentieren. Ein Einfluss eleatischer Argumentationsformen auf Gorgias wird durch den bereits erwähnten Pseudo-Aristotelischen Traktat De Melisso, Xenophane, Gorgia nahegelegt, der Gorgias zusammen mit dem Eleaten Melissos von Samos sowie mit Xenophanes von Kolophon, einem Lehrer des Parmenides, diskutiert.
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sem Verschiedenes [...] und so wird das Seiende nicht mehr unbegrenzt sein.« (Sext. Adv. math. VII 69) Das Immerwährende und Unbegrenzte, das von Parmenides als Wesensbestimmung des Seins angeführt wird, widerspricht dem Begriff des Seienden. Eine andere Möglichkeit bestünde nun darin, das Seiende als »geworden [genhtón]« (Sext. Adv. math. VII 68) zu denken. Wenn es geworden ist, kann es wiederum nur aus einem anderen Seienden oder aus einem Nichtseienden entstanden sein. Führen wir es auf ein anderes Seiendes zurück, erklären wir nichts, sondern geraten in einen endlosen Zirkel. Doch auch aus einem Nichtsein kann das Sein nicht hervorgegangen sein, »weil das Erzeugende schuldet, einen Anteil am Anfang zu haben« (Sext. Adv. math. VII 71). Aus Nichts kann mit anderen Worten kein Etwas entstehen. Das parmenideische Sein enthält also eine Denkunmöglichkeit. Es lässt sich weder widerspruchsfrei als ewig und unbegrenzt begreifen, noch auch als bedingt und geworden. Gorgias zieht daraus die sinnkritische Konsequenz, auf den Begriff des Seins zu verzichten. Damit ist nicht, wie häufig unterstellt, die These impliziert, dass nichts existiert. Das, was existiert, kann dagegen nicht als Sonderfall eines parmenideischen – ewigen, unbeweglichen, mit sich identischen – Seins begriffen werden. Wir erinnern uns: Der Titel der Rede lautet nicht Perì toû oük ÓntoV, sondern Perì toû m ÓntoV; Gorgias ist es nicht um die einfache Negation zu tun – im Sinne von: Jemand oder etwas ist nicht da, jemand oder etwas hat nicht die Eigenschaft zu existieren – sondern um die Erschütterung der Idee eines Seins, das all unseren Weltbezügen zugrunde liegt. Vom Problem der Inkonsistenz des Seins geht Gorgias auf das Problem seiner Undenkbarkeit bzw. Unwahrnehmbarkeit über. Selbst wenn es ein Sein gäbe, könnten wir es nicht denken, da Sein und Denken absolut voneinander unterschieden sind. Dieser Unterschied wird insbesondere an der menschlichen Phantasie deutlich, die einen produktiven Überschuss gegenüber jeder Wirklichkeit aufweist: »Wenn nämlich die gedachten Dinge seiend sind, dann sind alle gedachten Dinge, und das, wie auch immer einer sie denkt. Das leuchtet aber nicht ein. Wenn sich einer einen fliegenden Menschen denkt oder einen auf dem Meere fahrenden Wagen, fliegt doch nicht gleich ein Mensch oder fährt ein Wagen auf dem Meer. Daher sind die gedachten Dinge nicht seiend.« (Sext. Adv. math. VII 79) Auch »Skylla« und »Chimeira« – hier gibt sich Gorgias mythenkritisch – können problemlos gedacht werden, existieren damit aber längst noch nicht wirklich
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(Sext. Adv. math. VII 80). Umgekehrt können wir vieles denken, was nicht ist. Unser Denken scheint sich gerade durch diese Kraft auszuzeichnen, über das Seiende hinauszugehen und es immer wieder auch zu negieren. Es ist darin wesentlich der produktiven Einbildungskraft verbunden. Gorgias erwähnt die fantasía nicht, ähnelt ihr das negativistische Denken allerdings stark an. Um die Unterschiedenheit von Denken und Sein weiter zu unterstreichen, bedient sich der Sophist eines doppelten Vergleichs. Er weist zunächst darauf hin, dass das Sichtbare nicht gehört und das Hörbare nicht gesehen werden kann (Sext. Adv. math. VII 81). Die durch die einzelnen Sinne erschlossenen Welten lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie existieren unabhängig voneinander. Den Menschen, den wir sehen, müssen wir, um uns seiner Existenz zu versichern, nicht zugleich auch hören, genauso wie wir den Menschen, dessen Stimme wir vernehmen, nicht zugleich sehen müssen. So wie sich die Sinnesmodalitäten zueinander verhalten, verhält sich nun auch das Denken zu den Sinnen insgesamt: Die »gedachten Dinge« werden »sein, auch wenn sie nicht gesehen werden mit dem Gesichtssinn noch gehört mit dem Gehör« (Sext. Adv. math. VII 81). Ihnen kommt eine Geltung ganz eigener Art zu, sie haben ein »eigenes kriterion [oÎkeîon krit®rion]« (vgl. Sext. Adv. math. VII 81). Das Denken steht mithin für eine eigene Welt, die sich nicht mit der des Seins deckt. Paradox formuliert: Das Denken ist, ohne zu sein. Es befreit sich im Werk des Gorgias aus seiner parmenideischen Identifizierung mit dem Sein. Dass die »gedachten Dinge« mit einem »eigenen kriterion« einhergehen, bedeutet nichts anderes, als dass sich Gedanken, wie von Husserl in seiner Psychologismuskritik gezeigt, immer nur aus anderen Gedanken motivieren. Sein und Denken fügen sich nicht zu einem kósmoV, sondern sind durch einen absoluten Unterschied getrennt. Der dritte Teil der Schrift befasst sich nun mit der Nicht-Mitteilbarkeit des Seins. Auch hier sollten wir nicht vorschnell davon ausgehen, dass Gorgias, wie häufig unterstellt, eine prinzipielle Unmöglichkeit der Kommunikation postuliert. Gorgias erläutert den betreffenden Punkt wie folgt: »Womit wir nämlich etwas anzeigen, ist die Rede. Die Rede ist aber nicht das Zugrundeliegende und Seiende [lógoV dè oük Ésti tà äupokeímena kaì Ónta]. Also zeigen wir nicht das Seiende unseren Mitmenschen an, sondern eine Rede [lógon], die etwas anderes ist als das Zugrundeliegende.« (Sext. Adv. math. VII 84) Dieses Argument ist so einfach wie beste-
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chend. Wenn wir sprechen, sagen wir nie das Seiende selbst aus, sondern immer nur Worte. Wenn wir sprechen, so heißt es im Pseudo-Aristotelischen Traktat De Melisso, Xenophane, Gorgia, sprechen wir: légei äo légwn (Gorgias 50). Ein Seiendes ließe sich als Seiendes prinzipiell nicht sagen.82 Auch die Worte bilden eine eigene Welt, die auf ein eigenes kriterion verweist. Jeder Versuch, das Seiende selbst zu sagen, würde wiederum nur neue Worte produzieren, die uns immer weiter von der Präsenz dieses Seienden entfernen. Das Seiende erscheint Gorgias in letzter Konsequenz als ein Effekt der Worte: Die Rede »setzt sich aus den von außen auf uns zufallenden Dingen, d.i. aus dem Wahrnehmbaren, zusammen. Aufgrund des Kontaktes mit dem Saft entsteht in uns die diese Qualität behauptende Rede, und aus dem Widerfahrnis der Farbe die die Farbe behauptende Rede. Wenn aber das der Fall ist, ist die Rede nicht Darstellung des Äußeren, sondern das Äußere wird zur Darstellung der Rede.« (Sext. Adv. math. VII 85) Nicht die Worte bezeichnen die Dinge, sondern die Dinge bezeichnen die Worte und werden somit selbst zu Zeichen. »Gorgias stellt [...] tatsächlich die gesamte repräsentationalistische Deutung von Sprache und Welt in Frage.«83 Das Sein entzieht sich hinter dem Horizont der lógoi, die selbst zum einzig möglichen, aber niemals geschlossenen kósmoV werden. Wir haben keine Möglichkeit, unsere Sprache in einer vorgängigen Ordnung des Seins zu verankern. Außerhalb der Rede gibt es buchstäblich nichts: »Niemand kann mir mitteilen, was er mit seinen Mitteilungen meint – wenn ich ihn nicht sowieso schon verstehe.«84 Die Rede ist insofern auch nicht in gleichem Sinne gegeben, wie das Seiende (Ónta) oder Vorliegende (äypokeímena) der Philosophie und des Common Sense: »Und gewiß kann man auch nicht sagen, daß die Rede in der Weise vorliegt wie das Sichtbare und Hörbare, so daß aus ihr, als vorliegend und seiend, das Vorliegende und Seiende bedeutet werden könnte. Denn auch wenn die Rede vorliegt [...], unterscheidet sie sich vom übrigen Vorliegenden« (Sext. Adv. math. VII 86). Die Rede liegt deshalb nicht vor, weil wir immer schon in der Rede
82 In den Worten von Kurt Röttgers: »Der sophistische Diskurs sagt, was er sagt, der antisophistische Diskurs dagegen möchte ›die Dinge‹ sagen.« Kurt Röttgers, »Der Sophist«, a.a.O., 150. 83 Bernhard Taureck, Die Sophisten, Wiesbaden 2005, 94. 84 Michael Emsbach, »Pragmatisches Denken in der griechischen Sophistik«, a.a.O., 91.
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sind, sie ist kein Objekt, kein Gegenstand. Die Rede über das Nichtsein dient also nicht zuletzt der Befreiung des lógoV, der Freisetzung der Rede aus einer determinierten Ordnung des Seins.85 Die Rede ist nur dort möglich, wo der Kosmos nicht geschlossen ist, oder umgekehrt: Wo immer jemand die Stimme erhebt, verliert der Kosmos seine Konsistenz. Unterstützung erfährt Gorgias’ These vom Nichtsein der Rede durch ein Argument, das Sextus an einer anderen Stelle vorträgt: »Wenn das Zeichen aber weder sinnlich wahrnehmbar ist [...] noch intelligibel [...] und wenn daneben keine dritte Möglichkeit besteht, dann ist zu sagen, daß es kein Zeichen gibt.« (FDS 529) Über die Lekta, die Aussagen, sagt Sextus ferner: »Wie ist es möglich, die Existenz der Lekta zu beweisen? Dies wird man nämlich entweder durch ein Zeichen oder durch einen Beweis tun müssen. Man kann es aber weder durch ein Zeichen noch durch einen Beweis tun. Diese sind nämlich selbst Lekta; daher stehen sie ähnlich wie die anderen Lekta zur Diskussion.« (FDS 704) Jeder Versuch, eine Art vorsprachlicher Existenz der Sprache zu beweisen, würde bereits Sprache voraussetzen, nur im Medium der Sprache vollzogen werden können, und sich somit potentiell selbst dementieren. Zwischen den Positionen des Gorgias und des Sextus besteht allerdings auch eine Differenz. Sextus argumentiert als Erkenntnistheoretiker. Für ihn führt die Aporie, die er aufzeigt, in die stoische Urteilsenthaltung. Für Gorgias führt die Aporie86 demgegenüber in eine Praxis, die immer grundlos ist. Eine vollständig begründete Praxis wäre eine Denkunmöglichkeit. Sprechen und Handeln haben einen unvollständigen, mangelhaften, gebrochenen Kosmos zur Voraussetzung, einen Kosmos, der der zeitlichen Veränderung unterliegt. Da aus der Perspektive der antiken Rhetorik kein Standpunkt jenseits des lógoV möglich ist, bleibt dieser selbst als Ganzer undurchschaubar und damit ebenfalls unvollständig. Die Rhetorik kann sich zum lógoV nicht wie eine Metasprache87 verhalten. Selbst sprachlich verfasst, erschließt sie das
85 Robert Wardy fasst diese These des Gorgias prägnant zusammen wenn er schreibt: »Logos resists translation.« Robert Wardy, The Birth of Rhetoric, a.a.O., 11. 86 Das Substantiv Âporía bedeutet ursprünglich Mangel. 87 Die Kritik der Möglichkeit einer Metasprache steht auch im Zentrum hermeneutischer und poststrukturalistischer Überlegungen zur Sprache. So behauptet Lacan die »Unmöglichkeit einer Metasprache« (Jacques Lacan, »Subversion des Sub-
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Feld des Sprechens von innen, mit dessen eigenen Mitteln. Sie kann den lógoV nicht in gleicher Weise verobjektivieren wie die Philosophie das Sein verobjektiviert. Im Gegensatz zur Philosophie verankert Rhetorik das menschliche Sprechen und Handeln nicht in den ewigen Gesetzen des Seins, sondern macht die Möglichkeit des Sprechens und Handelns umgekehrt gerade von der Brüchigkeit eines jeden kósmoV abhängig. Sprechen und Handeln gründen in dieser Perspektive buchstäblich im Nichts. Erst vor dem Hintergrund dieser akosmistischen Position ist es Gorgias möglich, die über- und erzeugende Kraft der Rede zu verstehen, einem Projekt, dem er 88 sich in seiner Helena-Rede widmet. Wirksamkeit entfalten kann Rede nur, weil sie nicht festgestellt ist, weil sie eher mit einem Mangel89 als mit einem Sein korrespondiert.90 So wenig die Welt in der Sophistik als kósmoV gedacht werden kann, sowenig gilt ihr der Mensch als Kosmosbewohner; Protagoras spricht von einem ]akósmhtoV ]anjrõpon génoV (Plat. Prot. 321c), von einem unbegabten, unbehausten Geschlecht der Menschen, vom Menschen als Mängelwesen, vom exzentrischen Menschen, der sich nicht über seinen Ort im
jekts und die Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, a.a.O., 192); bei Gadamer ist analog dazu »die letzte Meta-Sprache die Sprache, die in der Lebenswelt jeweils gesprochen wird« (Hans Georg Gadamer, Plato im Dialog, Tübingen 1991, 434). 88 Es ist davon auszugehen, das Gorgias seine Kenntnis der Überzeugungsmittel einerseits seinen praktisch-politischen Erfahrungen verdankt, andererseits aber auch einer genauen Kenntnis der Dichtung seiner Zeit: »Gorgias was the first to study systematically the persuasive factors of language, which had often been used in poetry before; and he introduced them into Greek prose not as occasional imitations of poetical speech, but as part of his rhetorical programme.« (Carl Joachim Classen, »The study of language amongst Socrates’ Contemporaries«, a.a.O., 228). 89 In diesem Sinne schreibt auch Nietzsche: »die wirksamen Schriftsteller beweisen, daß Worte nur Andeutungen sind, daß man nichts vollenden dürfe und daß die Schriftsteller darin Vortheile vor den Malern haben.« (KSA 9, 217) 90 Einen Akosmismus im Namen des m ]ón, der dem Nichtsein eine praktische Wirkungsmöglichkeit entsprechen lässt, formuliert auch Paulus. In 1 Kor 1, 27 heißt es: »Gott hat das Schwache der Welt gewählt, um das Starke zu verwirren, das nicht Seiende [m¸ Ónta], um das Seiende zu zerstören.«
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kósmoV zu stabilisieren vermag, sondern nur partiell über den von ihm selbst geschaffenen kósmoV seiner Rede. Um Slavoj Žižek zu zitieren: »Die Tatsache, daß der Mensch ein ›Sprachwesen‹ ist, bedeutet, daß er sozusagen konstitutiv ›aus der Bahn geraten‹ ist, durch einen irreduziblen Riß, einen strukturellen Mangel an Gleichgewicht gekennzeichnet ist, den das Symbolgebäude in der Folge vergeblich zu beheben versucht.«91 In der Rhetorik an Alexander, die dem bei Gorgias begrifflich entfalteten sophistischen Akosmismus verpflichtet ist, wird ein Bedeutungskonzept angedeutet, das die Bedeutungen der lógoi gerade nicht über ihre Korrespondenz mit dem Sein erläutert, wie es Parmenides nahe legt, sondern über eine Abweichung zwischen beiden Ordnungen. In seiner Behandlung der tekm®ria, der Kennzeichen oder Zeichen, von denen aus wir etwas erkennen, vermuten oder schließen, führt der Autor aus: »Kennzeichen [tekm®rioi] liegen vor, wo etwas gegensätzlich verläuft zu dem, wovon die Rede ist, und worin ein Gedanke sich selber widerspricht.« (Anax. Rhet. 1430a). Signifikant wird ein Seiendes, wenn es von der Rede abweicht, ein Gedanke, wenn er sich widerspricht; das gilt auch für das Verhältnis von Worten und Handlungen: »Viele Kennzeichen wird man bekommen, wenn man aufpasst, ob die Behauptung des Gegners seiner Tat widerspricht oder die Tat seinem Wort zuwiderläuft. Das also sind Kennzeichen und so wird man sie vervielfachen.« (Anax. Rhet. 1430a). Ein Satz sagt erst dann etwas, wenn er nicht einfach ein ihm vorausgehendes Sein abbildet, sondern über dieses Sein hinausgeht, von ihm abweicht. Im Sinne einer semantischen Bedeutungstheorie darf dieses Konzept allerdings nicht gedeutet werden, da es in einem praktischen Kontext, dem der Gerichtsverhandlung, angesiedelt ist. Bedeutsam ist etwas hier nur in Bezug auf seine praktische Relevanz zur Entscheidungsfindung. Diese praktische Relevanz ergibt sich gerade aus den Differenzen von Wort und Sache. Rhetorisch relevant werden Sachverhalte nur dann, wenn sie strittig sind. Etwas kann mit anderen Worten nur dann etwas bedeuten, wenn es noch nicht alles bedeutet, wenn es Fragen offen lässt. Die Macht der Rede erschöpft sich nicht in der Abbildung oder Repräsentation einer vorgängigen, in sich vollständigen Ordnung des Seins. In der Rede manifestiert sich darüber hinaus eine Kraft, dem was nicht ist zum Sein zu verhelfen und das, was ist, zu negieren. Paul Valéry schreibt:
91 Slavoj Žižek, Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 1992, 55.
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»Denn das ist die seltsame Kraft des Menschen – 1) Dem, was nicht ist, die Macht und die Wirkung der Existenz zu geben [...]. 2) Dem, was ist, diesen Zug zu nehmen oder zu verweigern. Im ganzen: das Nichtseiende zu bejahen und das Seiende zu verneinen. Die große Sache des Menschen ist, zu bewirken, daß das, was ist, nicht sei und daß das, was nicht ist, sei.«92 Valéry identifiziert diese Kraft des Negativen mit der Einbildungskraft, die weniger als mentales denn als sprachliches Vermögen zu begreifen wäre. Die weitreichenden Differenzen zwischen den philosophischen Ansätzen Platons und seines Schülers Aristoteles rühren nicht zuletzt daher, dass letzterer den rhetorischen Akosmismus weit stärker in sein Denken integriert. Aristoteles räumt der Rhetorik nicht nur einen eigenen Geltungsbereich und ein eigenes, gegenüber Platon erheblich erweitertes Recht ein, sondern philosophiert insgesamt rhetorikaffiner. Er entwirft vor allem eine im Vergleich zu Parmenides und Platon alternative, wesentlich unmetaphysischere Ontologie. Dies lässt sich an drei Punkten festmachen:93 an der Aufwertung des Werdens (a), an der Aussetzung der für Platon zentralen Unterscheidung von Idee und Erscheinung (b), wie an der Umstellung von einer Ursachenerklärung auf eine konsequentialistische Erklärung (c). (a) Bereits im Rahmen seiner theoretischen Philosophie räumt Aristoteles dem Werden einen zentralen Stellenwert ein, besonders in der Physik, die sich mit der fúsiV als dem Bereich selbsttätigen Werdens und selbsttätiger Veränderung befasst. Für Aristoteles ist es »deutlich, daß die meisten Dinge, von denen man glaubt, sie seien Substanzen, Vermögen [dúnamiV] sind – sowohl die Teile der Tiere [...] als auch Erde und Feuer und Luft« (Arist. Met. VII 16, 1040b 5-8). In der Physik formuliert er eine umfassende Phänomenologie des Werdens und unterscheidet vier Arten der Veränderung: hinsichtlich der Substanz das Werden und Vergehen, hinsichtlich des Ortes die Bewegung, hinsichtlich der Qualität das Anderswerden und schließlich hinsichtlich der Quantität die Zu- und Abnahme. (b) Der Schritt, in dem Aristoteles am weitesten über Platon hinausgeht, besteht in einer Detranszendentalisierung der Ideenlehre. Ideen liegen für ihn nicht mehr als verursachende Prinzipien jenseits der Welt, sondern als Formen in den Dingen. Jonathan Barnes beschreibt diesen Schritt wie folgt:
92 Paul Valéry, Cahiers Bd. I, Paris 1987, 662. 93 Ich folge hier weitgehend Jonathan Barnes, Aristoteles, Stuttgart 1992 [1982], 37ff. und 72ff.
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»Aristoteles nimmt an, dass Weißheit existiert, wenn gewisse Substanzen weiß sind: Platon nimmt im Gegensatz dazu an, dass eine Substanz weiß ist, wenn sie an der Weißheit teilhat. Nach Aristoteles’ Ansicht liegen weiße Dinge der Weißheit voraus, denn die Existenz von Weißheit besteht einfach in dem Umstand, dass es weiße Dinge gibt. Nach Platons Meinung liegt die Weißheit den weißen Dingen voraus.«94 Aristoteles reformuliert den Dualismus von Idee und Erscheinung in den weniger hierachisierten Begriffen von Stoff (äýlh) und Form (morf®). So gilt die Seele in der Philosophie des Aristoteles nicht als ewig und unsterblich und insofern als dem endlichen Körper überlegen, sondern als Verwirklichung des Körpers. Weiter unten werden wir noch sehen, dass die Differenz zwischen Platon, der den Kosmos hierachisiert, und Aristoteles, der ihn enthierarchisiert, auch bedeutsame politische Konsequenzen hat.95 (c) Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Gründervätern der abendländischen Philosophie ergibt sich aus ihrem Umgang mit dem Begriffspaar Ursache und Wirkung: »Platon faßte wissenschaftliche Erkenntnis als Suche nach den Ursachen oder Erklärungen der Dinge auf«96, er dachte ausgehend vom Satz vom Grunde und hypostasierte die Gründe zu Ideen. Aristoteles denkt demgegenüber stärker von den Folgen und Wirkungen her. Als »Erklärung [lógoV] des Dinges« gilt ihm im Rahmen seiner Entelechie-Lehre sein »Um...willen« (Arist. de part. an. 639b 12-21), das, wozu es da ist, seine Funktion oder Wirkung. Dies gilt nicht zuletzt von seinem Begriff der Rhetorik, die von ihrem téloV her bestimmt wird. So wie das Ziel der Medizin in der Heilung der Kranken bestehe, so besteht das Ziel des Rhetors in der Überzeugung (peíjein) (vgl. Arist. EN 1112b 11-15). Im Werk des Aristoteles finden sich aber auch platonische Tendenzen, so etwa in der Auszeichnung des bíoV jewrhtikóV vor dem politischen Leben, im Postulat eines unbewegten Bewegers, der als letzte Ursache und Zentrum allen Seins postuliert wird, wie in der Behauptung eines Vorrangs des Wahren vor dem Wahrscheinlichen (eÎkóV). In der Analytica posteriora führt Aristoteles aus, dass es »keinen Beweis oder Wissen von Vergänglichem« (Arist. An. post. I 8, 75b 22-24) geben könne, dass die menschliche Praxis mithin nicht wahrheitsfähig sei. Diese platonische Tendenz setzt sich
94 Jonathan Barnes, Aristoteles, a.a.O., 73. 95 Vgl. Kapitel 3.1. 96 Jonathan Barnes, Aristoteles, a.a.O., 37.
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nicht nur im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte gegen skeptische und akosmistische Positionen durch, sondern definiert zunehmend Begriff, Praxis und Institutionalisierungsformen der Philosophie. So verpflichten die Stoiker in der Zeit nach Aristoteles die Philosophie auf die Erkenntnis von etwas Unwandelbarem. Clemes Alexandrinus schreibt: »Als Weisheit aber bezeichnen wir die unerschütterliche Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge, eine Erkenntnis, die fest und unveränderlich ist und die das, was ist, ebenso umfasst wie das, was war und was sein wird.« (FDS 7)97
2.4 M EDIALITÄT DES l ógoV, ógoV , AGONALITÄT
DER
lógoi
Die Lehre des rhetorischen Akosmismus, die Gorgias in seiner Rede über das Nichtsein andeutet, besagt vor allem, dass der lógoV nie vollständig auf außerhalb seiner selbst liegende Gründe (Intentionen, Regel, Institutionen…) reduziert werden kann. Das Reden wird damit zu einer Art Medium, in dem sich alles Erfahren, Denken und Handeln vollzieht. Gorgias und Isokrates weisen die Frage nach einem möglichen Außen der Rede, von dem aus sich das Spiel der Reden verobjektivieren und kontrollieren ließe, als sinnlos zurück. Wenn wir im Folgenden im Anschluss an Gorgias und Isokrates von einer Medialität des lógoV sprechen, sollten wir dabei also nicht primär an optische Medien denken, die eine von diesen Medien unabhängi-
97 Ihre generelle Affektfeindschaft führt die Stoiker darüber hinaus dazu, die Rhetorik der Dialektik nachzuordnen. Sie untergliedern die Philosophie in Physik, Ethik und Logik, wobei die Logik wiederum in Rhetorik, Dialektik und Erkenntnistheorie zerfällt. Trotz des der Logik über die Rhetorik eingeräumten Primats hat die Stoa interessante Beiträge zum rhetorischen Sprachdenken geleistet, etwa zur Sprachschöpfungslehre und zur Lehre der Tropen. Vgl. Karl Barwick, Probleme der Stoischen Sprachlehre und Rhetorik, Berlin 1957. – Während Barwick in seiner Untersuchung die Rhetorik noch explizit zum Gegenstand macht, stellen neuere Autoren wie Urs Egli (Zur stoischen Dialektik, Basel 1967) Wolfram Ax (Laut, Stimme und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen 1986) und Karlheinz Hülser (Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker, Stuttgart 1987/1988) die Dialektik in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen und begreifen ihre Kommentare und Editionen stoischer Fragmente als Beiträge zur Geschichte der formalen Logik.
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ge Wirklichkeit erschließen. Im Gegensatz zu einem sich etwa an Fernrohren und Mikroskopen orientierenden Medienbegriff betonen neuere, konstruktivistische Medientheorien seit Hegel vor allem die Supplementarität und Performativität der Medien. Medien vollziehen demgemäss eine vierfache Bewegung: a) Zunächst, und das betonen bereits ältere Konzepte, die Medialität nach dem Vorbild optischer Instrumente deuten, nimmt sich jedes Medium gegenüber dem zu vermittelnden Gehalt selbst zurück. Um etwas zu vermitteln oder eine Kommunikation zu ermöglichen, muss sich das Medium gegenüber dem kommunizierten Gehalt selbst durchstreichen. b) Dasjenige, was das Medium vermittelt, wird zuvor selektiert. Jedes Medium überträgt eine Botschaft, die nur deshalb als Botschaft funktionieren kann, weil das Medium eine signifikante Auswahl aus einem breiten Spektrum möglicher übertragbarer Gehalte trifft. c) Diese Auswahl kann bis zur Aufhebung des zu Übertragenden gehen. Das Medium streicht nicht nur sich selbst durch, sondern tendenziell auch das, was es zu vermitteln vorgibt. Die Vermittlung supplementiert das zu Vermittelnde, es setzt sich an dessen Stelle, übersetzt es in ihre je eigene Sprache. d) Schließlich kann die Bewegung der medialen Vermittlung auch als produktive oder performative Setzung begriffen werden. Medien situieren sich nicht einfach nur als ein Drittes zwischen einem Sender und einem Empfänger, sondern bringen diejenigen Instanzen, zwischen denen sie vermitteln sollen, in diesem Vermittlungsprozess allererst hervor. »Medialität des lógoV« wäre ein möglicher Name für die Unmöglichkeit eines redeexternen Standpunktes. Auf die Rede und die Kommunikation können wir nicht von außen zugreifen, sie nicht zum Gegenstand oder Objekt machen. Der Systemtheoretiker Peter Fuchs bezeichnet Kommunikation vor diesem Hintergrund auch als »Unjekt«98, als etwas, dass sich nie vollständig verobjektivieren lässt. Kommunikation, so Fuchs, hat immer schon angefangen und lässt sich auf keinen externen Ursprung zurückführen. Im Gegensatz zur Philosophie, welche einen redeexternen Punkt abwechselnd als Idee, Gott, Natur oder Subjekt bestimmt, bleibt jede extralinguale Instanz für die Rhetorik auf sprachliche Vermittlung verwiesen. Absolut oder unhintergehbar ist für die rhetorische Tradition nur die Vermitt-
98 Vgl. zu einer Theorie des Unjekts Peter Fuchs, Die Metapher des Systems. Studie zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer unterscheiden lasse, Weilerswist 2001.
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lungsbewegung des lógoV in der konkreten Redesituation selbst. Isokrates postuliert, »daß nichts, was mit Überlegung getan wird, ohne die Sprache geschieht, sondern daß die Sprache allen Handlungen und Gedanken zu Grunde liegt, und daß diejenigen sich [ihrer] am meisten bedienen, welche am meisten Verstand haben. Daher sind diejenigen, welche von denen, die sich mit dem Unterrichte und dem Studium der Beredsamkeit befassen, nachteilig zu reden sich erdreisten, ebenso verabscheuenswert, als die, welche sich an den Tempeln der Götter vergreifen.« (Isocr. or. III 9)99 Die Rede erscheint hier als universales Medium. Sie wird mit den Tempeln der Götter verglichen, nicht mit den Göttern selbst, sondern mit deren Haus oder dem Raum100, der ihr Erscheinen erst ermöglicht. Wie für den späten Heidegger wird die Rede auch für Isokrates als eine Art »Haus des sich fin101 denden Seins« interpretiert. Nur im Haus der Rede findet ein Sein für
99 Cicero wird den hier formulierten Universalitätsanspruch der Rede um einen Universalitätsanspruch der Redekunst erweitern: »Die wahre Redekunst jedoch ist so umfassend, daß sie den Ursprung, die Auswirkung und die Abwandlungen aller Dinge, Tugenden und Pflichten und der gesamten natürlichen Voraussetzungen, auf die sich die Sitten, Sinn und Leben der Menschen gründen, in sich schließt, daß sie zugleich die Sitten, die Gesetze und Rechtsnormen zu beschreiben, den Staat zu lenken und alle Fragen, wozu sie auch gehören mögen, wirkungsvoll und wortreich zu behandeln weiß.« (Cic. de or. III 76) 100 In Gestalt der cõra kennt auch Platon einen solchen medialen Raum, einen Raum, in dem sich die Erscheinungen allererst nach den Ideen richten können und der insofern noch der Dichotomie von Idee und Erscheinung vorausliegt (vgl. Plat. Tim. 48-52). Während Platon, wie Derrida zeigt (vgl. Jacques Derrida, Chora, übers. v. Dieter Gondek, Wien 1990 [1987]), mit der cõra ringt, sie zugleich voraussetzen muss und verleugnen will, definieren die Rhetoriker die öffentlichen lógoi als diesen Raum, der jeder anderen Vermittlung vorausgeht. 101 Vgl. Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus, Bern 1947, 115. – Heidegger steht in seinem Denken der Sprache dem von ihm denunzierten Humanismus, der zu Beginn der Neuzeit an die antike rhetorischen Tradition anknüpft, wesentlich näher, als ihm bewusst war. Vgl. hierzu insbesondere Ernesto Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie. Vorrang des Wortes, Darmstadt 21991, 1ff.
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Isokrates und Heidegger zu sich. Ein Sein ohne Bezug zum Haus der Rede erschiene demgegenüber als sinnlos.102 Isokrates entwickelt eine regelrechte Soziologie menschlicher Rede und antizipiert damit das, was Tobias Nikolaus Klass heute »Rhetorik des Sozialen« nennt (und am Beispiel einer Untersuchung des Versprechens in beeindruckender Weise durchbuchstabiert).103 Isokrates führt alle Formen der Interaktion und Gemeinschaftsbildung auf die Beredsamkeit des Menschen zurück und beschreibt die Welt des Sozialen vollständig als Welt der Rede: »Doch weil wir von Natur aus die Gabe besitzen, einander überreden und uns unsere jeweiligen Wünsche mitteilen zu können, haben wir uns zusammengetan, Poleis gegründet, uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen unseren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu reden geholfen.104 Die Rede nämlich ist es, die Richtlinien gegeben hat für das Gerechte und Ungerechte, für das, was ehrbar und was schändlich ist. Ohne diese Richtlinien könnten wir nicht miteinander leben. Mit unserer Rede nämlich weisen wir die Schlechten zurecht und rühmen die Guten. Mit Hilfe der Rede erziehen wir die Unvernünftigen und zeigen den Verständigen unsere Anerkennung. Denn reden zu können, wie es nötig
102 Später wird Heidegger seine Lehre von der Sprache noch radikalisieren und begibt sich in die Gefahr ihrer schlecht abstrakten Hypostasierung wenn er sagt: »Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht.« (Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 32). Paul de Man verteidigt Heideggers Diktum, dass die Sprache spricht, indem er sie dahingehend liest, dass mit ihr die Sprache der Souveränität des Subjekts entzogen wird. »Wenn wir sagen, die Sprache spreche, das grammatische Subjekt einer Proposition sei eher die Sprache als das Ich, dann machen wir uns nicht einer Anthropomorphisierung der Sprache schuldig, wir grammatisieren vielmehr rigoros das Ich.« (Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 69). 103 Vgl. Tobias Nikolaus Klass, Das Versprechen. Grundzüge einer Rhetorik des Sozialen nach Searle, Hume und Nietzsche, München 2002, 22 u. 386f. 104 Aufgegriffen wird dieses Argument von Quintilian: »Auch würden es ja, glaube ich, weder die Städtegründer zuwege gebracht gaben, daß sich eine ziellose Masse zu Völkern zusammenscharte, hätten sie sich nicht durch die Kunst der Rede packen lassen, noch hätten die Gesetzesfinder es ohne die äußerste Kraft ihrer Rede erreicht, daß sich die Menschen selbst dem Dienst am Recht unterwarfen.« (Quint. inst. or. II 16, 9)
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ist, dies betrachten wir als größtes Zeichen von Vernunft und ein aufrichtiges, gesetzestreues und gerechtes Wort ist das Abbild einer guten und vertrauenswürdigen Seele.« (Isocr. or. XV 254/255; vgl. auch III 5-9) Das Soziale ist für Isokrates durch und durch von der Rede strukturiert, die es zu einem Öffentlichen werden lässt. Der Privatmann, der sich nicht um öffentliche Belange kümmert, wird in der Polis mit einem Substantiv belegt, aus dem sich das deutsche Wort Idiot ableitet: ]idiõthV, wörtlich übersetzt: derjenige, der für sich allein ist, der sich nur ums Eigene kümmert.105 Die unpolitische Existenzform des ]idiõthV galt in der Polis als verwerflich. Insbesondere die Philosophen, die sich der Schau einer überzeitlichen Wahrheit widmeten und die politische Existenzform ganz explizit dem theoretischen Leben unterordneten, zogen den Verdacht auf sich, dem politischen Gemeinwesen zu schaden. Der Philosoph, der sich auf letzte, überzeitliche Gewissheiten beruft, unterbricht das Gespräch, welches die Polis ist, und versucht es zugleich zu hegemonisieren. Die Macht und der Stellenwert des lógoV innerhalb der klassischen griechischen Kultur kündigt sich in einer seiner Übersetzungsmöglichkeiten an, auf die wir bereits verwiesen haben: LógoV kann auch für das Schicksal stehen, für das, was die Römer fatum nennen werden. Der lógoV umfasst dann alle Sätze, die über einen Menschen gesagt und geschrieben wurden, »die Legende, die über einen Menschen die Runde macht, die seiner Geburt 106 vorausgeht und seinen Tod überlebt.« Nach dieser Auffassung des lógoV gehen uns die einzelnen lógoi immer schon voraus und präformieren unseren Charakter. Was über uns gesagt wurde und gesagt wird, bleibt uns nicht äußerlich. Es konstituiert uns aus der Perspektive der Rhetoren in einem performativen Sinn. Ijselling führt im Anschluss an Ramnoux aus: »Der lógoV des Menschen ist in erster Linie das Orakel, das über einen Menschen gesprochen ist. Es konkretisiert sich im Namen, den sich der Mensch niemals selbst gibt, sondern der ihm gegeben wird. Dieser Name ist all das,
105 »Das bereits im Griechischen diskriminierend gemeinte, aber nicht auf Geisteskrankheit, sondern auf die gesellschaftliche Stellung bestimmter Personen bezogenen Wort ›Idiot‹, bezeichnet den Privatmann, den einzelnen, der an den Staatsgeschäften der Öffentlichkeit nicht beteiligt ist.« Oskar Negt, Artikel »Öffentlichkeit«, in: W. Mickel (Hg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986. 106 Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung, a.a.O., 25.
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107 was über den Menschen erzählt wird.« Dem lógoV selbst ist also eine irreduzible Performativität eingeschrieben, er ruft uns immer schon an. Die Geschichte des einzelnen Menschen steht ganz im lógoV. Auch sein Denken wird, so etwa von Isokrates, in den Horizont der Rede gestellt. »Mit Hilfe der Sprache diskutieren wir miteinander, worüber wir im Zweifel sind, und erforschen, was wir noch nicht kennen. Denn bei unseren eigenen Überlegungen bedienen wir uns der gleichen Argumente, mit denen wir im Gespräch die anderen zu überzeugen suchen.« (Isocr. or. XV 256/257) Denken erscheint hier als internalisierte Kommunikation, das innere Selbstgespräch als Reflex des realen Gespräches auf der Âgorá. Noch deutlicher drückt Quintilian diese Abhängigkeit allen Denkens vom Sprechen aus: Das »Überdenken [exercitatio cogitandi]« wird von Quintilian als »Reden in seinem Inneren [quasi dictat intra ipsum]« charakterisiert (Quint. inst. or. X 7, 25). Quintilian antizipiert hier den symbolischen Interaktionismus Georg Herbert Meads, welcher Denken ebenfalls als internali108 siertes Sprechen begreift. Das »äußere« Gespräch wird von Isokrates als Voraussetzung des »inneren« Gesprächs der Gedanken begriffen. Die Verwiesenheit auf seine mögliche Äußerung ist dem Gedanken aus rhetorischer Sicht wesentlich: »Denn wenn des Menschen Zier der Geist [ingenium] ist, so ist das Licht des Geistes die Beredsamkeit [eloquentia est lumen ingeni].« (vgl. Cic. Brut. 59) Vor dem Hintergrund eines sich im Grundgedanken der Medialität des lógoV abzeichnenden Universalitätsanspruchs der Rede (der später von Gadamer explizit behauptet wird109), ist die berühmte, sowohl dem Korax als auch dem Protagoras zugeschriebene Sentenz zu verstehen, dass die Rhetorik die schwache Position stark und die starke Position schwach machen könne (vgl. Arist. Rhet. II 24, 1402a, 23). Diese Aussage wäre nicht so zu interpretieren, dass eine eigentlich schwache Position durch den Rhe-
107 A.a.O., 36. – Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, das Walter Benjamin im Namen ein Residuum der performativen, von ihm als »magisch« bezeichneten Kraft der Sprache erblicken konnte. Vgl. Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: ders., Gesammelte Schriften II-1, Frankfurt/M. 1980, 140-157. 108 Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 [1934]. 109 Hans Georg Gadamer, »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik«, a.a.O., 63.
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tor nachträglich stark gemacht wird – so lautet der herkömmliche Vorwurf von Seiten der Philosophie. Eigentlich schwache Positionen kann es nämlich aus der Perspektive der Rhetorik gar nicht geben; sie würden, wie Buchheim ausführt, einen außersprachlichen Maßstab voraussetzen: »Strenggenommen lautet das gängige Mißverständnis dieses Satzes häufig so: ›die eigentlich schwächere Rede zur scheinbar stärkeren machen‹. Im selben Moment, in dem der Satz so aufgefaßt wird, erfordert er das virtuelle Bild eines alethes logos, einer reinen Spiegelung der Wahrheit als außerhalb liegenden Maßstab, an welchem sich schwach und stark und deren 110 scheinbare Vertauschung entscheidet.« Die agonalen lógoi selbst produzieren demgegenüber allererst das Starke und das Schwache. Die Gültigkeit einer Rede erweist sich darin, dass sie sich in der Redesituation bewährt. Die »Wahrheit« der Rede zeigt sich nicht an der Wirklichkeit, sondern im Agon, in der Auseinandersetzung mit der Gegenrede. So wie in der Sprache jedes Element nur in seiner Relation zu anderen Elementen bedeutsam wird, so sind auch die Reden immer schon auf andere Reden bezogen. In der Praxis des Volks- und Gerichtsreden steht jede einzelne Rede in einer
110 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 17. – Die Sentenz lässt sich darüber hinaus auch im Sinne der von Korax entwickelten eÎkóV-Lehre interpretieren. Wird ein vor das Gericht zitierter Feind eines Mordopfers aufgrund seiner Feindschaft der Tat verdächtigt, kann er sich immer darauf berufen, dass »eben die Wahrscheinlichkeit [...] die Sache unwahrscheinlich mache« (Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 46), womit seine schwache Position zu einer starken wird. Vgl. hierzu auch Plat. Phaidr. 273af.: »Dieses also ist, wie es scheint, sehr weise und kunstreich ausgedacht, was er [= Teisias] schreibt: daß nämlich wenn ein Schwacher aber Mutiger einen Starken aber Feigen niederwirft, ihm den Mantel oder sonst etwas wegnimmt, und dann vor Gericht geführt wird, keiner von beiden die Wahrheit sagen müsse, sondern der Feige müsse sich hüten zu gestehen, daß er von jenem Mutigen allein bezwungen worden, dieser aber müsse dies freilich behaupten, daß sie allein waren, jenes aber vorzüglich gebrauchen: ›Wie sollte also ich ein solcher mich wohl an einen solchen gewagt haben?‹ Dann würde jener doch seine Feigheit nicht bekennen, und indem er auf eine neue Lüge sönne, vielleicht auch seinem Gegner einen neuen Beweis an die Hand geben. Und eben so beschaffen ist auch in andern Fallen das nach der Kunst gesprochene.« Stroh spricht hier von einer »Wahrscheinlichkeit zweiten Grades« (Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 94).
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Redesequenz. Sie fungiert immer schon als Antwort und provoziert weitere Antworten. Die Sequenzialität der rhetorischen Rede gerät häufig in Vergessenheit, da uns die meisten antiken Reden nur isoliert überliefert sind und, in philologischer Perspektive, als isolierte Kunstreden interpretiert werden. Eine Ausnahme von dieser Überlieferungssituation bilden die Tetralogien des Antiphon (vgl. SZ 132-179), gerichtliche Redezyklen, die sich aus einer ersten Anklagerede, einem ersten Plädoyer des Angeklagten, einer zweiten Anklagerede und einem zweiten Plädoyer des Angeklagten zusammensetzen und insofern eine Ahnung von der Praxis widerstreitender Reden und Gegenreden geben, die den gegenüber der Rhetorik immer wieder erhobenen Vorwurf des Monologisierens entkräften können. Rhetorische Rede ist wesentlich Gegenrede. Neben und während des Vortrags von Rede und Gegenrede kommt es in der Praxis auch immer wieder zu einem unmittelbaren Wortwechsel (altercatio) zwischen den Rednern. Das Gespräch und die Gesprächsführung gehören insofern mit zur rhetorischen Ausbildung. Nach Diogenes Laertios gilt sogar Protagoras als Erfinder der »Sokratischen Gesprächsmethode« (Diog. Laert. IX 53). Medialität des lógoV meint in der antiken Rhetorik immer Medialität der lógoi oder mit anderen Worten, Unhintergehbarkeit der Vielfalt widerstreitender Perspektiven. In diesem Sinne deutet Isokrates das Diktum des Protagoras, dem gemäß die Rhetorik die schwächere Position in die stärkere verwandle. Für Isokrates macht es »das Wesen der Rhetorik aus, Möglichkeiten zu schaffen, über ein und denselben Gegenstand auf ganz unterschiedliche Weise zu reden sowie Bedeutendes unbedeutend zu machen, andererseits Unbedeutendem Gewicht zu verleihen, Altes in neuem Gewand wiederzuerzählen und über jüngste Ereignisse in antiquiertem Stil zu berichten« (Isocr. or. IV 8). Die Rhetorik spricht über einen Gegenstand auf unterschiedliche Weise, sie wertet dabei etablierte Werte um und verschränkt Vergangenheit und Zukunft. Der Gegenstand gewinnt erst aus der 111 Vielheit der sich auf ihn eröffnenden Perspektiven Kontur, er wird damit
111 In dieser Hinsicht antizipiert die Rhetorik phänomenologische und interpretationistische Ansätze in der Erkenntnistheorie; mehr noch als diese betonen die Rhetoriker allerdings, dass hinter den Perspektiven keine allen gemeinsame Welt liegt, sondern dass sich Welt erst in der unversöhnlichen Agonalität der Perspektiven eröffnet.
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zu einer öffentlichen Sache, zu einer Sache öffentlicher Auseinandersetzung. Die einzelne, isolierte Rede bildet ein Extrem in einem vielfältigen Feld rednerischer Praktiken. Ihre Möglichkeit zeugt allerdings von einem gewissen Respekt, den sich die Bürger der Polis wechselseitig entgegenbringen. In Athen und Rom lässt man den Kontrahenten ausführlich zu Wort kommen, seine Argumente extensiv entfalten. In unserer heutigen Zeit findet sich eine solche Kultur des Zeit-Gebens nur noch selten, allenfalls in außeralltäglichen Situationen wie in der Parlamentsrede oder im wissenschaftlichen Vortrag. Gerade die öffentliche, sich in den Massenmedien vollziehende Rede hat diesen Respekt verloren. Dass in den Massenmedien nichts Substantielles gesagt wird, hat wesentlich damit zu tun, dass der Rede keine Zeit gegeben wird, sich zu entfalten. Unsere mediale Kultur unterdrückt die Rede, indem sie ein endloses Gespräch simuliert. Alles Gesagte wird in dieser Gesprächssimulation in Informations- und Sensationsatome zerschlagen, in Pointen und Provokationen, mit denen sich die Medien permanent an genau die Zerstreuungskultur anpassen, die sie selbst erst erzeugen. Jede Äußerung muss sich gemäß rhetorischem Denken dem Agon aussetzen, muss sich im und am Agon bewähren. Protagoras bemerkt in diesem Zusammenhang: »Zwei Reden, die einander zuwiderlaufen, gibt es zu jeder Sache.« (DK B 6a; Diog. Laert. IX 51) Diese Aussage verstößt scheinbar gegen das Aristotelische Axiom vom ausgeschlossenen Widerspruch, mit dem jede Logik anhebt. Doch nur scheinbar: Die Formulierung »Zwei Reden« besagt nämlich nicht, dass Protagoras von einem logischen Widerspruch ausgeht. Man sollte den Satz ganz wörtlich lesen: Zu jedem Problem finden sich zwei mögliche Meinungen, zu jeder Sache lassen sich mindestens zwei sich widersprechende Reden halten. Die Sache wird gewissermaßen erst dadurch konstituiert, dass sie in zwei sich widerstreitenden Perspektiven erscheint, als Kreuzungspunkt zweier Linien, die in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Aus der Perspektive des einzelnen Subjekts, das sich kontemplativ zur Welt verhält, kann sich keine Wirklichkeit ausbilden. Nur in der Pluralität der Perspektiven kollektiver Handlungszusammenhänge tritt uns eine eigenständige Realität entgegen. Der (einen Gemeinsinn allererst stiftende) Widerstreit der Perspektiven als Garant von Objektivität; um Arendt zu zitieren: »Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der
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Welt und unserer selbst« . Realität wird für die Autorin nicht »durch eine allen Menschen gemeinsame ›Natur‹ garantiert«113, sondern durch das Miteinander-Sprechen und Interagieren.114 Für Daniel von Fromberg schließlich liegt die besondere Qualität der mit Protagoras eingeleiteten agonalen Wende »darin, dass sie der gedankliche Ausdruck der sozialen Kämpfe ist, die sich in der Insonomie artikuliert haben. Sie ist der gedankliche Aus115 druck der Athenischen Revolution« , als deren politischer Protagonist Kleisthenes gelten kann. In seinem Dialog Theaitetos paraphrasiert und systematisiert Platon die Position des Protagoras; dieser behaupte, »daß Eines selbst an sich nichts ist und daß du nicht richtig bezeichnen wirst weder etwas noch etwas auf eine Weise Beschaffenes, sondern wenn du es groß nennst, es sich auch klein zeigen wird, und wenn schwer, dann leicht, und alles auf diese Weise, indem eben nichts eines ist, weder als Etwas noch als auf eine Weise Beschaffenes. Aus Bewegung, Veränderung und Vermischung untereinander entsteht alles, wovon wir sagen, daß es ist, womit wir es nicht richtig bezeichnen.« (Plat. Theat. 152d-e) Nach Protagoras’ Lehre vom richtigen Sprechen, der Ôrjoépeia (einem Vorläuferkonzept der Rhetorik), auf die Platon auch im Phaidros (267c) eingeht, verfehlt die prädikative, Tatsachen feststellende Rede das Werden (die »Bewegung, Veränderung und Vermischung«), indem sie es als Sein auffasst und damit stillstellt. Die »Prädikate der Sprache« haben für Protagoras, so Michael Emsbach »ihre Gültigkeit nur im Moment der Prädikation, und nur relativ zu dieser Prädikation«116. Sie implizieren keine Substanz, an die sie sich nachträglich heften könnten.
112 Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O. 50. 113 A.a.O., 57. 114 Dies übersieht Joachim Knape, der die Rhetorik auf den Primat der Erste-PersonPerspektive des Orators verpflichtet, wenn er die »Oratorperspektive« als die »rhetorische Zentralperspektive« auzuzeichnen sucht. Vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, a.a.O., 72. 115 Daniel von Fromberg, Demokratische Philosophen. Der Sophismus als Traditionslinie kritischer Wissensproduktion im Kontext seiner Entstehung, Münster 2007, 88. 116 Michael Emsbach, »Pragmatisches Denken in der griechischen Sophistik«, a.a.O., 95.
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Protagoras scheint also eine antiparmenideische Position vertreten zu haben, die sich in vielen Punkten mit derjenigen des Gorgias berührt. Auch der unter dem Titel dissoi logoi117 überlieferte anonyme sophistische Traktat – er verdankt seinen Titel den programmatischen Anfangsworten: »Zweierlei Reden [dissoì lógoi] werden in Griechenland von den Denkern über das Gute und das Schlechte geführt«118 – klagt die Irreduziblität zweier unvermittelbarer Perspektiven zu jeder Sache ein. Den Widerspruch gilt es aus der Perspektive des Traktats auszuhalten. Die sich hier abzeichnende Dialektik funktioniert anders als diejenige Platons. Die dissoi logoi, die wie die Rede über das Nichtsein des Gorgias von Sextus überliefert werden und ebenfalls eine gewisse Affinität zur Skepsis haben, artikulieren eine Dialektik ohne Versöhnung. Es ist der Vollzug des Widerstreits selbst, in dem sich die streitenden Parteien begegnen: »Zweierlei Reden werden in Hellas von den Denkern über das Gute und Schlechte geführt: die einen sagen, ein anderes sei das Gute, ein anderes das Schlechte; die anderen, es sei dasselbe, und es sei für die einen gut, für die anderen schlecht, und für ein und denselben Menschen das eine Mal gut, das andere Mal schlecht.« (SZ 293) Bereits im Eingangssatz des Traktats wendet sich ein agonistischer Perspektivismus auf sich selbst an. Der Autor hebt hervor, dass die Frage nach dem Guten und Schlechten in doppelter Weise behandelt werden kann: als Frage nach dem Wesen, danach also, was an sich gut oder schlecht ist, oder als Frage nach der Perspektive, aus der etwas als gut oder schlecht erscheint. Der Autor schließt sich zunächst dieser zweiten Position an, für die sich der Unterschied des Guten und des Schlechten nur in konkreten Situationen oder aus konkreten Perspektiven zeigt. Etwas wäre demgemäss nicht an sich gut oder schlecht, sondern nur für bestimmte Menschen unter ebenso bestimmten Umständen. Die Frage stellt sich immer auch »vom menschlichen Leben [Ânjrwpín¬ bí¬] aus« (SZ 293). Selbst der Tod, das vermeintlich größte aller Übel, hat dann für diejenigen etwas gutes, die sich professionell mit ihm befassen, Ärzte und
117 Vgl. die Einleitung von Peter Scholz (»Philosophieren vor Platon – Zu den sozialen und politischen Entstehungsbedingungen der Dissoi Logoi«) in Peter Scholz/Alexander Becker (Hg.), Dissoi Logoi. Zweierlei Ansichten. Ein sophistischer Traktat, Berlin 2004 118 »Dissoi logoi«, in: Thomas Schirren/Thomas Zinsmaier (Hg.), Die Sophisten, a.a.O., 290-323.
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etwas gutes, die sich professionell mit ihm befassen, Ärzte und Totengräber etwa. Doch in einer zweiten, konträren Rede weist er darauf hin, dass wir das Gute und das Schlechte sowohl dem Wort als auch der Sache nach vorab unterscheiden können müssen, um überhaupt sinnvoll mit diesen Begriffen arbeiten zu können, etwa auch um sie, wie in der ersten Rede, als tendenziell gleichwertig oder sogar identisch zu behandeln. Beide Reden behalten also ihr Recht, ohne in einem Dritten aufgehoben werden zu können. Das Dritte wäre allenfalls die Abfolge der beiden Reden selbst. Für beide Reden gilt, was die erste Rede über den Tod sagt, sie haben recht von Fall zu Fall, von Perspektive zu Perspektive. Weder der Perspektivismus noch der Antiperspektivismus lassen sich stabilisieren. Letztlich verweist die Unentscheidbarkeit der Frage, ob eine relativistische Position einer antirealtivistischen überlegen sei oder nicht, nicht auf die skeptizistische Urteilsenthaltung, sondern auf die Politik. Die Argumentation der dissoi logoi positiviert die Paradoxie, die, wie bei Gorgias und Protagoras, nicht als zu überwindendendes Hindernis der Erkenntnis gilt, sondern als deren Verlaufsform. Der Ort des parádoxon (wörtlich: »über die Meinung hinaus«) wird hier durch eine andere Meinung markiert. Die Paradoxie führt die Sophisten nicht dazu, die Sphäre der Meinungen zu verlassen, sondern der einen, in sich inkonsistenten Meinung eine andere entgegenzuhalten, die sich ihrerseits wieder einer – häufig komplementären – Inkonsistenz überführen lässt. Philosophische Konflikte wie der um das Verhältnis von Universalismus und Relativismus in der Moral lassen sich für die Sophisten nicht lösen, sondern allenfalls austragen. Die »Lösung« liegt für die Sophisten im Vollzug der Debatte selbst. Ihre agonistische Haltung erlaubt es den Sophisten, die Verschiedenheit von Lebensformen und Kulturen zu erkennen und tendenziell sogar anzuerkennen. So argumentieren die dissoi logoi in Bezug auf die Tugend der Schicklichkeit kulturrelativistisch: Bei den Thrakern etwa gelten Tätowierungen als Zierde der Mädchen, bei anderen Völkern als Strafe für Verbrecher (vgl. SZ 299). Selbst Kannibalismus und Inzest (vgl. SZ 299) hätten in den Riten und Gebräuchen bestimmter Völker einen festen Platz. Das gleiche gilt in gewisser Weise auch innerhalb einer Kultur; so sei der Geschlechtsverkehr zwischen Männern innerhalb der eigenen vier Wände schicklich, auf einem öffentlichen Platz dagegen schimpflich (vgl. SZ 297); dem Partikularismus wird selbst eine universelle Geltung eingeräumt: »Ich
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glaube, wenn man allen Menschen befehlen würde, die Dinge, die sie jeweils für schimpflich halten, an einer Stelle zusammenzubringen und von den dort aufgehäuften Dingen wiederum die wegzunehmen, die sie jeweils als schicklich betrachten, so würde nichts übrig bleiben, sondern alle würden alles untereinander aufteilen« (SZ 301). Ein solches Bewusstsein kultureller Differenzen war in der Antike, zumindest außerhalb der Philosophie, weit verbreitet. Protagoras, der in Abdera aufgewachsen ist und dort, vermittelt über seinen Vater, Kontakt zur Kultur der Perser hatte, dürfte zu seinem Axiom, dass es zu jedem Sachverhalt zwei Meinungen gibt, durch den Umgang mit den vermeintlichen Barbaren inspiriert worden sein. Seinen Ausdruck findet dieser Kulturrelativismus aber auch in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, etwa in Herodots Geschichten. Herodot kritisiert an einer Stelle seines Werkes den persischen König Kambyses, den Sohn des Kyros, dafür, dass er den Persischen Gesetzen zuwenig Respekt zollte: »In allem liegt es mir klar zutage, dass Kambyses von schwerem Wahnsinn befallen war; denn sonst hätte er’s gelassen, mit Heiligem und mit Gebräuchen seinen Spott zu treiben. Wenn einer nämlich allen Menschen auf der Welt die Aufgabe stellte und sie aufriefe, sich die schönsten Sitten und Gebräuche von all den bestehenden auszusuchen, so würden sie sich die ansehen und jeder würde die seines Volkes wählen. So fest glaubt ein jedes Volk, seine Sitten seien bei weitem die besten. Nur ein Wahnwitziger kann also derartiges zum Gelächter machen. Dass über ihre Sitten und Gebräuche alle Menschen so denken, kann man aus vielen verschiedenen Zeugnissen entnehmen, darunter denn auch aus dem Folgenden. Dareios ließ einmal, als er König war, die Hellenen, die in seiner Umgebung waren, rufen und fragte sie, um welchen Preis sie bereit wären, ihre verstorbenen Väter zu verspeisen. Und sie sagten, um keinen Preis würden sie das tun. Und danach ließ Dareios die Kallatier, ein indisches Volk, rufen, die ihre Väter aufessen, und fragte sie, in Gegenwart der Hellenen, die durch einen Dolmetscher erfuhren, was gesprochen wurde, um welchen Preis sie bereit wären, ihre gestorbenen Väter im Feuer zu verbrennen; die aber schrieen laut auf und sagten, er solle nicht so gottlos reden. So steht es also mit dem Glauben an Sitte und Brauch, und richtig scheint mir Pindar zu dichten, wenn er sagt, die Sitte sei aller Menschen
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König.« Geschichte und Geschichtsschreibung sind (wie die Rhetorik) nur dort möglich, wo mehr als eine Sitte herrscht, wo sich Sitten verändern können, miteinander in Konflikt geraten, wo die Lebensweise nicht ein für alle Male determiniert ist. Die dissoi logoi vertreten einen Kulturrelativismus, um ihn allerdings zugleich in der uns bereits vertrauten Weise zu relativieren. Natürlich müssen wir immer wieder kategorisch zwischen Schimpflichem und Schicklichem unterscheiden. So können wir etwa nicht sagen, dass es in Sparta zugleich schicklich und schimpflich ist, nackt Sport zu treiben. Wir wissen in der Regel, was sich gehört. Ähnliches gilt für die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit gibt es für den Autor der dissoi logoi zunächst nicht an sich. Er geht vielmehr von einer prinzipiellen Gleichzeitigkeit von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aus. Die Beispiele, die er hier anführt, könnten aus einer modernen bioethischen Fallsammlung stammen. Lüge und Täuschung gelten gemeinhin als ungerecht, können aber in bestimmten Kontexten sehr wohl als gerecht bezeichnet werden, etwa dann, wenn die pflegebedürftigen Eltern ihre Medizin nicht einnehmen wollen und die Kinder sie Ihnen unter das Essen mischen (vgl. SZ 305). Es ist ungerecht, jemandem etwas zu entwenden. Wenn sich ein Angehöriger allerdings aus Kummer mit einem Schwert das Leben nehmen will, wäre es gerecht, ihm dieses Schwert »mit Gewalt wegzunehmen« (SZ 305). Auch die Täuschung kann nicht an sich verworfen werden. Ein Beispiel für die gute Täuschung stellt die Kunst dar: »Denn wer in der Tragödiendichtung und in der Malerei am vollkommensten täuscht, indem er Dinge bildet, die den wirklichen ähnlich sind, der ist der beste« (SZ 307). Der Autor zitiert Aischylos als Gewährsmann: »Gerechter Täuschung ist Gott nicht abhold. – /Umstände gibt’s, da Gott die Lügen lohnt.« (SZ 307) Das letzte Wort behalten hier wie überall die Umstände. Wenn sich Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit immer nur in bezug auf Umstände identifizieren lassen, dann können wir Unwahrhaftigkeit auch nicht a priori verbieten, wie es Platon etwa mit seiner gesinnungsethischen Verbannung der Künstler aus dem Staat versucht. Doch auch zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit müssen wir in anderen Fällen, wie eine korrespondierende Rede erläutert, kategorisch unterscheiden. Die
119 Herodot, Geschichten und Geschichte, übers. v. Walter Marg, Zürich/München 1973, III, 38.
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Spannung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik gilt es auszuhalten. Die beiden Reden der Redepaare innerhalb der dissoi logoi scheinen sich jeweils wechselseitig aufzurufen und zu enthalten. Die erste Rede, die von einer Identität von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bestimmter Handlungen ausgeht – erst die unterschiedlichen Kontexte machen eine Handlung ungerecht oder gerecht – ermöglicht bereits die Gegenperspektive, die eine unbedingte Geltung von Gerechtigkeit reklamiert. Die zweite Rede wiederum, die zwischen gerecht und ungerecht kategorisch unterscheidet, ermöglicht die erste Rede, die den Unterschied relativiert. Das gleiche gilt letztlich auch für die Grundfrage der theoretischen Philosophie, für das Verhältnis von Wahrheit und Falschheit. Eine isolierte Aussage an sich kann – jenseits der historischen Kontexte, in denen sie steht – weder wahr noch falsch sein: »Es ist also klar, daß dieselbe Aussage, wenn ihr das Falsche beigesellt ist, falsch ist, wenn das Wahre, wahr (wie auch ein Mensch dasselbe Ding bleibt, ob als Kind oder Jüngling oder Mann oder Greis)« (SZ 309) Die Aussage bewahrheitet sich in ihrem Kontext. Insofern kann eine Aussage zugleich wahr oder falsch sein, so wie uns der eine Mensch einmal als Jüngling, ein andermal als Greis begegnen kann. Auch Aussagen durchlaufen Geschichten, werden zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Absichten geäußert. Der Kontext der Äußerung geht in ihre Geltung ein. Um allerdings überhaupt von einer Geltung zu sprechen, müssen wir auch einen Sinn für unbedingte, kontextinvariante Geltungen postulieren. Im fünften Abschnitt der dissoi logoi werden Wahnsinn und Vernunft ausgehend von einem vergleichbaren Argument relativiert; die Wahnsinnigen und Vernünftigen, heißt es, »verwenden dieselben Wörter« (SZ 311) und verrichten die gleichen Handlungen. Sie beziehen sich auf die gleichen Dinge, die je nach Perspektive »sowohl sind als auch nicht sind« (SZ 313). Alles hängt hier von »einem kleinen Zusatz« (SZ 313) ab, nämlich ob das, was gesagt wird, jeweils »zur rechten Zeit« (SZ 313) gesprochen wird. Aus diesem Moment des kleinen Zusatzes, des kairóV, entfaltet der Autor der dissoi logoi eine protostrukturalistische Bedeutungstheorie: »Ich verändere die Dinge [...] schon durch Vertauschung der Betonung: z.B. Glaúkos und glaukós (graugrün), Xánthos und xanthós (blond), Xoútos und xouthós (flink). Diese Dinge erhalten ihren Unterschied durch die Veränderung der Betonung, die folgenden, indem sie lang oder kürzer ausgesprochen wer-
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den: Týros und tÿrós (Käse), sákos (der Schild) und sākós (Gehege, langes a), wieder andere durch Vertauschung der Buchstaben: kártos (Stärke) und kratós (des Kopfes), ónos (Esel) und nóos (Sinn). Wenn also schon, ohne daß irgend etwas weggenommen wird, der Unterschied so groß ist, was geschieht erst, wenn man entweder etwas hinzusetzt oder wegnimmt?« (SZ 313/315) Bedeutungsunterscheidungen ergeben sich bereits aus minimalen Umakzentuierungen, Betonungswechseln und Verschiebungen. Wie groß wird dann erst der Unterschied, wenn ein Element neu hinzutritt? Ein solches Element wäre etwa der Zeitpunkt, zu dem eine Äußerung getätigt wird. Dieser Zeitpunkt vermag der Äußerung nicht nur ein anderes Gewicht, sondern eine völlig konträre Bedeutung zu verleihen. Es kommt also alles auf die richtigen Zeitpunkte und Äußerungskontexte an. Die Äußerung trägt ihre Bedeutung nicht vorab in sich, sondern gewinnt sie erst rückwirkend aus der Situation, in der sie sich artikuliert: »Was aber die Behauptung angeht, daß derselbe Mensch ist und nicht ist, so frage ich: ›Ist er in einer bestimmten oder in jeder Hinsicht nicht?‹ Wenn also einer leugnet, daß der Mensch ist, irrt er, wenn er sagt ›in jeder Hinsicht‹. Folglich sind alle diese Dinge in irgendeiner Weise.« (SZ 315) Die sechste und die achte Rede der dissoi logoi entwerfen eine Art Bildungsprogramm. Der Autor diskutiert zunächst, ob Weisheit und Tüchtigkeit lehrbar seien, wobei Argumente gegen und für diese Möglichkeit angeführt werden. Einen wichtigen Hinweis liefert hier die Sprache, die wir, so der Autor, holistisch erlernen: »Brächte jemand ein neugeborenes Kind zu den Persern und ließe es dort aufziehen, ohne daß es die griechische Sprache zu hören bekäme, dann würde es Persisch sprechen. Brächte jemand eines von dort hierher, so würde es Griechisch sprechen. So lernen wir die Wörter und kennen unsere Lehrer nicht.« (SZ 317) In ähnlicher Weise lernen wir auch Weisheit und Tüchtigkeit, ohne uns dessen bewusst zu sein. Sprache und Ethik werden uns also nicht als Lehrinhalte vermittelt, sondern als Medien, in die wir hineinwachsen, die wir uns mimetisch aneignen. Das Wissen um einzelne Sachverhalte lässt sich dabei nicht vom Wissen um die Sprache abheben, in der diese Sachverhalte ausgedrückt werden. Bildung, so lehrt uns insbesondere die achte Rede, erstreckt sich auf Wort und Sache, Wissen und Ausdruck gleichermaßen: »Ein und demselben Mann und ein und derselben Kunst obliegt es, wie ich meine, eine Frage Schritt für Schritt erörtern zu können, über die Tatsachen Bescheid zu wissen, wie sie wirklich sind, eine Sache vor Gericht richtig zu vertreten, vor der Volksver-
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sammlung sprechen zu können, sich auf Kunstgriffe mit Worten zu verstehen und zu belehren über die Natur aller Dinge, wie sie sind und wie sie entstanden.« (SZ 319) Die Fähigkeit der strukturierten Argumentation und Präsentation von Sachverhalten vor Gericht und in der Volksversammlung fällt mit dem Wissen um diese Sachverhalte zusammen: »Und wer die Kunstgriffe mit Worten kennt, wird auch über alles richtig zu sprechen verstehen [...]. Denn er versteht sich auf die Kunstgriffe mit allen Worten, und alle Worte beziehen sich auf alles Seiende« (SZ 321). Philosophie wird hier insofern in Rhetorik aufgehoben, als die Möglichkeit eines Wissens vor seiner (tendenziell immer öffentlichen) Darstellung zurückgewiesen wird. Der Argumentationsgang der Dissoi logoi geht insgesamt von der Situation eines Paralogismus aus, einer unauflöslichen Antinomie, eines Widerstreits, Dissenses oder Unvernehmens. Zu allen Sachverhalten existieren zwei Reden und Begründungen; selbst noch, so ließe sich ergänzen, zu dieser These selbst. Von diesem Paralogismus, diesem Widerstreit, diesem Unvernehmen und dieser Antinomik gehen die dissoi logoi über zu einer Apologie der Demokratie, die vor allem in der siebten Rede formuliert wird. Diese siebte Rede erörtert die politische Frage, ob die Ämter im Staat verlost werden sollen. Der Autor spricht sich hier gegen das Losverfahren und für eine demokratische Wahl aus: »Denn es gibt in den Städten volksfeindliche Leute, die, wenn ihnen das Bohnenlos zufällt, das Volk zugrunde richten werden. Vielmehr muß das Volk selbst mit Bedacht alle diejenigen wählen, die ihm wohlgesonnen sind und zwar die dafür geeigneten zur Heeresleitung, andere zur Prüfung der Gesetzesvorschläge usw.« (SZ 319) Die dissoi logoi tendieren bereits von ihrer Anlage her zu einem demokratischen Modell; die jeweils angemessene, von Ort und Zeit geforderte Vergabe der Ämter darf weder dem Zufall noch der Willkür eines Machthabers überlassen werden, sondern muss das Ergebnis eines demokratischen Aushandlungsprozesses sein. Erst diese praktische Form vermag adäquat mit der akosmistischen Situation des Paralogismus umzugehen. Das Bildungsideal des Redners und die Apologie der Rhetorik in den Reden 6. und 8. korrespondieren diesem demokratischen Programm. Der Rhetor nimmt die Situation des Widerstreits beim Wort. Die Rede wird möglich und nötig, sofern wir uns im Widerstreit befinden. Aufgenommen wird dieser sophistische Agonismus von Herodot, der uns bereits als Vertreter eines kulturellen Relativismus begegnet ist: »Solange nicht (zwei) einander zuwiderlaufende Meinungen gesprochen sind,
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ist es unmöglich, die bessere zu wählen und sich zu eigen zu machen, sondern man muß die gesprochene in Dienst nehmen; sind aber erst zweie gesagt, ist es möglich, wie wir ja auch reines Gold nicht erkennen durch es selbst, wohl aber das bessere herausfinden, wenn wir es reiben an anderem Golde.«120 Jede Rede bleibt mithin auf eine Gegenrede verwiesen. Sie entfaltet ihr Potential nicht aus sich selbst, sondern nur in Konfrontation mit anderen Reden. Wir können die Geltung und Gültigkeit von Reden nur an anderen Reden messen, nicht an einer außersprachlichen Wahrheit oder Realität. Rhetorik erweist sich deshalb als eine per se dialogische Wissenschaft. Wenn wir berücksichtigen, dass die rhetorische Situation immer eine öffentliche ist und dass der Dialog als solcher noch einmal an ein Publikum adressiert ist, dann könnten wir das rhetorische Denken sogar als ein trialogisches bezeichnen. Das sokratische Beharren auf dem Dialog blendet demgegenüber die Rolle des Publikums als eines Adressaten aus121, der freilich auch in Platons Dialogen ständig präsent ist. 122 Kurt Röttgers fasst diesen Punkt treffend zusammen: »Der Trick des Sokrates – der ja schon der Trick des Platon ist, der ihn in Dialogen und nicht in rhetorischen Situationen reden läßt, der aber zugleich selbst ein eminent rhetorischer Trick ist, weil er die Leser zu jenen Dritten einer rhetorische Situation macht, die dem besseren Überredungskünstler applaudieren werden – dieser Trick besteht nun darin, anders als Gorgias zu unterstellen, daß die Grundsituation der Rede die dialogische sei, die einen Dritten niemals gekannt habe. Beide Partner eines Dialogs wollen nicht einen Dritten gewinnen, sondern, da es beiden um den ›Kern der Sache‹ gehe, wollen sie sich gegenseitig zwingen (natürlich mit dem – wie es ein gegenwärtiger Rhetoriker treffend formulierte – ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹).«123 Für Cicero hat die oratio zwei Formen, die der Rede im strengeren Sinne und die des Gesprächs: »Et quoniam magna vis orationis est eaque duplex, altera contentionis, altera sermonis« (Cic. de off. I 132). Die Rhe-
120 A.a.O., VII, 10. 121 Im Gegensatz zu Aristoteles, der dem Publikum als Zuschauer (jewróV) und/oder Entscheider (krit®V) einen zentralen Stellenwert zugesteht. Eine Ausnahme bildet allerdings etwa Krit. 108b, wo Sokrates explizit auf die Stimmung des dem Dialog beiwohnenden Publikums reflektiert. 122 Vgl. hierzu Sylvia Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum, Tübingen 1994. 123 Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, 412/413.
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torik als Kunstlehre nimmt sich vor allem deshalb der monologischen Rede (contentio) und nicht des Gespräches (sermo) an, weil das Gespräch weder einer técnh bedarf noch auch in einer técnh formalisiert zu werden vermag: »Für die Rede gibt es Regeln der Redelehrer, für das Gespräch indessen nichts dergleichen« (Cic. de off. I 132). Aus der Unmöglichkeit ihrer Technisierung ergibt sich keine Minderwertigkeit des Gesprächs gegenüber der Rede. Dem seit Platon erhobene Vorwurf gegenüber der Rhetorik, die Rede würde schon von ihrer äußeren Form her das Gespräch unterbinden, den Monolog gegenüber dem Dialog privilegieren, kann insofern nicht zugestimmt werden. An manchem Platonischen Dialog ließe sich dagegen umgekehrt zeigen, wie sich hier unter dem Mantel des Gesprächs ein Monolog verbirgt, wie die Spannung der Protagoräischen »zwei Reden, die einander zuwiderlaufen« geopfert wird zugunsten einer Rede, welche die andere ausschließlich als ihren Spiegel und ihre Bestätigung zulässt. Die Philosophie Platons haben wir bisher vor allem als eine den Widerstreit verleugnende, um Versöhnung und Synthese bemühte, antipartikularistische und universalistische Position kennengelernt. Es muss aber betont werden, dass die Protagoräische Lehre von den zwei Meinungen, die es zu jeder Sache gebe, nicht ohne Einfluss auf die Philosophie Platons bleibt. Viele Platonische Dialoge münden gerade nicht in einer coincidentia oppositorum, einer Vereinigung aller Gegensätze in einer unbedingten Idee, sondern enden bewusst aporetisch. Im Dialog Sophistes entfaltet Platon z.B. eine Selbstkritik oder -revision seiner Ideenlehre. Er rückt von der früheren Behauptung ab, nur die unbewegten Ideen ließen sich als seiend im strengen Sinne begreifen. Wenn alles Seiende unbewegt wäre, könne es kein Denken geben (vgl. Plat. Soph. 248a ff.). Der Versuch, das wahrhaft Seiende als etwas zu bestimmen, was sich nicht verändert, führe, so lässt Platon den Fremden aus Elea gegenüber Theaitetos argumentieren, in die Aporie. Diese selbst erscheint zumindest an dieser Stelle als unausweichlich. Auch die Darstellungsform der Platonischen Dialoge steht häufig quer zum Monismus der Ideen, welcher von Sokrates im Gespräch vertreten wird. Der Inhalt der platonischen Texte ist dabei von der sokratischen Ironie und Gesprächsführung gar nicht abzulösen. Bereits Friedrich Schlegel weist darauf hin, dass »die große Einheit in Platos Werk« nicht in einem System zu suchen sei, sondern im dialogischen »Gange seiner Ideen, nicht
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in einem fertigen Satze und Resultate, das sich am Ende finde« , sondern im agonalen Gespräch. Ähnlich wie Schlegel argumentiert heute auch Rüdiger Bubner, bei dem es heißt: »Die Ironie der Welt bringt ohne das beirrende Zutun außenstehender Subjekte eine immanente Lockerung jeder Fixierung des Erkennens zustande. Die Formel, welche die sokratische Ironie auf die Welt bezieht, sagt einfach, daß nichts endgültig so ist, wie es erscheint, daß alle Festlegungen sich vordergründig an Aspekte binden, während doch keine Seite absolut zu setzen sei. Die Ironie der Welt läßt solche Systeme sich selber auflösen und tritt dabei zurück, um dem Schauspiel zu125 zuschauen.« Die Stoa versinnbildlicht den Unterschied von Dialektik und Rhetorik, von Gespräch und Rede, mit einer berühmten Geste: »Als daher Zenon v. Kition gefragt wurde, wodurch sich die Dialektik von der Rhetorik unterscheide, da zog er die Hand zusammen und öffnete sie wieder und sagte dazu: ›Dadurch‹, wobei er mit dem Zusammenziehen der Hand den abgerundeten knappen Charakter der Dialektik verglich und mit dem Öffnen und Ausstrecken der Finger die Breite des rhetorischen Metiers andeutete.« (FDS 35) Das sich in diesem Bild ausdrückende komplementäre Verhältnis von Rhetorik und Dialektik wird von den Stoikern nach und nach zugunsten eines Primates der Dialektik aufgekündigt. Diese wiederum verwandelt sich von einer Kunst der Gesprächsführung in eine immer formaler werdende Logik. Alexander von Aphrodisias hebt die Dialektik dadurch von der Rhetorik ab, dass jene »ihre Erörterungen nicht ausführlich gestaltet, sondern in Form von Ja/Nein-Frage und Antwort« (FDS 58). Gellius schließlich führt in den Noctes Atticae aus: »Wenn über einen Gegenstand [...] Diskussionen geführt werden und wenn man dabei etwas gefragt wird und eine Antwort zu geben hat, dann soll man nicht mehr sagen als bloß dies, ob man das, wonach man gefragt ist, bejaht oder verneint.« (FDS 59) Die Dialektik droht hier zu einem Kalkül zu verkommen, zu einer digitalen Maschinensprache. In Kapitel 2.6 werden wir den Versuch unternehmen,
124 Friedrich Schlegel, »Die griechische Philosophie«, in: ders., Geschichte der europäischen Literatur [1803-1804], Kritische Ausgabe, Bd. 11, hrsg. v. Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1958, 98-125, hier: 118ff. 125 Rüdiger Bubner, »Dialektik oder die allgemeine Ironie der Welt. Hegels Sicht des Eleatismus«, in: Manfred Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik, Frankfurt/M. 1990, 84-97, hier: 94.
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diese Bewegung umzukehren, d.h. die Logik wieder vom Gespräch her zu denken und in das Gespräch zurückzunehmen. Bei jeder Sache hat die Rede für Cicero, der hier an den sophistischen Agonismus anknüpft, »das Für und Wider zu erörtern und alles, was in einer Angelegenheit jeweils plausibel scheinen könnte, herauszuholen und zu sagen.« (Cic. de or. I 158) Wahrheit ist prinzipiell öffentlich auszuhandeln, sie steht nicht auf einer Seite, sondern entspringt erst der Auseinandersetzung der einen Partei mit der ihr entgegengesetzten, in der sie sich bewahrheitet. Charles Sanders Peirce wird diesen rhetorischen Leitgedanken später aufgreifen und methodisieren, wenn er »Wahrheit als etwas Öffentliches«126 bezeichnet. Wahrheit wäre aus rhetorischer und pragmatistischer Sicht nicht das Resultat einer Argumentation, sondern fällt zusammen mit dem Argumentieren als Praxis. Sie steht nicht als Ergebnis am Ende der Diskussion, sondern ist als regulative Idee oder kontrafaktische Antizipation mitten in den öffentlichen Debatten selbst präsent, ohne je stillgestellt und hypostasiert werden zu können. Dass sich der eine Redner der einen Sache oder Partei verschreibt, der andere Redner dagegen der anderen, kann nicht der Rhetorik selbst zum Vorwurf gemacht werden: »Denn die Rhetorik steht nicht mit sich selbst im Widerspruch; die Sache nämlich steht gegen die Sache, nicht die Rhetorik gegen sich selbst.« (Quint. inst. or. II 17, 33) Denken, Reden und Sein bilden in der gesamten antiken Rhetoriktradition einen Korrespondenzzusammenhang, eine, wie Cicero sagt, »dicendi et intelligendi mirificam societatem« (Cic. de or. III 73) Der lógoV sagt nicht die Wahrheit, sondern sagt sich selbst – gerade indem er sich in einen diálogoV spaltet und sich selbst entgegentritt. In diesem Sinne lässt sich ein weiteres berühmtes Fragment des Protagoras deuten, welches die These vertritt, »daß jeder, der über irgend eine Sache spricht, wahr spricht«, oder, in einer anderen Fassung, »daß man nichts Falsches sagen könne«.127 Auch diese Äußerung sollte man nicht als formallogische These auffassen. Prota-
126 Charles Peirce, »Die Festlegung einer Überzeugung«, in: ders., Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1991, 149-181, hier: 166. 127 Zu den verschiedenen Varianten und Überlieferungssträngen dieses Argumentes vgl. Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 34ff.
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goras leugnet vielmehr alle mit dem Anspruch der Absolutheit auftretenden Kriterien für Wahrheit und Falschheit. In der Rede haben wir es immer nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. In diesem Sinne gibt es auf dem Felde der Rede keine absolute »Falschheit«. Auch auf ein weiteres zentrales Lehrstück der sophistischen Rhetorik, den homo-mensura-Satz des Protagoras, fällt von hier aus ein anderes 128 Licht. Er lautet: »Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nichtseienden, daß sie nicht sind.« (DK 80 B1) Dieser Satz wird häufig als Plädoyer für einen Anthropozentrismus, als Beleg für die Hybris des Menschen (vielleicht sogar des Individuums – es beibt offen, ob sich »der Mensch« auf die Gattung oder das Individuum bezieht) gedeutet. Der Satz meint aber wohl primär etwas ganz anderes: die Angemessenheit der Welt an den Menschen und sein Erkenntnisvermögen. Die Wahrheit liegt für Protagoras nicht »hinter« der endlichen Welt, wie es die Philosophen seit Platon129 postulieren, sondern mitten in ihr. In den Worten von Kurt Röttgers: »Der Homo-mensura-Satz des Protagoras ist die Grundlage eines relationalistischen Denkens, für das die Forderung eines Maßstabs reiner Wahrheit unnötig wird«130. Der griechische kósmoV, zu übersetzen mit Welt, Weltordnung, Schmuck oder Zier, verkörpert ein relationales Gefüge, einen geordneten Strukturzusammenhang, der sich erst in der Rede realisiert. Insbesondere für Gorgias liegt die Wahrheit nicht vor der Rede, sondern konstituiert sich, wie seine Helena-Rede zeigt, erst in deren kósmoV. »Zier [kósmoV] – das ist für eine Stadt die gute Mannschaft, für einen Körper Schönheit, für die Seele Weisheit, für ein Ding Tauglichkeit und für die Rede [lóg¬] Wahrheit [Âl®jeia]« (Gorgias 3), lautet der erste Satz der Helena-Rede. KósmoV darf hier nicht nur als Schmuck übersetzt werden, sondern bedeutet auch Zusammenhang. Schönheit, Weisheit, Tauglichkeit und Wahrheit kommen im kósmoV der Rede zusammen. Gorgias argumentiert im weiteren Verlauf seiner Rede für die Unschuld der Helena, da sie nur durch einen Beschluss der Götter, durch physische Gewalt oder durch die Macht der Rede nach Troja hat entführt werden können. Die Macht der Rede rückt mit
128 A.a.O., 43ff. 129 In den Nomoi formuliert Platon dezidiert gegen Protagoras: »Ein Gott ist das Maß aller Dinge.« (Plat. Nom. IV 716). 130 Kurt Röttgers: »Der Sophist«, a.a.O., 158.
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diesem Vergleich zu einer göttlichen Macht auf. Keiner dieser Mächte könne ein Mensch widerstehen. Am Ende seiner Lobrede, die eigentlich eine Verteidigungsrede ist, führt Gorgias aus: »Ich nahm durch die Rede die Verleumdung von der Frau und handelte so im Einklang mit dem Gesetz, das ich zu Anfang der Rede aufstellte.« (Gorgias 17) Wolfram Groddeck kommentiert diesen Passus wie folgt: »Das ›Gesetz‹ der Rede ist jenes von der Einheit aller guten Dinge, der Schönheit des Körpers, der Weisheit der Seele und der Wahrheit der Rede. Indem die Rede des Gorgias mit ihrem eigenen Gesetz im ›Einklang‹ steht, kann es gar nicht anders sein, als daß Helenas Unschuld zum Beweis ihrer Schönheit wird, und, indem die Verteidigungsrede sich am Ende als Preisrede der schönsten Frau der Antike entdeckt, zeigt sich die Schönheit der Körper als Wirkung einer an sich selbst körperlichen Rede, die zur ›unverdeckten‹ Schönheit ›bekehrt‹, als zu ihrer eigenen Wahrheit.«131 Erst im kósmoV der Rede erweist sich, nach Groddecks Deutung, die Schönheit der Helena, und an dieser Schönheit bewährt sich wiederum die Wahrheit der Rede. In der Helena-Rede steigern sich das Lob der Helena und das Lob der Rede wechselseitig. Die Schönheit und Wahrheit der Rede spiegeln sich in der Schönheit und Wahrheit Helenas, welche wiederum von einer Rede verführt wurde. Die epideiktische Rede vor Platon, die stark von der Odendichtung Pindars beeinflusst ist, kennt keinen kategorialen Bruch zwischen der Rede und der zu lobenden Person.132 Die Schönheit der Rede und die Schönheit des Gegenstandes werden sich wechselseitig zum Medium. Während in der platonisch-christlichen Hymnenliteratur von Plotin bis Klopstock die Rede permanent ihre Unangemessenheit an ein ens absolutum dramatisiert und
131 Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, a.a.O., 31. 132 In der 11. Olympischen Ode spricht Pindar davon, dass er mit den Worten dieser Ode »dem Kranz des goldenen Ölbaums«, den Hagesidamos im Faustkampf der Knaben errungen hat, »einen Schmuck [kósmon]« hinzufügen möchte, der »sanftlautend ertönt« (Pind. XI Olymp. 13). Im Gegensatz zur späteren Hymnenliteratur, in der sich der Gesang gegenüber dem Besungenen zurücknimmt bzw. selbst durchstreicht, um so ex negativo von der Größe des Besungenen Zeugnis abzulegen, formuliert Pindars Odenliteratur eine Poetologie der Fülle. Die Leistungen des Siegers, der mythologische Hintergrund seines Herkunftsorts und der Gesang, der beide aufeinander bezieht und lobt, spiegeln und verstärken sich wechselseitig.
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sich als Rede letztlich selbst durchstreicht, stützen sich die Lobrede und das zu Lobende in den epideiktischen Reden des Gorgias und des Isokrates wechselseitig. Der platonisch-christlichen Entwertung der Rede entspricht eine Spaltung im kósmoV: Die Wahrheit fällt aus dem Zusammenhang sprachlicher Darstellung heraus, ja, sie wird als das ganz andere der sprachlichen Vermittlung hypostasiert. Für Gorgias dagegen kommt der kósmoV im lógoV zum Ausdruck. In einer akosmischen Situation wird die Rede selbst zum kósmoV, zum Garanten eines gewissen Maßes an Ordnung und Kohärenz. In Bezug auf die Rede argumentiert die Rhetorik holistisch. Das kleinste bedeutungstragende Element ist zugleich das größte: die vollständige Rede selbst. Zwar unterscheidet etwa Quintilian in entwicklungspsychologischer Hinsicht verschiedene Stufen des Spracherwerbs: den Laut, sonus, den der Mensch von Natur aus zu äußern vermag; die Worte, voces, welche die Laute mit semantischen Gehalten verbinden, die zusammenhängende Rede, sermo, die wiederum den Worten Bedeutungen beilegt und schließlich die geformte Rede, oratio. Die Rhetoriker denken allerdings immer vom letzten Glied dieser Kette her, welches zugleich das erste darstellt. Erst ausgehend von der ganzen Rede gewinnen ihre Elemente einen Sinn. Das Ganze geht den Teilen voraus. Für die rhetorische Rede gilt insofern, was Humboldt über die Sprache sagt: »Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft [...] verstehe, muss schon die Sprache ganz, und im Zusammenhange in ihm liegen.«133 Da es aus der Perspektive der antiken Rhetorik keinen Standpunkt jenseits des lógoV gibt, bleibt dieser als ganzer undurchschaubar. Bei Cicero finden sich Hinweise darauf, dass die Theorie der Rhetorik selbst nur als eine weitere Redegattung verstanden werden kann, dass die Rhetorik mit anderen Worten unter ihren eigenen Begriff fällt. Bei seiner Unterscheidung von Reden, die sich auf »allgemeine Themen« beziehen, und solchen, die »konkrete Fälle« erörtern, erwähnt Antonius im zweiten Buch von De oratore als Beispiel für allgemeine Themen die Frage, »ob die Beredsamkeit zu erstreben wäre« (Cic. de or. II 42) – mithin das Thema von De oratore selbst. Der Text scheint sich an dieser Stelle also selbst als Rede zu begreifen, die nur im zweiten Schritt auch Theorie der Rede wäre. Cicero
133 Wilhelm von Humboldt, »Vergleichendes Sprachstudium und Sprachentwicklung«, a.a.O., 10.
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kann mit diesem Verständnis der Rhetorik als Rede an Gorgias und Isokrates anschließen, deren überlieferte Reden umgekehrt Theorien der Rede artikulieren. Die Grenzen zwischen Objektsprache und Metasprache, zwischen Theorie und Praxis des Redens, werden hier unscharf. In der klassischen Rhetorik artikuliert sich ein Selbstbezug der Rede als Rede, der jedem Selbstbewusstsein vorausgeht.134 Das impliziert gleichzeitig eine wesentliche Unvollendbarkeit der Rhetorik, eine Unabschließbarkeit jeden rhetorischen Systems. Crassus betont in Ciceros De oratore mehrfach, »daß es in meinen Augen entweder kein System der Redekunst oder nur ein ganz unbedeutendes gibt.« (Cic. de or. I 107) Es kann deshalb »für den Redner kein System« (Cic. de or. I 108) geben, weil »alle Arten [...] unserer gerichtlichen Vorträge [...] verschieden voneinander« (Cic. de or. I 108) sind. Die Praxis der je konkreten Redesituationen bleibt unhintergehbar, sie lässt sich nicht auf allgemeinverbindliche Axiome abbilden. Formal trägt Cicero diesem Umstand dadurch Rechnung, dass er sein rhetorisches Hauptwerk De oratore in Form eines Dialogs über die Rhetorik abfasst. Die Rhetorik liegt hier nicht als Kanon universeller Regeln vor, sondern steht in Rede und Gegenrede zur Disposition. Die beiden Protagonisten des Dialogs, Crassus und Antonius, sind keineswegs immer einer Meinung. Deutlich wird das insbesondere an der jeweiligen Einschätzung des Verhältnisses der Rhetorik zur Philosophie. Während Crassus vom idealen Redner verlangt, neben allen anderen Wissenschaften auch in der Philosophie bewandert zu sein (vgl. Cic. de or. I 71), hält Antonius ihm entgegen, dass der Redner getrost auf eine philosophische Vorbildung verzichten könne (vgl. Cic. de or. I 219f.). Der Text hält diese Spannung aufrecht, ohne sie, wie etwa in einigen Platonischen Dialogen, zugunsten einer Seite aufzulösen. Auch Quintilian wendet sich explizit gegen ein Verständnis von Rede als Regelbefolgung; er habe es sich zur Gewohnheit gemacht, sich »möglichst wenig an die Vorschriften zu binden, die man kajoliká (allgemein) nennt, das heißt – in unserer Sprache, so gut wir können, ausgedrückt – universalia oder perpetualia; denn selten findet sich etwas von dieser allgemeinen Art, ohne daß es an einer Stelle erschüttert oder umge-
134 Valèry drückt diese rhetorische Grundüberzeugung wie folgt aus: »In dem Augenblick, da Sprache ins Spiel kommt, stellt sich die ›Gesellschaft‹ zwischen uns und uns selbst«. Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 580.
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stürzt werden könnte. [...] Weit ausgedehnt ist die Aufgabe und vielfältig und fast täglich neu« (Quint. inst. or. II 13, 14/17). Cicero begreift, darin der Tradition des Gorgias und des Isokrates treu bleibend, jeden menschlichen Welt- und Selbstbezug als rednerisch vermittelt: »Dies eine ist doch unser wesentlichster Vorzug vor den Tieren, daß wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck 135 geben können.« (Cic. de or. I 32) Die Rhetorik interpretiert Cicero als Kunst und Praxis einer Steigerung der menschlichen Redefähigkeit, als Kultivierung des lógoV: »Wer sollte darum nicht mit Recht bewundernd daran denken und es der höchsten Mühe wert erachten, in dem einen Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen?« (Cic. de or. I 33) Der Mensch, das zÖon lógon Écon, ist so sehr im lógoV verstrickt, dass nur eine Steigerung, Potenzierung oder Kultivierung – in seinen Tusculanae disputationes entdeckt Cicero das Thema der Kultur als Steigerung menschlicher Vermögen136 – des lógoV diesen von innen zu distanzieren vermag. Das, was die Rhetorik kultiviert, die menschliche Redefähigkeit, muss sie bereits als gegeben voraussetzen. So wie die Kultur ein zu Kultivierendes, eine Natur voraussetzt, bleibt auch die Rhetorik auf eine natürliche Redefähigkeit verwiesen, die nicht künstlich geschaffen werden kann: »Doch diese ganze Wissenschaft der Rede, oder mag sie auch nur ein Abbild und ein Gleichnis einer Wissenschaft sein, hat die Wirkung, zwar nicht etwas, wovon sich keine Spur in unseren Anlagen findet, völlig aus sich zu erzeugen und hervorzubringen, aber das, was uns schon entstanden und erzeugt ist, zu entwickeln und zu festigen« (Cic. de or. II 356). Wir sind immer schon Redende. Die Rhetorik lehrt uns nicht das Reden an sich, sondern allenfalls, unsere Rede zu kultivieren. Diese selbst entzieht sich der didaktischen Verfügbarkeit. Als Zwischenergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die antiken Rhetoriker vor dem Hintergrund ihrer Auffassung vom lógoV als einem universellen Medium keine instrumentalistische Theorie der Persuasion vertreten konnten. Ein Konzept von Rede als Medium lässt sich mit
135 Die korrespondierende Stelle bei Quintilian lautet: »Und – wahrhaftig – der Gott, der zuerst als Schöpfer aller Dinge und Erbauer des Alls am Werke war, hat durch nichts den Menschen stärker von anderen Lebewesen, sofern sie auch Sterbliche sind, geschieden als durch die Gabe der Rede.« (Quint. inst. or. II 16, 12) 136 »cultura autem animi philosophia est« (Cic. tusc. disp. II 5, 13).
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keiner Position vereinbaren, die Äußerungen als Werkzeuge deutet, die sich in beliebiger Weise verwenden lassen.
2.5 D IE E INHEIT
VON RES UND VERBUM
Eng mit dem Problem der Medialität des lógoV verschwistert ist die Frage nach dem Verhältnis von res und verbum, die hier insofern nur relativ kurz erörtert werden soll. Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als präfiguriere die antike Frage nach dem Verhältnis von res und verbum eine Debatte der neuzeitlichen Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie, die Debatte um die Beziehung von Sprache und Welt. Dieser Eindruck täuscht allerdings. Wort und Sache werden in der Antike als zwei Seiten einer Medaille betrachtet. In Bezug auf die Erwägungen des Gorgias zum Nichtsein wurde bereits angedeutet, dass die antiken Rhetoriker die Sache vom Wort her denken und beide Bereiche weder ontologisieren noch abstrakt gegenüberstellen. Damit grenzen sie sich vom platonischen Modell der Repräsentation ab, welches die Sprache als nachträgliches und letztlich notwendig falsches Abbild unabhängiger Dinge begreift. Bereits die Seele täuscht sich aus Platons Sicht über das, was ist, und zeichnet sich, beurteilt man sie von der Warte der Ideen, durch eine konstitutive »Unwissenheit« aus. Die Unwissenheit »in den Reden ist nur eine Nachahmung jenes Ereignisses in der Seele und ein später entstandenes Abbild, nicht mehr die unvermischte Unwahrheit«. Die »Unwahrheit in Reden [lógoiV qeÿdoV]«137 (Plat. Pol. II 382c) kann insofern als eine Unwahrheit in zweiter Potenz gelten, die noch hinter die »unvermischte Unwahrheit« der Seele zurückfällt. Hans-Georg Gadamer geht davon aus, dass in der Frühzeit griechischen Denkens »die innige Einheit von Wort und Sache so selbstverständlich ist, daß der wahre Name wie ein Teil des Trägers dieses Namens, wenn nicht
137 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Platon selbst an anderer Stelle das Recht zur systematischen Lüge für die Einrichtung seines Idealstaates reklamiert. Das eugenische Programm, dem gemäß »jeder Trefflichste der Trefflichen am meisten beiwohnen sollte« (Plat. Pol. V 459e), verlangt nach Planung und Steuerung. Den von dieser Planung Betroffenen solle, um Eifersüchteleien zu vermeiden, dabei suggeriert werden, die Verbindungen würden über »staatliche Lose« (Plat. Pol. V 460a), letztlich also über den Zufall, ermittelt.
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gar in seiner Stellvertretung als er selbst erfahren wird. Dafür ist bezeichnend, daß im griechischen der Ausdruck für Wort, Onoma, zugleich ›Name‹ und im besonderen Eigenname, d.h. Rufname, meint. Das Wort wird zunächst vom nehmen her verstanden. Der Name aber ist, was er ist, dadurch, daß einer so heißt und auf ihn hört. Er gehört seinem Träger. [...] Er scheint also dem Sein selbst angehörig.«138 Gadamer zeigt weiter, dass die Geburt der Philosophie als Bruch mit der anfänglichen Einheit von Wort und Sache beschrieben werden kann: »Nun hat die griechische Philosophie geradezu mit der Erkenntnis eingesetzt, daß das Wort nur Name ist, d.h. daß es nicht das wahre Sein vertritt.«139 Dieses wahre Sein entzieht sich hinter dem Horizont der lógoi, die damit entleert werden; die Philosophie konstituiert sich tendenziell als nominalistische. Ihr Nominalismus wird allerdings von der Rhetorik sinnkritisch hinterfragt. Zum expliziten Thema wird das Verhältnis von Wort und Sache in der römischen Rhetorik. Res, die Sache sollte dabei von vorn herein nicht im Sinne der res extensa des Descartes, also nicht als erkenntnistheoretische Figur begriffen werden. Die Rhetorik stellt sich nicht das Problem der Vermittlung von Sprache oder Denken und Wirklichkeit. Res ist viel eher die rechtliche und politische Sache, wie sie etwa in res publica anklingt.140 Marcel Mauss weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass res anfänglich keine vorliegende Sache bezeichnet, sondern die (im Rahmen einer ökonomischen Tauschrelation) gegebene: »Schließlich war die res ursprünglich sicher nicht die rohe und lediglich berührbare Sache [...]. Die res muß ursprünglich vor allem das gewesen sein, was einem anderen Freude
138 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 409. 139 Ebd. 140 »Die philosophische Geschichte des Wortes ‹res› verläuft zunächst ziemlich genau parallel zu derjenigen des griechischen Wortes prâgma, das zunächst juristische und rhetorische Bedeutung hat, wie man besonders bei Aristoteles sieht. Es handelt sich beim pragma um den Tatbestand oder den Fall, der in einem Prozeß diskutiert, verhandelt und beurteilt werden soll, und nicht nur um die materielle und individuelle Realität, die unmittelbar gegeben oder präsent ist. Deshalb kann dieser Begriff auch das bezeichnen, was durch ein Wort oder einen Satz gemeint ist, den Sinn oder Sachverhalt.« Jean-François Courtine, Artikel »Res«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. 8. Sp. 892.
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bereitet.« Mauss hebt an der gleichen Stelle hervor, dass das Wort familia »sowohl die res wie die personae«142 umfasst. Was die Etymologie betrifft, so sieht Mauss eine enge Verwandtschaft mit dem Sanskrit-Wort rayih (Gabe, Besitz, Kleinod), dem avestischen rae, rayyi (mit den gleichen Bedeutungen) und dem altirischen rath (Gnade). Die Rechtsverträge wurden wiederum als re bezeichnet. Mauss fasst seine Überlegungen dahinge143 hend zusammen, »daß res vor allem ein Verfahrensterminus ist« , etwas 144 also, das öffentlich zur Debatte steht. Die griechischen Substantive, die am ehesten unserer neuzeitlichen Sache entsprechen, sind prâgma und är²ma. Die prágmata bleiben etymologisch auf die Praxis verwiesen, die är®mata auf die Rede. Als Sache gilt den Griechen also primär, was gesagt und getan wird, sie ist Teil einer kommunikativ strukturierten Lebenswelt. Das Substantiv är²ma, auf das auch die Rhetorik etymologisch zurückgeht, symbolisiert die Einheit oder Indifferenz von Wort und Sache. Die rhetorische Tradition hält an dieser bereits in ihrem Namen ausgesprochenen Einheit fest. Cicero und Quintilian stellen res und verbum in ein Verweisungsverhältnis; Quintilian erwähnt eine alte rhetorische Auffassung, nach der »jeder Sachverhalt aus Zeichen erschlossen werde [quod res omnis signis colligeretur].« (Quint. inst. or. III 6, 29) Res und verbum verhalten sich zueinander wie Signifikat und Signifikant als Konstituenten des Zeichens in der Saussureschen Sprachwissenschaft oder wie der Objektaspekt und der Zeichenaspekt in der Peirceschen Semiotik: »omnis autem oratio constat aut ex iis quae significantur, aut ex
141 Marcel Mauss, »Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften«, in: ders., Soziologie und Anthropologie Bd. 2, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1989, 9-144, hier: 99. 142 A.a.O., 98. 143 A.a.O., 102. 144 Diese »alte« Bedeutung des res-Begriffs lebt im amerikanischen Pragmatismus wieder auf. So schreibt etwa John Dewey: »Die Dinge sind in viel höherem Maße Objekte, die behandelt, benutzt, auf die eingewirkt, mit denen gewirkt werden soll, die genossen und ertragen werden müssen, als Gegenstände der Erkenntnis. Sie sind Dinge, die man hat, bevor sie Dinge sind, die man erkennt.« (John Dewey, Erfahrung und Natur, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 1995 [1925], 37)
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iis quae significant, id est rebus et verbis.« (Quint. inst. or. III 5, 1) Sie bilden, wie es Groddeck ausdrückt, eine »differentielle Einheit«146. Crassus, dem es, nachdem Antonius zuvor über die Stoffauffindung gesprochen hatte, im letzten Buch von Ciceros De oratore zukommt, über den Stil (elocutio) und das schmuckvolle Reden (ornate dicere) zu referieren, weist zu Beginn seiner Ausführungen die Dichotomie von Stoff und Form zurück: »Was freilich die Aufteilung unserer Erörterung betrifft, bei der er [= Antonius] sich das, was der Redner darzustellen hat, aussuchte, mir indessen die Erklärung übrigließ, wie man diese Darstellung ausgestalten muß, so hat er dabei etwas aufgeteilt, das sich nicht trennen läßt. Denn da sich jede Rede aus der Sache [re] und der Formulierung [verbis] zusammensetzt, kann einerseits die Formulierung [verba] keine Basis haben, wenn man die Sache wegnimmt, andererseits fehlt der Sache [rei] die Erhellung, wenn man die Formulierung von ihr trennt.« (Cic. de or. III 19) Cicero beruft sich hier auf Gorgias und Isokrates als die »Vertreter jener alten Zeit«, welche sagten, »alles, was es gebe, über und unter uns, sei eines [...]. Denn es gibt keine Art von Dingen, die von den anderen getrennt für sich allein bestehen kann, und keine, ohne die die anderen ihr Wesen und ihre Unvergänglichkeit bewahren könnten.« (Cic. de or. III 20) Die mit Platon einsetzende Metaphysik, welche den kósmoV in eine unbedingte Welt der Ideen und eine bedingte Welt der Erscheinungen unterteile, wird von Cicero scharf zurückgewiesen. Gegen den metaphysischen Dualismus, der den gesamten Bereich des Seienden hierarchisiert, hält Cicero am vorsokratischen Modell einer Kontinuität alles Seienden fest. Einer Hierarchie des lógoV, wie sie etwa in Platons Phaidros entfaltet wird – über den lógoV setzt Platon hier die Wirklichkeit, darüber die Idee – hält Cicero eine Gleichursprünglichkeit aller Ebenen des lógoV entgegen. Aus dieser generellen Enthierarchisierung des Verhältnisses von Wort und Sache folgt auch eine andere Bewertung der Schrift durch die Rhetoriker. Im Gegensatz zu Platon, der die Schrift im Phaidros als doppelt uneigentlich charakterisiert, als Abbild einer Stimme, die selbst wiederum ein seelisches Geschehen abbildet, weist Cicero darauf hin, dass es für den Redner »am wichtigsten ist [...], möglichst viel zu schreiben. Der Griffel«
145 Chrysipp verwendet die ganz ähnlich gelagerte Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem, »shmaínonta kaì shmainómena« (FDS 63). 146 Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, a.a.O., 97.
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ist nämlich »der beste und vorzüglichste Urheber und Lehrmeister der Rede.« (Cic. de or. I 150) Während Platon die Schrift in ihrer doppelten Uneigentlichkeit als Gefahr für die Präsenz der Ideen im lógoV diffamiert, wird sie bei Cicero zum potentiellen »Urheber« des lógoV. Schrift und Sprache sind hier weder dem lógoV noch der Sache äußerlich. Die Platonische Unterscheidung äußerlich/innerlich bleibt dem lógoV aus rhetorischer Sicht gänzlich unangemessen. Cicero behauptet in diesem Zusammenhang, »daß man weder den Schmuck der Formulierung finden kann, ohne sich den Gedanken zurechtgelegt zu haben, noch den Gedanken ohne die erhellende Kraft des Ausdrucks erklären kann.« (Cic. de or. III 24) So wenig sich Sache und Wort hierarchisieren lassen, so wenig lässt sich ihre Hierarchie im Wort als Hierarchie von Stimme und Schrift wiederholen.147 Groddeck schreibt zusammenfassend zum Verhältnis von res und verbum: »Das Wort ›real‹ ist vom lateinischen ›res‹, die ›Sache‹, abgeleitet; das Wort ›res‹ bezeichnet aber – in der Rhetorik – nicht irgendeine Sache zum Anfassen, sondern definiert sich über das Verbum, das ›Wort‹. Die res ist das Nicht-Wörtliche, der Gedanke, das Argument, jedenfalls kein physikalisches Ding.«148 Die neuzeitliche Frage, wie Sprache Welt repräsentiert, wäre aus der Perspektive Ciceros also eine sinnlose Frage. Bereits der griechische lógoV-Begriff, der »sowohl die Rede als auch das, wovon die Rede handelt, sowohl die Erzählung als auch das, was erzählt wird«149, umfasst, steht quer zur neuzeitlichen Unterscheidung von Sprache und Welt. Die Dinge selbst liefern den klassischen Rhetorikern keinen Maßstab, an dem sich die Gültigkeit der Worte messen ließe. Eine rhetorikkritische Berufung auf den Worten vorausgehende »Dinge an sich« oder »Sachen selbst« wäre aus der Perspektive der Rhetorik selbst nur ein anderes rhetorisches Verfahren. Im Kontext seines Plädoyers für die Einheit von res und verbum entkräftet Cicero insofern Platons Kritik an Gorgias. Er streicht heraus, dass sich jede Berufung auf eine vorsprachliche Realität selbst als sprachliche Strategie beschreiben lässt, dass sich jeder Appell an vorsprachliche Evidenzen mithin in einen performativen Selbstwiderspruch verstrickt: »Am meisten hat mich in diesem Werk [= Platons Gorgias] verwundert, daß sich Platon, während er mit den Rednern seinen Spott treibt,
147 Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 4.4. 148 Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, a.a.O., 234. 149 Samuel Ijsseling, Rhetorik und Philosophie, a.a.O., 34.
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selbst als ein großer Redner erweist« (Cic. de or. I 11,47). Die Berufung auf ein Anderes der Rede kann, so lautet Ciceros Argument, immer nur mit den Mitteln der Rede formuliert werden. Aufgegriffen wird dieses sinnund sprachkritische Argument von Quintilian: »Denn manche pflegen heftig über sie [= die Rhetorik] herzufallen und benützen – was sie doch am stärksten kompromittieren dürfte – zu ihrer Anklage gegen das Reden selbst die Kraft der Rede.« (Quint. inst. or. II 16, 1) Auf die Spitze getrieben habe diese Aporetik ein gewisser Agnon, welcher sich »schon durch den Titel seiner Schrift, in der er eine ›Anklagerede gegen die Rhetorik‹ angekündigt hat, selbst in Mißkredit gebracht« (Quint. inst. or. II 17, 15) hat. Die Sache besteht für den Rhetor nicht vorab, sondern wird in und durch seine Rede evoziert und konstituiert. Letztlich ist die »Sache das, was 150 der Redner aus ihr macht« . In diesem Sinne kann auch die dóxa, die Ansicht oder Meinung, als Verkörperung der Sache gelten. Heidegger schreibt: »Das wird klar, wenn wir dóxa richtig übersetzen: ›Ich bin dafür, daß die Sache sich so und so verhält.‹ Dafürsein kann nun aber auch heißen: Ich bin dafür, dass eine Sache so und so gemacht wird.«151 Als dóxa wäre die Sache des Redners also das, wofür er als ganze Person einsteht, für oder gegen das er Partei ergreift. Die Sache der Rhetorik ist für Heidegger letztlich die Sache einer Wahl oder einer Entscheidung, die Sache einer proaíresiV (vgl. Arist. EN III, 1-8): »Aber ich bin dazu entschlossen, daß eine Sache so und so gemacht wird, ist proaíresiV. [...] Die proaíresiV geht auf das praktón, das, was für ein Besorgen im Augenblick entscheidend ist, was dafür in Frage kommt. [...] Die proaíresiV ist immer auf Mögliches aus, und zwar auf bestimmtes Mögliches, das wir jetzt im Augenblick in Angriff nehmen, durchführen können. [...] Die proaíresiV führt auf das ]éscaton, auf den Punkt, wo ich zugreife, wo ich eigentlich mit der Handlung einsetze.«152
150 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, übers. v. Brigitte Mannsperger u. Ingunn Tveide, Darmstadt 2001 [1995], 56. 151 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944. Band 18, Marburger Vorlesung Sommersemester 1924, Frankfurt/M. 2002, 143. 152 A.a.O., 143-146. – Vgl. hierzu auch Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, a.a.O., 72-74.
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Die enge Verwiesenheit von res und verbum in der rhetorischen Reflexion antizipiert diskurstheoretische Überlegungen, wie sie im 20. Jahrhundert etwa von Michel Foucault entfaltet werden. Unser Sprechen kommt aus der Perspektive der Diskurstheorie nicht einfach zu einer bereits fertigen Welt hinzu, sondern trägt wesentlich mit zu ihrer Konstitution bei. Besonders deutlich sichtbar wird die Wirkmächtigkeit von Diskursen153 in der sozialen Welt. Allen relevanten sozialen Unterscheidungen korrespondieren kodifizierte und institutionalisierte Formen der Benennung, Anrufung und Klassifikation. Das Soziale spiegelt sich im Sprachlichen, wird von ihm strukturiert. Insbesondere Formen sozialer Ein- und Ausgrenzung haben eine diskursive Infrastruktur.154 Der Diskurs darf dabei nicht, wie häufig unterstellt (und von einigen Formulierungen Foucaults nahegelegt), als eine Art Tiefenstruktur hinter unserem Sprechen verstanden werden, sondern als dessen konkrete, nie zu überblickende Gesamtheit. Foucault expliziert Diskurse als Indifferenzzonen von Wort und Sache, als Instanzen der Kontrolle und Hervorbringung von Sachen. Das Wort wird damit selbst zu einer Tatsache. Der Redner schafft eine Sache nicht zuletzt vermittelt über die Art und Weise, wie er sie aussagt: »Wenn man herausgefunden hat, was man sagen und wo man es sagen will, kommt erst das wichtigste, herauszufinden, wie man es sagen will.« (Cic. or. 51) Was gesagt wird, die Sache, lässt sich von der Art des Sagens nicht kategorial trennen. Was gesagt wird, nennen die Griechen auch tò legómenon, die Art, wie man es sagt, äh tò léxiV. Die Unterscheidung von legómenon und léxiV bildet einen der Hauptgliederungspunkte der rhetorischen Traktate. Zugleich artikulieren die Texte aber immer wieder ein Bewusstsein der Ununterscheidbarkeit beider Ebenen. Was man sagen möchte, ist nie unabhängig davon zu haben, wie man es sagen möchte. Die Gliederung der Traktate nach was und wie hat eher eine didaktisch-heuristische Funktion und steht nicht für eine ontologische Entscheidung.
153 Ausgehend von Foucault definiert Umberto Eco die Rhetorik regelrecht als »Pragmatik des Diskurses«. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, übers. v. Günter Memmert, München 1992 [1990], 350. 154 Vgl. Mechthild Hetzel, Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Heidelberg 2007, 72ff.
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Das legómenon wird noch in der stoischen Dialektik an die Möglichkeit seiner Sagbarkeit, an die Möglichkeit der léxiV gebunden. Nach Diogenes Laertios (VII 38-48) umfasst das vierte Kapitel der kanonisierten stoischen Lehrbücher zur Dialektik die Lehre von den Bedeutungen. Die Stoiker nannten dieses Kapitel abwechselnd Perì shmainoménwn/Über das Bezeichnete, Perì lektvn/Über das Gesagte, Sagbare oder Perì pragmátwn/Über die Sachen.155 Lektá, das Sagbare, und prágmata, die Sachen, gelten ihnen als synonym. Die Lehre vom Sagbaren oder Bezeichneten wurde der Lehre von den Zeichen gegenübergestellt, die im dritten Kapitel unter dem Titel Perì shmainóntwn oder Perì fon²V behandelt wird. »Ein Lekton« ist für die Stoiker »dasjenige, was sich nach Maßgabe einer vernünftigen Vorstellung bildet; und eine vernünftige Vorstellung ist diejenige, derzufolge es möglich ist, das Vorgestellte durch Sprache (›Rede‹: lógoV) zu präsentieren.« (FDS 698) Als vernünftig gilt hier das, was sich in Rede übertragen lässt. Im folgenden Abschnitt fragen wir nach den Konsequenzen dieses sich an die sprachliche Äußerbarkeit bindenden Vernunftbegriffs für die Lehre von der Argumentation.
2.6 R HETORIK , L OGIK
UND
ARGUMENTATION
Um die Deutung der Funktionsweise und Geltung von Argumenten streiten sich seit altersher zwei Disziplinen: Logik und Rhetorik, wobei die Rhetorik der Logik historisch vorausgeht. Am Ende seiner Sophistischen Widerlegungen bemerkt Aristoteles: »In der Rhetorik lag viel alter Stoff vor, in der Logik dagegen nicht.« (Arist. Soph. el. 184a) Für die Logik oder Syllogistik muss Aristoteles, trotz einiger Vorarbeiten Platons und der älteren Mathematiker, erst eine neue Sprache erfinden, für die Rhetorik besteht diese Sprache bereits seit mehreren Generationen. Die von Aristoteles formulierte Logik entwickelt sich einerseits aus der rhetorischen Argumentationstheorie und teilt mit ihr viele Problemstellungen, andererseits vollzieht die Logik aber auch einen Bruch mit der Rhetorik.
155 Vgl. hierzu auch Karlheinz Hülser, »Einleitung«, zu ders. (Hg.), Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren, Bd. 1, Stuttgart 1987, XXIII-CI, hier: XLI.
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Beide Disziplinen haben das Selbstverständnis des Abendlandes, seine Kultur und seine Rationalität, entscheidend geprägt. In diesem Abschnitt möchte ich zunächst ausgehend von Aristoteles auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Logik und Rhetorik hinweisen, um in einem zweiten Schritt im Anschluss an Peirce, Perelman und Bubner dafür zu plädieren, die über mehr als zwei Jahrtausende getrennten Disziplinen wieder zusammenzuführen. Die Argumentationstheorie wäre als Feld zu begreifen, auf dem sich Rhetorik und Logik wieder vereinen könnten und auf dem sie vor ihrer durch die postaristotelische Philosophie eingeleiteten Trennung auch vereint waren. Logik und Rhetorik sind als Wissenschaften von der Argumentation zu fassen, welche die Bedingungen der Möglichkeit alltäglicher und wissenschaftlicher Argumente zu klären helfen. In einer ersten Annäherung unterscheiden sich Logik und Rhetorik vor allem darüber, was ihnen jeweils als Argument gilt. Die Logiker lassen sich von der Hoffnung leiten, konstitutive Regeln des Schlussfolgerns ermitteln zu können, die unabhängig von konkreten Kontexten über die Gültigkeit der jeweils vorgebrachten Argumente befinden können. Insofern gilt ihnen der formallogische Syllogismus als Standardmodell des Arguments. Die Rhetoriker gehen demgegenüber davon aus, dass die Kontexte der Argumente wesentlich zu diesen selbst gehören und ihnen etwas von ihrer Offenheit mitteilen. Ein Argument wäre für die Rhetoriker ein Überzeugungsmittel, dessen Überzeugungskraft sich aus genau dieser Offenheit speist. Die Logik hält ein Ideal notwendiger und eindeutiger Schlussfolgerungen aufrecht, das ebenso im parmenideischen156 Seinsbegriff verwurzelt ist wie in der pythagoräischen Vorstellung einer mathematischen Infrastruktur des Kosmos. Das parmenideische Modell einer Identitätsübertragung wird in der Logik auf die Ebene von Sätzen projiziert. So wie nach Parmenides und Platon das eine, vollkommene und unwandelbare Sein seine Identität allem anderen Seienden mitteilt, so teilen die Prämissen der Logik ihre Gültigkeit notwendig und ohne Verlust den Konklusionen mit. Die Ungebro-
156 In der Margarita philosophica des Gregor Reisch, einer Enzyklopädie der freien Künste, deren erste Auflage 1503 erscheint, findet sich auf einem Holzschnitt eine allegorische Darstellung der Logik, die in Gestalt eines Jägers, der von den beiden Hunden veritas und falsitas begleitet wird und mit dem Schwert syllogismus bewaffnet ist, dem Hasen problema nachstellt. Im Rücken der Logik sehen wir Parmenides, der die Jagdszene vom Eingang einer Höhle aus betrachtet.
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chenheit dieser Mitteilung setzt einen störungsfreien Raum voraus, eine künstliche Welt eindeutig definierter Zeichen und Werte. Ein wesentliches Problem jeder Logik ergibt sich daraus, dass sie diesen künstlichen Raum eindeutig definierter Zeichen nur ausgehend von einer offenen, sich permanent entwickelnden, kontingenten und überdeterminierten Einzelsprache konstruieren kann.157 Will die Logik kein selbstbezügliches Spiel bleiben, muss sie die von ihr definierten Zeichen auf diesen Raum der Alltagssprachen auch wieder rückbeziehen können. Die logischen Zeichen begegnen uns dann wesentlich als Zeichen, die ihren Sprachcharakter verleugnen, die aber zugleich beanspruchen, die Verwendung der Sprache von außen beschreiben zu können. Die rhetorische Argumentationstheorie schließt sich demgegenüber stärker an die Überzeugungspotentiale der Alltagssprache an und geht von der Unmöglichkeit apodiktischer Beweise auf dem Feld der Rede aus, das immer auch ein Feld der Praxis ist. Argumentative Evidenz lässt sich aus rhetorischer Sicht nicht auf logische Evidenz reduzieren. Die Rede repräsentiert für die Rhetoriker keinen (mathematisch vorstrukturierten) Kosmos, sondern erklingt in einer akosmischen Situation. Sie hindert den Kosmos daran, sich zu totalisieren und verwandelt ihn in eine Welt, die offen und unvollständig bleibt. Rhetorische Argumente deduzieren ihre Gültigkeit nicht aus einem Ursprung (dem sich im a gleich a und a ungleich b manifestierenden Identitätsprinzip, das sich durch alle logischen Ableitungen hindurch aufrecht erhält), sondern erweisen ihre Gültigkeit in und an ihren Konsequenzen, in und an ihren nie vollständig voraussagbaren praktischen Wirkungen; diese erschöpfen sich nicht im Anerkennen oder Zurückweisen von erhobenen Geltungsansprüchen, sondern umfassen auch veränderte emotionale Haltungen und die Etablierung von Praxiszusammenhängen.
157 Paul Valéry weist auf eine gewisse Tragik der Logik hin, die darin beschlossen liegt, dass bestimmte Begriffe ihre Bedeutung gerade verlieren, wenn man sie eindeutig zu definieren sucht; wir können diese »Begriffe in völlig angemessener Weise verwenden, mit ihnen handeln und sprechen […] – wenngleich [wir] sie nicht zu definieren wüßte[n]«; im Gegenteil: »sobald isoliert, starrt man sie an« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 481) und sie verlieren dann gerade die Bedeutung, die sie in der Verwendung wie selbstverständlich haben. An anderer Stelle heißt es: »Was als Durchgang klar ist, verdunkelt sich sobald man dabei verweilt.« (A.a.O., 488)
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Von einem Dialog zwischen Rhetorik und Logik verspreche ich mir zweierlei: Zunächst könnte ein solcher Dialog zu einer philosophischen Rehabilitierung der Rhetorik beitragen, die seit Platon einen pejorativen Beigeschmack hat. Wir haben uns im Laufe der abendländischen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte daran gewöhnt, das ›Bloß-Rhetorische‹ zu diffamieren, dem Rhetoriker primär ein Interesse an Manipulation zu unterstellen, die Rhetorik als List des Überredens gegenüber Logik, Philosophie und Wissenschaften abzuwerten. Die spezifische Rationalität des Rhetorischen wird dabei voreilig verspielt; bereits die antike Rhetorik artikuliert ein komplexes Verständnis von Rede als Praxis, von der Öffentlichkeit der Rede, von ihrer sozialen Situiertheit, vom wechselseitigen Voraussetzungsverhältnis von Wort und Sache, von der Unhintergehbarkeit des lógoV und, worauf es mir hier besonders ankommt, von der praktischen Infrastruktur der Argumentation. An ihr umfassendes argumentationstheoretisches Klärungspotential gilt es auch innerhalb der Philosophie wieder anzuknüpfen. Für die Seite der Logik verspreche ich mir von einem Dialog mit der Rhetorik eine pragmatische Wende, die das Schlussfolgern nicht länger als Kalkül oder Operation, sondern als Tätigkeit erkennbar macht. Ausgehend von der Rhetorik ließe sich die Logik, ohne sie um ihren Eigensinn zu bringen und ohne ihr analytisches Potential zu verspielen, sozial und pragmatisch rekontextualisieren. Diese Rekontextualisierung hätte insbesondere die Konsequenzen aus einer Konzeption von Rede als unhintergehbarem Horizont unserer Weltbezüge zu reflektieren und Logik als ein Zeichenhandeln zu explizieren, das mit spezifischen Unbestimmtheiten und Kontingenzen einhergeht. Logische Probleme wären insofern immer auch Probleme der Interpretation, des Sinnverstehens und des Aushandelns von Geltungsansprüchen, die wir mit jeder Zeichenverwendung, auch und gerade der logischen, erheben. Neben den in den vorangehenden Kapiteln erwähnten Konnotationen und Übersetzungsmöglichkeiten des lógoV-Begriffs muss im Kontext der Argumentationstheorie noch eine weitere Möglichkeit erwähnt werden: LógoV kann auch für das Finden der überzeugenden Aspekte an einer Sache stehen, mit denen der Redner etwas beweist, kurz: für das Argument. Aristoteles definiert die Rhetorik geradezu als diejenige Disziplin, die »bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende betrachtet« (Arist. Rhet. 1355b 26-27), die es also mit dem lógoV als Argument zu tun hat.
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Argumentation verweist in der Rhetorik des Aristoteles auf pístiV, auf das Überzeugende – wobei pístiV anfänglich Vertrauen, Bürgschaft, Übernahme einer Bürgschaft, Treue und Treueversprechen bedeutet, also eher 158 für einen Glauben als für ein Wissen steht. Als intrinsische (oder entech159+160 ) Überzeugungsmittel gelten Aristoteles das 3joV des Redennische den (seine Vorgeschichte, der Ruf, in dem er steht, seine Glaubwürdigkeit), die pájh (Stimmungen und Affekte, die der Redner im Publikum sowohl erzeugt wie voraussetzen muss) und der lógoV, die Rede oder Argumentation selbst.161 Diese drei Überzeugungsmittel162 entsprechen drei grundle-
158 PístiV fungiert im Kontext der klassischen Rhetorik und Philosophie auch als gängige Bezeichnung für den Beweis. Beweise machen uns aus der Sicht der Rhetorik geneigt, ihnen zu glauben. Als argumentum gilt Cicero in diesem Sinne das Bemühen des Redners, »sich bei denen, die er überzeugen will, vertrauenswürdig zu machen.« (Cic. part. or. 5) 159 Mit técnh meint Aristoteles im Zusammenhang der entechnischen Überzeugungsmittel natürlich die ärhtorik técnh, die ihr Telos in der Überzeugung findet. Die aristotelische Unterscheidung der entechnischen von den atechnischen Überzeugungsmitteln antizipiert einen Aspekt der Austinschen Performativa. »Kunstfremd [Átecnoi] nenne ich all die [Überzeugungsmittel], die nicht durch uns zustande gebracht worden sind [...], kunstgemäß [Éntecnoi] aber nenne ich solche, die durch die Methode [dià thV mejódon] und durch uns zuwege gebracht werden können« (Arist. Rhet. 1355b 35-40). Die entechnische Überzeugung wäre also letztlich als eine Überzeugung durch das Ausüben der técnh, durch den Vollzug der Rede selbst zu explizieren. 160 Aristoteles rechnet zu den nicht-intrinsischen oder atechnischen Überzeugungsgründen etwa Zeugen, Gewährsleute, Beweisstücke usw., die gerade nicht von uns zuwege gebracht, sondern aufgefunden werden. 161 »Von den Überzeugungsmitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten: Sie sind nämlich entweder im Charakter [3joV] des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung [pájoV] zu versetzen, oder schließlich in der Rede [lógoV] selbst, d.h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.« (Arist. Rhet. 1356a) Alle drei Überzeugungsmittel können als konkrete Gestalten der Fähigkeit des peíjein begriffen werden. 162 Wörner verweist darauf, dass diese Überzeugungsmittel (und damit die Aristotelische Rhetorik insgesamt) einen ethischen Index tragen: »Affekt, Ethos und praktischer Logos tragen vereint dazu bei, daß der Mensch durch Praxis seine Natur als
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gende Relationen der Rede: »So repräsentiert das Ethos des Redners in erster Linie den Sprecheraspekt in der Rede, denn hiermit soll er sich selbst als vertrauenswürdig zeigen. Das zu erweckende Pathos besteht in der affektiven Disposition des Hörers und repräsentiert somit den Höreraspekt innerhalb der Trias. (Pathos als Überzeugungsgrund ist demnach nicht so sehr Ausdrucksphänomen des Sprechers als vielmehr eine Weise der Betroffenheit des Hörers.) Der Logos selbst repräsentiert den Sachaspekt, insofern er die Sachbeziehungen zur Sprache bringt, weswegen man in der Regel redet.«163 Die Gelungenheit des lógoV lässt sich wiederum nach den Hinsichten unterteilen, die den Bearbeitungsschritten des Redners entsprechen, wobei der actio, dem konkreten Vollzug des Argumentierens, der zentrale Stellenwert zukommt. Die Rhetorik des Aristoteles formuliert einen engeren und einen weiteren Argumentationsbegriff. Der weitere Begriff bestünde im Zusammenspiel von 3joV, pájoV und lógoV (den entechnischen Überzeugungsmitteln), der engere (aütòV äo lógoV, vgl. Arist. Rhet. 1356a) in der Theorie der enthymematischen Argumente.164 Zwischen dem engeren und weiteren Begriff besteht, wie die Kommentatoren seit jeher hervorgehoben haben, eine Spannung. Aristoteles liefert sowohl Hinweise auf eine Deutung der Rhetorik als Lehre von der Argumentation im strengen Sinne, die sich auf die Enthymeme zu konzentrieren habe, als auch auf einen weiteren Begriff der Disziplin, in der das Ethos des Redners und die in den Hörern zu evozierenden Affekte gleichberechtigt neben der logischen Stringenz der Argumentation stehen. Die Entscheidung zwischen diesen beiden möglichen Deutungen der Rhetorik hängt letztlich davon ab, ob man Ethos und Pathos als entechnisch oder atechnisch begreift, als Teile des Logos selbst oder als deren äußeren Kontext. Im ersteren Fall haben wir es mit einem engen Vernunftbegriff zu tun, der sich auf logische Stringenz reduziert, im zweiten Fall mit einem weiten Vernunftbegriff, der Affekte, Leidenschaften und
Vollgestalt seines Seinkönnens im guten Leben verwirklichen kann.« Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 20-21. 163 A.a.O., 54/55. 164 Vgl. hierzu Jürgen Sprute, Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhetorik, Göttingen 1982.
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subjektive Haltungen mit einschließt. Aristoteles kann sich scheinbar nicht klar zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden.166 In Kapitel 5.3 werden wir auf diese Fragen zurückkommen und dafür plädieren, Ethos und Pathos als entechnische Überzeugungsmittel zu begreifen. In der von der stoischen Philosophie dominierten Zeit nach Aristoteles reduziert sich die Argumentationstheorie bald auf die engere dieser beiden Theorien: auf Logik. Die sich auf formallogische Verfahren konzentrierende Philosophie beansprucht die alleinige Deutungsmacht für das argumentativ Überzeugende und Evidente. Sie beschneidet das Feld der Rhetorik immer weiter. Von ihrem anfänglichen Doppelcharakter, Kunst des schönen und des überzeugenden Sprechens, bleibt nur die ars bene dicendi übrig. Die ars persuadendi, die noch bei Aristoteles in den Aufgabenbereich von Logik und Rhetorik fällt, wird nach und nach ganz von der Philosophie okkupiert. Vollendet wird diese Entwicklung im 20. Jahrhundert. Die rhetorische Theorie versteht sich hier in erster Linie als Lehre vom sprachlichen Schmuck. Gérard Genette nennt die Rhetorik des 20. Jahrhunderts mit gutem Recht eine »restringierte Rhetorik«167, die sich durch eine »tropologische Reduktion«168 auszeichne. Er rekonstruiert die »Geschichte der Rhetorik von Korax bis heute«169 als Verlustgeschichte170 und zeigt, dass die Leh-
165 Philosophiehistorisch ist der Konflikt zwischen diesen beiden Deutungsoptionen äußerst folgenreich. So lässt sich etwa der Unterschied zwischen der englischsprachigen Aufklärung, die sich im Werk David Humes um einen Ausgleich von reason und sentiment bemüht, und der deutschsprachigen, stärker rationalistisch geprägten Aufklärung, die, exemplarisch bei Immanuel Kant, die Sinnlichkeit der Vernunft unterwirft, ausgehend von den beiden möglichen Auffassungen der Rhetorik, die sich bei Aristoteles abzeichnen, verstehen. 166 Vgl. Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 66f. 167 Vgl. Gérard Genette, »Die restringierte Rhetorik«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, 229-252. – Zur Geschichte der Rhetorikverdrängung vgl. auch Bryan Garsten, Saving Persuasion. A Defense of Rhetoric and Judgement, Cambridge/Mass./London 2006. 168 Gérard Genette, »Die restringierte Rhetorik«, a.a.O., 232. 169 A.a.O., 230. 170 Peter L. Oesterreich erzählt die Geschichte der Rhetorik demgegenüber gerade nicht als Verlustgeschichte, sondern als Geschichte eines zunehmenden Reflexivwerdens, mit dem sich die Rhetorik der Philosophie annähert, sowie einer zuneh-
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re von den Tropen bei den wichtigsten Vertretern der antiken Rhetorik, Aristoteles, Cicero und Quintilian, eine im Vergleich zur Argumentationstheorie untergeordnete Rolle spielt. Komplementär zu Restringierung der Rhetorik kommt es in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu einer Logifizierung der Argumentation; ein Großteil der sogenannten analytischen Philosophie glaubt, argumentative Evidenz mit logischer Evidenz gleichsetzen zu können. Erst im Zuge einer zunehmenden Reflexivierung und Selbstkritik der analytischen Philosophie besinnen sich einzelne Autoren wie etwa Stephen Toulmin171 auf den rhetorischen Strang der Argumentationstheorie zurück. Eine erste Verschiebung der Rhetorik hin zu einer reinen Tropenlehre lässt sich bereits mit dem Ende der römischen Republik beobachten. Durch das Zerbrechen demokratischer Strukturen werden zwei der drei klassischen, von Aristoteles unterschiedenen Redetypen, der politisch beratenden Rede und der Gerichtsrede, die gesellschaftlichen Grundlagen entzogen. Der Rhetorik bleibt als Betätigungsfeld nur noch die Gattung der epideiktischen Rede oder Prunkrede, die wenig Wert auf argumentative Verfahren legt. Im Trivium des Mittelalters wird diese Tendenz noch forciert. Die Rhetorik sieht sich dort zunehmend »eingezwängt zwischen Grammatik und Dialektik«172, so dass hier von ihren ursprünglich drei Hauptteilen, inventio, dispositio und elocutio, nur die elocutio, die Lehre von der Ausschmückung, bleibt. Die inventio und die dispositio tritt die Rhetorik dagegen an die Dialektik ab. Im Zuge einer Umorganisation des Triviums, die von Lorenzo Valla und Georgius Agricola in der Mitte des 15. Jahrhunderts eingeleitet und von Petrus Ramus im 16. Jahrhundert vollendet wird, verschärft sich diese Tendenz noch. Die Topik, die Lehre vom Auffinden des Stoffes und der Beweisgründe, wandert im Zuge dieser Umorganisation aus
menden Reflexion der Philosophie auf ihre eigene Rhetorizität, die von Vico über Schlegel bis zu Nietzsche reicht. Im 20. Jahrhundert konvergieren dann beide Reflexionsbewegungen in einer Philosophie der Rhetorik, für die etwa Gadamer, Blumenberg und Derrida stehen (vgl. Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, Bamberg 2003). 171 Vgl. Stephen Toulmin, »Die Verleumdung der Rhetorik«, in: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), 55-68. 172 A.a.O., 230.
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der Rhetorik aus und wird zu einer ausschließlichen Angelegenheit der Dialektik.173 Für Aristoteles stehen Logik und Rhetorik in einem Ergänzungsverhältnis. Er nähert die Rhetorik zu Beginn seines gleichnamigen Buches der Dialektik bzw. der Argumentationstheorie an und bezeichnet sie als Lehre von den Enthymemen174 (vgl. Arist. Rhet. 1359a) oder rhetorischen Beweisen. Paradeigma und Enthymem gelten Aristoteles als die beiden Grundformen rhetorischer Argumentation. Das Paradeigma oder Beispiel besteht in dem Nachweis, dass ein zur Debatte stehender Gegenstand ähnlich bewertet werden kann wie vergleichbare, bereits bekannte Fälle. Die paradeigmatische Argumentation etabliert also eine Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Fällen und berührt sich insofern mit der Metapher, die ebenfalls eine Ähnlichkeit stiftet. Da es von einem einzelnen Fall ausgeht, wird das Paradeigma häufig auch als rhetorische Induktion bezeichnet; einen »rhetorischen Induktionsbeweis« nennt es Aristoteles selbst (Arist. Rhet. 1356b). Das Enthymem, eine Art des Schließens, die dem Syllogismus nahe steht, bezeichnet Aristoteles auch als svma t²V pístewV, als »Körper« oder Kern der Überzeugung. Wörtlich bedeutet Ênjúmhma zunächst einfach das Gesagte oder der Gedanke, darüber hiansua ber auch das Erwogene und das Beherzigte. Nach einer geläufigen Deutung (der sogenannten Syllogismus-truncatus-Lehre), die sich etwa noch bei Quine175 und Lausberg176 findet, ist das Enthymem ein unvollständiger Syllogismus, bei dem eine Prämisse unterschlagen wird oder bloß implizit bleibt.177 Das Enthy-
173 Vgl. Manfred Hinz, Artikel »Rhetorik. Begriffsgeschichte: Frühe Neuzeit«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7, 2005, Sp. 15051523, hier: Sp. 1508. 174 Aristoteles übernimmt die Lehre von den Enthymemen der sophistischen Tradition; der Ausdruck Enthymem wird im Sinne eines rhetorischen terminus technicus erstmals von Isokrates verwendet (vgl. Isocr. or. IX 10, XII 2, XIII 16 sowie XV 47); vgl. hierzu Christof Rapp, Kommentar zu Aristoteles, Rhetorik, in: Aristoteles, Werke, Bd. 4, Rhetorik, Zweiter Halbband, Darmstadt 2002, 224. 175 Vgl. etwa Willard O. Quine, Grundzüge der Logik, übers. v. Dirk Siefkes, Frankfurt/M. 1969 [1950], 241. 176 Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., § 371. 177 Vgl. hierzu und zum Folgenden Christof Rapp, Kommentar zu Aristoteles, Rhetorik, a.a.O., 223ff.
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mem wäre dann ein beschädigter oder mangelhafter logischer Schluss, mit dem keine Notwendigkeit, sondern eine bloße Wahrscheinlichkeit einhergeht. Das klassische Beispiel für einen Syllogismus ist allgemein bekannt: »Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Daraus folgt, dass auch Sokrates sterblich ist.« Der Syllogismus geht auf das griechische Verb sullogízesjai zurück, welches in der Zeit vor Aristoteles soviel bedeutet wie etwas argumentativ zusammenzutragen oder einfach zu argumentieren. Aristoteles definiert den Syllogismus als ein Gebilde aus drei Sätzen, bei dem aus zwei Ausgangssätzen notwendig ein dritter Folgesatz geschlossen wird. Was wäre nun aber ein Enthymem? In der Rhetorik gibt Aristoteles, neben vielen anderen, folgende Beispiele (vgl. Arist. Rhet. II 23, 1397a11f.; I 2, 1357b11-19): »Die Weisen sind gerecht, denn Sokrates war weise und gerecht.« »Er ist krank, denn er hat Fieber.« »Sie hat geboren, weil sie Milch hat.« »Wenn der Krieg Ursache der gegenwärtigen Übel ist, dann muss man die Dinge mit Frieden in Ordnung bringen.« »Er hat Fieber, denn er atmet schnell.«
Bei diesen Beispielen springt zunächst ins Auge, dass sie im Gegensatz zum Syllogismus aus nur jeweils einem Satz bestehen, der sich aus zwei Teilsätzen zusammensetzt. Diese Teilsätze sind häufig in einer »Wenn A, dann B«-Form aufeinander bezogen. Aus der gegenüber dem dreigliedrigen Syllogismus verkürzten Form ergibt sich die bereits erwähnte StandardDeutung des Enthymems als eines unvollständigen Syllogismus. An dieser Deutung sind allerdings Zweifel angebracht. Sie räumt dem Syllogismus von vorn herein einen Primat ein, der ihm von Aristoteles nicht unbedingt gegeben wird. Das Enthymem ist für Aristoteles kein defizienter Modus eines Syllogismus, der dann als normatives Maß der Argumentation ausgezeichnet würde. Der Philosoph betont eher die Gemeinsamkeiten als die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, die vor allem darin liegen, dass Syllogismus und Enthymem den Grund von etwas angeben, sein Warum (dià tí) nennen. Ob ein Schluss als Syllogismus oder als Enthymem aufzufassen ist, hängt für Aristoteles letztlich nicht von diesem selbst, sondern von seinem
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Kontext ab: »Wie es auch in der Dialektik erstens die Induktion, zweitens die Deduktion und drittens die scheinbare Deduktion gibt, ebenso auch hier«, in der Rhetorik. »Es ist nämlich das Beispiel eine Induktion, das Enthymem aber eine Deduktion (das scheinbare Enthymem eine scheinbare Deduktion). Ich bezeichne nämlich die rhetorische Deduktion [sullogismóV] als Enthymem, die rhetorische Induktion aber als Beispiel« (Arist. Rhet. I 2 1336b 1-5). Und wenig später: »Wenn sich, falls etwas der Fall ist, etwas anderes neben diesem, dass dieses der Fall ist, ergibt, entweder allgemein oder in der Regel, [wird dies] hier als Deduktion [sullogismóV], dort aber als Enthymem bezeichnet.« (Arist. Rhet. I 2 1336b 15-18) Aristoteles legt an beiden zitierten Stellen nahe, dass ein Syllogismus im Kontext der Rhetorik, und das heißt: im Kontext alltäglicher Redepraxis, als Enthymem fungiert. Das Enthymem ist insofern nicht, wie von Kommentatoren, die die Aristotelische Argumentationstheorie im Horizont einer Geschichte der formalen Logik interpretieren, häufig unterstellt, ein scheinbarer oder unvollständiger Syllogismus. Syllogismen können für Aristoteles ebenso scheinbar oder nicht-scheinbar sein wie Enthymeme. Das Enthymem wäre insofern keineswegs als unvollständiger, sondern als ein inhaltlich gesättigter Syllogismus in einem konkreten Kontext aufzufassen, der sich prinzipiell nicht vollständig formalisieren lässt.178 Mit dem Enthymem begibt sich Aristoteles auf die Suche nach einer Argumentation, die nicht ausschließlich am Leitfaden des Satzes vom Grunde orientiert ist. Das Enthymem kommt ohne notwendigen Grund aus und fungiert doch als Argument. Die Enthymeme werden »aus Wahrscheinlichem und aus Zeichen« (Arist. Rhet. I 2, 1357a) formuliert. An die Stelle des notwendigen Grundes treten hier pístiV und eÎkóV. Auch im Raum jenseits letzter Gründe argumentieren wir. Ja, eigentlich beginnt hier allererst die Notwendigkeit der Argumentation. Seine Evidenz gewinnt das Überzeugungsmittel des Enthymems nicht aus logischem Zwang, sondern auf andere Weise. Das Enthymem ist zunächst einmal konkret adressiert. In den Worten von Markus H. Wörner: »Ein pijanón nämlich ist für jeman-
178 So auch Christof Rapp, Kommentar zu Aristoteles, Rhetorik, a.a.O., 228-229: »Damit wird bestätigt, dass ein Enthymem im selben Sinn ein syllogismos ist wie derjenige syllogismos, für den der Dialektiker zuständig ist. […] Somit wird für das Enthymem im Grunde keine andere Differenz benannt als diejenige, dass das Enthymem ein syllogismos im rhetorischen Gebrauch ist.«
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den überzeugungskräftig und somit auf den Hörer bezogen. Damit gewinnt alles in der Rhetorik Einschlägige – ähnlich der Dialektik – seine Bedeutung in bezug auf den anderen.«179 Dieser andere nun ist ein konkret begegnendes Gegenüber, »denn nicht der Mensch wird überzeugt, sondern eine bestimmte Hörerschaft.«180 Für Aristoteles ist alles »Überzeugende für jemand Bestimmtes überzeugend« (Arist Rhet. I 2 1356b 28). Auch im Kontext der Argumentationstheorie klagt er einen Primat des Anderen ein, den er, in Gestalt des Hörers oder Publikums, als den zentralen Punkt in der Trias von Sprecher, Hörer und Welt auszeichnet. Die Logik verdrängt diese Adressiertheit der Überzeugungsmittel. Sie denkt nicht vom konkreten Adressaten einer Kommunikation her, sondern konstruiert einen universellen Adressaten: Der logische Schluss gilt immer und überall. Der Syllogismus selbst wird von Aristoteles als eine »Überlegung [lógoV]« eingeführt, »durch die man von gegebenen Voraussetzungen zwingend zu einem anderen Ergebnis als diese Voraussetzungen kommt« (Arist. Top. I 1). Betont man hier das Moment des anderen, dann kommt es auch im Syllogismus zu einem Bruch oder einer Diskontinuität. Geschlossen werden kann bildlich gesprochen nur etwas, das zuvor auseinander klafft. Damit es zur Tätigkeit des Schließens kommt, benötigen wir zunächst eine Öffnung, einen Riss in der Ordnung des Seins. Im logischen Schließen (Wenn a = b und b = c, dann muss auch a = c sein) begegnet uns sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität. Die Tätigkeit des Schließens, die eine gewisse Offenheit voraussetzt, steht damit in einer Spannung zur Notwendigkeit des Schlusses. Eine Deutung des Schließens als Tätigkeit legt ferner nahe, dass es in jedem konkreten Fall mehr als nur eine Möglichkeit zu Schließen geben muss; Tätigkeiten verweisen auf Interpretationen und Entscheidungen und damit auf eine Pluralität von Alternativen. Der Schluss schließt auf drei Ebenen. Zum einen steht er (im Sinne des Abschlusses) für das Ende einer Argumentation. Zum zweiten tendiert der logische Schluss dazu, eine Prämisse im einfachen Sinne zu wiederholen, sich also auf eine Tautologie zu reduzieren. Zum dritten beansprucht er eine Notwendigkeit, ihm zustimmen zu müssen. In einen Konflikt mit dieser dreifachen Schließung gerät eine vierte Ebene, die wir als Performativität
179 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 44-45. 180 A.a.O., 45.
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des Schlusses bezeichnen können. Auf dieser vierten Ebene, die vor allem von der Rhetorik hervorgehoben wird, hängt auch das Schließen von einer spezifischen Freiheit (in) der Argumentation ab, welche die formale Logik gerade zu eliminieren sucht. Die formale Logik versucht die Lücke, die interpretative Offenheit oder leere Mitte im Zentrum ihrer Schlüsse zu verleugnen. Darum steht sie auf Seiten eines parmenideischen Kosmismus, selbst wenn sie vorgibt, sich mit reinen Denkformen zu befassen, die keinen inhaltlichen oder gar ontologischen Index tragen. Ihre Schlüsse bewegen sich in einem System vollständig determinierter Prämissen. Der Versuch einer Definition logischer Zeichen sieht sich allerdings mit einem Problem konfrontiert, auf das unabhängig voneinander Klaus Heinrich und Jacques Derrida aufmerksam machen. Genau die Wiederholung oder »Iteration« eines Zeichens, die seine Identität herstellen soll, »alteriert«181 das Zeichen bereits. Sobald ich die »Selbigkeit von A aussagen will«, habe ich es bereits gespalten: »Oder ist A gespalten schon vor dem Aussprechen des Satzes ›A ist A‹? Oder besagt ›A ist A‹ nur: nein: A ist nicht gespalten? – Wer Fragen wie diese als sinnlos zurückweist, weist eine Welt zurück, in der Urteile sinnvoll sind.«182 Im Enthymem haben wir es dagegen mit einem Maß an Unbestimmtheit zu tun, das mit den aufgeworfenen Fragen vereinbar ist. Im Alltag wie in der Wissenschaft kommen wir bei unseren Schlussfolgerungen und Argumentationen nicht ohne Vermutungen, Tasten und Probieren aus, nicht ohne ungedeckte Vorgriffe auf eine stets prekäre Geltung. Sehr wenig ergibt sich hier notwendig. Die Logifizierung oder Mathematisierung von praktischen Fragen arbeitet mit rhetorischen Strategien der Ausblendung von Kontingenz. Expertensysteme, Programme computergestützte Entscheidungsfindung und Rational-Choice-Theorien, die den Bereich des Argumentierens heute zunehmend für sich okkupieren, setzen einen unbegrenzten Glauben an die formale Logik voraus. Demgegenüber wäre zu betonen, dass unsere alltäglichen Entscheidungen nur äußert selten auf dem Weg logischer Schlussfolgerungen zustande kommen. Im Gegensatz zur Logik, die sich auf das Wahre richte, bezieht sich die Rhetorik für Aristoteles explizit auf das Wahrscheinliche (eÎkóV), das als
181 Vgl. Jacques Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, in: ders., Limited Inc. Wien 2001 [1990]. 15-46. 182 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, a.a.O., 59.
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einer der basalsten Begriffe der Aristotelischen Rhetorik gelten kann. Josef Klein schreibt: Ein aristotelisches »Enthymem enthält in der Oberprämisse nur selten etwas, das notwendigerweise der Fall ist, sondern meist nur sol183 ches, was normalerweise oder wahrscheinlich so ist.« Das Wahrscheinliche hat seinen genuinen Ort in der menschlichen Praxis. Als eine regelrechte Kunstlehre des Wahrscheinlichen hatten der Überlieferung zufolge bereits Korax und Teisias ihre neue Technik angelegt. Man könnte das rhetorische Denken des Aristoteles insgesamt als ein Denken der Kontingenz beschreiben. Auf die Redesituationen wirken Faktoren ein, die häufig vom Zufall bestimmt sind und mit denen sich der Rhetor zu arrangieren hat. Auch für Isokrates liegt das oberste Gebot der Rhetorik in der Forderung, »nicht zu verfehlen, was die jeweilige Gelegenheit verlangt« (Isocr. or. XIII 16). Für Aristoteles bezieht sich die Rhetorik explizit auf das Singuläre: »Es ist also die Rhetorik das Vermögen, für jeden einzelnen Fall das in ihm liegende Überzeugende zu erkennen.« (Arist. Rhet. I 2 1355b; Hervorhebung A.H.) Der rhetorische Vernunftgebrauch ist »umständeorientiert« und »anpassungsfähig«184. Rhetorik schützt das Andersseinkönnen oder die Nichtidentität. Sie macht Vernunft »kontingenzfähig«185. Zur Redesituation gehören der Charakter des Redners, der Prozessgegenstand, der Gegner, Ort und Zeit der Verhandlung, das Vorwissen, die affektiven Einstellungen der Zuhörer usw. Der Kontext der Rede bleibt unabschließbar, er lässt sich nie vollständig formalisieren und bedarf deshalb der frónhsiV des Redners. Für Aristoteles bezieht sich die Rhetorik explizit »nur auf solche Dinge, welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten können: Denn über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand, sofern er annimmt, daß es sich so verhält; das bringt ja nichts mehr ein.« (Arist. Rhet. I 2 1357a) Diese für das Selbstverständnis der Rhetorik zentrale These ist ein direkter Reflex auf
183 Vgl. Josef Klein, »Der Syllogismus als Bindeglied zwischen Philosophie und Rhetorik des Aristoteles – Anmerkungen aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive«, in: Helmut Schanze/Josef Kopperschidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989, 35-54, hier: 38. 184 Gonslav K. Mainberger, »Die Rhetorik in der Philosophie«, in: Helmut Schanze/Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, München 1989, 319340, hier: 330. 185 A.a.O., 333.
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den sophistischen Akosmismus und auf die Lehre der Agonalität, wie sie uns etwa bei Protagoras und dem Autor der dissoi logoi begegnet ist. Die Dinge, welche die Rhetorik verhandelt, sind »von solcher Art, daß sie sich auch anders verhalten können; menschliches Handeln nämlich, was Gegenstand der Beratung und der Erwägung ist, ist generell von solcher Art und nichts davon sozusagen aus Notwendigkeiten.« (Arist. Rhet. I 2 186 1357a) Aristoteles versteht die Praxis hier als denjenigen Bereich des Seins, der nicht durch Notwendigkeiten determiniert wird, in dem ein »anders Werden« möglich ist, in dem Kontingenz und Geschichte zu ihrem spezifischen Recht kommen. In seiner Nikomachischen Ethik erklärt er ganz explizit die Irrelevanz von notwendigen Beweisen für die Praxis: »Es wäre genauso verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, wie wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern wollte.« (Arist. EN 1094b 25) Im selben Buch weist er den Bereich der Praxis, dessen also, »was sich anders verhalten kann« (Arist. EN 1140a 1), allerdings auch wieder in enge Grenzen. Wie sein Lehrer Platon interessiert er sich primär für das überzeitlich Gültige, für das Unbewegte, das aller Bewegung zugrunde liegt. Diesem überzeitlich Gültigen widmet er sich in seinen Schriften zur Logik, insbesondere in den beiden Analytiken. Aristoteles definiert die Logik dort einerseits als Teilgebiet der Philosophie, andererseits aber auch als ein Werkzeug (Organon), das in der Untersuchung aller philosophischen
186 Spätere Rhetoriker werden Aristoteles in diesem Punkt folgen. In seiner Topik definiert Cicero das »Argument« als ein »Mittel, das einer strittigen Sache Glaubwürdigkeit verschafft« (Cic. Top. 8). Das Argument geht also immer von einem Strittigen aus. Der Autor ad Herennium gliedert seine Rhetorik nach der Schwierigkeit: Er beginnt mit dem »Schwierigsten« (difficillima) und verwendet auf das Schwierigste den meisten Raum. Die schwierigsten Fälle aber, die die Rede am meisten fordern, sind die »Wahrscheinlichkeitsbeweise« (probabile), die »auf der Vermutung beruhen« (Auct. ad Her. II 2-3). Die Notwendigkeit der Rede ergibt sich für den Autor erst jenseits der logischen Notwendigkeit. Rede sieht sich konstitutiv an Freiheit gebunden. Gesetze etwa werden erst dann zu einem relevanten Gegenstand der Beratung, wenn sie von einer Ambivalenz heimgesucht werden, wenn sie einen »Widerspruch zwischen Wortlaut und Sinn, [...] Zweideutigkeit, [unklare] Begriffsbestimmung, Ablehung, [Notwendigkeit von] Schlußfolgerung« (Auct. ad Her., I 19) aufweisen.
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Gegenstandsbereiche eingesetzt werden kann. Von hier aus erfährt die Logik eine besondere Auszeichnung. Sie gehört zu den theoretischen Wissenschaften, zum bíoV jewrhtikóV, der den Menschen an der Welt der Götter partizipieren lässt. Die Rhetorik dagegen rechnet Aristoteles zu den bloß herstellenden Wissenschaften und nähert sie damit, auf den Spuren seines Lehrers, dem Handwerk an. Als integraler Teil der theoretischen Wissenschaft befasst sich die Logik mit dem, was unveränderlich ist, mit der Wahrheit und den ewigen Gesetzen des Denkens. Sprechakttheoretisch betrachtet könnte man sagen, dass sich der Logiker Aristoteles nur mit konstativen Sätzen beschäftigt, die wahr oder falsch sein können, während er die performativen Satztypen (Befehle, Aufforderungen, Fragen...), die sich dadurch auszeichnen, dass sie gelingen oder scheitern können, an den Rhetoriker delegiert. Die Sätze die einen Wahrheitsbezug haben, werden in der Logik gegenüber anderen Satztypen ausgezeichnet. Indem er wahrheitsfähige und nicht-wahrheitsfähige Aussagen unterscheidet, nimmt Aristoteles eine Unterscheidung vorweg, die Austin zur Trennung von Performativa und Konstativa bewegt hat. Im vierten Abschnitt von Peri Hermeneias schreibt der Philosoph: »Ein Behauptungssatz aber ist nicht jedes, sondern nur eines, dem es zukommt, wahr oder falsch zu sein. Nicht allen kommt dies zu. So ist z.B. eine Bitte/ein Gebet zwar ein Wortgefüge, aber weder wahr noch falsch. Die andern nun wollen wir beiseite lassen; denn sie zu untersuchen ist eher Sache der Rhetorik oder der Poetik.« (Arist. Int. 17a 19-23) Während sich die Dialektik der wahrheitsfähigen Aussagen oder Konstativa annimmt, wird die Rhetorik hier regelrecht darüber definiert, dass sie Performativa oder Sprechakte thematisiert. Die Bitte oder das Gebet können nicht wahr oder falsch sein; sie entfalten eine Wirkung in einer anderen Dimension. Auf dieser Ebene stehen Rhetorik und Logik für Aristoteles nicht in einem Verhältnis der Konkurrenz, sondern der Kooperation. In seinen beiden Analytiken, die sich den wahrheitsfähigen Aussagen annehmen, legt Aristoteles den Grundstein der abendländischen Logik. Er entwickelt zunächst eine Theorie der Aussage, die sich in Termini zergliedern lässt: in einen Prädikatterminus und einen Subjektterminus. Er unterscheidet dann vier Haupttypen von Aussagen: universal bejahende, universal verneinende, partikulär bejahende und partikulär verneinende. Aussagen treten darüber hinaus in verschiedenen Modi auf, sie können assertorisch (etwas trifft zu), apodiktisch (etwas trifft notwendig zu) oder problematisch
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(etwas trifft möglicherweise zu) sein. Auf dem Fundament dieser Unterscheidungsmöglichkeiten errichten Aristoteles sowie die auf ihn folgenden stoischen und scholastischen Dialektiker das Gebäude der Logik. Im Zentrum der Aristotelischen Schriften zur Logik steht der Syllogismus als privilegierter Modus der Relationierung von Aussagen, die im Syllogismus als Prämissen oder Konklusionen fungieren. Der Syllogismus besteht, wie wir bereits gesehen haben, aus zwei Prämissen und einem Schluss, wobei alle drei Komponenten einfache Aussagen bilden. Diese Aussagen lassen sich, wie Aristoteles zeigt, durch Platzhalter ersetzen, etwa durch Buchstaben: »Wenn A von jedem B prädiziert wird, und B von jedem C, dann wird notwendigerweise A von jedem C prädiziert« (Arist. An. pri. I 4, 25b, 37-39). Aristoteles leitet hier die Entkoppelung der Logik von der Sprache und der Form vom Inhalt ein. Seine Logikbegründung suggeriert, dass es eine inhaltlich nicht signifikante Form des Denkens geben könnte, dass sich Form und Inhalt klar voneinander abheben lassen. Damit eröffnet sich ein Bereich reiner Geltungen jenseits der Einzelsprachen und geschichtlich kontingenter Situationen. Gegen diese Entkoppelung der Logik von der Sprache sind immer wieder Einwände geltend gemacht worden, sehr früh schon von Seiten der Rhetorik. Quintilian spricht von der »Logik« als dem Teil der Philosophie, »der es ganz mit Worten zu tun hat« (Quint. inst. or. XII 2 10). Hegel schließlich, der wie Herder und Humboldt in der Sprache den letzten, unhintergehbaren Horizont aller Weltbezüge sieht, reformuliert die Logik insgesamt als Sprachphilosophie: »Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt [...]. In alles, was ihm zu einem Innerlichen, zu Vorstellung überhaupt wird, was er zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt, und was er zur Sprache macht und in ihr äußert, enthält eingehüllter, vermischter oder herausgearbeitet eine Kategorie; so sehr natürlich ist ihm das Logische, oder vielmehr: dasselbige ist seine eigentümlich Natur selbst.«187 Nimmt man die hier postulierte Sprachlichkeit der Logik ernst, dann lässt sich auch nicht länger zwischen einer formalen Ebene der Denkgesetze und einer materiellen Ebene der Denkgehalte unterscheiden. Hegels große Logik betreibt insofern eine »Einführung des Inhalts in die logische Betrachtung«188 und lehnt eine spezielle
187 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, a.a.O., 20. 188 A.a.O., 29.
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philosophische oder logische Terminologie ab. Die Grenzen der Sprache und der Logik fallen hier zusammen. Die Gesamtheit der Sprache ist für Hegel identisch mit den Formen möglichen Denkens und Argumentierens. Die Bedingungen der Möglichkeit (und Unmöglichkeit) des Sprechens und Denkens finden sich in diesem selbst verkörpert. Betrachten wir noch einmal die Aristotelische Definition des Syllogismus: »Ein Syllogismus ist ein Argument, bei dem, bestimmte Dinge vorausgesetzt, etwas von den vorausgesetzten Dingen Verschiedenes notwendigerweise aufgrund der Tatsache folgt, daß sie gelten.« (Arist. An. pri. I 1, 24b 18-20) Der Philosoph betont an dieser Stelle nicht das Moment des (vom Vorausgesetzten) Verschiedenen, sondern das Moment der Notwendigkeit oder des Zwangs, welches der Autor der Rhetorik gerade zurückweist. Während sich in der Praxis keine apodiktischen Notwendigkeiten angeben lassen, ist die Notwendigkeit für die Logik konstitutiv. Ein Argument wird aus der Perspektive der Aristotelischen Logik immer dann als gültig betrachtet, wenn die Akzeptanz der Prämissen die Annahme der Schlussfolgerung erzwingt. Diese Notwendigkeit konstituiert einen eigenen, rein theoretischen Geltungsbereich, der in seiner Apodiktizität die Platonischen Ideen beerbt. Die Deutungen der Logik schwanken von Aristoteles bis heute zwischen zwei grundsätzlichen Möglichkeiten. Entweder wird die Logik als rein konventionelles Kalkül begriffen, das in keiner Weise mit der Ordnung des Seins korrespondiert und einen rein heuristischen Wert besitzt, oder sie gilt als Ausdruck bzw. Ursache der Struktur des Seins.189 Diese pythagoräisch inspirierte Deutung reicht bis zu Chomsky und Searle, die hinter unserem alltäglichen Reden konstitutive, seine Performanz generierende Regeln vermuten. Die Ermittlung dieser Regeln hat immer auch eine politische Funktion: In ihr verbirgt sich der Versuch, den Bereich gültigen Argumen-
189 Die frühe analytische Philosophie geht etwa davon aus, dass jeder Sprachgebrauch eine logische Tiefenschicht aufweist, die ihn regiert. Berühmt geworden ist hier Russels Analyse des Satzes »Scott ist der Verfasser von Waverly«, die sich logisch wie folgt auflösen lasse: »Es gibt ein X, das die Eigenschaft hat, Verfasser von Waverly zu sein und es gilt für alle Y, dass wenn Y die Eigenschaft hat, Verfasser von Waverly zu sein, Y mit Scott identisch ist«. Vgl. Bertrand Russel, »Kennzeichnen [orig. On Denoting, 1905]«, in: Wolfgang Stegmüller (Hg.), Das Universalien-Problem, Darmstadt 1978, 21-40.
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tierens zu limitieren und Kriterien für eine endgültige Entscheidung strittiger Fragen zu ermitteln. Eine dritte mögliche Deutung der Logik, für die ich plädieren möchte, sieht in ihr nichts anderes als eine Art destillierter und dekontextualisierter Form der rhetorischen Argumentationslehre. Cicero bezeichnet die Dialektik im Sinne dieser Deutung als eine »zusammengezogene, konzentrierte Form der Beredsamkeit« (Cic. Brut. 309). Begreift man die Logik von der Redepraxis und Beredsamkeit her, dann haben ihre Regeln einen nur regulativen und keinen konstitutiven Charakter. Sie vermögen das Spiel der Argumente dann nicht länger von außen zu regieren, sondern werden selbst immer wieder zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Dies gilt noch für so basale logische Sätze wie den Satz der Identität oder des ausgeschlossenen Widerspruchs, sofern diese Sätze als Argumente Geltung beanspruchen wollen. Die Abkopplung der Logik von der Rhetorik hat selbst innerlogisch betrachtet problematische Konsequenzen. Wenn etwas vom Vorausgesetzten Verschiedenes notwendig aus den Voraussetzungen folgen soll, dann ließe sich fragen, ob es sich dabei um eine wirkliche Verschiedenheit handeln kann. Was notwendig aus einer Prämisse hervorgeht, muss bereits in dieser enthalten sein, so dass es gerade nicht verschieden sein kann. »Ein vorhersehbares Argument« aber, so Olbrechts-Tyteca und Perelman, »ist banal.« (NR 665) Ein Argument, dass eine neue Deutung offeriert, bleibt demgegenüber vorbildlos, abhängig also von Kontingenz und Freiheit. Argumentative Notwendigkeit führt allenfalls zur Reproduktion von etwas Identischem; eine wirkliche Veränderung bedürfte einer Unterbrechung der Kausalkette, wie sie das Enthymem mit sich bringt, auf einer gewissen Freiheit in der Praxis des Argumentierens beruht: »Nur das Vorhandensein einer weder zwingend schlüssigen noch willkürlichen Argumentation verleiht schließlich menschlicher Freiheit als Bedingung der Ausübung einer vernünftigen Wahl einen Sinn.« (NR 730) In seiner Nichtnotwendigkeit zwingt mich das Enthymem nicht zu einer bestimmten Konklusion, sondern ermöglicht mir, die Konklusion selbst zu ziehen, sie als meine Handlung zu begreifen, mich zu ihr zustimmend oder ablehnend zu verhalten. Aus dieser Möglichkeit speist sich eine Kraft der Überzeugung, die dem Kalkül des Syllogismus, dem ich mich nur unterwerfen kann, weit überlegen ist.
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Von Kommentatoren des 20. Jahrhunderts wie etwa Stephen Toulmin wird gegenüber Aristoteles der Vorwurf erhoben, mit der Formalisierung der Logik in den beiden Analytiken wäre ein fataler Schritt in Richtung auf eine Verwissenschaftlichung der Argumentationstheorie eingeleitet worden, den es durch eine Wiederanknüpfung an die Rhetorik rückgängig zu machen gelte. Aristoteles leitet die Geschichte einer Restringierung der Logik ein, die der weiter oben geschilderten Restringierung der Rhetorik korrespondiert. Perelman arbeitet heraus, dass beide Restringierungen zusammenhängen: So wie die Redekunst in der Zeit nach Aristoteles zu einer »Rhetorik der Figuren« degeneriert, welche »fortschreitend zunächst zum Verfall und dann zum Ende der Rhetorik geführt hat«, so hat auch die »moderne Logik« seit Kant »unter Logik nicht die Dialektik sondern die formale Logik begriffen [...], also die analytischen Schlüsse von Aristoteles«. Die Enthymeme wurden dagegen »als außerhalb der Logik liegend völlig außer acht gelassen«191+192. In der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaftstheorie werden beide Restringierung verstärkt und eine Art Universalitätsanspruch der Logik formuliert. Die Evidenz des Syllogismus fungiert hier als heimliches Vorbild für die Evidenz jeder Wissensform. Der Syllogismus geht von Axiomen aus, aus denen dann deduktiv sichere Folgerungen abgeleitet werden können. Diese Ableitung hat den Charakter einer Operation, eines automatisierbaren Regelbefolgens. Damit verbindet sich die Utopie einer Mathematisierbarkeit des Wissens, einer mathesis universalis, wie sie von Descartes angedacht und von Leibniz aufgegriffen wird. Die Evidenz der formalen Logik bildet das heimliche Modell der Evidenz von Experimenten bei Bacon wie auch der Evidenz des Selbstbewusstseins bei Descartes. Sowohl der Rationalismus als auch der Empirismus richten sich am Erkennt-
190 Vgl. Stephen Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, a.a.O. 191 Chaim Perelman, Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980, 13/14. 192 Gegen Perelmans These einer Restringierung der Logik spricht, dass die Suche nach einer rein formalen, notwendigen und eindeutigen Logik im 20. Jahrhundert zum paradoxen Resultat einer Pluralisierung der philosophischen wie mathematischen Logiken und Logikbegründungen geführt hat. Von der Logik lässt sich gerade unter Bedingungen der Moderne nicht mehr sprechen. Logik als Einheitsund Grundlagenwissenschaft existiert allenfalls noch als gemeinsamer Anspruch.
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nisideal der operativen Logik aus und kritisieren Sprache und Praxis als Sphären der Täuschung und des bloß Wahrscheinlichen. In einem berühmten Brief an Mersenne193 konzipiert Descartes eine mathesis universalis, eine künstliche, am Modell der Mathematik orientierte Sprache, mit deren Zeichen sich präzise und unter Ausblendung aller alltagssprachlichen Unschärfen rechnen ließe. Diese Utopie einer logischen Formalisierung der Sprache wird von Leibniz und Kant aufgegriffen und bleibt bis in die szientivistischen Logik-Theorien Bertrand Russels, Gottlob Freges und des Wiener Kreises leitend. Doch auch der historische Gegenspieler des Rationalismus, der mit Bacon einsetzende Empirismus, der vordergründig eine gewisse Skepsis gegenüber der (vor allem mit der Scholastik assoziierten) Methode des Syllogismus zum Ausdruck bringt, bleibt ihr auf einer tieferen Ebene verpflichtet. Insbesondere das Kernstück der Baconschen Wissenschaftstheorie, das Experiment, lässt sich nur vom Syllogismus her begreifen. Wie der Syllogismus zeichnet sich auch das Experiment durch das Ausblenden seiner Kontexte und eine gewisse Logik der Selbsterhaltung aus. Im Experiment werden Naturgesetzte ermittelt und bestätigt: Das Experiment zieht, so Michael Theunissen, »Linien der Vergangenheit aus, indem es das noch nicht Seiende aus der Bestimmtheit des schon Seienden bestimmt«194. Die syllogistische Reduktion der Argumentationstheorie ist immer wieder kritisiert worden. Gegen Descartes und Hobbes, welche die Verwendung von Sprache auf das Rechnen mit eindeutig definierten Wortzeichen reduzieren möchten, macht Giovanni Battista Vico im frühen 18. Jahrhundert das rhetorische Potential der Sprache stark. Insbesondere die Metapher durchkreuzt für Vico die syllogistische Logik. Während der Syllogismus vorgibt, von einem Punkt der Argumentation zu einem anderen, qualitativ höheren Punkt fortzuschreiten, bleibe er in Wahrheit auf der Ebene seines eigenen Voraussetzungssystems stehen, das er nur bestätige. Derjenige, welcher »mit dem Syllogismus arbeitet, bringt nichts Neues bei, weil im
193 Vgl. René Descartes, »Brief an Mersenne vom 20.11.1629«, in: ders., Briefe 1629-1650, hrsg. v. Max Bense, Köln/Krefeld 1949, 25-29. 194 Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 21977, 296.
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Ober- und Untersatz der Schlusssatz mit enthalten ist« . Die Metapher dagegen, die zwei heterogene Pole ohne Notwendigkeit zusammenspanne, betrete ein semantisches Neuland. Während der Syllogismus Differenzen in einem starren System (re-)produziere, schaffe die Metapher ein neues System, sie verschiebt die Koordinaten des Sinns. In jeder Metapher, die von etablierten lexikalischen Regeln abweicht, entsteht das Regelsystem der Sprache neu. Die Metapher fügt sich nicht einfach in ein bereits bestehendes Bedeutungsgefüge ein, sondern redefiniert es. Als Figur einer Bedeutungsdifferenz, die ohne vorausliegendes tertium comparationis auskommt, erinnert die Metapher dabei an das Enthymem. Im 19. Jahrhundert kritisiert Schelling den mit dem Syllogismus einhergehenden Universalitätsanspruch, indem er auf seinen verdrängten Tätigkeitscharakter hinweist. Schelling richtet sich wie Vico gegen den Schein der Notwendigkeit, in den sich die formale Logik hüllt: »Den allgemeinen Grundsätzen, von denen wir in unseren Urtheilen bestimmt werden, z.B. dem Gesetz von Ursache und Wirkung, gehorcht unser Inneres fast nicht anders, als der Körper dem Gesetz der Schwere gehorcht, wir urtheilen ihm gemäß nicht weil wir wollen oder in Folge eigentlicher Einsicht, sondern weil wir nicht anders können. Ebenso üben die Gesetze des Vernunftschlusses, ohne daß und ehe wir derselben bewußt sind, über uns eine völlig blinde Gewalt aus«196. Die spezifische Rhetorik der Logik besteht für Schelling mit anderen Worten darin, dass sie vorgibt, ihre Gesetze würden mit der gleichen Verbindlichkeit gelten wie Naturgesetze. Schelling interpretiert eine mit apodiktischem Anspruch auftretende Logik als Unternehmen der Naturalisierung des menschlichen Geistes. Er weist gegenüber dem Selbstverständnis einer solchen Logik darauf hin, dass jedem Schließen ein Akt zugrunde liegt, dessen Verdrängung erst den Schein einer Selbstevidenz oder Notwendigkeit des Logischen erzeugt: »Von einem Entschluß, einer Handlung oder gar einer That weiß das reine Denken nichts, in welchem alles mit Nothwendigkeit sich entwickelt«197. Eine Notwendigkeit der logischen Evidenz stellt Schelling mit seinem Hinweis auf die jeder Logik
195 Giovanni Battista Vico, Vom Wesen und Weg geistiger Bildung, übers. Walter F. Otto, Godesberg 1947 [1744], 55. 196 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart 1856-1861, Bd. XI, 263. 197 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. XIII, 173.
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zugrunde liegende Praxis in Frage. Den Übergang vom Grund zur Folge, der sich für die Logik von selbst einstellt, begreift er als Ergebnis einer Handlung. Adorno bringt Schellings Überlegungen auf den Punkt, wenn er 198 schreibt: »Logik ist eine wider sich selbst abgedichtete Praxis.« In den aktuellen Cyberspace- und KI-Debatten findet die Logikgläubigkeit des Rationalismus ihren späten Reflex in der Vision einer vollständigen Errechenbarkeit von Welt, die dann nur noch als Summe diskreter Eigenschaften oder Informationen interpretiert wird. Ein solcher Ansatz verfehlt konstitutiv den Eigensinn menschlicher Praxis. Handeln erschöpft sich niemals in einer einfachen Regelbefolgung. Im Handeln verhält sich das handelnde Subjekt vielmehr zur Regel. Alles Handeln ist, um eine Formulierung Karl-Otto Apels aufzugreifen, postkonventionell.199 Einer sprachlichen oder sozialen Regel folgt ein Akteur, wie sich im Anschluss an Kant, Wittgenstein oder Brandom zeigen ließe, in anderer Weise, als ein physikalischer Körper einem Naturgesetz folgt. Soziale und sprachliche Regeln werden frei anerkannt, was zunächst bedeutet, dass sie immer auch zurückgewiesen werden können. Der Eigensinn der Handlung manifestiert sich in einem distanzierten Verhältnis zur Regel, welches Praxis von bloßem Operieren unterscheidet. Bereits Demosthenes fragt seine Zuhörer in diesem Sinne: »Erscheint dir also die Beurteilung von Taten wie eine Rechnung mit Rechensteinen?« Und nimmt die Antwort selbst vorweg: »Eine solche Rechnung gibt es nicht bei Taten« (Dem. Ktes. 229/231). Auch spätere Rhetoriker wie Quintilian und Cicero weisen darauf hin, dass die Logik für alltägliche und politische Argumentationen wenig hilfreich ist: »So ist auch dies Gebiet der Dialektik oder, wenn wir es lieber so nennen, der Disputierkunst zwar oft nützlich bei Definitionen, Begriffsbildung, Abhebung von Unterschieden, Behebung von Doppeldeutigkeit, beim Unterscheiden, Gliedern, in die Falle locken und Verstricken, wird aber, wenn sie auf dem Forum den Kampf ganz für sich in Anspruch nimmt, besseren Möglichkeiten im Wege stehen« (Quint. inst. or. XII 2 13).
198 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1997, 229. 199 Vgl. Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1988.
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Gegen die Tendenz einer Identifikation von Handeln und Urteilen mit formalem Operieren lässt sich bereits Aristoteles selbst ins Feld führen, der ja die Logik als korrespondierendes Gegenstück zur Rhetorik begreift. Sowohl in der Rhetorik als auch in der Logik soll der Syllogismus einen Anspruch auf Geltung artikulieren. Das einschlägige griechische Verb, dessen sich Aristoteles in der Rhetorik wie in den Analytiken bedient, lautet pisteúein, vertrauen, glauben, einen festen Glauben schaffen. Das Erheben eines Geltungsanspruchs, einer pístiV, verlangt nach einer dialektischen Praxis, wobei dialektisch im alten Sinne einer Zwiesprache verstanden werden sollte, die kein Drittes, keinen transzendenten Maßstab der Schlichtung des argumentativen Widerstreits kennt. In der Rhetorik hat Aristoteles, worauf Markus H. Wörner hinweist200, bei seiner Kurzcharakterisierung des Syllogismus auf den Zusatz »mit Notwendigkeit« verzichtet. Von diesem Verzicht aus wird ein anderes Verständnis der Logik denkbar, das sich mit einer Unvollständigkeit, Unbestimmtheit und Freiheit des Argumentierens vereinbaren ließe: »Aristoteles hat die Lehre vom Syllogismus und seinen Varianten aus der Kommunikationspraxis seiner Zeit und für diese entwickelt. Die Theorie des Schließens ist bei ihm pragmatisch zurückgebunden. Diese pragmatische Verankerung in der Breite möglicher Verwendungsweisen geht in der nacharistotelischen Logik« und, so ließe sich ergänzen, teilweise auch schon bei Aristoteles selbst »verloren«201. In der formalen Logik überwintert Platons praxisfeindliche Ideenlehre. Eine Kritik an einem Verständnis formallogischen Schließens als einem operativen Kalkül, wie sie Schelling bereits angedeutet hat, wird auch im amerikanischen Pragmatismus formuliert. In seinen semiotischen Schriften legt Charles Sanders Peirce die Grundlagen einer Theorie eines Zeichenhandelns, die sich zugleich als Logik versteht. Zeichen stehen für Peirce immer schon in praktischen Kontexten. Ihre Gültigkeit oder Wertigkeit
200 Vgl. Markus H. Wörner, »Enthymeme – ein Rückgriff auf Aristoteles in sytematischer Absicht«, in: O. Ballweg/Th.-M. Seibert (Hg.), Rhetorische Rechtstheorie, Freiburg 1982, 82-85. – Vgl. auch Josef Klein, »Der Syllogismus als Bindeglied zwischen Philosophie und Rhetorik des Aristoteles – Anmerkungen aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive«, a.a.O, 43. 201 Josef Klein, »Der Syllogismus als Bindeglied zwischen Philosophie und Rhetorik des Aristoteles – Anmerkungen aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive«, a.a.O, 32.
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wird nicht über ihre Angemessenheit an ein formales Kalkül bestimmt. Ein Zeichen gewinnt seine Bedeutung vielmehr erst durch die Handlungen, zu denen es uns motiviert und in deren Kontext es steht. Wie die antiken Rhetoriker denkt Peirce die Sprache ausgehend von der Praxis und als Praxis. Die Logik bildet für Peirce einen Teil der Semiotik. Er definiert »Logik« als »Wissenschaft von den Symbolen«202 oder als die »Untersuchung der Zeichen«203. Für das logische Schließen bedeutet dies, dass »alles Schließen [...] die Interpretation einer Art von Zeichen«204 ist. Ganz explizit definiert Peirce das Schließen als Tätigkeit: »Wir haben gesehen, daß ein Urteil ein Akt des Bewußtseins ist, in dem wir eine Überzeugung übernehmen, und eine Überzeugung ist eine intelligente Gewohnheit, nach der wir handeln werden, wenn sich dazu Gelegenheit bietet.«205 Er repragmatisiert die Logik und zieht daraus die Konsequenz, nicht mehr die Deduktion, sondern die Abduktion, nicht den notwendigen, sondern den hypothetischen Schluss in den Mittelpunkt der Argumentationstheorie zu stellen, einen Typus des Schlussfolgerns also, der eher dem Enthymem als dem Syllogismus gleicht. Das abduktive Schlussfolgern besteht nicht in der Umsetzung eines Codes, im Operieren, sondern in einem nie vollständig gedeckten Vorgriff, für den ich gleichwohl Verantwortung übernehmen kann. Verantworten kann ich sinnvollerweise nur das, was im Prinzip auch Scheitern kann, versprechen nur das, was nicht notwendig eintreten wird. »Keine Kommunika-
202 Charles Peirce, »Erste Harvard-Vorlesung«, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, hrsg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986, 87-104, hier: 102. 203 Charles Peirce, »Logik als die Untersuchung der Zeichen«, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a.a.O., 188-190, hier: 188. 204 Charles Peirce, »Die Kunst des Räsonierens«, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a.a.O., 191-201, hier: 191. – An anderer Stelle definiert Peirce Argumente regelrecht als »Suadizeichen«, als persuasive Zeichen, die uns zu einem bestimmten Handeln motivieren. (Charles Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. übers. v. Helmut Pape, Frankfurt/M., 1983, 67 u. 84). 205 Charles Peirce, »Kurze Logik«, in: ders., Semiotische Schriften, Bd. 1, a.a.O., 202-229, hier: 218/219.
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tion zwischen zwei Personen«, so führt Peirce aus, »kann absolut bestimmt sein.«206 Zu einer Re-Rhetorisierung der Logik, die durch Schelling und Peirce eingeleitet wird, kommt es im 20. Jahrhundert im Werk von Chaim Perelman, dem Begründer der Nouvelle Rhétorique. Perelman, der 1912 in Warschau geboren wird und seit 1944 Philosophie und Rechtswissenschaften an der Freien Universität Brüssel lehrt, beginnt seine Karriere als Logiker und Positivist, empfindet aber schon bald ein Ungenügen an der formallogischen Tradition der Argumentationstheorie, welche die Gültigkeit eines Arguments aus seiner Rückführbarkeit auf eine syllogistische Form ableitet. Er reaktiviert vor diesem Hintergrund das argumentationstheoretische Potential der antiken Rhetorik. Perelmans Werk ist wie das Denken von Peirce gekennzeichnet durch eine Abkehr vom »notwendigen« Denken: »Argumentation kann nämlich, weil sie gerade darauf abzielt, mögliche Wahlentscheidungen zu rechtfertigen, keine Rechtfertigungen mit dem Beweisziel liefern, es gebe keine Wahl, sondern es biete sich für diejenigen, die das Problem untersuchten, nur eine Lösung an.« (NR 86) Insofern möchte Perelman die Freiheit als Kernstück der Argumentation einsetzen. Ein Argument bindet seine Adressaten gerade nicht dadurch, dass es sie zu etwas zwingt. Das Argumentieren lässt sich vielmehr so verstehen, dass es von einer Bewegung des Anerkennens aus freien Stücken abhängt. »Aus freien Stücken« bedeutet immer auch, dass wir nicht zustimmen müssen. Zustimmung erfolgt über eine leere Mitte hinweg, sie kann durch kein tertium garantiert werden, bleibt also ihrem Wesen nach enthymematisch. 207 »Argumente sind« für Perelman insofern »etwas anderes als Beweise« . Nach Olbrechts-Tyteca und Perelman »wägt man nicht ab, wo eine Lösung zwingend ist, und man argumentiert nicht gegen Evidentes. [...] Der eigentliche Bereich des Argumentierens ist also der des Wahrscheinlichen, des Plausiblen und des Akzeptablen, soweit es jenseits kalkulierbarer Gewißheiten liegt.« (NR 1) Das Argument dient nicht der Etablierung und Durch-
206 Charles Peirce, »Critical Philosophy and the Philosophy of Common Sense«, in: ders. Collected Papers, Bd. 5, hrsg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge 1936, 505-526, hier: 506. 207 Folker Siegert, »Rhetorik und Philosophie in der ›Neuen Rhetorik‹ Chaim Perelmans«, in: Helmut Schanze/Josef Kopperschidt (Hg.), Rhetorik und Philosophie, a.a.O., 217-228, hier: 220.
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setzung von Wahrheiten, sondern dem Anbahnen von Handelungen. Für Perelman und Olbrechts-Tyteca hat »wirkungsvolles Argumentieren den Erfolg [...], daß es bei den Hörern eine beabsichtigte Handlung (oder Unterlassung) auslöst, oder wenigstens eine Neigung zur Handlung bei ihnen weckt, die im geeigneten Moment zur Praxis führt.« (NR 61) Sie betrachten »das Argumentieren vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Wirkungen im Bereich menschlichen Handelns« (NR 64). Wie die antiken Rhetoriker und die modernen Pragmatisten interpretieren Olbrechts-Tyteca und Perelman Argumentation konsequentialistisch. »Jegliche Argumentation begreift sich nämlich [...] nur im Bedingungsgefüge eines Handelns, das sie vorbereitet oder abschließt.« (NR 74) Das Argument findet sein Telos nicht in einer Konklusion oder einem Wissen, sondern in einer Entscheidung oder in der Veränderung einer Situation. »Argumentation ist eine Einflussnahme [action], die immer darauf abzielt, frühere Zustände zu verändern.« (NR 75) Perelman verfasst insgesamt drei zentrale Werke zur Argumentationstheorie. 1957 veröffentlicht er zusammen mit seiner Assistentin Lucie Olbrechts-Tyteca La nouvelle Rhétorique. Traité de l’Argumentation, 1969 erscheint Le Champ de l'argumentation, 1977 schließlich L'Empire rhétorique. Perelman weist in allen drei Büchern darauf hin, dass die neuzeitliche Ausrichtung der Argumentationstheorie an der formalen Logik das Wesen des Arguments vollkommen verfehle: »Eine Argumentation kann keine Gewißheit verschaffen, und gegen Gewißheit läßt sich nicht argumentieren. Wer von Gewißheit ausgeht, kann sie bei seinen Gesprächspartnern als ebenso gegeben voraussetzen: nur bei umstrittener Gewißheit kommt die Argumentation ins Spiel.«208 Vor diesem Hintergrund macht er den Vorschlag, die Theorie der Argumentation wieder innerhalb der Rhetorik anzusiedeln, wobei er Rhetorik als diejenige Disziplin begreift, welche es von Haus aus mit dem Ungedeckten und Mehrdeutigen zu tun habe. Wenn wir uns auf das Spiel der Argumente einlassen, haben wir längst den Boden letzter Evidenzen unter unseren Füßen verloren: »Allein die Tatsache, für eine These Gründe anzuführen, bedeutet ja schon, daß sie nicht evident und für alle verbindlich ist.«209 Insofern ergänzen Olbrechts-Tyteca und Perel-
208 Chaim Perelman, Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation, München 1980, 16. 209 A.a.O., 141.
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man, »daß Argumentation niemals zwingend ist« (NR 293). Wir argumentieren vielmehr erst dann wirklich, wenn wir die Prämissen des Arguments mit zur Disposition stellen. Eine rhetorisch gewendete Argumentationstheorie müsste also strenggenommen die Bedingungen der Unmöglichkeit logischen Schließens mit zu seinen Möglichkeitsbedingungen rechnen. Von hier aus fällt ein interessantes Licht auf die rhetorische Bevorzugung des Überredens vor dem Überzeugen. Diese Bevorzugung darf nicht als Ausdruck einer instrumentellen Rationalität missverstanden werden. Dass wir ohne Rekurs auf Gründe zu überzeugen vermögen, verweist uns vielmehr auf einen negativistischen Zug der Rede. Wir haben durch unser bloßes Reden immer schon überzeugt, gerade vor dem Hintergrund der Abwesenheit von Evidenzen. Rede funktioniert nicht oder nur in Ausnahmefällen wie ein Begründungsspiel. In ihrer Neuen Rhetorik schlagen Olbrechts-Tyteca und Perelman vor, »eine Argumentation überredend zu nennen, wenn sie nur bei einer partikulären Hörerschaft gelten soll, und sie überzeugend zu nennen, wenn sie mit dem Geltungsanspruch auf Zustimmung bei allen vernünftigen Wesen verbunden wird.« (NR 37) Ganz im Sinne des Aristoteles wird die Differenz von Logik und Rhetorik hier von ihren jeweiligen Adressaten abhängig gemacht. Der Anspruch auf Zustimmung aller vernünftigen Wesen, der von Habermas als Kriterium allen vernünftigen Argumentierens beansprucht wird, gilt Olbrechts-Tyteca und Perelman als Sonderfall eines breiteren Spektrums argumentativer Möglichkeiten. Wie Habermas binden Olbrechts-Tyteca und Perelman die Gültigkeit von Argumenten an eine gewisse Art von Gewaltlosigkeit. Im Gegensatz zu Habermas, der die Gültigkeit eines Arguments für alle vernünftigen Wesens nach Art der formalen Logik als eine Art Zwang höherer Ordnung begreift, als den zwanglosen Zwang des besseren Arguments, heben Olbrechts-Tyteca und Perelman hervor, dass der Zwang auf keiner Ebene der Argumentation einen Ort hat: »Die Tatsache, daß man argumentiert, bedeutet zugleich, daß man darauf verzichtet hat, ausschließlich auf Gewalt zurückzugreifen, daß man auf die Zustimmung des Gesprächspartners, die man mit Hilfe einer vernünftigen Überredung erlangt, Wert legt und daß man den Gesprächspartner nicht als ein Objekt behandelt, sondern daß man an seine Urteilsfreiheit appelliert.« (NR 76). Die Neue Rhetorik unterscheidet sich von der Habermasschen Formalpragmatik weniger entlang der Konfliktlinie von Gewalt vs. Überzeugung, als vielmehr entlang einer anderen Konfliktlinie: der von Universalität vs.
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Partikularität. Mit Pareto weisen Olbrechts-Tyteca und Perelman darauf hin, dass »ein stark beanspruchtes universelles Einverständnis allzu oft nur eine unberechtigte Verallgemeinerung einer partikulären Intuition darstelle« (NR 44). Der Rekurs auf die universelle Hörerschaft dient dazu, dass »Anormale« (NR 45) zu konstituieren und zugleich zu disqualifizieren. Olbrechts-Tyteca und Perelman knüpfen insofern auch nicht an die Kantische Idee einer universellen Vernunft an, sondern an Sartres Konzept einer »konkreten Universalität«211. Seit dem 17. Jahrhundert bemerken die Schriftsteller, so Sartre, eine Diskrepanz zwischen einer idealen Öffentlichkeit aller Menschen, an die sie sich gern richten würden, und der wirklichen Öffentlichkeit ihres eingeschränkten Leserkreises. Aus dieser Diskrepanz wird die abstrakte Idee der Universalität geboren. Dieser abstrakten Universalität setzt Sartre die konkrete Universalität der lebenden Menschen einer gegebenen Gesellschaft entgegen. Das sind nicht alle Menschen, sondern die, die ein Schriftsteller jeweils erreichen könnte. Sich an die Menschheit zu adressieren wäre demgegenüber vermessen, schlecht abstrakt und latent gewaltsam. Ähnlich wie Perelman betont auch Rüdiger Bubner, dass Argumente mit formallogischen Mitteln nicht hinreichend beschrieben werden können, sondern immer auch von einer Pragmatik getragen werden, die auf die Lebenswelt verweist: »Die Aufforderung zum Argumentieren entspringt [...] nicht dem Verfügen über Gründe, sondern im Gegenteil dem Mangel daran. Die Suche nach Gründen gleicht eher einer Rückführung des Problematischen auf etwas, das man noch nicht hat, statt der Ableitung auf etwas, das man hat. Konstitutiv wird die Aufgabe des Entdeckens, weil noch nicht feststeht, woraus zwingend abzuleiten wäre.«212 Die Gründe, welche wir zu Beginn der Argumentation aufsuchen müssen, werden sich erst nachträglich, rückblickend von der gelingenden Argumentation, als gute Gründe ausweisen lassen. In jedem Argument können also zwei zeitliche Ebenen unterschieden werden: Etwas am Argument ist noch kein guter Grund, sondern hat sich erst als solcher zu erweisen, ein Erweis, der konstitutiv vom Scheitern bedroht ist. Wäre es nicht möglich, dass der herangezogene
210 Vilfredo Pareto, Traitè de sociologie générale, Genève 1968, Bd. I, Kap. IV §§ 589 u. 599. 211 Jean-Paul Sartre, Situations II, Paris 1949, 192-193. 212 Rüdiger Bubner, Dialektik als Topik, Frankfurt/M. 1990, 67/68.
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Grund auch kein guter Grund ist, so könnte er nie zu einem solchen werden. In dieser paradoxen Struktur kommen das Enthymem des Aristoteles, die Peircesche Abduktion und Perelmans Begriff des Arguments überein. Hinter allen Versuchen einer Logifizierung der Sprache verbirgt sich die Absicht, Rede in konstitutiven Regeln zu begründen oder mit anderen Worten: der Kompetenz einen Vorrang vor der Performanz einzuräumen. Die konstitutiven Regeln sollen dabei eine mathematische Evidenz beanspruchen können; die Kenntnis der konstitutiven Regeln erlaubt es dem Sprachphilosophen oder Linguisten, den Bereich des Sagbaren vollständig zu berechnen. Gegen die Annahme konstitutiver Regeln (wie Sybille Krämer es formuliert: einer »Sprache hinter dem Sprechen«213) macht die Rhetorik seit jeher die Immanenz der Rede und der Redesituation geltend: »Denn als zuerst Menschen gebildet wurden, schenkte ihnen ja nicht die Analogie, vom Himmel herabgekommen, das Sprachmuster (fertig), sondern sie wurde erfunden, als sie schon sprachen, und es wurde in der Sprache festgehalten, wie jeweils die Endung lauten sollte. Deshalb gründet sie sich nicht auf Verstandeserwägungen, sondern auf das Beispiel, und es gibt kein Sprachgesetz [nec lex est loquendi], sondern Sprachbeobachtung, so daß nichts anderes die Analogie selbst geschaffen hat als der Sprachgebrauch.« (Quint. inst. or. I 6, 16) Quintilian diskutiert an dieser Stelle Probleme der Grammatik. Er fragt sich, wie es überhaupt zu Regelmäßigkeit und Konstanz in der Flektion, zu wiederholbaren Mustern und Analogien gekommen ist. Die Fähigkeit zur Analogiebildung fiel nicht vom Himmel, sondern entsprang dem Gebrauch. Die Performanz des Sprechens geht der Kompetenz voraus. Beredsamkeit siedelt sich jenseits der Chomskyschen Unterscheidung von Kompetenz und Performanz an. Erst als sie schon sprachen, erfanden die Menschen aus der Sicht der Rhetorik Regeln, und zwar durch Beobachtung ihres Sprechens. Quintilian ironisiert die Behauptung eines Vorranges der Kompetenz: Ihm scheint »die Bemerkung sehr hübsch, es sei etwas anderes, ob man lateinisch oder grammatisch spreche.« (Quint. inst. or. I 6 27) An anderer Stelle diskutiert er den Stellenwert von rhetorischen Regeln der Wortfügung und spricht diesen Regeln einen Gesetzescharakter explizit ab: »Ich habe auch, als ich die (den Schlußsilben) vorausgehenden Versfüße bestimmte, nicht ein Gesetz aufge-
213 Vgl. Sybille Krämer/Ekkehard König (Hg.), Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/M. 2002.
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stellt [legem dedi], andere dürften nicht vorkommen, sondern habe dargelegt, was in der Regel sich findet und was in der Gegenwart als das Beste gilt.« (Quint. inst. or. IX 4 109) Die rhetorische Regel hat also eher etwas mit Gewohnheiten zu tun; sie verkörpert das, was eben in der Regel getan wird.
3. Die Politik der Rede
3.1 R HETORIK D IE P OLIS
UND RADIKALE
D EMOKRATIE :
Der französische Historiker Jean-Pierre Vernant führt die Geburt des griechischen Denkens insgesamt auf die Herausbildung eines Bewusstseins des Politischen zurück, welches mit der Krise der minoisch geprägten PalastÖkonomie zu Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. entsteht. Rhetorik und Philosophie gehen aus dem Geist dieser Krise hervor. In der neuen Polis konzentriert sich die Macht nicht länger auf den Palast. Eine Schicht von Bürgern beginnt sich zu emanzipieren und gestaltet die Angelegenheiten des Gemeinwesens im öffentlichen Gespräch. Politik nimmt hier »die Form des Âgõn an: eines Redeturniers, einer mit Argumenten geschlagenen Schlacht.«1 Die Rhetoriker positivieren diesen Âgõn rückhaltlos. Die Politik verknüpft sich ihnen mit einer agonal verfassten öffentlichen Debatte. Jede politische Meinung steht für eine partikulare Position in einem gesellschaftlichen Kräftefeld, das von keiner Position aus als Ganzes überblickt werden kann. Der Konflikt gilt hier, wie Heraklit schreiben sollte, als »der Vater aller Dinge« (DK 22 B 53). Philosophie und Rhetorik beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf den Âgõn2, der als Grundprinzip des sozialen und kulturellen Lebens im klassischen Griechenland begriffen werden kann. Der Âgõn, der sein Ur1
Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, übers. v. Edmund Jacoby, Frankfurt/M. 1982 [1962], 42.
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Der ]agõn war anfänglich der Versammlungsort, die Bühne, auf der die Auseinandersetzung ausgetragen wurde.
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bild im Kampf Hektors und Achills hat , findet seinen Ausdruck in einer breiten Wettkampfkultur, die vom Ring- und Faustkampf über Leichtathletik, Wagenrennen, Wettkämpfe von Triëren, bis hin zu Dichter- und Rednerkämpfen reicht und sich in die Unterrichtsprinzipien der Grammatikund Rhetoriklehrer hinein verlängert. Sich dem Âgõn nicht auszusetzen, gilt als Laster der filoqucía (vgl. etwa Plat. Apol. 37 c), der Überlebenssucht. In den zentralen panhellenischen Festen wie den Olympischen Spielen wird der Âgõn inszeniert. Die Stadtstaaten führen sich hier rituell ihr zentrales gesellschaftliches Prinzip vor Augen. Im Âgõn erkennen die 4 Griechen genau das Prinzip als gesellschaftsbildend an, das moderne Staatsphilosophen seit Hobbes aus der Gesellschaft ausschließen und in einen Naturzustand verbannen wollen. Gerade im offen ausgetragenen Konflikt findet eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe statt, der den Âgõn von Feindschaft und Gewalt abhebt. Insofern kann eine Politik der Gleichen und Freien auf dem Konflikt aufgebaut werden. In diesem Punkt antitipiert das sophistisch-rhetorische Ethos radikaldemokratische Konzeptionen der Gegnerschaft, die heute im Anschluss an Nietzsche und Foucault den Dissens und den Widerstreit positivieren.5 Das von der Rhetorik positiv aufgenommene agonale Prinzip bestimmt das gesamte geistige und politische Leben der klassischen Antike. Für Johan Huizinga gilt es als ausgemacht, dass »der Weisheitssucher von den ältesten Zeiten an bis zu den späten Sophisten und Rhetoren als ein typischer Kämpfer auftritt. Er fordert seine Mitbewerber heraus, er greift sie mit heftiger Kritik an und verherrlicht seine Meinungen als die wahren [...]. Stil und Form der frühen Proben der Philosophie sind polemisch und agonal.«6 In der griechischen Kultur geht es immer wieder darum, sich in öffentlichen
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Deren »Wettkampf [gibt] [...] ganz unabhängig von Sieg und Niederlage jedem von beiden erst die Gelegenheit [...], sich so zu zeigen, wie er eigentlich ist, das heißt wirklich in Erscheinung zu treten und damit völlig wirklich zu werden« (Hannah Arendt, Was ist Politik?, a.a.O., 94).
4
Auch die römische Kultur ist vom Âgõn geprägt; Cicero etwa verwendet bewusst den griechischen Begriff (vgl. Cic. ad Atticus I 16).
5
Vgl. hierzu Oliver Flügel-Martinsen, Grundfragen politischer Philosophie. Eine Untersuchung der Diskurse über das Politische, Baden-Baden 2008, 219-260.
6
Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, 115.
P OLITIK
DER
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Auseinandersetzungen als ]áristoV, als Bester hervorzutun. In der Rhetorik ist die agonale Dimension insofern ständig gegenwärtig, als die rednerischen Auseinandersetzungen häufig in Metaphern beschrieben werden, die dem Bereich des sportlichen Zweikampfs wie der militärischen Strategien entlehnt sind.7 Quintilian bedient sich, wenn er rednerische Auseinandersetzungen beschreibt, Metaphern aus dem Umfeld des Faust- und Ringkampfes sowie der Fechtkunst; die vom Redner während seiner Ausbildung zu habitualisierenden Strategien entsprechen den Stellungen und Stellungswechseln, die die Gladiatoren einüben: »Weiter beim Waffenzweikampf und aller Ringkunst, was kann da ein Kämpfer im richtigen Verteidigen und Angreifen zuwege bringen, dem nicht die kunstgerechten Bewegungen und bestimmte feste Fußstellungen die nötigen Hilfen liefern?« (Quint. inst. or. IX 4, 8) Wie bei den Gladiatoren haben wir es in der Rhetorik mit »Kämpfen« zu tun, »die um die Entscheidung gehen« (Quint. inst. or. X 5, 20). Beide Typen von Kämpfen haben ein spielerisches, inszenato8 risches Moment und sind an ein Publikum adressiert. Doch zugleich kann es im Gericht wie in der Arena um Leben und Tod gehen. In beiden Bereichen ist die Entscheidung der eigentliche Fluchtpunkt. Eine Niederlage in der Volksversammlung oder vor Gericht wäre genauso irreversibel wie die Niederlage in der Arena. An den Kampfkünsten interessiert die Rhetoriker nicht nur das Moment der Agonalität, sondern auch ein funktionalistisches ästhetisches Ideal. So schreibt Cicero – ein, wie wir aus seinem Briefwechsel wissen, regelmäßiger Besucher der »Spiele und Gladiatorenkämpfe« (vgl. etwa Cic. ad Atticus I 16) –: »Denn wie wir sehen, daß die Boxer und nicht viel anders die Gladiatoren keine Bewegung machen, weder bei vorsichtiger Deckung noch bei energischem Angriffe, die nicht eine bestimmte Schulung erkennen ließe, so daß auf diesem Gebiet alles, was zum Kampfe förderlich ist, zugleich auch einen anziehenden Anblick bietet, ebenso landet auch der
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Von Protagoras wissen wir, dass er auch ein Buch Über das Ringen geschrieben hat (vgl. Diog. Laert. IX 55); Cicero erwarb sich, nachdem er als Feldherr im Dezember 51 in Kilikien Aufständische besiegte, den militärischen Titel des Imperator.
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Die Rhetoren richteten sich nicht einfach nur an ein Publikum, sondern schufen sich ein solches. Die »Hörerschaft am Ende der Rede ist nicht mehr genau dieselbe wie zu Beginn« (NR 31).
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Redner keinen erfolgreichen Schlag, wenn seine Attacke nicht kunstgerecht geführt ist« (Cic. or. 228). Die antiken Kampfkünste dürften weniger unserem westlichen, kraftbetonten Boxen und Ringen geglichen haben, als vielmehr den japanischen Budo-Künsten, die, indem sie die Kraft des Gegeners gegen diesen selbst richten, jede körperliche Bewegung einem Ideal der Effizienz und Eleganz unterstellen.9 Allein aus den Andeutungen, die in rhetorischen Traktaten gemacht werden, lässt sich rekonstruieren, dass insbesondere der richtigen Atmung, der richtigen Stellung und dem Timing zentrale Bedeutung beigemessen wurden. Die rhetorische Ethik der Agonalität sollte nicht mit einer Apologie der Gewalt verwechselt werden. Die Gegnerschaft der sich in der Volksversammlung bekämpfenden Redner wäre demgegenüber eher als Gegnerschaft auf gleicher Augenhöhe zu begreifen, sie zielt nicht auf die Vernichtung des Gegners. Cicero hebt dezidiert hervor, dass das Wort die physische Gewalt gerade zu verhindern hilft: Das »Wort eines verantwortungsbewußten Bürgers« vermag »den Händen wütender Mitbürger die Waffen noch [zu] entwinden« (Cic. Brut. 7). Und weiter: »Des Friedens Gefährtin ist die Redekunst, Begleiterin der Ruhe, Zögling eines schon wohl geordneten Staatswesens.« (Cic. Brut. 45) An anderer Stelle: »Weichen sollen die Waffen der Toga, der Lorbeer dem Lobe [Cedant arma togae concedat laurea laudi].« (Cic. de off. I 77) Der Ruhm des Redners steht über dem des Feldherrn, weil jener mit den geringsten Mitteln die größten Wirkungen erzielt. Auch Aelius Aristides, ein führender Vertreter der zweiten Sophistik, weist auf das pazifierende Moment der Rhetorik hin: »Deshalb wurde die Rhetorik erfunden und betrat die Szene als ein Schild der Gerechtigkeit und ein Lebensband für die Menschen, damit niemand mehr seine Angelegenheiten durch Muskelkraft oder Waffengewalt, aus Eigensucht, durch die Menge oder Größe entscheiden sollte. Statt dessen sollte der lógoV das Richtige in Ruhe beschließen.« (Aelius Aristides, Über die Rhetorik I 210)10 Bevor wir in Kapitel 3.2 die politische Ausrichtung der Rhetorik mit derjenigen der Philosophie kontrastieren, sei ein kurzer Blick auf die konkrete historische Situation gestattet, in die die Etablierung der Rhetorik
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Vgl. Michael B. Poliakoff, Kampfsport in der Antike. Das Spiel um Leben und Tod, Düsseldorf/Zürich 2004.
10 Zit. n. Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 190.
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fällt. Der politischen und kulturellen Geschichte Athens kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Ein wesentlicher Schritt aus der von Vernant so genannte Palastökonomie stellt die Wahl Solons zum Athener Archon im Jahr 594 v. Chr. dar. Solon ordnet das Verhältnis der zu seiner Zeit stark zerstrittenen athenischen Stände neu; angesichts eines drohenden Bürgerkriegs erlässt er einer verarmten Landbevölkerung die Schulden und schafft das die Klassengegensätze (und -spannungen) zementierende Instrument der Schuldknechtschaft ab. Darüber hinaus entscheidet von nun an nicht mehr nur noch der Erbadel über die Angelegenheiten der Stadt. Solon unterteilt die Bürgerschaft in vier Besitzklassen, denen je nach Vermögen unterschiedliche Partizipationsmöglichkeiten zukommen. Seine größte Leistung liegt aber darin, den Athenern zu zeigen, »dass die politische Ordnung gestalt11 bar« , das Gerechtigkeit machbar sei, er wird damit gleichsam zum Erfinder des Politischen. Die Gesetze Solons, der im Altertum als einer der sieben Weisen verehrt wird12, werden noch um 400 v. Chr. hochgehalten und tradiert. Von Lysias ist aus dieser Zeit eine Rede gegen den Stadtschreiber Nikomachos überliefert, der damit beauftragt wurde, »die Gesetze Solons im Verlauf von vier Monaten neu aufzuzeichnen« (Lysias or. XXX 2), der sich dabei allerdings die Freiheit herausnahm, den Gesetzestext zu verändern, was als Sakrileg erachtet wurde. Nach etwa einem halben Jahrhundert setzt sich 546 v. Chr. gegen die von Solon etablierte Ständeordnung, die durch ein bisher nie zuvor erreichtes Maß an Partizipation gekennzeichnet war, eine Tyrannis unter Peisistratos und seinen Verwandten durch. Im Jahre 514 v. Chr. wird Hipparchos, der Erbe und Nachfolger des Peisistratos, durch Harmodios und Aristogeion ermordet, ein Ereignis, das die Athener in späterer Zeit als den eigentlichen Beginn der Demokratie interpretieren sollten. Um 500 v. Chr. beauftragt die Bürgerschaft den Bildhauer Antenor, im Zentrum der Âgorá eine Statuengruppe 13 der beiden Tyrannenmörder zu errichten. Diese Statuen-
11 Hans Vorländer, Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien, München 2003, 17. 12 Platon bezeichnet ihn als »den weisesten unter den Sieben« (Plat. Tim. 20d). 13 Daneben existierten in Athen noch eine Reihe von anderen Statuen, Statuengruppen und Gemälden der Demokratie und des Demos (vgl. Pausanias I 3, 2 und 3, 4). Pausanias berichtet von einer Inschrift, die besagt, dass Theseus die Demokratie in Athen eingeführt habe. Er schreibt weiter, dass diese weit verbreitete Meinung falsch sei, dass es aber vom hohen Respekt der Athener vor der Demo-
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gruppe »wurde zum Sinnbild der neuen Verfassung Athens; und als sie 480 v. Chr. von den Persern als Beutegut verschleppt wurde, ersetzten die Athener sie schon wenige Jahre später durch eine neue«14+15. Harmodios und Aristogeion werden allerdings schon bald von Hippias, einem Bruder des Hipparchos verdrängt, der das tyrannische System reaktiviert. Die Athener Bürger vereinen sich in den folgenden Jahren in ihrem Widerstand gegen die Tyrannis. Hippias wird 510 v. Chr. von antityrannisch eingestellten Bürgern, die von der Armee Spartas unterstützt werden, vertrieben. 508 setzt sich Isagoras erfolgreich gegen erneute Umsturzversuche zu Wehr. Im 16 gleichen Jahr wird, so berichtet Herodot, Isagoras durch Kleisthenes abgelöst, der zugleich umfassende wie vorbildlose Reformen einleitet und als der eigentliche Begründer der klassischen athenischen Demokratie gelten kann, in der die Gewalt der Gesetzgebung, Regierung und der Gerichtsbeschlüsse beim Volk liegen wird. Gegen das alte, auf Solon zurückgehende gentizilische Prinzip etabliert Kleisthenes ein territoriales Ordnungsprinzip.17 Athen wird dabei in drei Landschaftszonen (Küste, Land, Stadt) eingeteilt, zwischen deren Stämmen (Phylen) traditionell Interessenskonflikte herrschen. Die Gemeinden innerhalb jeder dieser Landschaftszonen werden mittels eines Delegiertensystems zu höheren politischen Einheiten, den sogenannten Trittyen, zusam-
kratie zeuge, wenn sie auf einen der bedeutendsten mythischen Helden zurückgeführt werde (vgl. Pausanias I 3, 2). 14 Peter Funke, Athen in klassischer Zeit, München 1999, 28. 15 Später, im Jahr 333 v. Chr., beschließt der Rat, einer inzwischen zur Göttin erhobenen Demokratia auf der Agora eine Statue zu errichten. Auch viele Schiffe der athenischen Kriegsflotte wurden auf den Namen Demokratia getauft (vgl. Hans Vorländer, Demokratie, a.a.O., 16). 16 Kleisthenes selbst war vermutlich kein überzeugter Demokrat; er versuchte vielmehr, seine eigene Position in einem von unterschiedlichen aristokratischen Gruppen geführten Kampf um Hegemonie dadurch zu stärken, dass er das einfache Volk für seine Fraktion zu gewinnen suchte (vgl. Hans Vorländer, Demokratie, a.a.O., 17). 17 Vgl. Peter Funke, Athen in klassischer Zeit, a.a.O., 18. – Vgl. zum Folgenden ferner Michael Stahl, Gesellschaft und Staat bei den Griechen. Klassische Zeit. Paderborn 2003.
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mengefasst. Schließlich vereint Kleisthenes je eine Tittys (»Drittel«) aus Küste, Land und Stadt zu einer nun neu definierten Phyle. Dieses System sorgt für eine Durchmischung der verschiedenen, regional definierten Interessengruppen und stärkt damit das Gemeinschaftsgefühl. Das eigentliche Zentrum der Kleisthenischen Reformen bildet aber der Rat der Fünfhundert (boul®19). In diesem Rat, der im einem Bouleuterion, einem an die Agora grenzenden öffentlichen Gebäude tagte, waren die insgesamt zehn Phylen mit einer ihrer Bevölkerungszahl entsprechenden Zahl an Repräsentaten vertreten, die durch Wahl und Los bestimmt wurden.20 In die Zuständigkeit des Rates fielen Verhandlungen über Amtsenthebungen im Falle von Amtsmissbrauch, Fragen der Organisation der Flotte sowie der Haushalt. Neben der boul® existieren im von Kleisthenes begründeten System noch zwei andere zentrale politische Institutionen, die sich, modern gesprochen, die Gewalten teilen: Zunächst der Areopag, dem 200 bis 300 Mitglieder auf Lebenszeit angehören, die sich aus den ehemaligen Archonten21 zusammensetzen; dem Areopag unterstehen die bedeutendsten Gerichtsfunktionen sowie die Gesetzesaufsicht. Dann die (zunächst auf der Agora, später auf einem Abhang der Pnyx tagende) Volksversammlung, ]ekklhsía 22, die insbesondere in den 480er Jahren an Bedeutung gewinnt, zunehmend Kompetenzen der boul® übernimmt und zur zentralen demokratische Institution avanciert. Die Volksversammlung, die etwa vierzigmal im Jahr tagt, gibt
18 Vgl. Peter Funke, Athen in klassischer Zeit, a.a.O., 20. 19 Der Institution der boul® korrespondiert sprachlich das von den Sophisten vermittelte Ideal der e]uboulía, des Wohlberatenseins. In Platons Protagoras benennt der Sophist die e]uboulía als Ziel seines Unterrichts. Seine Schüler sollen »auf bestmögliche Weise darauf vorbereitet werden, im Staat durch Wort und Tat zu wirken« (Plat. Prot. 318e). Sokrates deutet diese Äußerung mit Recht so, dass Protagoras eine politik técnh (Plat. Prot. 319a) lehre. 20 Vgl. Peter Funke, Athen in klassischer Zeit, a.a.O., 21. 21 Der Archon ist der höchste Beamte in Athen. In archaischer Zeit, von etwa 1068 bis 752 v. Chr. wird der Archon auf Lebenszeit gewählt, seit 752 v. Chr. für jeweils zehn Jahre, von 683 v. Chr. an für jeweils nur ein Jahr. 22 Das Substantiv Êkklhsía geht auf das Verb kaleîn zurück, welches rufen, berufen und einladen bedeutet; Êkklhsía impliziert also auf ethymologischer Ebene einen gewissen Primat der Stimme und Rede im Politischen; sie setzt sich aus denen zusammen, die sich durch das Wort wechselseitig einberufen.
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Gesetze und überwacht deren Einhaltung; vor der Volksversammlung können aber auch Klagen einzelner Bürger gegen Beschlüsse des Rates und der Volksversammlung vorgebracht werden. In erster Linie behandelt die Volksversammlung das Strittige, Fälle also, die nicht eindeutig durch einen Rekurs auf ein Gesetz entschieden werden können, in denen vielmehr die Gesetzmäßigkeit des Gesetzes selbst zur Debatte steht. Um erfolgreich zu sein, benötigt ein Antrag in der Volksversammlung mindestens 6000 Stimmen, was, geht man von einer Zahl von etwa 25000-30000 Athener Vollbürgern aus, für den hohen Grad direkter Partizipation zeugt. Im Jahr 462/461 werden dem Areopag auf Initiative des Perikles, der die Reformen des Kleisthenes noch einmal radikalisiert, alle gesetzgeberischen Kompetenzen entzogen und auf den Rat sowie die Volksversammlung übertragen. Zu dieser Zeit etablierte sich die Rede von der dhmokratía, der Herrschaft des Volkes. Für die nächsten 150 Jahre sollte nun alle politische Gewalt allein bei der athenischen Bürgerschaft liegen. Das rhetorische Ideal größtmöglicher Partizipation und Inklusion lässt sich nur schwer mit der Herausbildung einer speziellen Politikerkaste vereinbaren. Die politische Praxis der klassischen Zeit sorgt durch ein komplexes System von Wahlen, Losverfahren und Diäten für eine fast universelle Beteiligung der Bürger in den politischen und juridischen Institutionen. Die Herausbildung einer Kaste professionalisierte Politiker oder Beamter wird dagegen, wie das folgende Demosthenes-Zitat belegt, mit Skepsis betrachtet: »Was ist nun an all diesem schuld, und warum ging denn eigentlich damals alles gut und warum geht es jetzt nicht richtig?24 Weil da-
23 Noch diese Gesetze selbst werden als Reden interpretiert, wovon etwa die Rhetorik an Alexander berichtet: »Auch das Gesetz nämlich ist schlicht gesagt eine abgewogene Rede« (Anax. Rhet. 1421a). 24 Die olynthischen Reden richten sich gegen Philipp und fordern von den Athenern verstärkte Rüstungsanstrengungen. Sie wenden sich insbesondere gegen ein Gesetz, das es verbietet, Steuern, die für die Ausrichtung der Schauspiele, speziell für die Ausstattung der Tragödienchöre, erhoben werden, für einen anderen Zweck zu verwenden. Demosthenes fordert, diese Steuern dem Ausbau der Flotte zukommen zu lassen, was, so zumindest seine Gegner, angesichts der Bedeutung der Tragödie für das kulturelle Leben einem Sakrileg gleichkommt. Demosthenes ermahnt seine Mitbürger dazu, dieses Opfer zu bringen und wirft ihnen zugleich vor, unter dem Einfluss einer Kaste von Berufspolitikern verweichlicht, eigennüt-
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mals das Volk selbst [a]utòV äo d²moV] den Mut hatte, zu handeln und Krieg zu führen; es hatte die Kontrolle über die Politiker und verfügte selbst über die Vorteile, und jeder war zufrieden, eine Ehre, ein Amt und eine Vergünstigung zu erhalten; nun aber ist das Gegenteil der Fall, die Politiker haben alle Vorteile in der Hand und steuern alles, ihr aber, das Volk, die ihr gelähmt seid und eueren Wohlstand und eure Verbündeten verloren habt, seid nur noch Hilfspersonen und Nebenfiguren« (Dem. Dritte Olynthische Rede III, 30/31). Demosthenes plädiert für ein performatives Politikkonzept, für eine Politik, die sich als autonome Kraft der Instituierung der Polis versteht und sich nicht als Institution (als Beamten-, Wächteroder Expertentum) von dieser abheben lässt. Seit im Jahre 508 v. Chr. mit Isagoras der letzte Tyrann aus Athen vertrieben wird, besteht eine direkte Demokratie, die auf zwei ideellen Pfeilern ruht: auf der Îsonomía (Gleichheit vor dem Gesetz) und der Îshgoría oder parrhsía25 (Redefreiheit).26 Für Arendt heißt Îsonomía »weder, daß
zig und kurzsichtig geworden zu sein (und widerlegt damit indirekt den von Platon im Gorgias erhobenen Vorwurf, die Redner würden ausschließlich dem Volk zum Gefallen reden). Sein Plädoyer für Rüstungsanstrengungen verbindet sich also mit einem Appell an die Bürger, ihre Angelegenheiten wieder selbst in die Hand zu nehmen. Demosthenes vertraut der direkten Demokratie. 25 Während die Îshgoría stärker das verbürgte Recht der freien Rede betont, ließe sich die parrhsía als freimütige Rede übersetzen, als Rede, in der sich die Freiheit des sprechenden Individuums Geltung verschafft. Zur Begriffsgeschichte der parrhsía vgl. Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen Vorlesung am Collège de France 1982/83, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt/M. 2009, sowie ders., Die Regierung des Selbst und der anderen II. Der Mut zur Wahrheit - Vorlesung am Collège de France 1983/84, übers.v. Jürgen Schröder, Frankfurt/M. 2009. 26 Vgl. Otto A. Baumhauer, Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation, Stuttgart 1986, 106f. – Die für die klassische Polis leitende Ideal der parrhsía wird von Cicero aufgegriffen: »Aber jeder möge verteidigen, was er denkt; denn Meinungen sind frei [sunt enim iudicia libera]« (Cic. tusc. disp. IV 4, 7). Cicero wiederum beeinflusst John Milton, dessen 1644 erschienene Areopagitica (deren Titel auf eine gleichnamige Rede des Isokrates anspielt) als Grunddokument des frühneuzeitlichen Kampfes um Presse- und Meinungsfreiheit gilt. Zum Ideal der Redefreiheit in der Antike vgl. Arnaldo Momigliano, »Free-
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alle vor dem Gesetz gleich sind, noch daß das Gesetz das gleiche für alle ist, sondern lediglich, daß alle den gleichen Anspruch auf politische Tätigkeit haben, und diese Tätigkeit war in der Polis vorzugsweise eine Tätigkeit des Miteinander-Redens. ›Isonomia‹ ist darum vorzugsweise Redefreiheit und als solche das gleiche wie ›isegoria‹; beides heißt dann später bei Polybios einfach ›isologia‹.«27 Die Einheit der Polis wird wesentlich durch die Freiheit der Rede gestiftet; Demosthenes betont in diesem Sinne, dass es allein in Athen »möglich ist, ohne Strafverfolgung für die Interessen der Feinde zu sprechen« (Dem. Rede über die Angelegenheiten in der Chersones VIII, 64). Demokratie definiert sich hier als der Ort, an dem es allen erlaubt ist, alles zu sagen: »Keinem soll es benommen sein, vor dem Volk aufzutreten und das Wort zu erhalten« (Dem. Ktes. 13).28 Die Polis ist nichts anderes als ein unbedingtes Gespräch, an dem alle freien Bürger teilnehmen können und aus dem nichts, noch nicht einmal die Forderungen der Feinde, ausgeschlossen werden darf. Das Recht auf Redefreiheit geht so weit, »daß ihr [= die Athener] etwas davon sogar Fremden und Sklaven zugebilligt habt und man kann beobachten, daß bei uns viele Sklaven29 mit größerer Freizügigkeit ihren Willen kundtun können als die Bürger in einigen anderen Städten« (Dem. Dritte Rede gegen Philipp IX, 3). Die antike Rhetorik wird von der demokratischen Öffentlichkeit Athens befördert, entsteht aber nicht in Athen selbst. Sie entwickelt sich, noch bevor sie in Athen etabliert werden kann, als eine »demokratische téchne«30
dom of speech in antiquity«, in: Philip P. Wiener (Hg.), Dictionary of the History of Ideas, New York 1973, Bd. 2, 177-193. 27 Hannah Arendt, Was ist Politik?, a.a.O. 40. – Das Polybios-Zitat findet sich in Polybius II 26, 3, 9 (ed. Tauchnitz). 28 Platon stößt sich demgegenüber gerade daran, dass in der Volksversammlung auch Seeleute, Händler, Schuster und Schmiede das Wort ergreifen können, denen er, im Gegensatz zu den Athener Bürgern, jede politische Urteilsfähigkeit abspricht. 29 Überhaupt sind die Sklaven in der klassischen Polis nicht rechtlos und insofern nicht mit den Sklaven des neuzeitlichen Kolonialismus zu vergleichen, die auf ihre nackte Arbeitskraft reduziert werden. Unter den Griechen, so hebt etwa Isokrates hervor, »ist es ein Verbrechen gegen die Götter auch den Schlechtesten unter den Sklaven zu töten« (Isocr. or. XII 181). 30 Otto A. Baumhauer, Die sophistische Rhetorik, a.a.O., 111. – Vgl. auch Manfred
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in Sizilien. Korax, der erste Autor einer ärhtorik técnh, soll seine Kunst nach dem auf das Jahr 467 v. Chr. zu datierenden Sturz des Tyrannen von Syrakus systematisiert und schriftlich niedergelegt haben. Im Anschluss an die »Vertreibung der Tyrannen in Sizilien« wurden, wie Cicero in seinem Brutus unter Berufung auf Aristoteles ausführt, »nach langer Pause wieder Privatklagen vorgebracht« (Cic. Brut. 12, 46). Außerdem gab sich Syrakus zu dieser Zeit eine demokratische Verfassung. In dieser Situation hätten »zwei Sizilianer, Korax und Teisias, erstmals Regeln und Vorschriften verfaßt. Zuvor sei nämlich noch niemand gewohnt gewesen, systematisch und kunstgerecht Reden zu halten.« (Cic. Brut. 12, 46) Als Gorgias vierzig Jahre später, also im Jahr 427 v. Chr., als Mitglied einer Gesandtschaft von Sizilien nach Athen kommt, findet er dort eine vergleichbare politische Situation vor, die der Etablierung der von ihm mitgeführten neuen Kunstlehre sehr förderlich ist. Demokratie und Rhetorik begünstigen sich in Athen wechselseitig. Für den Autor der Rhetorik an Alexander – »das Werk eines 31 Sophisten« des vierten Jahrhunderts – steht fest, »daß Rat zu pflegen von allen menschlichen Dingen das göttlichste ist« (Anax. Rhet. 1421a). Das Gedeihen des Staatswesens wird vom anonymen Autor davon abhängig gemacht, dass jeder Entscheidung eine demokratische und öffentlich geführte Entscheidungsfindung vorausgeht: »Man sieht jedenfalls in ganz Griechenland, wo immer das Staatsleben gesund ist, daß man erst im Rat und dann erst in der Tat übereinkommt« (Anax. Rhet. 1421a). In der Volksversammlung und im Rat institutionalisieren sich sowohl die Rhetorik als auch die Demokratie. Dass sich die Kunstlehre des guten Redens und die Herrschaft aller in Athen wechselseitig bedingen, wurde von rhetorikaffinen Philosophen späterer Zeiten immer wieder hervorgehoben. So betont Hegel, dass zur »Beredsamkeit« eine »demokratische Verfassung« gehörte, »wo die Bürger die letzte Entscheidung hatten«32; Nietzsche spricht von der griechischen Rhetorik insgesamt als von einer »republikanischen Kunst: man muß gewohnt
Fuhrmann, Die antike Rhetorik, Zürich 41995, 11: »Das Wort rhetor ist ein Erzeugnis der demokratischen Bewegung.« 31 Paul Gohlke, »Einleitung« zu: Aristoteles, Rhetorik an Alexander, hrsg. u. übers. v. Paul Gohlke, Paderborn 1959, 5-16, hier: 11. 32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M. 1970, Bd. 18, 412.
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sein, die fremdesten Meinungen und Ansichten zu ertragen und sogar ein gewisses Vergnügen an ihrem Widerspiel empfinden« (KGW II 4, 415). Der lógoV, der für die Philosophen einer ist, zerfällt für die Rhetoriker in sich widerstreitende Reden, deren Widerstreit es, wie wir bereits in Kapitel 2.4 gesehen haben, auszuhalten gilt. Erst der Widerstreit stiftet die Objektivität einer gemeinsamen Welt. Isokrates macht dies besonders deutlich: »Wie aber könnten Menschen die Vergangenheit richtig beurteilen oder über die Zukunft eine richtige Entscheidung treffen, wenn sie nicht entgegengesetzte Meinungen gegeneinander abwägen und beide Seiten selbst mit gleicher Aufmerksamkeit anhören wollten?« (Isocr. or. VIII 11) Im Gegensatz zur philosophischen Dialektik artikulieren die sophistischen Rhetoriker eine Dialektik ohne Versöhnung. Republikanisch ist diese Dialektik insofern, als sie uns lehrt, die Perspektivität unserer eigenen lógoi zu akzeptieren und die widersprechenden lógoi unserer Kontrahenten anzuerkennen. Antirepublikanisch, so die Konsequenz von Nietzsches Argument, wäre demgegenüber der philosophische Versuch, die Perspektivität in einer objektiven Synthesis zu überschreiten, einen für alle verbindlichen lógoV zu finden, in dem die widerstreitenden Perspektiven aufgehoben wären. Nietzsches These, dass es sich bei der Rhetorik um eine republikanische Kunst handle, wird von Altphilologen und Althistorikern unserer Tage weitgehend bestätigt, für die »die Erfindung der Rhetorik mit der Errich33 tung der Demokratie zusammenhängt« . So schreibt etwa Jochen Bleicken in seinem Standardwerk Die athenische Demokratie: »Die Volksversammlung ist in Athen nicht [...] nur eine unter anderen wichtigen Institutionen. Sie ist als die Gesamtheit aller politisch berechtigten Athener mit dem athenischen Staat identisch. Aber die Volksversammlung steht nicht nur stellvertretend für den Staat oder die Stadt; sie ist auch gleichbedeutend mit der politischen Ordnung dieser Stadt, der Demokratie.«34 Bildet die Volksversammlung das Medium der Demokratie, dann ist die Rede in gewisser Weise die Form, die dieses Medium strukturiert. Bleicken führt weiter aus: »Der Wille des Bürgers war entscheidend, und ihn zu jeder Zeit formulieren und um seine Durchsetzung kämpfen zu können, ist eine Grundbedin-
33 Klaus Schöpsdau, Antike Vorstellungen von der Geschichte der Rhetorik, Saarbrücken 1960, 24. 34 Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, Paderborn/München/Wien/Zürich 4
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gung der Demokratie [...]. Redefreiheit (parrhesia) und das jedem gleiche Recht auf Rede (isegoria) sind daher gleichbedeutend mit Demokratie. Die älteste uns erhaltene Reflexion auf die demokratische Ordnung, die anonyme Schrift über den Staat der Athener von ca. 430 v. Chr. [gemeint ist die Athenaion Politeia des Pseudo-Xenophon, A.H.], bestimmt ›das Reden‹ – und als Konsequenz der Rede die Teilhabe an Rat und Volksversammlung – als die Grundlage der politischen Tätigkeit. [...] Bei Marathon haben sich die Athener das Recht erkämpft, mit der Zunge zu streiten, sagt Aristophanes in den ›Rittern‹ (v. 782, 424 v. Chr.).«35 Nicht nur für die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Athener kommt der Rhetorik ein hoher Stellenwert zu, sondern auch für die Auseinandersetzungen und Bündnisbestrebungen in der übergeordneten griechischen Welt. Die Politik Athens war nicht nur auf Demokratie ausgerichtet, sondern auch auf Autonomie (a]utonomía) und Freiheit (]eleujería). Die Athenischen Bürger, so Demosthenes, seien »niemandes Knechte [mhdénoV douleú]« (Dem. Dritte Rede gegen Philipp IX 59). Sie verstanden sich als Speerspitze eines panhellenischen Freiheitskampfes (koin tvn ä Ell®nwn äeleujería, vgl. Dem. Vierte Rede gegen Philipp X 50), der sich zunächst gegen die Perser, dann gegen die Spartaner und schließlich gegen die Makedonen richtete. Für Philipp, so führt Demosthenes aus, ist »keine Sicherheit gegeben, solange bei euch [= den Athenern] die Demokratie besteht [...]. Ihr seid imstande, einen anderen zu hindern, die Zwangsherrschaft an sich zu reißen, und, wenn er sie hat, sie ihm wieder zu nehmen, und überhaupt seid ihr bereit, den Herrschsüchtigen Widerstand zu leisten und allen Menschen zur Freiheit zu verhelfen.« (Dem. Rede über die Angelegenheiten in der Chersones VIII, 41/42) Das Lebenswerk des wohl bedeutendsten antiken Redners, Demosthenes, steht für den Kampf gegen die makedonischen Hegemoniebestrebungen.36 Demosthenes widmet sich wäh-
35 A.a.O., 200. 36 Isokrates betreibt demgegenüber eine Politik der Annäherung an Philipp, von dem er sich eine Einigung der Hellenen verspricht, die wiederum ihre Position gegenüber den Persern stärken würde. Auch Aristoteles, der Lehrer Alexanders, steht dem makedonischen Hof nahe. Er vertritt zwar keine offen promakedonische Position, steht aber Philipp und Alexander als Berater zur Seite und muss nach Alexanders Tod aus Athen fliehen, da ihm sein Engagement am makedonischen Hof vorgehalten wird.
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rend seiner gesamten rednerischen Karriere dem Ideal der Souveränität und Freiheit (a]utonomía kaì ]eleujería, Erste Rede gegen Philipp IV 4) der Polis. Plutarch berichtet davon, dass kein Name am makedonischen Hof so präsent war wie derjenige des Demosthenes. Der Sieg der makedonischen Truppen über die Athener wird so zu einem persönlichen Sieg des Tyrannen über den Redner. Nach der Schlacht am Thermodon, die Philipp den Sieg über Athen bringt, »war Philipp so außer Rand und Band vor Freude, daß er betrunken in schwärmendem Zuge zu den Leichen der Gefallenen zog und im Takt des Verses, dazu mit den Füßen stampfend, den Anfang des von Demosthenes beantragten Volksbeschlusses rezitierte: ›Demosthenes, Demosthenes’ Sohn, von Paiania beantragte dies.‹« (Plut. Dem. 20). Nach Beendigung des zermürbenden, über drei Jahrzehnte währenden peloponnesischen Krieges, der mit einer Niederlage Athens und einem Sieg Spartas endet, bemühen sich die ehemals verfeindeten Poleis um eine koin ]eir®nh, eine allgemeine, auf dem Autonomieprinzip beruhende Friedensordnung für die gesamte griechische Welt. Auf panhellenischer Ebene existierte vorher schon ein komplexes System von Bündnissen (etwa der erste und der zweite attische Seebund), Verträgen, Gesandtschaften und Räten wie das synédrion, der Bundesrat, dem alle Mitgliedsstaaten des zweiten attischen Seebundes angehörten. Hinzu kommen panhellenische religiöse Institutionen wie der Amphiktryonen-Rat in Delphi. Dieses komplexe überstaatliche System beruht auf »gegenseitigem Vertrauen [pístiV]« (Isocr. or. IV 173) und auf dem Respekt vor internationalen Verträgen, sunj®kai: »Denn wer wüßte nicht, daß man nur dann von einem Vertrag reden kann, wenn er für beide Seiten gleiche und gemeinsame Bestimmungen enthält, daß es sich aber um Anordnungen [prostágmata] handelt, wenn es der einen Seite widerrechtliche Nachteile bringt.« (Isocr. or. IV 176) In seiner Rede über den Frieden kritisiert Isokrates als leidenschaftlicher Vertreter der panhellenistischen Idee Athens Streben nach Seeherrschaft, die in der Gefahr des Imperialismus schwebe: »Denn die Seeherrschaft ist es, die auch jetzt bei uns politische Verwirrung angestiftet und jene Demokratie aufgelöst hat, unter der unsere Vorfahren lebten und die glücklichsten unter den Griechen waren. Die Seeherrschaft ist höchstwahrscheinlich schuld an allem Leid, in dem wir uns selbst befinden« (Isocr. or. VIII 64) Er erinnert an die vielen Toten, die die Expeditionen nach Sizilien und Karthago gekostet haben und warnt vor der Hybris, die sich hinter
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überzogenen Herrschaftsansprüchen verbirgt: »Was man als Herrschaft bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein Unheil, und es liegt im Wesen dieser Herrschaft, alle, die sie praktizieren, schlechter zu machen.« (Isocr. or. VIII 94) Angesichts der Seeexpeditionen und der Aufrüstung der Flotte schwebt die athenische Demokratie für Isokrates in der Gefahr, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Demagogen, die sich das Volk mit überzogenen Versprechungen gefügig machen, drohen es in Kriege zu führen, deren Risiken nicht zu kalkulieren sind. Die demokratische Staatsform zeigt sich anfällig dafür, in einen chaotischen Zustand umzuschlagen, einen Zustand, wie er sich etwa während des Peloponnesischen Krieges immer wieder einstellt und der Platons schroffe Ablehnung der Volksherrschaft zumindest teilweise verständlich machen kann. In der Einleitung zu seiner Thukydides-Übersetzung beschreibt Thomas Hobbes diesen Zustand sehr treffend: »In jenen Tagen war es keinem Mann möglich, dem Gemeinwesen einen guten und profitablen Rat zu erteilen, ohne dabei das Missfallen der Leute zu erregen. Denn sie waren so von ihrer eigenen Macht und ihrer Fähigkeit, alles zu erreichen, was sie anstrebten, überzeugt, dass nur solche Männer die Versammlungen beeinflussten und für weise und gute Bürger erachtet wurden, die zu den gewagtesten und gefährlichsten Unternehmungen rieten. Wohingegen diejenigen, die gemäßigte und kluge Ratschläge erteilten, als Feiglinge und Querulanten beschimpft oder als unverständlich bezeichnet wurden. Und kein Wunder: Zu viel Wohlstand (an den sie sich jetzt für viele Jahre gewöhnt hatten) machte die Bürger selbstverliebt; und für jeden, der sich selbst liebt, ist es schwierig, den Rat eines anderen zu begrüßen, der an seinem Selbstbild kratzt. Und das gilt noch viel mehr für eine Menge als für einen einzelnen Menschen. Denn ein einzelner Mensch, der in sich geht, wird sich nicht schämen, auf Warnungen vor Gefahren, die seine Geschäfte betreffen, einzugehen und die ihm empfohlenen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen; aber in öffentlichen, vor einer Menge geführten Debatten, zeigt sich Angst (die meistens ein guter Ratgeber ist, aber beim Handeln eher stört) selten und wird niemals freiwillig zugegeben. Auf diese Weise kam es dazu, dass die Athener, die glaubten, dass ihnen nichts unmöglich sei, von Schurken und Schmeichlern kopfüber zu Aktionen gedrängt wurden, die sie ruinierten; und die guten Männer trauten sich entweder nicht, Widerstand zu leisten, oder neutralisierten sich selbst, wenn sie es taten.«37 In ihrer Kri-
37 Thomas Hobbes, The History of the Grecian War. Written by Thucydides. Trans-
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tik einer solchen Zerfallsform der Demokratie treffen sich Isokrates und Platon. Im Gegensatz zu Platon, der mit der Verfallsform die Demokratie selbst zu verabschieden sucht, hält Isokrates allerdings an ihrem Ideal fest. Ihm ist bewusst, dass die Gefahr ihrer Ausartung wesentlich zur Demokratie gehört, dass sie sich gegen diese Gefahr nicht vollständig immunisieren kann, ohne aufzuhören, eine Demokratie zu sein. Nicht nur die im engeren Sinne politischen Institutionen innerhalb der Polis fördern die Kultur der Rede, sondern auch die öffentliche Gerichtsversammlung und das Fest. Den drei Instanzen Politik, Gerichtswesen und Fest entsprechen die drei von der Rhetorik unterschiedenen Haupttypen der Rede: die politisch beratende, auf Entscheidungsfindung abzielende Rede, die juristische, tatsachenfestellende Rede sowie die sich selbst inszenierende Lob- oder Festrede (vgl. Arist. Rhet. I 3 1358b). Gehen wir zunächst auf die Gerichtsversammlung ein. Das Gericht als Institution setzt an die Stelle nackter Gewalt die Rede, an die Stelle des Mordes die argumentative Debatte und trägt so wesentlich mit zur Konstitution des sozialen Bandes der Polis bei. Athen war im 4. Jahrhundert v. Chr. »eine notorisch prozesssüchtige Gesellschaft, in der Fehden sehr oft ihren Weg in die Gerichte fanden, weil die Hauptakteure des Disputs und ihre Verwandten und Freunde einander über einige Jahre hinweg mit Anklagen verfolgten«38. Athens Gerichte tagten »häufig, wahrscheinlich an 175 bis 225 Tagen des Jahres«39. Obwohl vor Gericht nur Punkte vorgebracht werden durften, die unmittelbar den Fall betrafen, erfahren wir aus den Gerichtsreden etwa des Lysias oder Isokrates Unschätzbares über die Spannungen des Alltagsleben dieser Zeit: Da wurden, um nur einige Themen klassisch gewordener Gerichtsreden anzuführen, Knaben geschändet und Ehebrecher erschlagen, Tempelgelder veruntreut und heilige Ölbäume gefällt, geweihte Geräte profaniert und im
lated by Thomas Hobbes, in: The English Works of Thomas Hobbes, Bd. 8, hrsg. v. Sir William Molesworth, London 1843, XVI. (eigene Übersetzung). 38 Debra Hamel, Der Fall Neaira. Die wahre Geschichte einer Hetäre im antiken Griechenland, übers. v Kai Brodersen, Darmstadt 2004 [2003], 134. – Die Autorin gibt, am Beispiel des Prozesses gegen die Hetäre Neira, den sie ausgehend von Apollodoros’ Rede Gegen Neaira (Pseudo-Demosthenes 59) rekonstruiert, einen sehr schönen Überblick über das athenische Gerichtswesen im 4. Jahrhundert v. Chr. 39 A.a.O., 160.
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Krieg die Schlachtordnung verlassen, das Bürgerrecht erschlichen, mit Getreide gewuchert und Invaliden die ihnen zustehende Kriegsrente vorenthalten. Diese Konflikte werden im Medium von Anklage- und Verteidigungsreden diskursiviert und somit zu einer allen gemeinsamen Angelegenheit gemacht. Als Medium der Konfliktlösung gilt hier nicht länger Gewalt, die tendenziell zu endlosen Ketten von Rache und Gegenrache führen kann, sondern die lógoi. Die Institution eines Rechtsanwalts war in Athen nicht bekannt. Die beteiligten Parteien mussten ihr Plädoyer zunächst persönlich vorbringen. Erst im weiteren Verlauf des Prozesses konnten sie dann die Hilfe von syn®goroi, redegewandteren Freunden oder Verwandten, beanspruchen, die allerdings nicht bezahlt werden durften. Eine gewisse Fähigkeit zu öffentlicher Rede konnte sich in dieser Situation als überlebensnotwendig erweisen. Es bestand also ein hoher Bedarf an rhetorischer Bildung. Beachtenswert ist auch im rechtlichen Zusammenhang »das erstaunlich hohe Niveau der Partizipation [...], das ein Pool von 6000 Bürgern als Richter impliziert. Im 4. Jahrhundert v. Chr., kann die Zahl von Bürgern, die überhaut als Richter dienen konnten – also die Zahl männlicher, über 30-jähriger athenischer Vollbürger – nicht viel mehr als 20000 betragen haben. So dienten also jedes Jahr etwa 30 Prozent der berechtigten Bevölkerung als Richter und sie dienten für ein ganzes Jahr.«40 Eine vergleichbare Bedeutung für die Ausbildung einer umfassenden Redekultur kommt auch den Festreden zu, etwa im Rahmen der Dionysien, der Panathenäen und der Begräbnisfeiern für die Kriegsgefallenen. In diesen Reden vergewissert sich die Polis ihrer Geschichte, ihrer Werte und ihrer Einheit. In den Festreden werden, wie in den Oden der Dichter, die sie teilweise beerben, individuelles und allgemeines Schicksal ineinandergeblendet. Die Tugend der Einzelnen spiegelt die Tugend der Polis, beide zusammen wiederum spiegeln sich in der Sprachkunst des Redners. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die von Thukydides überlieferte Rede, die Perikles für die Gefallenen im ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges hält (vgl. Thuk. Pel. II 34-47). Aber nicht nur bei Begräbnissen werden Festreden gehalten, sondern auch während der vielen religiösen Feiertage, von denen im Athen der klassischen Zeit etwa 60 pro Jahr zelebriert wer-
40 A.a.O., 165.
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den. Hinzu kommen noch zahllose religiöse Feiern auf der lokalen Ebene der Demen und Phratien. Es ist kein Zufall, dass auch die zweite historische Blüte der Rhetorik, die sich vor allem mit dem Namen Ciceros verbindet, in die Zeit einer Republik fällt. In seiner Demosthenes und Cicero gewidmeten Doppelbiographie schreibt Plutarch: »Mir will scheinen, die Gottheit habe Cicero von Anfang an dem Demosthenes gleich erschaffen wollen und viele ihm ähnliche Züge in seinen Charakter gelegt: den Ehrgeiz und die Liebe zur Freiheit beim politischen Handeln« (Plut. Synk. Dem. Cic. 3). In der Gestalt Ciceros, und mit ihr in der römischen Rhetorik, wiederholt sich gewissermaßen das Schicksal des Demosthenes und der griechischen Redekunst. Bei beiden Rhetoren steht Rhetorik im Dienst eines Abwehrkampfs gegen die Tyrannis. Die politische Entscheidungsgewalt liegt im Rom der Republik, die von der Zeit der Gracchen (133 v. Chr.) bis zum Tod Ciceros (43. v. Chr.) reicht, »in den Händen des Senats mit seinen 600 Ältesten«; alle Entscheidungen »mußten vor diesem höchsten Gremium durch gemeinsames Beratschlagen und gegenseitige Überzeugung [...] herbeigeführt werden«41. Selbstverständlich lässt sich das aristokratisch geprägte politische System Roms nicht mit der direkten und umfassenden Demokratie der griechischen Polis vergleichen; innerhalb bestimmter Institutionen bilden sich allerdings auch in Rom durchaus demokratisch zu nennende Entscheidungsstrukturen aus, die für ein rhetorikaffines Klima sorgen. Bereits in der frühesten lateinischen Rhetorik, der anonymen Rhetorik an Herennius (um 84 v. Chr.) wird die republikanische Ausrichtung der Disziplin betont: »Aufgabe des Redners ist es, über die Angelegenheiten sprechen zu können, welche um der Wohlfahrt der Bürger willen durch Sitten und Gesetze festgelegt sind, und zwar mit der Zustimmung der Zuhörer, soweit diese erlangt werden kann.« (Auct. ad Her. I 2) Die Rede vermittelt hier Recht und Politik mit der »Zustimmung der Zuhörer«, sie zielt auf einen Konsens42 aller. »Sitten und Gesetze« existieren nicht an sich, sondern
41 Gert Ueding, Klassische Rhetorik, München 32000, 38. 42 Zur Genese des Konsens-Begriffes in der Antike vgl. Klaus Oehler, »Der Consensus omnium als Kriterium der Wahrheit in der antiken Philosophie und der Patristik«, in: Bruno Snell/Ulrich Fleischer (Hg.), Antike und Abendland, Hamburg 1961, 103-129. – Die »Konsensstiftung« mit Joachim Knape als »Basiskom-
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nur, insofern sie von den Bürgern anerkannt werden. Zu Bürgern einer Republik werden die Zuhörer wiederum nur, insofern sie sich zu den »Sitten und Gesetzen« verhalten. Die Rede leistet eine die res publica konstituierende Vermittlung und macht die Angelegenheiten des Staates (res) allererst zu öffentlichen (publica). Sie stellt sie der Zustimmung – und damit auch der potentiellen Ablehnung – der Bürger anheim. Die Redner exponieren Sitten und Gesetze der Kritik; erst im Durchgang durch diese Kritik erlangen sie Geltung und werden verbindlich. Die Rede muss sich für den anonymen Autor »den Nutzen zum Ziele setzen [finem utilitatis proponere]« (vgl. Auct. ad Her. III 3), ein Motiv, dass auch in der griechischen Rhetorik zentral war; so beendet etwa Demosthenes seine erste Rede gegen Philipp mit dem Ausruf: »Möge das sich durchsetzen, was für alle von Nutzen sein wird.« (Dem. Erste Rede gegen Philipp IV 51). Dieser Nutzen besteht nicht in einem individuellen Wohlergehen, sondern im Nutzen für das Gemeinwesen. Cicero und Quintilian verpflichten den Redner ebenfalls auf die »Interessen der Gemeinschaft«, die »res publicae« (Quint. inst. or. XII 1, 1). Im Brutus, seiner Geschichte der Beredsamkeit, wendet sich Cicero deshalb der Vergangenheit der Rhetorik zu, weil die Redekunst unter der Diktatur Cäsars keinen gesellschaftlichen Ort mehr hat. Er fühlt sich angesichts der Diktatur desjenigen, der »wegen des Vorrangs, den er sich in seiner Verwirrung selbst eingebildet hatte, alle göttlichen und menschlichen Rechtsnormen umstürzte« (Cic. de. off. I 26), »in die Nacht des Staates [in rei publicae noctem] gestürzt« (vgl. Cic. Brut. 330). Die Schrift Brutus interveniert dabei selbst in einer politi43 schen Auseinandersetzung. Um die Gunst des Brutus , eines talentierten jungen Politikers, bemühen sich Cäsar und Cicero gleichermaßen; Caesar verleiht ihm Ämter (46 v. Chr. Statthalter in Gallia cisalpina, 44 praetor urbanus und 41 Konsul)44, Cicero widmete ihm demgegenüber einige sei-
ponente der rhetorischen Kommunikation« (vgl. Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, a.a.O., 16) zu bezeichnen, halte ich angesichts des bereits betonten Agonismus der klassischen Rhetorik für abwegig. 43 Brutus sah sich als direkter Nachfahre des Lucius Iunius Brutus, der um 510 v. Chr. den letzten etruskischen König, Tarquinius Superbus ermordet und geschworen hatte, dass über Rom nie wieder ein König herrschen solle. 44 Vgl. Bernhard Kytzler, »Einführung« zu ders. (Hg.): Marcus Tullius Cicero, Brutus, lateinisch-deutsch, München/Zürich 41990, 269-300 hier: 277.
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ner wichtigsten Schriften (Brutus, Paradoxa stoicorum, Orator, De finibus bonorum et malorum, Tusculanae disputationes), in denen er sich direkt an seinen Günstling adressiert und an dessen demokratisches Gewissen appelliert. »Einer der Stränge, die zu den Iden des März führten«, so der CiceroHerausgeber Bernhard Kytzler, »beginnt in Ciceros Brutus«45. Das Bewusstsein eines möglichen Endes der Rhetorik wird in Rom immer wieder mit einem Ende der Politik in Verbindung gebracht. Nach dem Untergang der Republik klagt Cicero: »Was gibt es denn, da der Senat und die Gerichte dahin sind, im Rathaus und auf dem Forum noch für mich zu tun, das meiner würdig wäre?« (Cic. de off. III, 2) Unter der absoluten Herrschaft von Kaisern, die sich als Götter verehren lassen, verwandelt sich das Forum, so auch Tacitus, zu einem »wahnwitzigen und schlüpfrigen« (Tac. dial. de or. 13, 5) Ort. Die Rhetorik hat hier nur noch in Form einer »gewinnsüchtigen und blutsaugerischen Beredsamkeit« (Tac. dial. de or. 12, 2) überlebt, die den Machthabern schmeichelt. Dem republikanisch gesinnten Redner bleibe allenfalls die Möglichkeit, sich in die »Wälder und Haine« (Tac. dial. de or. 9, 4; 12, 1) und in die »ruhige Abgeschiedenheit Vergils« (Tac. dial. de or. 13, 1) zurückzuziehen, die Politik mit anderen Worten der Literatur und der kontemplativen Naturbetrachtung zu opfern. Gleichwohl findet sich bei Tacitus noch einmal eine deutliche Rechtfertigung der Demokratie. Zur Zeit des römischen Kaiserreichs blickt er auf die demokratisch-rhetorische Tradition zurück. Er macht für das Ende der Beredsamkeit explizit die Ablösung der Demokratie durch eine Tyrannis verantwortlich und weist in diesem Zusammenhang zunächst auf die Gefahren hin, die mit der Demokratie einhergehen, auf Zwiste und Kämpfe, die eine Republik ständig zu zerreißen drohen. Augustus habe die römische Gesellschaft befriedet, aber nur um einen hohen Preis: Er habe die Beredsamkeit zum Schweigen gebracht und mit ihr die Republik zerstört. Die Rhetorik lebe von den »ständigen Volksversammlungen« und dem »zugestandenen Recht, auch die Mächtigsten anzugreifen« (Tac. dial. de or. 40, 1). Die Tyrannis kenne demgegenüber keine Beredsamkeit: »Denn von welchem Redner in Sparta, von welchem in Kreta haben wir gehört? Die Ordnung dieser Staaten und ihre Gesetze werden als überaus streng überliefert. Auch eine Beredsamkeit der Makedonen und Perser oder irgendeines Volkes, das mit einer festbestimmten Regierungsgewalt zufrieden war,
45 Ebd.
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kennen wir nicht. Einige rhodische aber und sehr viele athenische Redner sind aufgetreten, bei denen alles das Volk, alles die Unerfahrenen, alles sozusagen alle vermochten [omnia omnes poterant].« (Tac. dial. 40, 3) Die Partizipation wird an dieser Stelle nicht eingeschränkt. Alle entscheiden, bzw. umgekehrt: Jede einzelne Stimme zählt. Zugleich bezieht sich Demokratie auf alles: Nichts bleibt der demokratischen Auseinander46 setzung prinzipiell enthoben oder vorgeordnet. Die Formulierung omnia omnes poterant zeugt nicht nur von einem demokratischen Politikverständnis, sondern von der Idee einer radikalen Demokratie, die an keinem Ort in der Antike vollständig verwirklicht wurde, als Horizont oder Denkmöglichkeit allerdings gerade in der rhetorischen Tradition sehr wohl präsent war. Als radikal47 kann ein demokratischer Diskurs dann gelten, wenn er den Vollzug einer demokratischen Praxis nicht an ihm vorgeordnete kategoriale Vernunft- oder Rechtsprinzipien bindet und der Partizipation an diesem Diskurs keinerlei Beschränkungen auferlegt. Die Demokratie im Sinne ihrer Radikalisierung zu denken, heißt für die Vertreter radikaldemokratischen Denkens unserer Tage primär, »den erstbesten denken: irgendwen, einen beliebigen«48. Von der neuzeitlichen Demokratie, deren Idee im Zuge der europäischen Aufklärung geboren wird, unterscheidet sich die Demokratie der antiken Polis vor allem durch ihre Direktheit und Ungegründetheit: »Dieser direkten Demokratie fehlte jener für heutige Demokratien bestimmende
46 Der Passus bei Tacitus lässt sich auch als direkte Replik auf Platons Definition der Gerechtigkeit lesen, die besagt, »daß jeder, wie er einer ist, auch nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei einmischt« (Plat. Pol. IV 433d). Bei Platon findet sich, wenn auch polemisch gemeint, eine ähnlich klingende Definition der Demokratie als derjenigen Verfassung, die »gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt« (Plat. Pol. VIII 558c). Demokratie ließe aus dieser Perspektive keine Ungleichheit, die Platon ja zu legitimieren sucht, zu. Platon wendet sich dezidiert gegen demokratische Grundforderungen wie die nach »Freiheit« (Plat. Pol. VII 562b/c), »Niederschlagung der Schulden« und »Verteilung der Grundstücke« (Plat. Pol. VIII 566a). 47 Vgl. Aletta Norval, »Radical democracy«, in: Paul B. Clarke/Joe Foweraker (Hg.), Encyclopedia of Democratic Thought, London/New York 2001, 587-594. 48 Jacques Derrida, Schurken, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt/M. 2003 [2003], 123.
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Zug der verfassungsmäßigen Bindung an die überstaatlichen Werte der Menschenrechte«49. Demokratie legitimiert sich hier nicht aus universellen Vernunft- oder Rechtsprinzipien, sondern aus ihrem Vollzug. Die Sophisten befinden sich in einer Situation, »in der sie nach Grundlagen für die Praxis einer ›direkten‹ Demokratie suchten, die in Athen und anderen Städten gelebt wurde, ohne daß diese an universell geltende Werturteile hätte gebun50 den werden können, weil es derartige Werte nicht gab« . Erst Platon etabliert solche Werte, allerdings gerade in Abwehr von Demokratisierungsbemühungen. Dem Versuch neuzeitlicher Staatstheoretiker, Demokratisierungsprozesse in ihnen vorausliegenden universellen Werten zu verankern, haftet von vorn herein eine gewisse Paradoxie an: Demokratie soll hier in Fundamenten verankert werden, die den Raum möglicher Entscheidungsprozesse begrenzen. Die Sophisten sind demgegenüber, so Bernhard Taureck, »darauf bedacht, etwas zu bewahren, nämlich die ›direkte‹ Demokratie ihrer Zeit und mit ihr die Freiheit und dogmatische Ungebundenheit des Denkens, wie es sie seit dem Beginn der Dominanz der Metaphysik vermutlich kaum mehr gegeben hat«51. Radikale Demokratie bedeutet auch, dass die Institutionalisierungsformen der Demokratie (etwa das Verhältnis von Volksversammlung, Areopag und Rat) selbst zum Gegenstand demokratischer Debatten gemacht werden können, ja, dass in letzter Konsequenz sogar »über die Demokratie abgestimmt« (Lysias or. XX 7) werden kann. Lysias nimmt damit einen Gedanken vorweg, der auch für radikaldemokratische Positionen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert maßgeblich wird. Radikale Demokratie lässt sich für Autoren wie Ernesto Laclau oder Jacques Derrida nicht in Regeln und Statuten kodifizieren, sondern nur über eine ihr spezifische Form der Autoimmunität ansprechen, über ein »Recht auf Selbstkritik«52, das zu einer »inneren Historizität«53 der Demokratie führe. »Innere Historizität« bedeutet hier »die Abwesenheit einer eigentümlichen Form, eines eidos [...] einer definitiven Gestalt, eines Wesens«54. Zur radikalen Demokratie gehört das unauflösliche Dilemma, dass sie ihr Ande-
49 Bernhard Taureck, Die Sophisten, a.a.O., 11. 50 A.a.O., 37. 51 A.a.O., 42. 52 Jacques Derrida, Schurken, a.a.O., 104. 53 Ebd. 54 A.a.O., 106.
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res – die antidemokratische Bedrohung, die uns heute etwa in der Gestalt des Terrorismus entgegentritt – zugleich muss abwehren und aushalten können. Derrida erinnert in diesem Zusammenhang an die algerische Wahl im Jahr 1992, die abgebrochen wurde, um zu verhindern, dass antidemokratische Kräfte auf demokratischem Wege an die Macht kommen.55 In diesem Zusammenhang gibt es keine per se nichtambivalente, unschuldige Position. Genau dem hat sich Demokratie zu stellen. Radikale Demokratie definiert sich dadurch, dass sie ihre eigene Widersprüchlichkeit und Unbestimmbarkeit positiviert, dass ihr »Begriff frei bleibt«56 von transzendentalen Begründungen. Die Suche nach transzendentalen Begründungen des Politischen erschiene auch aus der Sicht der Rhetorik als postpolitische Strategie, als Politik der Vermeidung des Politischen. Quintilian motiviert seine Kritik der Philosophie explizit mit deren antipolitischem Charakter; in Fragen der Ethik und Politik sollte der Philosoph nicht das letzte Wort behalten, »zumal ja doch keine andere Lebensform sich weiter von den Aufgaben des bürgerlichen Lebens [...] entfernt hat. Denn wer unter den Philosophen ist häufig vor Gericht aufgetreten oder in Volksversammlungen berühmt geworden? Wer schließlich hat sich in der Verwaltung des Staates, wofür doch die meisten vor allem Lehren erteilen, selbst betätigt?« (Quint. inst. or. XII 2, 6-7) Mit anderen Worten: Der Philosoph verhält sich wie ein Idiot, er enthält sich der politischen Praxis, bleibt den öffentlichen Angelegenheiten fern und maßt sich dennoch an, in Bezug auf die Lenkung des Staates allgemeine Lehren erteilen zu können.
55 A.a.O., 50ff. 56 A.a.O., 59.
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3.2 R HETORISCHE P OLITIK UND P OLITIKVERLEUGNUNG 57
PHILOSOPHISCHE
Aufgrund ihrer »gesellschaftlichen Funktion in Politik und Pädagogik« bildet die Rhetorik ein »Zentrum der griechischen und römischen Kultur überhaupt«58. Sie ist direkter Ausdruck des politischen Lebens und lässt sich, wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, insgesamt als eine demokratische Kunst beschreiben. Rede gilt den Rhetorikern wesentlich als politische Rede, als Medium öffentlich geführter politischer Auseinandersetzungen. Plutarch spricht von der Beredsamkeit insofern treffend als von einer »Fähigkeit, durch das Wort auf das Volk zu wirken und damit Politik zu machen« (Plut. Cic. 52, 3). Das im Umfeld der klassischen Rhetorik artikulierte politische Selbstverständnis korrespondiert, wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte, aufs engste mit dem weiter oben herausgestellten Akosmismus der Rhetoriker. Wie die Rede so ruht auch das Politische aus rhetorischer Perspektive buchstäblich auf Nichts. So wie sich die Polis im Medium agonaler Reden wesentlich selbst instituiert, so verkörpert sie gegenüber ihren Bürgern kein abstraktes Allgemeines, unter das diese als Besondere fallen würden. Weder räumlich noch ethnisch lässt sich die Identität der Polis bestimmen, sondern nur politisch, als die Summe rhetorisch geführter Auseinandersetzungen. Vor ihrer Partizipation an der Polis haben die Bürger keine Existenz. Demosthenes unterscheidet in diesem Sinne ein natürliches Leben derer, die »nur für Vater und Mutter geboren« sind (für das génoV), vom politischen Leben derjenigen, die darüber hinaus »auch für die Polis« geboren sind (Dem. Ktes. 97). Bei Isokrates findet sich eine vergleichbare Überlegung. Er fordert seine Schüler dazu auf, die »Lehrer mehr zu ehren als die Eltern«, da sie letzteren »nur das Leben, ersteren aber ein gutes Leben zu verdanken haben« (Isocr. Frag. 18), wobei das gute Leben für Isokrates ein Leben in der und für die Gemeinschaft darstellt. Das Politische verleiht dem Leben erst seine spezifische Form, unterscheidet es vom bloßen Über-
57 In dieses Kapitel gehen Überlegungen ein, die ich erstmals in meinem Aufsatz »Klassische Rhetorik und radikale Demokratie«, in: Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Perspektiven und Kritik der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, 25-56, entwickelt habe. 58 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 13.
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leben, verwandelt zo® in bíoV. Während Menschen, die ein vorpolitisches Leben führen, im Tod die größte Gefahr erblicken und damit ihre individuelle Selbsterhaltung in den Mittelpunkt all ihrer Anstrengungen stellen, leben die Polisbewohner für ein höheres Ideal: für ihre Freiheit, die wiederum in der Freiheit der Stadt ihren Garanten hat. Für die Polisbewohner sind, wie Arendt bemerkt, »Politik und Freiheit identisch«59. Als erste und einzige vertrieben die Athener, so Lysias in einer Lobrede auf deren Heimatstadt, »die Gewaltherrscher aus ihrem Land und führten die Demokratie ein, denn sie waren der Überzeugung, daß die Freiheit für alle der größte Garant der Eintracht ist.« (Lysias or. II 18) Diese Freiheit bezieht sich immer auch auf die Freiheit der Rede. Für die Rhetoriker ist die Rede verwirklichte, geäußerte Freiheit. In einer Darstellung der Geschichte Athens, die sich auf die militärischen Erfolge gegen den persischen Großkönig konzentriert, gibt Lysias dem demokratischen Selbstverständnis der Stadt dadurch Ausdruck, dass er die freie Lebensform der Athener über ein bloßes Überleben unter der Herrschaft der Perser stellt: »Durch ihren Sieg in der Seeschlacht« bei Salamis, zeigten die Athener, »dass es besser ist, mit wenigen für die Freiheit zu kämpfen als mit vielen Untertanen eines Königs für die eigene Knechtschaft« (Lysias or. II 41). Vermittels der »Tapferkeit jedes Einzelnen« machten sie »die Freiheit zum Gemeingut auch für die übrigen« (Lysias or. II 35). Sie »sicherten die Freiheit Europas« (Lysias or. II 47) und »hielten es nicht für richtig, dass einige wenige die vielen versklaven, sondern erzwangen gleiches Recht für alle. Sie versuchten nicht, die Bundesgenossen zu schwächen, sondern machten auch sie stark« (Lysias or. II 56). Später, als sie gegen die von Sparta eingesetzten Dreißig rebellierten, »flohen sie die Knechtschaft, kämpften für das Recht, machten sich alle zu Feinden, weil sie einen Aufstand für die Demokratie wagten [...]. Durch Einsatz ihres Lebens wollten sie die Stadt zum Gemeingut für alle machen« (Lysias or. II 61-62). Die Kämpfe gegen die Perser und Spartaner waren mehr als kontingente Auseinandersetzungen um Hegemonie. Es waren politische Kämpfe, Kämpfe um und für das Politische selbst. Die Zugehörigkeit der Bürger zur Polis manifestiert sich in ihrer Partizipation an rednerisch geführten Konfrontationen. »Die griechische Polis verstand sich ausdrücklich als eine Staats- und Gesellschaftsverfassung, die
59 Hannah Arendt, Was ist Politik?, a.a.O., 29.
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nicht auf der Gewalt, sondern auf dem gegenseitigen Sich-Überzeugen, dem peíjein, beruht.«60 Die Polis wird so zu einem Raum strittiger Ansprüche und Gründe. Weder die Stadtmauern noch das gemeinsame Blut garantieren ihre Identität, sondern das permanente, öffentlich geführte Gespräch.61 Das zÖon politikón und das zÖon lógon Écon (vgl. Arist. Pol. I 1253a) sind insofern identisch, als der Mensch nur sprechend, weniger über seine Sprachkompetenz als vielmehr über den Vollzug seines je konkreten Redens, am Politischen teilhat. Die Definition des Menschen als zÖon politikón besagt immer auch, dass sich die Individuen im Modus der Agonalität begegnen, dass sie keinen gemeinsamen Raum bewohnen, sondern diesen Raum immer wieder neu definieren und aushandeln müssen. Die Rede dient dem Politischen dabei nicht als Mittel, sondern als Medium. Sie ist die Gestalt gewordene Differenz, der Gestalt gewordene Âgõn zwischen den Redenden. Sie ist per se politisch und entspannt sich dort, wo wir uns zur Regelung unserer Angelegenheiten gerade nicht auf vorgängige, von allen akzeptierte Ordnungen oder Prinzipien berufen können. Die Philosophie versucht demgegenüber, Sprache als, wenn auch ungenügendes, Erkenntnisinstrument zu beschreiben; der lógoV verweist für Platon eher auf die Theorie als auf die Praxis. Während die Rede für die Rhetorik ihren Zweck in der Praxis hat, hebt die Sprache der Platonischen Dialoge auf ihre eigene Unangemessenheit gegenüber den vorsprachlichen Grundlagen allen Sprechens ab. Hinter diesen unterschiedlichen Zugängen zur Rede verbirgt sich ein tiefergehender Disput über den Stellenwert des Politischen.62 Den Rhetori-
60 Hannah Arendt, Über die Revolution, a.a.O., 11. 61 »Athens was a city dominated by the power of the word. Her literature of the classical period is almost as full of argument, discussion and debate as real Athenian life must have been.« (Richard G.A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy. A Study in Peitho, Cambridge 1982, 4). 62 Zur politischen Dimension des Konflikts zwischen Rhetorik und Philosophie vgl. generell Karen Piepenbrink, Politische Ordnungskonzeptionen in der attischen Demokratie des vierten Jahrhunderts v. Chr. Eine vergleichende Untersuchung zum philosophischen und rhetorischen Diskurs, Stuttgart 2001. Im Gegensatz zur von mir unterstellten fundamentalen Differenz zwischen philosophischem und rhetorischem Diskurs hebt Piepenbrink in ihrer Studie eher Gemeinsamkeiten
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kern gilt die je konkrete menschliche Praxis als unhintergehbar; sie begreifen die politische Philosophie von daher als erste Philosophie und das Politische als Inbegriff des Guten.63 Für Platon bildet die Sphäre des Politischen demgegenüber nur eine vorläufige, mangelhafte und unvollständige Welt, die sich darüber hinaus nicht in sich selbst zu stabilisieren vermag. Die Politik der Philosophie besteht insofern darin, die politische Praxis auf eine transzendentale Sphäre ewiger Geltungen zu überschreiten. Erst ausgehend von der fundamentalen Differenz zwischen einem rhetorischen und einem philosophischen Politikverständnis werden die Unterschiede zwischen rhe64 torischen und philosophischen Zugängen zur Rede wirklich verständlich. Für die Rhetorik geht Politik mit einem Widerstreit einher, der kein externes Maß kennt. In Antiphons zweiter Tetralogie heißt es: »Fälle, in denen über das Geschehene Einverständnis herrscht, werden vorgängig vom Gesetz entschieden und von den Wählern, die über das ganze Staatswesen gebieten; was aber etwa strittig ist, darüber zu urteilen ist euer Amt, Bürger« (SZ 159 [Tetralogia B, 1]). Aristoteles bestimmt die politische Praxis im Sinne des bei Antiphon anklingenden Akosmismus als Bereich der Kontingenz. Politik bezieht sich für ihn »nur auf solche Dinge, welche sich allem Anschein nach auf zweierlei Weise verhalten können: Denn über das, was nicht anders sein, werden oder sich verhalten kann, beratschlagt niemand.« (Arist. Rhet. 1357a)65 Im Denken der Sprache und der Praxis, die
hervor, etwa im Plädoyer für die Notwendigkeit des Staates überhaupt und in den Staatsentstehungstheorien. 63 In Platons Menon (71e) wird Gorgias mit der These zitiert, das »Gutsein des Mannes« bestehe »in der Fähigkeit, politisch tätig zu sein«. 64 Zur Verteidigung Platons muss gesagt werden, dass der höchste kosmologische Punkt, an dem die Politik gleichsam aufgehängt wird, die Idee des Guten, sich in gewisser Weise selbst dekonstruiert; Platon charakterisiert diesen Punkt als ]ápeiron, als Unendliches und sich in seiner Unendlichkeit Entziehendes; in diesem Sinne könnte die Idee des Guten auch als Statthalter der Freiheit in der Welt interpretiert werden, als Einspruch dagegen, dass sich die Welt so wie sie ist absolut setzen und schließen kann. Zu einer wohlwollenden Interpretation der Politeia vgl. Hassan Givsan, »Platon. Politeia«, in: Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hg.), Von Platon bis Derrida. 20. Hauptwerke der Philosophie, Darmstadt 2005, 11-27. 65 Nichts wiederholt Aristoteles in seiner Rhetorik so häufig wie die Tatsache, dass sich unsere Praxis und unser Beratschlagen nur auf das beziehen, »was sich an-
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hier miteinander identifiziert werden, verlängert sich bei Aristoteles ein rhetorischer Akosmismus. Als Bedingung der Möglichkeit des lógoV erscheint dann gerade die Abwesenheit aller Bedingungen seiner Möglichkeit. Wir beginnen erst dann zu sprechen, wenn etwas in einem fundamentalen Sinne nicht feststeht, wenn die Welt nicht vollständig determiniert ist, wenn sie keinen geschlossenen Horizont eines von allen geteilten Sinnes bildet. Das Denken des Aristoteles berührt sich hier mit demjenigen des Demosthenes, der alle Redekunst auf eine offene Zukunft verwiesen sieht: »Aber die Vergangenheit gilt allen immer für abgetan, und niemand stellt weiter eine Beratung darüber an, die Zukunft aber und die Gegenwart rufen den Ratgeber auf seinen Posten.« (Dem. Ktes. 192) Politische Praxis wurzelt für Demosthenes und Aristoteles nicht im kósmoV, sondern hat Ursache und Zweck in sich selbst. Als Zweck in sich selbst beerbt und säkularisiert die Aristotelische Praxis Platons Idee des Guten, die sich ebenfalls durch eine Selbstzweckhaftigkeit auszeichnet. Sokrates beschreibt das Gute als ein »Gut, welches wir haben möchten, nicht aus Verlangen nach irgend dessen Folgen, sondern weil wir es selbst um seiner selbst willen lieben« (Plat. Pol. II 357b). Er verlegt dieses Gute allerdings in einen Bereich jenseits des Seins und des Wesens. Die große Leistung der rhetorisch informierten Aristotelischen Praxiskonzeption besteht nun darin, dieses Gute als eine der Praxis inhärente Negativität zu reformulieren. Das Ápeiron, die Unendlichkeit oder Unbestimmtheit, die Platon als Attribut der Idee des Guten einführt (vgl. Plat. Phileb. 28 a), wird im Werk des Aristoteles zu einem inhärenten Charakteristikum von Praxis, zu einer Abständigkeit der Praxis von sich selbst, die nicht weiter essentialisiert werden kann und damit Rede zugleich verlangt wie ermöglicht. Die Unbestimmtheit der Praxis korrespondiert nicht nur mit der Rede, sondern auch mit der Demokratie: »Das Unbestimmte hat ein unbestimmtes Richtmaß« – aus diesem Grund ist »nicht alles gesetzlich geregelt; denn über manche Dinge läßt sich kein Gesetz geben, so daß es hier eines Plebiszites bedarf« (Arist. NE 1137b). Auf die größte Unbestimmtheit bildet die direkte Demokratie für Aristoteles
ders verhalten kann« (Arist. Rhet. 1094b, 1104a, 1107a, 1109b, 1112a, 1139a, 1139b, 1140a/b, 1141a, 1141b). Aristoteles nähert sich hier weitgehend der Position des Isokrates an: »Mit Hilfe der Rede diskutieren wir miteinander, worüber wir im Zweifel sind, und erforschen, was wir noch nicht kennen.« (Isocr. or. XV 256)
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die angemessenste Antwort. Nur »das Plebiszit« zeigt sich »den besonderen faktischen Verhältnissen« (Arist. NE 1138a) unter Bedingungen der Kontingenz gewachsen. Während Aristoteles der praktischen Vernunft zumindest eine gewisse Autonomie einräumt, neigt Platon dazu, sie vollständig durch die theoretische bestimmt sein zu lassen. Philosophie fungiert hier als überpolitische Polizei, die den politischen Widerstreit von außen kontrolliert.66 Platon verankert die politische Praxis in den ewigen Gesetzen des kósmoV. Ins griechische Mutterland gelangt die Rhetorik im Sinne einer expliziten Kunstlehre im Jahr 427 v. Chr. durch Gorgias von Leontinoi, der eine sizilianische politische Gesandtschaft anführt.67 Die Redekunst wird somit von einem Fremden68 nach Athen gebracht, der nicht aktiv am politischen Leben partizipieren darf. Platon dagegen, der größte Kritiker des Gorgias, entstammt einer alten athenischen Adelsfamilie, deren Mitglieder eine Reihe hoher Regierungsämter inne haben.69 Die politische Auseinandersetzung zwischen Rhetorik und Philosophie lässt sich, sofern wir sie personalisieren wollten, auch als Kampf von Anteilslosen um Anteil begreifen. Die Rede gehört dabei nicht einfach nur den Vollbürgern, sondern erlaubt es auch denen, die kein Bürgerrecht genießen, einen Anspruch auf dieses Recht anzumelden. Als Gewährsmann hierfür ließe sich Lysias anführen, wie Gorgias ein Metöke70 und zugleich einer der bedeutendsten Redner des Alter-
66 Vgl. hierzu Simon Blackburn, Platon. Der Staat, übers. v. Andreas Hetzel, München 2007 [2007]. 67 Von der immensen Wirkung, die Gorgias’ öffentliches Auftreten machte, berichtet Diodoros: »Gorgias trat vor die Volksversammlung und sprach über das Bündnis. Sein besonderer Redestil forderte ihre [= der Athener] geistige Wachheit und ihren Sinn für das gesprochene Wort ungeheuer heraus. Er war der erste, der mit einer gewissen Liebe zur Kunst [filotecníã] bestimmte ziemlich gesuchte Redefiguren anwandte« (Diod. Hist. Bibl. XII 53,3). 68 Platon macht den Sophisten ihre Fremdheit zm Vorwurf und tadelt »die Staaten, die ihnen die Einreise gestatten« (Plat. Men. 92b). 69 Mütterlicherseits ist Platon mit Kritias und Charmides verwandt, die 411 v. Chr. am Sturz der demokratischen Verfassung beteiligt waren. 70 Im Timaios wirft Platon der »Innung der Sophisten«, die zwar »sehr kundig vieler Reden und anderes Schönen« seien, vor, dass sie »in verschiedenen Städten umherschweifen und nirgends einen Wohnsitz bewohnen« (Plat. Tim. 19e), dass sie mit anderen Worten konstitutiv fremd sind, nomadisierend und damit eine Gefahr
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tums. Während der Oligarchie der Dreißig gibt es für Lysias »nur eine einzige Rettung für die Stadt, nämlich allen Athenern Anteil an der Regierung zu geben. Wir haben auch, als wir über Stadtmauern, Schiffe, Geld und Bundesgenossen verfügten, nie daran gedacht, nur einen einzigen Athener Bürger auszuschließen« (Lysias or. XXXIV 3). Im Spätsommer des Jahres 404 v. Chr. installieren die Spartaner in Athen das Schreckensregime der sogenannten Dreißig, die ein Gesetz erlassen, das die Ausübung der Rhetorik unter Strafe stellt.71 Isokrates berichtet, dass sie »eintausendfünfhundert Bürger ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet haben« (Isocr. or. XX 11). Doch schon im nächsten Frühsommer unterliegen diese Dreißig einer Gruppe von demokratisch gesinnten Verbannten, die unter anderem von Lysias mit mehreren hundert Söldnern und etwa 200 Schilden unterstützt wird. Die Familie des Lysias – sein Vater Kephalos, in dessen Haus im Piräus Platons Politeia spielt, war ein reicher, aus Syrakus stammender Waffenfabrikant – wird unter den Dreißig wie viele andere Metökenfamilien enteignet. Nach Beendigung der Oligarchie lässt Lysias, der die demokratische Gegenrevolution mitgetragen hat, durch Thrasybulos einen Antrag auf Verleihung der Bürgerrechte stellen, der allerdings, wohl aufgrund eines Formfehlers, abgelehnt wird (vgl. Arist. Ath. Pol. 40, 2). Da Lysias sein gesamtes Vermögen während der Oligarchie verloren hat, bleibt ihm, einem direkten Schüler des Teisias, nur, sich als Redelehrer und Redenschreiber für Athener Bürger zu betätigen. Jacques Rancière beschreibt das politische Ziel der sophistischen Philosophiekritik im Sinne der Forderung des Lysias nach größtmöglicher Partizipation. In seinem Buch Das Unvernehmen führt er uns eine Urszene des Kampfes der Anteilslosen um Anteil vor Augen: das von Thrasymachos72 in der Politeia gegenüber Sokrates vorgebrachte Argument, »Gerechtig-
für das Eigene, Althergebrachte, Verwurzelte. Die Sophisten seien insofern von allen Staatsangelegenheiten auszschließen. 71 In der Politik weist Aristoteles darauf hin, dass die Spartaner das Recht auf Redefreiheit (]éxesti tÖ boulomén¬) nicht kannten (Arist. Pol. 1273a). An gleicher Stelle beschreibt er allerdings auch, dass es in Karthago jedem erlaubt war, den Beschlüssen der Regierung öffentlich zu widersprechen (]exesti tÖ boulomén¬ ]anteipeîn), eine Freiheit, die der Philosoph als »Entartung tadelt«. 72 Auch Thrasymachos, der in Chalzedon geboren wird, ist kein athenischer Vollbürger.
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keit« sei »nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche« (Plat. Pol. I 338c)73. Traditionellerweise wird dieses Argument als zynisches Plädoyer dafür interpretiert, dass dasjenige gerecht sei, was den Mächtigen und Herrschenden nütze. Rancière schlägt eine andere, nietzscheanisch inspirierte Lesart vor. Demnach würde Thrasymachos die Idee der Gerechtigkeit als eine Strategie der Besitzenden entlarven, ihren Besitz gegenüber den Besitzlosen zu legitimieren. Mit dem Verweis auf Gerechtigkeit werde von Sokrates eine soziale Ungleichheit sanktioniert und in einem vermeintlichen Leistungsgefälle verankert. Sokrates’ Versuch einer Widerlegung dieses Arguments, der auf eine Transzendentalisierung der Gerechtigkeit hinauslaufe, setze, so Rancière, eine Welt ohne Unrecht und Widerspruch voraus; sie abstrahiere von der realen ökonomischen Ungleichheit in der Polis. Eine »polizeiliche Politik«, die ihren theoretischen Reflex in den »Wächtern«74 der Politeia finde, beschränke sich darauf, ein Gemeinwesen innerhalb etablierter Parameter zu verwalten sowie diese Parameter vor ihrer Repolitisierung zu schützen. Die politische Philosophie Platons diene insofern als Ganze einer Rechtfertigung der Aristokratie. Die athenische Gesellschaft wird auch zur Zeit der Hochblüte der Demokratie durch ökonomische Ungleichheiten geprägt und immer wieder von Klassenkämpfen erschüttert. Die Demokratie verfügt aber auch über Institutionen, die dieser Ungleichheit entgegenwirken, so insbesondere die Antidosis, den Vermögenstausch. Reichtum verpflichtet in der athenischen Gesellschaft: Er verpflichtet insbesondere zum Ausstatten der Tragödienchöre, zur Stiftung von Dreifüßen, aber auch zur Ausrüstung der Flotte und zur Instandhaltung der Stadtmauern (vgl. Lysias or. XIX 29 oder Lysias or. XXI 1-10). Wer diesen Verpflichtungen nicht nachkommt und sein Vermögen nur akkumuliert oder zur weiteren Vermehrung des Vermögens einsetzt, kann in einem öffentlichen Prozess auf Antidosis verklagt werden: auf Tausch des gesamten Besitzes mit dem Kläger (der ein beliebiger Athener Bürger sein kann). Die Antidosis fungiert insofern als Instrument der Ver-
73 Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen, a.a.O., 16ff. 74 Die Wächter werden in Platons Politeia als Instanz eingeführt, die über die Integrität der Außengrenzen des Stadtstaates wacht. Im weiteren Verlauf der Darstellung richtet sich ihre Überwachungsfunktion dann zunehmend auf das, was in der Stadt getan und gesagt wird. Die Aufgabe der Wächter bestehe darin, »die drinnen am besten im Zaum zu halten« (Plat. Pol. III 415e).
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gemeinschaftung oder Demokratisierung des Besitzes. Auch gegen Isokrates wurde einst auf Antidosis geklagt. Seine berühmte Antidosis-Rede versucht die Vorwürfe zu entkräften und ist zugleich eine Apologie der Rhetorik und ihres Nutzens. Die Vorrangstellung der Aristokraten, die sich in der These von der »notwendigen Schlechtigkeit der Mehrzahl« (Plat. Pol. VI 489d) niederschlägt, wird von Platon naturalisiert: »Der bildende Gott aber hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichsten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern.« (Plat. Pol. III 415a)75 Politik dient Platon nicht zuletzt dazu, das edelste aller Edelmetalle vor der Umverteilung und Vermischung zu bewahren. Die Phylaken bewachen im Idealstaat die strikte Einhaltung eines eugenischen Zuchtprogramms. Das Gold soll nicht der gesamten Gesellschaft zugute kommen, sondern nur denen, die von Geburt an mit Gold versehen sind. Platons Metaphorik des Goldes kann hier ohne Verlust unmetaphorisch genommen werden. Die zum Herrschen Geschicktesten sind die, die über das Kapital verfügen. Gerechtigkeit bedeutet, dass sie das Kapital als das ihnen Gemäße behalten können. Die Idee der Gerechtigkeit, die im Zentrum der Argumentation von Platons Politeia steht, wird darüber qualifiziert, dass sich jeder »die seiner Natur gebührende Stelle anweisen« lässt (Plat. Pol. III 415c) und eine ständische Ordnung akzeptiert. Damit wird Platons eigene Definition der Gerechtigkeit letztlich ununterscheidbar von derjenigen des Thrasymachos, die Sokrates zunächst entschieden zurückweist: Gerechtigkeit, so Thrasymachos, ist »des Stärkeren und Herrschenden Nutzen, des Gehorchenden und Dienenden aber eigener Schade« (Plat. Pol. I 343c). Sokrates selbst definiert Gerechtigkeit in einer Weise, die ganz offensichtlich zur Maximierung des Nutzens der Herrschenden beiträgt; Gerechtigkeit sei »des von Natur Besseren und Schlechteren Zusammenstimmung darüber, welches von beiden herrschen soll, in der Stadt sowohl als in jedem einzelnen« (Plat. Pol. IV 432a). Gerechtigkeit sanktioniert hier soziale Hierarchien; gerecht ist, »wenn sich bei Kindern und Weibern, Knechten und Freien, Gemeinen und Arbeitern, Herrschenden und Beherrschten dieses findet, daß jeder, wie er einer ist, auch nur das Seinige tut und sich nicht in vielerlei einmischt«
75 Wiederholt wird diese Naturalisierung im Timaios, 17c-d.
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(Plat. Pol. IV 433d), wenn sich mit anderen Worten jeder mit der gesellschaftlichen Position begnügt, auf der er sich innerhalb einer tradierten Standeshierarchie vorfindet, wenn die Anteilslosen keinen Anspruch auf Anteil erheben. Die Regierungsform der Demokratie, die er mit einer Pöbelherrschaft gleichsetzt, wird von Platon mit einem Aufruhr gegen die natürliche Ordnung der Stände assoziiert. »Demokratie« entstehe immer dann, »wenn die Armen den Sieg davontragen« (Plat. Pol. VIII 557a). Sie gilt Platon einerseits als letzte Verfallsform der Aristokratie, andererseits als unmittelbare Vorstufe der Tyrannis. Man könnte an dieser Stelle versucht sein, das Projekt der Philosophie insgesamt, dessen Entstehung sich wesentlich an das Werk Platons bindet, auf einen Versuch der antidemokratischen Rechtfertigung von Standesunterschieden zurückzuführen. Die platonische Ideenlehre, die einen wichtigen Anfangspunkt abendländischen Philosophierens markiert, erschiene dann als nachträgliche Legitimation einer Politik, die auf die Erhaltung des gesellschaftlichen Status Quo abzielt. Der hierarchisierte kósmoV des Philosophen legitimiert eine hierarchisierte und entpolitisierte Gesellschaft. Rhetorik und Sophistik stehen demgegenüber insgesamt für ein Bildungsprogramm, das Erziehung über Abstammung und ererbte Autorität stellt: »Die Welt musste« für die Sophisten »erklärt, die Gesellschaft konnte verändert, der Mensch sollte gebildet werden.«76 Das sophistische Bildungsprogramm hat bereits als Bildungsprogramm eine demokratisierende Wirkung. Zu den Besten gehört man aus der Sicht der Sophisten nicht durch Geburt, sondern durch eigene Anstrengung. Daniel von Fromberg hat das Denken der Sophisten in einer jüngst erschienenen, äußerst lesenswerten Studie erfolgreich als »Traditionslinie herrschaftskritischen Denkens re-interpretier[t]«77. Mit den Mitteln der neueren Diskurs- und Hegemonietheorie zeigt er zunächst, wie Platon und der sich ihm anschließende Mainstream der abendländischen Philosophie ein negatives Bild des Sophisten wie der Sophistik zu zeichnen vermochten, um sich gegenüber diesem Zerrbild selbst zu profilieren. Blendet man das »platonische Zerrgeräusch«78 dagegen aus und geht – mit den For-
76 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 166. 77 Daniel von Fromberg, Demokratische Philosophen, a.a.O., 11. 78 A.a.O., 30.
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schungsarbeiten von Kerferd , Guthrie , Nestle und Grote – auf die Quellen zurück, offenbart sich ein ganz anderes Bild. Die verfemten Sophisten erscheinen dann »1. als erkenntniskritische Skeptiker, frühe Materialisten und subversive Denker [...], 2. als politische Realisten, fühe ›Dekonstruktivisten‹ und strategische Denker [...], 3. als antike Aufklärer und demokratische Denker«83, kurz, als »Wanderlehrer der Demokratie«84. Die Philosophie begreift sich demgegenüber in einer doppelten Rolle. Zunächst nimmt auch der Philosoph am demokratischen Gespräch teil; er begibt sich auf die Âgorá 85. Er steht mitten im Zentrum der Gesellschaft und hinterfragt (oder repolitisiert) eingespielte Üblichkeiten. Sokrates etwa verpflichtet sich in diesem Sinne eher einem Nichtwissen als einem Wissen. Er irritiert, verstört, be- und hinterfragt die öffentliche Meinung. Gleichzeitig bezieht er aber auch eine Position jenseits der Praxis: die Position eines bíoV jewrhtikóV. Indem er an der Welt göttlicher Ideen zu partizipieren vorgibt86, beerbt er genau jene aristokratischen Souveränitätsansprüche, deren Zurückweisung die Idee der Polis begründet. Der Philosoph möchte dem politischen Disput einen Ort anweisen, seine Grenzen abstecken, die Bedingungen seiner Möglichkeit sanktionieren. Er versteht sich
79 Vgl. George B. Kerferd, The Sophistic Movement, Cambridge 1981. 80 Vgl. William K.C. Guthrie, History of Greek Philosophy, Vol. 3: The FifthCentury Enlightment, Cambridge 1971. 81 Vgl. Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1942. 82 Vgl. George Grote, History of Greece, London 1846-56. 83 Daniel von Fromberg, Demokratische Philosophen, a.a.O., 35. 84 A.a.O., S.103. 85 Wie die Êkklhsía verweist auch die Âgorá lexikalisch auf das Sprechen, hier auf das Verb Âgoreýein. 86 Cicero dekonstruiert die aristotelische Behauptung, im bíoV jewrhtikóV partizipiere der Mensch am Göttlichen: »Denn es gibt nichts, wobei menschliche Vollkommenheit näher an der Götter Walten heranreicht, als neue Staaten zu gründen oder schon gegründete zu bewahren.« (Cic. de re pub. 7, 12). Für den römischen Rhetor ist es gerade die politische Praxis die uns Menschen mit dem Göttlichen verbindet. Als politischen Wesen kommt uns die Fähigkeit eines performativen Gründens zu, die der göttlichen Schöpfungsmacht entspricht. Gott steht hier nicht als Garant dafür, dass sich der kósmoV ewig gleich bleibt, sondern dafür, dass im kósmoV auch Neuanfänge möglich sind.
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daher in letzter Konsequenz als Gesetzgeber. Die politische Philosophie Platons verankert die Gesetze der Polis in den Gesetzen des kósmoV. Die Korrespondenz zwischen beiden Ordnungen wird garantiert durch »einen außerhalb der Polis stehenden autoritativen Gesetzgeber [...], der [...] über die Einsicht in eine höhere Weltordnung verfügt.«87 Eine solche Gestalt schwebt Platon im Philosophen-König vor (vgl. Plat. Pol. V 473b ff.). Dieser zerstört die kontingente, historisch gewachsene Ordnung des Gemeinwesens und bindet die freigesetzten Elemente nach einem idealen Plan neu zusammen. Platon antizipiert die Totalitarismen des 88 20. Jahrhunderts auf dem Feld der politischen Theorie. In seinem Idealstaat werden familiäre und kulturelle Bindungen zerschlagen, um eine neue, hierarchische Ordnung zu etablieren, welche die zeitlosen Ordnungen von Mikro- und Makrokosmos abbilden soll. Platon bedient sich hierzu ständig analogisierender Verfahren89; so versucht er, »an der Gestalt des Kleineren die Ähnlichkeit mit dem Größeren auf[zu]suchen« (Plat. Pol. II 369a): Auf der Ebene des Mikrokosmos spiegelt die politische Ordnung die Ordnung der Seele (in der die Vernunft über die Leidenschaften regiert)90; auf der
87 Wilfried Nippel, »Politische Theorien der griechisch-römischen Antike«, in: Hans J. Lieber (Hg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2000, 17-46, hier: 29. 88 Dies hat insbesondere Karl Popper hervorgehoben; vgl. ders. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1., Der Zauber Platons, Tübingen 2003; aufgegriffen werden Poppers Kritikpunkte neuerdings von Simon Blackburn, Platon. Der Staat, a.a.O. 89 Autoren, die Platon vom Vorwurf des Totalitarismus befreien wollen, betonen genau diesen Punkt. Sie verweisen darauf, dass Platon der gerechte Staat nur als heuristisches Modell zur besseren Erkenntnis der gerechten Seele diene. Blackburn (Simon Blackburn, Platon. Der Staat, a.a.O.) wendet gegenüber diesen Verteidigungsversuchen mit Recht ein, dass die in der Politeia entfaltete Staatslehre viel zu detailliert ist, um nur als heuristisches Modell dienen zu können. Nicht alle Einrichtungen des von Sokrates entworfenen idealen Staates lassen sich in seelische Instanzen zurückübersetzen. 90 Interessanterweise spricht auch Isokrates von einer »Seele der Polis [qyc¸ pólewV]«, die er allerdings im Gegensatz zu Platon nicht mit einem höchsten Stand, sondern mit der politeía, der Verfassung, analogisiert (vgl. Isocr. or. VII 14).
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Ebene des Makrokosmos diejenige von Idee und Erscheinung. Im Timaios wird ganz explizit darauf hingewiesen, dass sich die politische »Gesetzgebung [tòn nómon] gleich von Anfang an um die Weltordnung [kósmon]« 91 (Plat. Tim. 24b) zu bemühen habe. Metaphysik und Politik gehen hier eine fatale, die Tradition der abendländischen politischen Philosophie nachhaltig prägende Allianz ein. Im Rahmen der Philosophie Platons wird jede Praxis der Theorie subordiniert. Wenn wir aus Platons Sicht tätig werden, entwickeln wir »eine Idealform (eidos), die wir als Ziel (telos) setzen, und dann handeln wir, um 92 sie in die Realität umzusetzen« . Für Platon sind unsere Augen im Handeln, wie François Jullien treffend formuliert, »auf das Modell gerichtet«93. Platon charakterisiert den idealtypischen Staat, dessen Bild Sokrates in der Politeia zeichnet, als »Musterbild«, »göttliches Urbild« oder »Grundriss des Staates« (gráqaV parádeigma, Plat. Pol. V 472d; tÖ jeí¬ paradeígmati, VI 500e; sc²ma t²V politeíaV, VI 501a), das keinen hypothetischen, regulativen oder gar utopischen Charakter hat, sondern – unter der einen Bedingung der Installation des Philosophenkönigtums – genau »so ausgeführt werden kann«, wie es von Sokrates »beschrieben wird« (Plat. Pol. V 473a). Die Theorie als Schau der ewigen, unbewegten Ideen geht hier der Praxis voraus; das Mittel folgt dem vorgefassten Zweck, der Entwurf bestimmt die Ausführung, das Projekt wird theoretisch entworfen, bevor es praktisch umgesetzt wird. Zu den Paradigmen politischen Handelns avancieren in Platons Politeia die Hirtenkunst (poimenik®, Plat. Pol. I 345d) und die Steuermannskunst
91 In diesem Sinne schreibt Cornford, »Plato intends to base his conception of human life, both for the individual and for society, on the inexpugnable foundation of the order of the universe.« Francis Macdonald Cornford, Plato’s Cosmology, London 1966, 6. – Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang weiter, dass der Begriff des kósmoV »anfänglich vor allem im militärisch-politischen Bereich gebraucht wird, wo er die Durchsetzung des Gehorsams wie die Einfügung des Einzelnen in eine umfassende Ordnung meint –, z.B. für die Aufstellung des Heeres« (Matthias Gatzemeier, Artikel »Kosmos I. Antike«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. IV, Sp. 1167-1173, hier: Sp. 1167). 92 François Jullien, Über die Wirksamkeit, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullie, Berlin 1999 [1997], 13. 93 Ebd.
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(kybernhtik®, Plat. Pol. I 346a). Der Hirt wie der Steuermann zeichnen sich durch ein Expertenwissen aus, das sie aus der Menge derer, die behütet oder gesteuert werden, heraushebt. Das Bildfeld, aus dem Platon hier schöpft, konnotiert von vorn herein ein antidemokratisches Verständnis des Politischen.94 Der Staat wird von Phylaken gesteuert, die eine besondere Kaste bilden. Politik fällt zusammen mit einer fylak pólewV (vgl. Plat. Pol. V 456a), die Schleiermacher treffend mit »Staatshut« übersetzt. Die politische Philosophie des Abendlandes bleibt diesem Verständnis über weiten Strecken verpflichtet und erweist sich in ihren Grundzügen bis heute als platonisch. In den großen politiktheoretischen Entwürfen von Hobbes, Rousseau und Locke geht es, wie Hannah Arendt herausgearbeitet hat, immer um das Herstellen der Gesellschaft nach theoretischen Vorgaben. Die »Selbstverständlichkeit, mit der das Gesellschaftliche an die Stelle des Politischen tritt, verrät mehr als alle Theorien, wie sehr die ursprünglich griechische Auffassung von dem, was Politik eigentlich ist, verloren gegangen 95 war«. Von Seiten der Rhetorik wird Platons Staatsauffassung immer wieder heftig kritisiert. So schreibt Cicero an seinen Freund Atticus über die Politik Catos: »Aber so gut er’s meint und eine so ehrliche Haut er ist, er schadet doch mitunter der Republik. Er gibt nämlich seine Stimme so, als lebte er in Platos Idealstaat und nicht in der Hefe des Romulus« (Cic. ad Atticus II 1). Die Hefe des Romulus, das ist die reale, auf Konflikte gegründete Politik Roms. Deren spezifischen Umständen gilt es aus rhetorischer Perspektive Rechnung zu tragen. Politik lässt sich nicht more geometrico betreiben, sondern ist immer auch mit menschlichen Leidenschaften verbunden. Keine
94 Taureck rechnet es »zu den folgenreichen Kuriosa der Kulturgeschichte, daß die absurde Sokratisch-Platonische Deutung von Hirt und Herde zur Leitvorstellung von Politik und Religion in christlicher Zeit wurde«. (Bernhard Taureck, Die Sophisten, a.a.O., 75). 95 Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., 28. Arendt selbst knüpft demgegenüber wieder an das aristotelische Praxis-Konzept an, welches sie radikalisiert. Sie begründet damit eine Tradition politischen Denkens, die das Politische als autonome Kraft der Selbstinstituierung von Gesellschaft begreift. Aufgenommen wird dieser Ansatz etwa von Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und Ernesto Laclau. Vgl. hierzu Oliver Marchart, Post-foundational Political Thought: Political Difference in Nancy, Lefort, Badiou and Laclau, Edinburgh 2007.
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noch so rationale politische Position macht Sinn, wenn es nicht gelingt, sie zur Sache der Bürger zu machen, zu einer Angelegenheit leidenschaftlicher Besetzung, leidenschaftlichen Engagements. Doch noch in einer anderen Hinsicht erschöpft sich Politik nicht in rationaler Deliberation. Mit »Hefe des Romulus« umschreibt Cicero, dass es Politik immer auch mit Bildung, Mobilisierung, Demonstration, Stellungnahme, Debatte, Verhandeln, Lob96 byismus, Kampangnen, Wahlkampf, Korruption und Kleinarbeit zu tun hat, dass unsere Hände im politischen Alltagsgeschäft niemals sauber bleiben. Wer die schmutzige politische Kleinarbeit vermeiden möchte, verleugnet letztlich das Politische selbst. Platon formuliert seine antidemokratische Position vor dem Hintergrund derjenigen politischen Formation, die – trotz aller Abstriche – als eines der demokratischsten Gemeinwesen in der Menschheitsgeschichte gelten kann: der klassischen athenischen Demokratie. De facto beschränkt sich die politische Partizipation in der athenischen Polis des vierten Jahrhunderts, die einem radikaldemokratischen Ideal vollständiger Teilhabe sehr nahe kommt, auf eine bestimmte, anthropologisch, ethnisch und ökonomisch ausgezeichnete Gruppe: freie, erwachsene, männliche, athenische Vollbürger. Zumindest als Denkmöglichkeit und -horizont taucht eine unbeschränkte Partizipation in der athenischen Polis allerdings bereits auf, und zwar insbesondere im Kontext sophistischer Überlegungen.97 Aus der Rede für die Messener des Sophisten Alkidamas, einem Schüler des Gorgias, stammt der Satz: »Frei ließ der Gott alle, niemanden hat die Natur zum Sklaven gemacht.« (SZ 342 [Alkidamas Fr. 3]) Hier deutet sich eine universalistische Idee des Menschen zumindest an. Der Satz ist allerdings nur isoliert überliefert und würde sich vielleicht im Kontext des Gesamttextes der Rede relativieren, die für die Freiheit der Messener plädiert, welche sich 369 v. Chr. aus der Sklaverei der Spartaner befreit haben. Eine dezi-
96 Diesen Katalog entnehme ich Michael Walzers Vernunft, Politik und Leidenschaft, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M. 1999, 42-54, einer Studie, die sich vehement gegen ein rationalistisches, auf Deliberation verkürztes Politikverständnis wendet. 97 Zu den politischen Konzepten der einzelnen Sophisten vgl. Martin Dreher, Sophistik und Polisentwicklung: Die sophistischen Staatstheorien des 5. Jahrhunderts v. Chr. und ihr Bezug auf Entstehung und Wesen des griechischen, vorrangig athenischen Staates, Frankfurt/M., Bern 1983.
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diert naturrechtlich-universalistische Position formuliert Antiphon in einem Fragment aus dem Korpus der Oxyrhynchus Papyri, das seiner Schrift Über die Wahrheit zugeordnet werden kann: »Unsere eigenen Normen kennen und achten wir, doch diejenigen derer, die fern von uns wohnen, kennen wir weder noch achten wir sie. Hierin also haben wir zueinander das Verhalten von Barbaren angenommen, haben wir doch jedenfalls von Natur alle die gleichen Voraussetzungen, entweder Barbaren oder Hellenen zu sein.99 Es läßt sich beobachten, daß die Dinge, die zum Bereich des von Natur Seienden gehören, bei allen Menschen notwendig und allen vermöge derselben Fähigkeiten verfügbar sind; und in eben diesen Dingen ist niemand, ob Barbar oder Hellene, von uns verschieden. Denn wir blasen alle den Atem durch den Mund und durch die Nase in die Luft, und wir lachen, wenn wir uns im Herzen freuen, oder weinen, wenn wir traurig sind, und mit dem Gehör nehmen wir die Laute auf; und bei Licht sehen wir vermöge des Gesichtssinns; und mit den Händen arbeiten wir, und mit den Füßen gehen wir.« (SZ 195 [Antiphon B44 Oxyrhynchus Papyri 1364 + 3647, Fr. A]) In einem zweiten Fragment heißt es: »Denn die Gebote der Normen sind von außen auferlegt, die Gebote der Natur aber notwendig, und die Gebote der Normen sind Werke der Übereinkunft, nicht des Wuchses, die der Natur aber Werke des Wuchses, nicht der Übereinkunft.« (SZ 195 [Antiphon B44 Oxyrhynchus Papyri 1364 + 3647, Fr. B]) Hier deutet sich ein Universalismus an, der einklagt, dass einerseits nicht alle Gesetze willkürlich sind und dass andererseits alle Menschen in Äußerungsformen wie dem Lachen und Weinen übereinkommen. So wie einige Gesetze in der Natur
98 Vgl. Ettore Bignone, »Die ethischen Vorstellungen des Sophisten Antiphon«, in: Carl Joachim Classen (Hg.), Sophistik, a.a.O., 493-518. 99 Bei Diels/Kranz (vgl. DK 87 B 44) wird der letzte Teilsatz in einem noch stärker naturrechtlichen Sinne wie folgt gelesen und übersetzt: »Denn von Natur aus sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Helenen.« Gerard J. Pendrick schlägt demgegenüber die Variante »Denn von Natur aus sind wir alle gleichermaßen dazu geboren, entweder Griechen oder Barbaren zu sein« (Gerard J. Pendrick, Antiphon the sophist: The fragments, Cambridge 2002, 180f., 359f. 531) vor; er selbst und Wilfried Stroh (Die Macht der Rede, a.a.O., 101) versuchen ausgehend von dieser Akzentverschiebung, eine naturrechtliche Deutung Antiphons zurückzuweisen. Gegen Pendrick und Stroh spricht allerdings der weitere Kontext des Satzes.
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verankert sind, können umgekehrt bestimmte Formen der Grenzziehungen zwischen Menschen, etwa nach Klasse, Geschlecht oder Ethnie, als willkürlich begriffen werden. Isokrates formuliert etwa zur gleichen Zeit insofern universalistische Gedanken, als die Menschen für ihn nicht von Natur aus ungleich sind, sondern erst »die Form der Alleinherrschaft mehr als alle anderen Verfassungen die Menschen nach ihren Anlagen und nach ihrem Handeln unterscheidet« (Isocr. or. III 16). Die Ungleichheit erscheint hier als Produkt der Tyrannis, und nicht, wie bei Platon, als deren Rechtfertigung. Isokrates macht darauf aufmerksam, dass Differenzen zwischen Menschen von diesen selbst produziert werden, ja, dass sich die Tyrannis geradezu darüber definiert, den Bereich des Menschlichen aufzuteilen und zu hierarchisieren. Was von Platon naturalisiert wird, die Ungleichheit der Menschen, wird von Isokrates als kontingenter Effekt einer bestimmten Form von Politik beschrieben und damit tendenziell repolitisiert. Im Werk Ciceros finden sich noch explizitere Ansätze zu einem naturrechtlichen Universalismus. Wie alle Lebewesen habe der Mensch von Natur aus einen Geselligkeitstrieb (»appetitus coniunctionis«, Cic. de off. I 11). Diese ihre »Naturanlage verbindet durch die Wirkung der Vernunft alle Menschen miteinander zu einer Gemeinschaft der Rede und des Lebens [hominem conciliat homini et ad orationis et ad vitae societatem]« (Cic. de off. I 12). Rede und Vernunft, ratio et oratio, vereinigen die Menschheit zu einer »unbegrenzten Gemeinschaft [infinita societas hominum]« (Cic. de off. I 53), die allen anderen Gemeinschaften wie Staat und Familie vorausgehe. Das einigende Band der »universi generis humanis societas«, »der Gemeinschaft des gesamten Menschengeschlechts«, sei »Vernunft und Rede, die die Menschen durch Lehren, Lernen, Gedankenaustausch, Verhandlung und Urteilsbildung miteinander verbindet und zu einer ganz natürlichen Gemeinschaft zusammenführt« (vgl. Cic. de off. I 50). Mit allem Nachdruck formuliert Cicero weiter: »Es gibt nämlich eine Gemeinschaft – auch wenn ich es schon oft zu sagen hatte, muß ich es doch noch öfter sagen –, die jedenfalls sehr ausgedehnt ist und die alle mit allen [omnium inter omnes] verbindet.« (Cic. de off. III 69) Der lógoV als Einheit von ratio und oratio stiftet hier insofern eine Gemeinschaft aller Menschen, als sich im Reden alle mit allen verbinden können. Die Gemeinschaft ergibt sich weniger über eine Partizipation an einer alle Individuen überwölbenden Vernunft, als vielmehr durch die Reden, die alle mit allen verbinden, alle
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mit allen in einen Austausch treten lassen. Der Schlüsselbegriff natura fungiert bei Cicero als Begriff der praktischen Vernunft. Er ist nicht im Sinne der neuzeitlichen Naturauffassung als etwas allen Gemeinsames oder Zugrundeliegendes zu verstehen; »natura, id est iure gentium« (Cic. de off. III 23): »die Natur, das ist das Völkerrecht«, führt Cicero aus und begründet damit einen durch und durch sozialen Naturbegriff. »Denn«, so Cicero, »wenn man einem Menschen, der in keiner Hinsicht nützlich ist, um seines eigenen Nutzens willen etwas nähme, so würde man [...] gegen das Naturgesetz verstoßen« (Cic. de off. III 30). Eine Natur im Sinne dieses Naturbegriffs steht für einen praktischen Anspruch; die Gemeinschaft, die diese Natur stiftet, wäre näher als Anspruchsgemeinschaft zu charakterisieren. Für Ciceros Naturrechtsauffassung wird der Begriff des Konsenses zentral. Der Autor weist zunächst darauf hin, dass viele, vielleicht sogar alle Menschen falsche Vorstellungen von den Göttern haben. Allen Menschen ist allerdings der Glaube gemeinsam, »daß es eine göttliche Macht und ein göttliches Wesen gibt« (Cic. tusc. disp. I 13, 30). Dieser gemeinsame Glaube geht weder auf eine »Verabredung oder Abmachung« zurück, noch auf »Einrichtungen und Gesetze«; wir haben es hier vielmehr mit einer »consensio omnium gentium« zu tun, die als »lex naturae«, als »Naturgesetz« angesehen werden müsse (ebd.): »Bei einer jeden Frage aber muß die Übereinstimmung aller Völker als Naturgesetz angesehen werden.« (ebd.) Ein Naturgesetz wäre also das, worüber alle Völker übereinstimmen. Der Konsens wird hier einerseits von einer Verabredung und Abmachung unterschieden, andererseits von Institutionen und Gesetzen. Er muss nicht, wie in der Theorie von Habermas, erst hergestellt werden, sondern besteht schon. Cicero nutzt den Konsens, er fordert ihn nicht. Der Konsens gilt ihm eher als ein Zusammenstimmen oder eine Grundresonanz und nicht als ein Gebot. Ein solcher, bereits bestehender Konsens zeigt sich z.B. in Bezug auf die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen: »Also wird der umsichtige Landmann Bäume pflanzen deren Früchte er selbst niemals sehen wird.« (Cic. tusc. disp. I 14, 31) Eine vergleichbare Vorbehaltlosigkeit gilt für alle Kulturleistungen, etwa das Geben von Gesetzen, das Einrichten von Staaten, jede Art von »Inschriften« (Cic. tusc. disp. I 14, 31), die sich an Zukünftige adressieren. Zusammenfassend heißt es: »omnium consensus naturae vox est [die Übereinstimmung aller ist die Stimme der Natur]« (Cic. tusc. disp. I 15, 35). Sofern sie diese Stimme vernehmen und sich mit ihrer Hilfe artikulieren können, sind alle Menschen für Alkidamas,
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Antiphon, Isokrates und Cicero gleich; an dieser Stimme prallen alle Hierachisierungen nach ethischer Herkunft, Geschlecht, Lebensalter und sozialer Klasse ab. Rhetorik als Kunstlehre reflexiviert und professionalisiert das öffentliche Reden und damit die demokratische Praxis. Politik gilt ihr als mit dem Vollzug der Reden koextensiv; die theoretische Reflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der Rede bezieht sie immer auch auf die Möglichkeiten und Grenzen des Politischen. Dem republikanischen Kontext, in dem die klassisch-griechische Rhetorik steht, entsprechen theoretische Reflexionen auf die Demokratie als beste Staatsform. Explizite Rechtfertigungen der Demokratie von Seiten der rhetorischen Tradition finden sich etwa bei Protagoras (a), Isokrates (b), Thrasymachos (c) und Thukydides (d). Diese Rechtfertigungen möchte ich kurz vorstellen. (a) Protagoras, der dem engsten Kreis um Perikles angehört und von diesem im Jahr 443 mit der Ausarbeitung der Verfassung der neu gegründeten unteritalienischen Kolonie Thurioi beauftragt wird, fordert im nach ihm benannten Platonischen Dialog eine Teilhabe aller an der politischen Tugend und betont den pädagogischen und sozialisierenden Gewinn einer allgemeinen politischen Partizipation (vgl. Plat. Prot. 323a). In einem Kulturentstehungsmythos, den Platon seinen Protagoras erzählen lässt, fordert dieser einen dezidiert demokratischen Universalismus, der sich mit den naturrechtlichen Überlegungen bei Alkidamas, Antiphon und Isokrates berührt. Zeus sendet in diesem Mythos Hermes zu den Menschen, um sie mit bestimmten Kompetenzen auszustatten. Für die meisten Kompetenzen, wie etwa die Heilkunst, gilt dabei, dass es genügt, wenn einzelne sie ausüben. Nur die politische Fähigkeit bildet eine Ausnahme. Sie muss an alle Menschen verteilt werden: Hermes fragt: »›Soll ich nun sittliches Gefühl und Gerechtigkeit auf dieselbe Weise verteilen, oder soll ich sie an alle verteilen?‹ – ›An alle‹, sagte Zeus, ›alle sollen Anteil an ihnen haben. Denn es können keine Staaten entstehen, wenn nur wenige an ihnen teilhaben, wie es bei den anderen Kenntnissen der Fall ist.« (Plat. Prot. 322c-d) Im Gegensatz zu Platon, der die politische Steuerung des Gemeinwesens den wenigen Besten vorbehält, plädiert Protagoras für die Teilhabe aller, für die Einbeziehung jedes Beliebigen. (b) Isokrates beruft sich in seinen Reden immer wieder affirmativ auf das durch Solon und Kleisthenes etablierte System, das sich für ihn vor allem durch »Redefreiheit und Rechtsgleichheit [parrhsía ]ek ]isonomíaV]«
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(Isocr. or. VII 29) auszeichnet. In seinem Areopagitikos schreibt er: »Der einzige Weg, zukünftige Gefahren abzuwehren und gegen bereits eingetretenes Unheil Abhilfe zu schaffen, dürfte sein, wenn wir jene Demokratie wiedereinführen wollten, die Solon, der größte Volksfreund, eingerichtet hat und die Kleisthenes nach der Vertreibung der Tyrannen und nach der Rückführung des Volkes an die Macht wiederhergestellt hat.« (Isocr. or. VII 16) Nur diese Verfassung sei volksfreundlich, für alle vorteilhaft und sporne die Bürger zu ruhmreichen Taten an. Sie sei gegenüber der von den Dreißig etablierten oligarchischen Verfassung bei weitem vorzuziehen: »Aus den meisten meiner Reden wird deutlich, daß ich oligarchische Regime und das Streben nach Vorteilen kritisiere, daß ich aber Gleichberechtigung und demokratische Regierungen gutheiße« (Isocr. or. VII 60). Isokrates betont ferner, dass Solon und Kleisthenes, die Väter der demokratischen Verfassung Athens, Redner waren: »Jetzt aber werdet ihr feststellen können, daß unter den heutigen Politikern und unter den jüngst verstorbenen die, die sich um das Reden am meisten Mühe geben, die besten derer sind, die öffentlich auf der Rednerbühne auftreten, daß ferner unter den Menschen der Vergangenheit die besten und berühmtesten Redner bei Solon angefangen sich um unsere Polis die größten Verdienste erworben haben. Als Solon nämlich die Führung des Volkes übernommen hatte, gab er Gesetze, ordnete die politischen Verhältnisse und organisierte die Polis derart, daß auch heute noch die von ihm eingeführte Verfassung geschätzt wird. Danach konnte Kleisthenes, als er von den Tyrannen aus der Polis vertrieben worden war, die Amphiktyonen durch seine Worte dazu überreden, ihm vom Schatz des Gottes zu borgen, brachte dann das Volk wieder an die Macht, vertrieb die Tyrannen und richtete jene Demokratie ein, die für die Griechen Quell der größten Güter wurde.« (Isocr. or. XV, 231/232) Die Kunst der Rede hilft zunächst bei der Konstitution eines demokratischen Gemeinwesens, darüber hinaus aber auch bei dessen Erhaltung und Selbstreproduktion. Die Polis ist ein fortwährendes Gespräch aller mit allen, dem die Rhetorik als Stütze und Instanz der Selbstvergewisserung dient. (c) Die Rhetorik verpflichtet sich, und damit kommen wir zu Thrasymachos, dem Projekt, auch unter undemokratischen Bedingungen auf Demokratisierungsansprüchen zu beharren. Dionysisos von Harlikarnassos berichtet von einer panegyrischen Rede des Lysias, »in welcher er bei der festlichen Volksversammlung in Olympia die Griechen dazu drängt, den
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Tyrannen Dionysios zu stürzen und Sizilien zu befreien« (Lysias or. XXXIII, Vorwort). Von Thrasymachos ist ein Fragment überliefert, in dem er der Rede regelrecht ein Widerstandspotential zu Gunsten der Demokratie zuspricht: »Ich wollte, ihr Athener, daß ich zu jener alten Zeit gehörte, als es den jungen Leuten genügte zu schweigen, die allgemeine Lage aber nicht dazu zwang, öffentlich zu reden, und die älteren Bürger die Stadt recht leiteten. Da aber der Gott uns in diese Zeit gesetzt hat, so daß wir zwar auf die anderen, die die Stadt beherrschen, hören, selbst aber die Unbilden erleiden müssen, und das Schlimmste: daß es nicht das Walten der Götter ist noch des Schicksals, sondern derer, die sich um uns kümmern sollen, muß man reden.« (SZ 255 [B1 Dionysius Halicarnasseus, Demosthenes 3]) Thrasymachos unterscheidet hier eine ältere Zeit, in der die Bürger die Stadt recht leiteten und in der insofern keine Notwendigkeit bestand, öffentlich die Stimme zu erheben, von einer neuen, in der dies notwendig ist. Die ältere, ganz offensichtlich glückliche Zeit wurde durch eine Phase abgelöst, in der das Volk gehorchen und Unbilden erleiden muss. Diese Unbilden sind nicht vom Schicksal oder den Göttern verhängt, sondern bilden das Ergebnis einer tyrannischen Herrschaft. Thrasymachos entnaturalisiert100 hier Herrschaftsansprüche; er kehrt damit die von Sokrates in Platons Politeia verfolgte Strategie, Herrschaftsverhältnisse in einer kosmischen Ordnung zu verankern, um. Gerade die undemokratischen Herrschaftsverhältnisse, welche die Bürger daran hindern, öffentlich reden zu können, machen es für Thrasymachos notwendig, dass man reden muss. Der Sophist deutet hier die Möglichkeit einer Wortergreifung durch diejenigen an, denen zu sprechen in bestimmten Herrschaftskonstellationen verwehrt bleibt. Nicht nur unter demokratischen Bedingungen kann gesprochen werden; in Akten der Wortergreifung101 kann und muss sich Demokratie darüber hinaus auch un-
100 Vom Ziel einer solchen Entnaturalisierung wird wahrscheinlich auch die Kallikleische und Protagoräische Unterscheidung von fúsiV und nómoV getragen (vgl. etwa Plat. Gorg. 482 e). Siehe hierzu auch Hangyoo Lee, Die sophistische Rechtsphilosophie in den platonischen Dialogen Protagoras, Theaitetos und Gorgias. – Protagoras, Hippias von Elis, Gorgias, Polos, Kallikles – Inaugural-Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie der Universität Mannheim, Mannheim 2005, 147-157. 101 Eine solche Wortergreifung wird in der römischen Rhetorik als licentia (vgl. etwa Auct. ad Her. 4, 48 sowie Quint. inst. or. IX 2, 27) in der griechischen Rhetorik
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ter undemokratischen Bedingungen als Anspruch Gehör verschaffen. Keiner Herrschaft kann es gelingen, das Feld der Rede vollkommen zu kontrollieren. (d) Der Historiker Thukydides schließlich, ein Schüler des Isokrates, legt dem Perikles folgendes Lob der Demokratie in den Mund: »Wir [= die Athener] haben eine Staatsverfassung, die sich nicht nach den Gesetzen anderer richtet; wir sind eher das Vorbild für andere als daß wir andere nachahmen. Diese unsere Verfassung nennt man Demokratie, weil sie nicht auf einigen wenigen, sondern auf der Mehrheit der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind alle Bürger bei persönlichen Streitigkeiten gleichgestellt.« (Thuk. Pel. II 37; 40f.) Demokratie und Rede bilden bei Thukydides eine integrale Einheit: »Denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, sondern vielmehr, sich nicht durch das Wort vorher belehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht.« (Thuk. Pel. II 37; 40, 2) Es wäre natürlich naiv (und würde Platons Bedeutung überbetonen), die Philosophie als per se antidemokratisch, die Rhetorik dagegen als per se demokratisch beschreiben zu wollen. Vertreter der rhetorisch-sophistischen Tradition wie Antiphon und Kritias haben sich gegen Ende des Peloponnesischen Krieges an den oligarchischen Umstürzen der Jahre 411 bzw. 404/3 beteiligt. In der rhetorischen Literatur finden sich darüber hinaus Passagen, die als Rechtfertigungen der Monarchie gelesen werden können, so etwa in einer dem Nikokles gewidmeten Rede des Isokrates. Das in dieser Rede vorgebrachte Plädoyer für die Alleinherrschaft des zypriotischen Königs wird allerdings insofern abgeschwächt, als es für eine Monarchie in der Polis Partei ergreift. Der Stellenwert des Königs wird hier auf ein eher zeremonielles Amt beschränkt, wie es in etwa dem altathenischen archon basileus zukommt. In der Polis zu leben bedeute auch für den König, »die Redefreiheit zu akzeptieren« (Isocr. or. II, 3) und darüber hinaus sich der Möglichkeit auszusetzen, dass die eigenen Fehler öffentlich kritisiert werden können. In einer anderen Rede lässt Isokrates den Nikokles ein Loblied auf den lógoV und die Rhetorik singen: »Weil wir von Natur aus die Gabe
als parrhsía thematisiert. Bereits Demokrit bindet die parrhsía im Sinne einer freimütigen, gegenhegemonialen Wortergreifung dabei an eine Kunstlehre vom Erkennen des rechten Zeitpunkts: »Eigentümliches Zeichen freier Gesinnung ist parrhsía. Die Gefahr aber liegt in der Bestimmung des richtigen Zeitpunktes.« (DK 226, Demokrit, frg. 68 B).
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besitzen, einander überreden [peíjein] und uns unsere jeweiligen Wünsche mitteilen zu können, haben wir uns nicht nur davon entfernt, ein Leben wie Tiere zu führen, sondern wir haben uns zusammengetan, Poleis ge102 gründet , uns Gesetze gegeben, die Künste erfunden, ja bei fast allen unseren Erfindungen und Einrichtungen hat uns unsere Fähigkeit zu sprechen geholfen. [...] Wenn ich also kurz die Macht der Rede zusammenfassen soll, so werden wir feststellen, daß keine vernünftige Handlung ohne Zuhilfenahme der Rede geschieht, sondern daß die Rede bei allem Tun und Denken die Führung hat und daß die vernünftigsten unter den Menschen am meisten Gebrauch von ihr machen. Deswegen sind Leute, die es wagen, über Rhetorik- und Philosophielehrer herzuziehen, ebenso zu hassen, wie Frevler an den Einrichtungen für die Götter.« (Isocr. or. III, 6-9). Die höchste Souveränität kommt hier den öffentlichen lógoi zu und nicht dem König. Obwohl die Gegner der Rhetorik, so führt Isokrates an anderer Stelle aus, »glauben, daß Peitho eine Göttin ist, und obwohl sie sehen, daß auch die Polis dieser Gottheit jährlich Opfer darbringt, behaupten sie, Menschen, die an der Fähigkeit, die diese Göttin besitzt, Anteil haben wollen, würden verdorben, als ob sie eine schlechte Sache begehrten.« (Isocr. or. XV 249) Isokrates wird immer wieder vorgeworfen, eine promazedonische und damit antidemokratische Politik verfolgt zu haben. Doch vor der Rede an Philipp (ca. 346 v. Chr.) hält er den Panegyrikos (ca. 380 v. Chr.); beide Reden rufen zur Einheit freier und gleicher griechischer Poleis angesichts der Bedrohung durch den persischen Großkönig auf. Im Panegyrikos erhofft sich Isokrates, dass Athen den griechischen Freiheitskampf anführen könne; erst nachdem diese Hoffnung enttäuscht wird, wendet er sich Jahrzehnte später hilfesuchend an Philipp, der ihm gegenüber Dareios als das kleinere Übel erscheint. »Wer nun glaubt«, heißt es bereits im Panegyrikos, die Poleis »könnten vor einer Versöhnung der führenden Mächte [...] etwas Erfolgreiches ausführen, ist allzu naiv und realitätsfern« (Isocr. or. IV 16).
102 Die hier anklingende sozialintegrative und politische Kraft der Rede wird auch von den römischen Rhetorikern betont. So werden für Cicero durch die Kraft der Beredsamkeit »Städte gegründet, sehr viele Kriege beendet, die festesten Bündnisse und die heiligsten Freundschaften geschlossen« (Cic. de inv. I 1). Aus der Sicht von Quintilian lenkt der Redner, »jener Mann von echtem Bürgersinn, die Städte durch sein Wort« (Quint. inst. or. I Prooemium, 10).
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Im Panegyrikos vertritt Isokrates explizit eine radikaldemokratische Position. In Bezug auf Athen schreibt er hier: »Wir hatten zwar die Führung des Bundes [der mit Athen befreundeten Poleis] insgesamt, in den Angelegenheiten der Poleis aber ließen wir jeder freie Entscheidungsmöglichkeit. Wir unterstützten das Volk, Alleinherrschaften bekämpften wir. Wir hielten es für unerträglich, wenn wenige über viele herrschten, wenn die ärmeren, aber ansonsten keineswegs minderwertigen Bürger von Ämtern ausgeschlossen würden, wenn trotz des gemeinsamen Vaterlandes eine Gruppe herrschte, die andere nur Metöken-Status hätte und wenn Menschen, die von Natur aus Bürger einer Polis wären, durch willkürliche Satzung von der Teilhabe an der Regierung ausgeschlossen würden.« (Isocr. or. IV 105) Isokrates plädiert hier für die Politik einer Anerkennung der Autonomie anderer Staaten in der Außen- sowie einer maximalen Inklusion in der Innenpolitik.103 Selbst den Metöken und Besitzlosen werden Partizipationsrechte eingeräumt, ein Gedanke, der etwa für Aristoteles (wie Isokrates selbst ein Metöke) undenkbar wäre. Wie Platon naturalisiert auch Aristoteles gleich zu Beginn seiner Politik die Differenz zwischen politikfähigen und nicht politikfähigen Individuen.104 In großer Nähe zu Protagoras betont Isokrates demgegenüber die Bildungsgewinne, die mit einer allgemeinen Partizipation einhergehen. Die Monarchie, so führt er aus, mache »die Seelen unterwürfig und äußerst furchtsam«; die Bittsteller, die sich im Königspalast einfinden, »werfen sich vor Ehrfurcht zu Boden und zeigen in jeder Beziehung eine kleinmütige Gesinnung« (Isocr. or. IV 151). Die äußere Herrschaft verlängert sich für Isokrates bis in die Selbstverhältnisse der Beherrschten hinein, die ein unsouveränes, von Angst geprägtes Leben führen, in dessen Zentrum die Selbsterhaltung steht. Der Streit zwischen Philosophie und Rhetorik, der die abendländische Kultur bis heute bestimmt, ist, so hat sich gezeigt, vor allem auch ein politischer Streit, d.h. ein Streit um das Wesen der Politik. Während die Philosophie Politik tendenziell als Lenkungskunst begreift, versteht die Rhetorik das Politische als agonal verfasste Sphäre einer kommunikativ vermittelten
103 Zum politischen Denken des Isokrates vgl. Gunther Heilbrunn, »Isocrates on rhetoric and power«, in: Hermes. Zeitschrift für klassische Philologie, 103, 1975, 154-178. 104 »Wer von Natur nicht sein, sondern eines anderen, aber ein Mensch ist, der ist ein Sklave von Natur.« (Arist. Pol. 1254a)
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Selbstinstituierung von Gesellschaft. Rede selbst ist für die Rhetoriker, noch bevor sie als Sprache zu einem Erkenntnisinstrument wird, wesentlich politisch. Rede kann manipulieren, doch zugleich impliziert sie die Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit. »Das Sprechen aber in der Form von Befehlen und das Hören in der Form des Gehorchens wurden nicht als eigentliches Reden und Hören gewertet; es war keine freie Rede [...]. Wenn die Griechen meinten, daß Sklaven und Barbaren ›aneu logou‹ seien, des Wortes nicht mächtig, so meinten sie, sie befänden sich in einer Lage, in der freie Rede unmöglich ist. In der gleichen Lage befindet sich der Despot, 105 der nur das Befehlen kennt« . So wie die Rede der Rhetorik wesentlich auf der Agora ertönt, so wird sie auch intern durch eine Agora, durch eine Offenheit und Indeterminiertheit in ihrem Zentrum charakterisiert. Sie ist keine Sprache, die sich einem »Zwingen und Gezwungenwerden«106 durch transzendentale Regeln fügt. Die Rede gilt den Alten per se als freie Rede. Ihr Verständnis der Sprache geht von der Îsológia, von einer Freiheit und Gleichheit, einer »egaliberté«107 der Redenden aus. Zeitgenössische radikaldemokratische Autoren, die wie Ernesto Laclau, Jacques Rancière oder Judith Butler von der Rhetorik inspiriert sind, versuchen Sprache in erster
105 Hannah Arendt, Was ist Politik?, a.a.O., 40. 106 Ebd. 107 Die Verbindung von Freiheit und Gleichheit zu einer »egaliberté« steht im Zentrum der politischen Philosophie von Étienne Balibar. In der Tradition neuzeitlichen politischen Denkens werde die Gleichheit wesentlich ökonomisch und sozial, die Freiheit dagegen rechtlich und politisch gedacht. Beide Konzepte stünden dabei in einer Spannung zueinander und gingen mit spezifischen Ausschließungsmechanismen einher. Die Stärkung der ökonomischen Gleichheit verhindere, so der Mainstream politischen Denkens, die politische Freiheit, die Stärkung der Freiheit wiederum wäre nicht mit Gleichheit in Einklang zu bringen. Die Apologie der Freiheit legitimiert mit anderen Worten die Existenz von ökonomisch Besitzlosen, das Plädoyer für Gleichheit beschneide politische Freiheitsrechte von Minderheiten. Balibar versucht nun, beide Exklusionen dadurch zu korrigieren, dass er Freiheit und Gleichheit im Konzept einer »egalitären Souveränität« miteinander identifiziert. Weder Freiheit noch Gleichheit ließen sich, wäre diese Operation erfolgreich, weiterhin als Vorwand für eine Exklusion bestimmter Bevölkerungsteile missbrauchen. Vgl. Étienne Balibar, Die Grenzen der Demokratie, übers. v. Thomas Laugstien, Berlin 1993 [1992].
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Linie so zu denken, dass in ihr Freiheit möglich wird. Darauf werden wir zurückkommen, wenn wir in Kapitel 3.5 nach den Konsequenzen der Rhetorik für eine Theorie des Subjekts fragen.
kairóV. 3.3 D ER R UF DES kairóV Z UR S ITUATIONALITÄT DER R EDE Eine der Möglichkeiten, das rhetorische Denken der Antike insgesamt zu charakterisieren, bestünde darin, es als ein Denken der Kontingenz zu bezeichnen. Unhintergehbar sind für die Rhetoriker allenfalls die kontingenten Redesituationen selbst: »Hic Rhodus, hic saltus []idoù $RódoV, ]idoù kaì tò p®dhma]«108 – diesen Sinnspruch könnten alle Rhetoriker vorbehaltlos unterschreiben. Die Disziplin kennt nur ein Apriori: das Hier und Jetzt, »the uniquely timely, the spontaneous, the radical particular.«109 Dem korrespondiert eine Ethik der Immanenz, des sich Konzentrierens auf das Diesseits, wie sie auch die rhetorikfreundliche Stoa110 ausgearbeitet hat. Der Kern der rhetorischen111 wie der stoischen Ethiken liegt im Appell, sich auf diejenigen lokalen Handlungsziele zu beschränken, die lebendige Optionen darstellen, d.h. auf das, was wirklich in unserer Macht steht. Dies kann kein Handeln im Einklang mit der Vernunft oder der Menschheit sein. Epiktet schreibt in seinem Handbüchlein der Moral: »Die einen Dinge liegen in unserer Macht, die anderen nicht. In unserer Macht liegen Vorstel-
108 Der Spruch geht auf eine Fabel des Aesop zurück, die den Titel Fünfkämpfer als Prahlhans trägt. Der Dichter fordert einen Fünfkämpfer, der immer wieder mit seinen in Rhodos erbrachten Leistungen als Weitspringer angibt, dazu auf, sein Können hier und jetzt unter Beweis zu stellen. Vgl. Aisopos 33, 1-3. 109 Carolyn R. Miller, »Foreword« zu: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos. Essays in History, Theory, and Praxis, New York 2002, XI-XIII, hier: XIII. 110 »Keine Philosophenschule der Antike hat sich intensiver [...] mit rhetorischen Problemen beschäftigt als die Stoa.« (Karl Barwick, Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik, a.a.O., 7). 111 Grundzüge einer antinormativistischen rhetorischen Ethik werde ich im Zuge meiner Lektüre der Helena-Rede des Gorgias herausarbeiten. Vgl. dazu unten, Kapitel 5.2.
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lung, Trieb, Begierde, Abneigung, mit einem Wort: alles, was Produkt unseres Willens ist, worüber wir also verfügen. Nicht in unserer Macht stehen unser Körper, Vermögen, Ansehen, öffentliche Ämter. [...] Strebe nur nach dem, was in deiner Macht steht. [...] Verlange nicht, daß die Dinge verlaufen, wie Du es wünscht, sondern wünsche sie so, wie sie verlaufen; dann wirst du glücklich sein.« (Epiktet 1) Diese Gemeinsamkeit in der Betonung des Situationalen darf aber nicht die gravierenden Unterschiede zwischen der rhetorischen und der stoischen Tradition verdecken. Während die Rhetoriker die Öffentlichkeit suchen, die Affekte positiv auszeichnen und das 112 Private und Innerliche ablehnen, definiert sich die Stoa regelrecht über eine Abwehr der Affekte und des öffentlichen Lebens sowie durch ein Lob der Innerlichkeit. Bereits in der Sophistik steht die Positivierung der menschlichen Situationalität, des Hier und Jetzt, im Zentrum einer Ethik, die das menschliche Leben weniger nach seiner Passung an ein überzeitliches Gesetz beurteilt, als nach seinem möglichen Gelingen. Antiphon erhebt die Relevanz für dieses Leben zum letzten Kriterium der Beurteilung unserer Handlungen: »Es gibt Leute, die nicht ihr gegenwärtiges Leben leben, sondern mir großem Eifer Vorbereitungen treffen, als sollten sie bald irgendein anderes Leben leben, nicht das gegenwärtige; und unterdessen eilt die Zeit ungenutzt davon.« (SZ 205 [Antiphon 26, DK B 53a]) Das Hier und Jetzt, dem wir alle Handlungen und Äußerungen zu unterstellen haben, wird dabei nicht als unabänderliches Fatum beschrieben, sondern als in doppelter Weise offen. Einerseits kann es theoretisch nie vollständig überblickt werden, andererseits verlangt es nach einer praktischen Reaktion. Für Hans Blumenberg sind insofern »Evidenzmangel und Handlungszwang [...] die Voraussetzungen der rhetorischen Situation«.113 Peter Ptassek definiert Rhetorik im gleichen Sinne »als Medium praktischer Rationalität angesichts nie vollständig durchschaubarer Handlungssituationen«114. Wir können die Situation, in der wir uns hier und jetzt vorfinden, nie gänzlich überschauen und uns zugleich
112 Zur stoischen Ethik vgl. Maximilian Forschner, Die Stoische Ethik, Darmstadt 1995. 113 Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherungen an die Rhetorik«, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 2003, 104-136, hier: 117. 114 Peter Ptassek, Rhetorische Rationalität. Stationen einer Verdrängungsgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit, München 1993, 19.
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nicht nicht zu ihr verhalten. Die Situation zeichnet sich dadurch aus, dass wir sie nicht theoretisch beherrschen können, sie aber gleichwohl praktisch verändern müssen. Die Kritik, die der Redner in der Polis übt, wäre als Kritik im Handgemenge zu charakterisieren. Karl Marx spricht in Abgrenzung zur transzendentalen Vernunftkritik von einer »Kritik im Handgemenge«116, die unter einem zeitliche Entscheidungsdruck stehe, die auf keine universellen Maßstäbe zurückgreifen könne und die Situationen vor allem an dem misst, was in ihnen möglich wäre. Die Kritik im Handgemenge steht eher für den intervenierenden als für den absoluten Intellektuellen, für eine Mik117 ropolitik im Sinne von Gilles Deleuze und Michel Foucault. Auf die Redesituationen wirken weniger transzendentale als vielmehr höchst konkrete, häufig vom Zufall bestimmte Faktoren ein, mit denen sich der Rhetor zu arrangieren hat. Für Isokrates liegt das oberste Gebot der Rhetorik demgemäß in der Forderung, »nicht zu verfehlen, was die jeweilige Gelegenheit verlangt« (Isocr. or. XIII 16); insofern wäre es »am besten [...] eine günstige Gelegenheit jeweils gerade im rechten Augenblick zu ergreifen« (Isocr. or. II 33). Gebildet [kalvV pepaideuménoV] ist für Isokrates nicht derjenige, der über ein exzeptionelles Wissen verfügt, sondern derjenige, der »die tagtäglich anfallenden Aufgaben gut verrichten und
115 Das rhetorische Situationsdenken nimmt damit die beiden Grundbedeutungen von Situation vorweg, die auch der Existenzialismus von Karl Jaspers bis Jean-Paul Sartre betonen sollte. Jaspers, der den Begriff der Situation in den philosophischen Diskurs der Moderne einführt, hebt die Unhintergehbarkeit der Situationalität hervor: »Niemals kann ich als Dasein aus dem In-Situationen-Sein heraus« (Karl Jaspers, Philosophie, Bd. 1. Philosophische Weltorientierung, Berlin 1974 [1932], 56). Bei Sartre wird dieser Gedanke dadurch ergänzt, dass zum InSituationen-Sein die Freiheit gehört, auf die Situation zu antworten, sie intern zu distanzieren: »Il n'y a de liberté qu'en situation et il n'y a de situation que par la liberté« (Jean-Paul Sartre, L'être et le néant, Paris 1943, 569). 116 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Bd. 1, Berlin/DDR 1976, 378-391, hier: 387. 117 Zum Programm einer Mikropolitik vgl. Ralf Krause/Marc Rölli, »Politik auf Abwegen. Reine Einführung in die Mikropolitik von Gilles Deleuze«, in: Oliver Flügel/Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.), Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt 2004, 257-292.
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sich ein Urteil bilden kann, das in der jeweiligen Situation das Richtige trifft und das Vorteilhafte zu erkennen vermag« (Isocr. or. XII 30).119 Auch für Aristoteles bezieht sich die Rhetorik, wie wir bereits hervorgehoben haben, auf das Singuläre einer jeden Situation. Quintilian schließlich merkt an: »Denn die Rhetorik würde eine recht leichte, unbedeutende Angelegenheit, ließe sie sich so in einer einzigen, kurzen Anweisung zusammenfassen. Vielmehr ändert sich fast alles je nach dem Fall, den Zeitumständen, der Gelegenheit und dem Zwang der Verhältnisse.« (Quint. inst. or. II 13, 2) Beim Versuch, der situativen Kontingenz Rechnung zu tragen, geht die Rhetorik nicht subsumtionslogisch vor, sondern versucht, den besonderen Fall gerade in seiner Besonderheit ernst zu nehmen. Sie verkörpert, mit den Worten Hans Blumenbergs, »das vernünftige Arrangement mit der Vorläu120 figkeit der Vernunft.« Die antiken Rhetoriker tragen dem Stellenwert, den sie dem Hier und Jetzt geben, dadurch Rechnung, dass sie eine komplexe Situationsphänomenologie121 entfalten. Wer überzeugend sprechen will, muss zunächst die
118 In seiner Verwiesenheit auf das Richtige hat der kairóV ein teleologisches, wenn nicht sogar eschatologisches Moment. Er steht nicht einfach für irgendeine Möglichkeit, sondern für die Möglichkeit eines »Gelingens«, eines »Treffens« oder einer »Erfüllung«, die allerdings kein externes Maß hat (vgl. Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, 790/791). In diesem Sinne lässt sich Hesiod verstehen, bei dem das Substantiv kairóV zum ersten Mal auftaucht (vgl. Hesiod Erga 694): »Beachte das Angemessene. Der kairóV ist bei allen Dingen das Beste.« An allen Dingen das Beste hervorzuheben, wird bei Gorgias zur genuinen Aufgabe der Rhetorik, die zum kairóV in einem mehr als kontingenten Verhältnis steht. 119 In seinen Reden verwendet Isokrates den Begriff des kairóV in seinen Substantiv-, Adjektiv- und Adverbialformen annähernd einhundertmal. (Vgl. Phillip Sipiora, »The Ancient Concept of Kairos«, in: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos, a.a.O., 1-22, hier: 8). 120 Hans Blumenberg, »Anthropologische Annäherungen an die Rhetorik«, a.a.O., 130. 121 Die Rede von einer Phänomenologie mag insofern gerechtfertigt sein, als die historische Phänomenologie, etwa in Heideggers Hermeneutik des alltäglichen Daseins, explizit an die Rhetorik (hier: des Aristoteles) anschließt. Ein vergleichbares Projekt findet sich nicht nur in der Phänomenologie und im Existenzialis-
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Situation verstehen, aus der heraus und in die hinein er spricht. Dies gilt bereits für die Wahl einer der drei grundlegenden Redetypen. So wäre etwa die politisch beratende Rede während eines ausgelassenen Symposions völlig fehl am Platze, ebenso gehört das Enkomium nicht in den Kontext einer Volksversammlung auf der Pnyx. Zur Bezeichnung der Situation verwenden die Redner das Konzept der prágmata, die Pluralform von prâgma, die Sache; prágmata (vgl. etwa Lysias or. IX 1-4) lassen sich mit Lage, Kontext, Umstände oder eben Situation übersetzen; sie umfassen das Getane, das Geschehene, die Taten oder die Geschäfte, stehen mithin für die Einheit von Handeln und Handlungskontext und markieren eine Perspektive der Immanenz. Unser Handeln wirkt aus rhetorischer Sicht nicht von außen auf eine objektive Welt ein, sondern entfaltet sich in Kontexten, die bereits in sich handlungsförmig strukturiert sind. Dass die prágmata nicht einfach als Teil einer objektiven Welt begriffen werden können, zeigt sich an ihrer Fähigkeit, selbst die Stimme zu erheben. »Diese [= die Angeklagten] klagt die Situation an [toúton dè tà mèn prágmata kathgoreî]«, schreibt Lysias in seiner Rede gegen Epikrates (Lysias or. XXVII 8). Die Prosopopoia tritt sehr häufig im Zusammenhang mit den prágmata auf. Umgekehrt gilt die Praxis, auf die die Semantik der prágmata verweist, immer auch als rednerische Praxis. Bei den rhetorischen Situationen handelt es sich um Konstellationen des Redens und Handelns, um etwas, das durch menschliches Tun und Sprechen hervorgebracht wurde und das sich durch menschliches Tun und Sprechen verändern lässt. Prágmata bezeichnen nicht nur ein Befinden, eine Lage, einen Zustand oder Verhältnisse, sondern Zustände, sofern sie auf eine Entscheidung bzw. Veränderung drängen, genauer also schwierige Verhältnisse und Lagen.122 mus, sondern auch im Pragmatismus. So schreibt John Dewey: »Was durch das Wort ›Situation‹ bezeichnet wird, ist weder ein einzelnes Objekt oder Ereignis noch eine Menge von Objekten und Ereignissen« (John Dewey, Logik. Die Theorie der Forschung, übers. v. Martin Suhr, Frankfurt/M. 2002 [1938], 87), sondern, so ließe sich ergänzen, die offene Interaktion von Objekten bzw. Ereignissen und ihrem »kontextuellen Ganzen« (ebd.). Die Situation ist für Dewey vor diesem Hintergrund per se »unbestimmt« (a.a.O., 132). Als unbestimmte wiederum korrespondiert sie mit menschlicher Praxis. 122 Vgl. Herbert Stachowiak, »Einleitung«, zu ders. (Hg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Bd. 1, Hamburg 1986, IX-L, hier: XXI.
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Als weiteres mögliches Pendant zum modernen Situationsbegriff in der klassischen Rhetorik wäre die ]epídeixiV zu nennen, die sich zunächst als Präsentation oder Vortrag übersetzen lässt, darüber hinaus aber auch den Sachverhalt, die Geschichte oder die Erzählung bedeutet. In der epídeixiV klingt an, dass keine Situation an sich besteht, sondern von jemandem für jemanden präsentiert oder erzählt wird. Situationen liegen nicht einfach vor, sondern werden in ihrer rednerischen Darstellung aktualisiert. Die prágmata sind in rhetorischer Darstellung dynamisch, umstritten, unvollständig und mangelhaft. »Eine rhetorische Situation«, so führt Andersen im Anschluss an Blumenberg aus, »ist eine Mangelsituation, die das Wort als Ergänzung nötig hat«123. Das Wort wird gleichsam vom Mangel der Situation auf- und hervorgerufen. Es antwortet dem Mangel, ohne ihn zu behe124 ben. Es überführt nicht einfach das Chaos in Kosmos, sondern etabliert ein Drittes zwischen diesen beiden Extremen. Es hindert sowohl das Chaos als auch den Kosmos daran, sich vollständig zu verwirklichen. Unser Sprechen sagt in jeder seiner Artikulationen nein sowohl zum »sprachlosen Einssein« mit dem Sein wie zum »sprachlosen Getrenntsein«125 von der Welt und allen anderen, zu den beiden Grundformen eines situationslosen Seins. Es hält die Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig an Ordnung. Das Wort erhält die Situation in ihrer ontologischen Unvollständigkeit, es hält sie im Werden. Es ließe sich mit einem Derridaschen Begriff auch als Aufschub der Behebung des Mangels bezeichnen. Die Rede antwortet auf eine Leere, eine Nichtfestgestelltheit des Seins, die sie zu kompensieren sucht und gleichzeitig kontinuiert. Politisch institutionalisiert und architektonisch verkörpert findet sich der Mangel im Zentrum der Situation, ihre »leere Mitte«126, in der Âgorá. Dieser Platz im Zentrum der Stadt ist vor allem durch die Gespräche und
123 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 28. 124 Der Wortstamm caõ-, auf den das cáoV zurückgeht, bedeutet aufklaffen, öffnen, offensein. 125 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, a.a.O., 42. 126 Zum demokratietheoretischen Konzept einer »leeren Mitte« der Gesellschaft vgl. Claude Lefort, »Vorwort zu Eléments d’ une critique de la bureaucratie (Paris 1979)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt/M. 1990, 30-53, hier: 49.
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Diskussionen definiert, die die Polis als solche ausmachen. Arendt identifiziert die Âgorá insofern mit der Freiheit: »Die Freiheit [...] war der öffentliche Raum oder die Âgorá [...], der hergestellte, weithin sichtbare Versammlungsplatz freier Männer und somit der Erscheinungsraum der Freiheit überhaupt.«127 Auf der Ebene der Polis insgesamt wiederholt sich die Indeterminiertheit jeder einzelnen Situation in ihr. Als Gefüge von Reden und Handlungen zeichnen sich Situationen nicht nur durch eine prinzipielle Unbestimmtheit aus; sie sind vielmehr regelrecht antinomisch oder paradox verfasst. Die Reden und Taten, die in einer Situation zusammenkommen, deren Zusammenkommen die Situation ausmacht, sind in der Regel gegenstrebig. Die Situation ist mehreren Akteuren gerade darin gemeinsam, dass sie sie in unterschiedlicher Weise interpretieren und in unterschiedlicher Weise an sie anschließen wollen. Die Möglichkeiten, die die Situation dem einen darbietet, erweisen sich als Hindernisse für die anderen. Da sie in mehrere Richtungen und Dimensionen überschritten werden kann, begegnen uns Situation als unentschiedener Âgõn. Martin Buber trägt dem dialektischen Sinn der Situation Rechnung, wenn er schreibt: »Wer die These annimmt und die Antithese ablehnt, verletzt den Sinn der Situation. Wer eine Synthese zu denken sucht, zerstört den Sinn der Situation. Wer die Antinomik zu relativieren strebt, hebt den Sinn der Situation auf. [...] Der Sinn der Situation ist, daß sie in all ihrer Antinomik gelebt und nur gelebt und immer wieder, immer neu, unvorhersehbar, unvordenkbar, unvorschreibbar gelebt wird.«128 Genau dieses Durchleben der Antinomik von Situationen übt die Rhetorik ein. Die Antinomik gilt ihr nicht als theoretisch zu überwindendes Ärgernis, sondern als Quellpunkt der Rede, als diejenige Instanz, die die Rede zugleich ermöglicht und provoziert. Aus der Sicht einer rhetorischen Situationsphänomenologie sind Situationen nicht einfach nur antinomisch, sondern in einer je besonderen Weise geneigt. Sie haben ein Gefälle, tendieren auf etwas hin, das es zu erkennen und zu nutzen gilt. Situationen erweisen sich dem Rhetor als Gefüge potentieller Wirksamkeiten. Der Redner kann sich sowohl in die Fließrichtung als auch gegen sie stellen. In beiden Fällen wird er allerdings die Energie
127 Hannah Arendt, Über die Revolution, a.a.O., 159. 128 Martin Buber, »Ich und Du«, in: ders., Das dialogische Prinzip, Darmstadt 1984, 7-138, hier: 97. – Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Tino Sehgal.
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des Stroms für sich nutzbar zu machen suchen. Explizit bedient sich Isokrates einer Metapher der Geneigtheit, wenn er in der Antidosis-Rede über »unsere Polis«, Athen, spricht: »Wegen ihrer Größe und der hohen Einwohnerzahl ist sie nicht leicht überschaubar und auch nicht leicht kontrollierbar, sondern wie ein Bergbach reißt sie alles mit sich fort, Mensch oder Dinge, wie sie es gerade jeweils erfaßt« (Isocr. or. XV 172). Die Polis als größte denkbare Situation tendiert, angetrieben durch Meinungen, Interessen und Machtgruppen, auf etwas hin. Dem muss der Redner Rechnung tragen; seine Aufgabe besteht in der Regel darin, die Fließrichtung des Bergbachs zu ändern. Er wird den Bach allerdings nie dahin bringen können, bergauf zu fließen und konzentriert sich insofern auf das Machbare. Es ist durchaus zutreffend, mit Andersen zu sagen, die »Situation« sei 129 »eine der größten Hilfsquellen des Redners« . Dabei sollte allerdings berücksichtigt werden, dass der Redner nicht über die Situation verfügt, sondern sich in sie stellt, sie als Wirksamkeitsgefüge begreift, welches sich nicht beliebig handhaben lässt. Ihre Wirksamkeit wird der Rede nicht durch den Redner verliehen, sondern entspringt der Situation selbst, ihrer Unfestgestelltheit. Die Rede partizipiert in der Situation an einer ihr vorgängigen Wirksamkeit, der sie sich unterstellen, die sie allerdings auch kritisch aneignen, brechen, beugen, parodieren und transformieren kann. Die Wirksamkeit kommt der Rede nicht als Eigenschaft zu, die ihr vom Redner intentional verliehen wird, sondern wird von der Rede aus der Situation aufgenommen. Die Rede kommuniziert in diesem Sinne mit der Situation in ihrer unvollständigen Ganzheit. Das Gefälle der Situation verweist auf einen kritischen Punkt, einen Anfangspunkt der Bewegung, an dem die Bewegungsrichtung noch nicht determiniert ist, an dem die Kugel vom Berggipfel aus nach allen Seiten ins Tal rollen kann. Es genügt an diesem Anfang ein Weniges, der Kugel ihre Richtung zu geben. Doch nur mit beträchtlichem Kraftaufwand lässt sich der einmal eingeschlagene Weg später korrigieren. Demosthenes formuliert das wie folgt: »Denn wie bei Häusern, wie bei einem Schiff und anderen solchen Dingen die Fundamente von unten das Stärkste sein müssen, so müssen die Anfänge und Grundlagen aller Taten wahr und gerecht sein.« (Dem. Erste olynthische Rede II, 10)130 Der kairóV markiert genau diese
129 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 30. 130 Übersetzung nach Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 206/207.
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]arc®, diesen Anfangspunkt. In den Sophistischen Widerlegungen schreibt Aristoteles: »Denn ohne Zweifel ist der Anfang, wie man sagt, das wichtigste von allen Dingen. Und eben darum ist er das schwierigste; denn je größer er seinem Vermögen nach ist, desto kleiner ist er dem Umfang nach und desto schwieriger zu erkennen.« (Arist. Soph. el. 183b).131 Dem entspricht bei Isokrates (in der Rede an Nikokles) die Aufforderung an den Politiker, die Polis »aus unbedeutenden Anfängen groß zu machen« (Isocr. or. II 9). Im Anfang liegt, worauf die beiden Hauptbedeutungen von ]arc® verweisen, eine ganz spezifische Macht. Die Aufgabe der rhetorischen Epistemologie richtet sich also darauf, den Moment des Anfangs oder der möglichen Entscheidbarkeit132 zu ermitteln: »Daß der Redner die Dinge bei ihrem Entstehen erkenne, sie vorherahne und den anderen voraussage« (Dem. Ktes. 108), wird somit entscheidend. Der Redner richtet sich auf die kleinen Abweichungen vom gewohnten Gang, die Punkte auf einer Linie, die zum Ausgangspunkt einer Bifurkation werden können. Er versteht sich als ein Hermeneut der Situationen, ein Prophet, ein Warner und Mahner, der das Jetzt eines Augenblicks auf mögliche Zukünfte zu beziehen vermag. ›Seht her, es zeichnet sich Folgendes ab, die Dinge laufen in diese und jene Richtung. Wenn uns diese Richtung nicht genehm ist, dann müssen wir hier und jetzt eine Entscheidung treffen. Hier und Jetzt ist noch ein anderer Ausgang denkbar.‹ Der Rhetor kann nur mahnen, einen bestimmten Ausgang der Dinge dagegen niemals erzwingen: »Nicht den Ratgebern« kommt die »Kraft« zu, »den Kämpfern Siege zu verschaffen, sondern den Göttern« (Dem. Ktes. 290). Demosthenes weiß um den Einfluss der tých, die dem Handeln nur einen schmalen Korridor offen hält. Um so wichtiger ist es, diesen Korridor zu erkennen und zu beschreiten. Das Glück, tých und e]utycía, bleibt für Demosthenes dem Wirken der Menschen überlegen (vgl. Dem. Rede für den Frieden V, 11). Der Redner dürfte hier von Pindar beeinflusst sein, welcher darauf hinweist, dass die »ratgebenden Versammlungen« von tých gelenkt werden (Pind. XII Olymp. 1-7): »Zeichen hat
131 Dieses Zitat liest sich wie ein Echo auf Gorgias’: »Rede ist ein großer Bewirker, mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten« (Gorgias 9). 132 Insofern der kairóV auf eine Entscheidung verweist, korrespondiert er mit der These des Protagoras, dass in Bezug auf jede Sache zwei Meinungen möglich sind. Wäre dem nicht so, gäbe es nichts zu entscheiden.
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noch nie einer der Erdbewohner, zuverlässiges, für künftiges Handeln gefunden vom Gott her; für das Bevorstehende erblindet der Zeiger.« (Pind. XII Olymp. 7-9) Tých und kairóV bleiben bei Pindar eng aufeinander verwiesen und bilden die beiden konzeptuellen Säulen seiner Ethik der Immanenz: »Streb nicht, meine Seele, nach Leben ohne Tod, die Handlungsmöglichkeit schöpf aus!« (Pind. III Pyth. 61-62). In seinen Oden verweist der Dichter immer wieder auf die Unverfügbarkeit der Siege in den sportlichen Wettkämpfen. Der Erfolg steht nicht nur in der Konsequenz einer Lebensgeschichte, sondern ist mindestens ebenso als göttliche Gabe zu verstehen: »Sein Leben zu rüsten durch geradeplanende Mittel; das aber liegt nicht bei den Menschen; ein Gott gewährt es« (Pind. VII Pyth. 75-76). Insofern liefert Pindar auch keine profanen Biographien von Siegern, sondern rahmt deren Leistungen mythologisch ein. Die Ordnungen des Mythos und der Geschichte erhellen sich in seinen Oden wechselseitig, verweisen aber auch auf ihre jeweilige Unvollständigkeit. Auch die göttliche Gabe kann sich nicht absolut setzen, sondern muss im kairóV ergriffen werden: »Ein Gott wird, Pindarisch gedacht, nur denen zum Sieg verhelfen, die Tugenden ausbilden, welche selbst in den göttlichen Grund der Seele rei133 chen.« Die Betonung der Macht der tých führt weder bei Pindar noch bei Demosthenes zu einem resignativen Fatalismus. Im Gegenteil: Das Wissen um die Grenzen der Machbarkeit wird von beiden als Ansporn zur praktischen Verwirklichung genommen, dazu, sich offen und mutig dem Leben zu stellen. Der Moment der Entscheidbarkeit, der Anfang oder der Zustand, in dem sich die Kugel befindet, bevor sie ihre Richtung eingeschlagen hat, wird im griechischen Denken als kairóV134 (manchmal auch als äõra oder ]akm®135) bezeichnet. Im kairóV gewinnt der Akosmismus eine konkrete Gestalt, begegnet uns als ein »lack of order in human life«136, als eine Unbestimmtheit, die als Chance oder Gefahr wahrgenommen werden kann. In der Ver-
133 Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 791/792. 134 Vgl. Manfred Kerkhoff, Artikel »Kairos«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. Basel/Stutgart 1976, Sp. 667-668. 135 Bei der äõra und, stärker noch, bei der ]akm® ist die Fortsetzung der Ereignisse in negativer Weise festgelegt – nach dem Höhepunkt kann es nur noch bergab gehen. 136 Carolyn R. Miller, »Foreword, a.a.O., XIII.
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ehrung des kairóV oder rechten Augenblicks, der bei Ion von Chios vergöttlicht wird (vgl. Pausanias V 14, 9), drückt sich aus, welcher Stellenwert der konkreten Situation136 im Kontext der antiken Rhetoriktheorie zugesprochen wird. Anfänglich meint der Terminus kairóV »dasselbe wie kaîroV, ein Wort aus der Sprache der Webkunst«137. Dieser »kaîroV scheint die gleiche Funktion ausgeübt zu haben, die an Webstühlen des Manufakturzeitalters das sogenannte Fach besaß, die Öffnung, durch die zwischen gehobenen und gesenkten Kettfäden der Schussfaden einzufädeln ist. Diese Öffnung ist beim Weben der richtige, für das Gelingen des Werkes ent138 scheidende Punkt.« In den Worten von Thomas Buchheim bezeichnet kaîroV in der Webersprache »die synchrone Öffnung der Kettfäden, durch welche beim Weben der Webfaden geschossen wird. Man sieht, daß der kairos das zentrale Ereignis beim Weben ist, durch das der ganze Vorgang des Webens erst möglich und erfolgreich wird, und durch diesen kairos hindurch wirkt der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes.«139 Der kairóV erscheint hier als der nichtsubstantialisierbare Ort und Zeitpunkt der Kreuzung verschiedener Fäden, die sich in ihm zum textum verflechten. Im kairóV schlägt die Eindimensionalität vereinzelter Fäden um in die Zweidimensionalität eines Bezugsgewebes, in dem sich die Fäden wechselseitig stabilisieren. Im gleichen Sinne gilt das für die Lebensfäden. In erster Linie ist der kairóV aber eine Öffnung; ein Gefüge, ein Kontinuum oder eine Fülle bricht auf und lässt etwas möglich werden. »Die Öffnung bildet, in ihrer zeitlichen Bestimmtheit als nur kurz währende, einen wesentlichen Be-
136 An der Einsicht in die Unhintergehbarkeit der je besonderen Redesituation wird die Differenz zwischen einer rhetorischen Theorie sprachlichen Handelns und neueren, sich selbst als formal- oder universalpragmatisch bezeichnenden Theorien besonders deutlich. Gerhard Gamm schreibt in diesem Zusammenhang: »Habermas denkt nicht von der Sprache her, sondern von einem Begriff von Kommunikation als einer System, Lebenswelt, Interaktionen und Handlungen koordinierenden Funktion, dem gegenüber das sprachliche Handeln des Einzelnen, wie es sich wirklich ereignet, sekundär ist.« (Gerhard Gamm, Eindimensionale Kommunikation. Vernunft und Rhetorik in Jürgen Habermas’ Deutung der Moderne, Würzburg 1987, 41). 137 Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 802. 138 Ebd. 139 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 83.
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standteil jedes Handlungszusammenhangs, der einen Anspruch auf den Kairosbegriff erheben darf.«141 Bei Homer bezeichnet das Adjektiv kaírioV die Stelle, an der ein Mensch von einem Geschoss tödlich getroffen werden kann (vgl. z.B. Il. 8,84/8,326).142 Das Substantiv kairóV, das man auch als Augenblick der Entscheidung, als die von Gott bestimmte Zeit oder als »Ort in der Zeit«143 übersetzen kann, spielt in der klassischen Antike eine Schlüsselrolle in der Dramentheorie, in der Poetik und in der Lehre von der cr²siV ]afrodisíwn, vom Gebrauch der Lüste144; bei Gorgias rückt er zu einer zentralen ethischen und rhetorischen Kategorie auf (vgl. Gorgias, 34, 82, 104, 116 u. 140)145; Protagoras betont ebenfalls seine Bedeutung (vgl. Diog. Laert. IX
141 Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 803 142 Als akosmistisches Konzept scheint der kairóV eine enge Verbindung mit dem Tod zu unterhalten. Doro Levi verweist auf die etymologischen Verbindungen des kairóV mit Tod, Vernichtung, Sorge, Schneiden, Töten und Zerstören (vgl. Doro Levi, »Kairos in Greek Literature.« Rendiconti della Reale Accademia Nazzionale die Lincei Classe di scienze moralia RV 32 (1923), 260-281; vgl. dazu auch Phillip Sipiora, »The Ancient Concept of Kairos«, a.a.O., 5). In seiner Bindung an den Tod erweist sich der kairóV, so könnte es scheinen, als weniger offen, vielleicht sogar als finalisierend, es sei denn, wir würden den Tod selbst als ein eröffnendes und ermöglichendes Prinzip begreifen. 143 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 83. 144 Zu diesem letzten Punkt vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M. 1989, 7679; Foucault führt Belegstellen bei Platon (Nomoi I, 636d-e) und Xenophon (Kyrupaideia VIII, 1, 32; Memorabilia VI, 4, 21-23) an. 145 Augusto Rostagni versucht, das kairóV-Denken des Gorgias auf einen pythagoräischen Einfluss zurückzuführen. Er bezieht sich vor allem auf ein Fragment des Antisthenes, in dem dieser dem Pythagoras eine am kairóV orientierte Rhetorik zuschreibt. Ein Einfluss des Pythagoras auf Gorgias sei aufgrund der gemeinsamen geographischen Herkunft beider Autoren wahrscheinlich (vgl. Augusto Rostagni, »A New Chapter in the History of Rhetoric and Sophistry«, in: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos, a.a.O., 23-45). Abgesehen von der Umwegigkeit der Argumentation und der Unsicherheit der Quellenlage – nach Theunissen wissen wir zu wenig über die Pythagoräer, um etwas Sinnvolles über ihre Kairoskonzeption sagen zu können (vgl. Michael Theunissen, Pindar,
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52) für die Lebensführung. Für ein dem kairóV gemäßes Reden besitzen die Griechen ein eigenes Verb, kairiolekteîn146, sowie zwei Adverbien, ]eukaírwV, dem Augenblick angemessen, und ]akaírwV, dem Augenblick unangemessen (vgl. Arist. Rhet. III 7 1408b). Ein dem kairóV gemäßes Reden müssen wir uns weniger als ein intentionales denn als ein responsives Reden vorstellen, ein Reden, das zur rechten Zeit erfolgt und sich für die von ihm erzeugte Resonanz sensibilisiert, das sich selbst, sein Echo und seine Wirkungen in der Situation vernimmt. Chrysipp kennt den kairóV auch als denjenigen Zeitpunkt, der einen performativen Akt im Nachhinein als gelungen erweist: »Denn wie man nicht dann von jemandem sagt, er handle vertragstreu oder vertragsbrüchig, wenn der Vertrag eingegangen wird, sondern dann, wenn die Zeit für die den Abmachungen entsprechenden Handlungen gekommen ist, so wird man auf dieselbe Weise von jemandem dann sagen, er schwöre richtig bzw. er leiste einen Meineid, wenn die passenden Zeitpunkte [oäi kairoí] eintreten, für die er sich verpflichtet hat, die den Schwüren entsprechenden Handlungen auszuführen.« (FDS 905) Aristoteles bezeichnet den kairóV als das »Gute in der Zeit« (Arist. EN 1095a 26), sein Schüler Theophrast schreibt eine (nicht erhaltene) Kairologie des politischen Handelns. Der wichtigste ethische Imperativ, den die Sophistik formuliert, besagt, dass wir den rechten Augenblick nutzen, uns ihm gemäß verhalten sollen. Der kairóV selbst behält dabei eine gewisse Unverfügbarkeit. Wir können ihn nicht aktiv herstellen oder herbeiführen, sondern uns nur seiner Möglichkeit gegenüber offen halten. Buchheim führt in diesem Sinne aus, »daß der Kairos keineswegs als rechter Augenblick durch den Handelnden bestimmt wird, sondern daß er sich in den Umständen selbst formiert, und der Mensch ihn nur auffassen und ihm folgen muß. Handeln ist – so verstanden
a.a.O., 811) – sprechen die grundlegend verschiedenen philosophischen Ausgangspunkte des Gorgias und des Pythagoras gegen ein Abhängigkeitsverhältnis. Während Pythagoras einen ewigen und harmonischen Kosmos in das Zentrum der Philosophie rückt und den kairóV in Begriffen von Zahlenproportionen fasst (vgl. Arist. Met. XII 4, 1078b), formuliert Gorgias eine dezidiert akosmistische Position, der wiederum ein eher politisch gedeuteter kairóV entspricht. 146 Dem entsprechen die (allerdings späten) Verben kairoskopeîn (die rechte Zeit/den kairóV abpassen), kairothreîn (die rechte Zeit wahrnehmen) und kairofylakeîn (die richtige Zeit abpassen).
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147 – sehr viel mehr Antwort als frei begonnener Akt.« Der kairóV könnte von hier aus auch als Möglichkeit in einer Situation gedeutet werden, die ergriffen werden muss. Zum kairóV kommt es immer dann, wenn etwas an der Situation über diese Situation hinausweist, wenn sich ein Ereignis abzeichnet. Die Angemessenheit einer Rede ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, dem Ruf des kairóV zu folgen. Das Hören auf den kairóV verlangt allerdings gleichwohl eine Art Restintentionalität, ein irreduzibles Moment von Handlung, von Ergreifen. Der kairóV geht nicht einfach der Handlung als ein sie erst ermöglichendes Ereignis voraus, sondern lässt sich umgekehrt erst von der ihn ergreifenden Geste her ansprechen. Diese Geste erschöpft sich aber wiederum nicht in einem intentionalen Akt. Es gilt vielmehr, sich gegenüber dem kairóV offen zu halten, eher etablierte Institutionen affor148 mativ zu entsetzen, als neue performativ zu setzen. Im Extremfall kann die Rede, wie John Poulakos in Bezug auf Gorgias betont, den kairóV aber auch schaffen: »it can respond to discursive surprises as well as create them«149. Manchmal ist gerade dasjenige Glied in einer Kette das schwächste, auf das der Hammer schlägt. Indem sie dem kairóV einen zentralen Stellenwert einräumt, vermeidet die Rhetorik bestimmte Prämissen einer philosophischen Handlungstheorie, die das Subjekt als Souverän der Situation definiert. Aus der Sicht der philosophischen Handlungstheorie setzt ein vorgängiges Subjekt seine Intentionen um, indem es sich bestimmter Mittel bedient, mit denen es, entlang sozial vorgegebener Regeln, Situationen manipuliert. Subjekt und Situation stehen sich dabei abstrakt gegenüber. Ausgehend vom Konzept des kairóV ließen sich an diesem Handlungsmodell Verschiebungen anbringen, die auch die Möglichkeit eines sprachlichen Handelns betreffen. Im kairóV verkörpert sich das m ]ón. Das Ereignis150, wie es etwa von Heidegger und Badiou beschrieben wird, gehört nicht der Dimension des
147 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 84. 148 Vgl. Werner Hamacher, »Afformativ, Streik«, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt/M. 1994, 340-371. 149 John Poulakos, »Kairos in Gorgias’ Rhetorical Compositions«, in: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos, a.a.O., 89-96, hier: 96. 150 Zur neueren Diskussion um den Ereignisbegriff vgl. die Beiträge in Marc Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Ereigniskonzeptionen der französischen Gegenwartsphilosophie, München 2004.
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Seins an, sondern einem Nichtsein. Es ist nicht etwas, kein bestimmtes Element der Situation, sondern steht für das Aussetzen jeder Bestimmtheit. Es taucht wie aus dem Nichts auf, kann nicht kausal auf die Koordinaten der Situation, der es entspringt, zurückgeführt werden. Ein Ereignis betrifft allerdings immer eine konkrete soziale Situation, es muss sie, in den Worten Badious, »supplementieren«150. Es tritt nur an ihr auf, als ihre immanente Kritik. »Supplementieren« kann hier durchaus im Sinne Derridas verstanden werden: Das Ereignis fügt sich zu einer Situation hinzu und ersetzt sie durch eine andere Situation. Das Ereignis ist »nicht nur im Hinblick auf seine Lage, sondern auch in Hinblick auf seine verfügbare Sprache überzählig«151 und »stellt sich als reine Gabe dar.«152 In ihm verkörpert sich eine Unangemessenheit der Situation an sich, ihr Mangel oder ihre Unvollständigkeit. Der Ort des rednerischen Subjektes liegt genau dort, wo es das Ereignis, die Offenheit oder den Mangel der Situation, ergreift, ihm die Treue hält, sich ihm unterstellt.153 Besonders deutlich wird dies in der Kranzrede des Demosthenes. Rückblickend auf den Tag, an dem Philipp in der Phokerstadt Elateia einrückte und damit zu einer unmittelbaren Bedrohung Athens wurde, schreibt Demosthenes: »Aber, wie es scheint, verlangte jener kairós und jener Tag einen Mann, der die Dinge von Anfang an verfolgt und der richtig berechnet hatte, zu welchem Zweck Philipp dies tat und in welcher Absicht.« (Dem. Ktes. 171-173)154 Dieser Mann war Demosthenes selbst, der damals weniger das Wort ergriff, als dass er von der Situation in die Position des sprechenden Subjekts eingesetzt wurde. Das redende Subjekt steht einerseits gänzlich in der Situation, in der Welt, und markiert andererseits einen Bruch mit ihr. Dies gilt auch für das
150 Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, übers. v. Jadja Wolf u. Eric Hoerl, Wien 1997, 21. 151 A.a.O., 86. 152 Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, übers. v. Heinz Jatho München 2002 [1997], 119. 153 »Ich bin an dem Ort, von dem der Schrei aufsteigt, daß ›das Universum einen Fehler in der Reinheit des Nicht-Seins darstellt‹.« (Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und die Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, a.a.O., 196). 154 Übersetzung hier nach Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 221.
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Verhältnis des Subjekts zur Sprache. Jede Rede knüpft an eine Sprachsituation an, an eine komplexe Konstellation von Gesagtem und Ungesagtem, die sie fortschreibt und mit der sie zugleich bricht. Es kann nur deshalb etwas gesagt werden, weil kein Gesagtes der Situation vollständig genügt. Unser Sprechen hat eine determinierende Kraft, doch kann das, was sprechend determiniert wird, nie vollständig bestimmt werden. Dies zeigt sich an jedem Gespräch. Im Gespräch ergeben sich Situationen, die zu bestimmten Anschlüssen – Einwänden, Bestätigungen, Fragen, Antworten, Provokationen – tendieren. Die Tendenz ist allerdings nie eindeutig. In jedem Gespräch besteht zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit einer überraschenden Wende, eines Übergangs auf eine andere Ebene, einer Zurückweisung der bis dato von den Gesprächsteilnehmern geteilten Prämissen. An ein Gespräch anzuknüpfen, kann immer auch bedeuten, sich in die im Gespräch eröffneten Indeterminations- und Möglichkeitsräume zu stellen, überraschende Gelegenheiten, die sich ergeben, zu ergreifen. Gesprächskompetenz besteht nicht darin, eine Intention oder ein Projekt durchhalten zu können, sondern Gelegenheiten beim Schopf zu packen und sich selbst angesichts dieser Gelegenheiten neu zu erfinden. Eben diese Gelegenheiten oder Ereignisse werden von den antiken Autoren mit dem Begriff des kairóV umschrieben. Buchheim führt mehrere Stellen bei Sophokles und aus den Carmina popularia an, in denen »der kairos ruft« (kairòV dè kaleî/kairòV gàr kaleî).156 Dem ließen sich Stellen aus der Redenliteratur hinzufügen, etwa den Beginn der ersten Olynthischen Rede des Demosthenes, wo es heißt: »Der gegenwärtige Augenblick, Männer von Athen, erhebt geradezu die Stimme (kairóV [...] mónon o]ucì légei fwnn ]afieíV) und sagt, daß ihr selbst die dortigen [= die olynthischen] Angelegenheiten in die Hand nehmen müßt« (Dem. Erste olynthische Rede I, 2). In dieser prosopopoietischen Formulierung157 verdichtet sich das mediale Sprachverständnis der Rhetorik. Die Stimme wird aus der konkreten Situation heraus entworfen –
156 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 84. 157 die wenig später (Dem. Erste olynthische Rede I, 9) dadurch zur Personifikation gesteigert wird, dass der kairóV selbst nach Athen kommt: »Jetzt also kommt zu der Stadt aus Olynth von selbst ein kairóV, der nicht geringer ist als irgendeiner der früheren« (Übersetzung hier nach Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 206).
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]afíhmi bedeutet eigentlich abschießen, werfen und entlassen und nur im übertragenen Sinne sprechen –, entfaltet sich aus der konkreten Lage, aus den historischen Umständen heraus. Die Situation präfiguriert die Rede, ohne sie zu determinieren. Diese Indeterminiertheit ist der Ort des Rhetors. In einer Rede, die an Philipp appelliert, die Griechen angesichts der Bedrohung einer persischen Invasion zu einen, bemüht Isokrates das gleiche Bild wie sein politischer Gegener Demosthenes: das Bild des sprechenden kairóV: »Am besten wirst du aber in dieser Sache einen Entschluss fassen können, wenn du davon ausgehst, daß nicht nur meine Rede hier, sondern auch deine Vorfahren dich zu diesem Unternehmen ermuntern, und ebenso die Untauglichkeit der Barbaren, ferner alle, die durch einen Kriegszug gegen die Barbaren sehr berühmt und den Halbgöttern gleich wurden, in erster Linie aber der jetzige günstige Augenblick [kairóV], denn du verfügst momentan über eine Macht wie kein anderer in Europa« (Isocr. or. V 137). Quintilian schließlich spricht von einer »kritischen Lage des Augenblicks [praesentis condicio discriminis]« (Quint. inst. or. II 13, 4), auf die der Rhetor wie der Fechter und Faustkämpfer zu reagieren habe. Die Angemessenheit (prépon, aptum) einer Rede ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, dem Ruf des kairóV zu folgen; bevor und während er spricht, hört der Rhetor auf sein Publikum. Das Vernehmen spielt für ihn eine ebenso bedeutsame Rolle wie das Sprechenkönnen. Nur wer zu vernehmen fähig ist, vermag den kairóV zu ergreifen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass einer griechischen Legende zufolge die Einführung der Rhetorik dem Gott Hermes zugeschrieben wird, welcher nicht nur als Götterbote, als Gott der Übergänge und der Kommunikationen verehrt wurde, sondern auch als Gott des glücklichen Erfolgs der Kaufleute, des glücklichen Fundes (äérmaion), des glücklichen Findens auf geistigem Gebiet und des Auslegens, Erklärens bzw. Sich-Ausdrücken-Könnens (äermhneía). Hermes gilt damit auch als Schutzpatron der Redner, die auf glückliche Funde angewiesen sind und für die sich die Fähigkeit, sich ausdrücken zu können, mit der anderen Fähigkeit deckt, eine Situation richtig auszulegen. Die Praxis der Redner zielt nicht so sehr darauf ab, Situationen herzustellen oder zu manipulieren, sondern sich, wie François Jullien formulieren würde, in das Potential einer Situation zu stellen, ihre Wirksamkeit zu nutzen: »Dank der Höhenunterschiede des Stroms und der Enge seines Bettes [...] ist die Situation von sich aus Ursache einer Wirkung (es heißt, der Strom ›bekommt ein Potenti-
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al‹, er ›läßt etwas geschehen‹); auch im Fall der Armbrust funktioniert die Disposition, sobald man sie auslöst, von selber: sie bildet ein Dispositiv.«158 Dies impliziert ein Denken sprachlicher Wirksamkeit jenseits des Intentionalismus. Der Redner macht weniger etwas mit dem Mittel der Rede, als dass er ein in der rednerischen Situation vorhandenes Wirksamkeitspotential freisetzt. Er überführt, so können wir im Anschluss an Badiou formulieren, die Situation in ein Ereignis und zielt auf Veränderung, auf den Bruch zwischen einer Situation und ihren eingespielten Koordinaten, einen Bruch, der sich in der Situation selbst bereits ankündigt. Diese rhetorische Praxis unterscheidet sich fundamental von derjenigen der Philosophen, die nicht von der realen Situation ausgehen, sondern von idealen Modellen. Im Gegensatz zum Philosophen rechnet der Rhetoriker permanent mit Unbestimmtheit. Etwa um die Zeitenwende bemerkt der Attizist Dionysios von Harlikarnassos unter Rekurs auf Gorgias: »Bei allen Belangen der Formulierung einer Rede muß man, wie ich meine, auf den Kairos achten. [...] Vom Kairos aber hat weder irgendein Rhetor noch ein Philosoph bis heute eine Regel der Kunst definiert [...]. Und es hat ja diese Sache auch nicht die Natur, unter eine umgreifende und geregelte Erfassung zu fallen, und überhaupt ist der Kairos nicht faßbar durch Wissenschaft.« (Gorgias, 83) Auch Isokrates hält es nicht für möglich, das »für die jeweilige Situation Angemessene [...] durch Wissen zu erfassen [...], entzieht es sich doch in allen Fällen der Wissenschaft« (Isocr. or. XV 184). Für den rechten Augenblick lassen sich keine universalisierbaren Regeln angeben. Nur eine Sensibilität gegenüber dem je Besonderen der Situation hilft hier weiter. Vom Rhetor wird also frónhsiV, Urteilskraft, verlangt. Er muss offen bleiben für die Potentiale einer Situation, die sich nie vollständig antizipieren lassen; er darf sich den Zugang zur Situation insbesondere nicht mit systematisch-theoretischen Vorentscheidungen verstellen. Mit jeder Äußerung konstituiere ich Situationen – und zwar als solche, in denen etwas möglich wird. Dies ist der Ort einer Freiheit, die nicht – als Eigenschaft oder Kompetenz – im Subjekt liegt, sondern dort, wo das Subjekt eine Möglichkeit in einer Situation ergreift. KairóV und prágmata, günstiger Augenblick und Umstände, stehen in einem Spannungsverhältnis, gehören aber nicht zwei unterschiedlichen ontologischen Ordnungen an. In seiner Rede des Archidamos verortet Isokra-
158 François Jullien, Über die Wirksamkeit, a.a.O., 33.
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tes beide Begriffe auf einer Ebene wenn er sagt, dass »nichts an sich gut oder schlecht ist, sondern je nachdem, wie man mit den gegebenen Verhältnissen und dem jeweils günstigen Augenblick umgeht []àn cr®shtaí tiV toîV prágmasi kaì toîV kairoîV]« (Isocr. or. VI 50). Verhältnisse und günstige Augenblicke fügen sich zu einem Zusammenhang, der sich daraus ergibt, dass sich mit beiden umgehen lässt. Das Verb für umgehen mit oder gebrauchen, cráomai, zeichnet sich durch eine Ambivalenz aus. Es bedeutet einerseits brauchen, benötigen, bedürfen, andererseits aber auch gebrauchen, nutzen, verwenden.159 Dies ist wiederum nur ein kleiner Ausschnitt aus einem noch viel weiteren Spektrum von Übersetzungsmöglichkeiten. So bedeutet es zunächst ritzen, verwunden, verletzen, dann, im Zusammenhang mit Göttern und Orakelsprüchen, eine Antwort geben, einen Ausspruch tun, einen Götterspruch erteilen oder verkündigen, ferner, und das leitet bereits zu gebrauchen über, sich des Orakelspruchs bedienen. Die Umstände und der rechte Augenblick werden benötigt und lassen sich gebrauchen. Sie erscheinen beide in der Perspektive einer Praxis. KairóV, prágmata und menschliche Praxis verschlingen sich zu einem komplexen Knoten, sie bedingen und konstituieren sich wechselseitig. Die Situation, mit der die Rhetorik rechnet und von der sie ihren Ausgang nimmt, ist wesentlich als eine öffentliche Situation zu verstehen. Bereits im Habitus und Typus des antiken Rhetors drückt sich seine Verwiesenheit auf Öffentlichkeit aus: Der Rhetor sucht das Publikum, pflegt sein Image (sein 3joV, das selbst als rednerisches Mittel gilt) und spricht in seinem eigenen Namen.160 Der Philosoph spricht dagegen nie als er selbst, sondern im Namen eines großen Anderen (Gott, Natur, Vernunft...), das sich durch seinen Diskurs hindurch Gehör verschafft. Parmenides führt sich im Proömium seines Lehrgedichts als Sprachrohr der Göttin ein, die ihm einen Text diktiert; der Platonische Sokrates inszeniert sich immer wieder als Inspirierter, der seinen Gesprächspartnern ein ursprüngliches Wissen, das ihm bereits vor seiner Geburt in die Seele geschrieben wurde, vermittelt. Der Philosoph interessiert sich, so behauptet er zumindest, nicht für öf-
159 Allerdings erkennt die Griechin an der Konstruktion, welche von beiden Möglichkeiten jeweils gemeint ist; mit einem Genitiv bedeutet cráomai bedürfen, mit einem Dativ gebrauchen; diesen Hinweis verdanke ich Philipp Wicht. 160 Vgl. zum öffentlichen Auftreten des Sophisten Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 80ff.
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fentliche Anerkennung, sondern für die Partizipation an einem überzeitlichen Wahrheitsgeschehen. Die Sophisten bekennen sich demgegenüber zur Internität161 der Welt. Nach Buchheim zeichnet sich der Sophist durch das Bewusstsein aus, »daß alle praktische Situation des Menschen nur immanent in den Griff zu bekommen ist, sich also nirgends an externe und fix bleibende Gesichtspunkte halten und an ihnen orientieren kann. Daß zweitens auch nicht menschliches Denken und Reden (der Logos also) die praktische Situation transzendiert, sondern ebenso Faktor in ihr ist wie alles andere auch.«162 Der Sophist werde somit zum »Techniker des Ungefähren.«163 Buchheim fasst den Stellenwert des kairóV für die sophistische Ethik und Rhetorik wie folgt zusammen: »Wenn es ein Ideal der Sophistik gibt, dann dieses: in der Jeweiligkeit höchste Gültigkeit zu erreichen.«164 Auch die römische Rhetorik bleibt diesem Ideal treu; für Quintilian ist es »das Allertörichste, die Gaben des Augenblicks zu verschmähen« (Quint. inst. or. X 6, 6). In der römischen Rhetorik rückt das Konzept des aptum, der Angemessenheit, an die Stelle, welche in der Sophistik die Sensibilität für den kairóV innehatte. Cicero übersetzt kairóV zunächst als »occasio« oder »opportunitas temporum« (Cic. de off. I 142). Die kairologische Fähigkeit, »dem, was man tut und sagt, die rechte Stelle zuzuweisen« (Cic. de off. I 142), begreift er als modestia; mit aptum und modestia avancieren zwei rhetorische Kategorien zu Schlüsselbegriffen seiner Tugendlehre. Es komme, so Cicero, bei der Ausbildung des Redners weniger auf die Vermittlung allgemeinverbindlicher Stilkriterien an, als vielmehr darauf, dem Redner einen Sinn für »Angemessenheit [aptum]« (Cic. de or. III 53) zu vermitteln. Das rhetorische Ideal der Angemessenheit (prépon bei Aristoteles; aptum bei Cicero)165 bezieht sich nicht auf eine Angemessenheit der Rede gegenüber einer überzeitlichen Wahrheit oder einer invarianten Natur, sondern auf eine Angemessenheit gegenüber sich wandeln-
161 Vgl. zum Konzept einer Internität der Welt Gerhard Gamm, Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, 116. 162 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 80. 163 A.a.O., 80. 164 Anmerkung des Herausgebers Thomas Buchheim in: Gorgias, 191. 165 Vgl. hierzu etwa Werner Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihre Geschichte, Darmstadt 51994, 35.
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den geschichtlichen Situationen. Die Rede überhaupt gilt auch den römischen Rhetorikern als eine Artikulation »in einer Situation mit der Intention (voluntas) der Änderung dieser Situation.«166 Der Kontext der Rede ist prinzipiell unabschließbar, er lässt sich nie vollständig formalisieren und bedarf deshalb eines Sinnes für Angemessenheit auf allen Bearbeitungsstufen der Rede, am stärksten aber während der actio. Gleichwohl finden sich in der antiken rhetorischen Literatur Versuche, bestimmte häufig begegnende Elemente von Situationen zu klassifizieren. Exemplarisch sind in dieser Hinsicht die umfangreichen Beschreibungen von Emotionen, Mentalitäten und Affekten sowohl des Redners als auch des Zuhörers innerhalb der Aristotelischen Rhetorik (vgl. Arist. Rhet. II 117, 1377b-1391b), welche als erste systematische Psychologie innerhalb der abendländischen Literatur gelesen werden können. Die Psychologie des Aristoteles ist dabei von vorn herein als Kommunikationspsychologie angelegt. Die Affekte geraten hier nicht um ihrer selbst willen in den Blick, sondern als Ausgangs- und Zielpunkte von kommunikativen Akten. Im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit des Redners macht es für Aristoteles »viel aus, daß der Redner in einer bestimmten Verfassung erscheine und daß die Zuhörer annehmen, er selbst sei in einer bestimmten Weise gegen sie disponiert, und schließlich, ob auch diese sich in einer bestimmten Disposition befinden [...]; denn ein und dasselbe erscheint nicht in gleicher Weise den Liebenden und Hassenden« (Arist. Rhet. II 3/4, 1380a-1382a). Der Redner muss seine Worte den psychischen Dispositionen seiner Zuhörer anpassen und zugleich versuchen, diese Dispositionen mit seiner Rede zu verändern. Heidegger merkt hierzu an: »Es ist kein Zufall, daß die erste überlieferte, systematisch ausgeführte Interpretation der Affekte nicht im Rahmen der ›Psychologie‹ abgehandelt ist. Aristoteles untersucht die pathae im zweiten Buch seiner ›Rhetorik‹. Diese muß – entgegen der traditionellen Orientierung des Begriffes der Rhetorik an so etwas wie einem ›Lehrfach‹ – als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des 167 Miteinanderseins aufgefaßt werden.« Aristoteles beleuchtet die Affekte
166 Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München, 71982, 15. 167 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., 138. – 1924, während der Niederschrift von Sein und Zeit, hält Heidegger eine Vorlesung über die Rhetorik des Aristoteles; vgl. Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944. Band 18, Marburger Vorle-
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also nicht als isolierte Zustände oder Gefühlsmonaden, sondern spannt sie in die komplexen Bewegungen des Miteinanderseins, oder, modern gesprochen, der Kommunikation ein. Die Affekte der an einer Gesprächssituation Beteiligten dürfen nicht als vorsprachliche Tatsachen begriffen werden. Sie stehen für Aristoteles immer schon im Horizont der Gespräche und Reden. Sie sind, wie wir bereits gesehen haben, entechnische Überzeugungsmittel. Neben dieser äußeren Angemessenheit der Rede an die Situation – »Denn die Rede ist nicht weniger fehlerhaft, wenn sie von dem Menschen als wenn sie von der Sache, der sie sich anpassen sollte, absticht« (Quint. inst. or. III 8,51) – verwendet Quintilian das aptum auch zur Charakterisierung einer inneren Angemessenheit der einzelnen Teile der Rede aneinander, mithin einer Angemessenheit der Rede an sich selbst (vgl. etwa Quint. inst. or. VIII 1,1). Das rhetorische Ideal des aptum bezieht sich hier nicht auf ein mögliches Entsprechungsverhältnis von Wörtern und Sachen, sondern auf das Verhältnis der Wörter und Redeteile zueinander. Das aptum sollte also nicht in einem repräsentationalistischen Sinne gelesen werden. Hinter dem aptum steht weniger unser neuzeitlich-philosophisches Problem einer möglichen Angemessenheit von Sprache an Welt, als die Frage nach der Angemessenheit von Rede an Handlungssituationen und -ziele sowie an sich selbst. In der Unterscheidung des Schicklichen vom Notwendigen bekommt das Angemessene bei Cicero auch einen ethischen Sinn: »›nötig‹ [oportet] bezeichnet nämlich die Unbedingtheit einer Verpflichtung, die immer und von allen zu erfüllen ist, ›schicklich‹ [decet] dagegen heißt etwas, das dem Zeitpunkt und der Person angemessen ist, das sehr oft in Taten wie auch in Worten von Wichtigkeit ist, im Mienenspiel, der Gestik, im Gang« (Cic. or. 74). Das decet wird von Cicero durch einen praktischen Antiuniversalismus erläutert; der »ideale Redner [...] erkennt, was sich schickt [deceat]«, er
sung Sommersemester 1924, Frankfurt/M. 2002. – So weit sich Heidegger auch der Rhetorik nähert, so erlaubt ihm doch gerade sein hermeneutischer Ausgangspunkt nicht, den Primat des Pragmatischen in der Rhetorik ernst zu nehmen. Das rhetorische »Reden« interpretiert er als »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins« (Sein und Zeit, a.a.O., 161) und verpflichtet sich damit auf die von Platon im Kratylos vorgeschlagenen Sprachauffassung, für die Sprache zwar als Organon dient, als Organon allerdings nur insofern, als wir mit ihr semantische Unterscheidungen an einer vorsprachlich gegebenen Welt treffen.
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darf »weder immer noch vor allen noch gegen alle noch für alle, noch [...] auf dieselbe Weise reden.« (Cic. or. 123) Ein Anspruch auf Notwendigkeit, der das Gesagte allen Menschen als verbindlich anempfiehlt, wäre vermessen und gewaltsam. Da sich jede Rede kontingenten und konkreten Situationen zu fügen hat, lassen sich auch keine allgemeinen Stilanforderungen an alle Redner stellen. Der Redner muss vielmehr auch seine eigene charakterliche Disposition und seine eigenen natürlichen Grenzen in der Konzeption und Gestaltung der Rede mit berücksichtigen. Jeder sollte nur über Gegenstände und in Tonlagen sprechen, die ihm gemäß sind. Cicero wendet sich von hier aus gegen ein normativistisches Verständnis der Rhetorik im Sinne einer Regelpoetik. Wie die Dichter, welche »den Rednern ja am nächsten stehen« (Cic. de or. III 27), lassen sich auch die Redner nicht miteinander vergleichen. Die großen Redner – Cicero nennt Isokrates, Lysias, Hypereides, Aischines und Demosthenes (Cic. de or. III 8) – entwickeln einen je besonderen Stil, welcher so wenig wie ein Kunstwerk nach allgemeinen Maßstäben beurteilt zu werden vermag: »Doch wer gleicht einem anderen als nur sich selbst? [...] Wer unter ihnen war in jener Zeit nicht führend? Und trotzdem war es jeder in seiner Art.« (Cic. de or. III 28) Letztlich gebe es »genauso viele Stile wie Redner« (Cic. de or. III 34). Der sprachliche Stil (elocutio) wird hier nicht als Gattungsbegriff aufgefasst (etwa im Sinne des »expressionistischen« oder »impressionistischen« Stils einer subsumtionslogischen Kunstgeschichtsschreibung), sondern als Individualisierungsbegriff. Im Stil, in der Art ihrer Darstellung, unterscheiden sich alle Redner voneinander. Die Kontingenz der Redesituationen wird als Bedingung der Möglichkeit von Individualität begriffen, die sich als je besonderer Redestil immer wieder neu ausdrückt. Im Kontext des antiken Sprachdenkens scheint ein spezifisch moderner Gedanke auf: der Gedanke einer Geschichtlichkeit aller menschlichen Gestaltungen und Äußerungen. Wir kommen darauf im Abschnitt 3.4 noch ausführlicher zurück. Die situationale Gebundenheit der Rede findet ihren Niederschlag im Vorrang des konkreten Vollzugs oder der äupókrisiV168 bzw. actio der Rede. »Entscheidend wichtig für die Erzielung des Glaubens an das Gesagte«
168 y ä pókrisiV bedeutet zunächst Bescheid und Antwort, etwa des Orakels. Im übertragenen Sinne wird sie zum rhetorischen terminus technicus für die Kunst der Deklamation des Schauspielers oder Redners.
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war bereits für Demosthenes »der Ton und Vortrag [äupókrisin] des Redners« (Plut. Dem. 11). Auch für Cicero ist »die Praxis [...] das Wichtigste und Schwierigste in der gesamten Redekunst« (Cic. de or. III, 209). Er bezeichnet die actio auch als das »Licht der Rede« (Cic. de opt. gen. I 5). Die Vortragsart soll, so auch der Autor ad Herennium, dazu dienen, »die Punkte, die man schildert, in die Herzen der Hörer einzupflanzen und hineinzuschneiden« (Auct. ad Her. III, 24). Als Einheit von Aus- und Aufführung präfiguriert die actio das, was im 20. Jahrhundert als Performativität bezeichnet werden wird. Actio bedeutet, dass im konkreten Redevollzug etwas getan wird. Eine Stelle bei Cicero deutet auf eine Möglichkeit der Sprache jenseits der Sprache hin, die nicht mit einem System oder einem Regelkanon verwechselt werden darf, sondern eher einem Lévinasschen Sagen entspricht und sich gerade in der actio manifestiert. »Alle Elemente, die die Darbietung der Rede betreffen, haben eine gewisse naturgegebene Kraft in sich. Deswegen auch wirkt sie so stark auf Unkundige, einfache Leute und sogar Ausländer. Worte bewegen nämlich nur diejenigen, die durch die gleiche Sprache verbunden sind, und pointierte Formulierungen fliegen oft über die Köpfe nicht so scharfsinniger Menschen hinweg; aber der Vortrag, der die innere Bewegung nach außen trägt, bewegt alle. Denn wir werden alle von den gleichen Gefühlen erregt, und wir erkennen sie an den gleichen Zeichen, wie bei uns so auch bei anderen.« (Cic. or. III 223) Noch vor der Übermittlung einer Bedeutung spricht uns etwas am bloßen Vollzug des Redens an, wirkt auf uns ein. Die Praxis des Redens selbst, seine Performanz, bleibt unhintergehbar. Letztlich zählt nur, was im entscheidenden Moment gesagt wird. Die Rhetorik antizipiert im Gegensatz zur Philosophie gerade keine ideale und herrschaftsfreie Redesituation, sondern fokussiert das Hier und Jetzt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die rhetorische Sprache nicht von der alltäglichen Sprache. Beide sind und begreifen sich als situiert; die Sprachtheorie der Philosophie versucht, diese Situationalität immer wieder zu transzendieren und einen Raum reiner Regeln, Gründe und Geltungen zu etablieren. Cicero bezeichnet die actio an einer Stelle als die Sprache insgesamt (Cic. de or. 3, 59, 222), an einer anderen Stelle als »eine Art körperlicher Beredsamkeit« (Cic. or. 17, 55), da neben der stimmlichen Performanz auch Mimik und Gestik mit zur actio gehören. Quintilian erwähnt diese Doppeldeutigkeit bei Cicero, um im Anschluss zu behaupten, dass »man
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beide Bezeichnungen ohne Unterschied gebrauchen darf« (Quint. inst. or. XI 3, 1). Rede existiert aus seiner Perspektive nur als im wörtlichen Sinne verkörperte, als an einen menschlichen Leib gebundene. Erst als actio gewinnt die Rede »etwas ganz Erstaunliches an Kraft und Macht« (Quint. inst. or. XI 3, 2). Dies ist alles andere als trivial. Zur Geltung und Überzeugungskraft der Rede gehört, dass sie vorgebracht wird. Erst der geäußerten Rede kann Geltung zukommen. Als Grund jeder Geltung fungiert noch vor jeder logischen oder epistemischen Evidenz die Öffentlichkeit, an die sich die Äußerung adressiert und die über sie entscheiden wird. Wir müssen sprechen, bzw. umgekehrt, wir haben keine Möglichkeit, nicht zu sprechen.169 An diese Unmöglichkeit, nicht zu sprechen, wird die Philosophie ständig von der Rhetorik erinnert. Selbst das Schweigen der 170 negativen Theologie oder die Geheimnisse der Kryptiker artikulieren sich, sind in ihrem Gestus der Abweisung von Öffentlichkeit noch auf Öffentlichkeit verwiesen. In diesem Punkt werden sich die Philosophen des deutschen Idealismus an die rhetorische Tradition anschließen. Auch für die Idealisten ist, entgegen aller landläufigen Vorurteile, nur das »wahr«, was »die tätige Auseinandersetzung mit dem, was anders ist als es selbst, nicht scheut: was sich sprachlich mitteilt, um Widerspruch zu ernten; was handelt, damit seine Worte daran gemessen werden können; was sich entäußert oder entfremdet, um den ›Schmerz des Negativen‹ an sich zu erfahren.«171
169 Vgl. Jacques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1989 [1987]. – Derrida zeigt in diesem Buch, welches sich insbesondere mit Texten der negativen Theologie von Dionysios Areopagita bis Meister Eckehard auseinandersetzt, dass sich jeder Versuch, nicht zu sprechen, artikulieren muss, dass selbst das Schweigen noch beredsam ist: »Um zu vermeiden zu sprechen, um den Moment zu verzögern, an dem man wirklich wird etwas sagen müssen und vielleicht eingestehen, preisgeben, ein Geheimnis anvertrauen, vervielfältigt man die Abschweifungen.« (A.a.O., 32) 170 Für Badiou ist »jeder ausgesprochene Diskurs, der sich durch einen nicht ausgesprochenen autorisieren will, obskurantistisch« (Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, a.a.O., 100). 171 Gerhard Gamm, Der Deutsche Idealismus, a.a.O., 98. – Auf Affinitäten zwischen der rhetorischen Tradition und der Philosophie des deutschen Idealismus verweist neuerdings auch Peter L. Oesterreich, Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte und Schelling, Darmstadt 1997.
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Im Anschluss an Humboldt und die Philosophie des Deutschen Idealismus definiert Joseph Simon in diesem Sinne das je aktuale Sprechen als den »nun noch allein möglichen Begriff des Absoluten.«172 Bereits die sophistischen Rhetoriker verstehen sich in erster Linie als Kommunikatoren und Performatoren. Sie tragen die esoterische und spezialwissenschaftliche Reflexion der vorsokratischen Naturphilosophen in die Öffentlichkeit: »Rhetorik versteht sich seit ihren Anfängen als ein die Fachgrenzen des Wissens überschreitendes Beziehen, als Vermitteln der Erkenntnisse aus den Wissenschaften mit den Kategorien des allgemeinen 173 gesellschaftlichen Bewußtseins.« Den Sophisten ist bewusst, dass sich Wissen nicht aus sich heraus durchzusetzen vermag. Es bedarf des Wortes, der Äußerung und Vermittlung. Die Öffentlichkeit wird durch die Rede geschaffen, sie ist insofern kein Raum, der Individuen »enthält«, sondern ein Raum, der sich in ihren Kommunikationen aufspannt. Als Experte für Performanz kann der Redner von Cicero mit dem Schauspieler174 verglichen werden (vgl. Cic. de or. III 83). Der Redner muss vor allem auftreten, muss sich auf dem Marktplatz und vor der Volksversammlung bewähren. Er setzt sich einem öffentlichen Wettstreit aus, welcher letztlich über die vorgetragenen Ansprüche und Meinungen entscheidet. »Bewährung nicht Wahrheit verschafft einem Logos Gehör.«175 Die Rede kennt als Maßstab nur die öffentliche Anerkennung: »Schiedsrichter der sophistischen Rede-Agone war das Publikum und die Öffentlichkeit generell.«176 In Kapitel 3.1 haben wir gesehen, dass die Rhetorik in ihrer metaphorischen Verwendung von Begriffen aus der Sprache der Box- und Ringkämpfer auf den agonalen Charakter der Rede reflektiert. Das Theater mit seinem Bildfeld des Aufführens, Inszenierens, Präsentierens und Performierens bildet ihren zweiten großen semantischen Bezugs-
172 Josef Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989, 67. 173 Gert Ueding, Antike Rhetorik, a.a.O., 82. 174 Von Demosthenes wissen wir, dass er Schauspielunterricht bei Satyros nahm und Stücke aus Sophokles und Euripides rezitierte (vgl. Plut. Synk. Dem. Cic. 7). Auf ein demokratisierendes Potential des Schauspiels in der klassischen Zeit verweist Buxton: »The representations in the theatre were by citizens and in front of citizens.« (Richard G.A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, a.a.O., 17). 175 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 13. 176 A.a.O., 14.
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punkt. Die Bildwelt von Ciceros Brutus etwa bedient sich selten militärischer Ausdrücke, häufiger dagegen theatralischer wie theatrum (Cic. Brut. 6), scaena (Cic. Brut. 116, 239, 290), circus (Cic. Brut. 173), stadium (Cic. Brut. 234). Das Verb múein, auf das die Substantive Mysterium und Mythos vermutlich zurückgehen, bedeutet »seinen Mund schließen« bzw. »das Auge oder den Mund geschlossen lassen«. Die Rhetorik ist in diesem Sinne die antimystische Kunst par excellence. Auch darin unterscheidet sie sich von der Philosophie, die immer wieder vorgibt, aus einem nicht diskursivierbaren Geheimwissen schöpfen zu können. Natürlich hat in den rhetorischen Reflexionen auch das Schweigen seinen Ort, wird aber im Gegensatz zur Philosophie immer als beredtes Schweigen begriffen. Wie für die Systemtheoretiker des 20. Jahrhunderts können wir auch aus der Sicht der Rhetoriker nicht nicht kommunizieren; die Rhetoriker verstehen sich immer schon als »Denker auf der Bühne«177. Erst die Öffentlichkeit, der sie sich darbietet, verleiht der Rede Wirklichkeit. Was einmal gesagt ist und seine Wirkung entfaltet hat, lässt sich nicht ohne weiteres wieder ungeschehen machen: »Zurücknehmen wie ein Zug im Brettspiel läßt sich das Leben nicht.« (SZ 205 [Antiphon, 24, B52]) Das gilt auch für das Wort: »nescit vox missa reverti«, das einmal entlassene Wort kennt, so Horaz (vgl. ars poet. 390), keine Rückkehr. Es entzieht sich der Verfügung des Autors und wird gerade dadurch real. Horaz mahnt die Schriftsteller, ihre Werke nicht zu früh, d.h. frühestens neun Jahre nach der Niederschrift der ersten Fassung, zu veröffentlichen (was wir uns in Zeiten des publish or perish vielleicht wieder zu Herzen nehmen sollten). Mit der Veröffentlichung, so scheint Horaz anzudeuten, gehe eine besondere Verantwortung einher. Das schriftlich veröffentlichte Wort entzieht sich der Autorität seines Urhebers, der seine gesprochenen Worte in situ immer wieder revidieren, variieren, zurücknehmen oder sogar verleugnen kann.178
177 Vgl. Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/M. 1986. 178 Horaz knüpft hier an die von Platon im Phaidros geübte Schriftkritik an. Das Medium der Schrift wird von Platon einerseits als Gefahr für das Gedächtnis definiert (das Archiv der Zeichen enthebe uns der Mühe, etwas im Gedächntnis zu behalten), andererseits als Gefahr für die Lebendigkeit einer Stimme, in der sich ein Sprecher unmittelbar selbst vernehmen und bei sich sein könne. Darüber hinaus
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Die implizite Ethik der antiken Poetik und Rhetorik erweist sich von hier aus als Verantwortungsethik. Der Rhetor, so Demosthenes, »spricht seine Meinung vor den Begebenheiten aus und übernimmt die Verantwortung gegenüber denen, die sich von ihm leiten lassen, gegenüber dem Glück, dem rechten Zeitpunkt und gegenüber jeder Kritik an seiner Politik.« (Dem. Ktes. 189) Dass etwas irreversibel so und nicht anders geäußert wurde, avanciert bei Demosthenes und Horaz zum Kriterium seiner Realität. Eine Realität liegt der Welt des Symbolischen nicht einfach zugrunde oder voraus. Sie zeigt sich vielmehr erst im je konkreten Sosein einer Situation, die wir zu verantworten haben. ›Es ist geschehen. Ich habe es gesagt. Ich bin dafür verantwortlich. Darum ist es real.‹ Realität begegnet uns in der Rhetorik mithin weniger als erkenntnistheoretisches denn als ethisches Problem. Rede ist per definitionem öffentlich; zu ihr zählt nicht, was in der Dunkelheit des oÏkoV oder in der Intimität der Ich-Du-Beziehung gesagt wird. Die Rede wird vielmehr erst dadurch öffentlich, dass sie, wie Kurt Röttgers ausführt, ›den Dritten einbezieht‹179. Auch für John Dewey beginnt Öffentlichkeit im gleichen Sinne erst dort, wo die Folgen einer Transaktion nicht nur »die direkt mit der Transaktion befassten Personen« betreffen, sondern auch »andere außer den unmittelbar betroffenen«180. Platons Dialog inszeniert sich als privates Gespräch, ist aber de facto ein »Gespräch vor Dritten«181 und somit eine Rede, die ihren Charakter als Rede verleugnet. Als der eigentliche Adressat des Sokrates kann nicht sein Gegenüber gelten, sondern das Publikum, diejenigen, die dem Gespräch beiwohnen. Cicero zieht aus der rhetorischen Einsicht in die Unhintergehbarkeit konkreter Handlungssituationen die Konsequenz, der Ausführung des Vortrags den höchsten Stellenwert innerhalb der rhetorischen Lehre einzuräumen: »Der Vortrag [actio], sage ich, hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung. [...] Ihm soll Demosthenes, als man ihn fragte, was beim
gilt die Schrift dem Philosophen aber auch als politisch bedenkliches Medium. Sie richte sich nicht an einen ausgewählten Adressaten, sondern letztlich an jeden beliebigen, an eine anonyme Masse. 179 Kurt Röttgers, »Der Sophist«, a.a.O., 170. 180 John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, übers. v. Wolf-Dietrich Junghans, Bodenheim 1996 [1927], 27. 181 Kurt Röttgers, »Der Sophist«, a.a.O., 173.
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Reden die Hauptsache sei, den ersten Rang, den zweiten Rang und den dritten zugebilligt haben.« (Cic. de or. III 213; vgl. auch Cic. Brut. 142) ) Cicero formuliert hier eine Art Existentialismus der Redesituation. In die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund konkreter Situationen zu reden, sind wir geworfen, ihr können wir nicht entgehen. Die Performanz hat einen unhintergehbaren, materiellen Kern: Sie verweist auf die Stimme, die in einem Raum erklingt, oder auf die Schrift, die sich, im rechten Augenblick veröffentlicht, in Raum und Zeit ausbreitet. Die Sprechakttheorie des 20. Jahrhunderts macht den kontingenten und materiellen Kern der Performanz demgegenüber tendenziell unsichtbar. Die konkrete Äußerung oder Lokution wird unter ein kategoriales Gerüst konstitutiver Regeln und illokutionärer Bindungskräfte subsumiert. Von Searle bis zu Habermas und Apel wird die Performativität zunehmend in ein Ensemble transzendentaler Vermögen aufgelöst, idealisiert und von der materiellen Performanz befreit. Da die Zahl und Qualität möglicher Redesituationen prinzipiell unendlich ist, lässt sich aus rhetorischer Sicht keine kultur-, geschichts- und situationsinvariante Taxonomie von Sprechakten festschreiben. Eine Reduktion aller Äußerungen auf drei oder fünf grundlegende Sprechakttypen, wie sie 182 Habermas und Searle nahe legen , verfehlt die komplexe Wirklichkeit der Redesituationen. Quintilian kritisiert vor diesem Hintergrund bereits die Engführung der Rhetorik auf die drei von Aristoteles unterschiedenen Redetypen und die mit ihnen implizierten Geltungsdimensionen (die Gerichtsrede stellt Tatsachen fest und erhebt insofern einen Anspruch auf Wahrheit; die politisch beratende Rede richtet sich auf zukünftige, erst im Handeln herbvorzubringende Zustände und erhebt insofern einen Anspruch auf normative Richtigkeit; die Lobrede schließlich drückt eine subjektive Betroffenheit aus und erhebt Ansprüche auf Wahrhaftigkeit und ästhetische Stimmigkeit). Er stellt die Frage: »In welcher Gattung werden wir uns dann wohl befinden, wenn wir klagen, trösten, besänftigen, anfeuern, erschre-
182 Eine frühe Taxonomie der Sprechakte findet sich bereits bei Protagoras: Dieser »unterschied als erster die Rede in vier Formen: Bitte, Frage, Antwort, Befehl. (Andere teilen sie in sieben Formen: Erzählung, Frage, Antwort, Befehl, Nachricht, Bitte, Aufruf.) Diese bezeichnet Protagoras als Fundamente der Rede. Alkidamas nennt vier Redeformen: Behauptung, Verneinung, Frage, Anrede.« (Diog. Laert. IX 54/55). Im Gegensatz zu Searles Taxonomie sind diese Sprechakttypen stärker sequenz- und damit situationsabhängig.
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cken, bestärken, lehren, unklar Ausgedrücktes erklären, erzählen, abbitten, danken, beglückwünschen, Vorwürfe machen, schmähen, beschreiben, empfehlen, mitteilen, wünschen, vermuten und so vieles andere?« (Quint. inst. or. III 4, 3) Quintilian multipliziert die Typen der Rede und der mit ihnen erhobenen Geltungshinsichten so weit, dass es weiter keinen Sinn macht, eine Taxonomie kontextinvarianter Geltungsansprüche festzuschreiben. Mit jedem Sprechakt stellt sich vielmehr die Frage nach der durch ihn erhobenen Geltungsdimension neu: »Auch von der Gewalt der Rede gibt es nicht nur eine Art« (Quint. inst. or. VIII 3, 88). Auch »zu bitten, anzuzeigen, Rechenschaft zu geben und anderes [...], pflegen wir in verschiedener Form und wie es der Gegenstand mit sich bringt« (Quint. inst. or. III 8, 53). Die illokutionären Kräfte kreuzen, hybridisieren und substituieren sich permanent; für den Rhetoriker können also weder eigentliche von uneigentlichen Sprechakten abgehoben, noch überhaupt einzelne illokutionäre Typen stabilisiert werden. Gerhard Gamm weist darauf hin, dass die neueren Sprachpragmatiker »Sprechhandlungen [...] dekontextualisieren, um sie, funktionsgerecht präpariert, dem finalen Wahrheitsschema identitätslogischer Vernunft anzu183 passen« . Die Reduktion des Wirkungsaspekts der Sprache auf drei Sprachhandlungstypen (das Erheben von Ansprüchen auf theoretische Wahrheit, moralische Richtigkeit oder subjektive Wahrhaftigkeit) beschneidet das unendlich reiche Feld sprachlicher Kommunikationen, auf dem Takt, Witz und Melodie keine weniger bedeutende Rolle spielen als Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit: »Sollten Höflichkeit, Rücksichtnahme, Ironie, der Sinn für das Schickliche, die Kunst der Verstellung und der Selbstrepräsentation kein legitimes Daseinsrecht in der Dramaturgie der kommunikativen Alltagspraxis haben? [...] Und wer wollte ernsthaft bestreiten, daß der Anteil des Spiels, des Narrativen, des Geschichtenerzählens und der phantasievollen Erzeugung ›fiktiver‹, gleichwohl realitätsmächtiger Zusammenhänge (Vorurteile, Irrtümer, Mythen, Ideologien, Gerüchte, Desinformationen, symbolische Handlungs- und Wertzusammenhänge, Sündenbocksuche, Projektionen, Rationalisierungen, Ritualisierungen, Weltanschauungen, Fremd- und Selbstbildentwürfe, das Image, das jemand oder etwas hat, usf.) nicht ebenso konstitutiv zu den basalen Voraussetzungen alltagsweltlicher Kommunikationen gehörten, wie jene Au-
183 Gerhard Gamm, Eindimensionale Kommunikation, a.a.O., 43.
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tomatismen gewohnheitsmäßig abgespulten Verhaltens, auf die Habermas die kommunikative Alltagspraxis zu reduzieren sucht, weil er glaubt, die illokutionären Bindungskräfte allein in funktionsbezogenen Sprechakten verorten zu können?«183
3.4 R HETORISCHE Z EIT Die Erforschung der Konzeptualisierung von Zeit in der antiken Rhetorik bildet ein Desiderat. In den einschlägigen Darstellungen antiker Zeittheorien184 finden sich keine Hinweise auf ein spezifisches Zeitverständnis der Rhetoriker. Vor diesem Hintergrund möchte ich das Zeitdenken der rhetorischen Tradition in diesem Kapitel kurz umreißen. Mein Interesse richtet sich weniger auf die im Kontext des New Historicism umfassend erörterte »Rhetorik der Zeitlichkeit«, auf die das historiographische Feld strukturierenden Tropen und rhetorischen Strategien185, als vielmehr auf das explizite Zeit- und Geschichtsdenken der antiken Rhetoriker. Dabei lasse ich mich von der Intuition leiten, dass im Kontext der antiken rhetorischen Theorie und Praxis eine geschichtlich-politische Zeit entdeckt wird, die sich weder angemessen als crónoV, als Zeit leerer Dauer, noch als a]iõn, als erfüllte Weltzeit, begreifen lässt und sich insofern signifikant vom Zeitdenken der antiken Philosophen unterscheidet.186 Das rhetorische Zeitverständnis ent-
183 A.a.O., 18/19. 184 Vgl. Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt/M. 1974; Gerald J. Whitrow, Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1999; Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, a.a.O.; Michael Theunissen, Artikel »Zeit II. Antike« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. 12, Sp. 1190-1196. 185 Vgl. Paul de Man, »The Rhetoric of Temporality« [1969], in: ders., Blindness and Insight, London 21983, 187-228; Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, a.a.O.; Dominick LaCapra, Geschichte und Kritik, übers. v. Ludwig Hirt, Frankfurt/M. 1987 [1985]. 186 Das rhetorische Zeitdenken entspricht am ehesten demjenigen Pindars, das eine Spannung zwischen crónoV und kairóV betont. Theunissen bemerkt: »Als Herrschaft wurde im frühen Griechentum eben die den Menschen zuvorkommende Realität der Zeit erfahren.« Der kairóV wäre demgegenüber »das eindeutigste
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zündet sich demgegenüber am kairóV, am unverfügbaren Punkt der Entscheidung im Zentrum jeder menschlichen Praxis, der den vermeintlich statisch-geschlossenen kósmoV immer schon auf ein geschichtliches Werden hin öffnet. Im kairóV vermag sich die menschliche Praxis ohne Rekurs auf ein unvordenkliches Außen selbst zu überschreiten, sich ohne vorbestimmtes Ziel auf eine offene Zukunft hin zu entwerfen. Ein Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit zeigt sich zunächst darin, dass die Rhetoriker ein ausgeprägtes Sensorium für den Sprachwandel haben. Die »Arten des Sprechens« und die Lexika der gebräuchlichen Worte (Quint. inst. or. II 5, 21) unterscheiden sich, so Quintilian, schon mit dem Ablauf einer Generation. Sprache lässt sich nicht nur in synchroner Hinsicht, etwa als phonetisches und grammatisches System, thematisieren, sondern auch in diachroner Hinsicht als permanente Verwandlung. Quintilian hebt unterscheidet in Hinsicht des Sprachgebrauch bereits zwischen den »antiquos« und den »novos« (Quint. inst. or. II 5, 23) ab. In der Rhetorik werden immer wieder Querelles des Anciens et des Modernes ausgetragen; besonders prominent geworden ist die im 1. Jahrhundert v. Chr. geführte Debatte zwischen Asianismus und Attizismus187, in der sich die Attizisten als Anciens gebärdeten und auf die Reden des Lysias und Isokrates als Stilideale rekurrierten. Neben dem Sprachgebrauch unterliegt aus rhetorischer Sicht auch die Lehre von der Rede einem geschichtlichen Wandel. Rhetorik muss sich, so Isokrates, permanent neu erfinden: »Wissen wir doch, daß auch in den Künsten und in allen anderen Bereichen Fortschritte nicht durch Menschen erzielt werden, die bei den bestehenden Verhältnissen verharren, sondern durch Menschen, die Verbesserungen anbringen und den Mut haben, immer etwas zu ändern, was nicht gut ist.« (Isocr. or. IX 7) Seit Isokrates und Aristoteles reflektiert Rhetorik auf ihre Geschichtlichkeit und nimmt in ihre Lehrbücher die Geschichtsschreibung der eigenen Disziplin mit auf. In Ciceros Brutus, der umfangreichsten überlieferten Rhetorikgeschichte der An-
Beispiel für eine Zeit, die ihre Herrschaftsansprüche ermäßigt und damit von sich aus zur Mitwirkung an ihr einlädt.« (Michael Theunissen, Pindar, a.a.O. 6/7) In Pindars Werk werde, so Theunissen weiter, »das Gesamtkonzept eines Umschlags von der Herrschaft der Zeit zu deren Transzendenz ersichtlich« (A.a.O., 11). 187 Vgl. Ulrich Wilamowitz-Moellendorf, »Asianismus und Atticismus«, in: Hermes 35, 1900, S.1-50.
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tike, wird die Geschichte der Disziplin nicht nur dargestellt, sondern in ihrer Geschichtlichkeit reflektiert. Cicero formuliert mit der Historiographie der Disziplin zugleich eine Kritik der Gegenwart, einer Zeit, die durch »Verödung der Gerichtshöfe und des Forums« (Cic. Brut. 21), geprägt ist. Es geht ihm nicht um die Anhäufung historischen Wissens, sondern um Perspektiven, wie dieses Wissen für die Gegenwart nutzbar gemacht werden. Im Orator schreibt er: »Nicht zu wissen, was vor unserer Geburt geschehen ist, bedeutet lebenslang ein Kind bleiben. Was ist das Leben eines Menschen, wenn es nicht durch die Erinnerung an frühere Geschehnisse mit der Vergangenheit verknüpft ist?« (Cic. or. 121) Nicht nur die Rhetorik als Disziplin und die in einer bestimmten Gegend gesprochene Sprache folgen einer zeitlichen Entwicklung, sondern auch die je einzelne Rede. Wenn Blumenberg Entscheidungszwang und Evidenzmangel als Existentialien der Rhetorik auszeichnet, besagt dies nichts anderes, als dass die Zeit für jede Rede begrenzt ist. Im Gerichtssaal und in der Volksversammlung erfolgt diese Beschränkung durch die Klepsydra, die Wasseruhr.188 Um zu seinem Ziel, der Überzeugung des Publikums, zu kommen, hat der Redner nur bedingt Zeit. Er kann nicht alles vorbringen, muss sich für und gegen bestimmte Punkte, die zum Vortrag gebracht werden könnten, entscheiden. Die von den antiken Theoretikern der Rhetorik freigelegte geschichtlich-praktische Zeit steht, quer zu den Dichotomien, die das moderne Zeitdenken prägen: subjektiv-erlebte und objektiv-physikalische Zeit sowie zyklische und lineare Zeit. Im Ausgang vom kairóV-Denken der Rhetorik lässt sich zeigen, dass Zeit hier weder als physikalische noch als phänomenologisch-psychologische Voraussetzung des menschlichen Tuns begriffen wird. Vergangenheit und Zukunft konstituieren sich für den Rhetor demgegenüber allererst im praktischen Ergreifen des kairóV. Selbstbestimmtes menschliches Handeln erschiene somit, weit davon entfernt, der Zeit in einem einfachen Sinne unterworfen zu sein, als deren Möglichkeitsbedin-
188 In seiner Rede Gegen Ktesiphon (197-198) erwähnt Aischines, dass in jedem Prozess drei Wasseruhren zum Einsatz kommen: eine für die Anklage, eine für die Verteidigung und eine für die Diskussion. Aristoteles bemerkt in seiner Schrift Über die Verfassung der Athener, dass die Menge des Wassers in der Uhr (und damit die zur Verfügung stehende Zeit) dem Streitwert des jeweiligen Falles entspricht (Arist. Ath. Pol. 67).
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gung. Gegenwart im Sinne einer erfüllten Präsenz wäre aus dieser Perspektive keine Unterbrechung einer linearen Sukzession, keine durch den a]iõn bewirkte Zäsur im crónoV, sondern die Setzung von Vergangenheit und Zukunft im Zuge einer Praxis, die sich immer auch von sich selbst unterscheidet.189 Diese sich-von-sich-unterscheidende Praxis korrespondiert mit der Sukzession einer Rede, die sich im Moment der Artikulation vom bereits Gesagten abhebt und zugleich Möglichkeiten des Sagbaren antizipiert. Mit jeder Artikulation geht eine Entscheidung einher, die bewirkt, dass sich in der Sukzession der Rede nicht einfach nur das immer wieder Gleiche wiederholt; die Entscheidungen in der Rede heben die sprachliche Praxis von jeder geschichtslosen Kraft oder Gewalt ab. So setzt die Rede allererst eine Vergangenheit, indem sie, etwa in Form einer Verteidigungsrede, eine Angeklagte von ihren vergangenen Taten entbindet, ihr, wie der Helena im Enkomium des Gorgias, die Schuld nimmt. Während die Gerichtsrede Vergangenheiten schafft, eröffnet die politisch beratende Rede eine Zukunft; sie ruft zu einer Entscheidung auf, die in den erwartbaren Lauf der Dinge ein Ereignis einführt, das die Karten neu mischt. Während die Gerichtsrede strukturell dem Verzeihen entspricht, verweist die politische Rede auf das Versprechen. Vielleicht ließe sich Zeit generell von der Zeit der Rede her verstehen, als grammatisches Tempus, als Möglichkeit der Verkettung sprachlicher Zeichen und dessen, worauf sie verweisen. Diese Verkettung lässt immer auch einen Neubeginn zu, einen Wechsel der Verkettungsregeln, das Verwerfen einer alten Geschichte und das Beginnenlassen einer neuen. Eine solche Möglichkeit des Anfangs verdankt sich nicht zuletzt dem Adressaten der Rede, der gegen das Gesagte intervenieren und protestieren kann, um so einen Neuansatz zu provozieren. Die Alterität des Anderen hindert die Rede daran, sich selbst gleich zu bleiben, sich selbst zu genügen, sich endlos zu wiederholen. In der Möglichkeit der Rede, auf Vergangenheit und Zukunft zu reflektieren, macht sich der Andere als ihr Adressat geltend. Sein Fragen provoziert die Rede dazu, sich anders zu werden oder kurz: sich zu artikulieren, sich über Einschnitte zu reproduzieren, über Lücken zwischen den Worten, Leerstellen, in denen die Responsivität ihren Ort hat, die nichtNotwendigkeit des Fortfahrens auf den gewohnten Gleisen, die Freiheit.
189 Nach Theunissen, der sich hier auf Karl Heim bezieht, ist »Gegenwart das ›Nochnicht-entschieden-sein‹« (Michael Theunissen, Der Andere, a.a.O., 298).
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Als Kette miteinander verknüpfter Äußerungen ist alle Rede für die Rhetorik rhythmisiert und damit zeitlich strukturiert: »Denn zunächst beruhen die Rhythmen auf Zeitabständen« (Quint. inst. or. IX 4, 46). Doch auch das isolierte sprachliche Zeichen, das shmeîon, lässt sich nicht aus der Zeit herauslösen: »denn das Zeichen ist eine Zeiteinheit [nam shmeîon tempus est unum]« (Quint. inst. or. IX 4, 51). Das Zeichen tritt nicht nur in der Zeit auf, sondern stiftet insofern Zeit, als es sich interpretierend auf ihm vorausliegende Zeichen bezieht und zukünftige Zeichen, die an es anschließen, antizipiert. Quintilian analogisiert das Zeichen insofern mit einer Spur, die wir sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft abschreiten können: »Der Fuß eines Läufers hinterläßt eine Spur, auch wenn er nicht auf der Stelle bleibt« (Quint. inst. or. IX 4, 67), eine Spur, die einerseits von seiner vergangenen Präsenz zeugt, andererseits von der Richtung, die er eingeschlagen haben wird. Wenn wir die Spur des Läufers sehen, sehen wir meist nur einen Ausschnitt, der in der Regel weder den Ausgangspunkt noch das Ziel des Läufers umfasst. Wir können eine Richtung erahnen, diese Richtung aber nie eindeutig bestimmen. Vielleicht hat der Läufer sein Ziel noch längst nicht erreicht, vielleicht sind ihm andere in seiner Spur ein Stück weit gefolgt, um plötzlich eine ganz andere Richtung einzuschlagen, neue Spuren zu legen. Im Reden, Schreiben und Lesen werden die Zeichen als Spuren eines Vergangenen und Zukünftigen gedeutet. Für Quintilian geschieht diese permanente Verwebung der Zeiten weitgehend vorbewusst: »Es gibt also eine Art Fertigkeit, ohne zu überlegen, die die Griechen ]álogoV trib®n (Routine) nennen, mit der beim Schreiben die Hand dahineilt und mit der beim Lesen die Augen ganze Zeilen mit ihren Betonungen und Übergängen erfassen und schon das Folgende sehen, ehe sie das Vorhergehende ausgesprochen haben.« (Quint. inst. or. X 7, 11) Im Reden, Schreiben und Lesen ist sich das Subjekt immer ein wenig voraus. Es antizipiert, bezieht die Zeichen im Moment ihres Gelesen- und Geäußertwerdens auf andere, an es anschließende Zeichen, auf mögliche Zukünfte. Bedeutendte Überlegungen zum antiken Zeitdenken hat neuerdings Michael Theunissen in seiner monumentalen Pindar-Studie vorgelegt. Der 190 Odendichter Pindar hat, wie wir an späterer Stelle sehen werden , in seiner Betonung der Bedeutung der Göttin Peitho die rhetorische Theorie des
190 Vgl. Kapitel 5.2.
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peíjein wesentlich inspiriert. Theunissens Überlegungen zur Pindar gehen an keiner Stelle explizit auf die rhetorische Tradition ein, helfen aber, das Zeitdenken der Rhetorik zu verstehen. Der Berliner Philosoph deutet das Zeitdenken der griechischen Antike aus dem komplexen Zusammenspiel von crónoV (die leere Zeit, die Dauer oder die zu lange Zeit, unter deren abstrakter Herrschaft die Menschen leiden), a]iõn (die volle Zeit, ewige Zeit oder Weltzeit) und kairóV (die Zeit zu oder für etwas; das, was an der Zeit ist; die qualitativ erfüllte Zeit191), drei Zeitformen, die nur dort, wo sie interagieren, eine geschichtliche Zeit als Denkmöglichkeit aufscheinen lassen. Theunissen konstruiert den Übergang von der Archaik zur Klassik im Werk Pindars als Übergang von der Herrschaft der Zeit in Gestalt des crónoV zur Aufhebung dieser Herrschaft im kairóV; den kairóV expliziert 192 er als immanente Transzendenz des crónoV, als eine Transzendenz, die selbst nur zeitlich, als »Wende der Zeit«, gedacht werden kann.193 Diese
191 »Der Kairos ist der griechischte aller griechischen Zeitbegriffe, sofern in ihm Zeit sich am wenigsten von ihren Inhalten abscheiden lässt. […] Der Kairosbegriff ist nämlich nicht auf gleichgültige Inhalte zugeschnitten. Von einem Kairos sprechen wir vernünftigerweise nur in Bezug auf Situationen, in denen es gilt, einem objektiv Vorgegebenen von größtem Interesse gerecht zu werden.« (Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 804). 192 Theunissens Pindar-Studie hebt mit folgenden Sätzen an: »Als das übergreifende Geschehen, von dem frühgriechische Dichtung Zeugnis ablegt, wird in den folgenden Interpretationen zu Pindar und zur archaischen Lyrik ein Wandel in Anspruch genommen, der als eine dynamisch verstandene Transzendenz der Zeit von deren basaler Herrschaft ausgeht und auf eine gewisse Freiheit von Zeitherrschaft zugeht. Transzendenz meint da aber keinen Ausbruch aus Zeit schlechthin und in eine vermeintliche Zeitlosigkeit wie in parmenideisch-platonischer Metaphysik, sondern eine Verwandlung herrschender Zeit in eine andere. Darum ist der Wandel eine Wende, eine Umwendung der Zeit in sich selbst.« (Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 1). In seiner Betonung der Immanenz hebt sich Theunissen von Paul Tillichs kairóV-Konzeption ab. Der Theologe deutet den kairóV als Einbrechen des Ewigen in das Zeitliche. (Vgl. Paul Tillich, »Kairos«. Der Widerstreit von Raum und Zeit, in: ders., Schriften zur Geschichtsphilosophie. Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin/New York 1958, 10-28). 193 In der angelsächsischen Diskussion wird die Differenz von crónoV und kairóV immer wieder dadurch illustriert, dass kairóV nicht als time sondern als time to
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Wende der Zeit ist nun aber wesentlich das, was Zeit als Zeit ausmacht. Für diese Wende steht ein kairóV, der die Zeit in der Zeit anhält und neu beginnen lässt. Der kairóV wäre insofern als das Andere des crónoV im crónoV zu bestimmen. Im Corpus Hippocraticum werden kairóV und crónoV in genau diesem Sinne in ein Verhältnis wechselseitiger Implikation gesetzt: »CrónoV ]estìn ]en ä½ kairóV, kaì kairòV ]en ä½ ou crónoV o]u polúV [CrónoV ist das, in dem es kairóV gibt, und kairóV ist das, in dem es wenig crónoV gibt].«194 Die Artikulation oder Unterbrechung des kontinuierlichen Flusses der Zeit setzt diesen allererst in Gang. Nicht nur in der Odenliteratur sondern auch in der Tragödie deutet sich eine Konzeption artikulierter Zeit an, in deren Mittelpunkt ein Augenblick der Entscheidung steht. Als Gewährsmann dafür, dass sich auch in der attischen Tragödie ein Übergang zur geschichtlichen Zeit vollzieht, kann Walter Benjamin herangezogen werden. In seinem Buch über das barocke Trauerspiel zeigt Benjamin, wie der tragische Held des Aischylos aus dem durch eine göttliche Ordnung sanktionierten Schuldzusammenhang des Lebendigen ausbricht. In der griechischen Tragödie kündige sich insofern der Übergang von der Ordnung des Mythos zur Ordnung der Geschichte an. Der Held verleihe dem Jenseits des Mythos in seinem Opfertod schweigend Ausdruck. Dem tragischen Helden als »Erstling«195 fehle noch die Sprache, um die vom Mythos erlöste, geschichtliche Welt darzustellen. Ihm bleibe nur ein Schweigen, welches die Erhabenheit der Tragödie ausmache. Die attische Tragödie bricht aus der Sicht Benjamins die zyklische Zeit des Mythos auf, in welcher der Mensch vollständig in ein Netz übergeschichtlicher
übersetzt wird. (Vgl. John E. Smith, »Time and Qualitative Time«, in: The Review of Metaphysics, 40 (1986), 3-16, hier: 4; ferner Phillip Sipiora, »The Ancient Concept of Kairos«, a.a.O., 2). 194 Corpus Hippocraticum, hrsg. v. William H.S. Jones, Bd. 1, London 1957, 313. – Vgl. hierzu auch Catherine R. Eskin, »Hippocrates, Kairos, and Writing in the Sciences«, in: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos, a.a.O., 97-113; ferner Girogio Agamben, Die Zeit die bleibt, a.a.O., 82. – Auf die wechselseitige Abhängigkeit von kairóV und crónoV verweist auch Pred. 3.1 in der Septuaginta: »Ein jegliches Ding hat seine Zeit [crónoV] und jedes Ding unter dem Himmel hat seine Stunde [kairóV]«. 195 Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. I.1, 203-430, hier: 285/286.
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und undurchschaubarer Notwendigkeiten verstrickt bleibe. Die geschichtliche Zeit setze sich dabei nicht einfach an die Stelle der mythischen Zeit, sondern formiere sich als deren immanente Kritik, die vom Kritisierten ordine inverso abhängig bleibe. So wie der kairóV von Theunissen als immanente Transzendenz des crónoV gedeutet wird, so begreift Benjamin die in der Tragödie aufbrechende Geschichte als immanente Kritik des Mythos. Ein Denken der Offenheit von Geschichte deutet sich auch im Stellenwert an, welcher der Mantik im Kontext der Rhetorik eingeräumt wird. So schreibt Cicero: »Ich denke, daß es die Wahrsagekunst, welche bei den Griechen mantik® heißt, wirklich gibt [...]. Denn wenn wir zugestehen, daß es Götter gibt und daß durch deren Geist die Welt geleitet wird, ferner daß sie für das Menschengeschlecht sorgen und in der Lage sind, Zeichen für künftige Ereignisse zu geben, so sehe ich keinen Grund, die Existenz der Mantik zu bestreiten.« (Cic. de leg. II 13, 32) Mantik lässt sich innerweltlich als Situationshermeneutik oder -semiologie deuten. Cicero selbst hat einen Traktat mit dem Titel De divinatione geschrieben. Mit seinem Zugeständnis, dass die Mantik eine legitime Rolle zu spielen vermag, will er nicht sagen, dass der Lauf der Dinge festgelegt ist. Die Götter geben eine Richtung vor und setzen Zeichen, die sich deuten lassen. Der Mensch kann Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen. Tragödien wie König Ödipus zeigen, dass auch die Deutung der Zeichen noch einmal scheitern kann: Die Götter könnten auch die Ergebnisse der Deutung der Zeichen festgelegt haben. Doch das scheint ein Extremfall zu sein. Im Prinzip ist eine Mantik möglich und sinnvoll. Der Götter sind viele, sie ändern ihre Meinung und streiten sich – nicht zuletzt um die Angelegenheiten der Menschen. Bereits im doppelten Ausgangspunkt griechischen Philosophierens, bei Parmenides und Heraklit, werden zwei Fassungen des Zeitproblems präsentiert, die sich in größtmöglichem Gegensatz zueinander befinden und in deren Spannungsfeld sich das gesamte weitere Zeitdenken der Griechen bewegt.196 Während Parmenides die Zeitlichkeit als bloßen Schein gegenüber einem zeitlosen Sein abwertet, trägt Heraklit eine polemologisch-dynamistische Kosmologie vor, die alles Sein einem vorgängigen Werden unterstellt. Die rhetorische Tradition weist in ihrer Entdeckung der geschichtlichen Dimension große Affinitäten zu Heraklit auf; Platon, der seine Philo-
196 Vgl. Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, a.a.O.
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sophie der Zeit im Timaios vorträgt, schließt sich demgegenüber eher an Parmenides an. Zeit gilt ihm als sekundäres Merkmal eines an sich überzeitlichen kósmoV; sie zeige sich an der bzw. als Bewegung der Himmelskugel. Für Aristoteles gilt Zeit demgegenüber als Zählprozess: Sie »kennzeichnet« Bewegung und ist deren »Zahl« (Arist. Phys. IV 220b); eine objektive Realität kommt ihr darüber hinaus nicht zu. Platon und Aristoteles bereiten den modernen Begriff einer semantisch leeren, messbaren Zeit vor, der in der Neuzeit in Konkurrenz zur geschichtlichen Zeit tritt. Die Bifurkation zwischen Philosophie und Rhetorik in der Antike lässt sich von hier aus auch als eine Bifurkation zwischen einer geschichtlichen und geschichtslosen Zeitauffassung beschreiben. Während die Rhetorik Zeit von menschlichen Interventionen abhängig macht, geht die Zeit als Kontinuum und Verlauf aus der Sicht der Philosophie den menschlichen Aktivitäten voraus. Während der Mensch aus der Sicht der Rhetorik und der Tragödie gerade dadurch Zeit stiftet, dass er ihren Verlauf unterbricht, dass er neu beginnt, legt die Philosophie Zeit als Kategorie oder Anschauungsform der menschlichen Praxis zugrunde. Die Rhetorik entwickelt nicht nur ein allgemeines Geschichtsdenken, sondern bemüht sich darüber hinaus auch um eine Klärung der immanenten Zeitlichkeit der Zeichen, auf die wir bereits eingegangen sind, sowie der Reden und Figuren. Auch die vollständige Rede spannt sich zwischen zeitlichen Marken auf. Die Arbeitsschritte des Rhetorikers, inventio, dispositio, elocutio, actio und memoria, stecken eine Zeitachse ab, in deren logischem Zentrum die actio steht, die Gegenwart des Geäußertwerdens. Aber auch in sich trägt jeder dieser Arbeitsschritte einen zeitlichen Index. Die inventio oder Auffindung des Stoffes hat eine wesentlich antizipatorischen Charakter. Sie berührt sich eng mit der Phantasie und Einbildungskraft, zwei Ver197 mögen, die sie präfiguriert. In der inventio vergegenwärtigt sich Zukunft. Die dispositio oder Gliederung artikuliert oder verzeitlicht ein gedankliches Kontinuum. Die elocutio handelt von den Tropen als Instanzen der Verzeitlichung von Rede. Wie bereits zitiert, zeichnet sich eine gute Rede für Iso-
197 Zum Verhältnis von inventio und Einbildungskraft vgl. Renate Lachmann, »Phantasia, imaginatio und rhetorische Tradition«, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, 245-270; zur inventio allgemein vgl. Janice M. Lauer, Invention in Rhetoric and Composition, Indiana 2004.
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krates durch »Neuheit der Gedanken« (Isocr. or. XIII 13) und insofern auch der Worte aus. Um einer sich wandelnden Welt folgen zu können und um in einer von Erstarrung bedrohten Welt Wandlungen zu bewirken, muss sich unsere Rede permanent neu erfinden. Die Tropen sind die Instanzen dieser Erfindung. Sprache muss sich immer wieder anders werden, um dem rhetorischen Gebot der Angemessenheit zu genügen. Die Tropen lassen sich als sprachlich verfasste »Zeitenwenden« deuten, als Versuche, die Diachronie der Rede daran zu hindern zu einem synchronen Sprachsystem zu erstarren. Die actio steht für die höchste Aktualität oder Gegenwärtigkeit, auf die hin alle anderen Bearbeitungsschritte organisiert sind. Cicero zieht aus der rhetorischen Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Hier und Jetzt die Konsequenz, der actio den höchsten Stellenwert innerhalb der rhetorischen Lehre einzuräumen: »Der Vortrag [actio], sage ich, hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung.« (Cic. de or. III 213) Auch der memoria, der Theorie der Erinnerungsorte, wie sie etwa in der anonymen Rhetorica ad Herennium entfaltet wird, kommt eine bedeutende Rolle in der Konstitution antiken Zeitdenkens zu.198 Der Autor ad Herennius bezeichnet die »memoria« auch als »thesaurum inventorum«, als Schatzkammer der aufgefundenen Gedanken (Auct. ad Her. III, 28).199 Er hebt hervor, dass das Gedächtnis mehr ist als das bloße Auswendiglernen des Redeentwurfs. Die Erinnerung ist auf die Findung und Neuerfindung des Stoffes hin angelegt. Memoria verweist auf inventio, welche aus ihr schöpft. Die antihistoristischen Geschichtsauffassungen Nietzsches und Benjamins, die den Gebrauch oder Nutzen des Vergangenen für das je aktuelle Leben ins Zentrum rücken, geben sich von hier aus als genuin rhetorisch zu erkennen. Um den Unterschied zwischen einer Erinnerung als Reproduktion und einer Erinnerung als Aktualisierung auszudrücken, differenziert der Autor ad Herennius zwischen einem »natürlichen« oder eidetischen und einem »künstlichen« Gedächtnis (vgl. Auct. ad Her. III, 28). Der erste dieser beiden Gedächtnistypen ist uns von Gott gegeben, er befähigt uns, bestimmte Ereignisse unserer Vergangenheit ohne Verlust wiederherzustellen. Das künstliche Gedächtnis
198 Vgl. hierzu Frances A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 2001 [1966]. 199 Dem folgt auch Quintilian: »Nicht zu Unrecht heißt das Gedächtnis die Schatzkammer der Beredsamkeit.« (Quint. inst. or. XI 2, 1)
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kombiniert dagegen Versatzstücke einer ständig bedrohten Erinnerung und ordnet sie unter Zuhilfenahme gedachter Örtlichkeiten (Paläste der Erinnerung) an. Dieser zweite Typ des Gedächtnisses rückt Geschichte erstmals in die Perspektive einer Konstruktion und einer kulturellen Aufgabe. Memoria darf dabei nicht nur als kognitive Fähigkeit verstanden werden. Sie strukturiert die klassische Kultur als Ganze, findet ihren Ort nicht nur in den Bearbeitungsschritten des Redners, sondern auch in der Materialität der Polis, die sich damit insgesamt der Rede annähert. Pausanias beschreibt die Stadt Athen als einen Palast der Erinnerung. Als Reiseführer begibt er sich von Gemälde zu Gemälde, von Skulptur zu Skulptur, um so den zugehörigen Mythos erzählen, die Geschichten vergegenwärtigen zu können. Seine Reisen in Griechenland fügen sich so zu einer griechischen Geschichte, die weder chronologisch noch geographisch vorgeht, sondern sich an der geographischen Anordnung der Erinnerungsmale orientiert. Die moderne Zeitauffassung reduziert sich im wesentlichen auf den crónoV; sie entleert, so die These von Niklas Luhmann200, die Gegenwart, verwickelt sich in eine endlose Dialektik von a]iõn und crónoV, von leerer Dauer und ewiger Zeit der Fülle. Gerade im eschatologischen Versuch, Geschichte zwischen erfülltem Ursprung (Paradies) und erfülltem Ende (Apokalypse, Utopie) aufzuspannen, verliert sich die Gegenwart, entwertet sich die Geschichte zu einer bloßen Nach- und Vorgeschichte. Gegenüber dieser, vom frühen Christentum bis zur aktuellen Metaerzählung vom technischen Fortschritt das Abendland dominierenden Zeitvorstellung, deren vermeintlich lineare Sukzession von aufklärungskritischen Geistern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als ewige Wiederkehr des Gleichen, als unendlicher Aufschub der verheißenen Erlösung dechiffriert wird, bietet sich ein Geschichtskonzept erfüllter Augenblicke, wie es im kairóVDenken der antiken Rhetorik vorgebildet wird, als Korrektiv an. Die rhetorische Verweisungszusammenhang von actio, kairóV und Geschichte lässt sich ausgehend von Lacans Theorie des Aktes systematisch weiter explizieren. Wer den kairóV ergreift, wird sich selbst anders. Das Ergreifen des kairóV in der actio unterscheidet sich wie der Lacansche Akt »vom aktiven Eingreifen (der Aktion) dadurch, daß er seinen Träger umformt: Der Akt ist nicht einfach etwas, das ich ›vollziehe‹ – nach dem Akt bin ich buchstäblich ›nicht derselbe wie vorher‹. In diesem Sinne könnten
200 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1998, 997ff.
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wir sagen, daß sich das Subjekt dem Akt eher ›unterzieht‹ (›durch ihn hindurchgeht‹), als daß es ihn ›vollzieht‹.«201 Die rhetorische actio ist mit anderen Worten »monströs«, sie schafft erst nachträglich ihren Urheber. Im Akt der actio kommt es zu einer Inversion der leeren, chronologischen Zeit, zu einer Vertauschung von Ursache und Wirkung. Erst in der Entäußerung, die der sprachliche Akt bedeutet, schafft sich der Redner selbst. Arendt spricht von »Taten und Worten, die dazu da sind, in Erscheinung zu treten, ja die ohne solches Erscheinen nicht einmal sind«202. Auch Schelling schreibt in diesem Sinne: »Der Mensch, der nicht [in seinen sprachlichen Äußerungen, A.H.] sich selbst überwunden, hat keine Vergangenheit, oder vielmehr kommt nie aus ihr heraus, lebt beständig in ihr. Wohltätig und förderlich ist dem Menschen, etwas, wie man sagt, hinter sich gebracht, d.h. als Vergangenheit gesetzt zu haben; heiter wird ihm dadurch die Zukunft und leicht, auch etwas vor sich zu bringen. Nur der Mensch, der die Kraft hat sich von sich selbst [...] loszureißen, ist fähig sich eine Vergangenheit 203 zu schaffen« . Die Zeit als solche wird somit zu einem Produkt unserer sprachlichen Praxis. Trotz ihres Beharrens auf der Geschichtlichkeit der Rede lässt sich eine gewisse Resistenz der Rhetorik gegenüber den Epocheschwellen Antike, Mittelalter und Moderne beobachten. Diese Epochenschwellen strukturieren eher die Philosophie und die Künste als die Rhetorik. Die rhetorische Tradition ist konstanter und damit in gewisser Weise auch ärmer als die philosophische. Bereits in der antiken Rhetorik überwiegen die Kontinuitäten. An Grundeinsichten wie den drei Typen der Rede, den fünf Stufen der Bearbeitung der Rede, den drei Stilarten, den Zielen der Rede, den Typen von Argumenten, Figuren und Tropen halten die Autoren über die Jahrhunderte fest. Auch bestimmte Beispielsätze ziehen sich durch die Tradition. Aristoteles, Cicero und Quintilian sind nicht zuletzt auch Sammler und Bewahrer rhetorischen Wissens. Andererseits ist erst vor dem Hintergrund eines festen Kanons so etwas wie Innovation möglich. So mahnt der Autor ad Herennium den Redner zur Eigenständigkeit. Er solle seine Beispiele nicht nur klassischen Autoren entlehnen, sondern selbst nach neuen und
201 Slavoj Žižek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, a.a.O., 42. 202 Hannah Arendt, Über die Revolution, a.a.O., 122. 203 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, a.a.O. Bd. VIII, 259.
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zeitgemäßen Beispielen suchen. »Das ist ebenso, wie wenn jemand zu den Olympischen Spielen gekommen ist, um am Wettlauf teilzunehmen, und nun startbereit dasteht und diejenigen unverschämt nennt, die schon zu laufen begonnen haben, während er innerhalb der Schranken stünde und anderen erzählte, wie Ladas und Boiscus aus Sikyon gelaufen seien, so behaupten diese da, wenn sie in die Rennbahn der Kunst hinabgestiegen sind, diejenigen, welche sich in dem abmühen, was zur Kunst gehört, handelten unbescheiden, selbst aber loben sie irgendeinen früheren Redner oder Dichter oder eine alte Schrift, so als ob sie nicht wagten, in den Wettstreit der Rhetorik vorzutreten.« (Auct. ad Her. IV 4) Es zählt nur, was zählt, nur das Problem ist das Problem. Und nicht immer fügen sich bewährte Beispiele in die Rede ein; der Redner muss auch erfinderisch tätig sein. Die Inventio, wie sie vom Autor ad Herennium und von Cicero beschrieben wird, ist zunächst eine passivische Tätigkeit. Inventio heißt hier nicht Erfindung, sondern Auffindung. Der Stoff der Rede liegt schon bereit, ist schon da, er muss nur aufgegriffen und angeordnet werden. Doch der inventio kommt auch ein produktiver Überschuss zu. Sie bezieht sich dann nicht nur auf das Auffinden des Stoffes, der in Kollektaneen bereitliegt, sondern enthält auch ein Moment von vorbildloser Produktivität. »Welcher Handwerker hat noch kein Gefäß hergestellt, desgleichen er noch niemals vorher gesehen? [quis non faber vasculum aliquod, quale numquam viderat, fecit?]« (Quint. inst. or. VII 10, 9). Selbst der Töpfer, dem nur ein beschränktes Repertoire von Techniken, Materien und Verfahren zur Verfügung steht, vermag Gefäße zu schaffen, die in einem starken Sinne neu sind. Mit einer um vieles plastischeren Technik, so ließe sich hier zwanglos anschließen, wie derjenigen der Rede, ist erst recht die Möglichkeit einer vorbildlosen Produktivität gegeben; wenn Quintilian also die Redekunst mit der Phantasie in Verbindung bringt, dann muss sich dies nicht auf eine rezeptive Einbildungskraft beschränken. Cicero beginnt das zweite Buch von de inventione mit einem entsprechenden Vergleich. So wie sich Zeuxis von Heraklea, der ein Bildnis der Helena angefertigt hatte, bei fünf Modellen bediente, so habe auch der Rhetor aus vielen Quellen zu schöpfen: »Ich brachte alle Schriftsteller an einem Ort zusammen« (Cic. de inv. II 4). Das neuzeitlich-säkulare Geschichtsdenken verdankt der Zeitkonzeption der antiken Rhetorik wesentliche Impulse; die Entstehung eines Geschichtsbewusstseins korrespondiert im Werk Giovanni Battista Vicos, eines der frühesten Geschichtsphilosophen, mit einer Rezeption der antiken
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Rhetorik. Vico, der im 18. Jahrhundert insbesondere die Ciceronische Rhetorik auf den philosophischen Begriff bringt, greift in seiner Neuen Wissenschaft auf die voraristotelische Bedeutung des peíjein zurück, indem er eine ursprüngliche sprachlich-praktische Welterzeugung postuliert, die er mit der geschichtsbildenden Kraft des Menschen gleichsetzt.204 Vico betreibt Sprachphilosophie als Geschichtsphilosophie. Er zeigt, wie sich der Mensch erst im Medium der lógoi eine Geschichte zu geben vermag und in welchem Maße die Dynamik dieser Geschichte von performativen Kräften abhängig bleibt.
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Rhetorik versteht sich in der Antike immer auch als Bildungsprogramm. Sie bereitet ihre Schüler darauf vor, sich im öffentlichen – politischen, juristischen und religiösen – Leben zu bewähren. Gorgias und Isokrates begreifen sich vor allem anderen als Erzieher. Im Gegensatz zur philosophischen Konkurrenz, die ein paar Straßenzüge weiter ein Subjekt der Innerlichkeit und Kontemplation zu konstituieren sucht, richten sich die Bemühungen der Rhetoriker auf ein sich äußerndes, öffentlich agierendes Subjekt. Die Erziehungsarbeit der Rhetoriker zielt auf die Bildung einer Redeund Überzeugungsfähigkeit, die das Individuum erst zum Subjekt macht. Quintilian, der die Summe des antiken rhetorischen Wissens zieht, entwirft in seinen Institutiones ein Bildungsprogramm, das vom Säuglings- zum Erwachsenenalter reicht. Das Subjekt erscheint hier nicht als Fundament, sondern als Ziel eines Bildungsprozesses. Eine Grundthese der Rhetorik lautet, »dass das menschliche Selbst keine unveränderliche Substanz bildet, sondern persuasiv konstituiert und im rechtverstandenen Sinne eine rhetorische ›Erfindung‹ ist«206.
204 Vgl. Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, a.a.O. 205 Die folgenden Ausführungen decken sich teilweise mit meinem Aufsatz »Theories of Subjection between classical Rhetoric and Psychoanalysis«, in: Jean-Louis Deotte/Alain Brossat/Joyce C.H. Liu/Yuan-Horng Chu (Hg.), Biopolitics and Subjectivation, Paris 2010. 206 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 17
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Die Definition der Rhetorik als Bildungsprogramm bei Quintilian hat allerdings auch kompensatorische Züge. Die Rhetorik verliert in der römischen Kaiserzeit ihre politische Relevanz. Die akademische Welt der Uni207 versitäten avanciert von nun an zu einer Art Ersatzöffentlichkeit. Innerhalb dieser Ersatzöffentlichkeit wird die Rhetorik als Bildungsprogramm auch im Mittelalter und in der Neuzeit zur Bewahrerin einer um ihre politischen Anteile beraubten antiken Tradition. Sie legt so den Grundstein für einen Humanismus, in dessen Zentrum nicht der isolierte, sondern der über sein Redevermögen immer schon auf andere bezogene Mensch steht, für einen Humanismus freilich, der das Konzept der Bildung auf den Erwerb kultureller, nicht dagegen politischer Kompetenzen beschränkt. Rhetorik ist wesentlich eine erlernbare Kunst. Die Fähigkeit zu reden wird uns aus rhetorischer Sicht nicht einmalig und vollständig gewährt, was in einer gewissen Spannung zur aristotelischen Definition des Menschen als zÖon lógon Écon steht. Der Mensch bewohnt den lógoV nicht, sondern muss ihn sich ständig aneignen, sich ihm und ihn sich anpassen. Genau diesem Prozess widmet sich die Rhetorik als Bildungsprogramm. Sie vernäht den lógoV mit dem Subjekt. Das Subjekt bildet sich nur, indem es den lógoV realisiert, ihn performiert. Der lógoV wiederum existiert nicht an sich, sondern nur in seinem Performiertwerden. Im Phaidros definiert Platon die Rhetorik als eine qucagwgía diá lógwn, eine Seelenführung durch Reden (Plat. Phaidr. 261a). Die Seele besteht hier bereits, bevor sich die Rede ihrer annimmt. Der lógoV bleibt der Psyche äußerlich. An die Stelle der philosophischen Psyche setzen die Rhetoriker das ]³joV, die Wirkung des Redners als Redender, also die kommunikative Außenseite des Subjets. Wie Andersen treffend bemerkt, ist der »Absender« im Kontext der Rhetorik »ein Teil der Botschaft«208. Von Aristoteles wird das ]³joV unter die drei Mittel gerechnet, die allein uns von
207 Einen vergleichbaren Prozess der Akademisierung kann man auch nach dem Ende der Athener Polis beobachten. Alexander unterwirft 335 v. Chr. die demokratischen Poleis, beendet eine sich an die Ideale der Freiheit und Gleichheit bindende Geschichte, lässt Griechenland allerdings als kulturelles Phänomen wieder auferstehen. Exemplarisch hierfür ist die von seinem Feldherrn Ptolemaios durchgeführte Gründung der Bibliothek in Alexandria, die Bestandteil des Museion war, einer Forschungsstätte, die sich vor allem philologischen Aufgaben widmete. 208 Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik, a.a.O., 41.
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etwas überzeugen können: »Der Charakter des Redners []³joV] ist ein Mittel im Überzeugungsprozess, wenn er seine Rede so vorträgt, daß sie ihn glaubwürdig macht. Ehrenhafte Leute flößen uns nämlich im allgemeinen und besonders in Zweifelsfragen eher und schneller Vertrauen ein. Aber dieses Vertrauen muß durch die Rede selbst bewirkt werden« (Arist. Rhet. I 2,4). Aristoteles hebt das ]³joV gegenüber den beiden anderen Überzeugungsmitteln (pájoV und lógoV) dadurch hervor, dass er ihm die größte Überzeugungskraft zuspricht (vgl. Arist. Rhet. 1356a 13). Parallel dazu heißt es bei Isokrates: »Wer nämlich wüßte nicht, daß Worte angesehener Leute eine größere Überzeugungskraft zu besitzen scheinen als Worte von Menschen mit schlechtem Leumund und daß Beweisgründe, die durch das Leben bestätigt sind, eine größere Wirkung haben« (Isocr. or. XV 278). Wir haben es hier mit einer eigentümlichen Zirkularität zu tun. Das ]³joV wird einerseits als eine Art Image des Redners begriffen, als ein ihm zukommendes Charisma. Gleichzeitig erscheint das ]³joV als etwas, was erst »durch die Rede bewirkt« wird, was eher deren Folge ist als deren Ursache. Cicero vergleicht das ]³joV – in Antizipation der von Sellars und Brandom vorgeschlagenen Theorie einer deontischen Kontoführung – mit dem Geld; so wie das Geld Möglichkeiten zu ökonomischen Transaktionen einräumt, so erlaubt uns das ]³joV bestimmte diskursive Folgezüge. Geld und ]³joV nötigen uns darüber hinaus eine gewisse Verantwortung ab: »Wie es beim Geld jedoch nicht nur eine Methode gibt, es zu erwerben, sondern auch es anzulegen, damit man immer die entsprechenden Ausgaben, nicht nur im Rahmen des Notwendigen, sondern auch in großzügigem Umfang, davon bestreiten kann, so gilt es auch den Ruhm nicht nur methodisch zu erwerben, sondern auch entsprechend anzulegen.« (Cic. de off. II 42) Ein ]³joV hat man nicht einfach in Form eines Besitzes, es existiert vielmehr nur, wenn man es zum Arbeiten bringt. Wie Kapital kann es sich selbst steigern und vermehren. Im ]³joV erscheint das Subjekt nicht als Urheber bestimmter Wirkungen, sondern als Wirksamkeit. In diesem Sinne kritisieren Olbrechts-Tyteca und Perelman das Subjektkonzept der philosophischen Handlungstheorie ausgehend von der Konzeption eines ]³joV. Sie weisen ein Modell zurück, nach dem die Handlung sich zur Person verhält wie die Eigenschaft zum Objekt: »Das mit Hilfe seiner Eigenschaften definierte Objekt liefert das Modell einer Konzeption der Person, die von bestimmten ihrer Handlungen her Stabilität gewinnt, wobei diese Handlungen in Qualitäten und Tugenden umgewandelt werden, die zu einem nicht-
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wandelbaren Wesen zusammengefügt werden.« (NR 417) Die Person wird damit zu etwas Unwandelbarem. Aus rhetorischer Sicht transformiert (oder bildet) sich die Person demgegenüber mit jeder Handlung in einer Art creatio continua. Die Person erscheint eher als Kontext ihrer Äußerungen denn als ihr Urheber (vgl. NR 449): »Liefert also die Person des Redenden einen Kontext zu der Rede, dann bestimmt letzterer die Meinung, die man über sie hegt. Eben das, was die Alten das rednerische Ethos nannten. [...] So bildet das Leben des Redenden, soweit es öffentlich bekannt ist, eine lange Vorrede seiner Rede.« (NR 452/453) Der »Vortrag selbst«, so führt es Quintilian aus, »läßt sich vom Redner nicht trennen« (Quint. inst. or. I 11, 17), er bleibt inkorporiert. »Die Rede, das ist der Mensch selbst«209, wobei die Rede den Menschen nicht nur mit sich identifiziert, sondern ihn auch aus Identifikationen löst. Die Rede identifiziert das Ich nicht nur mit seiner Vorgeschichte, sondern entfremdet es auch konstitutiv von sich selbst: »Niemals ist das Ich-sagende Ich identisch mit dem von ihm benannten.«210 In einem doppelten Sinne »bildet« Rhetorik das Subjekt im Reden: Sie unterweist es in der Kunst, Reden zu halten und lässt es zugleich allererst in seinen Reden entstehen, d.h., in der Öffentlichkeit erscheinen. Das Subjekt geht »aus Prozessen rhetorischer Formung hervor«211, die allerdings nie vollständig determiniert sind. Eigene wie fremde Reden können das Subjekt aus rhetorischer Sicht sowohl frei- wie gefangen setzen. In der archaischen Welt wird das Subjekt noch weitgehend durch Reden anderer determiniert. Es findet sich in fatale Geschichten verstrickt, die es ihm nicht erlaubten, sich zu ihnen zu verhalten. In Orakel- und Göttersprüchen werden Reden über es verhängt. Das archaische Subjekt ist vollständig subjektiviert, Echo und Effekt eines fremden, undurchschaubaren und gewaltförmigen Redens. Mit der klassischen Zeit ändert sich in Lyrik, Tragik und Rhetorik das Verhältnis zum lógoV. Im lyrischen, tragischen und rhetorischen lógoV distanziert sich die Rede zunehmend von sich selbst, wird vom Fatum zur Geschichte, zum Ort einer gewissen Freiheit, die den lógoV zu ergreifen und eigensinnig zu verwenden vermag. Bía wird von Peijõ abgelöst. Das Subjekt entsteht, indem es sich seiner vollständigen Subjektivierung ent-
209 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 37. 210 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, a.a.O., 66. 211 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 50.
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zieht, indem es den subjektivierenden Anruf aufgreift und zu seiner eigenen Sache macht. Ein Urbild dieser sprachlichen Handlungskunst findet sich im listigen Umgang des Odysseus mit seinem Namen in der Höhle des Polyphem (Od. IX 366ff.). Dem Kyklopen, der ihn nach seinem Namen fragt, antwortet der Held, er heiße »oÜtiV«, Niemand oder Keiner (das Indefinitpronomen ist annähernd homophon mit dem Namen Odysseus). Nachdem der Held den Kyklopen, der ihn und seine Gefährten gefangen hält, betrunken gemacht und mit einem glühenden Holzpfahl geblendet hat, ruft dieser die anderen Kyklopen herbei, um ihnen allerdings nur mitteilen zu können, dass Niemand ihm Gewalt angetan habe. Odysseus weist die subjektivierende Frage nach seinem Namen, das »Wer bist Du?« des Zyklopen, zurück; er nennt nicht nur einen falschen Namen, sondern einen solchen, der sich selbst auslöscht und den solchermaßen Benannten vor allen Zugriffen schützt. Niemand hat sich hier schuldig gemacht, an niemandem kann Rache geübt werden. Mit seiner List, sich selbst als Niemand zu benennen, offenbart Odysseus zugleich ein Geheimnis über das Subjekt, das sich nicht essentialistisch (etwa als Träger bestimmter Eigenschaften) definiert, sondern negativistisch: als das Scheitern subjektivierender Anrufungen, als Lücke im symbolischen Raum; in den Worten Pindars: »Was ist ein Jemand? Was ein Niemand? Schattens Traum« [skiâV Ónar]!« (Pind. VIII Pyth. 95-96) Erst nachdem ihm die Flucht gelungen ist (nachdem er sich der Subjektivierung entzogen hat), offenbart Odysseus dem Kyklopen seinen eigentlichen Namen, mit dem Ziel, dass der Kyklop von der Tat erzählen und so zum Ruhm des Helden beitragen soll. Dieser Ruhm gehört zu einer anderen Geschichte, einer erzählbaren, epischen Geschichte. Auch diese Geschichte ist, wie die Kyklopen-Episode selbst zeigt, nicht frei von Gewalt; sie enthält aller212 dings auch ein Potential zu ihrer Distanzierung.
212 Darauf verweisen Horkheimer und Adorno in ihrer berühmten Lektüre der Odyssee. Als Darstellung einer Dialektik der Selbterhaltung begibt sich das Homerische Epos zugleich in eine Distanz zu dieser Dialektik. Sie »entragt« der Kette gewaltsamer Versuche der Eindämmung von Gewalt in einer darstellerischen »Selbstbesinnung, welche Gewalt innehalten läßt im Augenblick der Erzählung. Rede selber, die Sprache in ihrem Gegensatz zum mythischen Gesang, die Möglichkeit, das geschehene Unheil erinnernd festzuhalten, ist das Gesetz des Homerischen Entrinnens.« Als Erzähler seiner Taten tritt Odysseus in eine Distanz zur
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Die antiken Rhetoriker beschreiben die lógoi als Orte der Unfreiheit wie der Freiheit; sie könnten sich einem Diktum Paul Valérys anschließen: »Die Sprache beherrscht mich und ich beherrsche sie.«213 In der mythischen Welt der Archaik wird das Subjekt weitgehend gesprochen und benannt, in seiner heteronomen Geschichte verwirklicht sich das über es Gesagte. Diese absolut performative Kraft des lógoV wird von der Rhetorik nicht verworfen, sondern anerkannt. So wird der Rede bereits vom Autor der Rhetorik an Herennius eine subjektivierende Kraft zugesprochen: »Da wir nun also den Zuhörer belehrbar, wohlwollend und aufmerksam haben wollen, werde ich eröffnen, wie man diese Einstellungen erzielen kann.« (Auct. ad Her. I 7) Der Hörer wird vom Redner also nicht einfach nur als gegeben vorausgesetzt, sondern als etwas begriffen, das durch Rede erzeugt wird. Für die Rhetoriker haben die Reden eine Macht über die Menschen, die sich bis in deren Konstitution hinein erstreckt. Gleichzeitig versucht die Rhetorik als Bildungsprogramm, Freiheitsspielräume im Reden zu eröffnen, die Rede zu entmythologisieren bzw. zu vergeschichtlichen. Auch die Philosophie formiert sich als Kritik der sprachlichen Gewalt des Mythos. Im Gegensatz zur Rhetorik verwirft sie den Mythos allerdings vollständig – um den Preis, die mythische Notwendigkeit durch eine andere, epistemische Notwendigkeit zu ersetzen und damit unwillentlich zu beerben. In ihrem Versuch, die Rede als Ort der Freiheit und Unfreiheit zugleich zu beschreiben, berührt sich die antike Rhetorik mit neueren Diskurstheorien, was es rechtfertigt, an dieser Stelle einen entsprechenden Exkurs einzufügen. Auch die neueren Diskurstheorien, wie sie etwa Louis Althusser, Michel Foucault und Jacques Lacan entwickeln, betonen, dass das Subjekt sprachlich konstituiert wird. Althusser beschreibt diese Konstituierung in Begriffen einer subjektivierenden Interpellation; als Beispiel dient ihm das
bloßen Reproduktion von Gewaltverhältnissen, als deren Verkettung sich die Odyssee lesen läßt. »Das Innehalten in der Rede aber ist die Zäsur, die Verwandlung des Berichteten in längst Vergangenes, kraft deren der Schein von Freiheit aufblitzt, den Zivilisation seitdem nicht mehr ganz ausgelöscht hat.« (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, ›Dialektik der Aufklärung‹ und Schriften 19401950, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften. Bd. 5, Hg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1987, 102). 213 Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O. 489.
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»He, Sie da!« des Polizisten, der auf der Straße einen Passanten anruft und diesen Passanten dabei performativ als potentiell schuldiges, gegenüber der Staatsmacht in einem Rechtfertigungszwang stehendes Subjekt produziert. »Die Ideologie ruft« für Althusser »die Individuen als Subjekte an«215, sie zwingt sie in eine bestimmte Identität, verweist sie auf vorgeschriebene Plätze. Für Althusser reproduziert sich eine den Staatsapparat tragende Ideologie, exemplarisch etwa in der Institution Schule (dem modernen Kyklopen), exakt über solche Akte der Interpellation, der Konstitution von Subjekten als Subalternen. Der Ideologie kommt im Rahmen dieser Konzeption eine quasimythische Totalität zu: »Die Ideologie ist ewig, ebenso wie das Unbewusste ewig ist.«216 Die ideologische Interpellation erlaubt es den Angerufenen nicht, die Anrufung zu distanzieren und zurückzuweisen. Eine solche Zurückweisung würde sie entsubjektivieren, sie in einen Raum des Wahnsinns, der Delinquenz und der Perversion stellen. In vergleichbarer Weise beschreibt Michel Foucault in den Arbeiten seiner
214 Vgl. Louis Althusser, »Über die Ideologie [1970]«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, 140f.: »Wir drücken in dem obigen Satz aus, daß die Ideologie derart ›wirkt‹ oder ›funktioniert‹, daß sie durch eine ganz bestimmte Operation, die wir Anrufung nennen, aus der Masse der Individuen (sie rekrutiert alle) Subjekte ›rekrutiert‹ oder diese Individuen in Subjekte ›verwandelt‹ (sie verwandelt alle). Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizeibeamten vorstellen: ›He, Sie da!‹ Angenommen die vorgestellte Szene spiele sich auf der Straße ab und das angerufene Individuum wendet sich um. Es wird durch diese einfache Wendung um 180 Grad zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkannt hat, daß der Anruf ›sehr wohl‹ ihm galt und ›niemand anders als es angerufen wurde‹. Wie durch Erfahrungen belegt, verfehlen diese praktischen Telekommunikationen der Anrufung praktisch niemals ihren Mann; sei es durch mündlichen Zuruf oder durch Pfeifen, der so angerufene weiß immer, daß er es ist, der gemeint war. Dies ist auf alle Fälle ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein ›Schuldgefühl‹ erklärt werden kann, trotz der Vielzahl der Leute, die ›sich etwas vorzuwerfen haben‹.« – Zur Theorie der Anrufung vgl. ferner Andrea Allerkamp, Anruf, Adresse, Appell. Figurationen der Kommunikation in Philosophie und Literatur, Bielefeld 2005; speziell zu Althusser vgl. 52-58. 215 Louis Althusser, »Über die Ideologie«, a.a.O., 140. 216 A.a.O., 133.
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mittleren Phase das Subjekt als Effekt eines diskursiven Regimes , als Effekt eines »normenden, normierenden, normalisierenden«218 Zwangs der Diskurse, in dessen Internalisierung sich die Gestalt des Subjekts weitgehend erschöpft. Während Althusser und Foucault die quasimythische Macht der Diskurse betonen, hebt Lacan in seiner psychoanalytischen Theorie der Subjektivierung stärker auf die Brüchigkeit von Diskursen ab und formuliert eine rhetorikaffinere Subjekttheorie. Lacans wichtigste Transformation der Freudschen Psychoanalyse besteht darin, dass er sie sprachtheoretisch reformuliert und ihre naturalistischen, mentalistischen und individualpsychologischen Tendenzen dadurch korrigiert, dass er Ergebnisse der Poetik, Rhetorik und Linguistik in sie integriert. Das Unbewusste ist für Lacan wie eine Sprache strukturiert; zugleich gilt ihm die Sprache als die eigentliche Gestalt des Unbewussten.219 Er definiert die Psychoanalyse als ein Projekt, das sich um ein umfassendes Verständnis des Sprechens und der Sprache bemüht; dabei kann er durchaus an Freud anknüpfen. Schon für Freud spielen sprachliche Motive sowohl in der Theorie als auch in der analytischen Praxis eine zentrale Rolle. Die Analyse als solche vollzieht sich als Gespräch. Es geht in der analytischen Situation primär darum, sich anders erzählen zu lernen, sich nicht länger auf die eine Geschichte festgelegt zu sehen, die andere und ich selbst über mich erzählen. Die analytische Sitzung öffnet den Raum für ein Sprechen, das sich nach und nach von bestimmten
217 Auf den ersten Blick scheint Foucault der rhetorischen Tradition insofern nahe zu stehen, als auch für ihn feststeht, »dass Sprechen etwas tun heißt«; dieses »Tun« bedeute allerdings, »einer bereits vorher existierenden Folge von Aussagen [etwas] hinzuzufügen [...], eine [...] Geste zu tun, die Bedingungen impliziert [...], und die Regeln umfasst« (Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M. 1973 [1969], 298). Die sprachliche Handlung reduziert sich für Foucault letztlich in der Aktualisierung der sie bedingenden Regeln, als deren Gesamtheit der Diskurs begriffen werden kann. 218 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/M. 8
1989 [1975], 236.
219 »Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache.« – Jacques Lacan, Das Seminar, Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Olten 1978, 26.
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Fixierungen zu lösen vermag. Es bildet das Subjekt, indem es ihm erlaubt, sich zu seiner Geschichte anders zu verhalten. Seit den frühen 1950er Jahren radikalisiert Lacan den linguistic turn der Psychoanalyse, indem er an den sprachtheoretischen Strukturalismus von Saussure und Jakobson anknüpft. Für Lacan bleibt der Strukturalismus allerdings einem gewissen Transzendentalismus verhaftet. Saussure unterscheidet die langue, die Ebene sprachlicher Tiefenstrukturen, von der parole der Ebene der je konkreten Äußerungsereignisse. Die parole wird dabei in gewisser Weise von der langue hervorgebracht. Lacan bricht mit diesem Transzendentalismus, indem er die Idee einer lalangue einführt, einer hybriden, überkomplexen, von keiner Subjektposition aus beherrschbaren Summe sprachlicher Wirkungen. Das Subjekt wird in diese Summe hineingenommen, es bildet keine vorsprachliche Substanz, sondern eine Folge von sprachlichen Ereignissen, Wendungen und Tropen. Es steht für die Instanz, die es der Sprache erlaubt, sich in sich von sich zu distanzieren: »Ein Signi220 fikant ist, was für einen anderen Signifikanten ein Subjekt vorstellt.« Erst diese Instanz erlaubt es den sprachlichen Zeichen, sich aufeinander zu beziehen. Was ihre Verbindung möglich macht, ist ihre absolute Unterschiedenheit, die von der Instanz des Subjekts eröffnet wird. Im Zentrum der Lacanschen Psychoanalyse steht das kategoriale Dreieck des Realen, Imaginären und Symbolischen. Dieses Dreieck interpretiert Freuds zweite Topik: das Es, das Ich und das Über-Ich. Im Gegensatz zu Freuds Leitbegriffen sind das Reale, das Imaginäre und das Symbolische keine psychischen Kräfte oder subjektiven Vermögen. Sie stehen vielmehr für eine Öffnung der psychoanalytischen Theorie auf die Semiotik. Das Imaginäre siedelt Lacan auf der Ebene des subjektiven Selbstverhältnisses an; es umfasst »die Ordnung der Spiegelbilder, der Identifizierungen und der wechselseitigen Abhängigkeiten«221. Es steht dafür, wie sich das Subjekt selbst gegeben ist, wie es sich erscheint und wie es sich, als »Idealich«, zu erscheinen wünscht. Als bloßer »Schein« und Ausdruck eines narzisstischen Projekts der Selbstsuche ist das Imaginäre bei Lacan immer leicht pejorativ konnotiert, lässt sich aber andererseits nicht auf eine wie auch immer geartete nicht-imaginäre Wirklichkeit überschreiten.
220 Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, a.a.O., 195. 221 Malcolm Bowie, Lacan, übers. v. Klaus Laermann, Goettingen 1997 [1991], 90.
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Das Imaginäre existiert nur aus der Perspektive einer heuristischen Verkürzung: Es verweist immer schon auf das Symbolische, auf die allgemeine, transsubjektive Ordnung der Signifikanten. Erst in der Perspektive des Anderen wird das Ich zum Subjekt. Das Imaginäre findet sich von vorn herein in eine symbolische Ordnung eingeschrieben. Diese expliziert Lacan als selbstdifferentielle Kette von Signifikanten, die sich nur über ihre Unterschiede aufeinander beziehen. Während das Imaginäre einen gewissen Stillstand markiert, ein Gefängnis der Identität darstellt, wird das Symbolische positiv besetzt, es steht für eine offene Dynamik und irreduzible Differenz. Lacan beschreibt das Symbolische wie folgt: »Nichts existiert anders als auf einem unterstellten Grund von Abwesenheit. Nichts existiert außer insofern, als es nicht existiert.«222 Das Symbolische erscheint hier als das Reich der Negativität. Im Symbolischen gilt nicht länger der Satz vom Grund, sondern dessen Gegenteil. Hier ist nur dann etwas, wenn es nicht sein muss, wenn es auf keine Ursache zurückgeführt werden kann. So wie das Imaginäre nur vor dem Horizont des Symbolischen erscheint, bedarf das symbolische Universum umgekehrt des Imaginären, um sich selbst eine gewisse Konsistenz zu geben. Lacan entfaltet eine komplexe Theorie der Subjektivation, in der die Entstehungsgeschichten des Subjekts und der symbolischen Ordnung durcheinander vermittelt werden. Erst indem die selbstbezügliche Bewegung des Subjekts (das Imaginäre) den Strom der Signifikanten kreuzt, gewinnen Subjekt und symbolische Ordnung retroaktiv Kontur. Den Punkt ihrer Durchdringung beschreibt Lacan als Stepppunkt, »durch den der Signifikant das Gleiten der Bedeutung, das sonst unbegrenzt wäre, anhält«223. Dieses Durchsteppen, das Verknüpfen des Symbolischen mit dem Imaginärem, des Selbstverhältnisses mit dem Strom der Signifikanten, geht von der Instanz eines »Herrensignifikanten« aus, dessen Position durch jeden beliebigen Signifikanten eingenommen werden kann. »Klar ist jedoch, [...] daß der Signifikant einen anderen Ort erfordert – den Ort des Anderen, des Anderen als Zeugen [...], damit das Sprechen, das er stützt, lügen kann, das heißt sich als Wahrheit setzen. So ist also die Wahrheit von anderswo her garantiert als von der Realität, die sie betrifft: aus dem Sprechen.«224 Der Herrensignifikant verknüpft das Subjekt mit 222 Jacques Lacan, »Gesprochener Kommentar über die ›Verneinung‹ von Freud«, in: ders., Schriften III, übers. v. Norbert Haas et al., Olten 1980, 201-220, hier: 212. 223 Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, a.a.O., 180.
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224
dem Sprechen.« Der Herrensignifikant verknüpft das Subjekt mit dem symbolischen Universum und schafft beide erst durch diese Verknüpfung. Das Subjekt wäre der retroaktive Effekt dieser Durchsteppung: »Ein Umkehrungseffekt, durch den das Subjekt auf jeder Stufe zu dem wird, was es wie von vornherein schon war, und sich allein im Futurum exactum – es wird gewesen sein – kundgibt.«225 Subjektivierung bedeutet auch für Lacan immer Unterwerfung unter eine symbolische Ordnung, die allerdings, darin hebt sich der Psychoanalytiker von Althusser und Foucault ab, gleichfalls unterworfen bleibt, unterworfen unter die Notwendigkeit, von einem Subjekt anerkannt bzw. gewählt werden zu müssen. Das Subjekt wird somit zu einem Statthalter des Realen, desjenigen, was die symbolischen und imaginären Ordnungen daran hindert, sich zu totalisieren. Von Lacan inspirierte Autorinnen und Autoren wie Judith Butler, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau und Slavoj Žižek setzen an die Stelle einer Theorie des Subjekts eine Beschreibung von Effekten der Subjektivierung, die um eine Konzeption der agency226 ergänzt wird. Gegen den latenten Mechanizismus der Foucaultschen Theorie der Subjektivation und der Althusserschen Theorie der Anrufung weisen sie auf die Mangelhaftigkeit und akosmische Offenheit der symbolischen Ordnung hin; in dem es diese (dem kairóV entsprechende) Offenheit ergreift, konstituiert sich das Subjekt hier allererst. Hegels Definition des Subjekts als »selbstbezügliche Negativität« und Lacans Rede vom »gebarrten Subjekt« erlauben es Butler, Laclau und Žižek, Anrufung und Subjektivation nicht länger in einem kausalistischen Sinne zu verstehen. Zwischen der Subjektivation und dem Subjekt interveniert hier eine Art Übersetzungsunbestimmtheit: Das Subjekt wird zwar durch Subjektivationen hervorgerufen, ist zugleich aber auch in einem wesentlichen Sinne das Scheitern der Subjektivation; in ihm verkörpert sich nicht nur der Triumph der, sondern auch Widerstand gegen die Anrufung. Mit Lacan gesprochen, fungiert das Subjekt als »Antwort des Realen«227,
224 A.a.O., 182. 225 A.a.O., 183. 226 Vgl. Judith Butler, »Competing Universalities«, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, 136-181, hier: 151. 227 Slavoj Žižek, Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, übers. v. Andrea Klocker, Wien 1992, 49
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als Antwort dessen, was sich jeder Symbolisierung entzieht. Als Reales verweist das Subjekt auf den Akt, das Ereignis oder das Unmögliche, auf eine paradoxe Intervention, die das Symbolische unterbricht. Laclau beschreibt das Subjekt treffend als »the distance between the undecidability of the structure and the decision«228; es positiviert eine Unmöglichkeit, bricht eine Struktur in einer von der Struktur selbst ausgeschlossenen Weise auf. Zwar formiert sich das Subjekt nur vor dem Prospekt materialer Bedingungen der Subjektwerdung, diese determinieren es allerdings niemals vollständig oder kausal. Dem entspricht, dass subiectio im Kontext der antiken Rhetorik (vgl. Auct. ad Her. IV 33) auch Einwand bedeuten kann. Das Subjekt wäre von hier aus immer auch als diejenige Instanz zu verstehen, die sich gegen eine symbolische Ordnung behauptet. In einer bestimmten Hinsicht fallen allerdings alle neueren Diskurstheorien hinter die rhetorische Theorie der Subjektwerdung zurück; diese Hinsicht hat etwas mit dem Begriff des Diskurses selbst zu tun, der eine identitätslogische, neukantianische Erblast trägt. Der Diskurs wird insbesondere bei Foucault im Sinne eines Kompetenz-Performanz-Dualismus als quasitranszendentale Struktur gedeutet, die das Feld des Sagbaren vereinheitlicht. Ein Diskurs, so scheint es Foucault zu suggerieren, ist im wesentlichen immer einer, eine monolithische, alternativlose Formation, die regelt, was zu einer bestimmten Zeit jeweils gesagt werden kann und was nicht. Aus rhetorisch informierter Sicht wäre demgegenüber zu betonen, dass wir es zu einem Zeitpunkt nie mit nur einem Diskurs zu tun haben, sondern mit einem komplexen Netz sich widerstreitender Diskurse. Gegen Althusser wäre darauf zu beharren, dass wir nie von nur einer Ideologie, gegen Lacan, dass wir nie von nur einem Symbolischen und einer Signifikantenkette subjektiviert werden, sondern von mehreren, die sich wechselseitig durchsteppen. Das Subjekt wird somit zur Szene eines Konflikts verschiedener Subjektivierungsversuche. Innerhalb der neueren Diskurstheorien hat insbesondere Chantal Mouffe dies betont: »But we are in fact always multiple and contradictonary subjects, inhabitants of a diversity of communities (as many, really, as the social relations in which we participate and the subject
228 Ernesto Laclau, »Identity and Hgemony: The Role of Universality in the Constitution of Political Logics«, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, a.a.O., 44-89, hier: 79.
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positions they define), constructed by a varity of discourses, and precariously and temporarily sutured at the intersection of those subject positions.«229 Darüber hinaus wäre kritisch anzumerken, dass sich die Subjekte in den strukturalistischen Diskurstheorien unmittelbar zum Symbolischen verhalten, sie stehen ihm so einsam gegenüber wie der Einzelne bei Kierkegaard seinem Gott. Ausgehend etwa von der Dialogphilosophie Martin Bubers ließe sich demgegenüber zeigen, dass sich das Verhältnis des Einzelnen zum Symbolischen immer über andere vermittelt. Wir realisieren das Symbolische ausschließlich in Rede und Gegenrede; das Symbolische, der Diskurs oder die Ideologie stehen für einen Horizont geteilter Bedeutungen, Regeln und Werte, der allerdings mit jeder Rede wieder in Frage gestellt oder aufgekündigt werden kann. Die Betonung des Diskurses desensibilisiert uns für diese politische Dimension jeder Kommunikation. In der einzelnen Rede realisiert sich nicht nur ein Diskurs; die Rede vermag einen Diskurs vielmehr immer auch zu reflexivieren, zu problematisieren und zu pluralisieren. Schließlich greift auch das Konzept des Signifikanten als des kleinsten Teilchens des Diskurses bzw. des Symbolischen zu kurz. Das Symbolische – verstanden als Raum intersubjektiv verbindlicher Bedeutungen – setzt sich nicht nur aus einer Klasse von Elementen zusammen; vielleicht lässt es sich überhaupt nicht angemessen als »Raum« beschreiben. Die Rhetorik sieht weder die Stelle des Symbolischen, des Sprachsystems, des Diskurses oder des Lexikons vor, noch die Stelle des Signifikanten. Die eine Einheit wäre aus rhetorischer Sicht zu groß, die andere zu klein. Die Ebene dazwischen wird für die Rhetorik durch tópoi markiert, durch mittlere Bedeutungseinheiten, die sich zu einem Gesamthorizont unbefragter Selbstverständlichkeiten verbinden können, aber nicht müssen. Quintilian bezeichnet die tópoi als »sedes argumentorum, in quibus latent, ex quibus sunt petenda« (Quint. inst. or. V 10, 20), als latente Sitze der Argumente, aus denen diese mit Hilfe des Ingeniums hervorgeholt werden müssen. Tópoi stehen seit Aristoteles für kondensierte Meinungen, deren Zirkulation die Öffentlichkeit ausmacht, die aber keineswegs von allen geteilt werden, noch auch miteinander im Einklang stehen müssen. Die topische Welt der Rhetorik gleicht eher der Welt eines Wittgensteinschen Sprachspielpluralismus als
229 Chantal Mouffe, The Return of the Political, London/New York 2005 [1993], 20.
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einem Foucaultschen Diskurs, dem Symbolischen Lacans oder der Ideologie Althussers. Die tópoi, die nur im Plural möglich sind, umschreiben eine Art offene, zerstückelte Lebenswelt. Die Lebenswelt als Innbegriff sämtlicher Bedeutungen (und damit als ein mit der Ideologie, dem Diskurs und dem Symbolischen verschwistertes Konzept) ist kein großer Behälter, wie das manche Formulierungen von Husserl bis Habermas nahelegen. Sie wäre eher als ein Horizont von Möglichkeiten bestimmter tópoi zu verstehen, sich einander an- oder sich auszuschließen, sich wechselseitig zu stabilisieren oder zu subvertieren. Ein Gespräch, das im wesentlichen darin aufgeht, tópoi aufzurufen und zu verketten, könnte als Konversation begriffen werden. Im Vordergrund steht hier die von Roman Jakobson als phatisch bezeichnete Form der Kommunikation; die Kommunikation dreht sich dann nicht um etwas, sondern wesentlich um sich selbst. Die andere, äußerste Möglichkeit des Gesprächs wäre ein politischer Disput, in dem tópoi miteinander konfrontiert oder sogar in ihrer Geltung hinterfragt werden. Während die Konversation eine Kommunikation um ihrer selbst willen betreibt, stellt der Disput die Bedingungen der Möglichkeit von Kommunikation zur Disposition. Ihre Stabilität gewinnt eine Lebenswelt durch Bahnungen oder Versteppungen von tópoi, die sich immer nur auf Zeit etablieren: »Relative Unbe230 stimmtheit ist geradezu eine Tugend der Topoi.« Von einem dynamischen Gefüge der tópoi oder Sprachspiele, die sich widerstreiten, können wir nicht in gleicher Weise unterworfen werden wie von einem Diskurs. Der Widerstreit der Meinungen trägt sich vielmehr auch in uns selbst aus. Der eine tópoV fungiert dabei als potentielles Korrektiv des anderen. Subjekte sind Attraktoren von tópoi, sie fädeln sie auf, setzen sie in Beziehung und adressieren sie – das macht den tópoV erst zu einem solchen – an andere. Die Möglichkeit von Kommunikation hängt zugleich davon ab, dass ein tópoV geteilt, wie auch davon, dass er anders verwendet, dass die koinwnía in den tópoi koinoí (vgl. Arist. Rhet. I 1, 1358a) aufgekündigt werden kann. Alles, was ist, liegt aus der Sicht der Rhetorik, die damit das phänomenologische und hermeneutische Apriori des Sinns antizipiert, in Form von tópoi vor. Die Rhetorik hat insofern wie die Philosophie, die ihr genau dies zum Vorwurf macht, keinen spezifischen Gegenstand. Alles
230 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 53.
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kann zum Gegenstand der Rede werden, umgekehrt existiert etwas nur dadurch, dass es zumindest potentiell zum Gegenstand einer Rede gemacht werden kann. Als Instanz, die mit den tópoi umgeht, wird von der Rhetorik die inventio angegeben, der erste der fünf Bearbeitungsschritte des Redners. Die inventio hat es mit dem Auffinden der Argumente zu tun. Der Redner erfindet die Argumente nicht aus dem Nichts, sondern geht von den tópoi aus, die er allerdings – darin berührt sich die inventio mit der Einbildungskraft – rekombiniert und transformiert. Vermittelt über diese Kombinatorik bezieht sich eine Rede auf andere Reden, die andere Redner zu anderen Zeiten und an anderen Orten gehalten haben. Die tópoi verbinden alle Menschen mit allen anderen über Gesprächsfäden. Das Gespräch, das wir sind, die öffentliche Kombination und Rekombination der tópoi, kennt, fasst man den Begriff der Sprache nicht zu eng, kein Außen.231 Die Gesprächsfäden kreuzen alle (Sprach-)Grenzen. Mythen, Ideologien und Medien bilden hier allenfalls Gravitationszentren, können aber nicht als Bedingungen der Möglichkeit von Gesprächen angesehen werden. Selbst in unseren Gedanken und Träumen setzen sich die öffentlichen Gespräche fort. Jedem Gedanken haftet ein Moment des Teilens und Adressierens an; ohne dieses Moment wäre er kein Gedanke. Ein Bild erscheint, das auch von anderen gesehen werden könnte. Eine Schlussfolgerung wird gezogen, die auch von anderen geteilt, ein Gefühl stellt sich ein, das auch von anderen empfunden werden könnte. Im Topischen verdichten sich die Berührungsflächen, -zonen, -linien, -punkte zwischen uns und den anderen zu einem Selbstverständlichen, das nicht problematisiert werden muss.
231 Vgl. Mechthild Hetzel/Andreas Hetzel, »Zur Sprache der Sprachlosen. Ebenen der Gewalt in der diskursiven Produktion von Behinderung«, in: Steffen Kitty Herrmann/Sybille Krämer/Hannes Kuch (Hg.), Verletzende Worte. Zur Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld 2007, 127-142.
4. Elocutio: Die Lehre der Formen und Figuren
4.1 R EFLEXIONEN
DER
S PRACHFORM
Die Rhetorik wird seit der römischen Antike auch als ars bene dicendi bezeichnet, als Lehre vom schönen und wohlgeformten Sprechens. Ihre Definitionen als ars bene dicendi und ars persuadendi stehen dabei nicht im Widerspruch, sondern ergänzen sich. Das schöne Sprechen umfasst ebenso das überzeugende, wie das überzeugende Sprechen ein im weiten Sinne schönes Sprechen impliziert. Die Rede überzeugt nicht zuletzt über ihre Form.1 In seiner Sensibilität für die Form gehört das rhetorische Sprechen
1
Für Aristoteles hat das, was »die sprachliche Form [léxiV] betrifft« einen wenn auch »geringen«, so aber doch »notwendigen Anteil in jeder Belehrung« (Arist. Rhet. III 1 1404a). In seiner Einschätzung der Form schwankt der Philosoph. Einerseits weist er darauf hin, dass das »Gerechte« der Rede in der Sache selbst liege, so dass alles, »was über das Beweisen hinausgeht, überflüssig ist« (Arist. Rhet. III 1 1404a); da die Rede andererseits konstitutiv auf den Hörer bezogen sei und dieser sich nicht nur von logischen Beweisen ansprechen lasse, werde die Form zu einem »kunstgemäßen«, entechnischen Überzeugungsmittel. Aristoteles schwankt in Bezug auf die Form ähnlich wie in Bezug auf Pathos und Ethos, rechnet sie aber letztlich dem Bereich des Entechnischen zu, zum Bereich einer intrinsischen Performativität und Wirksamkeit der Rede selbst. Seine ursprüngliche Trias von drei entechnischen Überzeugungsmitteln, ]³joV, pájoV und lógoV, ließe sich also noch um ein viertes, die léxiV, ergänzen. Aristoteles begründet den entechnischen Charakter der Form wie folgt: »Die Rede ist nämlich ein sprachli-
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auch in die Vorgeschichte der Literatur. Gorgias gilt nicht nur als bedeutender Redner und Sophist, sondern auch als Erfinder der griechischen Kunstprosa; sein Schüler Isokrates schreibt das wohl formvollendetste Griechisch der klassischen Zeit: »Seinen hohen Stil kennzeichnen Klarheit und Ebenmäßigkeit mit einer annähernden Gleichheit in der Silbenzahl der Kola (Satzteile), mit Anklängen exponierter Wörter, mit strenger Vermeidung des Hiats (des als unschön empfundenen Aufeinandertreffens von zwei Vokalen in der Wortfuge) und mit wohlklingendem Rhythmus der Kola und Perioden-Enden«2. Isokrates selbst weist darauf hin, dass sein Stil von demjenigen der zu seiner Zeit üblichen Prozessreden abweicht und dass seine Reden den »zu Musikbegleitung verfaßten und rhythmischen Dichtungen ähnlicher sind« (Isocr. or. XV 46). Die Prosa3 der großen Redner greift bewusst sprachliche Mittel der Tragödie, der Chorlyrik und der Odenliteratur4 auf und bemüht sich innerhalb der Praxis wie der Lehre der elocutio5 um eine Sprache auf dem Zenit ihrer Möglichkeiten. Wir wissen, dass Isokrates an einzelnen seiner Reden mehrere Jahre gearbeitet hat (am Panathenaikos, seiner Lobrede auf die Athener Polis, von 342 bis 339 v. Chr.) und dass er, zu dieser Zeit bereits hochbetagt, »mit drei oder vier jungen Leuten«, seinen Schülern, ständig »Verbesserungen an [s]einen Reden vorgenommen« hat (Isocr. or. XII 199). Wir fühlen uns hier unweigerlich
ches Zeichen [shmeîon gàr äóti äo lógoV], so dass sie, wenn sie ihren Gegenstand nicht klar macht, ihre Aufgabe nicht erfüllt.« (Arist. Rhet. III 2, 1404b) 2
Kai Brodersen, »Einführung«, zu Isokrates, Sämtliche Werke, hrsg. v. Peter
3
Zur Bedeutung der Rhetorik für die Ausbildung der antiken Kunstprosa vgl.
4
In Kapitel 5.2 werden wir zeigen, dass es auch einen starken gedanklichen Ein-
Wirth, übers. v. Christine Ley-Hutton, Stuttgart 1992, 1-5, hier: 3. Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, 2 Bde. [1915], München 1995. fluss der Odenliteratur Pindars auf das rhetorische Weltbild gegeben hat. 5
Die elocutio bezeichnet nicht nur die Form im Sinne des verbalen Schmucks, sondern auch die Form als Organon des Ausdrucks und der Veräußerlichung einer Rede: »›Ausdrücken‹ [eloqui] heißt nämlich: alles was man in Gedanken erfaßt hat, zum Vorschein zu bringen und es den Hörern übermitteln, eine Leistung, ohne die das Vorausgehende überflüssig ist und dem Schwerte ähnlich, das noch verborgen ist und in der Scheide festsitzt.« (Quint. inst. or. VIII Prooemium, 15). Die Form der Rede wäre von daher immer auch als Form einer Veräußerlichung zu verstehen, als Form eines Zutagetretens und Sich-Adressierens.
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an das Atelier eines flämischen Barockmalers erinnert, in dem der Meister mit seinen Schülern oft Jahre auf die Vollendung eines Werkes verwendet. Isokrates kommt in der Entstehung der Kunstprosa insofern eine Sonderrolle zu, als er viele seiner Reden von vorn herein auf ihre schriftliche Veröffentlichung hin konzipiert hat. Ihre Verschriftlichung verwandelt die Rede in ein Werk, das immer auch wie ein Kunstwerk rezipiert werden kann. Innerhalb der römischen Rhetorik wird die Formvollendetheit gewöhnlich als latinitas oder urbanitas bezeichnet. Cicero lenkt das Gespräch im Brutus auf eine »hauptstädtische Tönung [urbanitatis color6]« (Cic. Brut. 171), die den Gipfel der grammatischen und rhetorischen Gebildetheit markiere. Auf die Nachfrage seines Gesprächspartners, wie diese Tönung zu definieren sei, antwortet er: »Das weiß ich nicht« (ebd.) und erwähnt im Anschluss, dass sich diese Tönung gerade nicht definieren lasse; sie ist ein »bestimmtes hauptstädtisches Etwas in den Stimmen« (ebd.), ein Timbre, Ton oder Stil, der sich nicht unter Kategorien bringen und noch weniger kodifizieren lasse.7 Dieses »Etwas in den Stimmen« hat seinen Sitz in der Art der Darstellung, im Wie des Redens oder in dessen Form. Ins Auge springt die Form dem Rhetor im Passieren von Sprachgrenzen, etwa im Akt der Übersetzung, der sich nie nur auf das Gemeinte (den semantischen Gehalt) bezieht, sondern immer auch auf die Art des Meinens, einen diskursiv nicht auflösbaren Gehalt zweiter Ordnung. Cicero schreibt: »Ich habe nämlich die berühmtesten und untereinander gegensätzlichsten Reden der zwei redegewandtesten Attiker, Aischenes und Demosthenes, übersetzt; aber ich habe nicht wie ein Übersetzer übersetzt, sondern wie ein Redner [...]. Dabei hielt ich es nicht für notwendig, Wort für Wort wiederzugeben, sondern ich bewahrte die Art der Worte insgesamt und ihre Bedeutung.« (Cic. de opt. gen. I 15). Quintilian fasst, was Cicero hier als »Art der Worte insgesamt«
6
Auch Quintilian erwähnt im Zusammenhang seiner Diskussion der urbanitas ein »toto colore dicere« als deren Kriterium, eine »ganze Färbung« (vgl. Quint. inst. or. VI 3, 107) des Sprechens, die eine unendliche Vielfalt an Schattierungen aufweist und ebenso flüchtig ist wie das Licht.
7
Noch die Sprachlehre von Karl Kraus, des vielleicht formbewusstesten Autors der Moderne, die sich insbeondere auf das unverfügbare Moment des Tons richtet, zeichnet sich ausschließlich in einer Kritik misslungener Rede ab, wird dagegen niemals positiv ausfomuliert oder gar kodifiziert.
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bezeichnet, in musikalischen Metaphern und spricht vom Rhythmus sowie von der Melodie der Rede (vgl. Quint. inst. or. I 10). Die Rhetorik begreift Rede als konstitutiv geformte. Noch die vermeintlich »normale« oder »gewöhnliche« Sprache, auf die sich die Philosophie von Platon bis Austin immer wieder als letztes Maß allen Ausdrucks beruft, wird von der Rhetorik als besondere Form begriffen; jede Natürlichkeit des sprachlichen Ausdrucks gilt den Rhetorikern als hergestellte Natürlichkeit oder verborgene Künstlichkeit (dissimulatio artis): »Ars est celare artem«8, die höchste Kunst der Rede erweist sich darin, die Künstlichkeit des Sprachgebrauchs zu verbergen. Daran, dass Rede durch und durch künstlich ist – hergestellt, konventionell, geschichtlichem Wandel unterworfen – besteht für die Rhetoriker kein Zweifel. Sie teilen nicht die in Platons Kratylos geäußerte Hoffnung, dass sich unsere Worte in der Ordnung des Seins verankern lassen, dass sie in irgendeiner magischen Weise dem Wesen der Dinge entsprechen, einer wie auch immer gearteten Natur gemäß sind.9 Liegt die Kunst der Rede darin, jeden Anschein von Künstlichkeit zu vermeiden, so sensibilisiert uns die Rhetorik als Disziplin umgekehrt für die Kunstmittel, die diesen Anschein erzeugen. In diesem Sinne ließe sich Rhetorik als frühe Gestalt einer kritischen Theorie lesen, der es ebenfalls
8
Diese anonyme, wahrscheinlich postklassische Sentenz wird immer wieder Ovid zugeschrieben. In dessen Liebeskunst heißt es allerdings nur: »si latet ars, prodest« (Ovid ars. am. II 313). Bei Quintilian finden sich folgende Varianten: »nam si qua in his ars est dicentium, ea prima est ne ars esse videatur« (Quint. inst. or. I 11, 3) und »ubicumque ars ostentatur, veritas abesse videatur« (Quint. inst. or. IX 3, 102). Auch von Cicero wird die Rhetorik als ein sich selbst aufhebendes System begriffen. Die Kunst der Rede bestehe gerade darin, die Kunstlehre in der je besonderen Rede unsichtbar zu machen, »möglichst wenig an Kunstfertigkeit [...] zu erkennen [zu] geben« (Cic. de or. II, 153).
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Sokrates’ Dialogpartner im Kratylos, Hermogenes und Kratylos, »gehen von einem wahren Sein der Sachen unabhängig von unserer Beziehung auf sie aus. Daß es ein solches Sein und eine solche Wahrheit gebe, wird von den Sophisten bestritten.« (Tilman Borsche, Was etwas ist, a.a.O., 43). Borsche arbeitet überzeugend heraus, dass der Dialog die Hypothese des Kratylos zerstört, dieses Wahre ließe sich über Namen erschließen, die ihm entsprechen: »Nicht vermittelt durch Namen, sondern unmittelbar durch die Vernunft (nous) erkennen wir« laut Sokrates »die Sachen.« (A.a.O., 59).
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darum zu tun ist, hinter einer vermeintlichen Natur eine sich selbst verleugnende Geschichte freizulegen, die Welt als gemachte, gewordene und veränderbare zu begreifen. Richard A. Lanham weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Neuzeit wesentlich vom prosaischen Stilideal einer größtmöglichen Natürlichkeit besessen war. Dieses Stilideal oder decorum finde seinen medienhistorischen Ausdruck nicht zuletzt im Primat des Buches. Der Text des Buches will nicht in seiner Materialität wahrgenommen werden, sondern als transparentes Medium, durch das wir eine objektive Welt wahrnehmen. Das decorum des Buches werde allerdings heute, in einer Zeit des Auszugs aus der Gutenberggalaxis, abgelöst durch etwas, was Lanham »bi-stable decorum« nennt. Die neuen, elektronischen Medien berücksichtigen, gestalten und reflexivieren die Materialität von Signifikanten, die nicht mehr nur noch als verschwindende Vermittler fungieren, sondern selbst sichtbar werden: »The textual surface has become permanently bi-stable. We are always looking first AT it and the THROUGH ist, and this oscillation creates a different implied ideal of decorum, both stylistic and behavorial.«10 Die Postmoderne und ihre medientechnischen Revolutionen begreift Lanham als Renaissance der Form und des rhetorischen Formbewusstseins. Diese Renaissance verlange, die Rhetorik als »central structure for a central curriculum in the arts and letters«11 zu reetablieren. Rhetorik reflektiert nicht nur auf die Form der Rede, sondern bedient sich darüber hinaus zur Vermittlung ihrer Lehrgehalte auch ganz bewusst verschiedener Redeformen. So bevorzugen Gorgias und Isokrates die Musterrede, Aristoteles den Dialog (Grylos) und das philosophieanaloge System, Cicero den Brief und den Dialog, Quintilian schließlich die Form des Erziehungsratgebers. Darüber hinaus finden sich sehr viele Mischformen wie etwa systematische Traktate, die Reden enthalten oder Reden, in die systematisch argumentierende Passagen eingestreut sind. So beinhaltet das Buch IV der systematisch angelegten Rhetorik an Herennius eine Rede zur Verteidigung der Erfindung eigener Beispiele (im Gegensatz zu solchen, die von »klassischen« Autoren übernommen werden). Die Rede exemplifiziert dabei immer wieder, worüber sie spricht. Hier wie an anderen Stellen appliziert sich Rhetorik auf sich selbst und versucht, ihren eigenen Stilidealen zu entsprechen.
10 Richard A. Lanham, The Electronic Word, a.a.O., 5 11 A.a.O., 16.
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Das Bildungsprogramm der Rhetorik richtet sich nicht direkt auf die Person, sondern auf ihre Redefähigkeit. Tacitus spricht von einer »Kultiviertheit der Worte [cultum verborum]« (Tac. dial. de or. 23, 6), die eine Alternative zur philosophischen (insbesondere stoischen) cultura animi darstellt. Diese Kultur der Worte zeigt sich weniger im Was des Sagens als in seinem Wie. Für Cicero ist es »die Art der Behandlung eines Stoffes [tractatio rerum], die es bewirkt, daß eine Rede bewunderungswürdig wird« (Cic. or. 122) – und damit auch der Redner. Die großen Redner der Antike reklamieren für sich, zu jedem beliebigen Gegenstand sprechen und diesem Gegenstand über die Form des Sprechens Evidenz und Überzeugungskraft verleihen zu können. Die elocutio darf insofern nicht als bloß äußerlicher Schmuck der Rede begriffen werden; sie ist vielmehr ein Überzeugungsmittel sui generis. Die Form überzeugt uns in einer tiefgreifenderen Weise als argumentative Gehalte. An dieser Stelle muss allerdings bemerkt werden, dass der Terminus »Form« bzw. seine Vorläufer morf®, sc²ma und forma in den Schlüsseltexten der antiken Rhetorik keine zentrale Rolle spielen. Gleichwohl ließe sich mit guten Gründen dafür argumentieren, dass diese Texte insgesamt, wie Heinrich Lausberg ausführt, »ein mehr oder minder ausgebautes System gedanklicher und sprachlicher Formen«12 artikulieren. Die Wissenschaft der Rhetorik kann in einer ersten Annäherung als Wissenschaft der sich in Tropen und Figuren manifestierenden sprachlichen Formen verstanden werden. In weit stärkerem Maße als für die Antike gilt das für die Rhetorik unserer Zeit13, wie sie etwa von der Tübinger Rhetorik, der »Allgemeinen Rhetorik« der »Gruppe µ« oder im Werk Paul de Mans repräsentiert wird; diese literarisch ausgerichteten Rhetoriken stehen am Ende eines Jahrhunderte währenden Reduktionsprozesses, der eingehend von Gérard Genette untersucht wurde. Genette rekonstruiert die »Geschichte der Rhetorik von Corax bis heute«14 als Geschichte einer mehrschrittigen Restriktion. Er zeigt zunächst, dass die Lehre von den Tropen bei den klassischen Autoren nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Die Tropen- oder Formenleh-
12 Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, München 71982, 13. 13 Zum Verhältnis klassischer zu modernen Figurenlehren vgl. Annette Norris Bradford, Classical and modern views of the Figures of Speech, New York 1982. 14 Gérard Genette, »Die restringierte Rhetorik«, a.a.O., 230.
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re bildet »ein abgelegenes Fleckchen innerhalb eines riesigen Reiches« . Als Beleg hierfür ließe sich etwa Cicero anführen, welcher eine eingehendere Behandlung der Tropen mit dem Hinweis für unnötig erklärt, dass deren Zahl unüberschaubar groß sei und dass die Grenzen zwischen den einzelnen Typen von Tropen nie klar gezogen werden könnten: »Figuren des Ausdrucks und des Gedankens gibt es fast unzählige.« (Cic. de or. III 200) Auf die ausgiebige Verwendung rhetorischer Fachtermini verzichtet Cicero im Kontext seiner Diskussion der Tropen bewusst. Seine Rhetorik unterscheidet sich in diesem Punkt vollständig von den schier endlosen Tropenkatalogen Lausbergs oder der Gruppe µ. Die neuzeitliche Rhetorik wird, so Genette, zu einer »Neo-Rhetorik«16, einer bloßen Wissenschaft von den Tropen, die sich im 20. Jahrhundert wiederum auf eine Wissenschaft der Metapher reduziere: »Die jahrhundertelang voranschreitende Reduktion der Rhetorik scheint also in eine absolute Wertschätzung der Metapher einzumünden, verbunden mit der Idee einer wesenhaften Metaphorizität der poe17 tischen Sprache und der Sprache überhaupt.« Für den Stellenwert des Formbegriffs hat diese Entwicklung wichtige Konsequenzen. Während die antike Rhetorik sich eher für Formungsprozesse, Transformationen und Performativität interessiert und das schöne Sprechen nur insofern thematisiert, als es auch überzeugt, wird die Form in der gegenwärtigen literarischen Rhetorik, die stark unter dem Einfluss der philosophischen Ästhetik steht, hypostasiert. Im Gegensatz zur Philosophie, welche den Form-Begriff seit Platon innerhalb der Dichotomie von Materie und Form denkt und die Form dabei als aktiv-strukturierendes Prinzip gegenüber der bloß passivischen Materie auszeichnet, begreift die klassische Rhetorik das Feld der Rede eher als Ensemble aus verwickelten Hierarchien von Formen und Formierungsprozessen bzw. -praxen, oder zugespitzt: als ein sich permanent umformendes Feld. Dieses Feld besteht nicht so sehr
15 A.a.O., 230. 16 A.a.O., 231. 17 A.a.O., 248. – Genette selbst plädiert nicht, wie das Zitat nahelegen könnte, für den Primat eigentlicher gegenüber übertragenen Bedeutungen; er möchte die Figurativität der Sprache vielmehr in einem weiteren Sinne als dem einer Metaphorizität verstanden wissen. Die Figürlichkeit der Sprache veranschlagt er als reichhaltiger, differenzierter und komplexer, als es die Rede von einer ursprünglichen Metaphorizität der Sprache nahe legen könnte.
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aus (unverrückbaren, gleichsam ontologisch prästabilierten) Elementen als vielmehr aus Übertragungen, Verschiebungen und Abweichungen: »Sprache ist Übertragung.«18 An den Diskussionen der Verhältnisses von Sprachfigur und Gedankenfigur, grammatischer und rhetorischer Form sowie »eigentlichem« und »übertragenem« Sprechen ließe sich zeigen, dass die rhetorischen Formen sich immer schon auf ein bereits formiertes Feld beziehen; die Rolle der Materie kann hier jeweils nur funktionell und auf Zeit besetzt werden; Stoff, Inhalt oder Materie lassen sich, wie wir bereits in unserer Diskussion des Verhältnisses von res und verbum gesehen haben, nicht stabilisieren und der sprachlichen Form abstrakt gegenüberstellen. Gegen die transzendentalphilosophische Hypostasierung des Gegensatzes von Form und Materie, die auch in die neuere Sprachphilosophie und Linguistik Einzug gehalten hat, ließe sich ausgehend von der Rhetorik ein Modell der Rede als Indifferenzzone von Feld und Form veranschlagen. Die Formen der Sprache werden in der Rhetorik nicht transzendentalisiert, darin unterscheiden sie sich etwa von den Regeln der generativen Transformationsgrammatik oder den pragmatischen Regeln diskursiver Kontoführung, wie sie Robert Brandom unterstellt. Ausgehend von Humboldt lassen sich die rhetorischen Formen als Teil einer »inneren Sprachform« begreifen, einer Selbstbeziehung der Rede, in der sich eine Weltsicht niederschlägt. Die Metaphorik des Inneren soll dabei nicht implizieren, dass sich Rede in einem einfachen Sinn auf ein Außen hin überschreiten ließe. Rednerische Wirkungen gehen über das Zeitigen kommunikativer (illokutionärer oder perlokutionärer) Effekte hinaus. Unser je aktuelles Sprechen transformiert immer auch genau die quasi-transzendentalen Rahmenbedingungen, von denen aus Sprechereignisse im Rahmen der Sprachphilosophie und Linguistik domestiziert werden: mentale Intentionen, diskursive Regeln und außersprachliche Instanzen; hier noch von einem Innen und Außen zu sprechen, wäre sinnlos. Rhetorizität steht für genau diese Transformationsarbeit; rhetorische Formen sind die materiellen Spuren einer konstituierenden und dekonstituierenden Kraft der Rede. Sie binden sich, um einen weiteren Terminus Humboldts aufzugreifen, eng an eine Energetik der Sprache, die heute gewöhnlich unter dem Begriff der Performativität diskutiert wird.
18 Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 542.
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Der Gedanke einer prinzipiellen Figurativität oder Geformtheit der Sprache war den antiken Rhetorikern vertraut19, wurde aber nicht in die Formel eines Primates der übertragenen Bedeutung vor der eigentlichen Bedeutung gekleidet. Eine solche Formel, wie sie in der Moderne immer wieder ausgearbeitet wurde20, würde die von der Philosophie betriebene Kritik der Metapher im Namen eigentlicher Bedeutungen einfach nur umkehren und damit dem Prämissensystem dieser Kritik verhaftet bleiben. So wie die Behauptung einer Einheit von res und verbum im Denken der antiken Rhetoriker keinen einfachen Primat des Wortes über die Sache, mithin keine sprachidealistische Position begründen soll, wird auch das Verhältnis von wörtlicher und übertragener Bedeutung innerhalb der Rhetorik so thematisiert, dass beide Pole eine differentielle, enthierarchisierte, sich wechselseitig formende Einheit bilden. Quintilian kritisiert in diesem Sinne die Unterscheidung von »eigentlich« und »übertragen«, indem er darauf hinweist, dass die Formulierung »›eigentliche Bedeutung‹ selbst nicht nur in einer Bedeutung verstanden« (Quint. inst or. VIII 2, 1) werden kann, sich mithin nicht selbst erklärt. Philosophie unterstellt seit Platon, dass es eine eigentliche, die Tatsachen unmittelbar repräsentierende Sprache gebe, die sich, wie man im 20. Jahrhundert sagen würde, aus empirisch verifizierbaren Elementarsätzen oder clear cases aufbaue. Gegen diese Unterstellung meldet die rhetorische Tradition Zweifel an. So entwickelt Cicero im Kontext seiner Lehre vom Redeschmuck ein gegenüber eigentlichen Bedeutungen skeptisches Argument: Er deutet die metaphorische Übertragung als Zitation eines geläufigen oder eigentlichen Terminus in einem ungewöhnlichen Kontext. Vor ei-
19 Für den Autor ad Herrenius ist »der Gebrauch derartiger uneigentlicher Benennungen [d.h. der Figuren] nicht nur bei Dichtern und Rednern, sondern auch in der alltäglichen Sprache häufig« (Auct. ad Her. IV 43). 20 So etwa von philosophischer Seite bei Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, von literarischer Seite von Stéphane Mallarmé und Paul Celan. Für Gerhard Neumann gibt es nach Mallarmé und Celan »keinen ›Eigentlichkeitsgrund‹ mehr, vor dem sich Formen der Uneigentlichkeit gestalten könnten. Es gibt nur noch jenen Punkt, wo die Sprache unterwegs zur Wirklichkeit, die sie nicht mehr erreicht, verstummt.« (Gerhard Neumann, »Die ›absolute‹ Metapher. Ein Abgrenzungsversuch am Beispiel Stéphane Mallarmés und Paul Celans«, in: Poetica 3 (1970), 188-225, hier: 209).
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ner solchen Verpflanzung ist prinzipiell kein Begriff sicher: »Es gibt nämlich nichts auf der Welt, dessen Bezeichnung, dessen Namen wir nicht in anderem Zusammenhang gebrauchen können.« (Cic. de or. III 547) Jeder Name kann mit anderen Worten immer auch etwas anderes bedeuten, er kann per definitionem missbraucht werden. Seine Bedeutung liegt nicht in ihm selbst, sondern ergibt sich erst aus seiner Verwendung in bestimmten Kontexten, in die hinein er übertragen wird. Quintilian bemerkt: »Wörter sind ja nicht nach ihrem eigenen Wesen gut oder schlecht – denn an sich sind sie nur Klänge –, sondern sind so gut, wie sie passend und treffend oder unpassend gesetzt werden« (Quint. inst. or. X 2, 13). Die Bewegung einer das Wort aktualisierenden Setzung ist somit für jeden Begriff wesentlich. Cicero und Quintilian scheinen hier einer Gebrauchstheorie der Metapher (wenn nicht sogar der Bedeutung) vorzugreifen, wie sie heute (mit anderen21 und voneinander unterschiedenen22 Akzenten) von Davidson23 und Searle24 verfochten wird. Beide Autoren leugnen die Existenz einer gesonderten metaphorischen oder übertragenen Bedeutung; sie gehen davon aus, dass metaphorische Ausdrücke genau das bedeuten, was sie sagen, dass ihre Bedeutung allerdings vom Sprecher oder Autor in einer indirekten Weise
21 Gerald Posselt hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass Cicero und Quintilian kein einheitliches Konzept des »Eigentlichen« kennen; dessen jeweiliger Sinn bleibt bei den römischen Rhetorikern vielmehr immer an eine Ökonomie des Angemessenen und des Schicklichen gebunden. Quintilian unterstreicht eine Mannigfaltigkeit der Bedeutungen des »Eigentlichen«, die von Davidson und Searle gerade eingeebnet wird. Die neuere Sprachphilosophie setzt damit eine Reduktion der Ambivalenz des Eigentlichen (prépon, ]idíon, kúrion usw.) auf das verbum proprium fort, die bereits in der Geschichte der Rhetorik selbst beginnt. – Zum Verhältnis unterschiedlicher Konzepte des Eigentlichen bei Aristoteles vgl. Jacques Derrida, »Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text«, in: ders., Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens et al., Wien 1988 [1972], 205-258, hier: 237/238. 22 Im Gegensatz zu Davidson hält Searle an der Differenz literaler und übertragener Bedeutungen fest. 23 Vgl. Donald Davidson, »Was Metaphern bedeuten« [1978], in: ders., Wahrheit und Interpretation, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1990, 343-371. 24 Vgl. John Searle, »Metapher« [1979], in: ders., Ausdruck und Bedeutung, übers. v. Andreas Kemmerling, Frankfurt/M. 1982, 98-138.
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verwendet wird. Führt man diesen Gedanken weiter, dann kommt man schnell zur Überzeugung, dass sich die Bedeutung eines jeden Terminus über seine Verwendung erschließt – dies ist ja auch der Kern von Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung – und dass wir über keine Kriterien verfügen, zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen Verwendung letztgültig zu unterscheiden. Würden wir versuchen, eigentliche Verwendungen zu definieren, so blieben diese immer von den uneigentlichen Verwendungen abhängig, etwa so, wie Austins clear cases von den misfidelities. Ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit »eigentlicher« Bedeutungsatome klingt im anonymen rhetorischen Traktat peri hypsos (Über das Erhabene) aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert an; dessen Autor führt – im Anschluss an die oben erwähnte ars-est-celare-artem-Diskussion – aus: »Die wichtigste Erkenntnis aber, daß nämlich manche Stileigenschaften allein auf der Natur beruhen, können wir nur aus der Kunstlehre 25 gewinnen.« Und weiter: »Dann nämlich ist Kunst am Ziel, wenn sie Natur erscheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt.«26 Die Nicht-Rhetorizität oder Nicht-Geformtheit der Sprache wird hier nicht nur als Stilideal, sondern, noch deutlicher als bei Cicero und Ovid, selbst als rhetorischer Kunstgriff gedeutet. Die Kunst der Rhetorik bestehe gerade darin, sich im Vollzug der Rede unsichtbar zu machen, zu einer zweiten Natur der Rede zu werden. Die Natur der Rede verdanke sich ausschließlich dem Unsichtbarwerden der Form. Die eigentliche oder natürliche Bedeutung wäre insofern nichts anderes als eine übertragene Übertragung. Hinweise auf die prinzipielle Figürlichkeit der Sprache lassen sich in gewisser Weise auch den Figuren selbst entnehmen. In der Figur manifestiert sich eine auf Dauer gestellte, kodifizierte Veränderung einer sprachlichen Formulierung, wobei diese Veränderung in jeder nur denkmöglichen Richtung und Hinsicht erfolgen kann. Figuren und Tropen (Veränderungen) werden gemäß der rhetorischen Tradition in solche der Wiederholung bzw. Hinzufügung (figurae per adiectionem), der Weglassung (figurae per
25 Longinus, Vom Erhabenen, Griechisch/Deutsch, hrsg. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 2, 3. 26 A.a.O., 22, 1.
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detractionem) und der Umstellung (figurae per ordinem) eingeteilt. Wiederholung, Hinzufügung, Weglassung und Umstellung können nun aber auch als Prinzipien der Bedeutungsbildung schlechthin interpretiert werden. Eine Formulierung kann erst dann etwas bedeuten, wenn sie sich verändern (wiederholen, ergänzen, weglassen, umstellen) lässt, wenn sie im Gebrauch in Bewegung versetzt wird. Bereits die Wiederholung einer Formulierung in einem Satz, einer Rede oder einem Gespräch ist eine Figur. Ohne ihre Wiederholbarkeit bliebe die Formulierung bedeutungslos. Die Figuren der Wiederholung (geminatio, reduplicatio, gradatio, redditio, epiphora...) zeigen allerdings auch, dass jede Iteration mit einer Alteration einhergeht, dass ein wörtlicher oder eigentlicher Sinn, der sich auf die identische Wiederholbarkeit eines Wortes gründen müsste, gerade deshalb nicht möglich ist, weil jede Wiederholung das Wiederholte unwiderruflich verändert. Eine einfache geminatio wie »Daraus kann nimmer, nimmer Gutes kommen« oder »O Dank, Dank« steigert die Bedeutung des wiederholten Terminus und impliziert damit zugleich, dass dieser Terminus allein nicht ausreicht, um das zu bezeichnen, was er sich zu bezeichnen vornimmt. »Nimmer, nimmer« bedeutet etwas anderes als »nimmer«. Die Iteration lässt sich ebenso wenig stabilisieren wie die Alteration. Iteration und Alteration sind an allem Reden beteiligt und machen alles Reden figurativ. Auch im Reden steigen wir, um Heraklit zu paraphrasieren, nie zweimal in den gleichen Fluss. Wolfram Groddeck schreibt in diesem Sinne: »Wenn ein Wort, wie identisch auch immer, in einem Text wiederholt wird, ist es nicht mehr dasselbe Wort. Die Wiederholung ist das Prinzip der Texterzeugung, der sprachlichen Selbstorganisation, an deren Anfang nicht die Einheit, sondern die Zweiheit steht. Es ist vielleicht, in dieser Abstraktheit gedacht, das wichtigste rhetorische Prinzip überhaupt. Man könnte es auch so formulie28 ren: Die Wiederholung ist das Urbild des Anfangs von jeder Rede.« Als Prinzip oder Kraft der rhetorischen Formgebung möchte ich abschließend kurz die Abweichung (abusio oder katácrhsiV) diskutieren. Von den exornationes verborum, den Wortfiguren oder -formen, sagt bereits der Autor der Rhetorica ad Herennium, dass sie »alle auf einer einzigen Art beruhen. Denn ihnen allen ist eigen, daß eine Abweichung von der
27 Vgl. etwa Quint. inst. or. IX 3, 27-28; zusammenfassend vgl. auch Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, a.a.O., 106. 28 A.a.O., 126.
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sonst üblichen Bedeutung der Wörter [ab usitata verborum potestate] vorliegt und die Rede einen anderen Sinn erhält« (Auct. ad Her. IV, XXXI, 42). Abusio, die lateinische Übersetzung der griechischen katácrhsiV, rückt an dieser Stelle explizit ins Zentrum der Figurenlehre. Die sprachliche Form erscheint als Abweichung und Differenz von einem kontrafaktisch antizipierten normalen Sprachgebrauch, oder präziser: als Identität und Differenz von Norm und Abweichung. Form kommt der Sprache nicht von außen zu; meine Rede erhält vielmehr dadurch eine Form, dass ich etwas anders sage, als es zunächst möglich und geboten erscheint. Auch Quintilian leitet die Lehre von den Figuren mit einem – auf den ästhetischen Vorrang der klassischen vor der archaischen Plastik anspielenden – Lob der Abweichung ein: »Der gerade stehende Körper zeigt wohl am wenigsten Anmut: lasse man doch nur das Gesicht geradeaus blicken, die Arme herabhängen, die Füße glatt nebeneinander gestellt: ein starres Werk wird es sein von oben bis unten.« (Quint. inst. or. II 13, 9) Im Anschluss an diese Passage geht Quintilian auf das Beispiel einer berühmten Statue ein, den Diskuswerfer von Myron, der eine, aus der Sicht vermeintlicher Normalität, »verrenkte« und »angespannte« Haltung zeige, aber gerade darin als Kunstwerk überzeuge. Das Gleiche gelte nun von den figurativen Abweichungen der Rede: »Solche Anmut und solchen Genuss bieten die Redefiguren, ob sie nun im Sinne oder im Klang der Worte erscheinen.« (Quint. inst. or. II 13, 11) Auch hier tritt uns die Figur tendenziell als abusio entgegen. Die Katachrese, nicht die Metapher, bildet für Tacitus und Quintilian das Modell der Figurativität schlechthin. Die Katachrese bietet sich nicht nur insofern als Ansatzpunkt einer Theorie der rhetorischen Formgebung an, als sich in ihr das Prinzip der Abweichung verkörpert, sondern auch deshalb, weil sie als »Trope der Performativität«29 interpretiert werden kann. Die Katachrese setzt etwas, wo vorher nichts war. Im folgenden Abschnitt gehen wir auf diesen setzenden oder performativen Charakter näher ein.
29 Vgl. Gerald Posselt, Katachrese. Rhetorik des Performativen, München 2005.
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4.2 D IE M ACHT
DER
T ROPEN
Die beiden wesentlichen Züge, über die sich Rede aus rhetorischer Sicht auszeichnet, ihre Negativität wie ihre Performativität, werden auch im Zusammenhang der Lehre von den Tropen augenfällig. Tropen und Figuren gelten bereits den antiken Autoren nicht nur als bloßer Redeschmuck, sondern als Träger der Macht und Wirksamkeit der Rede. Am Ende des vorigen Kapitels haben wir gesehen, dass Tropen zunächst nichts anderes sind als Abweichungen. In den Tropen verändern sich Laute, Worte, Wendungen, Sentenzen und andere sprachliche Einheiten; sie weichen von einem etablierten Sprachgebrauch ab und konstituieren über diese Abweichung eine neue Bedeutung. Die gewöhnliche, wörtliche oder eigentliche Sprache – die, wie etwa Vico, Gerber und Nietzsche betonen, nichts anderes ist als eine Sprache, die ihre Figurativität vergessen hat – lässt sich immer nur retroaktiv, rückblickend von den Abweichungen, als solche ansprechen. Wenn die Rhetorik insofern von einem figurativen Charakter der Rede insgesamt ausgeht, dann besagt dies, dass sich Rede permanent entwickelt, dass ihr eine wesentliche Diachronie innewohnt, dass sie nie endgültig in einem synchronen Sprachsystem stillgestellt werden kann. Jacques Derrida drückt dieses Sich-anders-Werden der Rede im Konzept einer différance aus, einer ursprünglichen Abweichung, auf das wir im übernächsten Kapitel im Zusammenhang der Thematisierung von Schrift, Stimme und Geste näher eingehen werden. Wie bereits weiter oben im Anschluss an Genette hervorgehoben, hat sich die neuere Rhetorik, insbesondere diejenige des 20. Jahrhunderts, auf eine Theorie der Tropen, speziell der Metaphern, reduziert. Das Feld der Metapherntheorie ist dabei unüberschaubar geworden, die entsprechende Literatur kaum noch zu überblicken.30 Gleichwohl lassen sich zwei Hauptlinien der Metapherndiskussion unterscheiden: Hermeneutische Ansätze
30 Vgl. zusammenfassend die Beiträge in den von Anselm Haverkamp herausgegebenen Sammelbänden Theorie der Metapher (Darmstadt 1983) und Die paradoxe Metapher (Frankfurt/M. 1998), die Monographie von Christian Strub, Kalkulierte Absurditäten. Versuch einer historisch reflektierten sprachanalytischen Metaphorologie (Freiburg 1991), Stefano Cochettis Arbeit Differenztheorie der Metapher (Münster 2004) sowie Anselm Haverkamps Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik (München 2007).
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heben hervor, wie Metaphern Welt in einer fundamentalen und nicht substituierbaren Weise erschließen. Von dekonstruktivistischen Ansätzen wird demgegenüber stärker betont, wie sie Sinn immer auch zu subvertieren vermögen. Beide Paradigmen der Metapherntheorie sind sich weitgehend darin einig, dass sich das »Problem« der Metapher nicht einfach und eindeutig auflösen lässt, dass die Metapher ein permanenter Stachel für die philosophische Reflexion bleiben wird. Eindeutige Definitionen der Metapher scheinen nicht möglich. Die Philosophie kann nicht, so Derrida, »die Metapher selbst benennen, was darauf hinauslaufen würde, sie im stillen 31 Horizont der Nicht-Metapher: im Sein – zu denken.« Auch für Ricœur ist es »unmöglich, von der Metapher metaphernfrei zu sprechen [...]. Einen metaphernfreien Ort, von dem aus man die Metapher und alle sonstigen Redefiguren wie ein dem Blick vorliegendes Spiel betrachten könnte, gibt es nicht«32. Jede philosophische Anstrengung scheint, worauf Blumenberg und Derrida immer wieder verweisen, von Leitmetaphern abhängig zu bleiben, die sich in all ihren Kontextbezügen und Implikationen nie vollständig explizit machen und kontrollieren lassen. Jede Arbeit des Begriffs ruht auf einer, wie Blumenberg formulieren würde, unbegrifflichen Welterschließung, auf metaphorologischen Voraussetzungen, die die Weise unseres jeweiligen theoretischen Weltzugangs vorstrukturieren. Bereits Goethe spricht in einem vergleichbaren Zusammenhang von »Urtropen«33.
31 Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas’«, in: ders., Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 121-235, hier: 171. 32 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, übers. v. R. Rochlitz, München 1986 [1975], 23. 33 In Bezug auf die arabische Dichtung schreibt Goethe: »Hier sieht man, daß die Sprache schon an und für sich produktiv ist, und zwar, insofern sie dem Gedanken entgegenkommt, rednerisch, insofern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch. Wer nun also, von den ersten notwendigen Urtropen ausgehend, die freieren und kühneren bezeichnete, bis er endlich zu den gewagtesten, willkürlichsten, ja zuletzt ungeschickten, konventionellen und abgeschmackten gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orientalischen Dichtkunst eine freie Übersicht verschafft.« (Johann Wolfgang Goethe, »Orientalischer Poesie Urelemente [Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans]«, in: ders., Werke. Weimarer Ausgabe, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919, I Abteilung, Bd. 7, 101-104, hier: 102.
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Im Folgenden werde ich die aktuellen hermeneutischen und dekonstruktivistischen Metapherntheorien vorstellen, um im Anschluss – unter Bezugnahme auf Arbeiten von Judith Butler und Gerald Posselt (aber auch auf antike Quellen) – die von der Hermeneutik wie von der Dekonstruktion praktizierte Bevorzugung der Metapher als Standardmodell der Figurativität zurückzuweisen und stattdessen die Katachrese als diejenige Trope zu diskutieren, in der und an der sich die Performativität und Negativität der Rede am deutlichsten manifestiert. Bereits Aristoteles weist in seiner Rhetorik und Poetik am Beispiel der Metapher auf die welterschließende Macht der Tropen hin. Er fasst den Begriff der Metapher dabei sehr weit und verwendet ihn für übertragenes Sprechen insgesamt. In der Poetik führt er als Beispiel für die Metapher ein pars pro toto an: »Anderes ist metaphorisch [katà metaforán] gemeint, wie z.B.: ›Alle Götter und Menschen schliefen die ganze Nacht.‹ Denn an derselben Stelle sagt der Dichter: ›Wenn er auf die troische Ebene bickte, staunte er über den Schall von Flöte und Syrinx.‹ ›Alle‹ ist hier demnach metaphorisch für ›viele‹ verwendet.« (Arist. Poet. 1461a). In der Rhetorik definiert er die Metapher als einen verkürzten Vergleich: »Auch das Gleichnis ist eine Metapher; denn der Unterschied ist geringfügig: Wenn man nämlich zu Achill sagt: ›wie ein Löwe stürzte er auf ihn‹, ist es ein Gleichnis, wenn aber ›ein Löwe stürzte auf ihn‹, ist es eine Metapher.« (Arist. Rhet. III 3, 1406b) Von den Metaphern behauptet Aristoteles an gleicher Stelle, dass sie »am meisten bewirken [pleîston dúnatai] sowohl in der Dichtung als auch in den Reden« (Arist. Rhet. III 2, 1405a). Die Art ihrer Wirkung besteht für ihn darin, dass sie uns etwas »vor Augen führen« (Arist. Rhet. III 2, 1405b) und zwar, wie der Philosoph in der Poetik präzisiert, eine Ähnlichkeit: »Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag« (Arist. Poet. 1459a), Ähnlichkeiten etwa zwischen den Eigenschaften Achills und denjenigen eines Löwen. Die Metapher leistet insofern bereits für Aristoteles eine fundamantale Welterschließung, als sie, indem sie zwei zuvor unvergleichliche semantische Domänen miteinander vergleichbar macht, einen neuen Aspekt unserer Welt aufscheinen lässt, der sich im bisherigen Lexikon nicht repräsentiert fand. An diese von Aristoteles freigelegte Macht der Metapher schließen sich insbesondere hermeneutische Metapherntheorien an, die betonen, dass in der Metapher nicht nur etwas in der Welt vor Augen geführt, erschlossen
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und sichtbar gemacht wird, sondern ganze Horizonte der Sichtbarkeit eröffnet und transformiert werden. Das welterschließende Potential der Metapher lässt sich dabei in doppelter Weise lesen: rezeptiv, als Umwertung von etwas schon Bestehendem und produktiv, als radikale Neuschöpfung. Die produktive Seite metaphorischer Welterschließung wird etwa von Blumenberg und Ricœur betont. Für beide Autoren reagiert die Metapher nicht einfach nur auf eine sich verändernde Welt, sondern agiert selbst als Kraft der Veränderung. Die Metapher sagt Neues, indem sie, wie Blumenberg angesichts der Quintilianschen Metapher pratum ridet (die Wiese lacht) ausführt, den Bereich des Sinnhaften um etwas Fremdes und Sinnloses supplementiert. Diese Supplementierung läuft nicht auf die Integration des Sinnlosen ins Sinnhafte hinaus sondern auf eine Transformation des Sinnhorizonts. »Was in den Eigenschaften einer Wiese unter objektivem Aspekt nicht vorkommt, wird von der Metapher festgehalten. Sie leistet dies, indem sie die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nicht nur Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst ›Bedeutungen‹ haben.«34 Das Sinn-Inventar der Lebenswelt wird durch die lachende Wiese nicht nur ergänzt, sondern auch disloziert: »Die Metapher [...] ist [...] ›Widerstimmigkeit‹. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgegebene Bewußtsein.«35 Auch für Ricœur zeitigt die Transformationslogik der Metapher zunächst widerstimmige Konsequenzen und ist mit »dem vergleichbar, was G. Ryle einen category mistake, einen Kategorienfehler nennt, der darin besteht, daß ›Tatsachen, die zu einer bestimmten Kategorie gehören, in einer zu einer anderen Kategorie gehörigen Ausdrucksweise‹ dargestellt werden.«36 Jede Metapher geht aus einem Fehler oder einem Missbrauch hervor. Was Blumenberg und Ricœur als Widerstimmigkeit oder Kategorienfehler beschreiben, wird von ihnen zugleich als Gewinn gewertet. Anstatt das Unvertraute unter das Vertraute zu subsumieren, erweist sich die Metapher als eine Synthesis, die, wie die »freie Urteilskraft« Kants, beide Relata enthierarchisiert und transformiert. Sie »hat ihren Platz
34 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979, 79. 35 A.a.O., 78. 36 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, a.a.O., 87.
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genau da, wo Sinn im Unsinn entsteht« , vermittelt zwischen Identität und Andersheit, ohne den Prozess dieser Vermittlung jemals zu einem Abschluss bringen zu können. Insofern vermehrt die Metapher nicht einfach die Bedeutungsmöglichkeiten eines Lexikons um ein neues Element, sondern rückt ein Lexikon als Ganzes in die Perspektive der Fremdheit. Die Metapher verändert das Gefüge der normalen paradigmatischen Beziehungen eines Sprachsystems und erweitert damit den Bereich des Sagbaren: »Wenn es in der Metapher immer eine Verwechslung gibt, wenn man darin eine Sache für eine andere hält und dabei einen kalkulierten Irrtum begeht, so handelt es sich dabei um ein diskursives Phänomen. Um ein einziges Wort in Bewegung zu setzen, muß die Metapher durch eine aus der Art schlagende Zuschreibung ein ganzes Netz von Beziehungen durch38 einanderbringen.« Sie repräsentiert weniger, als dass sie etwas setzt, sie ist eher performativ als konstativ. Was Metaphern repräsentieren, ist ein Neues, das erst in und durch diese Repräsentation Wirklichkeit gewinnt. An der Möglichkeit der Metapher zeigt sich somit erneut die Ungegründetheit der Rede – einer Rede, die sich nicht nur nach der Welt zu richten hat, sondern die Grenzen der Welt redefiniert. Metaphern stellen unsere konventionellen Repräsentationsformen in Frage. In der Abweichung von einem etablierten Sprachgebrauch reflektieren sie auf diesen Sprachgebrauch und zugleich auf sich selbst als Abweichung. Sie drücken in einem Zug einen erfahrenen Ausschnitt der Welt und, in der Reflexion auf diese Ausdrucks- und Repräsentationsleistung, den Modus dieser Welterfahrung aus. Metaphern (und nur Metaphern) zeigen, wie wir die Welt in der Regel erfahren. Diese epistemologische Kraft machen sich Methoden wie die Blumenbergsche Metaphorologie39 zu nutze, an die sich einige interessante neuere Projekte der philosophischen Metapherngeschichtsschreibung40 anlehnen. Die Metapher bezieht sich immer zugleich auf etwas in der Welt und auf unsere Art und Weise, uns sprach-
37 Jacques Lacan, »Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt 1983, 175-215, hier: 192. 38 Paul Ricœur, Die lebendige Metapher, a.a.O., 27. 39 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, a.a.O. 40 Vgl. Ralf Konersmann, (Hg.) Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007.
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lich auf dieses etwas zu beziehen. Für Liebrucks ist die Metapher insofern »die Reflexion des Tuns der Sprache innerhalb der Sprache«41. Sie legt die rednerische Erzeugung von Sinn offen. Indem Metaphern einen Ausschnitt sinnhaft erfahrener Welt mit dem Modus seiner Erfahrbarkeit konfrontieren, sprengen sie einen Sinnhorizont auf und konstituieren neue Sichtweisen und Bedeutungen. Um ihre Adressaten sehend zu machen, muss die Metapher sie zunächst blenden, ihr eingespieltes Vorverständnis von Welt erschüttern. Die »Entdeckungen«, die Metaphern ermöglichen, sind um den Preis einer »Destruktion«42 erkauft; die »Einsichten«, die sie gewähren, resultieren aus einer »Blindheit«43, die sie vorab erzeugen. Dieses Moment der Blendung und Blindheit in der Metapher wird insbesondere von neueren dekonstruktivistischen Literaturtheorien betont und, wie ich kurz zeigen möchte, mit widersprüchlichen Konsequenzen verabsolutiert. Für den dekonstruktivitischen Literaturtheoretiker Paul de Man zeichnen sich alle sprachlichen Zeichen durch ein konstitutives Scheitern aus. Sie versprechen uns einen Zugang zur Welt der Sachen selbst, den sie zugleich verstellen. Insbesondere literarische Texte, die sich gegenüber anderen Texten über ein höheres Maß an Figurativität auszeichnen, misslingen notwendig und werden damit unlesbar. Ausgehend von diesem Scheitern und dieser Unlesbarkeit formuliert de Man eine rhetorische Ideologiekritik, die sich primär auf die philosophische Ästhetik richtet. Deren Vertreter neigen, darin wäre de Man beizupflichten, zu Verallgemeinerungen und Vereinseitigungen. Sie verfügen zumindest tendenziell über feste Kriterien der Unterscheidung von Künstlerischem und Nicht-Künstlerischem, behandeln Werke, statt sie in ihrer Individualität und Fremdheit ernst zu nehmen, als Exemplare und funktionalisieren sie in einem doppelten Sinne. Einerseits soll die Logik, die Kunstwerken attribuiert wird, Lücken im philosophischen System schließen; die gnoseologia inferior Baumgartens, die Urteilskraft Kants sowie der sich selbst anschauende Geist Hegels bilden Schlusssteine in zuvor unfertigen philosophischen Gebäuden; sie kompen-
41 Bruno Liebrucks, Sprache und Bewußtsein. Bd. 1, a.a.O., 482. 42 Vgl. Marianne Kesting, Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste, München 1970, 9. 43 Vgl. Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, New York 1971.
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sieren Desiderate einer rationalistisch verengten Philosophie, die sich über die Aufnahme einer Ästhetik in ihr System selbst zu heilen versucht. Andererseits wird den Kunstwerken in der Ästhetik ein geschichtsphilosophisches Projekt aufgebürdet. Kunst gilt als Organon der Versöhnung in einer von Entfremdung gekennzeichneten Welt; die philosophische Ästhetik entspringt dem Geist einer entzweiten Gesellschaft und fungiert als ideologi44 sche Disziplin par excellence. Die Versöhnungsleistung, die sie dem einzelnen Kunstwerk aufbürdet, präfiguriere immer schon ein restauratives gesellschaftliches Versöhnungsideal. Gegen dieses Ideal, das die Ästhetik spätestens seit Schiller dominiert, macht de Man auf die entzweiende und exzentrische Kraft figurativer Darstellungen aufmerksam.45 Er dekonstruiert einerseits Schlüsseltexte der ästhetischen Tradition, etwa von Kant, Schiller und Hegel, indem er zeigt, dass sie ihrem Anspruch, der Entfremdung zu entkommen, nicht gerecht werden. Andererseits liest er literarische Texte als Artikulationen einer Entzweiung, die sie letztlich unlesbar oder zumindest nur als unlesbare lesbar machen. Seine rhetorische Ideologiekritik bleibt dabei allerdings auf den begrifflichen Rahmen einer im Sinne Genettes »restringierten« Rhetorik beschränkt, einer Rhetorik, die sich in einer Theorie der Tropen erschöpft. De Man richtet sich insbesondere gegen die ästhetische »Ideologie des Symbols«46, die von einer »Einheit zwischen der darstellenden und der bedeutenden Funktion der Sprache«47 ausgeht. Dem entgegen setzt er die Allegorie als Trope des Anders-Sagens: »Während das Symbol die Möglichkeit einer Identität oder Identifikation postuliert, bezeichnet die Allegorie in erster Linie eine Distanz in bezug auf ihren eigenen Ursprung, und indem sie dem Wunsch und der Sehnsucht nach dem Identischwerden entsagt, richtet sie sich als Sprachform in der Leere dieser zeitlichen Differenz ein«48. In der Allegorie entgründe sich Sprache. Allegorische Sprache, wie
44 Vgl. Paul de Man, Aesthetic Ideology, Minneapolis 1997. 45 Vgl. Christoph Menke, »›Unglückliches Bewußtsein‹. Literatur und Kritik bei Paul de Man«, in: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1993, 265-299. 46 Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, übers. v. Jürgen Blasius, Frankfurt/M. 1993, 51. 47 A.a.O., 85. 48 A.a.O., 104.
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sie etwa von der frühromantischen Dichtung praktiziert werde, lasse sich auf keinen Autor und keine objektive Welt zurückführen. Die Allegorie verkörpert für de Man eine der »wesentlichen Möglichkeiten« der Sprache, »und zwar die, welche es ihr erlaubt, das andere zu sagen und von sich selbst zu sprechen, während sie von etwas anderem spricht; immer etwas anderes zu sagen als das, was es zu lesen gibt«49. Neben der Allegorie leistet auch die Ironie eine vergleichbare Kritik der im Symbol intendierten Versöhnung: »Die Ironie [...] enthüllt die Existenz einer Zeitlichkeit, die vollkommen unorganisch ist, da ihre Beziehung zu ihrer Quelle, zu ihrem Ursprung ausschließlich durch Distanz und Differenz charakterisiert ist und sie kein Ende und keine Totalität kennt«50. Allegorie und Ironie gemeinsam ist »ihre Entmystifizierung einer organischen Welt, wie sie von einer symbolischen Form der analogischen Entsprechung oder von einer mimetischen Form der Repräsentation, wo Fiktion und Wirklichkeit noch als übereinstimmend gedacht sind, als gegeben vorausgesetzt wird«51. Als Subjekt (und Objekt) der Ideologiekritik fungiert hier eine als Stellvertreterin unreglementierter Figurativität interpretierte Literatur. Diese zeige die Inkonsistenz und Unvollständigkeit des symbolischen Universums auf. In einer exemplarischen Lektüre von Marcel Prousts Recherche hebt de Man hervor, dass dieser Roman für einen Vorrang der Metapher (die mit dem Symbol assoziert bleibe) über die Metonymie (einer differenziellen Trope, die eher auf Seiten der Allegorie stehe) argumentiere. Aber der Roman könne diese Argumentation nur führen, indem er sich an entscheidenden Stellen bestimmter Metonymien bediene. Insofern basiere er auf einem »Widerspruch«. De Mans Lektüre erinnert hier an das Habermassche Argument eines »performativen Selbstwiderspruchs« (jede Leugnung der universellen Geltung von Argumenten widerspricht sich für Habermas insofern, als sie selbst nur in Form eines Arguments vorgebracht werden könne). Proust, so de Man, behaupte einen Vorrang der Metapher vor der Metonymie, könne diesen Vorrang aber nur unter Zurhilfenahme von Metonymien formulieren.
49 Jacques Derrida, Mémoires. Für Paul de Man, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1988 [1986], 26. 50 Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 120. 51 Ebd.
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Das Problem bei de Mans Lektüre besteht darin, dass es nur dann einen »Widerspruch« zwischen Metapher und Metonymie geben kann, wenn man beide Tropen hypostasiert, sie mithin wörtlich nimmt. De Man verwendet rhetorische Tropen wie wohldefinierte philosophische Kategorien. Insofern steht sein Diskurs der Philosophie wesentlich näher als der Literatur. Er ontologisiert die Tropen, stellt ihre Bewegungen still. Aristoteles wäre in Bezug auf eine mögliche Kategorisierbarkeit sehr viel vorsichtiger. Die Tropen, »Erweiterungen und Verkürzungen und Abwandlungen der Wörter« (Arist. Poet. 1458a) muss man in der Praxis immer »irgendwie mischen« (ebd.), sie lassen sich nicht analog zur Grammatik in ein Raster oder System eintragen. Dies bedingt auch, dass man das Finden von Figuren »nicht von einem anderen erlernen kann«, es ist vielmehr »ein Zeichen von Begabung« (Arist. Poet. 1459a) und Urteilskraft. Ganz ähnlich bemerkt der Autor ad Herrenius: »Für alle diese uneigentlichen Benennungen ist die Einteilung in eine Anleitung schwieriger als ihr Auffinden beim Suchen« (Auct. ad Her. IV, 43). D.h. in der Praxis stellen sich die Tropen unwillkürlich ein, theoretisch lassen sie sich demgegenüber nur schwer oder um den Preis eines abstrakten Formalismus systematisieren. Im Anschluss an Nietzsche weist de Man darauf hin, dass »die Kritik der zentralen Kategorien der metaphysischen Tradition [...]: der Begriffe von Identität und Kausalität, von Subjekt und Objekt, von Wahrheit usw. [...] im rhetorischen Modell der Trope liegt oder, anders gesagt, in der Literatur als der am ausdrücklichsten in der Rhetorik gegründeten Sprache«52. Er setzt »die rhetorische, figurative Macht der Sprache« wie bereits angedeutet »mit der Literatur selber gleich«53. Auffällig ist hier zunächst weniger die Identifikation von Rhetorizität und Literarizität, sondern die dieser noch vorausgehende Identifikation von Rhetorizität und Figurativität. Von der Rhetorik überlebt hier nur die ars bene dicendi, nicht die ars persuadendi, die Lehre von den politischen und agonalen lógoi. Die Rede wandert von der Agora in die auf private Kontemplation verwiesene Literatur ab. Bevor de Man eine Politik der Tropen entfalten kann, bestätigt er eine Tradition der Literarisierung und Entpolitisierung der Rhetorik. Zwar betont auch de Man die performative und persuasive Seite der Sprache, behauptet allerdings, dass mit dem Übergang von einer konstativen zu einer
52 Paul de Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988, 152. 53 A.a.O., 40.
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performativen Sprachauffassung nichts gewonnen sei, da auch die performative Sprache mit einer »referentiellen Funktion«54 einhergehe. Diese referentielle Funktion – Performativa beziehen sich auf etwas im Modus des Setzens – werde durch die figurative Dimension der Rede unterlaufen. »Als Persuasion aufgefasst ist Rhetorik performativ, doch als ein System von Tropen betrachtet dekonstruiert sie ihre eigene Performanz«55. Mit diesem Schritt beraubt sich de Man der Möglichkeit, Figuration als Performanz und Performanz als Figuration zu lesen. Im Neologismus »Performativität« erinnert Austin die von der Rhetorik als wesentlichen Zug allen Sprechens beschriebene dúnamiV, die es unmöglich macht, Sprache im Rahmen einer linguistischen Betrachtung zu vergegenständlichen. Indem ich spreche, geschieht immer zugleich auch etwas anderes; etwas tritt durch mein Sprechen hindurch ein oder auf; etwas am Sagen schickt sich an, über das Gesagte hinauszugehen. Doch dieses Etwas, das sich durch den Vollzug des Sagens hindurch ausdrückt, dieses Andere, hat keinen Ort außerhalb des Sprechens; es fällt zusammen mit seinem Vollzug, seiner Performanz. Figuration und Wirkung, ars bene dicendi und ars persuadendi, die häufig als zwei widerstreitende Ausprägungen der Rhetorik diskutiert werden, kommen in einer von den klassischen Autoren thematisierten dúnamiV zur Deckung. Die Figuren der Rede sind ihren Wirkungen nicht äußerlich, rednerische Wirkungen sind umgekehrt immer schon figuriert. Was sich in der und durch die Metapher überträgt, erschöpft sich nicht in einer gegebenen Bedeutung oder Proposition. Die Trope provoziert und evoziert neue Bedeutungen, sie antizipiert und setzt eher eine Wirklichkeit mitsamt ihren Akzeptanzbedingungen, als dass sie sie voraussetzt. Sie stellt etwas dar, was vor und unabhängig von dieser Darstellung nicht gegeben ist. Das Insistieren der Rhetoriker auf der Unmöglichkeit einer kategorialen Unterscheidung von figürlichem und nichtfigürlichem Sprechen kommt insofern der These Austins gleich, dass alles Sprechen performativ sei. Was konstativ nicht dargestellt werden kann, ist das Darstellen selbst, die elocutio, die Mittel der Darstellung, durch die hindurch und als die sich die Wirkungen der Rede zeigen. Von der Undarstellbarkeit des Darstellens legt die Rhetorik in all ihren Dokumenten Zeugnis ab. Wenn wir das Un-
54 A.a.O., 172. 55 A.a.O., 176.
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darstellbare mit dem Erhabenen assoziieren wollen, dann wäre das rhetorisch Erhabene (äúqoV) im Gegensatz zum Erhabenen der Ästhetik des 18. Jahrhunderts nicht in einem transreflexiven Jenseits der Sprache verortet, sondern in dieser selbst, in der Unhintergehbarkeit ihres Vollzugs. Rede wäre aus der Perspektive der Rhetorik eine prâxiV nur als poíhsiV, sowie umgekehrt, eine poíhsiV nur als prâxiV56: Sie schafft gerade dadurch etwas anderes (oder besser: sich selbst als anderes), dass sie sich vollzieht. Die aristotelische Unterscheidung von poíhsiV und prâxiV, die den Beginn der philosophischen Handlungstheorie markiert, steht gleichzeitig für ein Ende: für das Ende einer rhetorischen Kultur der Performativität, welche das Sprechen noch nicht dem Handeln eines souveränen Subjekts unterstellt. Als zugleich theoretische, praktische und poietische Kunst entzieht sich die Rhetorik, so wie sie etwa Quintilian charakterisiert, als Ganze der Aristotelischen Typologie von Tätigkeitsformen: Sie »betrachtet«, »bildet« und »vollzieht« die Rede in einem; sie ist damit gleichzeitig der »Astronomie« als theoretischer, der »Tanzkunst« als performativer und der »Malerei« als poietischer Kunst verschwistert (vgl. Quint. inst. or. II 18, 1-5). So kann Quintilian insgesamt »zu dem Urteil kommen, dass die Rhetorik im Tun bestehe; denn sie vollzieht das, was zu ihrer Aufgabe gehört [hoc enim, quod est officii sui perficit]« (Quint. inst. or. II 18, 2). Ihr Zweck liegt in ihrem Vollzug; nur im Ausnahmefall der schriftlichen Fixierung und Publikation einer Rede nähert sie sich der poietischen, »auf ein Erzeugnis gerichteten Kunst« (Quint. inst. or. II 18, 5). Eng verschwistert mit der Performativität rhetorischer Rede zeigt sich die Möglichkeit einer katachrestischen »Wortergreifung« (Jacques Rancière) oder »Resignifikation« (Judith Butler), die Möglichkeit einer anderen, überraschenden, gegensinnigen Verwendung, der Etablierung neuer Kontexte der Verwendung einer Äußerung. Bindet man Figurativität dagegen an letzte Prinzipien wie die Metapher und die Metonymie57, dann resultiert
56 Vgl. hierzu Andreas Hetzel, Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, a.a.O. 57 De Man entlehnt die These von einer metaphorischen und einer metonymischen Hauptachse sprachlicher Sinnkonstitution den Arbeiten von Roman Jakobson. Vgl. Roman Jakobson, »Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen (1956)«, in: ders., Grundlagen der Sprache, übers. v. Gorg Friedrich Meier, Berlin 1960, 49-70.
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daraus die abstrakte These einer universellen Literarizität der Sprache, die sich allenfalls selbst zu korrigieren vermag. In diesem Sinne schreibt de Man: »Literatur [...] ist verurteilt [...], für immer die strengste und folglich am wenigsten verläßliche Sprache zu sein, in deren Begriffen der Mensch sich selber benennt und verwandelt«58. Er richtet sich damit gegen »das Ausschließungsprinzip, das angeblich zwischen der ästhetischen Theorie 59 [...] und politische[n] Fragen herrschen soll« . Der Kritik an diesem Ausschließungsprinzip wäre, nicht zuletzt im Ausgang von neueren Arbeiten Jacques Rancières60, entschieden zuzustimmen. Problematisch wird es erst, wenn de Man die ästhetische Theorie als die eigentliche politische Theorie interpretiert, als »kritische Philosophie der zweiten Stufe« oder »Kritik der Kritik«61. Die Rationalität des Metaphorischen erschöpft sich weder in der Konstitution noch in der Subversion von Sinn. Die Metapher beschränkt sich nicht darauf, neue Aspekte an einer bereits erschlossenen Welt aufzuzeigen, sondern fasst eine Welt als Ganze neu. Auf »dem Kulminationspunkt« eines sprachlichen Bildes ist, wie Bachelard bemerkt, »immer ein Exzeß«62. Indem sich ein sprachliches System im Bild von sich selbst distanziert, bringt sich Sprache als ganze neu hervor. Aus figurativer Rede »laufen Wellen von Neuheit über die Oberfläche des Seins. Und die Sprache trägt in sich die Dialektik des Geschlossenen und des Offenen. Durch die sachliche Bedeutung schließt sie sich, durch den dichterischen Ausdruck öffnet sie sich.«63 Die Figur bildet insofern eine zugleich durchlässige und undurchlässige Grenze zwischen »Alt« und »Neu«. Sowohl hermeneutische wie dekonstruktivistische Theorien der Figurativität bürden sich in ihrem Ausgang von der Metapher tendenziell eine
58 A.a.O., 50. 59 Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 59. 60 Vgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übers. v. Maria Muhle, Berlin 2006 [2000]; ders., Politik der Bilder, übers. v. Maria Muhle, Zürich/Berlin 2006 [2003]; ders., Ist Kunst widerständig? Übers. v. Frank Ruda u. Jan Völker, Berlin 2008 [2004]. 61 Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, a.a.O., 60. 62 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, übers. v. K. Leonhard, Frankfurt/M. 1987, 96. 63 Ebd., 220.
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theoretizistische Erblast auf. Während die Metapher für hermeneutische Ansätze etwas vor Augen führt, uns eine Welt erschließt, unterläuft sie aus der Sicht dekonstruktiver Ansätze jede Sinnproduktion und Welterschlie64 ßung. Die Betonung der Unmöglichkeit der Repräsentation, die sich an der Figurativität der Rede festmache, unterstellt die Figuren nach wie vor dem Paradigma der Repräsentation. Diesem Paradigma ließe sich nur entkommen, wenn wir die Tropen als Instanzen eines performativen Setzens begreifen würden. Ansätze dazu finden sich, wie wir gesehen haben, eher in hermeneutischen als in dekonstruktivistischen Ansätzen. Eine Konzeptualisierung der Tropen als Setzung von Rede in der Rede würde nicht länger die Metapher sondern die Katachrese als zentrale Trope auszeichnen. In der neueren rhetorischen Theorieentwicklung hat insbesondere Judith Butler auf die Macht der Katachresen hingewiesen, den Raum der menschlichen Beziehungen und Bedeutugen neu zu definieren, eine Art Neubeginn im Symbolischen zu markieren. Als Beispiel dient ihr die »katachrestische 65 66 Resignifikation« , die die Macht einer subjektivierenden Hasssprache auszusetzen vermag. Zugleich subjektivierende und exkludierende Zuschreibungen wie die des Schwulseins können von den Adressaten dieser Anrufung kritisch angeeignet, gegen den Strich gekehrt und somit katachrestisch resignifiziert werden. Die Selbstdefinition als »schwul« oder »queer« erlaubt es den Homosexuellen, den diffamierenden Begriff in den Ausdruck einer selbstbewussten Lebensweise umzuwandeln, ihn gegensinnig zu verwenden. Diese Operation, so Butler, ist an jeder Stelle eines Lexikons oder Sprachsystems möglich. Zumindest prinzipiell kann in der Sprache alles immer auch anders verwendet oder missbraucht werden. Die Macht von Diskursen, relativ geschlossenen und homogenen Regimen des Sagbaren, bleibt für Butler von der Möglichkeit eines solchen Missbrauchs
64 De Mans Auszeichnung der Metonymie, Allegorie und Ironie gegenüber der Metapher beruht vor allem darauf, dass die drei ersten Figuren das subversive Potential der letzten noch einmal steigern. Damit begreift de Man die drei ersten Figuren in Abhängigkeit zur letzten. Während die Metapher immer auch Sinn zu erzeugen prätendiere, unterliefen Metonymie, Allegorie und Ironie jegliche Sinnproduktion. 65 Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M. 1997 [1993], 310f. 66 Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, a.a.O.
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abhängig. Kein Diskurs lässt sich insofern absolut schließen und totalisieren. In seiner im Jahr 2005 erschienenen Studie Katachrese. Rhetorik des Performativen zieht Gerald Posselt die sprachphilosophischen Konsequenzen aus diesen, bei Butler eher politisch motivierten Befunden. Die große Leistung von Posselts Studie besteht darin, die neueren Diskurse zur Figurativität mit denen zur Performativität zusammenzuführen und die Katachrese als Trope der Performativität zu interpretieren. Er geht davon aus, »daß die allgemeine Möglichkeit des Missbrauchs nicht etwas ist, was in der Gestalt des sprechenden Subjekts von ›außen‹ an die Sprache herantritt, sondern eine allgemeine Struktur markiert, die der Sprache und dem Sprechen selbst inhärent ist.«67 Die Katachrese »supplementiert eine Lücke, einen lexikalischen Mangel in der Sprache«68, sie setzt dort eine Bezeichnung, wo noch keine existiert. Beispiele für Katachresen wären insofern etwa der Flaschenhals, die Motorhaube oder das Tischbein. Der Hals, die Haube und das Bein füllen semantische Leerstellen; die Substantive werden aus ihren angestammten Kontexten an einen neuen Ort versetzt, katachrestisch, entgegen der üblichen Verwendung, gebraucht. Doch die Katachrese kompensiert nicht nur lexikalische Lücken, sondern erzeugt sie in gewisser Weise auch, indeterminiert das Lexikon und den Diskurs. Im Gegensatz zur Metapher, einer Übertragung, »durch die ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird«69, bezieht die Katachrese einen etablierten Ausdruck auf einen abwesenden Ausdruck, auf eine Negativität. Die Katachrese benennt etwas, das sie »durch den Vollzug dieses Benennungsaktes hervorbringt und konstituiert«70. In ihrer performativen Macht bewegt sie sich, wie die angeführten Beispiele zeigen, jenseits der Unterscheidung von Natur und Technik, da sie, wie etwa im Falle der Motorhaube, den Motor anthropomorphisiert und die Haube technisiert. Gleichzeitig zeigt sie sich indifferent gegenüber der Unterscheidung von figuartivem und eigentlichem Sprechen. Posselt bezeichnet diese Indifferenz als den eigentlichen »Skandal« der Katachrese: Diese »steht unentscheidbar zwischen dem gewöhnlichen Wort und der Metapher. Sie ist ein gewöhnlicher Ausdruck, da
67 Gerald Posselt, Katachrese, a.a.O., 9. 68 A.a.O., 19. 69 Ebd. 70 A.a.O., 21.
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sie eine ursprüngliche und genuine Bezeichnung ist; sie ist eine Metapher, da sie auf Übertragung und Ähnlichkeit beruht. Kurz, die Katachrese ist ein eigentlicher Ausdruck, da es keinen anderen Ausdruck gibt, der eigentlicher wäre, und doch ist sie figurativ, da sie immer auf einer tropologischen Bewegung basiert.«71 Als verkörperte Indifferenz von figuartiver und nichtfigurativer Rede sagt die Katachrese, dass es »keine Sprache gibt, in der nichts motiviert ist«, und gleichzeitig, dass es keine Sprache gibt, »in der alles motiviert ist«72. Bei den klassischen Autoren finden sich zahlreiche Belege für ein vorwiegend »katachrestisches« Verständnis der Figurativität der Rede. Von den exornationes verborum, den Stilmitteln des Wortes, sagt der Autor ad Herennium an bereits zitierter Stelle: »Denn ihnen allen ist eigen, daß eine Abweichung [ab usitia potestate] von der sonst üblichen Bedeutung der Wörter vorliegt und die Rede einen anderen Sinn erhält« (Auct. ad Her. IV, 42). Die abusio oder katácrhsiV erscheint hier als Grundmodell der Wortfiguren. Kaikilios von Kaleakte definiert in vergleichbarer Weise: »Eine Figur entsteht, wenn man ein Wort oder einen Gedanken in einer Weise verwendet, die mit der natürlichen Bedeutung nicht übereinstimmt [sc²má ]esti trop e]iV tò m katà fúsin tò t²V dianoíaV kaì léxewV]« (Caecilius 50, 9-12). Man könnte also auch sagen, dass die übertragene Sprache eine in illegitimer Weise verwendete Sprache ist, eine angeeignete, gebrauchte, aktualisierte, zur Rede realisierte Sprache. Jede Verwendung lässt Sprache von sich abweichen, jeder Gebrauch impliziert in einer aksomischen Situation einen Missbrauch. Niemand kann sprechen, ohne dass eine Sprache nicht bei sich bliebe. In der Rhetorik des Aristoteles finden sich die die Tropen (deren Begriff der Philosoph freilich noch nicht kennt) betreffenden Passagen in einer engen räumlichen und logischen Nachbarschaft mit der Lehre der Stilqualitäten und damit auch der Stilfehler. Dieses Nachbarschaftsverhältnis besteht auch in späteren, etwa stoischen Rhetoriken fort. So schreibt Diogenes Laertios in seiner Darstellung des stoischen Sprachdenkens: »Vorzüge der Rede gibt es fünf: reines (gutes) Griechisch, Deutlichkeit, Kürze, Angemessenheit und durchgefeilte Gestaltung. Dabei ist reines (gutes) Griechisch [äellhnismóV] eine Ausdrucksweise, die sich fehlerfrei in der kunstvollen,
71 A.a.O., 19. 72 A.a.O., 36.
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den Schlendrian meidenden Sprachgewohnheit bewegt; Deutlichkeit ist ein Stil, der das Gedachte auf verständliche Weise präsentiert; Kürze ist ein Stil, der gerade das umfasst, was zur Darstellung der Sache notwendig ist; Angemessenheit ist ein Stil, der der Eigenart der Sache angepasst ist; und durchgefeilte Gestaltung ist ein Stil, der die Sprechweise des gemeinen Mannes meidet. Unter den Fehlern [der Rede] ist die fremdländische Ausdrucksweise (barbarismos) ein Stil, der gegen das Sprachempfinden derjenigen Griechen verstößt, die hohes Ansehen genießen (die als die feinen Leute gelten); und Ungrammatikalität (soloikismos) ist eine Rede, die in ihrer Zusammensetzung nicht richtig gefügt ist.« (FDS 594 [= Diocles, ap. Diogenem Laertium VII 59])73 Im Prinzip leiten sich nun alle Tropen von diesen Stilidealen dadurch ab, dass sie von ihnen abweichen ohne abzuweichen. Herodianus, ein Grammatiker des 2. Jahrhunderts n. Chr., schreibt: »In der Rede treten also drei Fehler auf: der Soloikismos, der Barbarismos und die Verwendung eines Wortes in uneigentlicher Bedeutung.« (FDS 597A). Die Definition, die der Grammatiker hier von der dritten Art der Fehlerbildung gibt, deckt sich fast vollständig mit der rhetorischen Definition der Tropen. Für die »uneigentliche Bedeutung« steht bei Herodianus Âkurología, welches wörtlich »sich der Herrschaft entgegensetzend« bedeutet. Was für den Grammatiker, den Anwalt von Regeln und Notwendigkeiten, als Bedrohung einer Herrschaft erscheint und zurückgewiesen werden muss, verkörpert für den Rhetoriker eine – wenn nicht gar die – genuine Möglichkeit der Rede, die immer auch ein gewisses Maß an Freiheit verwirklicht. Dem entspricht auch, dass das griechische Wort für Figur sc²ma lautet, was eigentlich Haltung oder Stellung bedeutet. Sc²ma stammt aus der Sprache des Ringkampfs und der Schauspielkunst und meint Körperhaltungen, die von der »natürlichen« Haltung abweichen. Polybius beschreibt den Barbarismos als »Fehler in einem einzelnen Wort«, der »auf vier Arten entsteht: »durch Mangel (Auslassung), durch Pleonasmus, durch Umstellung und durch Verwechslung, die auch Ersetzung heißt.« (FDS 598) Auch dieses Schema entspricht exakt demjenigen der Figuren: den Figuren der Wiederholung, der Weglassung und der Um-
73 Diese Liste antizipiert die sogenannten »konservationellen Implikaturen« von Paul Grice. Vgl. H. Paul Grice, »Logik und Konversation«, übers. v. Andreas Kemmerling, in: Georg Meggle (Hg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung, Frankfurt/M. 1993, 243-265.
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stellung. Die Figuren insgesamt stehen den Fehlern sehr nahe. Die antiken Autoren können kein Kriterium für den Unterschied von Fehler und Figur angeben. Ob sich eine Wendung als Fehler oder Figur entpuppt, scheint auf eine Frage des kommunikativen Erfolgs hinauszulaufen. Manche Fehler funktionieren einfach und erschließen unsere Welt in einer zuvor für undenkbar gehaltenen Weise. In einem anonymen stoischen Fragment wird die Frage nach dem Verhältnis von Fehler und Figur explizit aufgeworfen: »Der Soloikismos ist eine Rede, die bezüglich der Zusammenfügung der Wörter verfehlt ist. Er unterscheidet sich von der Redefigur; denn die Rede74 figur hat einen vernünftigen Grund [eÚlogon] , der sie wohlangemessen macht, während der Soloikismos keinen solchen Grund hat.« (FDS 601) Wir erfahren hier allerdings nicht, worin dieser Grund besteht. Die Figur, so legt uns der Autor nahe, ist ein begründeter oder motivierter Fehler, ein Fehler, für den wir Rechenschaft ablegen können, da er sich bewährt. Der Fehler wäre dann kein Fehler mehr, wenn ich sagen kann, warum ich ihn begangen habe. Die Kriterien dafür, dass ich dies sagen kann, werden allerdings erst retroaktiv75, von der nicht mehr fehlerhaften Wendung geliefert. Die Katachrese – wie jede andere Trope – stiftet Kriterien und Gründe, ohne auf solchen zu beruhen. Mit der Katachrese wird ein Zug der Rede sichtbar, der sich dem Satz des zureichenden Grundes verweigert und auf ein Moment der Ungegründetheit in allem Reden hinweist. Die Theorie der Figurativität der Rede deckt sich hier mit der Pragmatik Wittgensteins, die von Cavell als Theorie universeller Figurativität gelesen wird: Wittgensteins Vision der Sprache besteht für Cavell darin, »dass jede Lebensform und jeder dieser Form inhärierende Begriff unbegrenzt oft eingesetzt werden kann und über unendliche Projektionsrichtungen verfügt [...]. Das Phänomen, das ich als ›Projektion eines Wortes‹ [= seine Verwendung in unter-
74 EÚlogoV kann allerdings auch wahrscheinlich bedeuten. 75 Hierin berührt sich die Katachrese mit der Metalepsis (der Darstellung des Vorhergehenden durch das Nachfolgende), die von Barbara Vinken – im Anschluss an de Man und Butler – regelrecht als Trope »retroaktiver Performativität« bezeichnet wird: »Die Metalepsis produziert als rhetorischen Effekt eine vorausliegende Ursache, als deren Wirkung sie sich darstellt.« – Barbara Vinken, »Der Stoff, aus dem die Körper sind«, in: Neue Rundschau 104, 1993, 9-22, hier: 18. – Vgl. auch Armin Burkhardt, »Metalepse«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen 2001, Sp. 1087-1096.
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schiedlichen, nur über eine Familienähnlichkeit verbundenen Sprachspielen, die durch keine Universalien regiert wird, A.H.] bezeichne, beschreibt das Sprachfaktum, das man [...] gelegentlich registriert, wenn man sagt: ›Die 76 ganze Sprache ist metaphorisch.‹« . In seiner Abhandlung De figuris geht Alexander Rhetor ebenfalls auf das Verhältnis von Tropen und Fehlern ein und zeigt, wie sich verschiedene Gliederungsschemata innerhalb der Figuren auf solche der Fehler übertragen lassen: »Nun unterscheidet sich die Redefigur vom Tropos, weil der Tropos im Bereich eines Einzelwortes so als Vorzug entsteht wie der Barbarismos als Fehler, während die Redefigur im Bereich mehrerer Wörter in der Weise eine schmuckvolle Ordnung ist wie der Soloikismos eine unschöne Ordnung; infolgedessen besteht derselbe Unterschied wie im Bereich der Fehler zwischen dem Barbarismos und dem Soloikismos im Bereich der Vorzüge der Rede zwischen dem Tropos und der Redefigur. Denn wie wir beim Barbarismos ein Wort, aber beim Soloikismos eine Zusammenstellung von Worten berichtigen, so wandeln wir den Tropos dadurch ins Vertraute ab, daß wir ein Wort in ein anderes umsetzen; aber das Schema modifizieren wir dadurch ins Natürliche, daß wir die Zusammenstellung (der Wörter) ändern.« (FDS 602A) Die rhetorische Implikation einer allgemeinen Figurativität der Rede könnte insofern auch als Implikation ihrer allgemeinen Fehlerhaftigkeit gelesen werden. So wie sich die gewöhnliche Sprache über ein Vergessen ihrer Figurativität definiert, so definiert sie sich vielleicht auch über ein komplementäres Vergessen ihrer Fehlerhaftigkeit. Diese These lässt sich allerdings insofern nicht, wie manche Formulierungen de Mans nahe legen, als ontologische Wesensaussage über die Sprache hypostasieren, als wir über keine vorgängigen Kriterien verfügen, die uns erlauben würden, die Figur vom Fehler zu unterscheiden. So wie die Katachrese für eine Indifferenz von Figurativität und Wörtlichkeit steht, so markiert sie auch eine Indifferenz von Gebrauch und Missbrauch. »Die meisten unserer Wörter«, schreibt Lichtenberg, »sind mißbrauchte Werkzeuge«77. Nicht erst bei Wittgenstein, sondern bereits in der lateinischen Poetik und Rhetorik wird der Sprachgebrauch, usus, zu einem Schlüsselbegriff.
76 Stanley Cavell, »Wittgensteins Vision der Sprache« [1979], in: ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, übers. v. Martin Hartmann, Frankfurt/M. 2002, 185-215, hier: 210, 215. 77 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher, a.a.O., B 346.
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Der Gebrauch behält das letzte Wort in Fragen lexikalischer, grammatischer und stilistischer Richtigkeit. Horaz schreibt in diesem Sinne in seiner Ars Poetica: »So werden viele längst schon untergegangene Wörter von neuem geboren, es werden viele vergehen, die heute geschätzt sind, falls es der Sprachgebrauch will; dieser entscheidet und ist der Garant und die Richtschnur des Sprechens.« (Horaz ars poet. 70) Usus bezeichnet den Gebrauch im Sinne von sprachlichem Handeln, aber auch das, was in einer bestimmten historischen Situation üblich ist.78 In der Gleichzeitigkeit der beiden Bedeutungen von usus drückt sich eine fast pragmatistisch anmutende Haltung aus. Ein Primat kommt hier allein dem Praktischen zu und zwar nicht dem Praktischen, das als Gegenkonzept zum Theoretischen selbst ein philosophisches Abstraktum wäre, sondern dem je konkreten, einzelsprachlichen Praktischen, der Art, in der hier und jetzt jeweils geredet wird. Die explizite Behauptung einer ursprünglichen Metaphorizität der Sprache wird erstmals im italienischen Humanismus formuliert, zunächst von Autoren des 14. und 15. Jahrhunderts wie Salutati, Bruni und Polizian79, später dann im Werk Vicos, welches das humanistische Sprachdenken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bündelt und philosophisch systematisiert: »Durch all dies ist bewiesen worden, daß alle Tropen (die sich sämtlich auf diese vier [= Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie, A.H.] zurückführen lassen), die man bisher für geistreiche Erfindungen der Schriftsteller gehalten hat, notwendige Ausdrucksweisen aller ersten poetischen Völker gewesen sind und daß sie ursprünglich die ihnen innewohnende eigentümliche Bedeutung ganz besessen haben: aber als sich später, bei der größeren Entfaltung des menschlichen Geistes, die Ausdrücke fanden, die abstrakte Formen bezeichnen, also Gattungsbegriffe, die ihre Arten umfassen oder die Teile mit dem zugehörigen Ganzen verbinden, da erhielten solche Redensarten der ersten Völker eine übertragene Bedeutung. Und hiermit beginnen wir jene zwei allgemeinen Irrtümer der Philologen zu Fall zu bringen: daß die Sprache der Prosaiker die eigentliche, die der Dichter
78 »ūsus, ūs, m. (utor), die Benutzung, der Gebrauch, die Anwendung, Verwendung, der Verkehr, die Ausübung, Übung, Praxis u. dgl.« – Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Leipzig 71910, 3324. 79 Vgl. hierzu Ernesto Grassi, Einführung in die humanistische Philosophie, a.a.O., 43-51.
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die uneigentliche sei; und daß man zunächst in Prosa, später in Versen gesprochen habe.«80 Vico geht davon aus, dass die Menschen sowohl ontoals auch phylogenetisch zunächst figürlich sprechen. Erst wenn die Figuren historisch abgeschliffen werden, lässt sich retrospektiv von übertragenen Bedeutungen sprechen. Am Anfang steht also nicht einfach das figürliche bzw. uneigentliche Sprechen, sondern eine Sprache, die sich zur Unterscheidung eigentlich/figürlich indifferent verhält. Erst in einem späteren, begrifflich geprägten Sprachstadium könne das frühere Sprechen nachträglich als figürliches Sprechen angesehen werden. Die humanistische These eines Vorrangs der Rhetorizität und Figürlichkeit der Sprache wird später einen entscheidenden Einfluss auf die Philosophie Nietzsches nehmen. Zu Nietzsche gelangt sie über die Vermitt81 82 lungslinie Jean Paul und Gustav Gerber . Nietzsche schreibt: »Es ist aber nicht schwer zu beweisen, daß was man, als Mittel bewußter Kunst ›rhetorisch‹ nennt, als Mittel unbewußter Kunst in der Sprache u. deren Werden thätig waren, ja daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten« (KGW II 4, 425). Die im antiken und frühneuzeitlichen Sprachdenken angedeutete Unmöglichkeit, eindeutig zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung zu unterscheiden, macht es schwer, sprachliches Handeln am Paradigma eines Werkzeuggebrauchs zu explizieren. Wir können uns bestimmter Sprechakte schon deshalb nicht einfach zur Erzeugung kommunikativer Effekte bedie-
80 Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, a.a.O., 195. 81 In dessen Vorschule der Ästhetik heißt es: »Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.« (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, hrsg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg 1990 [1813], 184). 82 Vgl. Gustav Gerber, Sprache als Kunst, Hildesheim 31961 [1871].
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nen, weil das sprachliche Werkzeug, der Sprechakt, im Zuge seiner Verwendung seine Gestalt wechselt. Auch die Pragmatik der Rede wird von deren Figurativität eingeholt.
4.3 D IE P OSITIVIERUNG DES S CHEINS Die Figurativität der Rede kulminiert in der dóxa, die von rhetorikkritischen Philosophen als Uneigentlichkeit oder Scheinhaftigkeit gedeutet wird. Das von Platon pejorativ konnotierte Substantiv dóxa (vgl. etwa Plat. Men. 98e) spielt eine Schlüsselrolle in seinem Kampf gegen die Sophistik. Von den Rhetorikern wird die dóxa demgegenüber in einem neutraleren Sinne als Meinung begriffen: als Inbegriff der Bedeutungen und Topoi, in deren Medium sich das öffentliche und politische Leben abspielt.83 Neben Meinung und Schein kann dóxa auch Ruf, Ruhm, Ehre, Glanz oder Herrlichkeit bedeuten. Das Substantiv leitet sich vom Verb décomai ab, welches sich mit aufnehmen, annehmen oder erwarten übersetzen lässt. Anfänglich bedeutet dóxa Annahme oder Angebot zur Annahme. Sie hat damit eine ähnliche Bedeutung wie unser heutiger Begriff des Arguments. Auch das Argument ist ja, wie wir in Kapitel 2.6 gesehen haben, nichts anderes als ein Angebot, als ein Satz oder Satzzusammenhang, der gedeutet werden will. Im Begriff der dóxa verbirgt sich also ein genuin pragmatisches Motiv. Die dóxa steht nicht primär nur für einen sei es rhetorischen, sei es ästhetischen Schein, sondern für eine Aufforderung, die von diesem Schein ausgeht: die Aufforderung, dem in der dóxa artikulierten Angebot zuzustimmen, sich überzeugen zu lassen; das mit dóxa verwandte Verb dokimázein bedeutet als erprobt annehmen. Der Philosophie gilt die dóxa als das zu vermeidende Übel schlechthin, als die bloße, unbegründete Meinung, als das, was man ohne Überlegung
83 Guthrie schreibt dazu: »We live in a world where opinion (doxa) is supreme, and there is no higher criterion by which it can be verified or the reverse. This leaves the Sophist-orator, master of the art of persuasion both private and public, in command of the whole field of eperience, for opinion can always be changed. Only knowledge, based on unshakeable proof, could withstand the attacks of peitho, and there is no such thing.« (William K.C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, Bd. III, The Fifth-Century Enlightenment, Cambridge 1969, 273).
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sagt, was man auf den Marktplatz aufschnappt, was sich ständig ändert, was partikular und subjektiv ist. Ein der wesentlichen Operation der platonischen Philosophie besteht darin, eine Kritik der dóxa im Namen der ]epist®mh zu formulieren84, im Namen des wahren Wissens; das Substantiv ]epist®mh geht auf den ]epistáthV zurück, den Vorsteher und Aufseher bei religiösen Ritualen; es verbindet sich mit einem Moment von Macht und Kontrolle. Die ]epist®mh hat bei Platon eine polizeiliche Funktion. Mit der im Namen der ]epist®mh geübten Kritik der dóxa versteht sich die Philosophie »von Anfang an aus dem Gegensatz zur öffentlichen Lebens85 welt.« Platon verschiebt den Bedeutungsgehalt der dóxa dabei von einem Kontext der Rede und Argumentation in einen solchen des optischen Scheins. In seinem Spätdialog Sophistes verbindet er ganz explizit die rhetorische Generierung von Meinungen mit dem Erzeugen von Scheinbildern: Der Sophist vermöge »durch die Ohren mit Worten zu bezaubern, indem man gesprochene Schattenbilder von allem vorzeigt« (Plat. Soph. 234c). Als Meinung verkörpert die dóxa im vorplatonischen Denken etwas genuin Praktisches: Im Medium der Meinungen konstituiert sich für die Griechen die politische Welt. Gerade weil die dóxa nicht festgestellt ist, erfordert und ermöglicht sie Prozesse der Deliberation. Mit Heidegger: »Das, worüber die Ansicht herrscht, ist ein solches, das noch über sich reden lässt. Die Möglichkeit des Miteinanderverhandelns liegt in der die dóxa beschlossen.«86 Die dóxa wäre, wie Heidegger weiter ausführt, weniger als eine Ansicht über etwas zu verstehen, die sich über ihr Wahr- oder Falschsein definiert, denn als solche, die jemand mit anderen und gegen andere vertritt. Sie ist damit, wie die Rede selbst, konkret situiert, adressiert und wirksam: »Zur Bestimmung der dóxa gehört notwendig derjenige, der die dóxa hat. Bei einer ]epist®mh ist es gleichgültig, wer sie hat; bei einem gültigen Satz ist es gleichgültig, wer ich bin, er trägt nichts bei zur Aufhellung, zum Wahrsein des Gewussten. Dagegen ist der die Ansicht Habende
84 »Wissen ist wertvoller als richtige Meinung.« (Plat. Men. 98a) – Als Kriterium ihrer Unterscheidung gibt Platon in Menon an, dass das Wissen im Gegensatz zur Meinung »durch eine begründete Argumentation angebunden« (ebd.) sei, angebunden an die Ideen, wobei die Anbindung über die Operation der Anamnesis erfolgt. 85 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 51. 86 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, a.a.O., 154.
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als solcher mit entscheidend für die dóxa. Es fällt ins Gewicht, wer sie hat. Die Sache an sich selbst kann nicht rein für sich selbst sprechen, sie ist verdeckt, ich habe eine Ansicht von ihr. [...] Es liegt in dieser Struktur der dóxa die Möglichkeit, dass sie zu einer eigentümlichen Herrschaft und Hartnäckigkeit kommen kann. Man spricht eine Meinung den Anderen nach. Im Nachsprechen kommt es nicht darauf an, zu untersuchen, was der Betreffende sagt. Entscheidend ist nicht das Gesagte, sondern daß er es ist, der es gesagt hat.«87 So wie wir weiter oben Sylogismus und Enthymem über ihre jeweiligen Kontexte unterschieden haben (der Sylogismus ist ein Schluss in einem logischen Kontext, das Enthymem in einem lebensweltlichen), so lässt sich an dieser Stelle vielleicht auch das Verhältnis von dóxa und ]epist®mh als eines inkompatibler Bereiche fassen. Während die ]epist®mh das interesselose Wissen eines Einzelnen umfasst, der sich kontemplativ auf überzeitliche Ideen bezieht, wäre die dóxa als ein sozial situiertes Wissen auszulegen, ein Wissen, dem wir leidenschaftlich verhaftet sind, das sich nicht von der Person desjenige trennen lässt, der für diese Ansicht einsteht, sie verficht und verkörpert. Die dóxa wäre dann keine minderwertige ]epist®mh, sondern ein Wissen, das in einer konkreten sozialen Situation in Anschlag gebracht wird. Im Ethos der Polis verkörpert sich die Gesamtheit derjenigen Meinungen, die sich über Generationen hinweg gegen konkurrierende Meinungen durchzusetzen vermochten: »Wenn die öffentliche Meinung als die sittliche Macht begriffen wird, so zeigt sich, daß Meinungen, sofern sie die maßgebenden Orientierungen kollektiver Praxis stiften, nicht durch andere Medien ersetzt werden können. Meinung ist das Organisationsmedium katexochen, in dem sich die Gemeinsamkeit der Praxis bekundet.«88 Mit der Philosophie Platons verwandelt sich die dóxa von einem praktischen in ein theoretisches Konzept. Während die ]epist®mh das ewige und unveränderliche Wissen der Ideen repräsentiere, bezöge sich die dóxa auf ein unstetes, wandelbares Wissen, auf bloße Vorurteile und Trugbilder. Die dóxa erscheint aus der Perspektive Platons als permanente Bedrohung der ]epist®mh. Von der sophistischen Rhetorik wird nun genau dieser unstete Wissenstyp der dóxa favorisiert. Die Sophisten leugnen ein letzbegründba-
87 A.a.O., 150/151. 88 Peter Ptassek/Birgit Sandkaulen-Bock/Jochen Wagner/Georg Zenkert, Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt, Göttingen 1992, 7.
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res Wissen. Es geht ihnen nicht darum, die dóxa – wie in der Philosophie – auf die ]epist®mh zu überschreiten, sondern mit der dóxa praktisch umzugehen, zu lernen, mit Ungewissheit und Unbegründbarkeit zu leben. Buchheim bezeichnet den sophistischen lógoV deshalb treffend als »Aktivierung der Unsicherheit selbst«89. Der lógoV schwebt etwa für Protagoras und Gorgias nicht über »der dóxa in den sicheren Gefilden der Wahrheit, son90 dern mischt [...] mit in ihr, [...] bleibt [...] der dóxa selbst immanent« . Die optische Konnotation der dóxa ist auch den Sophisten vertraut, wird von ihnen allerdings vollkommen anders gewertet. In einem bei Proklos zitierten Fragment schreibt Gorgias: »Das Sein ist unsichtbar, erlangt es kein Scheinen [dokeîn], das Scheinen aber kraftlos, erlangt es kein Sein.« (Gorgias 96) Zwischen Schein und Sein lässt sich hier so wenig trennen wie zwischen res und verbum, beide Begriffspaare bilden differentielle Einheiten. Die sophistische Theorie der dóxa darf also nicht als Plädoyer für einen radikalen Fiktionalismus verstanden werden. Der Anspruch der Sophisten ist bescheidener: Sie weisen darauf hin, dass jedem Seienden ein Ausdruck oder eine Äußerungsseite korrespondieren muss, dass es mit anderen Worten sinnlos wäre, von einem Sein an sich hinter jeder Darstellung auszugehen. Aufgegriffen wird die im Zitat angedeutete Intuition des Gorgias etwa von Goethe und Hegel. In Goethes Trauerspiel Die natürliche Tochter heißt es: »Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt? Das Wesen, wär’ es, wenn es nicht erschiene?«91 Die Prosafassung dieses Verses liefert Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik: »Doch der Schein selbst ist dem Wesen wesentlich, die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene«92. Hegel, der sich in seiner Geschichte der Philosophie in-
89 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 20. 90 A.a.O., 20. 91 Johann Wolfgang von Goethe, »Die natürliche Tochter«, in: ders., Werke. Weimarer Ausgabe, a.a.O., I. Abteilung, 10. Band, 245-383, hier: 296. 92 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hrsg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1985, Bd. 1, 19. – Ähnliche Formulierungen finden sich auch bei anderen Philosophen der Immanenz, etwa bei Husserl und Heidegger. Bei Husserl heißt es prägnant: »Soviel Schein, soviel Sein.« (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen (Husserliana I), Haag 1950, 133). In Sein und Zeit (A.a.O., 36) schreibt Heidegger fast gleichlautend: »Wieviel Schein jedoch, soviel ›Sein‹.«
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tensiv mit Gorgias auseinandergesetzt hat , räumt der Unhintergehbarkeit der dóxa in seinem eigenen Werk auch sonst einen hohen Stellenwert ein. So behandelt er in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes Fragen der philosophischen Darstellung und zeigt, dass Philosophie immer mit ihrer Performanz, ihrer Äußerung oder Darstellung zusammenfällt; er kritisiert eine Auffassung von Philosophie, für die »in dem Zwecke oder den letzten Resultaten die Sache selbst und sogar in ihrem vollkommenen Wesen ausgedrückt wäre, gegen welches die Ausführung eigentlich das Unwesentliche sei. [...] Denn die Sache ist nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden«94. Quintilian radikalisiert den (von Goethe und Hegel aufgegriffenen) Gedanken des Gorgias von einer Verwiesenheit allen Seins auf ein Scheinen, wenn er mit kritischer Rücksicht auf Platon schreibt: »Philosophia enim simulari potest, eloquentia non potest.« (Quint. inst. or. XII 3, 12) Philosophie lässt sich im Gegensatz zur Beredsamkeit simulieren. Als Disziplin, die zwischen Warhrheit und Lüge unterscheiden zu können vorgibt, wird Philosophie damit zur Voraussetzung der Möglichkeit, überhaupt lügen zu können. Quintilian deutet hier, indem er eine spezifische Rhetorik der Philosophie freilegt, ein proto-dekonstruktivistisches Argument an: »Mit ihrem Mienenspiel, düsterem Ernst und von den anderen abstechender Tracht« (Quint. inst. or. I Proeomium, 15) geben die Philosophen bloß vor, Philosophen zu sein und über eine allem Schein vorausliegende Wahrheit zu verfügen. Zugleich ergibt sich die Möglichkeit des Scheinens aus rhetorischer Sicht nur dann, wenn zuvor die Position eines Wesens postuliert wurde; ein Schein des Scheins wäre demgegenüber sinnlos. In einer Welt ohne Wesen bräuchte der Schein nicht weiter kritisiert zu werden. Schein und Wesen bilden vielmehr einen Verweisungszusammenhang. Erst wo dieser Verweisungszusammenhang aufgebrochen wird, wo das Wesen vom Schein befreit werden soll, wird ein Schein im pejorativen Sinne überhaupt denkmöglich. Platons Suche nach einem Wesen produziert also genau jenen Schein, vor dem sie das Wesen bewahren möchte.
93 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, a.a.O., 433-440. 94 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., 11/13.
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Eine vergleichbare Kritik der Philosophie übte vor Quintilian bereits Isokrates. Der attische Rhetor richtet sich gegen ein exzeptionelles Geheimwissen, das die Philosophie für sich in Anspruch nimmt. In seinem Busiris führt er die Entstehung der »Philosophie«, die er hier als »Übung für die Seele versteht [taîV dè qucaîV filosofíaV Áskhsin]« (Isocr. or. XI 22), auf Pythagoras zurück, der sie aus Ägypten nach Griechenland gebracht habe. Nicht ohne ironischen Unterton merkt Isokrates an: »Auch heute noch bringt man ja Menschen, die angeben, Schüler des Pythagoras zu sein, selbst wenn sie schweigen, mehr Bewunderung entgegen als Menschen, die wegen ihrer Redekunst größte Anerkennung finden.« (Isocr. or. XI 29). Isokrates impliziert hier zweierlei. Zum einen weist er darauf hin, dass dem Schweigen der Esoteriker selbst eine Beredsamkeit zukommt, dass es kommunikative Wirkungen entfaltet. Andererseits richtet sich die Ironie seiner Äußerung aber auch gegen jeden philosophischen Kult der Versenkung und Introspektion, gegen die Flucht aus der Öffentlichkeit. In seiner Rede Gegen die Sophisten überführt Isokrates die Form des philosophischen Streitgesprächs, wie es etwa von Sokrates in den Dialogen Platons geführt wird, einer konstitutiven Scheinhaftigkeit. Sokrates und Platon »geben vor, sie spürten die Wahrheit auf, jedoch gleich zu Beginn ihrer Versprechungen versuchen sie zu täuschen. Allen nämlich ist, wie ich glaube, offenkundig, daß es unserer menschlichen Natur nicht gegeben ist, die Zukunft vorherzusehen, sondern daß wir so weit von einer solchen Erkenntnisfähigkeit entfernt sind, daß Homer [...] manchmal auch die Götter darüber hat beraten lassen, nicht als ob er ihre Gedanken gekannt hätte, sondern weil er uns vor Augen führen wollte, daß dies eines der für die Menschen unmöglichen Dinge ist.« (Isocr. or. XIII 1/2) Die Philosophen treten mit der falschen Versprechung in das Gespräch ein, am Ende die Wahrheit ermitteln zu können, eine Wahrheit, über die sie bereits vorab zu verfügen glauben. Sie verstricken sich also in ein Dilemma. Entweder haben sie die Wahrheit bereits, dann aber können sie das Gespräch nicht als Gespräch ernst nehmen und müssen ihr Gegenüber, wie es bei Sokrates häufig geschieht, zum Jasager degradieren. Oder sie lassen sich auf das Gespräch ein, nehmen es ernst. Doch dann können sie nicht über die Wahrheit verfügen, denn diese würde sich wenn überhaupt erst am Ende des Gespräches zeigen; der Ablauf des Gesprächs lässt sich, wenn es denn ein Gespräch ist, nicht vorausberechnen. Noch nicht einmal den Göttern steht die Zukunft fest.
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Gorgias, Isokrates und Quintilian heben hervor, dass sich die Grenze zwischen Schein und Wirklichkeit weder begrifflich stabilisieren, noch mit der Grenze zwischen Philosophie und Rhetorik zur Deckung bringen lässt. Nietzsche spricht ganz im Sinne der Rhetoriker vom »griechische[n] Begriff der Kultur [...] als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Konvention« sowie von der griechischen Kultur »als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« (KSA I 285). Später wird Nietzsche in Bezug auf seine eigenen Philosophie schreiben: »Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft.« (KSA VI 81) Nietzsche und die Rhetoriker behaupten nicht einfach einen Primat des Scheines oder der Lüge gegenüber der Wahrheit; sie werten das etablierte Verhältnis von Schein und Wesen, von Lüge und Wahrheit nicht einfach um, sondern setzen diese spezifisch metaphysische Dichotomie selbst außer Kraft. Vor dem Hintergrund einer Unhintergehbarkeit der sprachlichen Darstellung werden von den rhetorischen Denkern sowohl essentialistische als auch fiktionalistische Positionen einer Sinnkritik unterzogen. Auch im Denken des Renaissance-Humanismus wird die Unhintergehbarkeit der dóxa ausgesprochen, am prominentesten wohl im Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam95. Der Humanist behauptet eine Unhintergehbarkeit des Scheins, die auf Nietzsche vorausweist. Das Schlimmste ist für Erasmus nicht so sehr die Täuschung, in der wir leben, sondern der Versuch des Philosophen, die Täuschungen zu durchbrechen. Dieser Versuch zerstöre das Leben, das sich über Schein und Fiktion immer über sich selbst zu erheben vermag. Eine rein objektive, scheinlose Welt wäre weder wünschenswert noch möglich. Ganz ähnlich argumentieren später die Pragmatisten, so etwa William James, der fragt: »Objektive Evidenz und Gewißheit sind sicherlich sehr schöne Ideale, mit denen es sich spielen läßt; aber wo sind sie zu finden auf diesem mondbeschienenen, von Träumen heimgesuchten Planeten?«96 Daß der Schein im Denken der Griechen eine wichtige Dimension des Persuasiven verkörpert, belegt folgende, von Plutarch überlieferte Äuße-
95 Vgl. Erasmus von Rotterdam, Das Lob der Torheit, übers. u. hrsg. v. Anton J. Gail, Stuttgart 1985 [1511]. 96 William James, »Der Wille zum Glauben« [1897], in: Ekkehard Martens (Hg.), Pragmatismus. Ausgewählte Texte, Stuttgart 1975, 128-160, hier: 141.
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rung des Gorgias zur Schauspielkunst: »In voller Blüte jedoch stand die Tragödie [in Athen] und war in aller Munde; sie geriet zum wunderbaren Hör- und Schauspiel für die Menschen damals und bot durch ihre Mythen und Leidenschaften eine Täuschung, bei der, wie Gorgias sagt, derjenige, der täuscht []apat®saV], mehr Recht hat als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits mehr versteht als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr Recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: denn schön läßt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.« (Gorgias 92) Die Schauspielkunst, die von Gorgias bis Cicero häufig mit der Kunst des Redners verglichen wird, täuscht die Menschen und nützt ihnen doch: Der Getäuschte versteht hier mehr als der nicht Getäuschte. Mit demjenigen, der nicht getäuscht wird, könnte hier der Philosoph gemeint sein, etwa Sokrates, der sich kühl und distanziert zum Mythos97 und zur Tragödie verhält, der zuschaut, ohne innerlich beteiligt zu sein, der das Schauspiel als bloßen Schein nimmt, als trügerisches Blendwerk. Diesem distanzierten Zuschauer, der sich nicht täuschen lassen will, entgeht etwas Entscheidendes. Er versteht nichts; gerade ihm, der an die volle metaphysische Präsenz eigentlicher Ideen (oder einer objektiven Realität) glaubt, entleert sich die Welt zur bloßen Kulisse. Den anderen dagegen, die sich hinreißen lassen von der Lust an den Worten, wird die Tragödie zu einer integralen Form der Welt-
97 Mit seiner Kritik der Mythologie, die sich explizit gegen Hesiod und Homer richtet, markiert das Werk Platons eine radikale Epoché – Platon selbst spricht von einer periagwg®, einer Kehrtwendung (vgl. Plat. Pol. VII 518d) – innerhalb der Welt der griechischen Antike. Die Philosophie definiert sich für ihn regelrecht als eine Art Literaturpolizei: »Zuerst also [...] müssen wir Aufsicht führen über die, welche Märchen und Sagen dichten« (Plat. Pol. II 377b). Der Philosoph empfiehlt, die Dichtungen Homers und Hesiods neu zu schreiben, sie in einer »einfachen Erzählung [äapl² di®ghsiV]« säkular zu refomulieren; diese »einfache Erzählung« wäre nicht »darstellend [mimhtikóV]« (vgl. Plat. Pol. III 393 d), sondern prosaisch und repräsentierend. Der »darstellende« lógoV wird gegenüber der »einfachen Erzählung« dadurch disqualifiziert, dass er »vielfältige Arten von Veränderungen [morfàV tvn metabolvn] enthält« (Plat. Pol. III 397 c). Die Epoché, die Platons Werk markiert, gründet auf einer autoritativen, alle kulturellen Veränderungen abwehrenden Geste: »Was gesprochen werden soll und wie, haben wir bestimmt.« (Plat. Pol. III 397 b)
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erschließung. Gerade weil sie keine unwandelbare Wahrheit hinter dem Schauspiel suchen, werden sie selbst zu einem Teil des Geschehens, lassen sich in Bann nehmen und in einer komplexen, zugleich affektiven, ästhetischen, ethischen und epistemischen Weise überzeugen. Als konkrete Realisierungen der dóxa können die tópoi gelten. Im Gegensatz zur Philosophie, die sich über ihre begriffliche Auflösung definiert, nutzt die Rhetorik die tópoi, loci communes oder Gemeinplätze und eignet sie sich in einer kreativen Weise an, die über ihre bloße Reproduktion hinausgeht. Bubner bezeichnet die Rhetorik deshalb treffend als »lang wir98 kende Kraft, praktische Allgemeinheiten zu prägen und zu stabilisieren« . Wie Cicero im Brutus erwähnt, entfaltet bereits Protagoras eine Lehre der loci communes (vgl. Cic. Brut. 12, 46), die diese als Epistemologie des gewöhnlichen Lebens begreift. Aristoteles diskutiert in seiner Rhetorik auf koinoì tópoi, allgemeine Gesichtspunkte, die nicht eigens begründet werden müssen, auf deren Zustimmung wir aber jederzeit zählen können und müssen.99 Nicht alles Wissen kann zu allen Zeiten begründet werden; Wissen emergiert immer vor dem Hintergrund eines Nichtwissens. Im Gegensatz zu Platon, der in seinem Theaitetos das Wissen als einen verifizierten Glauben definiert, der über seine Geltungsbedingungen Rechenschaft ablegen kann, ist die Begründungsbedürftigkeit für Aristoteles ein Sonderfall. In der Regel greifen wir in alltäglicher Rede auf ein selbstverständliches, von fast allen geteiltes Wissen zurück. Die tópoi, die Aristoteles anführt, sind Orte einer unfraglichen Begegnung; sie bilden den Inbegriff dessen, was im 20. Jahrhundert als Lebenswelt bezeichnet werden sollte. Tópoi – Olbrechts-Tyteca und Perelman nennen sie auch »Vorratslager von Argumenten« (NR 115) – sollten dabei nicht nur im Sinne von Inhalten lebensweltlichen Wissens aufgefasst werden. Zu den tópoi rechnet Aristoteles nicht nur etablierte Bedeutungen – tópoV kann bei Aristoteles auch Obersatz im Enthymem heißen (vgl. Arist. Rhet. II 22, 1396b), das also, was man in ein Enthymem einsetzt – sondern auch etablierte Muster, diese Be-
98 Rüdiger Bubner, »Vorwort zu Peter Ptassek/Birgit Sandkaulen-Bock/Jochen Wagner/Georg Zenkert, Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt«, a.a.O., V. 99 Insbesondere die zweite Hälfte des ersten Buchs seiner Rhetorik widmet sich einer Auflistung einschlägiger tópoi, die in der Gerichtsrede Anwendung finden können.
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deutungen aufeinander zu beziehen, etablierte Formen der Argumentation (vgl. Arist. Rhet. II 23 1400a ff.). Quintilian unterscheidet die tópoi in genau diesem Sinne in loci a persona und loci a re, in Formen des Personenund des Sachwissens. Die loci a persona verkörpern die allgemeinen Muster in denen wir unser lebensweltliches Wissen über Menschen ordnen; wir unterscheiden (uns) etwa nach genus (Sippe), natio (Nationalität), patria (Vaterland), sexus (Geschlecht), aetas (Alter) educatio und disciplina (Erziehung), habitus coroporis (Körperbeschaffenheit), fortuna (Schicksal), conditionis (sozialer Stellung), animi natura (Wesensart), studia (Βeruf), ante acta dicta (Vorgschichte) und nomen (Namen) (vgl. Quint. inst. or. V 8, 4). Bei den (letztlich auf Hermagoras von Temnos zurückgehenden) loci a re (loci a re, a loco, a tempore, a modo, a facultate, a finitione, a simili, a comparratione, a fictione und a circumstantia) fragen wir etwa, warum, wo, wann, wie, was mit welchen Mitteln getan wurde (vgl. Quint. inst. or. V 10, 32). Der »Ort« bestimmt sich dabei nicht durch Koordinaten im Raum, sondern in der Praxis. Wilfried Stroh weist schlüssig auf einen eminent pragmatischen Sinn der rhetorischen Topik hin: Der tópoV bezeichne »weniger einen ›Ort‹, an dem man etwas findet, als vielmehr einen, von 100 dem aus man etwas packen kann«. Von den topischen Kategorien oder Fragehinsichten – Heinrich Lausberg nennt die tópoi auch »SuchFormeln«101 – aus wären die ihnen entsprechenden grammatischen Strukturen (etwa tempus, numerus und modus der Verben, casus, genus und numerus der Substantive usw.) eher als Ausdruck eines mit einer Praxis oder Lebensform korrespondierenden Sprachspiels zu interpretieren denn als dessen transzendentale Vorausetzung. Ausgehend von der Lehre der rhetorischen tópoi ließe sich nicht nur die Semantik, sondern letztlich auch die Syntax pragmatisieren, was an dieser Stelle nur angedeutet und nicht durchgeführt werden kann. Aus der Sicht einer rhetorisch informierten Topik können wir nicht nicht bei Gemeinplätzen anfangen. Das bedeutet umgekehrt, dass wir nicht aus reiner Vernunft einen ersten Anfang finden bzw. schaffen können, der allem Zweifel entrückt wäre. Ein Descartesscher Zweifel, der auf ein unerschütterliches Fundament, oder eine phänomenologische Epoché, die zu den Sachen selbst führen sollte, blieben aus rhetorischer Sicht sinnlos. Der
100 Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 177. 101 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., 520.
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Gemeinplatz steht dafür, dass wir bereits in etwas unser Vertrauen werden gesetzt haben müssen, was wir nicht vollständig zu kontrollieren vermögen.102 An dieses Vertrauen wiederum dürfen wir auch bei anderen appelieren. Weder in wissenschaftlichen noch erst recht in lebensweltlichen Zusammenhängen kann immer alles neu zur Debatte stehen oder gestellt werden; Peirce sollte dies später als »unfruchtbaren Zweifel«103 zurückweisen. In diesem Sinne bilden die Topoi einen Gegenhalt zum rhetorischen Âgõn, einen Horizont des Fraglosen, der allerdings prinzipiell immer wieder selbst befragt werden und damit zum Gegenstand eines Âgõn gemacht werden kann. Als Trägerin und Instanz der Problematisierung von tópoi wird Rede von den klassischen Autoren als zentrale Bindungskraft des Sozialen interpretiert. Sie bildet eines der wesentlichen Medien, über die sich das Soziale reproduziert. Immer wieder finden sich in dieser Hinsicht Vergleiche zwischen Sprache und Geld, die in ihrer Rolle als Kommunikationsmedien Gemeinsamkeiten aufweisen. Reden und tópoi zirkulieren in der Gesellschaft wie Münzen und entfalten vergleichbare Bindungskräfte. So empfiehlt etwa Quintilian, man solle »mit der Sprache ganz so umgehen wie mit einer Münze, die Wert und Geltung für alle empfiehlt [cui publica forma est].« (Quint. inst. or. I 6, 3) Die rhetorische Thematisierung des Verhältnisses von Geld und Sprache steht dabei quer zum philosophischen Vorwurf einer Käuflichkeit der Rhetorik und einzelner Rhetoren (vgl. Plat. Men. 91d). Während die Philosophie sich selbst in einem Jenseits der Ökonomie und ökonomischer Interessen situiert, versucht sie die Rhetorik auf eine ökonomische Strategie zu reduzieren. Ganz abgesehen davon, dass sich hinter diesem Vorgehen eine gewisse Unaufrichtigkeit der Philosophie
102 Für Cicero kann der Gemeinplatz auch eine kritische Funktion haben, die bereits die Möglichkeit einer ordinary language philosophy antizipiert: »Diese [= die Beschreibung des Gegners, A.H.] wird entkräftet, wenn man aufzeigt, daß sie falsch ist. Dies entnimmt man der Meinung der Menschen, wenn man erwägt, wie und bei welchen Gelegenheiten die Menschen im schriftlichen und mündlichen Sprachgebrauch dieses Wort gewöhnlich verwenden.« (Cic. de inv. II 54) Der locus communis ist hier »gegen die Schlechtigkeit dessen gerichtet, der versucht, sich die Macht nicht nur über die Dinge, sondern auch über die Worte anzumaßen« (Cic. de inv. II 55). 103 Charles Peirce, »Die Festlegung einer Überzeugung«, a.a.O., 157.
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verbirgt – in der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Rhetorik geht es auf beiden Seiten immer auch um Geld; auch die Philosophie muss sich als gesellschaftliche Institution gegenüber anderen gesellschaftlichen Institutionen bewähren; die Schulen des Platon und des Isokrates tragen nicht nur einen geistigen Kampf aus, sondern auch einen Kampf um Macht und Einfluss – wird die über das Geld vermittelte ökonomische Kommunikation von den Rhetorikern anders gewertet als von den Philosophen. Der Anonymus Iamblichi unterscheidet zwei möglich Arten, sich im öffentlichen Bereich Einfluss zu verschaffen, durch Geld oder durch Reden. Das Geld wird dabei zunächst von einer gewissen Ambivalenz bedroht: »Wer durch Geldgeschenke seinen Nächsten Gutes tut, der wird notwendig auch schlecht sein müssen, indem er das Geld auf der anderen Seite ansammelt« (SZ 331 [Anonymus Iamblichi 4, 98, 17]). Durch Geld in die Lage versetzt zu werden, Armen großzügig etwas zu geben, setzt zunächst voraus, Kapital zu akkumulieren und damit in gewisser Weise erst Arme zu produzieren. Der Redner kann sich demgegenüber Einfluss verschaffen, ohne von einer vergleichbaren Ambivalenz heimgesucht zu werden; mittels seiner Handlungen und Reden »steht« der Redner »den Gesetzen und dem Recht zur Seite; das nämlich ist es, was die Städte zur Gemeinschaft bringt und zusammenhält« (SZ 331 [Anonymus Iamblichi 4, 98, 17]). Im Gegensatz zum Geld lässt sich der lógoV nicht akkumulieren und kapitalisieren. Als Person (in seinem ]³joV) und als Durchgangsstation des lógoV artikuliert und aktualisiert der Redner Recht und Politik; seine Praxis erzeugt und erhält die Gemeinschaft der Polis. Obwohl die Rede hier gegenüber dem Geld ausgezeichnet wird, hebt der Anonymus auf eine Gemeinsamkeit beider Medien ab. Diese Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl Geld als auch Sprache auf Vertrauen verwiesen sind. Der Rekurs auf Vertrauen als wesentlicher Bedingung des Sozialen erlaubt es ihm, eine Unterscheidung zwischen Gewalt (dúnamiV) und einer demokratisch legitimierten Macht (krátoV) zu treffen: »So erweist sich, daß auch die Macht selbst, sofern sie wirklich Macht ist, sich durch Gesetz und Recht behauptet.« (SZ 335 [Anonymus Iamblichi 6 p. 100, 5-101, 6]) Macht unterscheidet sich dadurch von Gewalt, dass sie über Recht und Gesetze vermittelt,
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mit anderen Worten: demokratisch legitimiert ist. Entscheidend wird hier nun die mit dem Verb peíjein etymologisch eng verbundene pístiV, die Gorgias in seiner Palamedes-Rede als Essenz des Lebens bestimmt: »Das Leben ist aber nicht lebbar, wenn man des Vertrauens [pístewV] beraubt ist« (Gorgias 21)105. Der Anonymus schreibt weiter: »Vertrauen ist die erste Frucht der gesetzlichen Ordnung, ein großer Segen für die Menschheit und eines der großen Güter. Es bewirkt, daß das Geld zum gemeinen Besitz wird, und so geschieht es, daß es auch in spärlicher Menge durch seinen Umlauf dennoch ausreicht, daß es aber ohne Vertrauen auch in reichlicher Menge nicht ausreicht.« (SZ 337 [Anonymus Iamblichi 7 p. 101, 11-104, 12]) Geld wird hier als Beispiel dafür angeführt, dass jede Art von Kommunikation ein vorgängiges Vertrauen, eine Art principle of charity verlangt. Eine Geldwirtschaft ist nur dann möglich, wenn wir in die Stabilität des Geldes – und damit in die Akzeptanz des Geldes durch die anderen – vertrauen. Das Geld erscheint hier regelrecht als Kristallisation wechselseitigen Vertrauens. Vertrauen, Recht und Gesetz bilden das Zentrum der Gesellschaft. Wer sie zerstört, macht die Gesellschaft anfällig für eine Gewaltherrschaft. PístiV kann mit Glaube, Vertrauen und Zutrauen, aber auch mit Versprechung und Verheißung übersetzt werden; das Wort gehört zum Verbalstamm von peíjein, dem zentralen Handlungsverb der Rhetorik; das eng verwandte Verb pisteúein bedeutet trauen und vertrauen, zunächst aber glauben im Sinne von sich überreden lassen.106 PístiV könnte im weitesten Sinne also als etwas gedeutet werden, was aus dem Überzeugtwerden durch Worte resultiert, was aber zugleich vorausgesetzt werden muss, um mit Worten überzeugen zu können. Wir geraten an dieser Stelle in einen uns bereits vertrauten Zirkel. Die Bindungskraft der Rede, die zugleich die Bindungskraft des Sozialen garantiert, erweist sich als eigentümlich grund-
104 Er antizipiert die Unterscheidung von Macht und Gewalt bei Hannah Arendt. Für Arendt zeichnet sich Macht dadurch gegenüber Gewalt aus, dass sie legitimiert ist. Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970. 105 In Platons Hierarchie der Erkenntnisvermögen kommt pístiV, nach nóhsiV (Geist, Vernunft) und diánoia (Verstand), aber noch vor e]ikasía (der auf Wahrscheinlichkeit beruhenden Vermutung), der dritte Rang zu (vgl. Plat. Pol. VI 511 e). 106 Vgl. Wilhelm Pape, Griechisch-Deutsch. Altgriechisches Wörterbuch, Berlin 1880, Bd. 2, 620.
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los, als auf nichts außerhalb ihrer selbst rückführbar. Nichts rechtfertigt das Vertrauen in die Worte des Redners, gerade das macht sie allerdings vertrauenswürdig. Vertrauen lässt sich in letzter Konsequenz nicht über einen Rekurs auf Gründe herstellen, sondern muss bereits vorausgesetzt worden sein. Wenn ich einen Grund für die Vertrauenswürdigkeit meiner Worte anführe, gestehe ich damit implizit ein, dass etwas an diesen Worten gerade kein Vertrauen rechtfertigt. Vertrauen bildet insofern eine soziale Figuration des rhetorischen Akosmismus. Auch für Cicero besteht ein generelles Ziel des Redners darin, »sich vertrauenswürdig zu machen« (Cic. part. or. II 5). Vertrauen (fides) kann als zentraler Begriff der römischen Rhetorik gelten. Cicero definiert fides, die »Grundlage der Gerechtigkeit«, als »die Zuverlässigkeit und die Aufrichtigkeit in Worten und Vereinbarungen« (Cic. de off. I 23). Er bemüht eine stoische Etymologie, gemäß der der Begriff »›Gewähr‹ [fidem] heißt, weil ›wahr wird‹ [fiat], was man sagte [quod dictum est]« (Cic. de off. I 23). Cicero führt fides auf fieri zurück, auf das performative Verb schlechthin. Etwas werde, weil es gesagt ist, darauf vertraut! Ohne dieses Vertrauen auf das Gesagte, das an sich grundlos ist, wäre keine Kommunikation denkbar. In Bezug auf Ciceros eigene rednerische Begabung spricht Plutarch auch von einer »gewinnenden Kraft seiner Rede«, von seiner »cáriV perì tòn lógon« (Plut. Cic. 13).107 Dieses rhetorische principle of charity geht über das von Donald Davidson formulierte weit hinaus. Bezieht sich Davidsons principle of charity108 auf eine unterstellte Konsistenzerwartung, so bindet sich das rhetorische Vertrauen an Nichts, an das bloße »es werde, weil es gesagt wurde«. Die philosophische Unterscheidung von dóxa und ]epist®mh markiert den Beginn der abendländischen Metaphysik. Olbrechts-Tyteca und Perelman halten »das Begriffspaar ›Schein-Wirklichkeit‹ [...] für den Prototyp jeglicher begrifflichen Zergliederung [...], und zwar sowohl wegen seiner
107 Auf die Rolle der cáriV und der Chariten für das rhetorische Sprachdenken komme ich ausführlicher in Kapitel 5.2 zurück. 108 Vgl. Donald Davidson, »A Coherence Theory of Truth and Knowledge«, in: Ernest Lepore (Hg.), Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson, New York 1986, 307-319. – Das principle of charity konnte nur auf Grund seines geschickt gewählten Namens so bekannt werden, der die Kraft der cáriV rhetorisch nutzt.
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allgemeinverbreiteten Verwendung als auch wegen seiner fundamentalen philosophischen Bedeutung« (NR 591). In ihrer Neuen Rhetorik bemühen sie sich um eine Dekonstruktion dieses Gegensatzpaares. Sie beziehen sich vor allem auf Sartres Figur einer »internen Negation«, also einer »Beziehung zwischen zwei Seinsweisen, bei der das, was von der anderen verneint wird, die andere durch eben ihre Abwesenheit innerhalb ihres Wesens qua109 lifiziert« . Im Begriffspaar Schein und Wirklichkeit ist »der Ausdruck II [Wirklichkeit] [...] nur in Bezug auf Ausdruck I [Schein] zu verstehen, denn er ist das Ergebnis einer Begriffszergliederung innerhalb des Ausdrucks I, und zwar zur Behebung der möglichen Unvereinbarkeiten, die zwischen den Aspekten des letzteren auftreten« (NR 592). Gerade im philosophischen Versuch, Wirklichkeit gegenüber dem Schein auszuzeichnen wie zu immunisieren, wird Wirklichkeit vom Schein her definiert und daran gehindert, ihrem Begriff zu entsprechen. Dieses dekonstruktive Argument, das sie fast 15 Jahre vor den frühen Arbeiten Derridas entwickeln, übertragen OlbrechtsTyteca und Perelman auf eine ganze Reihe anderer Leitdichotomien abendländischen Denkens wie Meinung – Wissen, Sinnlichkeit – Vernunft, Körper – Seele, Werden – Sein, Vielheit – Einheit (vgl. NR 598 ff.).
4.4 G ESTE , S TIMME UND S CHRIFT 110 Auch Geste, Stimme und Schrift sind Formen der Rede, Modi ihres Erscheinens, in denen sich etwas über den semantischen Gehalt Hinausgehendes aussagt. Der Rhetorik wird immer wieder nachgesagt, sie zeichne als auf den mündlichen Vortrag fixiertes Bildungsprogramm die Stimme gegenüber der Schrift als wesentliche Erscheinungsform der Rede aus. Für die Rhetoriker konstituiert allerdings auch die Schrift eine politische Öffentlichkeit. Die bedeutenderen Reden zirkulierten seit der Zeit des Gorgias in schriftlicher Form. Vieles spricht dafür, dass einige der von Isokrates über-
109 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, übers. v. Hans Schönberg u. Traugott König, Reinbek 1993 [1943], 329. 110 In dieses Kapitel gehen Überlegungen ein, die ich in kürzerer Form in dem Aufsatz »Jenseits von Stimme und Schrift. Anmerkungen zu einer Rhetorik der Geste«, in: Gerd Seebald/Michael Popp/Jan Weygand (Hg.), GrenzGänge – BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven, Münster 2006, 72-91, präsentiert habe.
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lieferten Reden nie gehalten wurden, sondern von vorn herein auf ihre schriftliche Verbreitung hin angelegt wurden. Für Isokrates, der als Politiker ein panhellenistisches Programm vertritt, hat die Schrift die Fähigkeit, die Agora über ganz Griechenland auszudehnen: »Bildwerke können notgedrungen nur dort sein, wo sie aufgestellt sind, während Reden in Griechenland verbreitet werden können« (Isocr. or. IX 74). Gleichzeitig versetzt uns die Schrift in die Lage, »nicht nur in allem, was zu unserer eigenen Zeit geschieht, kundig zu werden, sondern auch in allem, was sich je ereignet hat« (Isocr. or. XII 209). Dieses Argument kehrt die Platonische Schriftkri111 tik aus dem Phaidros um und begründet zugleich einen Vorrang des Wortes vor dem Bild. Während das Bildwerk an ein Hier und Jetzt gebunden bleibt, lässt sich die Schrift endlos reproduzieren und der Rede insofern eine Fern-Wirksamkeit über Raum und Zeit hinweg sichern. In diesem Kapitel möchte ich, ausgehend von der Problematisierung des Verhältnisses von Stimme und Schrift, auf den zentralen Stellenwert des Gestischen für das rhetorische Denken hinweisen. Das Gestische steht quer zur Dichotomie von Stimme und Schrift, die seit den Arbeiten Derridas ein Zentrum aktueller sprachphilosophischer Überlegungen bildet. In den klassischen sprachphilosophischen Entwürfen des 18. Jahrhunderts, die noch stark in der Tradition eines rhetorisch geprägten Humanismus stehen, fungiert die Geste als Grenzbegriff sui generis. Von Vico, Herder und Rousseau wird sie exakt auf der Schwelle von einem vorsprachlichen Natur- zu einem sprachlichen Kulturzustand angesiedelt. Die gestische Kommunikation soll in den Entwürfen dieser Autoren den Übergang von der Natur zur Kultur vermitteln, ohne dabei der schlechten Alternative zu verfallen, den Hominisationsprozess entweder zu naturalisieren oder ihn auf transzendente Ursachen (etwa das Eingreifen Gottes) zurückzuführen. Die klassischen Kulturentstehungstheorien interpretieren die Geste als eine Sprache vor der Sprache, als eine Sprache überhaupt, die sich noch nicht in
111 Eine Kritik, die weitgehend singulär bleibt. Richard Leo Enos bemerkt: »In classical Athens, orality and literacy not only interacted but also were endemically tied together in many civic practices« (Richard Leo Enos, »Inventional Constraints on the Technographers of Ancient Athens«, in: Phillip Sipiora/James Bumlin (Hg.), Rhetoric and Kairos, a.a.O., 77-88, hier: 78). Die mündliche Deliberation in den politischen und rechtlichen Institutionen der klassischen Zeit wird permanent schriftlich protokolliert und archiviert.
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Lautsprache und Schriftsprache, Bedeutung und Bedeutungsträger sowie performative und konstative Anteile der Äußerung dividieren lässt. Die Geste spricht in einer verkörperten, adressierten, nicht-codifizierten Weise, sie eröffnet allererst die Möglichkeit einer Kommunikation. In der Geste, so die zentrale These dieses Kapitels, gibt sich Sprache als Rede zu erkennen, als ein wirkendes und adressiertes Geschehen: »Versuchen, sich durch Ges112 ten auszudrücken [...] bedeutet, an das Wesen der Sprache zu rühren« . Das Denken der Geste als eines Sprechens vor der Sprache wird im weiteren Verlauf der neuzeitlichen Sprachreflexion weitgehend marginalisiert. Symptomatisch dafür steht Jacques Derridas Dekonstruktion, die im Zuge einer Lektüre der Rousseauschen Kulturentstehungstheorie ihr Augenmerk von vorneherein auf das Verhältnis von Stimme und Schrift legt. Die Stimme, so Derridas These, verkörpere in Rousseaus Denken einen inneren Naturzustand, eine Art Natur in mir, die positiv gegenüber der äußeren, sekundären Schrift, dem Inbegriff von Kultur und Entfremdung, ausgezeichnet werde. Das philosophische Projekt einer Dekonstruktion formiert sich als Versuch, auf die Inkonsistenz dieser Rousseauschen Leitunterscheidung hinzuweisen und die Subordination der Schrift unter die Stimme, bzw. der Kultur unter die Natur, umzukehren. Schriftlichkeit erscheint dann als Wesenzug jeder – auch und gerade der stimmlichen – Äußerung; Schrift avanciert zum Grundprinzip der Sprache. Derridas Dekonstruktion, so meine These, verbleibt mit dieser Operation auf dem Feld einer Sprachphilosophie, die ausgehend von der Rhetorik zu kritisieren wäre. Im Folgenden rekonstruiere ich zunächst die Grundlinien der Derridaschen Rousseau-Lektüre (a). In einem zweiten Schritt weise ich kritisch auf einige Vereinseitigungen der Derridaschen Schriftkonzeption hin, die, wenn auch ex negativo, von einem repräsentationalistischen und metaphysischen Denkrahmen abhängig bleibt (b). In einem dritten Schritt frage ich, was mit der Dichotomie von Stimme und Schrift geschieht, wenn eine dritte Instanz hinzu tritt: die Geste (c). (a) Die Bewegung der Dekonstruktion formiert sich an der Grenze von Stimme und Schrift. Die Stimme, so Derridas metaphysikkritische Lesart, werde von Platon bis Austin als Stimme des Selbst ausgezeichnet; sie garantiere dessen Transparenz, Fülle und Identität dadurch, dass sich das Selbst als Selbst erst im Vernehmen seiner eigenen Stimme konstituieren
112 Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 510.
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könne. Demgegenüber bedrohe die Schrift – das sekundäre Abbild der Stimme, der Inbegriff des Äußerlichen, Mechanischen und Toten – für den phonozentrischen Mainstream des abendländischen Denkens jeden gelingenden Selbstbezug. Während sich das sprechende Subjekt mit seinen Intentionen in seiner Stimme unmittelbar präsent sei, entzögen sich die schriftlichen Zeichen seiner Verfügung; sie bedrohten die Einmaligkeit seines Hier und Jetzt mit Andersheit, Verfremdung und Unterbrechung. Derridas erste dekonstruktive Geste besteht in einer Umwertung dieser traditionellen Unterordnung der Schrift unter die Stimme. Das Signum der Schrift: sekundäres Abbild des lautsprachlichen Zeichens zu sein, wird von ihm als Charakteristikum eines jeden, und somit auch des phonetischen Zeichens interpretiert. Die Dekonstruktion unterläuft die Grenze von Stimme und Schrift dadurch, dass sie die Stimme als Form einer verallgemeinerten Schrift expliziert. Am nachdrücklichsten entwickelt Derrida diese Argumentation in De la grammatologie aus dem Jahr 1967. Dieses Buch gliedert sich in zwei Teile; der erste ist überschrieben mit Die Schrift vor dem Buchstaben, der zweite mit Natur, Kultur, Schrift. Diesen ersten Teil bezeichnet Derrida auch als »theoretische Grundlegung«. Er führt hier, vermittelt über eine Untersuchung des Stellenwertes der Schrift in der strukturalistischen Linguistik, die zentralen Begriffe und Verfahren seiner Dekonstruktion ein. Doch an dieser Stelle ist Vorsicht angebracht: Hinter der angekündigten »Grundlegung« verbirgt sich eher ein Zugrundegehen-Lassen aller Gründe. Die Dekonstruktion kennt kein Erstes und keinen Anfang 113 , keine zentralen Prinzipien und Methodologeme. Derridas Texte
113 An anderer Stelle (vgl. Andreas Hetzel, »Die Gabe der Gerechtigkeit. Ethik und Ökonomie bei Jacques Derrida«, in: Phänomenologische Forschungen, Jg. 2002, 231-250, hier: 234) habe ich darauf hingewiesen, dass Derridas grammatologische Kritik an jeder Ursprungsphilosophie etwas vorschnell Ursprung und Anfang kurzschließt. Die Bewegung einer Schrift, die jeden metaphysischen Ursprung unendlich aufschiebt und damit das Herrschaftsgefüge der Metaphysik subvertiert, verunmöglicht zugleich jeden wirklichen Anfang, jede Emergenz eines Ereignisses. Die dekonstruktive Dynamik der Schrift wird immer schon jedem Anfang vorausgegangen sein, jeder Freiheit des Anfangenkönnens, von der die Geste – so wie ich sie im Folgenden verstanden wissen möchte – zeugt. Die Geste wäre als paradoxer Anfang der Sprache in der Sprache zu bezeichnen. Auf Derridas Schwierigkeiten, im Rahmen der grammatologischen Position seines Frühwerks
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bilden ein rhizomatisches Geflecht von Verweisungen und Lektüren; sie kreuzen und vermischen sich immer schon mit anderen Texten, an deren Rändern sie sich situieren. In dieser Hinsicht stehen sie einem rhetorischen Selbstverständnis durchaus nahe. Wie die frühromantische Literaturkritik bleibt auch Derridas Dekonstruktion skeptisch in Bezug auf die Einheit des Werkes. Derrida verkündet den Anbruch einer Epoche der Schrift, die die Epoche des Buches beende: »Die Frage nach der Schrift«, so Derrida, »konnte sich nur mit der Schließung des Buches eröffnen. Damit wurde die fröhliche Irre des graphein zu einer rückkehrlosen Bewegung. Das Offensein für den Text wurde das Abenteuer, die rückhaltlose Verausgabung.«114 Der Weg vom Buch in die Schrift hat dabei nicht nur medientheoretische sondern auch eminent herrschaftskritische Implikationen. Während sich die Identität des Buchtextes von der Autorität eines Autors herschreibt, zeichnet sich die Schrift durch eine »wesentliche Führungslosigkeit« aus, »da sie von jeder absoluten Verantwortung, von dem Bewußtsein als Autorität in letzter Instanz abgeschnitten ist, verwaist und seit ihrer Geburt vom Beistand ihres Vaters getrennt«115. Die Schrift bricht mit dem semantischen Souveränitätsanspruch des Autors: »Schreiben heißt, nicht mehr absolut in der Lage zu sein, dem Schreiben seinen Sinn vorangehen zu lassen.«116 Im Mittelpunkt der Grammatologie steht der Versuch einer Rehabilitierung der »Schrift«, die in ihrer doppelten Supplementarität (Zeichen, die sich an die Stelle anderer, lautsprachlicher Zeichen setzen und diese ersetzen) aus dem Diskurs der okzidentalen Metaphysik und Linguistik ausgegrenzt wurde. »Die Geschichte der Metaphysik ist das absolute Sich-
so etwas wie Emergenz zu denken, verweist auch Ulrich Wenzel (vgl. Ulrich Wenzel, »Poststrukturalistische Medienforschung – Denken vom Vorrang der Zeichen«, in: Klaus Neumann-Braun/ Stephan Müller Doohm (Hg.), Medien- und Kommunikationssoziologie: eine Einführung in zentrale Begriffe und Theorien, Weinheim 2000, 125-157; ferner ders., Vom Ursprung zum Prozess: zur Rekonstruktion des Aristotelischen Kausalitätsverständnisses und seiner Wandlungen bis zur Neuzeit. Opladen 2000, 215ff.). 114 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 443. 115 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens et al., Wien 1988 [1972], 299. 116 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 22.
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sprechen-hören-Wollen« ; die Metaphysik orientiert sich am Modell der 118 Doch die Stimme wird in den Texten der metaphysischen TraStimme. dition von der Schrift als ihrem notwendigen Gegenteil eingeholt. Schrift avanciert in Derridas Darstellung zum »ursprünglichen Tal des Andern im Sein.«119 Er zeigt, dass das vom philosophischen Diskurs an den Rand Gedrängte immer schon in dessen Zentrum interveniert hat, dass dieser Rand das Zentrum vor jedem Anbeginn supplementiert. Das Zentrum oder das Eigentliche kann per definitionem nur negativistisch bestimmt werden als dasjenige, was nicht der Rand ist, als Rand des Randes oder als Grenze der Grenze. Diese seine paradoxe Möglichkeitsbedingung, die zugleich seine Unmöglichkeitsbedingung darstellt, versucht jeder metaphysische Diskurs, der sich auf eine Fülle, eine Präsenz oder ein Zentrum beruft, zu verdrängen. Die dekonstruktivistische Restituierung des Randes im Zentrum, der Uneigentlichkeit der Schrift in der Eigentlichkeit der »Präsenz«, kehrt nicht einfach nur das klassisch-metaphysische Schema um. Sie soll vielmehr traditionelle metaphysische Dichotomien wie »Zentrum-Rand«, »Eigentlichkeit-Uneigentlichkeit«, »Signifikat-Signifikant«, »Seele-Körper«, »LebenTod«, »Identität-Differenz«, »Mann-Frau« usw. als solche dekonstruieren. Dekonstruktion nennt Derrida die herrschaftskritische Bewegung, welche diese in sich hierarchischen Dichotomien (der Signifikant dient in der Metaphysik dem Signifikat) in den unhierarchischen Zustand eines »freien Spieles« versetzt; das Signifikat etwa lässt sich aus der Sicht der Derridaschen Radikalisierung der Saussureschen Linguistik nur als »Signifikant 120 des Signifikanten« ansprechen. Beide Seiten der Dichotomie werden sich
117 Jacques Derrida Die Stimme und das Phänomen, übers. v. Jochen Hörisch, Frankfurt/M. 1979 [1967], 163. 118 »De voce nemo magis quam philosophi tractant [Von der Stimme handeln die Philosophen am meisten]« (Comm. Don. 1) so formuliert es bereits der römische Grammatiker und Vergil-Kommentator Maurus Servius Honoratus im ersten Abschnitt seines Commentarius in Artem Donati. 119 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 52. 120 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 17. – Theunissen fomuliert ganz ähnlich: »Selbst wenn ich also ins Unendliche fortführe, Prädikate zu häufen, würde ich doch nie des Seinenden selbst habhaft werden, ja, vielleicht sogar mich auf die-
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wechselseitig zur Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit; sie hindern sich daran, sich in sich abzuschließen und zu totalisieren. Sprachliche Zeichen wirken und gelten bereits für Saussure »nicht vermöge eines in ihnen selbst enthaltenen Wertes, sondern ihre Geltung beruht auf ihrer gegenseitigen Stellung«121. Und zusammenfassend: »Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.«122 Saussure artikuliert eine Differenztheorie der Bedeutung; die Sättigung des Signifikats mit Sinn erfolgt für den Begründer einer strukturalistischen Linguistik nicht mehr über einen Rekurs auf eine vorsprachliche Realität. Das Signifikat erweist sich vielmehr als Effekt des differentiellen Spiels der Signifikanten; im Signifikat verdichten sich die Differenzen der Signifikanten auf Zeit; das Signifikat signifiziert selbst etwas: das differenzielle Spiel andere Signifikanten.123 Die metaphysische Hierarchie des Seins und der Zeichen zerbricht. Saussure überführt diese Hierarchie in ein Spiel, das dem Kantschen »freien Spiel« von Einbildungskraft und Verstand in der ästhetischen Erfahrung gleicht. Dieses Spiel wird von Derrida aufgegriffen. »Spiel« wäre für Derrida »der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung des Spiels, das heißt als Erschütterung der Onto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz. [...] Der Gedanke drängt sich auf, daß die Schrift das Spiel in der Sprache sei.«124 Das »freie Spiel« zwischen den Relata der klassischen Dichotomien der Metaphysik und der Zeichentheorie entsubstantialisiert diese Relata selbst: »Das Spiel ist das Zerreißen der Prä-
sem Weg immer weiter von ihm entfernen.« (Michael Theunissen, Der Andere, a.a.O., 304). 121 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., 141. 122 A.a.O., 143. 123 »Was beim Wort in Betracht kommt, das ist nicht der Laut selbst, sondern die lautlichen Verschiedenheiten, welche dieses Wort von allen andern zu unterscheiden gestatten, denn diese Verschiedenheiten sind die Träger der Bedeutung« (A.a.O., 140). 124 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 87.
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senz. Die Präsenz eines Elementes ist stets eine bezeichnende und stellvertretende Referenz, die einem System von Differenzen und in der Bewegung einer Kette eingeschrieben ist. Das Spiel ist immerfort ein Spiel von Abwesenheit und Präsenz, doch will man es radikal denken, so muß es der Alternative von Präsenz und Abwesenheit vorausgehend gedacht werden.«125 Die Dekonstruktion versetzt metaphysische, auf ein transzendentales Signifikat verweisende Texte in den Zustand eines immanenten Spiels ihrer Signifikanten, das die Referenz des Textes auf ein Textäußeres untergräbt. Rousseaus Philosophie versucht, wie Derrida im zweiten Hauptteil der Grammatologie zeigt, den Ort der in der Stimme anklingenden inneren Natur als einen der Kultur gegenüber exorbitanten Ort zu beziehen. Seine Kulturkritik versteht sich nicht als partikulare Kritik bestimmter Kulturformen, sondern als eine Kritik an der Kultur als solcher. Die innere, in der Stimme verlautende Natur fungiert als außerkultureller Referenzpunkt dieser Kulturkritik. Rousseau gibt vor, sich mittels eines literarischen Experiments in den Naturzustand versetzen zu können. Doch dieser Versuch, so Derrida, muss zwangsläufig scheitern. Das Ergebnis der in der Grammatologie praktizierten Rousseau-Lektüre ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: Es gibt keinen Naturmenschen, aber einen Diskurs über den Naturmenschen; es gibt keinen Naturzustand außerhalb kultureller Imagination, also auch keinen außerhalb der Rousseauschen Texte. Derridas Einwände gipfeln in 126 der These: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.« Die Schrift, die aus der Sicht Rousseaus die Identität des Naturzustand bedroht, wird in Derridas Argumentation nun selbst in den Status eines Zustandes erhoben, der dem Rousseauschen Naturzustand strukturell entspricht. Das Supplement markiert als Supplement den exorbitanten Punkt, von dem aus sich das Ganze der (vermeintlich phonozentrischen) Kultur des Abendlandes beschreiben und zurückweisen lässt: »Das Supplement selbst ist, in allen Bedeutungen des Wortes, exorbitant.«127 Derrida kritisiert die Rousseausche Kulturkritik nicht nur, sondern führt sie mit anderen Mitteln fort. (b) Derridas Dekonstruktion der Dichotomie von Stimme und Schrift ist von weiten Teilen der aktuellen Philosophie, Literaturwissenschaft und
125 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 440. 126 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 274. 127 A.a.O., 281.
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Kulturtheorie als kanonisch akzeptiert worden. Doch es sind auch Zweifel angebracht. Da für Derrida in letzter Konsequenz alles der Logik unendlicher Supplementierungen unterliegt, existiert das Supplement selbst nicht. Es entspricht in gewisser Weise dem Jenseits der kulturell vermittelten Welt, das Platon im Ideenhimmel und Rousseau im Naturzustand gesucht haben. Das Supplement supplementiert den Rousseauschen Naturzustand im Derridaschen Text in einer unerwarteten Weise, die seine dekonstruktivistische Intention zu unterlaufen scheint: Die doppelte Supplementarität der Schrift überbietet den Rousseauschen Naturzustand. Sie wird zu einem Architext oder einer Urschrift, die natürlicher ist als die Natur. Die Kraft, die das Spiel der Supplementierungen antreibt, charakterisiert Derrida als différance. Der Neologismus différance »bezeichnet die Produktion des Differierens im doppelten Sinne dieses Wortes [différer – aufschieben/(von einander) verschieden sein]«128. Sie erzeugt die Differenz des Signifikanten von sich selbst, sie spaltet ihn und schiebt die Möglichkeit seiner Selbstidentität unendlich auf. Die différance bezeichnet eine verräumlichende Kraft, die das Spiel der Schrift in Gang hält. Sie wird zum »Ursprung des Ursprungs«129 der Welt, zum unbewegten Beweger des textuellen Universums: »Wenn aber die différance das ist [...], was die Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht, so gegenwärtigt sie sich nie als solche. [...] Sie gehört in keine Kategorie des Seienden, sei es anwesend oder abwesend.«130 Die différance gilt hier deshalb als ursprungslos, weil sie ursprünglicher ist als jeder mögliche Ursprung. Dem starken und schwachen Begriff der Differenz (différance und différence) entsprechen ein starker und ein schwacher Schriftbegriff – die Urschrift als doppelte Supplementarität und die Schrift im profanen Sinne: »Die Urschrift, Bewegung der différance, irreduzible Ursynthese, die in ein und derselben Möglichkeit zugleich die Temporalisation, das Verhältnis zum Anderen und die Sprache eröffnet, kann, insofern sie die Bedingung für jedes sprachliche System darstellt, nicht selbst ein Teil davon sein und kann ihm folglich nicht als ein Gegenstand einverleibt werden.«131 Strukturell lässt sich diese Konzeption auf zentrale Figuren der Metaphysik, etwa
128 A.a.O., 44. 129 A.a.O., 108. 130 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, a.a.O., 31/32. 131 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 105 (Hervorhebung A.H.).
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auf bestimmte Grundgedanken des Schellingschen Systems des transzendentalen Idealismus, abbilden. Auch Schellings Absolutes ist nicht, gilt aber gleichzeitig als das, was alles Seiende erst ermöglicht. Dem Absoluten Schellings könnte, sollte dieser Vergleich weitergeführt werden, bei Derrida auch der Text entsprechen. Der Text ist für Derrida der »ultra-transzendentale Text«132, transzendentaler als die einfache Transzendenz, er hat immer schon alles einbegriffen. Jochen Hörisch spricht in Bezug auf Text und différance vom »Paradox, daß noch die Dekonstruktion der basalen okzidentalen Denkkategorien auf ein ›ursprünglich ursprungsloses‹ Theorem abgebildet werden muß«133. In Derridas eigenen Worten: »Eine solche différance, ›älter‹ noch als das Sein, hat keinen Namen in unserer Sprache. Aber wir ›wissen bereits‹, daß sie nicht nur vorläufig unnennbar ist, weil unsere Sprache diesen Namen noch nicht gefunden oder empfangen hätte, oder weil er in einer anderen Sprache außerhalb des begrenzten Systems der unseren, gesucht werden müßte. Denn es gibt keinen Namen dafür«134. Die différance fungiert hier als das erhabene Bild für ein absolutes Bilderverbot. Sie darf nicht benannt werden, über sie lässt sich nichts Positives aussagen. Die Philosophie gelangt hier an ihr Ende. Gleichzeitig eröffnet sich vor ihr ein unendlicher Horizont des Sagbaren. Gerade weil jede Abbildung sie aufs neue verfehlt, kann und muss die différance unaufhörlich umspielt, beschrieben und abgebildet werden. Derrida reduziert die Praxis der Philosophie auf das Zeugnis-Ablegen gegenüber der différance und erweitert ihr Feld zugleich ins Unendliche, denn die différance hat sich, im Modus des apriorischen Perfekts, immer schon in alle Weltbezüge eingeschrieben. Der mit Derridas Diskurs verbundene Universalitätsanspruch beerbt denjenigen einer jeden Metaphysik: »Die Grammatologie« kann für Derrida insofern auch »nicht eine regionale Wissenschaft unter anderen sein.«135 In der Grammatologie kommt die Schrift (wie der Geist in der Hegelschen Logik) zu sich selbst. Durch diesen Anspruch, die Schrift zu sich selbst zu bringen, bringt sie Derrida aber zugleich um genau diejenige metaphysikkritische Spitze, um derentwillen er sie ins Feld geführt hat. Was
132 A.a.O., 107. 133 Jochen Hörisch, »Das Sein der Zeichen und die Zeichen des Seins«, in: Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., 7-50, hier: 40. 134 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, a.a.O., 51. 135 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 148.
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als radikale Kritik gemeint war, schwebt in der Gefahr einer Überbietung der Metaphysik, welche sich, zumindest in Derridas frühen Texten, aus einer uneingestandenen, geschichtsphilosophisch-ästhetischen Utopie speist. Die Urschrift Derridas knüpft an die Utopie eines mytho-poetischen Zustands an, wie er zwischen 1795 und 1800 in Tübingen und Jena erträumt wurde. Um eine ursprüngliche, noch nicht in partikulare Einzeldiskurse fragmentierte Textualität, einen »Naturzustand der Schrift«, wiederherzustellen, müssen für Derrida erst »viertausend Jahre linearer Schrift Schritt für Schritt abgetragen werden«136. Hinter den Ordnungen der okzidentalen Metaphysik liege eine entgrenzte Textualität, eine »fröhliche Irre des graphein«137, deren Wiedergeburt sich in »Pounds unabdingbar graphischer Poetik«138 und in den Werken Mallarmés139 ankündige. Für Derrida ist es »durchaus einsichtig, daß der Durchbruch [durch] [...] die Geschlossenheit des Systems [der Metaphysik] [...] von der Seite der Literatur und der Poetik«140 ausgehen wird. Christoph Menke weist darauf hin, dass die Dekonstruktion immer auch als Reflex auf die künstlerische Moderne zu verstehen sei: »Allein aus dem Versuch, die zunächst nur in der Kunst erfahrene Negativität auch außerhalb ihrer Sphäre zu artikulieren und zu begründen, können [...] die zentralen Begriffe der Philosophie von [...] Derrida verstanden werden.«141 Sein Stil wiederholt den Mallarméschen Versuch einer Selbstauslöschung der lyrischen Sprache auf dem Felde der Philosophie. Derrida erhebt sich in den Status eines Propheten, durch den sich das Nahen des »ultra-transzendenten« und »ultra-poetischen« Textes ankündigt. Zumindest die Grammatologie trägt stellenweise offen messianische Züge: »In der strengen Erfahrung des Bereiches, der sich vorläufig noch Schrift nennt [...], äußert sich vielleicht die Irre (errance) eines Denkens, das treu und aufmerksam auf eine unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist, die, jenseits der Geschlossenheit (clôture) des Wissens, sich der Gegen-
136 A.a.O., 152. 137 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 443. 138 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 167. 139 Ebd. 140 A.a.O., 166. 141 Christoph Menke, »Umrisse einer Ästhetik der Negativität«, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt/M. 1991, 191-216, hier: 208.
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wart kundtut. Der Vorgriff auf die Zukunft ist nur in Gestalt der absoluten Gefahr möglich.«142 Hinter der linear-phonetischen Ordnung des Abendlands sucht er die graphematische Ordnung einer hieroglyphischen Urschrift und wiederholt die Schlegel-Schellingsche Utopie eines Einmündens der »einzelnen Ströme« der Philosophie und der Wissenschaften in den »Ozean der Poesie [...], von welchem sie ausgegangen waren«143. Dem imperialen Gestus, den Derrida der »okzidentalen Metaphysik« vorwirft, erliegt er insofern selbst, als er weite Teile der abendländischen Tradition als Ausdruck eines (metaphysischen) Prinzips begreift und von einem neuen, dekonstruktivistischen Prinzip aus kritisiert, das sich in alle Selbst- und Weltbezüge, alle historischen Dokumente und kulturellen Manifestationen immer schon eingeschrieben hat. Geht man diesen Einwänden weiter nach, dann kann auch die Stimme 144 wieder in einem anderen Licht erscheinen. Im Sprechen affiziere ich mich nicht nur selbst, sondern unterscheide mich auch von mir. Im Fluss der Rede entreiße ich mich ständig meiner Selbstidentität. Ich spreche nur in pathologischen Situationen primär zu mir selbst; ansonsten überschreite ich mein Selbst gerade im Sprechen auf eine Andere hin, eine Andere, die mir als je konkreter, ethisch-praktischer Anspruch begegnet, welcher es unmöglich macht, sie als abstrakte Andersheit zu verallgemeinern bzw. zu entsubjektivieren. Meine Stimme wäre von hier aus primär als Antwort145 zu verstehen, als etwas, das die Andere in mir hervorruft. Eine Berücksichtigung der entäußernden, entfremdenden und responsiven Kraft der Stimme würde die Grenze von Stimme und Schrift, die Derrida in seiner Kritik zugleich nachzieht und verfestigt, unterlaufen. Im Kontext des Antwortens und Indie-Verantwortung-gerufen-Seins eröffnet auch die Stimme eine fröhliche Irre, sie löst sich von ihrem Autor und wird zu einer Macht ganz eigener Art. Nichts garantiert, dass meine Stimme mich nicht unwiederbringlich
142 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 15. 143 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1957 [1800], 298. 144 Vgl. Roland Barthes, »Die Rauheit der Stimme«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute, Leipzig 1991, 299-309; Stanley Cavell, Die andere Stimme. Philosophie und Autobiographie, Berlin 2002. 145 Vgl. Bernhard Waldenfels, Antwortregister, a.a.O.
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fortträgt, mich selbst zu einem Anderen macht, meinen Intentionen entflieht, mein Begehren durchkreuzt und mein Inneres verleugnet. Insbesondere die rhetorische Stimme hat keinerlei Bezug zu einer sie kontrollierenden Innerlichkeit. Sie erklingt wesentlich in einer öffentlichen Situation, ist Äußerung ohne Innen, wesentlich Antwort und Provokation von Antwort. Insbesondere Quintilian hat der Stimme eine breite Aufmerk146 samkeit gewidmet und sie ganz auf die Seite der actio gestellt. Neben (und mit) der Gestik und Mimik gilt sie ihm als Instanz der Realisierung der Rede. In ihrer Plastizität ist die Stimme aus Quintilians Sicht in besonderer Weise befähigt, auf die Vielfalt sich ändernder Situationen zu reagieren; gleichzeitig individualisiert die Stimme eine Rede, bindet sie ebenso an das je besondere ]³joV eines Redners (ohne sich indessen auf so etwas wie eine Seele beziehen zu müssen) wie an das Hier und Jetzt einer Situation: »Wie das Antlitz, obwohl es nur aus wenigen Teilen besteht, doch eine grenzenlose Vielfalt von Unterschieden besitzt, so besitzt auch jeder seine eigentümliche Stimme, auch wenn sie nur wenige Besonderheiten in ihrer Erscheinung hat, die man in einer Benennung fassen kann, und mit dem Ohr läßt sie sich nicht weniger deutlich unterscheiden wie das Antlitz mit dem Auge.« (Quint. inst. or. XI 3, 18) Die Stimme in ihrer Plastizität wird für Quintilian insbesondere zum Organon der Affekterregung, also des dritten der von Aristoteles unterschiedenen Überzeugungsmittel des Redners: »So wird die Stimme wie eine Vermittlerin die Stimmung, die sie aus unserem Gemütszustand empfangen hat, an den Gemütszustand der Richter weitergeben« (Quint. inst. or. XI 3, 62). Sie kommuniziert in bevorzugter Weise emotionale Haltungen. Durch die Modulation der Stimme können die »gleichen Wörter bei verändertem Vortrag Feststellung, Bekräftigung, Vorwurf, Verneigung, Verwunderung, Unwillen, Frage, Spott oder Herabsetzung ausdrücken« (Quint. inst. or. XI 3, 176).
146 Darin folgt er Cicero, der die actio regelrecht als Beredsamkeit des ganzen Körpers definiert: »Der Stil des Sprechens zeigt sich an zwei Dingen: Vortrag und Sprachgebrauch. Der Vortrag ist nämlich eine Art körperlicher Beredsamkeit [eloquentia corporis], insofern er auf der Stimme und auf der Bewegung beruht. [...] Man kann es kaum ausdrücken, welche große Bedeutung es hat, wie der Redner dies alles zu verwenden weiß.« (Cic. or. 55) An anderer Stelle spricht Cicero von der actio auch als von einer »sermo corporis [Körpersprache]« (Cic. de or. III 222).
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Sehr ausführliche und fruchtbare Erörterungen der Stimme finden sich im Kontext der stoischen Dialektik; die Stimme wird hier einerseits einem rhetorikaffinen Denken der Wirksamkeit unterstellt, andererseits als immer schon durch Schrift artikulierte thematisiert. Bereits auf dem Feld der Naturphilosophie entwickelt die Stoa eine materialistische Wirksamkeitstheorie, die vom Atomismus beeinflusst sein dürfte. Die Stimme des Menschen wie des Tieres gilt etwa Diokles, einem Stoiker des ersten Jahrhunderts v. Chr., als »erschütterte Luft« (FDS 476). Im Unterschied zur Stimme des Tieres ist diejenige des Menschen allerdings »artikuliert [ÉnarjroV]«. Artikulation verweist einerseits auf den Verstand als mögliche Ursache – »artikuliert« würde dann dasselbe bedeuten wie »vom Verstand her geäußert« (FDS 476) – andererseits aber auch auf ein schriftliches Alphabet: »Die artikulierte Stimme ist diejenige, welche in Buchstaben festgehalten werden kann; die konfuse ist diejenige, welche man nicht aufschreiben kann.« (FDS 500) Die artikulierte Stimme erscheint somit als »eine schreibbare Stimme« (FDS 476). In der Artikulation konvergieren Stimme, Verstand und Schrift; der Verstand wäre von hier aus als das Vermögen anzusprechen, die Laute auf das Alphabet zu beziehen, sie zu codieren. Marius Victorinus, ein Grammatiker und Rhetor des vierten Jahrhunderts, synonymisiert in diesem Sinne die nichtartikulierte Stimme mit Irrationalität: »omnis vox aut articulata est aut confusa [...] confusa est inrationalis vel inscriptibilis.« (FDS 502) Die nichtartikulierte Stimme verkörpert ihm das andere der Vernunft. Jenseits des Rationalen liegt ein Sprechen, das wir nicht aufschreiben können. Stimme und Schrift gelten den Stoikern als gleichwertig und implizieren sich wechselseitig. Die Stimme selbst zeichnet sich im stoischen Denken ferner durch eine gewisse Wirksamkeit aus: »Denn alles, was tätig [poioûn] ist, ist körperlich; die Stimme aber ist tätig, indem sie zu den Hörern hindringt, ausgehend von dem, der seine Stimme erhebt.« (FDS 476) Die Stoiker entfalten eine Art Mikropragmatik der Stimme oder des Lautes, auf der dann alle anderen Unterscheidungen ihrer Dialektik aufruhen. An der Formulierung »alles, was tätig [poioûn] ist, ist körperlich« wäre hervorzuheben, dass hier die Körperlichkeit aus der Wirksamkeit abgeleitet wird und nicht umgekehrt. Weil sie Wirksamkeit entfalten, müssen die stimmlichen Phoneme nach Ansicht des Autors körperlich sein, in ihrem letzten physikalisch beschreibbar. An anderer Stelle heißt es: »Epikur, Demokrit und die Stoiker erklären die Stimme für körperlich. Denn körperlich ist alles, was tätig sein
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und Wirkungen erleiden kann wie etwa das Eisen; dieses erleidet nämlich Wirkungen vom Feuer und tut etwas in bezug auf Menschen oder Hölzer.« (FDS 481) Eine andere, stärker platonische Traditionslinie innerhalb der Stoa leugnet dagegen die Körperlichkeit der Stimme, da diese »ihr Sein im Werden« (FDS 481) habe und als reine Übergängigkeit zu verstehen sei. Diese Traditionslinie muss der Stimme dann entweder ihre Wirksamkeit absprechen oder sie anders als in Begriffen einer physikalischen Wirksamkeit erklären. Stimme ist, so ließen sich vielleicht beide Deutungen ihrer Wirksamkeit zusammenführen, immer auch erschütterte Luft, doch ihre Wirkung erschöpft sich nicht nur in der physikalischen Übertragung der Erschütterung, übertragen wird vielmehr auch die Artikulation, die auf den Verstand wirkt. In der stoischen Dialektik scheint sich gegenüber diesen Deutungen ein Denken durchgesetzt zu haben, das die Rede dem Verstand zu unterstellen. Stobaeus berichtet: »Der Stoiker Chrysipp sagte, der Verstand sei die Quelle der Rede.« (FDS 515) Philo von Alexandrien, der stoische, platonische und jüdisch-christliche Motive vereint, sagt von der »artikulierten Stimme«, dass sie »vom Verstand hervorgeschickt wird [...] und daß sie im Verhältnis zu dem dahinter stehenden Geist die Stellung eines Boten oder eines Dolemtschers innehat« (FDS 507). Dies wäre natürlich eine gänzlich unrhetorische Perspektive. Auch Cicero beschreibt den Weg der artikulierten Rede vom Verstand bis zur zitternden Luft, doch er kehrt die Erklärungsrichtung der Stoiker gleich doppelt um. Zunächst gilt der Verstand bei Cicero nicht als Ursprung der Stimme, sondern wird zu einem Teil ihres Apparates: »Denn erstens verläuft von den Lungen bis ins Zentrum des Mundes die Luftröhre; durch sie wird die Stimme, die vom Verstand ihren Anfang nimmt, aufgenommen und dann hervorgebracht. Anschließend liegt im Mund die Zunge, begrenzt von den Zähnen; sie formt und bestimmt die unbändig hervorquellende Stimme und erzeugt dabei die wohlunterschiedenen und deutlich geprägten Laute der Stimme, indem sie an die Zähne und an andere Teile des Mundes anschlägt.« (Cic. de nat. deor. II 59,149). Der gesamte Artikulationsapparat, den Cicero hier eindrucksvoll beschreibt, dient nicht dem Verstand, sondern existiert »ad usum autem orationis«, zum Nutzen der Rede. Auch der Verstand (mens) fügt sich der oratio. Eine ontologische Trennung von Stimme und Schrift, wie sie Platon und Derrida betreiben, macht für den Rhetoriker schon deshalb keinen Sinn, weil die Kulturtechniken des Schreibens und Redens für sie untrennbar verknüpft
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sind. Schreiben bedeutet für die antiken Autoren in erster Linie diktieren, Lesen sich-vorlesen-Lassen oder laut Lesen. Beide Tätigkeiten, das Lesen und das Schreiben, erfolgten nicht, wie im Mittelalter und in der Neuzeit, in einsamer Kontemplation, sondern in Zusammenarbeit mit Sklaven oder Schülern. Derridas Grammatologie bleibt mit ihrer positiven Auszeichnung der Schrift gegenüber der Stimme und des Signifikanten gegenüber dem Signifikat genau jenem repräsentationalistischen Diskurs verbunden, den er zu überwinden vorgibt. Auch wenn sich das Signifikat konstitutiv hinter dem Horizont der Signifikanten entzieht, bleiben die Signifikanten von einem abwesenden Signifikat abhängig; auch wenn die Schrift die vermeintliche Einmaligkeit und Individualität der Stimme durchkreuzt und jede Äußerung als Wiederholung und Zitat entlarvt, bleibt die Schrift auf einen abwesenden Autor bezogen. Derridas grammatologisches Frühwerk vermag die Sprache nicht wirklich von der Vorherrschaft der Repräsentation, der Metaphysik und der Subjektphilosophie zu befreien. Eine solche Befreiung könnte nur von einer sprachlichen Instanz ausgehen, die quer zu den Unterscheidungen von Stimme und Schrift sowie Signifikat und Signifikant steht. (c) Als mögliche Kandidatin für eine solche Instanz begreife ich die Geste. Derrida selbst kritisiert in Die Stimme und das Phänomen Husserls Zeichentheorie dafür, dass sie sich um eine »Rechtfertigung des Ausschlus147 ses von Gesten und Mienenspiel« aus der Semiotik bemüht. Als bloße Anzeichen werden die Gesten von Husserl gegenüber den vollwertigen Zeichen abgewertet. Doch Derrida schließt die Geste in gewisser Weise selbst aus, indem er sie unter seine generelle Zeichentheorie subsumiert und von der Urschrift her bestimmt sein lässt. Mir geht es im Folgenden nicht darum, eine alternative Hierarchie von Zeichenformen zu etablieren und auf eine logische oder genealogische Abhängigkeit der Stimme und der Schrift von der Geste zu insistieren. Auch Derrida ist es nicht um eine Zeichentypologie oder -hierachie zu tun, sondern um den Hinweis, dass sich Schriftlichkeit, im Sinne doppelter Uneigentlichkeit oder Supplementarität, in jedes Zeichenhandeln einschreibt. In analoger Weise möchte ich das Gestische verstanden wissen: als einen die Möglichkeit der Sprache eröffnenden, das Sprachereignis als Redeereignis sichtbar machenden Zug, der sich an jedem Zeichentyp aufweisen lässt. In gewisser Weise wird diese Definition
147 Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., 89.
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der Geste sogar von Derridas grammatologischem Projekt vorbereitet: Derridas Deutung der Geste als Schrift erlaubt es nämlich, die Geste jenseits von Deixis und Expression zu denken, sie strikt von der Repräsentation äußerer wie innerer Zustände zu unterscheiden. Ausgehend von der Geste lassen sich die Stimme der Metaphysik und die Schrift der Dekonstruktion als komplementäre Versuche begreifen, das Feld der Sprache zu totalisieren. Während Platon, Rousseau und Husserl dazu neigen, die Stimme als das sprachliche Phänomen sui generis zu begreifen, tendiert Derrida dazu, die Idee der Sprache ausgehend von einer negativistisch und differenztheoretisch gefassten Schrift zu bestimmen. Vordergründig reklamiert Derrida für sich, keine Sprachphilosophie betreiben, nicht über die Sprache sprechen zu wollen. Ganz explizit kritisiert er die Möglichkeit einer Sprachphilosophie: »Die Sprache kann daher nicht ihre eigene Möglichkeit totalisieren und ihren eigenen Ursprung oder ihr eigenes Ziel in sich begreifen.«148 Gegen diese vordergründig proklamierte Intention neigt er gleichwohl dazu, Schrift als Generalschlüssel zur Erklärung von Sprache zu veranschlagen. Die Frage nach dem Vorrang von Stimme oder Schrift bleibt im Rahmen einer Diskussion um Metaphysik und Metaphysikkritik gefangen, die auf dem Rücken der Sprache ausgetragen wird und den spezifischen Redecharakter von Sprache in letzter Instanz verfehlt. Was in dieser Diskussion verloren geht, ist die einfache Tatsache, dass sich jede Äußerung, noch bevor sie sich in ein System von Differenzen einschreibt oder eine Individualität ausdrückt, an eine Andere adressiert. Erst in diesem Sich-Adressieren gibt sich Rede als solche zu erkennen. Ein möglicher Platzhalter dieses in der Sprache aufscheinenden Wesens der Sprache wäre die Geste. Andere Kandidaten sind etwa Walter Benjamins »Sprache überhaupt«, die mit einer »Mitteilung schlechthin«149 einhergeht, Roman Jakobsons »phatische Funktion« jeder Kommunikation, die darin besteht, »Kommunikation herzustellen«, bevor ein Sprecher »informative Kommunikation senden oder emp-
148 Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, a.a.O., 145. 149 Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« [1915], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/M. 1980, 140-157, hier: 145/146.
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fangen kann« , das Lévinassche, sich in die Verantwortung gegenüber dem Anderen stellende »Sagen«, welches nur in der Ausblendung des »Gesagten«, des propositionalen Gehalts, sichtbar wird151, sowie Austins »Per152 formativität« , die den Vollzug des Äußerns von den Inhalten des Geäußerten und den Intentionen des Sprechers abhebt.153 Die Geste hat Anteil am Antlitz, in dem mir der Andere als Anderer begegnet. An ihr scheint etwas von seiner irreduziblen Besonderheit auf. In der Geste berühren sich Rede und Leib, sie bringt den ganzen Menschen zum Sprechen, artikuliert sein Erscheinen bzw. seinen Auftritt. Die unsere gesprochene Sprache begleitenden Gesten individualisieren unsere Aussagen, verleihen ihnen einen Klang, der so unverwechselbar ist wie die besondere Tönung einer Stimme. In der Geste, nach Wilhelm Wundt154 und Georg Herbert Mead155, der Beginn einer möglichen Handlung156, nimmt sich ein Habitus, das Kondensat von Handlungen, vorweg, ohne bereits zu einer Form erstarrt zu sein.
150 Roman Jakobson, »Linguistik und Poetik«, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt/M. 1989, 83-121, hier: 91. 151 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg/München 1978 [1974], 29 ff. 152 John Austin, Zur Theorie der Sprechakte, a.a.O., 29. 153 Präfiguriert werden diese neueren Unterscheidungen bei Quintilian. Dieser spricht von einer »vis sermonis« (vgl. Quint. inst. or. I 4, 18), einer Kraft der Rede, die sich in den Verben verkörpere – »in den Verben nämlich liegt die Kraft der Sprache« (Quint. inst. or. IX 4, 26) –, und einer »materia«, einem Stoff der Rede, der sich in den Nomen niederschlage (Quint. inst. or. I 4, 18): »ist es doch zweierlei, was (quod) wir sprechen und worüber (quo) wir sprechen« (ebd.). Was wir sagen, erschöpft sich nicht in einem Bezug zur Welt, es ist kein einfaches »worüber«, sondern gerichtet und wirkend auf den Anderen. 154 Vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetzte von Sprache, Mythus und Sitte, Bd. 1, Die Sprache, Leipzig 1900. 155 Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, a.a.O., 81ff. 156 Die Deutung der Geste als Auftakt einer Handlung bei Wundt und Mead impliziert zugleich einen Abbruch des Auftaktes, ein Nicht-zu-Ende-Führen der Handlung; die Geste holt, wie Lacan ausführt, nur aus, um einzuhalten, zu verharren: »Was ist eine Geste? Eine Drohgebärde, beispielsweise? Es handelt sich nicht um einen Hieb, der unterbrochen würde. Es ist geradezu etwas, dessen Wesen es ist, einzuhalten, suspendiert zu werden.« (Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der
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Als Orte einer Gebung der Sprache in der Sprache werden die Gesten bereits von Cicero und Quintilian thematisiert. Cicero bezeichnet die actio, die aus mündlichem Vortrag, Gestik und Mimik zusammengesetzte Performanz der Rede, insgesamt als »eloquentiam quandam corporis«, eine Art von »körperlicher Beredsamkeit« (Cic. de or. III 222). Quintilian157 weist darauf hin, dass »die Hände [...] unseren Willen klar« machen und »bei Stummen als Sprache [dienen]; auch das Tanzen versteht man häufig ohne Worte und läßt sich davon beeindrucken« (Quint. inst. or. XI 3, 66). 158 nun gar, ohne die der Vortrag verEr führt weiter aus: »Bei den Händen stümmelt wirkte und schwächlich, läßt es sich kaum sagen, über welchen Reichtum an Bewegungen sie verfügen, da sie fast die ganze Fülle, die den Worten selbst eigen ist, erreichen. Mit ihnen fordern, versprechen, rufen, entlassen, drohen, flehen, verwünschen, fürchten, fragen und verneinen wir, geben wir der Freude, der Trauer, dem Zweifel, dem Eingeständnis, der Reue, dem Ausmaß, der Fülle, der Anzahl und Zeit Ausdruck. Sind sie es nicht ebenfalls, die anspornen und verwehren, loben, bestaunen und die Achtung bekunden? [...] So möchte ich, so verschieden die Sprachen bei al-
Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, übers. v. Nobert Haas, Olten/Freiburg 1987 [1964], 123). 157 Zur Bedeutung der Gestik für die Rhetorik Quintilians vgl. Dorota Dutsch, »Towards a grammar of gesture: A comparison between the types of hand movements of the orator and the actor in Quintilian’s Institutio Oratoria 11.3.85-184«, in: Gesture 2, 2 (2008); 259-281. 158 Von der Gleichwertigkeit der Stimme und der Gestik in der antiken Rhetorik legen indirekt Ciceros Mörder Zeugnis ab, die – auf Befehl des Antonius – Kopf und Hände des Leichnams abtrennen und an der Rednertribüne auf dem Forum in Rom befestigen (vgl. Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, Düsseldorf/Zürich 1997, 306). – Aufschlussreich wäre es, die verschiedenen erhaltenen Berichte über Rednertode zu interpretieren, die indirekt, im tiefen Hass auf und in der sprachlosen Gewalt gegen die Rede, Zeugnis von ihrer Macht ablegen; so wurde dem Hypereides »bei lebendigem Leibe die Zunge herausgeschnitten« (vgl. Plut. Dem. 28). Demosthenes entging einem vergleichbar grausamen Tod, indem er sich selbst mit dem Schreibrohr vergiftete (vgl. Plut. Dem. 29/30).
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len Völkern und Stämmen sind, hierin die gemeinsame Sprache der Menschheit erblicken.« (Quint. inst. or. XI 3, 86/87)159 Die Gesten werden an dieser Stelle vor allem als Performativa und Expressiva behandelt. Sie markieren die illokutionäre Rolle, in die sich der propositionale Gehalt dessen, was wir sagen, jeweils kleidet. Sie eröffnen den Raum der Kommunikation und geben diesem Raum seine jeweilige Form oder seinen pragmatischen Modus. Weit davon entfernt, ein bloßer Zusatz, ein Ornament oder eine Unterstreichung des Gesagten zu sein, stiften die Gesten überhaupt erst den Raum eines möglichen Sagens. Im Gegensatz zum Verhältnis von Stimme und Schrift, welches sowohl von der metaphysischen Tradition als auch von der Derrida’schen Dekonstruktion als Verhältnis der wechselseitigen Abbildung konzipiert wird, verhält sich die Geste zur Stimme als deren Gebung oder Präsentation. Quintilian beschreibt eine spezielle Geste der Präsentation der »Rede selbst«, die als pars pro toto aller Gesten gelten kann: »Ebenso wird die Hand mit nach unten gerichteten Fingern in etwas freierer Bewegung gegen uns gekehrt geschlossen und dann in etwas größerem Schwung in der umgekehrten Richtung wieder geöffnet, so daß es ist, als biete sie die Rede selbst dar.« (Quint. inst. or. XI 3, 97) Die Gesten geben den Adressaten die Rede und weisen zugleich auf ein Moment des Sich-Gebens in jeder Rede (und in jedem schriftlichen Zeichen) hin. In diesem Sinne sieht Quintilian in den Gesten eine Universalsprache und damit indirekt auch eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Die Sprachphilosophien des 18. Jahrhunderts schließen sich in diesem Punkt eng an die rhetorische Tradition an. Am augenscheinlichsten wird dieser Bezug im Werk Giovanni Battista Vicos. In dessen Prinzipien einer neuen Wissenschaft wird die erste Sprache als »eine stumme Sprache 160 durch Zeichen oder Körper« definiert, die sich »durch stumme Gebär161 den« artikuliere. Die Geste geht hier sowohl der Stimme als auch der Schrift voraus, die Vico, im Gegensatz zu Rousseau, als gleich ursprünglich gelten: Im Anschluss an Cicero kritisiert Vico diejenigen Philologen, wel-
159 Ganz ähnlich heißt es bei Paul Valéry: »Die Hand spricht also – sie bietet an, kneift, schneidet ab, stößt zurück, fügt zusammen, ruft heran, schlägt zu, weist hin auf usw.« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 521). 160 Giovanni Battista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft, a.a.O., 30. 161 A.a.O., 31.
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che »geglaubt haben, bei den Völkern seien zuerst die Sprachen, dann die Buchstaben entstanden, während sie [...] als Zwillinge geboren wurden und [...] sich im Gleichschritt entwickelten«162. Auch Herder räumt der Geste im Rahmen seiner Sprachentstehungstheorie einen zentralen Stellenwert ein. In seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit führt er die Entstehung der Sprache auf einen Konsensus der Körper zurück. Vermittelt über »Handlungen und Gebärden« verwandele sich der Körper in ein »leicht zurücktönendes Saitenspiel«163, das der phonetischen Sprache vorausgehe. Schließlich nimmt eine gestische Ausdruckssprache auch in Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit den Ort einer ersten Sprache ein. Vom Instinkt werde der Frühmensch dazu gebracht, »bei einer dringenden Gefahr um Hilfe oder in heftigen Schmerzen um Linderung zu flehen«164. Zu diesen noch sinnlosen Lauten tritt die Geste in Form von »gewissen Bewegungen der Gliedmaßen« hinzu, »die den Sinn deutlicher ausdrücken«165 indem sie die Laute artikulieren und so den Schritt in die Sprache vollziehen.166 Doch die Gebärde erwies sich, so Rousseau weiter, bald schon als ineffektiv: Sie war von der Präsenz der gezeigten Gegenstände und der Kommunikationspartner abhängig. Dunkelheit oder zwischengeschobene Hindernisse drohen die Kommunikation über Gebärden jederzeit zu unterbinden. An die Funktionsstelle der Gebärde rücken aus Gründen der Effizienz »Artikulationen der Stimme«167.
162 Ebd. 163 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden 1985 [1784-91], 230. 164 Jean-Jacques Rousseau, »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit« [1755], in: ders., Schriften, Bd. 1. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1981, 189-302, hier: 211. 165 A.a.O., 212. 166 Auch für Valéry ist es die Geste, die die Rede artikuliert: »Gesten liegen jeder Sprache zugrunde, die ›artikuliert‹ ist, d.h. die über diskrete Elemente und kombinatorische Eigenschaften verfügt.« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 525); und weiter: »Hand und artikulierte Sprache sind grundlegend miteinander verbunden. Das Tier verfügt über keins von beiden.« (A.a.O., 530). 167 Jean-Jacques Rousseau »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit«, a.a.O., 212.
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Rousseau sieht sich bei dem Versuch, den Übergang zur Lautsprache zu beschreiben, immer wieder mit einem Dilemma konfrontiert. Wollten wir die Sprachentstehung ontogenetisch erklären, so ließe sich dadurch nur zeigen, »wie jemand in einer bereits eingeführten Sprache unterrichtet würde, aber nicht, wie die Sprachen selbst eingeführt werden könnten«168. Auch bei der Einführung »vereinbarter Zeichen«, welche die durch Gesten artikulierte Ausdruckssprache ablösen, stoßen wir auf dieses Dilemma: »und also scheint es, daß man ohne den Gebrauch der Sprache nie eine Sprache hat einführen können.«169 Rousseau antizipiert hier Derridas dekonstruktive Kritik; am Ende seiner Ausführungen steht die Einsicht in die »Unmöglichkeit«170 jeder Erklärung des Sprachursprungs. Diese Schwierigkeiten nötigen Rousseau dazu, die Problematik in einen eigenen Diskurs auszulagern, in den erst posthum erschienenen Versuch über den Ursprung der Sprachen. Bereits im Eingangssatz dieses Textes ist es das »gesprochene Wort«, das »den Menschen von den Tieren unter171 scheidet« . Der Autor begreift das gesprochene Wort als »die erste gesellschaftliche Einrichtung«, betrachtet die Gebärdensprache172 und das gesprochene Wort allerdings als »gleichermaßen natürlich«, als zwei äquivalente Formen, dem spezifisch menschlichen »Bedürfnis« zu entsprechen, »Gedanken mitzuteilen«173. Die Gebärdensprache scheint sogar mit einem Vorzug einherzugehen: Sie sei »weniger von Übereinkünften abhängig, fallen uns doch stets mehr Gegenstände in die Augen als unseren Ohren auffallen, wie ja die Gestalten mannigfaltiger und ausdrucksstärker sind als die Töne«174. Man könnte aus heutiger Sicht sagen, dass die Gebärde »analog«
168 A.a.O., 210. 169 A.a.O., 215. 170 Ebd. 171 Jean-Jacques Rousseau, »Versuch über den Ursprung der Sprachen« [1759], in: ders., Sozialphilosophische und Politische Schriften, München 1981, 163-221, hier: 165. 172 Im 18. Jahrhundert werden die Begriffe Geste und Gebärde weitgehend synonym verwendet. Die Differenz zwischen »natürlicher Geste« und und »methodischem Gebärden« etabliert sich erst im Zuge eines Diskurses um Gehörlosigkeit und gehörlose Menschen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. 173 Jean-Jacques Rousseau, »Versuch über den Ursprung der Sprachen«, a.a.O., 165. 174 Ebd.
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ist und somit ein größeres Differenzierungspotential aufweist als die (zumindest vergleichsweise) »digitale« Stimme. Gleichzeitig sind die Gebärden für Rousseau ausdrucksstärker als die Worte. Wenn die »Gebärde« der 175 »Rede vorangeht« , haben wir es mit der »nachdrücklichsten Sprache« zu tun: »Der Gegenstand, der noch vor der Rede dargeboten wird, trifft die Einbildungskraft tief, erregt die Neugierde und hält den Geist gespannt und 176 in Erwartung dessen, was gesagt werden wird.« Die Gebärde erzeugt hier die Aufmerksamkeit des Adressaten, sie bahnt der Lautsprache den Weg, geht der Stimme wie der Schrift voraus. Gleichwohl verwirft Rousseau die Gebärde noch bevor er die Schrift verwirft: »Unsere Gebärden bezeichnen nichts anderes als unsere natürliche Unruhe; von ihnen will ich nicht sprechen.«177 Um diese Ausklammerung der Gebärden zu rechtfertigen, zieht er einen ethnologischen Vergleich heran: »Nur die Europäer gestikulieren beim Sprechen. [...] Ein Franzose gebärdet sich wie toll, verrenkt alle Glieder, um viele Worte zu machen, der Türke nimmt für einen Augenblick seine Pfeife aus dem Mund, sagt halblaut zwei Worte und vernichtet ihn mit einem einzigen Satz.«178 Erst die »aus Übereinkunft entstandene Sprache«179 mache den Menschen zum Menschen; die Geste erscheint somit als archaisches Relikt. Es ist bezeichnend, dass Derrida bei der Formulierung seines Projektes einer Dekonstruktion die Ausführungen zur Geste, die der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Stimme und Schrift im Text Rousseaus vorausgehen, weitgehend ignoriert. Derrida hätte seine Kritik des Logo-, Phallogo- und Phonozentrismus der abendländischen Metaphysik nicht im Namen einer universellen Schrift üben müssen, die das Feld der Sprache tendenziell totalisiert. In der durch die Geste gebahnten Spur könnten die Egologie und der Präsentismus der (metaphysischen) Stimme von Seiten eines Denkens der Gabe, des Versprechens und der unaufschiebbaren Gerechtigkeit her kritisiert werden, die zentrale Motive des späten Derrida bilden und die sich allesamt auf das Motiv der Geste beziehen ließen.
175 A.a.O., 166. 176 Ebd. 177 Ebd. 178 Ebd. 179 A.a.O., 169.
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In der gegenwärtigen postdekonstruktivistischen Sprachphilosophie kommt es zu einer Renaissance der Geste. Nach Vilém Flussers Definition gilt die Geste hier als »eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt«180. Der Geste geht hier weder ein handelndes Ich noch ein differentielles Verweisungssystem von Signifikanten voraus; sie wird gerade dadurch bedeutsam, dass sie auf nichts außerhalb ihrer selbst zurückgeführt werden kann, in ihr verkörpert sich die Negativität der Rede. An der Geste scheitert die Trennung von Signifikat und Signifikant, der noch die radikalste Konzeption einer verallgemeinerten Schrift nicht entkommt. Flusser zeigt, dass sich sowohl das Sprechen als auch das Schreiben als Gesten interpretieren lassen, dass die Geste mit anderen Worten mehr darstellt als eine noch vorläufige, unfertige Stimme oder Schrift. Als Ausdruck ohne Ursache oder als grundlose Praxis des Bedeutens kommt die Geste dem Schreiben und dem Sprechen zuvor. Nur weil »das Schreiben nicht in unserem genetischen Programm enthalten ist [...], handelt es sich beim Schreiben um eine Geste.«181 Ähnliches gilt für das Sprechen. Flusser fragt: Ist »die Geste des Sprechens vom Körper her, vom Geist her, von der Biologie her, von der Geschichte her, von der Phonetik her, von der Semantik her, vom Sprecher her, vom Gesprochenen her, ist das Wort vom Sprechen her, ist das Sprechen vom Wort her zu fassen?«182 Die Geste steht für die Verneinung all dieser Fragen, für eine Ungegründetheit der Rede. In eine vergleichbare Richtung weisen auch Giorgio Agambens Noten zur Geste. Agamben betont zunächst, dass sich die Geste weder als poiesis noch als praxis begreifen lasse, weder als Hervorbringen noch als Handeln. Beide von Aristoteles unterschiedenen Tätigkeitsformen bleiben dem Horizont eines Denkens in Mittel- und Zweckreihen verhaftet. Während die praxis ihren Zweck in sich selbst habe, strebe die poiesis auf einen Zweck außerhalb ihrer selbst zu. Die Geste, so Agamben, markiere demgegenüber den bereits von Benjamin angedeuteten Raum einer reinen Mittelbarkeit, der als Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Mittel-ZweckDenkens zugleich fungiere: »So lebt in der Geste die Sphäre nicht eines
180 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf/Bensheim 1991, 8. 181 A.a.O., 40. 182 A.a.O., 52.
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Zwecks in sich, sondern die einer reinen Mittelbarkeit ohne Zweck, die sich den Menschen mitteilt.«183 Während Stimme und Schrift nach wie vor auf ein Subjekt angewiesen bleiben, das sie zu Mitteln für einen kommunikativen Zweck macht, widerstrebt etwas in der Geste ihrer Funktionalisierung. Mitteilung und Subjekt der Mitteilung sowie Mitteilungsträger und Mitteilungsgehalte fallen in der Geste zusammen. In der Geste eröffnet sich für Agamben der Raum für eine Kommunikation, die wir nicht handelnd vollziehen, sondern selbst sind. Die Geste geht weder darin auf, Ausdruck eines inneren Zustands zu sein, noch darin, einen Code zu aktualisieren. Im Alltag begleiten Gesten fast unsere gesamte gesprochene Kommunikation. Sie können sich in sehr unterschiedlicher Weise, etwa verstärkend oder dementierend, auf das Gesagte beziehen. Am Gesagten betonen sie dabei nicht so sehr bestimmte Inhalte, sondern das Sagen selbst, das Kommunikationsgeschehen und den Kommunikationsraum. Gesten lassen sich dem Gesagten nie eindeutig zuordnen; zwischen dem, was wir sagen, und den Gesten, mit denen wir das Gesagte begleiten, interveniert eine irreduzible Übersetzungsunbestimmtheit. Von daher lässt sich auch kein Alphabet der Gesten festlegen. Ihre »analoge« Plastizität, auf die bereits Quintilian und Rousseau hingewiesen haben, trägt ein Moment von Offenheit in jede Kommunikation. Kodifizierte Gesten, wie etwa die Gebärdensprache oder die Geste des Schiedsrichters, der während eines Fußballspiels auf den Elfmeterpunkt zeigt, lassen sich nur als Abweichung vom Regelfall der nicht-kodifizierten Geste verstehen. In ihrer Nichtfestgelegtheit vollziehen Gesten Akte der Bedeutungsgebung und weisen uns darauf hin, dass sich Bedeutungen nicht einfach nur innerhalb von starren Referenzsystemen ausbilden, sondern an deren Grenzen. Für die Rhetorik macht die Debatte um Stimme und Schrift, die von Platon bis Derrida im Zentrum sprachphilosophischer Auseinandersetzungen steht, keinen Sinn, da sich die Rede sowohl schriftlich wie mündlich externalisiert, in einen öffentlichen Raum einschreibt. Der Sophist Alkidamas kritisiert in Über die Verfasser schriftlicher Reden oder Über die Sophisten die relativ neue Kulturtechnik der Schrift. Er zielt damit in eine ähnliche Richtung wie Platon im Phaidros, allerdings mit anderen Argu-
183 Giorgio Agamben, Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg/Berlin 2001 [1996], 61.
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menten. Schirren und Zinsmaier kommentieren das Anliegen des Alkidamas wie folgt: »Anders als heute war es damals und wohl die ganze Antike hindurch tabu, eine öffentliche Rede vom Manuskript abzulesen – die einzige Ausnahme bildete vielleicht der wissenschaftliche Lehrvortrag, die ›Vorlesung‹, und die fiel nicht in den Bereich der Rhetorik. So ist die Tätigkeit des Redners – in aristotelischer Terminologie – weder ganz ein Herstellen (poiein/poiesis) noch ganz ein Handeln (prattein/praxis). Alkidamas jedoch hebt an der Rhetorik die Handlungs- oder Performanzseite auf Kosten der poietischen Seite – die für ihn eine Domäne der Dichter ist – stark hervor. Sein Ideal ist das eines Redners, der auf den diversen Spielfeldern der (im weitesten Sinne) politischen agones, den demokratischen Institutionen, in corpore, in actu und via voce seine Interessen und Standpunkte ver184 tritt.« Die Stimme ist für Alkidamas und die meisten anderer Rhetoriker stärker situiert als die Schrift; diese Situiertheit bedeutet allerdings nicht, dass sie in stärkerer Weise als die Schrift der Intention des Sprechers untersteht und damit näher an einem wie auch immer gearteten Ursprung steht. Die Stimme bedeutet im Denken der Rhetorik nicht das Gleiche wie die Stimme, die Derrida kritisiert. Vernehmbar ist sie dem rednerischen Selbst nicht an sich, sondern nur über die Effekte, die es mit ihr im Auditorium erzielt. So wenig sich Stimme und Schrift für die Rhetorik ontologisch unterschieden lassen, sowenig lässt sich der Unterschied von Stimme und Geste ontologisch stabilisieren. Gellius zitiert in seinen Noctes Atticae (X 4,1-4) den Grammatiker Nigidius, der auf der Linie der stoischen Etymologien eine Art Gestik der Stimme andeutet: »Wenn wir das Wort vos (ihr) aussprechen, dann bedienen wir uns einer Mundbewegung, die mit dem Zeigecharakter dieses Wortes übereinstimmt: Wir bewegen allmählich den vorderen Teil der Lippen heraus und richten Luftstrom und Tonstrahl gegen und auf die Leute hin, mit denen wir reden. Wenn wir hingegen das Wort nos (wir) aussprechen, so artikulieren wir es, ohne dabei den Luftstrom des Lautes nach vorn auszustoßen und zu richten und ohne dabei die Lippen vorzuschieben; vielmehr drängen wir sowohl den Luftstrom als auch die Lippen sozusagen zu uns selbst zurück. Entsprechendes geschieht auch, wenn wir die Wörter tu (du), ego (ich), tibi (dir) und mihi (mir) aussprechen. Denn
184 Thomas Schirren/Thomas Zinsmaier, »Einleitung zu Alkidamas«, in: dies. (Hg.), Die Sophisten, Griechisch/Deutsch, Stuttgart 2003, 342-347, hier: 345.
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ebenso wie beim Zustimmen durch Nicken und beim Verneinen durch Kopfschütteln die Bewegung des Kopfes oder die der Augen sehr wohl der Natur der dadurch bezeichneten Sache entspricht, so ist auch bei diesen Wörtern die – man möchte sagen: – Geste des Mundes und des Luftstroms [gestus quidam oris et spiritus] eine natürliche.« (Noctes Atticae X 4, 1-4) Der Grammatiker neigt, wenn er hier der Richtung des Luftstroms in der Artikulation bestimmter Personalpronomen eine deiktische Qualität zuspricht, zu einer gewissen Übersemantisierung185 der Stimme, zu einer Verankerung von Wortbedeutungen im Wesen der Dinge, die von Platons Kratylos beeinflusst sein dürfte. Prinzipiell wäre ihm aber darin zuszustimmen, dass auch der Artikulation von Lauten ein gestisches Moment zukommt; Gesten und Laute sind Artikulationen des Körpers, die wiederum durch eine dritte körperliche Artikulationsform, die Mimik, verbunden werden. Die schreibende Hand schließlich ließe sich als vierte körperliche Artikulationsform hinzufügen. Ciceros bereits zitierte Deutung der actio als eloquentia corporis (vgl. Cic. or. 55) weiß um die Untrennbarkeit aller vier Artikulationsformen, die im menschlichen Leib kulminieren, ja die diesen Leib als menschlichen definieren.
185 Valéry geht so weit, bestimmte Wortklassen wie Substantive und Verben auf unterschiedliche Typen von Gesten zurückzuführen: »A. Designative Gesten – (Substantive) B. Exekutive Gesten – (Verben)« (Paul Valéry, Cahiers/Hefte, Bd. 1, a.a.O., 564).
5. Die Wirksamkeit der Rede
In den bisherigen Ausführungen zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie, zur politischen Bedeutsamkeit der Rede sowie zu ihrer Figurativität zeichnete sich eine die Rede als solche erst definierende Wirksamkeit als wesentliche Figur rhetorischen Sprachdenkens ab. Im Folgenden werde ich nun versuchen, diese Wirksamkeit näher zu verstehen, indem ich zunächst, in einem Exkurs, auf ein ähnlich gelagertes Denken in der jüdischchristlichen Tradition, speziell in der christlichen Logosmystik, hinweise (5.1), dann den mythologischen Kontext des peíjein (die Göttin Peitho und die sich in ihrem Gefolge befindlichen Chariten) ausgehend von Gorgias’ Helena-Rede erhelle (5.2) sowie abschließend die affektive Dimension der rhetorischen Wirksamkeit thematisiere (5.3). Insbesondere im Kontext dessen, was ich hier in einer ersten Annäherung Mythologie der Rhetorik nennen möchte werden sich die Zentralstücke einer Theorie rednerischer Wirksamkeit abzeichnen.
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5.1 D IE L OGOSMYSTIK UND T RANSFORMATIONEN
IHRE MODERNEN
Rede und Sprache werden seit altersher nicht nur in Philosophie, Rhetorik und Literatur reflektiert, sondern auch im Kontext von Religionen.1 Eine Untersuchung des Sprachdenkens der jüdisch-christlichen Tradition, die hier allenfalls in groben Zügen angedeutet werden kann, kann uns dabei erstaunliche Partallelen zum rhetorischen Sprachdenken vor Augen führen. Auch in den Sprachreflexionen des Alten und Neuen Testaments wie in denen der frühneuzeitlichen und modernen Logosmystik wird Sprache vor allem als wirksame, Wirklichkeit allererst konstituierende Rede dargestellt. Die Reduktion wirkender Rede auf eine Tatsachen repräsentierende Sprache erscheint von hier aus als Sonderweg der neueren Sprachphilosophie und Linguistik. Die folgenden Überlegungen gehen zunächst auf die teils impliziten, teils expliziten Reflexionen zur Wirksamkeit der Rede im AT und NT ein (a), thematisieren dann das Sprachdenken der Logosmystik von Böhme bis Schelling (b) und blicken abschließend auf die sprachphilosophischen Konzeptionen Martin Bubers (c) und Walter Benjamins (d), welche die Tradition der Logosmystik unter Bedingungen der Moderne fortschreiben. (a) Es ist zu einem Gemeinplatz geworden, den von der Philosophie des 20. Jahrhunderts vollzogenen linguistic turn als Ausdruck einer Säkularisierungs-, Modernisierungs- und Rationalisierungsgeschichte zu interpretie-
1
Für Ernst Cassirer beginnt das Denken einer Wirksamkeit der Sprache mit dem homo divinans vorgeschichtlicher Kulturen: »Der Erfolg eines bestimmten Tuns wird« hier »daran geknüpft, daß das Ziel dieses Tuns in der Vorstellung aufs genaueste vorweggenommen wird, und daß das Bild dieses Zieles in höchster Intensivierung herausgearbeitet und festgehalten wird.« (Ernst Cassirer, »Form und Technik«, in: ders., Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 19271933, Hamburg 1995 [1930], 39-92, hier: 57) Bereits den Magiern war die Idee einer »Wesensverwandtschaft [von Sprache und Werkzeug, A.H.] nicht fremd. Sie fassten das Wort und die Sprache nicht in erster Linie als bloßes Darstellungsmittel, als Mittel der Beschreibung der äußeren Wirklichkeit auf, sondern sie sahen in ihm ein Mittel zur Bemächtigung der Wirklichkeit.« (A.a.O., 51) Vgl. hierzu auch Ernst Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, Tübingen 1925.
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ren. Die Wendung auf die Sprache als wesentlichem Explanandum und Explanans markiere, so liest man allenthalben, einen Rationalisierungsfortschritt gegenüber der vermeintlich sprachunbewussten Philosophie der Vormoderne. Ausgehend vom biblischen Sprachdenken lässt sich nun auf eine Dialektik gerade jener Säkularisierung hinweisen, die sich mit dem Selbstverständnis des linguistic turn verbindet. So wie die neuzeitliche Säkularisierung insgesamt eher zu einem Weltverlust als zu einer Verweltlichung geführt hat – etwa für Arendt, die in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit einer gescheiterten translatio spricht2 –, so enden alle Versuche einer Naturalisierung der Sprache in einem Sprachverlust. Geht man demgegenüber von einem an Rhetorik und Logosmystik geschulten Sprachdenken aus, dann erscheint der linguistic turn als Abwendung von der Sprache. Zum einen ignoriert und invisibilisiert er ältere Formen emphatischen Sprachdenkens, zum anderen beraubt er Sprache um entscheidende Dimensionen. Zu diesen Dimensionen zählt nicht zuletzt ihre Wirksamkeit, ihre setzende, subjektivierende und performative Kraft, die das AT etwa in Akten der Namensgebung und Anrufung3 thematisiert. Die Protagonisten des linguistic turn führen metaphysische Probleme auf den Missbrauch einer gewöhnlichen Sprache zurück um sie dadurch als Scheinprobleme zu entzaubern. Zugleich verfolgen sie das Projekt, Sprache selbst postmetaphysisch und naturalistisch zu erklären. Die Wirksamkeit der Rede wird in diesem Rahmen einer von den Intentionen souveräner Akteure beherrschten Pragmatik unterstellt und handlungstheoretisch verkürzt. Das biblische Denken geht demgegenüber von einer vorgängigen Wirksamkeit oder Magie allen Sprechens aus. Der Sprecher vermag sich allenfalls in diese Wirksamkeit zu stellen, nicht dagegen isolierte sprachliche Äußerungen als Mittel zur Erreichung von Zwecken zu gebrauchen. Um die einfache Frage »Was geschieht, wenn gesprochen wird?« zu beantworten, müssen wir gewisse Selbstverständlichkeiten der modernen Sprachphilosophie abbauen. Alle wesentlichen Relationen im Bereich der Sprache lassen sich, so etwa für Buber und Benjamin, die der biblischen Tradition die Treue halten, gerade nicht wissenschaftlich, am Leitfaden des
2
Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., 312; dazu Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1997 [1966], 11ff.
3
Vgl. hierzu das Kapitel »Sakrale in Anrufungen« in Andrea Allerkamp, Anruf, Adresse, Appell, a.a.O., 85-144.
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zureichenden Grundes, erklären. Wir müssen vielmehr in aller Entschiedenheit davon ausgehen, dass vieles in der Sprache in letzter Konsequenz auf ein Wunder verweist. Um uns diesem Wunder wieder zu nähern, gilt es, das Denken der Sprache aus allen Rationalisierungs-, Modernisierungs- und Säkularisierungserzählungen zu lösen. Der Text der biblischen Offenbarung hebt mit einer Reihe von performativen Akten an, die das Schöpfungsgeschehen, die Selbstoffenbarung Gottes in die Welt, als genuin sprachliches Geschehen beschreiben: »Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht.« (Gen 1, 3) Benennung und 4 Schöpfung fallen hier in eins. Den performativen Akten Gottes geht buchstäblich nichts voraus, sie haben die Kraft, das, was sie benennen, im Akt des Benennens hervorzubringen, es unmittelbar zu erzeugen. Diese Kraft materialisiert sich im immateriellen ruach, im Leben gebenden Hauch Gottes, der sich mit seinem Wort deckt. Jeder neue Tag der Schöpfungsgeschichte hebt mit einem »Dann sprach Gott: ...« an, jeder neue Schritt in der Schöpfung wird im Medium der Rede präfiguriert. Sprechen und Machen fungieren in der Schöpfungsgeschichte als Synonyme: »Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es und Gott nannte das Gewölbe Himmel« (Gen 1, 6-8). Der Sprechakt, der den Himmel als Himmel bezeichnet, folgt hier einen grundlegenderen Sprechakt, mit dem der Himmel als Himmel vom Meer getrennt und damit geschaffen wird. Der Mensch geht aus dem performativen Wort Gottes hervor und erbt es zugleich. Als »Abbild« und als Gott »ähnlich« (Gen 1, 26) erweist er sich nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, den Dingen die ihnen gemäßen Namen zu geben (vgl. Gen 2, 20). Adam »gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes« (Gen 2, 20) und vollendet damit Gottes Werk. Die adamitische Namenssprache vermag die Wirklichkeit zwar nicht mehr unmittelbar zu erzeugen, in ihr bricht sich aber gleichwohl noch die performative Macht des Gotteswortes: Adam gibt den Tieren die
4
Zur »Pragmatik« des AT vgl. die Arbeiten von Andreas Wagner, Sprechakte und Sprechaktanalyse im Alten Testament. Untersuchungen an der Nahtstelle zwischen Handlungsebene und Grammatik, Berlin/New York 1997, sowie ders., Prophetie als Theologie. Die so spricht Jahwe-Formeln und ihr Beitrag für das Grundverständnis alttestamentlicher Prophetie, Göttingen 2004.
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ihnen gemäßen Namen, bevor er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und aus dem Paradies vertrieben wird, bevor er also in eine reflexive Distanz zu den Bewohnern des Paradieses tritt. Diese Vertreibung wird selbst wiederum als sprachliches Geschehen inszeniert; sie vermittelt sich einerseits über die persuasiven Worte der Schlange, die Adam und Eva zur Erkenntnis verführen (rhetorisch gesprochen: zur Einsicht überreden), andererseits über die zugleich subjektivierende und strafende Frage Gottes: »Wo bist Du?« (Gen 3, 9), die Adam als schuldiges und schuldbewusstes Subjekt anruft, sowie über die Flüche, die Gott über Adam und Eva ausspricht und mit denen er den paradiesischen Zustand, wiederum performativ, aufhebt. Die Nachkommen Adams beginnen nun ihrerseits, den Herrn »anzurufen« (Gen 4, 26), sich mittels des Gebets auf ihn zu beziehen, ihn zu preisen wie zugleich zu versuchen, auf ihn einzuwirken. Gott und Mensch stehen seit Anbeginn der Schöpfung in einem Verhältnis der Zwiesprache. Gottes Präsenz in der Welt des AT ist dabei zeichenhaft: Er begegnet etwa als Feuer- oder Wolkensäule, als brennender Dornenbusch oder als Sturm. Der Dialog dieses Gottes mit den Menschen bedarf schon bald der Zeichendeuter und Spezialisten, Gesetzgeber und Priester wie Moses, der in seiner Redegewalt, die er selbst bestreitet, den Rhetoren der klassischen Antike in nichts nachsteht. Das Wort Gottes, welches Moses dem Volk Israel verkündet, mit dem er dieses Volk erst als Volk versammelt, wird dabei als ein Wort präsentiert, dass es in einem wesentlichen Sinne zu tun und zu vollziehen gilt: »Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, so daß du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es uns, damit wir es halten können? [...] Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, es liegt in deinen Händen, es auszuführen.« (Dtn 30, 11-14) Gottes Wort, dass den Menschen von Moses offenbart wird, gilt hier als exoterisches Wort, als ein Wort, das ausgeführt werden kann. Seine Performativität manifestiert sich nicht mehr in der Konstitution einer Welt an sich, sondern in der Konstitution einer sozialen Welt, in der (oder besser: als die) sich die Gebote Gottes erfüllen. Die Worte der Propheten zeugen nicht nur insgesamt von der Wirksamkeit der Rede, sondern reflektieren auch in vielen Formulierungen explizit auf sie, so etwa bei Jesaja: »Denn wie der Regen und der Schnee vom
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Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zurück, sondern bewirkt, was ich will, und erreicht all das, wozu ich es ausgesandt habe« (Jes 55, 10-11). Die Verheißungen der Propheten sind keine Voraussagen, keine Aussagen über zukünftige Zustände, sondern sprachliche Antizipationen, die wie das Gebet zu verwiklichen suchen wovon sie sprechen. Die Analogie, die Jesaja zwischen dem Wort und dem Regen zieht, der die Erde fruchtbar macht und dem Sämann seinen Samen schenkt, nimmt bereits den spermatikòV lógoV des hellenistischen Judentums und der Logosmystik vorweg, den zeugenden, schöpferischen lógoV. Die Worte erfüllen sich für Jesaja dadurch, dass sie ergriffen werden, dass ihnen gemäß gehandelt wird. Ihre Wirkung entspricht derjenigen des Regens auf den Samen; von den Worten geht jener minimale und zugleich unverzichtbare Anstoß aus, der die Saat dazu bringt, aufzugehen und wiederum neue Samen zu erzeugen. Wie in der lógoV-Definition des Gorgias – »Die Rede [lógoV] ist ein großer Bewirker, mit dem unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten« (Gorgias 9) – wird dem lógoV auch in der zitierten Sentenz des Jesaja ein unscheinbarer Körper zugesprochen, der es gleichwohl vermag, bloße Möglichkeiten in eine Wirklichkeit zu überführen. Im NT wird die Rede ebenfalls wesentlich über ihre Wirksamkeit definiert. Einerseits präsentiert sich die von den vier Evangelisten bezeugte Geschichte Jesu als Bestätigung der im AT überlieferten prophetischen Worte, als nachträgliche Bestätigung ihrer Macht: »Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllt, was der Herr durch den Propheten gesagt hat.« (Mt 1, 22) Andererseits ist das Wort Jesu selbst wesentlich wirkendes Wort. Indem es das »Gesetz« des AT zugleich »aufhebt« und »erfüllt« (Mt 5, 17), ruft er zu einer umfassenden Umkehr auf, zu einer Änderung des Lebens: »Wer aber meine Worte hört und nicht danach handelt, ist wie ein unvernünftiger Mann, der sein Haus auf Sand baut.« (Mt 7, 26; vgl. auch Lk 6, 49) Wie das rhetorische Wort findet auch das homiletische seine Erfüllung in Handlungen, bestimmt sich von seinen Konsequenzen her. Ein Wort, das nur gehört würde, ohne zu wirken, wäre wie ein Haus ohne Fundament, das von den Wellen der Flut fortgerissen wird. Das Fundament, der Grund des Wortes, liegt nach diesem Gleichnis in seiner Wirkung. Der Messias definiert sich in einem weiteren Gleichnis insofern auch als »Säman«, der »das Wort sät«
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(Mk 4, 14). Dies Wort fällt teilweise auf fruchtbaren Boden, teilweise aber auch auf nackten Fels: Jesus wird, so Simeon, »ein Zeichen sein, dem widersprochen wird« (Lk 2, 34). Der Apostel Paulus, der im cilikischen Lystra von der Menge als »Hermes« begrüßt wird, »weil er der Wortführer war« (Apg 14, 12) und die griechische Welt auf seinen Reisen immer wieder durchquert, begreift das göttliche Wort als eine »dúnamiV« (Röm 1, 16). Seine Macht ergibt sich daraus, dass sich die Angeredeten in die Rede stellen, sie in ihrem Tun verwirklichen können: »Seid aber Täter des Wortes und nicht allein Hörer, die sich selbst betrügen« (Jak 1, 22), heißt es entsprechend im (paulinisch inspirierten) Brief des Jakobus. Im gleichen Brief findet sich ein Lob auf die Macht der Rede, das sich wie eine Parallelstelle zur weiter oben angeführten Sentenz des Gorgias liest. Auch für den Autor des Jakobus-Briefes ist »die Zunge ein kleines Körperglied und rühmt sich doch großer Dinge« (Jak 3, 5). Der Autor bemüht zwei Gleichnisse, zunächst ein nautisches: »Denkt an die Schiffe: Sie sind groß und werden von starken Winden getrieben und doch lenkt der Steuermann mit einem ganz kleinen Steuer, wohin er will« (Jak 3, 4). Das zweite Gleichnis deutet die Rede als Feuer: »Und wie klein kann ein Feuer sein, das einen großen Wald in Brand steckt. Auch die Zunge ist ein Feuer« (Jak 3, 6), das die Welt verwüsten, aber auch zu neuem Leben erwecken kann. Gott wird in der neutestamentarischen Tradition nicht, wie in einer späteren, von Aristoteles beeinflussten christlichen Philosophie, als Fundament der Welt veranschlagt, als erster Beweger, sondern zeigt sich nur in seinem 5+6 Wirken , im Zuspruch, den er den Gläubigen gewährt, in der Liebe, in der
5
Diese christliche Überzeugung hat eine direkte Entsprechung in der rhetorischen Tradition. Bei Cicero heißt es: »Wie du also Gott nicht siehst, ihn aber doch aus seinen Werken erkennen kannst, so erkenne auch im Geist des Menschen, obwohl du ihn nicht sehen kannst, aus seinem Erinnerungsvermögen, seiner Erfindergabe, der Schnelligkeit seiner Bewegung und aus der ganzen Schönheit seiner Fähigkeit die göttliche Kraft des Geistes.« (Cic. tusc. disp. I 28, 70)
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Für die Schüler des im zweiten Jahrhundert lebenden Gnostikers Marcion ist die Differenz zwischen einem neutestamentarischen Gott, der sich in seinem Zuspruch und Wirken zeigt, und dem Gott des alten Testaments, der wesentlich als Schöpfer und mithin als Ursache der Welt verstanden werden muss, so groß, dass sie von zwei verschiedenen Göttern ausgehen und dafür plädieren, das AT gänz-
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sich die Menschen begegnen. Gott ist hier wesentlich Entäußerung, Offenbarung oder lógoV, wirkende, adressierte und motivierende Rede. Aus diesem Grund kann der Evangelist Johannes seinen Bericht vom öffentlichen Wirken Jesu in Replik auf Gen 1 mit den wohl tiefgründigsten Worten einleiten, die je über den lógoV gesagt wurden: »]en ]arc‰ ]³n äo lógoV kaì äo lógoV ]³n pròV tòn Jeòn kaì JeòV ]³n äo lógoV« (Joh 1, 1) »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott«. Und weiter: »Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht des Menschen.« (Joh 1, 3-4) Gott wird in diesen Worten keine Souveränität über den lógoV eingeräumt, sondern in den lógoV gestellt, als lógoV interpretiert. Der lógoV war bereits, wie Buber und Rosenzweig korrekt übersetzen, im Anfang; ursprünglicher als jeder Ursprung war er der Anfang selbst. Er gilt Johannes, wie Gadamer ausführt, als ein »reines Geschehen«7. Wir müssen, wenn wir einen Anfang denken wollen, immer schon vom lógoV ausgegangen sein, von einer Rede, die allem anderen zuvorkommt. (b) Die setzende, welteröffnende Kraft der Sprache des fiat lux, die ihre Fortsetzung in der adamitischen Ursprache des Paradieses findet, gilt den Logosmystikern im engeren Sinne, also etwa Meister Eckhart und Jakob Böhme, als Inbegriff eines Sprechens, dem die Namen nicht arbiträr sind, sondern unmittelbar das Wesen der benannten Lebewesen auszudrücken vermögen. Das Schweigen behält in der Mystik keineswegs das letzte Wort; es wird vielmehr zum Ort, an dem sich das wirkende Wort Gottes entfalten kann.8 Für Meister Eckhart ist Gott dieses Wort, »er spricht sich
lich zu verwerfen. Vgl. Adolf von Harnack, Marcion: das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Darmstadt 1996 [1924]. 7
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., 395.
8
Für Meister Eckhart ist es »das Allerbeste […] daß du schweigest und Gott allda wirken und sprechen lässest. Wo alle Kräfte von all ihren Werken und Bildern abgezogen sind, da wird dies Wort gesprochen. Darum sprach er: ›Mitten im Schweigen ward zu mir das heimliche Wort gesprochen.‹« Meister Eckhart, Mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Gustav Landauer, Frankfurt/M. 1991, 21.
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selbst« . Böhme knüpft in seinem Werk Von der Gnadenwahl an dieses Denken einer Göttlichkeit des Wortes an. Hinter dem »ausgesprochenen, geformten Wort« der Schöpfung legt er das »ewigsprechende Wort«10 Gottes frei. Der geformten und begrifflich artikulierten Welt des Menschen korrespondiert in seinem Denken eine konstative, Tatsachen feststellende Sprache. Deren abgedunkelte Rückseite bildet die performative Sprache des schöpferischen göttlichen lógoV. Gott fungiert hier nicht länger als transzendenter Himmelsbewohner, der sich erst nachträglich in seine Schöpfung entäußert, sondern als allgegenwärtige Kraft ihrer kontinuierlichen Hervorbringung. Er wäre dann weniger als Ausgangspunkt der Schöpfung zu begreifen denn als ihr Vollzug. Der personale Gott wird in seine Selbstoffenbarung, in die Performativität des Schöpfens, zurückgenommen. Inspiriert wird dies durch den Prolog des Johannesevangeliums. Die Formulierung »Im Anfang…« lässt keinen Unterschied zwischen Gott, dem lógoV und dem Anfang selbst zu. Apel weist darauf hin, dass die Logosmystik im Gegensatz zum mittelalterlichen Nominalismus, welcher Sprache in hohem Maße vergegenständlicht und verfügbar macht, den lógoV als eine unverfügbare Kraft versteht und damit die »tiefste und umfassendste metaphy11 sisch-transzendentale Würdigung der Sprache« insgesamt vorlegt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts folgt Schelling dem Görlitzer Schuster darin, dass er den personalen Gott selbst erst aus einem performativen Schöpfungsakt hervorgehen lässt. Implizit bestimmt Schelling den Gott der Schöpfung als das performative Wort: »Denn was ist das Göttliche? Antwort: das lebendige (einen Gegensatz in sich enthaltende) Band des Idealen und Realen […]. Dieses Band heißt sehr expressiv das Wort, […] weil in ihm und mit ihm zuerst alle Unterscheidbarkeit anhebt«12. Schelling fasst die Selbstoffenbarung Gottes in die Schöpfung als sprachliches Geschehen.
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A.a.O., 1991.
10 Jakob Böhme, Von der Gnadenwahl, Frankfurt/M. 1995 [1623], 54. 11 Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, a.a.O., 97 12 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, »F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen u. des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi und der ihm in derselben gemachten Beschuldigung eines absichtlich täuschenden, Lüge redenden Atheismus «, in: ders., Sämmtliche Werke, a.a.O., Bd. VII, 395-512, hier: 440442.
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Ihr getreues Abbild findet die Erschaffung der Welt im »hohe[n] Wunder der Bildung des Wortes im Munde, welches eine wahre Zeugung des vollen Innern ist, wenn es nicht mehr in sich selbst bleiben kann«13. Erst indem es sich sprechend seiner selbst entäußert, setzt sich das Ich rückwirkend als Inneres – als ein Inneres freilich, das sich immer schon von seiner Entäußerung heimgesucht sieht; erst im Sprechakt »zieht« sich das Wesen des Sub14 jekts »außer sich zusammen« ; erst indem ein Subjekt (Gott oder Mensch) spricht, sich entäußert, konstituiert es sich, als zugleich außerhalb seiner selbst und in sich, als im strengen Sinne ek-statisch. (c) In den die Logosmystik aufgreifenden sprachphilosophischen Reflexionen Martin Bubers und Walter Benjamins deutet sich die Möglichkeit einer anderen Moderne an.15 Beide Autoren entfalten zu einer Zeit, in der sich die akademische Sprachphilosophie unter dem Einfluss des Positivismus als analytische Philosophie zu formieren beginnt und sich in ihrem Positivismus als spezifisch modern begreift, ein Sprachdenken, das die menschliche Rede über ihre Adressiertheit und Wirksamkeit versteht. Bubers andere Modernität verdankt sich neben logosmytischen Einflüssen seiner Anknüpfung an die chassidische Lehre, die er konsequent als eine Lehre der Immanenz interpretiert, der Unhintergehbarkeit dessen, was Rilke »Weltinnenraum«16 nennt.17 Statt nach letzten Gründen, ersten Anfängen oder obersten Prinzipien (nicht zuletzt der Sprache) zu suchen, wendet sich Buber unserer zerrissenen und imperfekten, kurz: menschlichen Welt zu: »Unterm Herd
13 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Fragmente, in den Urfassungen von 1811 und 1813, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1946, 56 f.. 14 Ebd. 15 Vgl. hierzu auch die Beiträge in Ashraf Noor/Gerald Hartung/Werner Hamacher (Hg.), Judentum und Sprachdenken, München 2009. 16 »Durch alle Wesen reicht der eine Raum: / Weltinnenraum.« Rainer Maria Rilke: »Es winkt zu Frühling fast aus allen Dingen«; in: Ders., Werke, Bd. II 1, 93; vgl. auch die siebente Duineser Elegie: »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen.« Duineser Elegien, Die siebente Elegie, in: Werke, Bd. I 2, 467. 17 Zu Bubers Denken vgl. generell Peter Stöger, Martin Buber. Eine Einführung in Leben und Werk, Innsbruck 2003; ferner Andreas Hetzel, »Das schöpferische Wort. Bubers Sprachdenken und die Tradition der Logosmystik«, in: Im Gespräch. Hefte der Martin Buber-Gesellschaft, Nr. 8, Frühjahr 2004, 41-51.
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unsres Hauses ist unser Schatz begraben.« Er geht in seiner Frühphase von den ekstatischen Erfahrungen der Mystiker aus, die er als »Eingehen in den Gott, […] Erfülltsein vom Gotte«19 beschreibt, als »Neugezeugtwerden, 20 Wiedergeburt durch den Gott« , um schließlich beim anderen Menschen anzukommen, der mich ebenfalls neu erzeugt. Die Mystik des anderen Menschen bindet sich nicht länger an Erfahrungen einer Transzendenz, sondern an eine Transzendenz in der Immanenz. Der konkrete, mir hier und jetzt begegnende Andere ersetzt das ganze Andere der negativen Theologie und evoziert die Rede. Bubers transformierte Mystik lässt sich mit einer Formulierung Robert Musils, eines begeisterten Lesers der Ekstatischen Konfessionen21, treffend als eine »taghelle Mystik«22 charakterisieren. Diese führt, um Walter Benjamin, einen anderen prominenten Leser (und Gesprächspartner) Bubers zu zitieren, nicht zur unio mystica, sondern zu einer »profanen Erleuchtung«23: zu einer Erfahrung des mir konkret begegnenden Anderen in seiner Andersheit, eine Erfahrung, die mich zur antwortenden Rede nötigt und mich selbst zu einem anderen macht. Buber bezeichnet es als »Offenbarung«, dass »der Mensch aus dem Moment der höchsten Begegnung nicht als der gleiche hervorgeht, als der er in ihn eingetreten ist«24 Sein . Denken lässt keine außerweltliche Position einer theoretisch distanzierten Beobachtung zu, die das Beobachtungssubjekt notwendig isolie-
18 Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre. Mit einem Nachwort von Albrecht Goes, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 13. Aufl. 1999 [1928], 53. 19 Martin Buber, »Ekstase und Bekenntnis«; Einleitung zu Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von Martin Buber, Heidelberg 1984 [1909], XXIII-XXXVIII, hier: XXVII. 20 A.a.O., XXVIII. 21 Vgl. hierzu Dietmar Goltschnigg, Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers ›Ekstatische Konfessionen‹ im ›Mann ohne Eigenschaften‹, Heidelberg 1974. 22 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. v. Adolf Frisé, Bd. 2, Reinbek 1978, 1089. 23 Walter Benjamin, »Der Sürrealismus [1929]«, in: ders., Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. II.1, 295-310, hier: 297. 24 Martin Buber, »Ich und Du« [1923], in: ders., Das dialogische Prinzip, Gerlingen 7
1994, 5-136, hier: 110.
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ren würde. Er praktiziert Philosophie immer schon als Symphilosophie, die sich aus dem »Gespräch« motiviert, »das wir« – er zitiert Hölderlin – »sind«25. Dieses Gespräch kennt kein Außen, keinen »die Partner umgrei26 fenden Dritten« ; noch das Schweigen als letzte Form des Gesprächs bliebe beredsam; es markiert eher eine innere Grenze des Gesprächs als einen gesprächslosen Zustand – Buber spricht von einem »mitteilenden Schwei27 gen« . Philosophie selbst gilt ihm als ein Gespräch, von dem wir eher geführt werden, als dass wir es intentional zu führen vermöchten.28 Zu philosophieren hieße dann, im Gespräch zu sein und zu bleiben, im Gespräch zuletzt noch über das Gespräch selbst. Philosophie vermöchte aus dieser Perspektive nicht länger kategoriale Gesetze des Sprechens zu erlassen, sondern wäre nur eine Gesprächspartnerin, eine Fragende und zu Befragende unter anderen. Bubers Verhältnis zur Philosophie spiegelt sich in besonderer Weise in seiner Sprachphilosophie. In gewisser Weise wäre es voreilig, von Buber als einem Sprachphilosophen zu reden. Der Begriff und die Geschichte der Sprachphilosophie legen eine Position nahe, die es erlaubt, Sprache theoretisch zu distanzieren, sie zum Objekt einer Beschreibung zu machen. Mit derartigen Versuchen bricht Buber. Er denkt weniger über die Sprache als von der Sprache her. Eine wesentliche Prämisse fast aller Sprachphilosophen: dass es die Sprache, als System, Kompetenz oder historischen Be-
25 Martin Buber, »Dem Gemeinschaftlichen folgen«, in: ders., Logos. Zwei Reden, Heidelberg 1962, 31-72, hier: 72. – Vgl. Friedrich Hölderlin, »Friedensfeier«, Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1-6, hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1946-1962, Bd. 3, 430: »Viel hat von Morgen an, / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang. / Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet, / Ein Zeichen liegts vor uns, daß zwischen ihm und andern / Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist.« 26 Michael Theunissen, Der Andere, a.a.O., 265. 27 Martin Buber, »Zwiesprache«, in: ders., Das Dialogische Prinzip, a.a.O., 137-196, hier: 141. 28 Vgl. Friedrich Hölderlin, »Der Abschied«, Sämtliche Werke. Kleine Stuttgarter Ausgabe, a.a.O., Bd. 2, 27: »Wir umher, ein Gespräch führet uns ab und auf, / Sinnend, zögernd, doch itzt mahnt die Vergessenen / Hier die Stelle des Abschieds, / Es erwarmet ein Herz in uns«.
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stand gibt, wird von Buber als zweitrangig eingestuft. In seinem 1960 gehaltenen Vortrag Das Wort, das gesprochen wird unterscheidet er drei mögliche Perspektiven der Thematisierung von Sprache: »Gehen wir von dem menschlichen Leben aus, das jeder von uns lebt, und der Bedeutung des Wortes für dieses Leben, dann sind drei Seinsweisen der Sprache unterscheidbar. Nennen wir sie präsenter Bestand, potentieller Besitz und aktuel29 les Begebnis.« Die beiden ersten Perspektiven, die von der Philosophie und der Linguistik eingenommen werden, verdinglichen, substantivieren und hypostasieren die Sprache. Buber bemüht sich demgegenüber um eine Relativierung des Abstraktums Sprache, hinter dem er »aktuelle Begebnisse« des Sprechens freilegt, die sich nicht unter eine abstrakte Idee subsumieren lassen. Die Seinsweise der Sprache, die ihn interessiert, ist das rhetorische »Gesprochenwerden, das Wort, das gesprochen wird«30. In einer an Nietzsche geschulten genealogischen Lektüre löst er die Sprache in Ereignisse und Praxen je einmaliger Rede auf, die konkret situiert und adressiert ist. Diese Rede geht nicht nachträglich mit kommunikativen Wirkungen einher, sondern fällt mit ihrem Wirken zusammen. Buber hätte folgende, von Wittgenstein inspirierte Äußerung Donald Davidsons unterschreiben können: »Ich ziehe den Schluß, daß es so etwas wie eine Sprache gar nicht gibt, sofern eine Sprache der Vorstellung entspricht, die sich viele Philosophen und Linguisten von ihr gemacht haben. Daher gibt es auch nichts dergleichen, was man lernen, beherrschen oder von Geburt an in sich tragen könnte. Die Vorstellung, es gebe eine klar umrissene gemeinsame Struktur, die sich die Sprachbenützer zu eigen machen und dann auf Einzelfälle anwenden, müssen wir aufgeben.«31 Bevor die Sprache zu einem System gerinnt, bevor sie als ein »Es« oder »Etwas« thematisiert werden kann, richtet sich unser Sprechen an den Anderen, richten sich seine Worte an uns: »Nie ist Sprache gewesen, ehe Ansprache war«32. Bevor es – in theoretischer Einstellung – (begriffliche) Sprache ge-
29 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, in: ders., Logos, a.a.O., 7-29, hier: 7. 30 A.a.O., 8 f. 31 Donald Davidson, »Eine hübsche Unordnung von Epitaphen«; in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, 203-227, hier: 227. 32 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, a.a.O., 18.
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worden ist, vollzieht sich unser Sprechen als Rede: als Ereignis, Frage und Antwort, als Adresse und Adressiertes; es bildet den Horizont unserer praktischen Weltbezüge und unserer Moralität. Von daher macht es aus Bubers Sicht keinen Sinn, zwischen Ethik und Sprachphilosophie zu unterscheiden. Bevor es zum Abbild unserer Welt oder zum Medium der Koordination unserer Handlungen werden kann, trägt unser Sprechen einen ethischen Index, der es sinnlos macht zu fragen, ob die Sprache eher in der Ethik gründe oder der Eigensinn des Ethischen in der Sprache. Ausgehend von dieser Kritik an Leitunterscheidungen der abendländischen Philosophie steht Buber den Traditionen der Rhetorik und der Logosmystik näher als der neuzeitlichen Sprachphilosophie. Rhetorik und Logosmystik begreifen den lógoV nicht so sehr als Abbild von Tatsachen, sondern als Anrede und Kraft der Hervorbringung von Subjekt und Welt. Als Subjekt gilt in beiden Traditionen gerade nicht ein Zugrundeliegendes, ein äupokeímenon, sondern jemand, der angerufen wird und dem lógoV antwortet. Das Subjekt wird in beiden Traditionen überhaupt erst vom lógoV ins Sein gerufen; es geht dem lógoV also weder voraus noch beherrscht es ihn. Die rhetorische Tradition spielt in Bubers Denken keine explizite Rolle, dürfte ihm aber vermittelt über seine Lektüre Nietzsches zumindest indirekt vertraut gewesen sein. Sein Sprachverständnis wird weit stärker aus der Logosmystik gespeist. Im Gegensatz zur klassisch-rationalistischen Philosophie eines Descartes oder Leibniz, die Sprache repräsentationalistisch, also als sekundäres Abbild einer vorgängigen Wirklichkeit, konzipieren, betont die Logosmystik die schöpferische Macht oder Performativität der Sprache. Böhme, mit dessen Schriften sich Buber bereits in seiner Doktorarbeit Zur Geschichte des Individuationsproblems auseinandergesetzt hat, beruft sich unmittelbar auf das Sprachdenken der Genesis, das wir weiter oben dargestellt hatten. Schellings logosmystisches Sprachdenken findet u.a. vermittelt über Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung Eingang in Bubers Werk. Auch Buber begreift Sprache nicht als Zeichensystem oder Abbild einer Wirklichkeit, sondern als schöpferische Kraft im emphatischen Sinne. Er deutet insbesondere die »für das Judentum charakteristische Auffassung der ›Schöpfung‹ als Sprachgeschehen: der Schöpfungsakt Gottes ist Sprache«33. Er wendet das bei Böhme und Schelling angelegte Denken des
33 Lothar Stiehm/Thomas Reichert: »Buber und Goes: Autor und Leser«; in: Martin Buber, Der Weg des Menschen, a.a.O., 71-79, hier: 75.
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Performativen dialogisch. Nicht das isolierte Subjekt und »sein« Sprechakt stehen im Mittelpunkt, sondern eine Performativität »zwischen uns«, eine ethische Anrufung, die mich überhaupt erst, als Subjekt einer Verantwortung, in eine Subjektposition einsetzt. Buber lotet die ethische Dimension der Performativität aus, den Anspruch des Anderen, der mich in die Verantwortung ruft. Er arbeitet damit der Philosophie von Emmanuel Lévinas vor, insbesondere der bereits erwähnten Unterscheidung von »Sagen« und »Gesagtem«34. Während das Gesagte bei Lévinas das ausgesprochene und geformte Wort umfasst, verkörpert das Sagen die Anrede, ein Sich-Richten an den Anderen, das jedem propositionalen Gehalt vorausgeht. Lévinas tendiert mit dieser Unterscheidung dazu, eine Sprache vor der Sprache vom je aktuellen Sprechen zu unterscheiden. Demgegenüber interpretiert Buber unser alltägliches Sprechen selbst als ein Sprechen vor dem Sprechen. Unser Sprechen ist uns nie nur als Bestand gegeben, sondern immer auch als Anrede. Wenn wir etwas sagen, haben wir bereits schon etwas gesagt, uns dem Anderen anheimgestellt und versprochen. Sprache selbst wird somit ek-statisch, sie eilt sich in Form eines Versprechens voraus. Buber vollzieht auf den von jüdischer Tradition und Logosmystik gebahnten Wegen eine performative Wendung des Sprachdenkens, gibt der Performativität aber zugleich eine ethische und intentionalitätskritische Wende. In der Sprachpragmatik des 20. Jahrhunderts, die auf Austin folgt, wird das Denken der Performativität im begrifflichen Rahmen einer philosophischen Handlungstheorie gefangen gesetzt und einem Konzept der Intentionalität unterstellt. Für Searle und Grice etwa transportieren unsere Sprechakte intentionale Einstellungen eines Sprechersubjekts. Der Sprechakt repräsentiert hier letztlich einen mentalen Zustand. Als souveräner Autor verfügt der Sprecher über seinen Sprechakt und kontrolliert seine Wirkungen; er ist in ihm und in seinen Wirkungen präsent. Buber bricht mit dieser Unterstellung einer Präsenz des Sprechers im Sprechakt, eines intentionalen Bewusstseins, das sich in die sprachlichen Äußerungen emaniert. 35 Er kritisiert eine solche Vorstellung als »monologisierende Hybris« . Dem Performativen im Sinne einer sprachlichen Setzung korrespondiert bei Buber immer auch ein Entsetzen. Er behauptet gerade nicht, dass die Welt wie
34 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., 29 ff. 35 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, a.a.O., 13.
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im Vulgäridealismus, sprachlichen Setzungen oder Konstruktionen eines souveränen Subjekts entspringt. Die Welthaltigkeit der Welt verdankt sich demgegenüber vielmehr einer passivischen Geste, einem Ablassen von der eigenen Intentionalität, eher einem Innewerden als einem Sprechen. Ein Gespräch zu führen, bedeutet weniger etwas zu entwerfen, als vielmehr zu vernehmen, zu bejahen, es ist »Akzeptation der Anderheit«36. Die Welt wird nicht vom isolierten Subjekt produziert, sondern hat ihren Ort zwischen den Subjekten. Sie ist das, was zwischen den Subjekten zur Sprache kommt. Als geteilte Welt behält sie für das einzelne Subjekt eine gewisse Unverfügbarkeit, da sie konstitutiv mit den Perspektiven der Anderen, dem sich entziehenden Du, vermittelt ist. So wie die Sprache, da sie vom Anderen kommt, nie vollständig meine Sprache sein kann, ist auch die Welt nie vollständig meine Welt sondern ein Zwischen. Offengehalten wird dieses Zwischen durch das, was Buber eine »Anderheit«37 nennt, die durch »Urdistanzierung«38 sichtbar wird. Die Anderheit beerbt und transformiert die Andersheit Gottes in der Mystik, die als totaliter aliter, als ganz anders, gedacht wurde. Die Neuplatoniker und die mittelalterlichen Mystiker siedeln Gott »jenseits des Seins und des Wesens« an; nur negativ ist ihnen Gott umschreibbar, als ein Undarstellbares. Nur in einer hymnischen Sprache, die sich selbst im Scheitern ihrer Versuche inszeniert, Gott positiv zu benennen, lässt sich von Gott zeugen. Bubers Anderheit schwächt die Andersheit der Mystiker nicht ab, sondern verlegt sie gänzlich in die Welt der Menschen. Jeder Andere gilt ihm zunächst als totaliter aliter, als ein ganz anderer, der sich all meinen Projektionen, Beurteilungen und Zuschreibungen entzieht. »Du grenzt nicht«, heißt es in Ich und Du39, jedes Du bleibt unbegrenzt, ist somit nicht durch Abgrenzung definierbar. In Zwiesprache beschwört Buber sehr eindringlich »die ungeheure Anderheit des Anderen«40, die jeden Versuch unterläuft, das Du in Analogie zum Ich zu sehen. Bubers Ethik der Alterität hebt sich in diesem Punkt streng von allen Theorien der Intersubjektivität ab. »Du« lässt keine andere Perspektive zu als die der Anrede: »Das Anrufen hat der Mensch
36 Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, Heidelberg 1978 [1950], 30. 37 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, a.a.O., 13. 38 Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, a.a.O., 11. 39 Martin Buber, »Ich und Du«, a.a.O., 8. 40 Martin Buber, »Zwiesprache«, a.a.O., 172.
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mit vielen Tieren gemein, das Anreden ist ihm wesenhaft eigentümlich, und das Anreden gründet sich auf die Setzung und Anerkennung der selbständigen Anderheit des Andern, mit dem man auf eben diesem Grunde anredend 41 und Rede stehend Beziehung pflegt.« Über das Du läßt sich per definitionem nicht reden, es ist das, was nie zu einem Etwas gemacht werden kann. Noch nicht einmal als ganz Anderes könnte ein Du letztendlich begriffen (und damit vergleichgültigt) werden, weil wir immer schon im Dialog mit ihm stehen. Das Du entzieht sich noch der Alternative von Wechselseitigkeit und Alterität. Es ist gerade diese unüberbrückbare Kluft der Anderheit, die uns verbindet. Darin – und nur darin –, dass wir uns als unendlich andere begegnen, kommen wir paradoxerweise überein. Was jede Kommunikation zwischen uns unmöglich zu machen droht, wird von Buber als Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation veranschlagt; darin erweist sich Buber als Negativist: »Jeder Versuch, den Monolog als vollgültiges Gespräch zu verstehen [...], muß daran scheitern, daß ihm die ontologische Grundvoraussetzung des Gesprächs fehlt, die Anderheit, konkreter: das Moment der Überraschung. Die menschliche Person ist sich selbst nicht in dem Sinn unvorhersehbar wie irgendeiner ihrer Part42 ner […] «. Doch auch das Ich verkörpert nur einen weiteren Modus der Anderheit, denn »Person ist durch und durch Einmaligkeit, also Anderssein allem gegenüber«43. Ich bin, selbst dann, wenn ich mir selbst vertraut erscheine, in gewisser Weise nur der, der gegenüber Anderen anders ist. Das Gespräch darf vor diesem Hintergrund nicht vorschnell als bergende, einigende, heimelige Sphäre (etwa im Sinne von Sloterdijk) verstanden werden, sondern bleibt konstitutiv von Unmöglichkeit und Entzweiung bedroht: ein Dis-kurs. Als Gewährsmann seiner Philosophie des Dialogs führt Buber nicht ohne Grund Heraklit an, den Denker des Widerstreits. »Wir wissen nicht«, so führt Buber aus, »in welchem Ausmaß Heraklit ›Wir‹ sagte.«44 Das Wir kann für Heraklit kein Drittes zum Ich und Du gewesen sein. Es steht vielmehr für die leere Mitte, die sich zwischen beiden auftut, für das Nichts, über das hinweg sich jeder Dialog entspannt. »Springendes Feuer ist ja das rechte Bild für die Dynamik zwischen den Personen im
41 Martin Buber, Urdistanz und Beziehung, a.a.O., 28 f. 42 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, a.a.O., 13 f. 43 Martin Buber, »Dem Gemeinschaftlichen folgen«, a.a.O., 45. 44 A.a.O., 65.
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Wir.« Der Dialog bleibt für Buber rückhaltlos, er hat keinen Halt außerhalb seiner Performanz. »Rückhaltlosigkeit«46 meint, dass wir uns im Angesicht des Anderen anheimgeben, aufs Spiel setzen. Das Zwischenmenschliche überbordet jede Sicherheit und Gewissheit; alles, alle Subjektpositionen, alle Medien der Verständigung, aller Sinn, stehen hier zur Disposition. Wenn wir zum Anderen gehen, begeben wir uns in Gefahr, exponieren uns ganz und gar. Die Hegelsche »Nacht der Welt«, das Nichtwissen, das sich mir im Blick des Anderen auftut, ist für den Dialog bedeutsamer als jedes Wissen. Im Gespräch zu sein, heißt gerade nicht, sich etwa im Sinne Robert Brandoms wechselseitig Berechtigungen für bestimmte sprachliche Folgezüge einzuräumen und auf Festlegungen, die sich aus dem semantischen Gehalt des bereits Gesagten notwendig ergeben, zu verpflichten. »Das Sagen gerade«, so führt Lévinas47 ganz im Sinne Bubers aus, »ist kein Spiel«, es folgt nicht einfach vorgegebenen Regeln, sondern bewegt sich in einem ungedeckten Raum, in dem alle Regeln immer wieder neu zur Disposition gestellt werden können. »Nec lex est loquendi«, es gibt kein Gesetz des Sprechens, heißt es bereits bei Quintilian (Quint. inst. or. I, 6, 16). Ein Zeitgenosse Bubers, Georges Bataille, beschreibt die Anderheit als Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Kommunikation wie folgt: »Die ›Kommunikation‹ findet nur zwischen zwei Wesen statt, die sich aufs Spiel gesetzt haben – zerrissen und in der Schwebe, beide über ihr Nichts gebeugt.«48 Auch für Buber bleibt jede kommunikative Begegnung notwendig riskant, eine »Chance der Sprache, zwischen den Menschen wahr zu werden«49, eine Chance, deren Realisierung durch nichts garantiert wird. Bataille und Buber entfalten eine negativistische Theorie der Kommunikation, die keinen letzten Horizont geteilter Bedeutungen kennt. Ein solcher, vorausgesetzter Sinn, vor dessen Hintergrund sich ein Gespräch aufspannte, würde Verständigung gerade unmöglich machen, da Kommunikation hier immer schon ihr Ziel erreicht hätte; sie wäre, wie der Igel im Grimmschen Märchen vom Hasen und vom Igel, immer schon am Ziel.
45 A.a.O., 69. 46 Martin Buber, »Zwiesprache«, a.a.O., 143. 47 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., 29. 48 Georges Bataille, Œuvres complètes, 12 Bde., Tome VI, Paris 1973, 45. 49 Martin Buber, »Dem Gemeinschaftlichen folgen«, a.a.O., 62.
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Doch eine Kommunikation, die sich, im Modus eines Heideggerschen apriorischen Perfekts, »immer schon« ereignet hätte, wäre keine. Buber macht uns darauf aufmerksam, dass Kommunikation mit ihrer eigenen Unmöglichkeit, ihrem eigenen Scheitern verschwistert ist. Nur rückhaltlos, vom Anderen zum Anderen und ohne den transzendentalen Rahmen invarianter Komunikationsbedingungen, wäre Kommunikation möglich. Auch welthaltig wird Kommunikation erst dort, wo sie von Anderheit gequert wird: von der grundstürzenden Erfahrung der Abwesenheit eines gemeinsamen Bedeutungshorizonts. Nicht das Verstehen bildet den Anfang der Kommunikation, sondern das Missverstehen. Von der »Möglichkeit des Mißverstehens oder Missverstandenwerdens« schreibt Buber, dass »diese Möglichkeit dem Sprechen wesenhaft eignet, weil die Sprache ihrem We50 sen nach ein System möglicher Spannungen ist« . Daraus ergibt sich weiter, »daß nicht die Eindeutigkeit des Wortes, sondern seine Mehrdeutigkeit die lebendige Sprache konstituiert«51. Das Wort drückt gerade nicht in eindeutiger Weise eine zugrundeliegende Intention aus. Es wird nicht von einem Subjekt geschaffen, sondern ist, wie die Logosmystik von Böhme bis Schelling nicht müde wird zu zeigen, selbst schöpferisch, weniger das Abbild einer wirklichen Welt denn der ungedeckte Vorgriff auf eine mögliche neue. Nicht bereits fertig konstituierte Subjekte sprechen also, indem sie sich einer schon fertigen Sprache bedienen; Buber zeigt vielmehr, »daß das Geheimnis der Sprachwerdung und das der Menschwerdung eins sind«52. Erst rückwirkend von seinem Sprechen und Angesprochenwerden lässt sich ein Subjekt überhaupt als solches ansprechen. Erst zwischen Ich und Du entspannt sich andererseits so etwas wie Sprache: »Nie ist Sprache gewesen, ehe Ansprache war«53. So wie die Logosmystik Gott und sein Geschöpf allererst aus einem sprachlichen Geschehen, das sich zwischen ihnen entspannt, hervorgehen lässt, so bringt das Gespräch im Sinne Bubers erst die Gesprächspartner hervor. Im Gegensatz zu Lévinas, der die ethische Anrede als Sagen strikt vom welthaltigen Gesagten unterscheidet, siedelt Buber die semantische Seite
50 Martin Buber, »Das Wort, das gesprochen wird«, a.a.O., 14f. 51 A.a.O., 16. 52 A.a.O., 22. 53 A.a.O., 18.
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der Sprache, ihre Bezugnahme auf die Welt, im kommunikativen Geschehen selbst an. Sprechen ist ihm »Kundgabe und Kundnahme« von Welt »zwischen zwei oder mehreren Menschen«54. Unabhängig von dieser Kundgabe können wir auf keine Welt zugreifen. Umgekehrt gibt es keine Kundgabe, die nicht etwas in der Welt kundtun würde. Gegen den Vorwurf, seine Dialogik berücksichtige nicht ausreichend die welterschließende Seite der Sprache, wendet Buber ein: »Es wird gefolgert, in dem von mir gemeinten Dialog gebe es zwar einen Geber und einen Empfänger, aber ›nichts, was als Inhaltsbereich gegeben oder empfangen wird‹, denn ein solcher würde eine ›Schranke‹ errichten, durch die die Unmittelbarkeit zwischen den beiden Partnern aufgehoben würde. Aber das meine ich durchaus nicht«55. Buber steht hier der Semiotik von Peirce weit näher als dem Sprachdenken von Lévinas. Für Peirce kann sich ein sprachliches Zeichen nicht von sich aus auf ein Objekt beziehen. Erst in seinem Interpretiertwerden durch einen anderen bezieht es sich auf etwas, gewinnt einen Objektaspekt. Umgekehrt kann ich den anderen nie unmittelbar ansprechen, sondern immer nur unter Zuhilfenahme von Zeichen, die immer auch Zeichen von etwas sind. Die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive setzen sich im Denken Bubers, obwohl sie sich widerstreiten, wechselseitig voraus. Dialogizität wird von Buber nicht einfach als Position bezogen oder als Prinzip verfochten, sondern auf sich selbst angewandt. In Ich und Du betont er den Unterschied zwischen einer direkten, gegenseitigen Beziehung (der Ich-DuBeziehung), in welcher sich Personen in ihrer Einzigartigkeit anerkennen, und einer indirekten, zweckmäßigen Beziehung (der Ich-Es-Beziehung), bei der sich die Personen nicht wirklich anerkennen. Buber interessiert sich vor allem für die Relation zwischen diesen beiden Relationen, die er als Grundwortpaare begreift. Grundworte eröffnen fundamentale Perspektiven auf die Welt. Sie »sagen nicht etwas aus, was außer ihnen bestünde, sondern gesprochen stiften sie einen Bestand«56. Ihre Erschließungskraft hängt davon ab, dass jedes Grundwortpaar auf ein Gegenwortpaar bezogen ist. Eine Ich-Du-Perspektive lässt sich überhaupt nur in Abgrenzung zu einer
54 A.a.O., 20. 55 Martin Buber, »Antwort«; in: Paul Arthur Schilpp/Maurice Friedman (Hg.), Martin Buber, Stuttgart 1963, 589-639, hier: 596. 56 Martin Buber, »Ich und Du«, a.a.O., 7.
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Ich-Es-Perspektive artikulieren. Die Beziehung zwischen den beiden Grundwortpaaren bleibt allerdings eine asymmetrische. Der praktischen Vernunft kommt gegenüber der theoretischen Vernunft ein Primat zu. Bevor ich mich erkennend zur Welt und zu mir selbst verhalte, erfahre ich mich als angeredet vom Du. (d) Das Sprachdenken Walter Benjamins zeigt sich sowohl von der rhetorischen wie von der logosmystischen Tradition beeinflusst und zielt, wie dasjenige Bubers, auf eine Theorie rednerischer Wirksamkeit. 57 Bereits in seinem frühen Text Über das Programm der kommenden Philosophie aus dem Jahr 1917 fordert Benjamin eine sprachtheoretische Transformation des zu seiner Zeit die akademische Philosophie dominierenden Kantianismus: »Die große Umbildung und Korrektur« der Kantischen Philosophie kann für ihn dabei »nur durch eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache, wie sie schon zu Kants Lebzeiten Hamann versucht hat, gewonnen werden«.58 Die anvisierte Umbildung und Korrektur richtet sich vor allem gegen den Kantschen Tranzendentalismus. Das Ausgehen von der Sprache würde es erlauben, einen Begriff der Erfahrung zu etablieren, der im Gegensatz zum Kantischen nicht mehr von einem Subjekt-Objekt-Dualismus regiert würde, in dem das Subjekt dem Objekt seine Anschauungsformen und Kategorien aufprägt. Im Medium einer Sprache, die jeder Bezugnahme von Subjekten auf Objekte vorausginge, könne auch, so Benjamin, die Wirksamkeit der Rede nicht länger handlungstheoretisch interpretiert werden. Sie erscheint demgegenüber als eine Sprachmagie, die Benjamin als Inbegriff rednerischer Wirksamkeit gilt. Ausgeführt wird die geforderte Umbildung und Korrektur der Erkenntnistheorie zur Sprachphilosophie in einer ganzen Reihe von Aufsätzen: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916), Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin (1917), Über das mimetische Vermögen (1933), Die Aufgabe des Übersetzers (1923) sowie Probleme der Sprachso-
57 Auf das komplexe Sprachdenken Benjamins, dessen Spur sich durch sein Gesamtwerk zieht, kann ich an dieser Stelle nur kurz eingehen; zu einer ausfürlicheren Darstellung vgl. Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt/M. 1980, sowie Bettine Menke, Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Benjamin, Weimar 2001. 58 Walter Benjamin, »Über das Programm der kommenden Philosophie«, in: ders. Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 2, 157-171, hier: 168.
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ziologie (1935), wobei dem ersten dieser Texte eine besondere Bedeutung zukommt. Benjamin formuliert im ersten Satz dieses Aufsatzes einen Universalitätsanspruch der Sprache: »Jede Äußerung des menschlichen Geis59 teslebens kann als eine Art der Sprache aufgefasst werden.« Nicht nur die Äußerungen, sondern auch die Institutionen der Menschen zeichnen sich durch eine sprachliche Infrastruktur aus. Benjamin begreift Manifestationen 60 des objektiven Geistes wie »Technik, Kunst, Justiz oder Religion« als intrinsisch sinnhaft und damit auf Mitteilung angelegt. Von der Sprache der Techniker etwa lässt sich eine Sprache der technischen Artefakte selbst unterscheiden. Ähnlich verhält es sich mit Recht und Religion, die bereits in sich sprachlich strukturiert sind. »Völlige Abwesenheit der Sprache«, so Benjamin, »können wir uns in nichts vorstellen«61; selbst die Natur drängt nach sprachlichem Ausdruck. Mit der Ausformulierung eines solchen Universalitätsanspruchs behauptet Benjamin nicht, dass sich alles auf Sprache reduzieren ließe. Eine solche Position wäre für ihn sprachidealistisch in einem schlechten Sinne. Er unterstellt vielmehr, dass alles an Sprache teilhat, sich in ihr mitteilt und vollendet. Im Kantianismus wird Erkenntnis als konstruktiver Akt eines Subjekts, mithin als Handlung interpretiert. Das Subjekt stülpt seine Verstandesbegriffe auf eine chaotisch-mannigfaltige Wirklichkeit, subsumiert Sinneseindrücke unter Begriffe und synthetisiert beide Seiten zu einer Erfahrung. Das Subjekt, so Kant, schreibt der Natur die Gesetze vor. In seiner Sprachphilosophie bricht Benjamin mit dem Aktivismus dieses Programm. Für ihn teilen sich die Phänomene im Medium der Sprache selbst mit. Anstatt Phänomene aktiv zu konstituieren, vernimmt das Subjekt im Medium der Sprache gleichsam die Stimme der Welt. Dass Sprache medial verfasst ist, bedeutet, dass sich das Wesen der Phänomene »in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache«62. Alle Mitteilung findet, was trivial erscheinen mag, in der Sprache statt. Diese bildet ein Medium, das sich weder auf mentale noch auf physikalische Tatsachen rückbeziehen, geschweige denn in ihnen begründen lässt. Aufgrund dieser medialen Geschlossenheit kön-
59 Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, a.a.O., 140. 60 Ebd. 61 A.a.O., 141. 62 Ebd.
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nen wir unser Reden prinzipiell nicht handlungstheoretisch deuten. Benjamin akzeptiert »keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt«63. Sprechen kann nicht als Handeln eines souveränen, seiner Rede vorausgehenden Subjekts beschrieben werden, welches sich der Sprache wie eines Instruments bedient. Was sich mitteilt, teilt sich in der Sprache mit, d.h. Sender und Empfänger, Adressierender und Adressierter stehen bereits in ihr, sind Aspekte des sprachlichen Geschehens selbst. Zugespitzt formuliert: »Jede Sprache teilt sich selbst mit«64, es gibt keine Übersetzung und keinen Austausch zwischen der Sprache und einer außersprachlichen, sei es mentalen sei es physikalischen Wirklichkeit. Wie bei Gorgias kommen wir auch bei Benjamin weder in die Sprache hinein noch aus der Sprache hinaus. Wir leben immer schon in ihr. Für Benjamin steht weiter fest, dass sich »jede Sprache in sich selbst mitteilt, sie ist im reinsten Sinne das ›Medium‹ der Mitteilung«65. Das Medium der Sprache wäre kein Drittes, durch das sich ein Erstes (ein Subjekt) auf ein Zweites (ein Objekt) bezieht. Sprache lässt sich insofern nur unzureichend in Analogie zu technischen Medien wie Fernrohren oder Fernsehapparaten beschreiben. Da die Vermittlung in der Sprache total ist, stiftet dieses Medium eine neue Unmittelbarkeit: »Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung«66. Als Medium aufgefasst wird Sprache unendlich. »Denn gerade, weil durch die Sprache sich nichts mitteilt, kann, was in der Sprache sich mitteilt, nicht von außen beschränkt oder gemessen werden und darum wohnt jeder Sprache ihre inkommensurable einziggeartete Unendlichkeit inne.«67 Von keinen sprachexternen Punkt aus könnte das Ganze der Sprache überblickt und beherrscht werden. Eine wissenschaftliche Annäherung an die Sprache bliebe insofern unzureichend. Die Sprachphilosophie kann sich ihrem ungegenständlichen Gegenstand nur mit sprachlichen Mitteln nähern, ihn von Innen erschließen, ohne jemals seine Grenzen zu erreichen. Benjamin beschreibt die Unmittelbarkeit der Sprache näherhin als ihre Magie, als Kraft einer Hervorbringung und Bewirkung. Wenn und indem
63 A.a.O., 142. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 A.a.O., 143.
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wir sprachliche Wirkungen ausüben, partizipieren wir an einer vorgängigen Wirksamkeit, die der Sprache als Sprache zukommt. Eine Sprache, die sich in sich selbst mitteilt, kann nicht länger als sekundäres Abbild vorsprachlicher Ereignisse und Dinge begriffen werden; sie berührt sich mit der Welt und erwirbt damit die Kraft ihrer Hervorbringung; sichtbar wird diese Kraft für Benjamin vor allem in Akten der Namensgebung. Uns Menschen komme dadurch eine Sonderstellung zu, dass wir Dinge zu benennen vermögen. Als namengebende Wesen partizipieren wir an der Schöpfung. Wenn die Sprache Adams auch nicht mit der unmittelbar hervorbringenden Sprache des Schöpfergottes identisch ist, so verlängert er im Benennen der Geschöpfe doch das Schöpfungsgeschehen. In der Sprachfähigkeit bleibt ein Moment des Anfangs und Anfangenkönnens erhalten. So wie nach Johannes im Anfang das Wort war, so bleibt etwas vom Anfang für Benjamin in jedem Wort aufbewahrt. Indem er etwas benennt, teilt der Mensch nicht einfach einem anderen Menschen etwas mit, sondern ruft es zugleich performativ ins Sein, lässt es anfangen. Ihre repräsentationalistische und informationstheoretische Deutung wird von Benjamin als »bürgerliche Auffassung der Sprache«68 diffamiert; sie erschöpfe sich vor allem darin, dass hier ein Sprecher A einem Sprecher B vermittels eines Wortes X einen Sachverhalt Y mitteile69. Die Rede von einer »bürgerlichen« Sprachauffassung legt ein marxistisches Selbstverständnis nahe; ein Grundsatz der marxistischen Geschichtsphilosophie lautet, dass der Mensch die Geschichte macht. Was ihm als objektiv und an sich seiend entgegentritt, ist sein eigenes, ihm entfremdetes Produkt. Das Ziel der marxistischen Philosophie besteht darin, vermeintliche Natur wieder als Geschichte lesbar zu machen. Die Welt gilt ihr als das Resultat von Praxis. Sie muss insofern nicht wie ein Schicksal angenommen werden. Da sie von Menschen gemacht wurde, kann sie auch verändert werden. Die bürgerliche Sprachauffasung, die Benjamin zurückweist, versteht Sprache aber nun gerade als Abbild einer an sich seienden, vom Menschen unab-
68 A.a.O., 144. 69 Vgl. z.B. Karl Bühlers Organon-Modell der Sprache: Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934, 28. Zu Benjamins Auseinandersetzung mit Bühler vgl. seinen Aufsatz »Probleme der Sprachsoziologie« in: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 3, 452480.
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hängigen Wirklichkeit, die der Sprache zugleich etwas von ihrer Unwandelbarkeit mitteilt. Sie naturalisiert die Welt. Im Namen teilt sich das Wesen der Sprache selbst mit. Der Name fun70 giert somit als »der Inbegriff der intensiven Totalität der Sprache« . In der die Welt benennenden Sprache des Menschen kommt die »Sprache überhaupt«, die Sprache der Dinge, in gewisser Weise zu sich selbst. Die Schöpfung vollendet sich hier. Der Name stellt für Benjamin weniger eine Bezeichnung als einen »Anruf«71 dar, er ruft etwas ins Sein. Damit »erscheint im Namen das Wesensgesetz der Sprache«72, einer Sprache, die dem Sein nicht nur nachträglich folgt, sondern es setzt. Der Mensch vollendet Gottes Schöpfung, indem er das Geschaffene benennt. Im Menschen »entließ Gott die Sprache [...] frei aus sich«73. Das Sprachdenken der Logosmystik begreift die Wirksamkeit der Rede als eine der performativen Konstitution von Welt. In diesem Punkt korrespondiert es aufs engste mit den Analysen der (insbesondere sophistischen) Rhetorik zum lógoV als peijoûV dhmiourgóV, als Demiurg. Im Gegensatz zur Logosmystik wird dieser demiurgische lógoV in der Rhetorik allerdings stärker pluralisiert (als Konflikt widerstreitender lógoi begriffen) und politisiert. Die Sophisten nehmen ihren Ausgang weniger bei einem göttlichen Schöpfungsgeschehen als bei der politischen, sich über Reden vermittelnden Selbstinstituierung der Gemeinschaft.
70 Walter Benjamin, »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, a.a.O., 144. 71 A.a.O., 145. 72 Ebd. 73 A.a.O., 149.
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5.2 M YTHOLOGIE DER R HETORIK : H ELENA, P EITHO UND DIE C HARITEN Während die Sprechakttheoretiker Performativität als Akzidenz der Sprache behandeln und ihr im Rahmen der Pragmatik einen fest umrissenen Ort zuweisen, fällt Rede für die antiken Rhetoriker mit ihrer Performativität zusammen. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt hatten, kennen die Rhetoriker keine Idee der Sprache jenseits ihrer Wirksamkeit; sie haben keine Sprache für die Sprache als System oder Kompetenz jenseits ihrer Verkörperungen in einer situierten, adressierten, kommunikative Wirkungen zeitigenden Rede. Weder lógoV noch oratio lassen sich angemessen als eine Sprache explizieren, die zum Gegenstand einer erschöpfenden theoretischen – sei es linguistischen, sei es sprachphilosophischen – Beschreibung gemacht werden könnte. Der Rhetorik gelten lógoV und oratio als immer schon adressiert: als eine Adresse, die keine Wirkungen hat, sondern mit ihrem Wirken zusammenfällt. Die rhetorische Rede »richtet sich« wesentlich »an eine Hörerschaft« (NR 9); sie entspricht dem Sagen im Sinne von Lévinas, das wesentlich vom Anderen, als meine Antwort auf ihn, evoziert wird. In diesem Sinne beschreibt neuerdings auch Judith Butler das Rhetorische explizit als Adressierung74: als ein vorpropositionales sich Richten auf den Anderen, das jede Erzählung (die den Anderen beurteilt, ihm propositionales Wissen attribuiert, ihm eine Position in einer symbolischen Ordnung zuweist) einklammert und aussetzt. Für die sich hier abzeichenende Möglichkeit einer ethischen Auszeichnung75 des Rhetorischen spricht bereits Quintilians mehrfacher Vergleich der Rede mit einem »Gesicht [facies]« (Quint. inst. or. II 16, 6; IV 1, 61; XI 3, 18); das Gesicht spricht uns vor jeder Übermittlung eines propositionalen Gehalts an; »der Anblick selbst ohne Worte [aspectus etiam ipse sine voce]« (Quint. inst. or. II 15, 6) ruft uns in eine Kommunikation, die allen kommunizierten Bedeutungen vorausliegt. Nicht umsonst wird das próswpon, das Antlitz, bei Lévinas zur zentralen Figur einer Ethik der Alterität. Lévinas kehrt dabei gleichsam die klassische Figur der proswpopoía
74 Vgl. Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/M. 2003, 76. 75 Zum Verhältnis von Sprache und Ethik vgl. generell Josef Rauscher, Sprache und Ethik. Die Konstitution der Sprache und der Ursprung des Ethischen in der Grundkonstellation von Antwort und Verantwortung, Würzburg 2001.
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um: Nicht wir sprechen dem Anderen ein Antlitz zu, sondern das Antlitz des Anderen ruft uns als Sprecher hervor, individuiert uns in unserer durch nichts zu substituierenden Verantwortlichkeit. Auf die Wirksamkeit der Rede reflektieren die antiken Rhetoriker vor allem im Kontext ihrer Ausfürungen zum Verb peíjein, das überreden, überzeugen und hervorbringen bedeuten kann, sowie zur Apothesose dieses Verbs, zur Göttin Peitho. Die vielleicht beeindruckendste Reflexion zur Macht der Rede, die sich mit der Macht Peithos deckt, hat Gorgias mit seiner Helena-Rede vorgelegt, auf die sich wiederum Isokrates mit einer Antwortrede bezieht. Im Folgenden werde ich zunächst auf die in den HelenaReden des Gorgias und des Isokrates entfaltete Praxis des peíjein eingehen (a), um im Anschluss daran die sophistischen wie philosophischen Theorien des peíjein zu beleuchten (b) und abschließend die Mythologie der Rhetorik anhand der Göttin Peitho (c) und der sich in ihrem Gefolge befindenden Chariten (d) näher zu betrachten. (a) Die Helena-Rede des Gorgias bezieht sich auf einen mythologischen Kontext, der den Zeitgenossen wie kein ein anderer vertraut gewesen sein dürfte. Wie viele andere Mythen hat auch derjenige der Helena keinen lo76 cus classicus , sondern zieht sich durch Epen, Dramen, Lyrik, Redenliteratur, Plastiken und Vasenbilder, wird immer wieder neu variiert und von anderen Mythen gequert; in ihn gehen darüber hinaus ältere Mythen ein. Der Mythos ist, um es kurz zu fassen, wesentlich offener, als von philosophischen Mythentheorien in der Regel unterstellt. Er sollte weniger als Legitimationserzählung77 gelesen werden, die die Gestalt einer bestimmten Weltordnung sanktioniert, denn schlicht und einfach als eine Erzählung, die kolportiert wird und aus der sich Verschiedenes lernen lässt. Gleichwohl kommt dem Helena-Mythos eine exemplarische Bedeutung zu. Der Streit um Helena steht am Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Hellenen und Troern; Helena bildet in gewisser Weise das personifizierte Zentrum der Geschehnisse, von denen Homer in seinen Epen berichtet. Sie ist der
76 Vgl. etwa Homer, Il. 3, 24, 25ff.; Euripides, Helena; Apollod. Bibl. 3, 10, 7; Pausanias I 33, 7f.; Herodotus Hist. 9, 73; Diod. Hist. Bibl. IV 63, 2ff. 77 Zu einer Deutung des Mythos als konstitutiv mehrstimmiger Transformationserzählung, die kein Original kennt und sich gegen den Absolutismus der einen Wirklichkeit wendet, vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1984 [1979].
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Attraktor, der die Leidenschaften, Helden und Heere der Ilias und der Odyssee in Bewegung setzt. In einem seiner zahllosen amourösen Abenteuer nähert sich Zeus der 78 Leda in Gestalt eines Schwans. Diese bringt daraufhin zwei Eier zur Welt, dem ersten entspringt Helena, dem zweiten die beiden Dioskuren, Kastor und Polydeukes. Als Tochter des Zeus und der Leda (in anderen Fassungen des Mythos auch der Nemesis) wird Helena zum Sinnbild unwiderstehlicher Schönheit; in ihr verleiblicht sich jene Kraft des peíjein, die Gorgias in seiner Rede als »große Bewirkerin« charakterisieren soll. Bereits in ihrer Kindheit wird Helena von Theseus und Perithoos nach Attika entführt, dann aber von ihren Brüdern wieder befreit und zurück nach Sparta gebracht. Als schönste Frau der Antike birgt sie ein Konfliktpotential, um ihre Hand streiten viele griechische Fürsten. Der Mythos suggeriert, dass es den Fürsten zur Ehre gereicht, um Helena zu freien, dass es regelrecht als ihre Pflicht angesehen werden kann. Odysseus, einer der Freier, erkennt das Konfliktpotential und empfiehlt Helenas Stiefvater Tyndareos, die Freier einen Eid ablegen zu lassen: Alle sollen demjenigen, den Helena schließlich heiraten wird, die Treue halten und ihn, sollte Helena jemals gewaltsam geraubt werden, dabei unterstützen, sie zurückzugewinnen. Dieser Eid, so wird sich später herausstellen, markiert den Beginn einer gemeinsamen Geschichte der griechischen Völker.79 Helena heiratet schließlich Menelaos, den Bruder Agamemnons und zukünftigen König von Sparta. An dieser Stelle wird der Helena-Mythos von einer anderen Geschichte gekreuzt: Auf der Hochzeit des Peleus und der Thetis wirft Eris, die Göttin der Zwietracht, einen goldenen Apfel unter die Gäste, der die Aufschrift »Der Schönsten!« trägt. Den Apfel beanspruchen Hera, Athene und Aphrodite, die den troischen Königssohn Paris als Schiedsrichter einberufen. Athene stellt Paris, sollte sein Urteil auf sie fallen, Weisheit in Aussicht, Hera Macht und Aphrodite die schönste Frau. Paris entscheidet sich für
78 Auf einem apulischen Vasenbild, das auf die Zeit um 350-340 v. Chr. datiert wird, ist zu sehen, wie Peitho bei der Verführung Ledas durch den Schwan als Schirmherrin fungiert (The J. Paul Getty Museum, Malibu, California, USA, Catalogue Number: Malibu 86.AE.680). 79 Im zweiten Gesang der Ilias gebietet Agamenon seinen Herolden, »rings zur Versammlung zu rufen die hauptumlockten Achaier. / Tönend riefen sie aus, und flugs war die Menge versammelt.« (Il. 2, 50-53)
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Aphrodite, die ihn im Gegenzug dabei unterstützt, Helena nach Troja zu führen. Menelaos und Agamemnon stellen daraufhin ein Heer auf, das gegen Troja auszieht. Sie werden von Hera und Athene unterstützt. Nach zehn Jahren kann die Stadt erobert werden; Menelaos, der Helena zunächst bestrafen möchte, erliegt erneut ihrem Charme und kehrt mit ihr nach Sparta zurück. Im Paris-Urteil kündigt sich eine antimoderne, äußerst komplexe Ästhetik der Persuasion an. Drei Göttinnen, die Personifikationen der Macht, der Weisheit sowie der Liebe, streiten darum, welche von ihnen die schönste sei. In gewisser Weise urteilt Paris also über die Schönheit von Macht, Weisheit und Liebe, wobei ihm dasjenige, was er als das Schönste auszeichnet, selbst als Preis zufallen wird. Paris80 ist also kein interesseloser Richter, sein Urteil erfolgt nicht frei, sondern ist an Gegenleistungen gebunden. Er entscheidet sich für die Liebe bzw. Schönheit und macht Aphrodite damit zur schönsten Göttin, bestätigt sie in einer Schönheit, die ihr bereits an sich (als Attribut des Erotischen) zukommt. Schönheit siegt hier über Macht und Weisheit: Dies bedeutet auch, dass in der Schönheit eine höhere Macht – die Macht der Verführung – und eine höhere Weisheit – die Fähigkeit, sich Verführen lassen zu können – verborgen liegt. Paris verleiht Aphrodite ihre Schönheit und Aphrodite gibt sie in Gestalt der Helena zurück. Der Konflikt der Göttinen ist damit, wie uns Homer berichtet, noch längst nicht beendet. Helena selbst wird zum Apfel der Eris, der nun gleichsam unter die Menschen geworfen ist. Sie entfacht eine Mimesis des Begehrens, die in eine Mimesis der Gewalt umschlägt. Helena wurde schon sehr früh als untreue und verführerische Frau thematisiert, als eine antike femme fatale. Nach Homer bot Aphrodite dem Paris als Lohn für seine Entscheidung »verderbliche Üppigkeit dar«, die Entscheidung des Königssohns für Aphrodite bezeichnet er an gleicher Stelle als »Verblendung« (Il. 24, 28-30). Paris werden vom Dichter rein sexuelle Motive unterstellt, in Bezug auf Helena wird ein misogyner Diskurs geführt. Isokrates berichtet allerdings auch, dass der Chorlyriker Stesichoros sie als treulos dargestellt haben soll, darüber aber erblindet sei und eine Palinodie verfasst habe (vgl. Isocr. or. X 64). In dieser Palinodie wird, wie Platon berichtet, Helena nicht nach Troja, sondern nach Ägypten entführt;
80 Kurt Röttgers bezeichnet den Königssohn sehr treffend als »verführten Verführer« (Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, a.a.O., 409).
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nach Troja gelangt demgegenüber nur ein Trugbild der Helena, ein e]ídwlon (vgl. Plat. Pol. IX 586c), das dann den Krieg entfacht. Bereits im Medium der Mythen trägt sich ein Âgõn um Helenas Wert und Würde, um ihre Schuld und Unschuld aus. In diesem Âgõn interveniert Gorgias mit seiner Rede, die zwischen 415 und 405 v. Chr. verfasst sein dürfte. Der Sophist beginnt seine Rede mit demjenigen Substantiv, zu dem er in seiner Rede über das Nichtsein in Distanz tritt: kósmoV: »kósmoV pólei mèn e]uandría, sõmati dè kálloV, qucÞ dè sofía, prágmati dè ]aret®, lóg¬ dè ]al®jeia [Zier – das ist für eine Stadt die gute Mannschaft, für einen Körper Schönheit, für die Seele Weisheit, für ein Ding Tauglichkeit und für die Rede Wahrheit].« (Gorgias 1) KósmoV bezieht sich hier allerdings nicht auf eine geschlossene Weltordnung, die von einem vollendeten und ewigen Sein in ihrem Zentrum regiert wird, sondern auf einen Aspekt an allen Dingen, in dem diese ihre Vollendung finden; kósmoV der Stadt ist eine gute Bürgerschaft, kósmoV des Körpers Schönheit, kósmoV der Psyche Weisheit, kósmoV der Dinge Vortrefflichkeit und kósmoV der Rede Wahrheit. Buchheim übersetzt kósmoV hier treffend mit Zier. In seiner Helena-Rede geht Gorgias von einem ästhetischen Begriff 81 des kósmoV aus und begreift es als seine Pflicht und Aufgabe, von diesem kósmoV Rechenschaft abzulegen.82 Die Rede (seine Rede) unterstellt sich bereits im ersten Satz dieser Aufgabe: an den Dingen das Vortreffliche zu zeigen.83 Darin erweist sich, so könnten wir unter Bezug auf den Helena-
81 Ein solcher ästhetischer kósmoV-Begriff findet sich auch bei Aristoteles; in der Poetik, 1450a 7-9, bezeichnet der Philosoph den kósmoV als die sichtbare äußere Ordnung der Fabel eines Schauspiels. 82 Hier könnte ein Einfluss Pindars vermutet werden, der mit seinen Oden »dem Kranz des goldenen Ölbaums«, der die Athleten krönt, »einen Schmuck [kósmon]« aus Worten hinzufügen möchte, der »sanftlautend ertönt« (Pind. XI Olymp. 13). 83 Aristoteles schließt sich an die hier implizierte Ethik des lógoV an: »Das Wort aber oder die Sprache ist dafür da, das Nützliche und das Schädliche und so denn auch das Gerechte und das Ungerechte anzuzeigen.« (Arist. Pol. 1253a) Zurückgehen dürfte diese kairotische Ethik auf Pindar: »äépetai d§ ]en äekást¬ métron. no²sai dè kairòV ]áristoV [jeglichem wohnt ein Maß inne; es zu beachten ist der beste Kairos]« (Pind. XIII Olymp. 47-48). Vgl. dazu Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 815.
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Mythos bereits an dieser Stelle sagen, ihre Macht, ihre Weisheit und ihre Schönheit. KósmoV steht sowohl für die Verschiedenheit von Macht, Weisheit und Schönheit (die Macht bezieht sich eher auf die Polis, die Schönheit auf den Körper, die Weisheit auf die Seele) wie für ihre Korrespondenz: Alle drei Attribute sind Ausdruck einer Vortrefflichkeit, alle drei konvergieren in der Wahrheit jener Rede, die sie an Gegenständen oder Personen herausstellt. Evidenz und Überzeugungskraft gewinnt die Rede, indem sie genau dies leistet: »An Mann und Frau und Rede und Tat und Stadt und Ding muß man, was des Lobes wert ist, mit Lob ehren, dem Unwerten dagegen Tadel entgegenbringen.« (Gorgias 3) Die Aufgabe des Redners besteht darin, den kósmoV an jeder Sache zu zeigen, also nicht die Sache in einem bereits bestehenden, ewigen kósmoV zu verorten, sondern ihn mittels der Rede aus der Sache entspringen zu lassen, die Sache zu steigern, sie auf ihr mögliches Vollendetsein hinauszutreiben. Oesterreich begreift den Rhetoriker vor diesem Hintergrund als Person, die »immer auch Partei ergreift für jemanden, dessen Seinsmöglichkeiten durch das Erreichen des Redeziels eröffnet und gefördert werden sollen«84. Der Redner übt also gerade nicht dadurch Macht aus, dass er als »Vorsprecher« die Handlungsoptionen seiner auf bloße »Nachsprecher« reduzierten Zuhörer einschränkt.85 Die Macht der Rede steigert vielmehr die Handlungsoptionen oder Seinsmöglichkeiten beider im kommunikativen Austauch begriffenen Parteien.86 Seine Aufgabe führt den Redner, so Gorgias, fast notwendig auf den Helena-Mythos: »Derselbe Mann, der berufen ist, das Gebotene [tò déon] in rechter Form []orjvV] zu sagen, muß auch diejenigen wiederlegen, die Helena tadeln, eine Frau, über die gleichlautend und einmütig geworden ist der Glaube der vom Hörensagen geleiteten Dichter und das Gerücht um diesen Namen, der zum Erinnerungsmal des unheilvollen Geschehens ward.« (Gorgias 5) »Für eine exhibitionistische Rede«, so Heinrich Laus-
84 Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchung zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, 109. 85 So zu lesen bei Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, a.a.O., 79. 86 Zu einem solchermaßen verstandenen Machtbegriff vgl. Andreas Hetzel, »Figuren der Selbstantizipation. Zur Performativität der Macht«, in: Marc Rölli/Ralf Krause (Hg.), Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld 2008, 135-152.
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berg, gehört es sich, die »selbst für eine Exhibition geeigneten Gegenstände, d.h. die schönen Gegenstände«87 aufzugreifen. Die Helena-Rede versteht sich zugleich als epideiktische Rede und als Verteidigungsrede. Von Helena soll ein ungerechtfertigt schlechter Ruf genommen werden, indem das Vortreffliche an ihr aufgezeigt, indem sie gelobt wird. Der Epideixis kommt hier die Kraft einer Entschuldung zu. Helenas Name ist zum »Erinnerungsmal des unheilvollen Geschehens« geworden, zum Synonym für die Leiden des Trojanischen Krieges. Wie der Philosoph richtet sich auch der Sophist gegen eine unbegründete Meinung, gegen Vorurteile und Gerüchte. Auch die rhetorische Rede findet ihre Erfüllung in der ]al®jeia. Diese wird allerdings nicht jenseits der Welt und der dóxa verortet, sondern mitten in ihr: in den bisher unausgesprochenen Möglichkeiten der Dinge, sich zu vollenden, wie im Abwenden einer Schuld. Dóxa gilt den Rhetorikern, wie Heidegger bemerkt, als ein Rühmen, als gleichzeitiges Zu- und Aufweisen von Ansehen. Weit davon entfernt, ein bloßer Schein zu sein, ist ihnen die dóxa ein »Ins-Licht-Stellen und damit Ständigkeit, Sein schaffen. Ruhm ist für die Griechen nichts, was einer bekommt oder nicht; es ist die Weise des höchsten Seins.«88 Die Rede des Gorgias setzt sich zum Ziel, das höchste Sein der Helena zu entfalten und darin Helenas dóxa mit ihrer ]al®jeia in Einklang zu bringen. Im Vergleich zur ]al®jeia Platons hat diejenige des Gorgias dabei eine stärker praktische Konnotation. Sie erweist sich darin, Helenas Ruf wiederherzustellen: »Ich aber will, indem ich mit meiner Rede eine Überlegung biete, die übel Beleumdete von ihrer Schuld entheben, die Tadler jedoch als irrend erweisen, ferner die Wahrheit zeigen und dem Unverstand ein Ende setzen.« (Gorgias 5) Zum Kriterium der Wahrheit avanciert hier Helenas Unschuld und Vortrefflichkeit, das performative Entkräften verleumdender Reden. In der Helena-Rede treffen wir auf eine vollkommen andere Art der Evidenzerzeugung als in der klassischen Philosophie. Platon führt die Evidenz einer Aussage auf ihre Relation zu einem transzendenten Geschehen zurück. Ein Argument erweist sich ihm dann als evident, wenn es im Einklang steht mit den Ideen, wenn sich die Idee gleichsam in das Argument emaniert. Für Gorgias ergibt sich Evidenz eher daraus, dass eine in der Sache liegende Möglichkeit mittels der Rede verwirklicht wird. Darin liegt
87 Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, a.a.O., 520. 88 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1958, 78.
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die Kraft der Rede. Sie stellt sich in die Sache und unterscheidet in ihr, ohne transzendenten Maßstab, das Vortreffliche von dem, was ihm entgegensteht – etwa von Diffamierungen und Vorurteilen. Obwohl Gorgias das Konzept der Wahrheit anders definiert als Platon, folgt er der Philosophie gleichwohl in ihrer Kritik am Mythos. In der Rede des Gorgias erscheint Helena nicht mehr nur noch als Objekt des Mythos; 89 ihr wird andeutungsweise eine eigene Stimme zugestanden. Gorgias überantwortet seine técnh dem Dienst dieser Stimme. Die Rede hebt an mit einem Lobpreis der göttlichen Herkunft Helenas und ihrer »gottgleichen Schönheit, welche sie annahm und unverdeckt trug« (Gorgias 5). Als Kind des Zeus und der Leda muss sie vollendet schön sein, verkörpert diese Schönheit aber dadurch umso mehr, dass sie sie nicht nur hat, sondern annimmt und trägt, sich zu ihr stellt, sie als Gabe begreift, der gegenüber sie sich würdig zu erweisen hat. Helenas Schönheit vollendet sich darin, dass sie sie lebt und verwirklicht. Dieser illokutionären Kraft ihrer Schönheit entspricht ein perlokutionärer Effekt: »In sehr vielen weckte sie sehr heftiges Verlangen nach Eros, und durch ihren einen Körper versammelte sie zahlreich die Körper von Männern, die in großen Dingen Großes auf sich hielten; von denen besaßen die einen bedeutenden Reichtum, andere den Ruhm altadliger Herkunft, wieder andere die schöne Haltung eigener Wehrhaftigkeit und noch andere die Wirkkraft erworbener Weisheit.« (Gorgias 5) Die vollendete Schönheit Helenas zieht vortreffliche Charaktere an; so versammelt sie mit ihrem einen Körper die vielen; Gorgias spielt hier einerseits auf die Vielzahl der Freier an, andererseits aber auch darauf, dass diese Freier dem Mythos zufolge einen Gewaltverzicht leisten, dass die Mimesis ihres Begehrens nicht in eine Mimesis der Gewalt umschlägt, sondern in einen Gesellschaftsvertrag, den Synoikismos, der die Hellenen als Volk erst konstituiert und der nur diejenigen exkludiert, die sich nicht an den Gewaltverzicht halten. Helenas Schönheit, so impliziert es Gorgias, vermag es, ein Volk zu versammeln und zu bilden, eine Ordung der Gewalt
89 Euripides, dessen Darstellung der Helena in den Troerinnen (Euripides Tro. 8951059) von Gorgias abhängig sein dürfte, lässt die Heroine sogar selbst auftreten und eine Verteidigungsrede halten, die, so Thomas Bucheim, das Enkomium des Gorgias teilweise parodiert; in letzter Konsequenz weisen Hekabe und Kassandra hier jede Unschuld Helenas zurück; vgl. hierzu die Anmerkung 2 von Thomas Buchheim in Gorgias, 159-160.
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und Gegengewalt durch eine Ordnung des Rechts zu ersetzen. Das Begehren, das Helena weckt, scheint stärker zu sein als jedes andere denkmögliche Begehren. Und doch führt dieses Begehren nicht in die Irrationalität der Gewalt, sondern begründet letztlich die griechische Vernunft. Dass Helena die vielen Männer in all ihrer Weisheit, ihrer Macht und ihrem Reichtum – hier wiederholt sich gewissermaßen das Paris-Urteil – mit der Schönheit ihres Körpers besiegen konnte, antizipiert bereits den später im Text folgenden Lobpreis der Macht der Rede, die ebenfalls mit dem unscheinbarsten Körper die größten Taten vollbringt. Die Rede entfaltet ihre Evidenz an einem Gegenstand, der ihr gemäß ist, der ihr vollkommen entspricht. Helena verkörpert die Macht einer Rede, die ebenfalls Männer zu versammeln, Recht und Vernunft zu begründen vermag. Gorgias verzichtet bewusst darauf, uns die Geschichte und die näheren Umstände des Raubes der Helena zu erzählen; er entschuldigt sich damit, dass diese Geschichte ohnehin allgemein vertraut sei und dass er sein Publikum damit langweilen würde. Statt die Umstände zu rekonstruieren, fragt er nach deren Grund: danach, warum Helena hatte nach Troja gebracht werden können. Es kommen nur vier Möglichkeiten in Betracht: »Entweder nämlich nach dem Willen des Geschicks [túchV], den Beschlüssen der Götter [jevn boul®masi] und der Abstimmung der Notwendigkeit []anágkhV] tat sie, was sie tat, oder aber mit Gewalt [bíã] geraubt oder mit Reden bekehrt [lógoiV peisjeîsa] oder mit Verlangen gefangen [Érwti äaloÿsa]« (Gorgias 6) Alle vier Möglichkeiten würden, jeweils für sich betrachtet, zu einer Entlastung Helenas führen. Wäre Helena durch eine höhere Macht – Schicksal, Notwendigkeit oder Ratschluss der Götter – nach Troja gebracht worden, so wäre es sinnlos, ihr selbst dies zum Vorwurf gereichen zu lassen, da generell »das Schwächere vom Stärkeren beherrscht und geleitet« (Gorgias 7) wird. Wenn der Mythos zutrifft und Aphrodite Helena nach Troja entführt oder zumindest Paris bei seinem Raub unterstützt hat, dann »ist Helena gewiß von der Verleumdung zu befreien« (Gorgias 7). Aber auch eine säkulare Erklärung, ein gewaltsamer Raub, würde Helena entlasten, da dann »ihr Räuber als Frevler Unrecht tat, während die Geraubte ein schlimmes Los traf« (Gorgias 7). Der Entführer habe verdient, »daß man ihn durchs Wort sowohl wie durch Gesetz und Tat, und zwar kraft des ersten mit Schuld, kraft des zweiten mit Unehre und kraft des dritten mit Strafe belädt« (Gorgias 7). Hier wird erstmals diejenige Kraft der Rede benannt, gegen die sich diese spezielle Rede richtet: ihre Kraft, ein
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Subjekt als schuldiges anzurufen. Die reale Gewalt, die das Opfer erlitten hat, gilt es nicht symbolisch, in ihrer diskursiven Rekonstruktion, zu wiederholen und zu verstärken, sondern auszusetzen. Gorgias wendet sich nun der dritten Möglichkeit zu, die angeführt werden könnte, um zu klären, wie Helena nach Troja hat gelangen können: »Wenn es hingegen Rede war, die bekehrte und ihre Seele trog, dann ist es auch nicht schwer, daß sie in diesem Punkte verteidigt und von der großen Anschuldigung befreit werde, wie folgt: Rede ist ein großer Bewirker, mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.« (Gorgias 9) Nach der Notwendigkeit und der Gewalt führt Gorgias die Wirksamkeit der Rede an. Diese beerbt die transzendente Notwendigkeit wie die physische Gewalt, um zugleich beide zu ersetzen. Der Redner behauptet dies nicht nur in Form einer theoretischen Aussage, sondern möchte die Wirksamkeit der Rede zugleich zei90 gen. Was er hier zeigt, korrespondiert mit dem performativen Vollzug seines Redens: Beide Ebenen stützen und steigern sich wechselseitig und konstituieren in dieser Bewegung genau die Evidenz, um deren Demonstration es der Rede zu tun ist. Evidenz resultiert hier weniger aus einem Rekurs auf Gründe, als daraus, dass die Performativität der Rede die Vortrefflichkeit (Wahrheit) des Gesagten ans Licht bringt wie umgekehrt von der Vortrefflichkeit Helenas, die sich in der Rede erweist, ein Licht auf die Vortrefflichkeit der Rede fällt. Die Rede findet an dieser Stelle ihre eigentliches Thema: rhetorische Evidenz, die Wirksamkeit rhetorischen Sprechens, die Macht des peíjein. So wie das zu Beginn der Rede aufgestellte Gebot des Redners, an allem das Vortreffliche, die Zier aufzuzeigen, fast notwendig auf das Thema der Helena führt, so führt eine Verteidigung Helenas zur Frage nach der Rede zurück. Die Rede etabliert sich hier als Macht jenseits göttlichen Wirkens und physischer Gewalt. Wie in der Rede über das Nichtsein erscheint sie als ein Bereich eigener Art, der über eine ganz eigene Wirksamkeit verfügt. Rede vermag »Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren«, sie tendiert auf den kósmoV an jedem Ding. Ihre genuine Aufgabe besteht nicht darin, Schuld über ein Subjekt zu
90 Zu einer Theorie des nicht-diskursiven Zeigens im Anschluss an Wittgenstein vgl. Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002.
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verhängen , sondern es zu entschulden: zu verzeihen, zu versprechen (Hoffnung zu machen) und zu erfreuen. Seine innerste Möglichkeit verwirklicht der lógoV nur als erlösendes, vielleicht parakletisches, zumindest aber therapeutisches Wort. Im Folgenden versucht Gorgias, Evidenzen für seine Definition des lógoV als mégaV dunásthV anzuführen. Die Wirksamkeit der Rede zeigt sich sofort, wenn wir auf »die gesamte Dichtung [tn poíhsin äápasan]« (Gorgias 9) schauen, die der Redner ebenfalls als lógoV begreift. Die Rede, die Dichtung ist, definiert sich über ihre Wirksamkeit: »Von ihr aus dringt auf die Hörer schreckenerregender Schauder [fóboV] ein und tränenreiche Rührung []éleoV] und wehmütiges Verlangen, und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden ein eigenes Leiden.« (Gorgias 9) Auf diese Stelle dürfte sich Aristoteles beziehen, wenn er die Aufgabe der Dichtung in der Poetik (um 335 v. Chr.) dahingehend bestimmt, uns von fóboV und ]éleoV zu reinigen (vgl. Arist. Poet. 1449b). Die Poetik des Gorgias wäre demgegenüber als antiaristotelisch zu charakterisieren. Während Dichtung für Aristoteles Affekte nur erzeugt, um uns von ihnen zu befreien, geht sie für Gorgias in der Rolle einer Erzeugerin von Affekten auf. Sie evoziert Affektsituationen, zu denen wir uns nicht nicht verhalten können. Die Rede, jener so kleine und unscheinbare Körper, vermag es, die 92 Körper der Menschen in eine Resonanz zu versetzen, sie aufeinander zu beziehen, wenn nicht sogar aufeinander zu öffnen. Als dichterische vermag Rede das Leiden des Anderen zu meiner Sache zu machen. Phantasie verschwistert sich hier mit Empathie, mit der Fähigkeit, von mir selbst abzusehen, mich in die Schuhe eines anderen zu stellen. Doch nicht nur die Dichtung zeugt von der Wirksamkeit der Rede, sondern auch das religiöse Sprechen, die »göttlichen Beschwörungen durch Reden« (Gorgias 9), die Gebete. Auch diese werden »zu Freudebringern und Entführern von Leid« (Gorgias 9). Die Funktion des Gebets besteht für Gorgias weniger darin, auf magische Weise die Götter zu beeinflussen, sondern den Betenden in einem Akt retroaktiver Performativität zu stärken:
91 So zumindest die epideiktische Rede, die Gerichtsrede kann dagegen sehr wohl einem Gewalttäter Schuld zuweisen. 92 »Der ganze Körper des Menschen, sein gesamtes Mienenspiel und alle Register seiner Stimme klingen wie die Saiten eines Instruments« (Cic. de or. III 216).
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»Denn vereinigt sich die Wirkkraft der Beschwörung mit der Ansicht der Seele, so betört und bekehrt und gestaltet sie die Seele um« (Gorgias 10) – die Seele dessen, an den sich die Beschwörung richtet wohl ebenso, wie die Seele des Beschwörenden selbst. Im Gebet artikuliert sich eine Sehnsucht; die Antizipation ihrer Erfüllung im Medium der Rede stellt den ersten Schritt zu ihrer realen Erfüllung dar. »Zauberei und Magie aber«, die das Ersehnte unmittelbar bewirken wollen, werden gegenüber dem Gebet als »Fehlleitungen der Seele« (Gorgias 10) abgewertet.93 Vergleichbare Fehlleitungen wären die bewusste »Lüge« [qeudV lógoV], die ebenfalls vieles bewirken kann, und die dóxa im Sinne eines bloßen Dafürhaltens. Wenn Gorgias von einer Wirksamkeit der Rede spricht, schwebt ihm kein magisches Sprechen vor. Ihre Wirksamkeit oder Performativität entfaltet die Rede vielmehr in einer Praxis, die der Sprecher nie vollständig zu beherrschen vermag. Die rhetorische Aufgabe, das Beste an allem zu zeigen, impliziert eine andere Ethik als diejenige der Philosophie, welche Personen und Handlungen einer Norm unterstellt bzw. an einem externen Ideal misst; die Ethik der Rhetorik orientiert sich demgegenüber an einem inneren Maß94, am Eigensinn der Personen und Phänomene, der aufgegriffen und gesteigert wird. Das Vortreffliche (kósmoV) ist bereits als Möglichkeit in den Dingen,
93 Wie die jüdisch-christliche Welt gesteht auch die klassische Antike ein unmittelbar oder magisch wirkendes Wort nur den Göttern zu. Pindar überliefert in seiner siebten Olympischen Ode, die dem rhodischen Faustkämpfer Diagoras gewidmet ist, einen Mythos, der von der Entstehung der Insel Rhodos handelt. Zeus vermag hier unmittelbar mit seinen Worten Wirklichkeit zu schaffen. Helios, der Sonnengott, war, als die Länder der Erde unter den Göttern aufgeteilt wurden, abwesend und ging insofern leer aus. Helios wendet sich darum mahnend an Zeus. Dieser weist die Klage mit den Worten zurück, dass er im Meer ein weidereiches Land vom Grund aus wachsen sehe. Diese Worte, zugleich Prophezeihung und Versprechen, werden zur Wirklichkeit: »In Erfüllung gingen der Worte Gipfel und fielen in offenbare Wirklichkeit« [teleútatjen dè lógwn korufaì Ên Âlajeíã petoîsai]« (Pind. VII Olymp 69). Der nächste Satz erläutert: »Es erwuchs aus feuchter Salzflut die Insel«. Die Wirklichkeit erscheint hier als unmittelbare Erfüllung des göttlichen Wortes. 94 Als ethische Verfehlung zeigt sich die Hybris des Menschen im Verfehlen des inneren Maßes, nicht in der Überschreitung eines äußerlichen Gesetzes.
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Menschen und Situationen angelegt. An dieses Vortreffliche knüpft die Rede an und treibt es hervor. Die Rhetorik antizipiert dabei die hermeneutische Maxime, die Eigenreflexion des zu interpretierenden Phänomens aufzugreifen und zu steigern, etwa die von einem Kunstwerk geleistete Reflexion weiterzuführen und über die Grenzen des Werkes hinaus fortzuschreiben, und es somit gerade nicht als Exemplar unter ein von außen herangetragenes Gattungsgesetz zu subsumieren. Die Rhetorik formuliert eine Ethik der Immanenz, die den Eigensinn des Ethischen in den Situationen selbst vorfindet und sich auf seine Seite stellt. Die Rede des Sophisten lässt sich von Helena evozieren, sich von ihrer Vortrefflichkeit zu ihrer Verteidigung verführen. Sie entspricht ihrer Aufgabe, zeigt ihr Bestes, nur in diesem Sich-verführen-Lassen von Helena, die selbst als eine Verführte vorgestellt wird, als verführt von einem »Hymnos« (Gorgias 11) des Paris, der ihr die »Besinnung« in einer Weise raubte, »wie wenn sie durch die Gewalt [bíã] von Gewaltmitteln geraubt worden wäre« (Gorgias 11). Dieser Vergleich macht einerseits auf eine Nähe von peíjein und bía aufmerksam, andererseits auf eine Distanz. Die Gewalt der Rede erweist sich darin, dass wir ihr nicht widerstehen können; »Rede nämlich, die Seele-bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen.« (Gorgias 11) Dies gilt selbst dann, wenn ich um die Macht der Rede weiß: »Sogar wenn die Vernunft [noûV] weiß, daß es einen Zwang bedingen wird, hat es [= gleich das Mittel der Bekehrung] doch dieselbe Wirkkraft.« (Gorgias 11) Der lógoV beherrscht hier, ganz im Gegensatz zum uns von Platon vertrauten Schema, den noûV. Die vernünftige Einsicht in die Macht der Rede vermag ihre Wirksamkeit nicht zu annulieren. Diese »Wirkkraft der Rede [toû lógou dúnamiV]« verhält sich »zur Ordnung der Seele wie das Arrangement von Drogen [farmákwn] zur körperlichen Konstitution« (Gorgias 11); so wie die Droge den Körper in bestimmte Zustände versetzt, so versetzt die Rede die Seele in Stimmungen. Gorgias räumt noch eine letzte Möglichkeit ein, aus der heraus Helena hat nach Troja gelangen können: durch die Macht des Eros. Diese Möglichkeit fasst noch einmal alle anderen zusammen. Eros wiederfährt uns wie ein Verhängnis oder Geschick, er entzieht sich unserer Intentionalität. Liebe berührt sich mit physischer Gewalt, weil unsere Freiheit an ihr endet.
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Schließlich bindet sich Eros an die Rede , bedient sich komplexer sprachlicher Codes96 und muss deklariert97 werden. Allerdings verweist Eros auch über den Bereich der Rede hinaus auf das, was sich zeigt, auf ein »Sehen« und einen »Anblick«, der die »Seele in Aufruhr« (Gorgias 13) zu stürzen vermag. Der Rhetor erinnert an die Maler und Bildhauer, deren Schöpfungen »dem Denken Bilder eingraben« (Gorgias 15), welche den Bildern, die Eros hervorruft, ähneln. So könnte »Helenas Auge durch den Körper Alexanders entzückt« (Gorgias 15) worden sein. Liebe ist das Paradigma einer Wirkung ohne Grund, einer Kraft, die uns zu Handlungen verführt, für die wir nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Zusammenfassend schreibt Gorgias: »Es kam nämlich wie es kam []³lje gár, äwV ]³lje], aufgrund von Befangenheiten der Seele« (Gorgias 15). Es kam wie es kam – weder durch Gründe noch durch Absichten sondern durch die auf keine Ursachen rückführbare Wirksamkeit des peíjein. Helena »tat, was sie tat []épraxen äà ]épraxe]«, was bedeutet, dass sich ihr Tun weder eindeutig erklären noch ethisch bewerten lässt. Im Gegenteil: Da sie tat was sie tat war ihr Tun vollendet, benötigte keine Stütze und kein Maß außerhalb seiner selbst. Das ]épraxen äà ]épraxe liest sich wie ein Echo auf das ]³lje gár, äwV ]³lje, die zweite Geminatio wiederholt die erste. Schuldig hätte Helena nur sein können, wenn sie nicht getan hätte, was sie tat, wenn sie Gründen und Motiven Zugeständnisse gemacht hätte. Am Ende kommt Gorgias auf das eingangs aufgestellte Gesetz der Rede zurück: »Ich nahm also durch die Rede die Verleumdung von der Frau und handelte so im Einklang mit dem Gesetz, das ich zu Anfang aufstellte. Ich suchte das Unrecht der Beschimpfung und den Unverstand der Ansicht aufzulösen und wollte die Rede verfassen – zum Lobpreis der Helena, für mich
95 Homer bedient sich, wenn er die performative Macht der Worte ausdrücken möchte, weniger des Verbes peíjein als des Verbes jélgein, welches bezaubern, durch Zaubermittel überwältigen, verlocken und verführen bedeuten kann und noch stärker erotisch konnotiert ist. So versucht Kalypso den Odysseus »mit weichen und einschmeichelnden Worten zu bezaubern« (Od. I 56). Auch Gorgias verwendt in seiner Helena-Rede gelegentlich jélgein statt peíjein. 96 Vgl. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt/M. 1996 [1977]. 97 Vgl. Isabelle Grellet/Caroline Kruse, Liebeserklärungen, übers. v. Helge Hopp, Reinbek bei Hamburg 1991 [1990].
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dagegen zum Spiel.« (Gorgias 17) Der Hinweis auf den Spielcharakter steht nicht mit dem ernsten Anliegen der Auflösung des Unrechts im Konflikt. Gorgias will seine Rede nicht im Nachhinein als bloße Vorführung seiner Kunstfertigkeit entwerten. Er weist vielmehr noch einmal darauf hin, dass sich das Entscheidende der Rede in einem eher spielerischen Modus zeigte und nicht am Leitfaden der Argumantation erzwungen worden ist. In den Worten von Kurt Röttgers: Der Redner »behauptet und führt vor, wie der Ruf eines Menschen, hier der im allgemeinen schlechte Ruf Helenas, allein durch die Macht des Wortes verändert wird«98. Die Rede zeigt peíjein, führt peíjein vor; sie bedient sich immer auch bestimmter Argumente, die ihre Wirksamkeit allerdings allenfalls zu flankieren und nicht zu tragen vermögen. Auch Isokrates verfasst eine Helena-Rede, die sich direkt auf diejenige seines Lehrers Gorgias bezieht. Die Rede des Isokrates interveniert ebenfalls in einem Disput über die Rolle der Rede. Isokrates beginnt mit einer Kritik rhetorischer Schulreden über »ausgefallene, seltene Themen« (Isocr. or. X 1). Als Beispiele erwähnt er Schriften des Protagoras, Gorgias (dessen Rede über das Nichtsein), Zenon und Melissos (Isocr. or. X 2-3), weiterhin jene Redner, die »Hummeln, Salz oder ähnliche Sachen rühmen« (Isocr. or. X 12). Ein würdiges Thema wäre dagegen jenes, dessen sich Gorgias angenommen habe: »Deshalb bewundere ich unter den Rednern, die sich über ein Thema in trefflicher Weise verbreiten wollten, jenen am meisten, der über Helena geschrieben hat, weil er einer Frau Erwähnung getan hat, die sich durch ihre Herkunft, Schönheit und ihren Ruhm besonders ausgezeichnet hat.« (Isocr. or. X 14) Isokrates lobt seinen Lehrer, glaubt aber zugleich, dass in Bezug auf Helena das letzte Wort noch nicht gesprochen sei: »Dennoch ist auch ihm [= dem Gorgias] eine Kleinigkeit entgangen. Er behauptet nämlich, über Helena ein Enkomion (eine Lobrede) verfaßt zu haben, in der Tat hat er aber eine Apologia (eine Verteidigungsrede) für Helenas Verhalten geschrieben« (Isocr. or. X 14). Genau hier möchte Isokrates aushelfen, also dezidiert ein Enkomion liefern. Gleichwohl vermag auch sein eigener lógoV die Gattungsgrenzen nicht strikt einzuhalten. Zunächst klagt Isokrates an: Er kritisiert die Produktion nichtsnutzige Reden; dann lobt er die Rede des Gorgias über Helena, die würdiger sei als das Nichtsein. Doch auch dieses Enkomion kippt wieder in
98 Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, a.a.O., 411.
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eine Anklagerede um: Das Enkomion des Gorgias gebe nur vor, ein solches zu sein und verfehle sein selbstgestecktes Ziel. Isokrates beginnt sein Enkomion mit einem Bericht über Helenas Genaologie, der in einem Vergleich Helenas mit Herakles gipfelt: Zeus »zog Helena so sehr dem Herakles vor, daß er dem Herakles zwar Stärke verlieh, die gepaart mit Gewalt über alle anderen siegen kann, der Helena aber Schönheit schenkte, in deren Natur es liegt, selbst noch über die Stärke Herr sein zu können« (Isocr. or. X 16). Eine Schönheit, die selbst noch über die Stärke Herr wird, erinnert an die Macht des peíjein, die ebenfalls der bía entgegensteht und sie zugleich zu beherrschen vermag. Helenas Schönheit geht über die von einer philosophischen Ästhetik postulierte hinaus. Sie ist keine Schönheit, die distanziert wahrgenommen wird, sondern die betrifft und bewirkt, die ansteckt und motiviert. Helena verführt und wird begehrt, sie weckt den jumóV. »Weil Zeus nun wußte, dass Ansehen und glanzvoller Ruhm nicht aus einem ereignislosen ruhigen Dasein erwachsen, sondern aus Kriegen und Kämpfen, und da er nicht nur ihren Leib unter die Götter aufnehmen wollte, sondern auch einen immerwährenden Ruhm für beide hinterlassen wollte, gab er dem Herakles ein Leben voller Mühen und Freude an Gefahren, während er Helena ein Aussehen gab, das viel bewundert wurde und sehr umkämpft war.« (Isocr. or. X 17) Die Kämpfe um Helena scheinen sie zu erhöhen, sie selbst scheint mit ihrer Schönheit an diesen Kämpfen teilzunehmen, etwas vom Ruhm der Schlacht fällt auf sie zurück. Auch »die Liebhaber und Bewunderer Helenas verdienen ihrerseits mehr Bewunderung als alle anderen Menschen« (Isocr. or. X 22), da sie, wie wir heute vielleicht im Anschluss an Lacan sagen können, in ihrem Begehren nicht nachlassen99, weil sie die Schönste in ihrer Schönheit umwerben und umkämpfen. Zu den Werbern rechnet Isokrates zunächst Theseus, der »ihrer Schönheit unterlag [...], sie gewaltsam raubte und nach Attika brachte« (Isocr. or. X 19). Theseus wird nun wie zuvor Herakles mit Helena verglichen, wobei diese erneut als Siegerin aus dem Vergleich hervorgeht; in der Rede trägt sich ein ]agõn aus, ein für Isokrates sehr typischer Gestus. Wenn er etwa im Panathenaikos ein Lob auf Athen anstimmt, dann sucht er zunächst nach Poleis, die gleich mächtig sind, um sie im Medium der Rede einen Wettbe-
99 Vgl. Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, übers. v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin 1996 [1986].
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werb bestreiten zu lassen. Die Rede wird zum Kampfplatz. Im Gegensatz zu Herakles, der seine Heldentaten nur auf Befehl des Eurystheus begeht, kann Theseus als »sein eigener Herr« (Isocr. or. X 25) gelten. Vielleicht, so legt uns der Redner nahe, ist es seine Freiheit, die es ihm ermöglicht, Helena zu begehren und sein Leben diesem Begehren zu unterstellen. Isokrates fährt fort, den Theseus zu loben, dessen Licht nun auch umgekehrt auf He100 lena fällt. Theseus wird, wie in der attischen Tragödie und auf einem 101 Wandgemälde, von dem Pausanias berichtet , auch von Isokrates als Urahn der Demokratie eingeführt: »Theseus stellte nun folgendes fest: Wer über die eigenen Bürger gewaltsam herrschen will, ist selbst anderen untertan, und wer das Leben anderer gefährdet, lebt in ständiger Angst und ist gezwungen, Krieg zu führen, sowohl zusammen mit den Bürgern gegen Angreifer, als auch mit anderen gegen die eigenen Mitbürger« (Isocr. or. X 32); das sind Argumente, die wir bereits weiter oben von Gegnern der Tyrannis und Befürwortern der Demokratie kennen gelernt haben. Theseus etabliert »unter seinen Mitbürgern ein Klima der Freiheit«, richtet »unter ihnen auf gleichberechtigter Basis einen Wettkampf um die Tugend ein« (Isocr. or. X 35) und »machte das Volk zum Herren über die PolisVerwaltung« (Isocr. or. X 36). Von Theseus, dem mythischen Vater der Freiheit, Gleichheit und Demokratie, begehrt worden zu sein, steigert Helenas Würde ins Unermeßliche. Doch sie reduziert sich nicht nur auf das Objekt eines männlichen Begehrens, denn sie hat »über seine Tugend und Besonnenheit Macht« (Isocr.
100 Vgl. Euripides, Hiketiden, Herakliden; Sophokles, Oidipus auf Kolonos. – In den Hiketiden lobt Theseus Athen als Stadt, in der »die Gesetze schriftlich festgelegt werden, der Arme wie der Reiche gleiches Recht genießen; die freie Rede steht dem Armen zu wie dem vom Glück Gesegneten, wenn er beleidigt wird, und hat er recht, besiegt der kleine Mann den Großen […]. Wo gibt es größere Gleichheit noch in einem Staat?« (Euripides, »Die Hilfeflehenden«, in: ders., Werke, hrsg. v. Jürgen Werner/Walter Hagemann, Bd. 1, Berlin/Weimar 1996, 286) 101 »Auf der [dem Zeustempel, A.H.] gegenüberliegenden Wand ist Theseus gemalt und die Demokratia und der Demos; die Beischrift besagt, dass Theseus in Athen die Demokratie eingeführt habe. Auch sonst ist die Meinung weit verbreitet, dass Theseus dem Volk die Herrschaft übergeben habe und dass die Athener seit seiner Zeit immer demokratisch gelebt hätten, bis Peisistratos auftrat und Tyrann wurde.« (Pausanias X 11-12)
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or. X 38). Ihre Schönheit ist nicht nur stärker als physische Gewalt, sondern auch stärker als die Tugend. Der Redner sieht, dass in dieser Schönheit zugleich das Potential für einen gewaltsamen Konflikt liegt. Gerade deshalb aber vermochte Helena die Hellenen zu befrieden: Isokrates argumentiert hier wie sein Lehrer. Die Griechen wussten, dass »Helena heiß umkämpft sein« würde, »so daß alle zusammenkamen und sich gegenseitig das Treueversprechen gaben, zu helfen, wenn einer dem Manne, der für würdig erachtet worden sei, Helena rauben sollte« (Isocr. or. X 40). Der Synoikismos wird hier nicht, wie in der griechischen Welt ansonsten üblich, auf einen der männlichen Helden und dessen Mut zurückgeführt, sondern auf die verführerische Schönheit einer Frau. Die Griechen haben es »Helena zu verdanken, daß sie nicht Sklaven der Barbaren sind. Wegen Helena nämlich haben sich die Griechen zusammengetan [...] und einen gemeinsamen Feldzug unternommen – damals hat Europa zum ersten Mal ein Siegeszeichen über Asien errichtet.« (Isocr. or. X 67) In Helenas Schönheit kommunizieren alle anderen Werte. Sie gewinnen von dort aus ihre Kraft. Mit Helena besetzt eine sterbliche Frau die Stelle, die bei Platon die Idee des Guten innehat. Isokrates erzählt im Folgenden den Mythos des Paris-Urteils, das letztlich »in einen Krieg von solchem Ausmaß« führte, »wie es keinen je zuvor gegeben hat« (Isocr. or. X 49). Die Götter heißen diesen Krieg allerdings gut, da sie es als ehrenvoll erachteten, wenn Männer im Kampf um Helena sterben. Der Autor hebt hervor, dass »Schönheit [kálloV]«, die Helena in »höchstem Maße« besitzt, »das Erhabenste, Ehrenvollste und Göttlichste unter allen Gütern ist« (Isocr. or. X 54), nach dem wir »ein sehnsüchtiges, leidenschaftliches Verlangen« (Isocr. or. X 56) haben. Selbst die »Tugend []aret®]« ist nur deshalb hoch angesehen, »weil sie die schönste [kálliston] Art der Lebensführung ist« (Isocr. or. X 54). Zeus schätze es, sich der Schönheit zu nähern, indem er seine göttliche Existenz ablege und die Gestalt eines Schwans, eines Goldregens oder eines Menschen annehme. Isokrates fomuliert hier eine gegensätzliche Position zu derjenigen Platons. Das Schöne gilt Platon als Abglanz der Ideen, als Stufe auf der Leiter, über die sich der Schauende zu den Ideen zu erheben vermag. Schönheit hat für Platon insofern einen vorläufigen Charakter, sie wird als »geburtshelfende Göttin« (Plat. Symp. 20d) in den Dienst der Ideen des Wahren und Guten gestellt, die sich nicht unmittelbar, sondern nur ästhetisch gebrochen
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anschauen lassen. Während wir aus der Sicht Platons die Leiter nur hinaufsteigen, um sie, oben angekommen, wegwerfen zu können, kennt Isokrates auch einen Weg, der die Leiter herabführt. Für Isokrates bedienen sich die Götter der Leiter, um mit ihr in die Welt der Menschen zu gelangen. So erliegt Zeus, wie uns eine Reihe von Mythen berichten, nicht nur der Schönheit der Leda, sondern auch der vieler anderer Sterblicher: Alkmene, Danae, Europa, Maia, Semele, Kallisto, Io, Antiope und Aigina. Für Isokrates erlangt Helena mit ihrer Schönheit zusammenfassend »eine den Göttern gleichkommende Kraft« (Isocr. or. X 61). (b) Wesentlich für das Verständnis der rhetorischen Sprachauffassung bleibt, dass Sprache nicht über ihre Repräsentationsleistung verstanden wird, sondern über ihren kommunikativen und welterzeugenden Charakter. Im Mittelpunkt der diesbezüglichen Reflexionen steht das vielschichtige Verb peíjein103, welches sich zunächst mit jemanden zu etwas bringen, überreden und überzeugen übersetzen lässt, anfänglich aber machen, dass er oder sie Vertrauen hat bedeutet.104 In einem weiteren Sinne kann peíjein einfach auch als bewirken oder herbeiführen umschrieben werden. Die Passiv-Formen lassen sich mit überzeugt sein, glauben, vertrauen, sich
102 Platon schwankt allerdings in seiner Einschätzung der Schönheit. Während er sie in der Politeia und im Ion nur als Propädeutikum zulässt, zeichnet das Symposion ein anderes Bild. Simon Blackburn schreibt: »Im Symposion berichtet Sokrates […], was er von der weisen alten Priesterin Diotima über den Aufstieg der Seele gelernt hat. Die Geschichte, die Diotima ihm erzählt hat, beginnt mit dem Überwältigtwerden von der Schönheit einer geliebten Person. Hier bleibt die Geschichte natürlich nicht stehen und geht von der Liebe zum Körper zu derjenigen einer geistigen Schönheit über, von der Schönheit, die sich in einer einzelnen Person zeigt, zu derjenigen, die in vielen Menschen sichtbar wird. Die anfängliche Schönheit des einzelnen Individuums wird allerdings […] nie ganz zurückgelassen. Diese Schönheit gilt Diotima und Sokrates als eine göttliche Gabe. Sie kann immer wahrgenommen werden und beschränkt sich nicht darauf, Ausgangspunkt eines Aufstiegs der Seele zu etwas Unsichtbarem zu sein.« (Simon Blackburn, Platon. Der Staat, übers. v. Andreas Hetzel, München 2007, 108). 103 Vgl. zur Etymologie und Bedeutungsvielfalt von peíjein Otto A. Baumhauer, Die sophistische Rhetorik, a.a.O., 28f. 104 Vgl. Wilhelm Pape, Griechisch-Deutsch. Altgriechisches Wörterbuch, a.a.O., Bd. 2, 543.
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auf jemanden verlassen, gehorchen, folgen und untertan sein wiedergeben. Das Substantiv peijõ bedeutet Überredung, Gabe der Überredung, Verzauberung, Überzeugung, Gabe der Überzeugung, Beeinflussung und Veranlassung. Gleichzeitig bezeichnet peijõ auch das Ergebnis des Überzeugens: Überzeugung, Zuversicht, Gehorsam und Folgsamkeit. Die HelenaReden des Gorgias und des Isokrates stimmen einen Lobgesang auf das peíjein an und liefern, wie wir gesehen haben, gleichzeitig Ansätze zu seiner Theorie. Im Verb peíjein drückt sich ihnen die Einheit von Reden und Tätigsein aus, die im Mittelpunkt der gesamten sophistischen Theorie der Beredsamkeit steht. Peíjein verkörpert für Gorgias und Isokrates die Kraft der Rede (weniger dagegen die Kraft des Sprechers), Welt zu verändern und hervorzubringen. Die Rhetorik macht dabei nur einen Gedanken explizit, der für die gesamte griechische Kultur maßgebend war. Ganz explizit wird das Reden ebenfalls von Platon als Handeln aufgefasst. Im Kratylos fragt Sokrates seinen Gesprächspartner Hermogenes: »Ist nicht auch das Reden eine Handlung? [tò légein mía tiV tvn práxeõn ]estin]«. Und Hermogenes antwortet »Ja.« (Plat. Krat. 387b) Die Art sprachlichen Handelns unterscheidet sich hier aber grundlegend von derjenigen in der sophistischen Rhetorik. Platon geht nicht von einem Handeln mit Reden (lógoi), sondern von einem Handeln mit Worten (]onómata) aus, welche er als Werkzeuge begreift: »Ein Werkzeug []órganon] ist also auch das Wort []ónoma].« (Plat. Krat. 388a) Die Funktion dieses Werkzeugs besteht im Gegensatz zur sophistischen Rhetorik nicht darin, Situationen zu verändern oder gar neu zu schaffen, sondern Unterscheidungen an Dingen zu treffen, sie in »ihre Unterarten bis zum Unteilbaren zu teilen« (Plat. Phaidr. 277b). 105 Platon behandelt die Sprache weniger als praktisches denn als theoretisches Werkzeug. Die Unterscheidungen, welche die Worte an den Dingen treffen, sind dabei nicht willkürlich, sondern folgen dem Wesen der Dinge selbst. Diese geben uns vor, wie wir zu unterscheiden haben. Es ist für Sokrates, der sich in diesem Punkt explizit von Protagoras abgrenzt (vgl. Plat. Krat. 385e-386a), »offenbar, daß die Dinge an und für sich ihr eigenes, bestehendes Wesen haben und nicht nur in bezug auf uns oder von uns hervorgebracht sind, hin und her gezogen nach unserer Einbildung, sondern für sich bestehend, je nach ihrem eigenen Wesen seiend, wie sie geartet sind.« (Plat. Krat. 386d/e) Mit Hilfe der Worte »son-
105 Zur Deutung des Kratylos vgl. Tilman Borsche, Was etwas ist, a.a.O., 37-58.
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dern wir die Gegenstände voneinander, je nachdem sie beschaffen sind [...]. Das Wort ist also ein [...] das Wesen unterscheidendes und sonderndes Werkzeug« (Plat. Krat. 388b/c). Kratylos argumentiert im nach ihm benannten Dialog gegen die Arbitrarität der Benennungen; er will zeigen, dass die Wörter dem natürlichen Wesen der Dinge entsprechen und deutet an, dass das Passungsverhältnis zwischen Wörtern und Dingen von »Wortbildnern []onomatourgoí]« (Plat. Krat. 389a) sanktioniert wurde, welche er mit den Göttern gleichsetzt.106 Platon spannt die Sprache in ein geschichtsloses, repräsentationalistisches Tableaux und verstellt die von den Sophisten freigelegten Möglichkeiten rednerischer Wirksamkeit und sprachlicher Welterzeugung. Man kann Platons im Kratylos entfaltete Sprachphilosophie als frühen Beleg dafür ansehen, dass alle diejenigen Typen einer Sprachpragmatik, welche sprachliches Handeln als Werkzeuggebrauch explizieren, von der Voraussetzung eines Sprache-Welt-Dualismus ausgehen. Das Werkzeug der Sprache impliziert eine vorsprachliche Welt, auf die dieses Werkzeug angewandt werden kann. Umgekehrt neigen realistische Philosophien – unabhängig davon, ob es sich um einen Realismus der Ideen, der äußeren oder der inneren Natur handelt – dazu, Sprache zu einem bloßen Instrument zu degradieren. Doch auch die Philosophen sehen sich genötigt, der Kraft des peíjein immer wieder Zugeständnisse machen. So kündigt bereits die Göttin, die Parmenides im Proömium seines Lehrgedichts auftreten lässt, eine »]alhjeíh e]upeij®V« (vgl. DK 28 B 1) an, eine Wahrheit, deren Wesen darin liegt, zu überzeugen. Auch Platon huldigt Peitho, sowohl in der Politeia als auch in den Nomoi und im Kritias. Die periagwg®, die seine Philosophie bewirken soll, bedarf der rednerischen Anbahnung. Im siebten Buch der Politeia macht sich Sokrates Gedanken über das Bildungsprogramm der Wächter. Ein zentraler Stellenwert kommt hier der Mathematik zu. Dem
106 Diesem Versuch wurde bereits in der Antike widersprochen. So schreibt etwa Sextus Empiricus: »Nun haben die Wörter ihre Bedeutung durch Setzung und nicht von Natur aus. Denn sonst verstünden alle Menschen sämtliche Bedeutungen der sprachlichen Zeichen, die Griechen genauso wie die Barbaren« (FDS 65). Die Vielsprachigkeit der Menschen wird hier als Indiz gegen Platons These angeführt. Hätte Platon recht, würden wir keine Übersetzungsprobleme kennen. Die Dinge könnten als tertium comparationis zwischen den Einzelsprachen vermitteln.
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»Zählen und Rechnen« wird ein Primat über die Wortkünste eingeräumt, die Mathematik als die »Kenntnis des immer Seienden« (Plat. Pol. VII 527b) sei »leitend zur Wahrheit« (Plat. Pol. VII 525a/b). Als Beispiel wird 107 der Feldherr Palamedes angeführt, der dem Agamemnon deshalb überlegen gewesen sei, weil er »die Ordnungen dem Heer eingerichtet vor Ilion und die Schiffe und alles andere gezählt«, während Agamemnon »nicht einmal gewußt habe, wieviel Füße er hatte« (Plat. Pol. VII 522d). Aufgrund der Wichtigkeit der Mathematik sei es geboten, »sie gesetztlich einzuführen, und die, welche an dem größten im Staate teilhaben sollen, zu überreden [peíjein], daß sie sich an die Rechenkunst geben« (Plat. Pol. VII 525b). Zur Mathematik als der vermeintlich höchsten Form der Erkenntnis kann und soll also überredet werden. Ihre vermeintliche Evidenz scheint noch einmal von einer tiefergehenden, kommunikativen Evidenz abzuhängen, die sich an das peíjein bindet. In den Nomoi findet sich eine ähnliche argumentative Konstellation. Platon will hier dazu überreden, dass es Götter gibt, da nur die Götter wiederum die Gesetze des Staates zu sanktionieren vermögen: »Es kommt aber nicht wenig darauf an«, führt Kleinias aus, »daß unsere Worte möglichst eine gewisse Überzeugungskraft [pijanóthta tina] besitzen, wenn wir behaupten, daß es Götter und zwar gute Götter gibt, die der Gerechtigkeit mehr Ehre geben als die Menschen; denn das wäre recht eigentlich für all unsere Gesetze insgesamt die schönste und beste Vorrede. Wir wollen also [...] mit aller Überzeugungskraft [ä®ntiná pote ]éxomev dúnamin e]iV peijõ], die wir für solche Erörterungen aufbringen können, und ohne etwas beiseite zu lassen, die Sache möglichst vollständig durchgehen.« (Plat. Nom. 887 b-c) Im Kritias schließlich räumt Sokrates ein, dass selbst die Götter, sofern sie im Bereich der Menschen intervenieren wollen, auf Überredung verwiesen sind. Nicht durch »Körperkraft bändigen« sie die Menschen, »sondern – wie sich ein Geschöpf am besten lenken lässt – indem sie vom Heck aus steuerten und durch Überredung [peijoî] wie durch ein Steueruder in ihrem Sinn auf die Seele einwirken« (Plat. Krit. 109c). Insbesondere die Rhetoriker der ersten Generation, Gorgias und Isokrates, interpretieren den »peijoûV dhmiourgóV« (Plat. Gorg. 453a) nicht nur als Kraft rationaler und affektiver Überzeugung, sondern auch als Kraft ei-
107 Gorgias hat eben diesem Palamedes eine Verteidigungsrede gewidmet; vgl. Gorgias 17-37.
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ner performativen Hervorbringung von Welt. Nietzsche wird in seinen Rhetorik-Vorlesungen ausführen: »Die Sikuler Korax und Tisias sagen retorike esti peithos demiourgos: bei den Dorern hat das Wort [= demiourgos] eine höhere Bedeutung als bei den Ioniern ›Schöpferin‹ ›Walterin‹.« (KGW II, 4, 417) Wolfram Groddeck bemerkt schließlich: »Bei Gorgias scheint aber peitho eine ursprünglichere Bedeutung zu haben; es meint das aktive 109 Bewirken der Rede, eine Kraft, die Wirklichkeit durch Sprache setzt.« Gorgias stellt die Macht der Rede, wie wir bereits gesehen haben, mit der Macht der Götter und mit physischer Gewalt auf eine Stufe. Gleichwohl scheint er durch diese Analogie nicht andeuten zu wollen, dass peíjein als physische Gewalt wirkt. Es finden sich vielmehr Hinweise darauf, dass die rednerische Überzeugung prinzipiell ohne Gewalt wirkt. Jan Philipp Reemtsma weist im Zuge seiner Interpretation von Aischylos’ Der gefesselte Prometheus auf eine prinzipielle Stummheit der Gewalt (bía) im griechischen Denken hin: »Die Gewalt spricht nicht, sie begleitet die Macht (kratos), die die Worte zielsicher zu setzen weiß, wie ein stummer Schatten.«110 In diesem Sinne lässt sich etwa eine Äußerung des Protarchos in Platons Dialog Philebos lesen: »Ich [...] habe immer vom Gorgias gehört, daß die Kunst zu überreden [peíjein] vor allen anderen bei weitem den Vorzug verdiene. Denn diese mache sich alles unterwürfig freiwillig und nicht mit Gewalt [o]u dià bíaV] und sei also bei weitem die trefflichste unter allen Künsten.« (Plat. Phileb. 58a-b)111 Isokrates schreibt an einer Stelle, an der er Philipp zu einem Feldzug gegen die Perser aufruft: »Überredung [peíjein] ist gegenüber den Griechen vorteilhaft, Zwang auszuüben [biázesjai] ist im Hinblick auf die Perser von Nutzen.« (Isocr. or. V 16) Auch Plutarch stellt peíjein und bía explizit in ein Oppositionsverhältnis: De-
108 Zum Folgenden vgl. auch Andreas Hetzel, »Ohne Grund. Die Gaben der Chariten«, in: Susan Gottlöber/Rene Kaufmann (Hg.), Schuld-Gabe-Vergebung. Festschrift für Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Dresden 2010. 109 Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, a.a.O., 29. 110 Jan Philipp Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht, Stuttgart 2002, 10. 111 Sokrates stimmt Protarchos an dieser Stelle zu und räumt ein, dass die Kunstlehre des Gorgias »für die Bedürfnisse der Menschen den [ersten] Rang behauptet« (Phil. 58c) – allerdings nur für diese. Die Philosophie richtet sich demgegenüber auch an dieser Stelle auf das »wahrhaft Seiende und immer auf gleiche Weise Geartete« (Phil. 58a).
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mosthenes erklärte, »ein Mann, der sich auf seine Reden vorbereite, beweise damit demokratische Gesinnung, denn sich vorzubereiten sei ein Akt der Höflichkeit gegen das Volk, und sich nicht darum zu kümmern, wie die Menge die Rede aufnehmen werde, verrate einen überheblichen Aristokraten, der mehr an Gewalt [bíã] als an Überredung [peijoî] denke« (Plut. Dem. 8). Eine interessante, allerdings anders gelagerte Gegenüberstellung von bía und peíjein findet sich schließlich auch bei Lysias, in seiner Verteidigungsrede im Mordfall Eratosthenes. Der Angeklagte wird hier bezichtigt, den Eratosthenes ermordet zu haben. Der Fall verkompliziert sich dadurch, dass Eratosthenes die Gattin des Angeklagten verführt und mit ihr Ehebruch begangen hat. Das Athenische Recht sieht vor, dass frisch auf der Tat 112 ertappte Ehebrecher vom Ehemann getötet werden durften. Zu einem Mord würde diese Tötung erst dann, wenn der Ehebrecher zuvor gewaltsam in die Gemächer der Ehefrau verschleppt oder in eine Falle gelockt worden wäre. Genau darum dreht sich der Prozess, in den sich Lysias mit seiner Rede einschaltet. Der Ehebruch selbst steht außer Frage, strittig ist, ob Eratosthenes wirklich in flagranti ertappt oder in das Haus des Angeklagten entführt wurde. Lysias lässt zunächst das einschlägige Gesetz verlesen und fährt dann fort: »Ihr hört, ihr Herren, wie dieses Gesetz befiehlt, dass jemand, der einen freien Erwachsenen oder Knaben mit Gewalt [bíã] schändet, mit der doppelten Strafe113 belegt wird. Schändet er aber eine Ehefrau, bei der man das Recht hat, ihn zu töten, so trifft ihn außerdem dieselbe Strafe. Also achtet der Gesetzgeber, ihr Herren, bei denen, die Gewalt anwenden [toþV biazoménouV], eine geringere Strafe für angemessen als bei denen, die mit Überredung [toþV peíjontaV] vorgehen.« (Lysias or. I 32) Körperliche Gewalt und rhetorische Verführungskunst werden hier strikt getrennt, allerdings nur, um darauf hinzuweisen, dass die körperliche Gewalt weniger schwer wiegt als die verbale Verführung. Lysias kommentiert das entsprechende Gesetz wie folgt: »Der Gesetzgeber meinte, dass diejenigen, die mit Gewalt vorgingen, von ihren Opfern gehasst würden. Die aber Überredung anwenden, würden dermaßen die Seelen ihrer Opfer verderben, dass sie sich die Frauen anderer Männer geneigter machten, als sie
112 Debra Hamel, Der Fall Neaira, a.a.O., 83. 113 d.h. mit 100 Drachmen; vgl. dazu den Kommentar der Herausgeberin in Lysias or. I, 243.
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es selbst den Ehemännern gegenüber seien.« (Lysias or. I 33). Als Einsatzpunkt des peíjein wird hier die Seele bestimmt. Die schmeichelnde Rede verändert, wie bereits Gorgias hervorgehoben hatte, die Seele. Einen Akt körperlicher Gewalt können die Opfer distanzieren, indem sie etwa ihren Hass gegen den Peiniger richten. Die Wirkung, die das peíjein auf die Seele auszuüben vermag, transformiert diese aus der Sicht des Lysias so, dass dem Opfer der Überredung keine Möglichkeit der Distanzierung bleibe. Gleichwohl wird die Praxis des peíjein auch bei Lysias von jeder Gewalt abgehoben und als Verführung expliziert, zu der immer auch ein Sich-verführen-Lassen gehört. Die Fähigkeit der pijanóthV, der verbalen Verführungskraft, überzeugt, ohne zu zwingen. Sie verführt uns oder macht uns ein Angebot auf Einstimmung. Selbst Platon übernimmt diese Konzeption einer gewaltfreien Überzeugung durch die Rede. Im Rahmen seiner in der Politeia angedeuteten pädagogischen Theorie beschreibt er einen Menschen, der von »Musik und Philosophie ganz unberührt« wäre: »Ein Redefeind [misólogoV], meine ich, wird also ein solcher und ein ganz Musenloser; und mit Überredung durch Worte [peijoî mèn dià lógwn] weiß er nichts mehr anzugreifen, sondern nur mit Gewalt [bíã] und Wildheit wie ein Tier will er alles ausrichten« (Plat. Pol. III 411 d/e). Dieser Passus ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Zum einen zeigt er, wie sehr auch noch Platon dem sophistischen Bildungsideal des eÜ légein verhaftet ist, zum anderen wird die Kraft des rednerischen peíjein hier, im Gegensatz zu anderen Stellen im Platonischen Werk, ganz explizit von einer pejorativ konnotierten Gewalt abgehoben. In diesem Sinne lassen sich auch einige Bemerkungen Quintilians interpretieren, welcher sprachliche Äußerungen dadurch von Handlungen und bloßen Lauten abhebt, dass sie eine Bestätigung verlangen: »Indessen auch der Handwerker wird, wenn er von seinem Erzeugnis, der Musiker, wenn er von der Musik spricht, sprechen, wenn etwas die Bestätigung verlangt [si quid confirmationem desideraverit, dicet]; er wird dann zwar kein Redner, aber er wird es tun wie ein Redner« (Quint. inst. or. II 21, 17). Darin unterscheiden sich das Sprechen über die Musik und über die Handlung von der Musik und der Handlung selbst. Rede kommt dort ins Spiel, wo wir den Raum des Selbstverständlichen verlassen, wo sich ein Anspruch auf Geltung artikuliert, der sich nicht aus sich selbst heraus einzulösen vermag, sondern der externen Bestätigung bedarf. Nach Celsus, den Quintilian hier
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als Gewährsmann anführt, werde »der Redner nur über Dinge reden, die fraglich seien« (Quint. inst. or. III 5, 3). Mit diesem Argument weist Quintilian indirekt die Platonische Behauptung zurück, dass das Wissen über die Dinge dem Reden über die Dinge vorausgehen müsse, dass sich mit anderen Worten nur der Wissende, also letztlich der Philosoph, der Rede bedienen dürfe. Quintilian leugnet schlicht ein Wissen vor dem öffentlichen Kampf um Bestätigung. Gegen den Platonischen Einwand, dass der Redner nicht wisse, ob das, was er sage, wahr sei, macht der römische Rhetoriklehrer geltend: »Das Wissen nicht einmal die Gelehrten, die lehren, Feuer, Wasser oder die vier Elemente oder Körper seien unteilbar, aus denen alle Dinge ihren Anfang nähmen, und auch die Astronomen nicht, die die Abstände der Gestirne und die Ausmaße der Sonne und Erde berechnen – und doch nennen sie ihr Fach eine Kunst« (Quint. inst. or. II 17, 38). Wissen steht per se in Frage; es ist auf die sprachliche Aushandlung strittiger Geltungsansprüche verwiesen. Was Musiker und Handwerker von ihrem Tun wissen können, ragt bereits in das Reich der Rede hinein. Nicht der vermeintlich zwanglose Zwang des besseren Arguments steht im Mittelpunkt des peíjein, sondern ein notwendig ungedecktes Angebot auf Einstimmung. Gerade weil hier keine Notwendigkeit besteht zuzustimmen, werden wir zur Zustimmung disponiert: eher verführt als gezwungen, nicht am Leitfaden logischer Notwendigkeit, sondern aufgrund affektiver Betroffenheit. In genau diesem Sinne spricht Isokrates von einer »Schönheit [...], in deren Natur es liegt, selbst noch über die Stärke Herr sein zu können« (Isocr. or. X 16). Von schlagenden Argumenten lassen wir uns im Alltag häufig gerade nicht überzeugen. Nicht der Zwang des logischen Argumentes kann uns letztlich binden, sondern nur eine ästhetische Affiziertheit, die sich an einem kontingenten Zug der Redesituation festmacht. Wenn wir uns auf das Spiel der Argumente einlassen, haben wir längst jeden Boden letzter Gewissheiten unter unseren Füßen verloren. Das peíjein der Rhetorik ließe sich als paradoxe, negativ-selbstbezügliche Strategie der Antizipation des eigenen Gelingens (welches immer auf die Möglichkeit eines Misslingens bezogen bleibt) beschreiben. Nur die Unverbindlichkeit des peíjein kann uns binden, nur seine Ohnmacht begründet seine Macht. Das lateinische persuadere beerbt das sophistische peíjein und schwächt es zugleich ab. Diese Abschwächung setzt bereits mit Aristoteles ein, der peíjein fast ausschließlich kommunikationstheoretisch verwendet.
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Die performativen Anteile des peíjein scheinen bei Aristoteles ganz auf das Konzept der poiesis überzugehen, welche er nicht mehr im Rahmen der Rhetorik, sondern im Rahmen der Poetik abhandelt. Das literarische Sprechen wird für Aristoteles zum Sonderfall eines Sprechens, welches Welt aus sich heraus zu erzeugen vermag und streng vom alltäglichen und wissenschaftlichen Sprechen geschieden werden muß. Auch scheint im Persuasiven nicht länger jene Seinsmächtigkeit mitzudenken, die von Gorgias und Isokrates dem peíjein zugesprochen wurde. Für Cicero erfüllt die Persuasion eine kommunikative Funktion, die allerdings über das bloße Argumentieren hinausgeht; er spricht – im Anschluss an Aristoteles – zunächst von drei Dingen, die der Rede Überzeugungskraft verleihen können: »die Herzen zu gewinnen, zu belehren und Eindruck zu machen« (Cic. de or. II 121). Überzeugung resultiert für ihn aus dem freien Zusammenspiel dieser drei Faktoren. Der Rhetoriker ist in diesem Sinne ein »logischer Pharmazeut, der den rechten Seelentrank mischt [...]. Aletheia – das ist nur ein Rezept unter anderen.«114 (c) Im klassischen Griechenland wird Peitho (Peijõ)115, nach Aischylos eine Tochter der Aphrodite, nach Hesiod die Tochter des Okeanos und der Thetis116, als Göttin der Überredung und der – insbesondere erotisch konno-
114 Thomas Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, a.a.O., 27. 115 Zur Gestalt der Peitho vgl. Otto Jahn, Peitho. Die Göttin der Überredung, Greifswald 1846; Richard G. A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy: A Study of Peitho, Cambridge 1983; Vinciane Pirenne-Delforge, »Le culte de la persuasion. Peitho en Grèce ancienne«, in: Rosemarie Kieffer (Hg.), Parole sacrée, parole profane – de la religion à l’éloquence, Luxembourg 1991, 59-66; Rachel Rosenzweig, Worshipping Aphrodite. Art and Cult in Classical Athens, Ann Arbor 2004; Barbara Breitenberger, Aphrodite and Eros. The Development of Erotic Mythology in Early Greek Poetry and Cult, New York/London 2007; Roman Eisele, »Eine Seite für Peitho«, http://www.roman-eisele.de/rhet/peitho/ index.html (gesehen am 24.04.2008). 116 Thetis ist uns bereits im Zusammenhang mit dem Paris-Urteil begegnet; der Streit der drei Göttinen Hera, Athene und Aphrodite hebt während der Hochzeitsfeier der Thetis mit Peleus an. Die Mythen der Helena und der Peitho kreuzen sich in der Figur der Thetis.
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tierten – Verführung verehrt (vgl. Isocr. or. XV 249). In Rom entspricht ihr Suada, die Göttin der Beratung und Überzeugung. Cicero hebt diesen Zusammenhang im Brutus hervor: »Wie die Griechen Peitho nennen, was 118 der Redner bewirkt, so nennt Ennius es Suada und den Cethegus ihr Mark, so daß er von der Göttin, die, wie Eupolis schrieb, auf den Lippen des Perikles thronte119, sagt, unser Redner sei ihr Mark gewesen.« (Cic. Brut. 59) Peitho tritt im Mythos im Gefolge der Aphrodite120 und des Hermes auf, sie führt Liebe und Kommunikation zusammen. Sie überzeugt nicht nur mit den Waffen des Verstandes, sondern überredet auch durch Beeinflussung der Herzen. Hesiod rechnet sie zu den Okeaniden (vgl. Hesiod Theog. 349) und erwähnt sie als eine der Göttinnen, die die Pandora mit Schmuck ausstatten (vgl. Hesiod Erga 73). Ihr Status als Göttin zeugt davon, dass sich die Alten dem Reden mit Ehrfurcht näherten. In den Eumeniden, der dritten Tragödie der Orestie, legt Aischylos der Athene, der es gelingt, die Erinyen (Rachegöttinen) in Eumeniden (Wohlgesonnene) zu verwandeln, einen Lobgesang auf Peitho in den Mund. Athene dankt der Göttin der Überzeugung dafür, dass sie mit ihrer Hilfe eine auf Rache und Gewalt basierende Ordnung121 abzuwenden vermochte. Peitho habe der Polis von Athen ein neues Fundament geschenkt, eine Ordnung aus Reden und Argumenten:
117 Nach Buxton ist Peitho »a goddess of love and a goddess of rhetoric. It is precicesly the fact that Peitho embraced both of these to us separate areas of experience that constitutes one of the interesting things about her.« (Richard G.A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, a.a.O., 30). 118 abgeleitet von suavis, süß. 119 Die Stelle bei Eupolis lautet: peijõ tiV ]epekájizen ]epì toîV ceílesin oäútwV ]ek®lei kaì mónoV tvn ärhtórwn tò kéntron ]egkatéleipe toîV ]akrowménoiV. (CAF I 281, Fr. 94, 5-7) (Peitho wohnte auf seinen Lippen. Dass bedeutet, dass er allein unter allen Rednern sein Publikum bezaubert und seinen Stachel in ihm zurücklässt). 120 In manchen Gegenden Griechenlands fungierte Peitho einfach nur als Beiname der Aphrodite. Für eine enge Verbindung spricht weiterhin, dass Aphrodite und Peitho an einem gemeinsamen Festtag verehrt werden, der Aphrodisia am 4. Tag des Mondmonates Hekatombaion. 121 die insofern nicht völlig gewaltfrei ist, als die Erinyen zugleich auch unterdrückt werden.
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Athene »Daß all dies meinem Land fürsorglicher Weis Sie gewähren soll Gunst, macht mich froh, und ich l Mir der Peitho Blick, die mir Zunge und Mund Weitschauend gelenkt gegen sie, die so wild
ob
Sich in Weigrung versagt. Doch Herr ward hier Zeus Der Redenden Hort; und es bleibt unserm Streit Für das Gute der Sieg alle Zeit nun! Chor Den kein Leid sättgen kann, nie durchbrause Bürgerk Diese Stadt, das ist mein Wunsch. Nie nehme, trunken vom dunklen Blute der Bürger, rieg Im Zorn der Rachgier wechselnden Mords Blutrausch Auf hier der Boden der Stadt! [...] Athene Kann Verständigen nicht eine treffliche Zung Weg weisen und Ziel? (Ayschylos, Eumeniden 970)
Athene, die Göttin der Weisheit, verbeugt sich hier vor der Göttin der Redekunst. Sie dankt dieser dafür, dass sie ihr »Zunge und Mund gelenkt« habe, gegen die, die in einen Exzess der Gewalt abzudriften drohten. Die Weisheit, so legt Aischylos nahe, bleibt wertlos, solange sie sich nicht in eine sprachliche Darstellungsform kleidet, die ihr eine bestimmte Wirksamkeit garantiert. Wie in der Helena-Rede des Gorgias (die Orestie wird 458 v. Chr. aufgeführt, die Helena-Rede dürfte zwischen 415 und 405 v. Chr. entstanden sein) wird auch von Aischylos das sozialisierende Moment der Peitho betont. Peithos Rolle als Verführerin und Überwinderin von Sprödigkeit verweist darauf, dass soziale Integration im Kontext des klassischen Denkens auch eine stark affektive, wenn nicht sogar erotische Komponente hat. Es geht hier weniger um einen Sozialvertrag, den rationale Ak-
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teure schließen, als um einen sich über Affekte vermittelnden sensus communis. Als Göttin der Überredung wird Peitho in der griechischen Mythologie in ein positives Licht gestellt; dabei heben die Autoren und Künstler insbesondere ihre gewaltverneinende Natur hervor, besonders imposant auf ei122 nem attischen Vasenbild , das auf eine Episode in der Ilias rekurriert. Peitho, Menelaos, Aphrodite und Helena (Rotfigurige Athenische Vase)
Roman Eisele kommentiert dieses Bild wie folgt: »Bei der Eroberung Troias stürmt Menelaos an Peitho vorbei zornentbrannt auf die am Palladion Schutz suchende Helena zu – das heißt, er wird sich durch Zuspruch und Überredung nicht besänftigen lassen, da er seine untreue Frau mit Gewalt bestrafen will; daher wendet Peitho sich machtlos und beleidigt ab. Erst Aphrodite und vor ihr schwebend Eros halten den Rasenden auf – Menelaos verliebt sich beim Anblick Helenas neu, dem Bezauberten entgleitet sein Schwert.«123 Peitho kehrt sich hier wie in anderen Szenen, in denen sie mit Gewalt konfrontiert wird, ab. So wie sich Athene in der Tragödie in der Schuld der Peitho wähnt, so hebt auch Pausanias hervor, dass Peithos Kraft diejenige der anderen Götter übersteigt. »Am Eingang zum Markt« der Stadt Sikyon, so Pausanias in 122 Athenian red-figure clay vase, about 450-400 BC, Vatican 16535, Vatican City, Museo Gregoriano Etrusco Vaticano, zitiert nach: Bilder-Atlas zur Weltgeschichte nach Kunstwerken alter und neuer Zeit, gezeichnet u. hrsg. v. Ludwig Weisser, Text v. Heinrich Merz. Fünfte Auflage, Stuttgart 1894, tab. 22, fig. 2; dazu P. Weizsäcker, »Peitho«, in: W.H. Roscher (Hg.), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie III/2, Leipzig 1902-1909. 123 Roman Eisele, »Eine Seite für Peitho«, a.a.O.
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seinen Reisebeschreibungen, »liegt ein Heiligtum der Peitho [...]. Die Verehrung der Peitho ist bei ihnen aus folgendem Grund eingeführt: Nachdem Apollon und Artemis den Drachen Python getötet hatten, kamen sie nach Aigialeia der Reinigung wegen. Da sie da an der Stelle, die sie heute noch Phobos (›Furcht‹) nennen, die Angst überkam, wandten sie sich nach Kreta an den Karmanor. Die Menschen in Aigialeia befiel eine Krankheit, und die Wahrsager befahlen ihnen, Apollon und Artemis zu entsühnen. Sie schickten nun sieben Knaben und eine gleiche Anzahl Mädchen an den Sythasfluß als Bittflehende und, von ihnen überredet, sollen die Götter auf die damalige Akropolis gekommen sein, und der Ort, wo sie zuerst hinkamen, ist das Heiligtum der Peitho.« (Pausanias VII 7-8) Die Götter selbst werden hier von Peitho bewegt, die sich in den Dienst der betenden Kinder stellt. Peitho ist dort, wo die Gebete der Kinder erhört werden, ihr Sein bindet sich an das Hier und Jetzt ihres Wirkens. In von Aristophanes in den Fröschen zitierten Versen aus der verlorenen Antigone des Euripides heißt es entsprechend: »Die Überzeugung kennt kein anderes Heiligtum als das Wort [o]uk ]ésti PeijoûV äieròn ]állo pln lógoV].« (Euripides, Frg. 170) Ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Macht Peithos auch auf die Götter erstreckt, liegt darin, dass die Fähigkeit des eÜ légein nicht nur den Menschen zur Zier gereicht, sondern auch zu einem Attribut der Götter werden kann. So charakterisiert Chrysipp den Zeus als »gewaltig in der Unterredung und weithin durchgreifend in der Kraft der Rede [deinòn ]en tv dialégesjai kaì diabebhkóta tÞ dunámei toÿ lógou]« (FDS 616). Die Macht des mächtigsten aller Götter erleidet offenbar dadurch keine Einbuße, dass sie sich auch in seiner Redemacht offenbart. Der Weg von der Göttin Peitho zur rhetorischen Technik des peíjein wird in der Forschungsliteratur immer wieder im Rahmen einer Säkularisierungsgeschichte gedeutet, als Errungenschaft der sophistischen Aufklärung, welche die olympischen Götter durch kosmologische oder philosophische Prinzipien ersetze. An dieser Lesart sind insofern Zweifel angebracht, als die griechischen Götter von vorn herein keine Transzendenz markieren, sondern für Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen.124
124 Buxton fragt: »Do we print peijõ or Peijõ, túch or Túch? But for Aischylos and his audience the dilemma would have been meaningless. There was no orthographical distinction between capital and lower-case lettering, and a fortiori no
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Aphrodite ist die Liebe, Ares der Zwist, Athene die Weisheit. Diese Götter verkörpern eher soziale als metaphysische Prinzipien. Pausanias weist darauf hin, dass sich auf der Agora in Athen auch Altäre »des Mitleids (Eleos)«, der »sittlichen Scheu (Aidos)«, der »göttlichen Stimme (Pheme)« und des »Triebes (Horme)« (vgl. Pausanias I 17, 1) befinden. In Megara wird darüber hinaus auch noch »Praxis«125 verehrt, deren Statue dort neben denjenigen der Aphrodite und der Peitho zu finden ist (vgl. Pausanias I 43, 6). Erst bei Platon und Aristoteles wird der singularisierte Gott zu einem fundierenden kosmologischen Prinzip. In den Göttern Homers feiert sich demgegenüber noch das menschliche Leben selbst, das Leben in seiner Immanenz und Zerrissenheit, in seiner Rationalität und Irrationalität. Friedrich Kittler verdeutlicht den Unterschied zwischen dem christlich-platonischen Gott und den olympischen Göttern mit dem einfachen Hinweis darauf, dass es keinen Aphroditebeweis gebe.126 Das rhetorische peíjein lässt sich allein schon deshalb nicht als Resultat einer Säkularisierungsgeschichte deuten, weil sich »der kulturelle Aufstieg der Göttin der Redemacht«, wie Oesterreich hervorhebt, »mit der Erfindung der Rhetorik und dem Auftreten der sophistischen Weisheitslehrer im 5. Jahrhundert verbindet«127. Eine moderne, ästhetisch gewendete Entsprechung jenes grundlosen Verführt- oder Angesprochenwerdens, das die Griechen in Peitho personifizieren, findet sich in Roland Barthes’ Theorie des photographischen punctum. Das kairologische punctum steht für ein verführendes Moment in einem Bild, das sich nicht rationalisieren lässt und kann uns insofern helfen, den »Witz« des peíjein besser zu verstehen. Das, was uns an einer Photographie in bann schlagen kann, muss für Barthes nicht notwendig aus einem Detail oder Bildelement bestehen, sondern kann sich auch an einem speziellen Licht, einer Atmosphäre oder einer Relation von Bildelementen festmachen. In einer Reflexion über sein persönliches Interesse am Thema der Photographie bemerkt Barthes, dass »es bestimmte Photos gab, die stillen Jubel in mir auslösten, so als rührten sie an eine verschwiegene Mitte –
semantic distinction based on such orthography.« (Richard G.A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy, a.a.O., 30). 125 In diesem Kontext bedeutet Praxis vor allem Geschlechtsverkehr. 126 Vgl. Friedrich Kittler, Musik und Mathematik. Bd. 1: Hellas, Teil 1: Aphrodite, Paderborn 2006. 127 Peter L. Oesterreich, Philosophie der Rhetorik, a.a.O., 18/19.
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einen erotischen Punkt oder eine alte Wunde –, die in mir begraben war (wie harmlos auch immer das Sujet erscheinen mochte)«128. Er untersucht in seinem Essay, warum bestimmte Bilder beim Betrachter ankommen und andere nicht. Dazu trennt er an der Photographie zwei analytische Ebenen, das studium und das punctum. Das studium steht für die Geschichte, die das Bild erzählt, für seine aboutness, für die »Dressur«, die es am Betrachter vornimmt, indem es ihn zu einem Erkennen und Wiedererkennen zwingt. Das punctum, das Moment, das uns anspringt und gefangensetzt, wird von Barthes demgegenüber in negativistischen Begriffen beschrieben: »Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie 129 ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.« Das punctum wäre nichts anderes als eine Durchbrechung oder Aussetzung des Zusammenhangs von Bewusstsein und Welt, der sich im studium zu totalisieren droht. Punctum ist »Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel«130 und erinnert insofern an den kairóV. Das Konzept des punctum lässt sich auch für das überzeugende Moment in der Rede in Anschlag bringen, sofern man diese in einem umfassenderen Sinne verstehen würde, zu dem auch Aspekte der Redesituation und des Ethos des Redners gehören. Das, was uns an einer Photographie wie an einer Rede gefangen nimmt, lässt sich nicht in Form von Attributen dieser Rede beschreiben; es ist eher ein Mangel, eine Nichtvollständigkeit oder Offenheit, ein Zulassen oder Ermöglichen. »Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.«131 Die Philosophie setzt tendenziell eher auf das studium, die Rhetorik auf das punctum. Was uns an einer Rede letztlich zu überzeugen vermag, kann sich in einer kleinen unbedachten Geste verstecken, in einem Augenaufschlag, einem Zögern oder Innehalten, einer Auslassung oder einer Ambivalenz. Peitho wohnt nicht nur auf den Lippen des Redners, sondern auch im Herz der Zuhörer.
128 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt/M. 1989 [1980], 25. 129 A.a.O., 35. 130 A.a.O., 36. 131 A.a.O., 60.
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(d) Im Gefolge Peithos132 treten die drei Chariten Aglaia (Glanz), Euphrosyne (Frohsinn) und Thaleia (Blüte) auf (vgl. etwa Hesiod Erga 73), die ebenfalls einen festen Platz im mythologischen Repertoire der Rhetorik einnehmen. Als Begleiter Apphrodites und der Chariten gilt Himeros, das Liebesbegehren, Aglaia, Euphrosyne und Thaleia selbst wiederum treten zusammen mit den Musen (Hesiod Theog. 65) auf, von denen sie nicht immer klar zu unterscheiden sind. Bei den Römern entsprechen den Chariten die drei Grazien. Die Chariten waren aber auch Stadtgöttinnen und unterhielten eine enge Verbindung mit dem Demos und der Demokratie; sie versinnbildlichen in diesem Kontext die Freude, die aus der Gemeinschaft folgt. Homer (Il. XVIII 381f.) kennt im Gegensatz zu Hesiod nur eine Charis und bezeichnet sie als Gattin des Hephaistos. Die Chariten bringen sowohl den Göttern als auch den Menschen Schönheit, Anmut und festliche Freude: »Heben sie ihre Lider, entströmte Zauber der Liebe, gliederlösend, dem Blick ihrer schönbewimperten Augen« (Hesiod Theog. 910-911). Sprachlich133 verbindet sich ihr Name mit dem Substantiv cáriV welches alles umfasst, worüber man sich freut, speziell aber Anmut, Liebreiz, Liebenswürdigkeit, liebliches, einnehmendes Wesen; cáriV kann sich bereits bei Homer sowohl auf körperliche Schönheit (vgl. Od. 2, 12 u. Od. 6, 237) beziehen wie auf eine anmutige Redegabe (vgl. Od. 8, 175). Darüber hinaus bedeutet es Genuss, Freude, Verehrung, Huldigung, Wohlgefallen und Dank, schließlich auch die Handlung der Gunsterweisung oder des Wohlwollens, Gefälligkeit, Wohlthat und Gabe: »Um den griechischen Begriff charis«, so Marcel Hénaff, »hat sich ein ganzes Denken der Gabe und der Gunst herausgebildet.«134 Rednerisches Charisma kann man sich nicht erwerben, es kann einem nur gegeben worden sein. Die Chariten versinnbildlichen ein gewinnendes Moment an der Rede, das sich jeder technischen Bewältigung und intentionalen Herbeiführung entzieht. Insofern stehen die Chariten innerhalb der rhetorischen Technik für ein nichtintentionales Moment. Die Intention kommt, ähnlich
132 Peitho wird gelegentlich auch selbst als eine der Chariten bezeichnet. 133 Zum Folgenden vgl. Wilhelm Pape, Griechisch-Deutsch. Altgriechisches Wörterbuch, a.a.O., Bd. 2, 1337ff. 134 Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009, 378.
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wie beim kairóV, erst dann ins Spiel, wenn es darum geht, die Gabe zu nutzen. Sowohl in der klassisch antiken wie in der christlichen Tradition verbindet sich mit dem Substantiv cáriV das Denken einer anökonomischen Gabe oder Maßlosigkeit.135 So spricht Pindar von einer »cáriV DióV« (Pind. P 3, 95), einer Gabe, Gunst oder Gnade des Zeus, die sowohl dem Atlethen im Wettkampf wie dem Dichter zuteil wird. Im Römerbrief des Apostels Paulus schließlich wird cáriV zur zentralen Einspruchsinstanz gegen eine Konzeption des Glaubens, die diesen auf die Befolgung eines Gesetzes reduziert. Im Zentrum des Römerbriefs steht die Einsicht, dass das Gesetz (sowohl das Gesetz Roms als auch das Gesetz des Dekalogs) seinem Anspruch, ein Allgemeines zu stiften, nicht gerecht zu werden vermag. Es liegt eine gewisse Tragik darin, dass, wie es in Röm 4, 15 heißt, das Gesetz seine eigene »Übertretung« hervorbringt. Statt die Sünde aufzuheben, wird das Gesetz für Paulus zu ihrer Ursache. Es provoziert geradezu seine Übertretung und richtet sich zugleich gegenüber dieser Übertretung auf. Dem Gesetz gemäß zu leben, bleibt in letzter Konsequenz unmöglich. CáriV steht demgegenüber für den vorursprünglichen Zuspruch Gottes in der Gegenwart, für ein Anerkanntwerden durch Gott vor jeder Gesetzesbefolgung, vor jeder verrechenbaren Tat, vor allen messbaren Handlungsfolgen oder
135 Gert Ueding hebt hervor, dass sich die klassische cáriV nicht auf das moderne, von Max Weber beschriebene Charisma des Führers mit seinen autoritativen Konnotationen beziehen lässt; die autoritative Variante ergebe sich erst aus einer Zusammenziehung von Theologie und Ästhetik in der Spätantike, so das Fazit von Gert Uedings unveröffentlichtem Vortrag »Rednerisches Ethos und Charisma in Politik und Gesellschaft« auf der Tagung Rhetoric, Ethics, Politics am 22.04.2005 in Gent. – Theunissen arbeitet ein Spannungsverhältnis von cáriV und kairóV heraus: »Grundsätzlicher gefasst, ist der Kairos eine Kraft zur Beschwichtigung des Überschwangs, eine Kontrollinstanz, die alles zum Überschwänglichen Neigende gegen die darin liegenden Gefahren feit und vor Verstiegenheit bewahrt. So ist er denn auch darauf angelegt, Charis auszutarieren, die Überschwänglichkeit par excellence. Im Agamemnon (vv. 785-787) kommt der Chor dem heimkehrenden König mit der Frage entgegen: Wie soll ich dich anreden? Wie dich ehren m®j§ u ] peráraV m®j§ ]upokámqaV kairòn cáritoV, mit dem rechten Maß einer weder übertreibenden noch untertreibenden Freude?« (Michael Theunissen, Pindar, a.a.O., 815)
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Werken. Taten und Werke beziehen sich auf das Gesetz als Maßstab ihrer Beurteilung. Die Gnade ist demgegenüber maßlos, ohne jeden Grund; eine Gabe, die wir sowenig erst haben verdienen, wie aus uns selbst heraus haben erwirken können. Gott mag hier als Chiffre oder Statthalter gelten für die Grundlosigkeit einer Gnade, Glaube für die Erfahrung dieser Gnade, für die Erfahrung eines Anerkanntwordenseins vor allen Werken, vor jedem Gesetz. Was die Rede annehmbar und überzeugend macht, bleibt in letzter Konsequenz grundlos. Vielleicht ist es gerade der Verzicht auf die Gewalt der Gründe, der einen Raum der Kommunikation zu stiften vermag. Das Verrechnen von Gründen untersteht einer Ökonomie, einer Logik von Forderung und Gegenforderung, von Schuld und Bezahlung. Die Chariten verkünden demgegenüber die Möglichkeit einer freudvollen, festlichen Kommunikation, die sich nicht dem Dikatat des Gründegebens fügt. Das Adjektiv caríeiV bedeutet angenehm, anmuthig, liebreizend, lieblich, kurz: alles, was Einem angenehm und erwünscht ist; Homer verwendet es in Bezug auf Sachen (vgl. Homer Il. 8, 204; Od. 5, 231 u. 24, 198), Hesiod als Bezeichnung weiblicher Anmut und Schönheit (vgl. Hesiod Theog. 129; u. Theog. 246. 260). Bei den Attikern wird es vor allem auf Personen bezogen und bedeutet durch sein Betragen einnehmend, artig, auch witzig, scherzhaft, geistreich. Bei Platon (vgl. etwa Plat. Apol. 24c) findet sich darüber hinaus das Verb carientízomai, welches soviel wie mit Anmut, Anstand, Artigkeit, Freiheit reden, aber auch scherzhaft, witzig, spöttisch reden bedeuten kann.136 Ein Reden unter der Ägide der Chariten spielt allenfalls mit einer Logik des Gebens und Nehmens von Gründen, erschöpft sich aber niemals darin. Die Form der Darstellung und die Art des Vortrags, die kleinen Gesten und Winke am Rande, können hier die Gründe überwiegen oder selbst die Position der Gründe einnehmen. Was bliebe von den Dialogen Platons, würden wir diese Rede unter der Ägide der Chariten vom Gerüst der Argumente abziehen?
136 Im homoerotischen Kontext, etwa in Platons Symposion und Phaidros (vgl. etwa Phaidr. 256 b-d), findet sich das abgeleitete Verb carízesjai, jemandem zu Gefallen sein, willfährig sein.
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Eine bedeutende Rolle spielen die Chariten für Pindar. In der Poetologie, die er in seinen Oden entfaltete, gelten die Chariten als die jede Dichtung zugleich inspirierende wie allererst ermöglichende Kraft. Insbesondere die 14. olympische Ode besingt die Chariten, wobei Aglaia als die Spenderin von Glück, Euphrosyne als Spenderin geistiger Gaben und Thaleia als die Verleiherin von Blüte, Anmut und Schönheit gepriesen werden. Nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff erhebt Pindar cáriV in der 14. olympischen Ode in eine »heilige Höhe [..] universaler Wirksamkeit«138. CáriV umfasst hier »Freude, Frohsinn, Fest, Anmut, aber auch Gunst, Gnade, Huld, Gefälligkeit, und zwar nicht nur vom Empfangenden sondern auch vom Gebenden aus gesehen. Da der Gesang ein Geschenk des Dichters ist, wird das Lied Charis genannt, in den Epinikien zumal das Siegeslied; und da die Huld der Götter den Erfolg verleiht, wird auch der Sieg mit Charis bezeichnet.«139 Die Macht der Chariten erstreckt sich für Pindar selbst noch auf die Götter; diese »führen ohne die heiligen Chariten die Tänze nicht noch ihre Tafel« (Pind. Olymp. XIV 8-9); es sind die Chariten, die das Leben der olympischen Götter in ein Fest verwandeln. Was für die Götter gilt, gilt erst recht für die Menschen. Auch hier werden die Chariten als »Verwalterinnen aller Werke« (Pind. Olymp. XIV 10) angesprochen. Ohne ihr Hinzutreten verbleibt das Leben auf der Ebene bloßer Funktionen, ohne Glanz und Seele. CáriV ließe sich insofern als Gegenbegriff zur philosophischen quc® ansprechen, als sie sich nicht in einem Zentrum, im Inneren des Individuums konzentriert, sondern sich verbreitet und über die Dinge legt. CáriV zeigt sich wie der kósmoV der gorgianischen Helena-Rede dort, wo sich etwas, eine Sache, Rede oder Handlung, vollendet, wo sie ihren Möglichkeiten entspricht, wo sie aufglänzt oder -blüht. »Denn mit euch«, den Chariten, »wird das Erfreuliche und das Beglückende vollendet alles den Sterblichen, wenn weise, wenn schön, wenn glanzvoll ein Mann.« (Pind. Olymp. XIV 5-7) In der ersten olympischen Ode beschreibt Pindar dieses Vollendetwerden mit Hilfe der Chariten in einem Kontext, der die uns von Protagoras her vertraute Definition der Rhetorik antizipiert: »Charis, die Sterblichen all das Liebliche be-
137 Vgl. Bonnie MacLachlan, The Age of Grace: Charis in Early Greek Poetry, Princeton 1993. 138 Ulrich von Willamowitz-Moellendorff, Pindaros, Berlin 1922, 153. 139 Ludwig Wolde, »Einleitung« zu: Pindar, Oden, München 1958, 5-22, hier: 21.
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reitet, trägt Geltung auf und ersinnt vielfach, daß auch Unglaubliches glaublich sei« (Pind. Olymp. I 30-33); so wie für Protagoras (vgl. Arist. Rhet. II 24, 1402 a23) die Rhetorik das »schwächere Argument zu einem stärkeren« zu machen vermag, so erlauben es uns die Chariten, auch Unglaubliches glaubhaft erscheinen zu lassen, ihm Geltung zu verleihen. Sie werden von Pindar dabei nicht als personale Urheberinnen rednerischen Erfolges veranschlagt, sondern bleiben umgekehrt davon abhängig, dass sich das Wort erfüllt, Wirksamkeit entfaltet. Erst die geäußerten Worte lassen Charis erglänzen. Die Worte selbst, die zu einem Leben als Schmuck (kósmoV) hinzukommen, verleihen ihm Glanz und Freude: »Selig aber ist, wen gute Reden umgeben« [äo d' ÓlbioV, äòn fâmai katÉcont' Âgajaí]« (Pind. VII Olymp 10). Wie bei Gorgias ist es auch bei Pindar das Wort, dem die Kraft innewohnt, an allen Dingen und Personen das jeweils Vortrefflichste sichtbar zu machen und zu kommunizieren. Im Wort vermag sich das Leben zugleich zu vollenden und zu überschreiten. Dem Wort gebührt somit ein Primat gegenüber der Tat: »Das Wort bleibt längere Zeit als Taten am leben, sofern es mit der Chariten Gelingen [Carítwn túcã] die Zunge herausholt aus des Sinnes Tiefe« (Pind. Nem. IV 6-7). Pindar 140 kennt in diesem Zusammenhang eine spezielle tých der Chariten. Ob eine Rede eine cáriV-Wirkung entfaltet, bleibt abhängig vom kairóV; die cáriV-Wirkung wäre insofern als situative Wirkung zu begreifen, als Wirkung, die das einmalige Potential einer Redesituation zu nutzen vermag. Gorgias situiert Peitho und die Chariten in der Rede selbst, in der Weise, wie wir uns verständigen und verstehen; er betont damit eine ansteckende Kraft und Freude, einen Mimetismus der Stimmungen und Gefühle. Die sich hier andeutende Lehre von den Stimmungen und Gefühlen wird von Aristoteles aufgegriffen und systematisch entfaltet. Dem lógoV als einem mit Gründen überzeugenden Sprechen stellt Aristoteles pájoV und ]³joV als gleichberechtigte Überzeugungsmittel an die Seite.
140 Dazu passt, dass Aischylos und Alkman Tyche in die Nähe der Peitho rücken. In den Schutzflehenden ruft der König beide Göttinen zugleich an: »Helf Überredung mir und Glück mir zum Erfolg! [peij¾ d' äépoito kaì túch prakt®rioV]« (Aischylos Hik. 523). Alkman bezeichnet Tyche als Schwester der Eunomia und der Peitho (vgl. PMG 64).
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5.3 ] ³ joV UND pájoV ALS ENTECHNISCHE Ü BERZEUGUNGSMITTEL Das sich in Peitho und den Chariten auf mythologischer Ebene verkörpernde Moment einer Überzeugungskraft oder rednerischen Wirksamkeit, die sich nicht auf ein Geben und Nehmen von Gründen reduzieren lässt, wird in den rhetorischen Lehrbüchern vor allem am ]³joV und pájoV festgemacht. Im Zuge der Darstellung der aristotelischen Rhetorik haben wir weiter oben gesehen, dass Aristoteles im ersten Buch der Rhetorik schwankt, ob er ]³joV und pájoV als a- oder entechnische Überzeugungsmittel (pisteiV) betrachten soll. Als atechnisch gelten ihm Überzeugungsmittel, die nicht durch die Kunst der Rhetorik selbst hervorgebacht werden, also etwa Zeugenaussagen, materielle Beweismittel, Verhörprotokolle, aber auch Schwüre und Gesetze.141 Als entechnisch begreift er demgegenüber diejenigen Überzeugungsmittel, die in die Kunst des Redners selbst und damit letztlich in den (in einem weiteren Sinne gefassten) lógoV fallen. Im zweiten und dritten Buch neigt er zu einer entechnischen Deutung von ]³joV und pájoV, die er damit als gleichberechtigt neben den lógoV (hier verstanden als Verfahren argumentativer Begründung) stellt. Diese Gleichberechtigung impliziert natürlich auch, dass ]³joV und pájoV den rhetorischen lógoV nicht, wie von Seiten der Philosophie häufig unterstellt, einfach ersetzen, sondern in ihm aufscheinen, ihn um prädiskursive Anteile erweitern und so allererst verwirklichen.
141 Ein besonders anschauliches Beispiel für ein atechnisches Überzeugungsmittel liefert Hypereides in seiner Verteidigungsrede der der Gottlosigkeit beschuldigten Hetäre Phyrne: »Wie Hypereides mit seiner Rede so gar nicht Erfolg hatte und die Richter Miene machten, Phyrne veruteilen zu wollen, da führte er sie leibhaftig vor, zerriss ihr das Kleid, entblößte ihre Brüste und holte sich die Inspiration für das Mitleid am Redeschluss aus dem Anblick selbst: So brachte er die Richter dazu, dass sie fromm vor der Prophetin und Tempeldienerin Aphrodites erschauderten, dass sie dem Mitleid nachgaben und sie nicht hinrichten ließen.« (Athenaios, Deipnosophistai 13, 590 E, Übersetzung zitiert nach Wilfried Stroh, Die Macht der Rede, a.a.O., 243).
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Die Fähigkeit zu überzeugen hängt für Aristoteles zunächst von der »Ethospräsentation«142 des Redners ab, von seiner Lebensgeschichte, die uns einerseits in Form von Erzählungen vertraut ist, die sich andererseits aber auch in seinem Habitus körperlich manifestiert. Für Aristoteles spricht der Redner als ganzer Mensch, d.h. in seiner Rede ist er als leibliches und soziales Wesen mit der gesamten Vorgeschichte seiner Reden und Taten präsent. Der Philosoph geht sogar so weit, das ]³joV als das »mächtigste Überredungsmittel« (Arist. Rhet. 1356a 13) gegenüber lógoV und pájoV auszuzeichnen. Aristoteles begründet den Vorrang des ]³joV damit, dass es alle drei Überzeugungsmittel noch einmal in sich enthält. NiehuesPröbsting kommentiert dies wie folgt: »Das rhetorische Ethos entspricht mit seinen drei Bestandteilen der Trias der Überzeugungsmittel. Es ist nicht einfach eines neben den anderen beiden, von diesen säuberlich getrennt, sondern es integriert sie. Es setzt sich zusammen aus dem rationalen Vermögen der Einsicht, der [...] ethischen Qualität der Tugend sowie dem rhe143 torisch fundamentalen Affekt des Wohlwollens.« Das ]³joV des Redners, sein Habitus oder Charakter, umfasst seine Tugenden (also sein ]³joV im engeren Sinne), seine rationalen oder logischen Fähigkeiten sowie die Affekte, die er ihm gegenüber in uns hervorruft. Auch für Isokrates macht erst das Zusammenspiel einer Vielfalt von Faktoren eine Rede überzeugend, zu denen auch das ]³joV gehört: »Denn wenn einer Rede das persönliche Ansehen, das der Redner genießt, fehlt, wenn ihr die Stimme und die Variationsmöglichkeiten beim Vortrag fehlen; ferner der jeweilige rechte Zeitpunkt, sowie der Eifer für die Sache, wenn kein mitkämpfendes und ermunterndes Publikum da ist, sondern wenn die Rede all der erwähnten Momente völlig entbehrt, wenn sie jemanden ohne Überzeugung und ohne Engagement vorträgt, als ob er eine Zahlenreihe hersagen würde, dann erscheint, glaube ich, die Rede den Zuhöreren be-
142 Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, a.a.O., 22. – Zur Bedeutung des ]³joV vgl. weiter Wilhelm Süß, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Aalen 1975 [1910]; Jürgen Sprute, »Ethos als Überzeugungsmittel in der aristotelischen Rhetorik«, in: Gert Ueding (Hg.), Rhetorik zwischen den Wissenschaften, Tübingen 1991, 281-290; Heinrich Niehues-Pröbsting, »Ethos. Zur Rückgewinnung einer rhetorischen Fuandamentalkategorie«, in: Josef Kopperschmidt (Hg.), Rhetorische Anthropologie, a.a.O., 339-352. 143 Heinrich Niehues-Pröbsting, »Ethos«, a.a.O., 347.
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greiflicherweise nichtssagend« (Isocr. or. V 26-27). Isokrates beschreibt hier ein Zusammenspiel von ]³joV, Stimme, Situation, Engagement und Resonanz, wobei er dem ]³joV die erste Stelle einräumt. Das ]³joV des Redners deutet er weniger im Sinne eines Habitus, als vielmehr im Sinne der proaíresiV, der Entschlossenheit und Entschlusskraft des Redners. Auch für Heidegger ist das ]³joV »nichts anderes als die Art und Weise, in der sich offenbart, was der Redende will, das Wollen im Sinne der proaíresiV zu etwas. So bestimmt Aristoteles auch die Rolle des ]³joV in der Poetik: Das ]³joV ›macht offenbar das jeweilige Entschlossensein des Spre144 chenden‹.« Heidegger bezieht sich hier auf folgende Stelle innerhalb der Poetik: »Der Charakter []³joV] ist das, was die Neigungen [proaíresin] und deren Beschaffenheit zeigt. Daher lassen diejenigen Reden keinen Charakter erkennen, in denen überhaupt nicht deutlich wird, wozu der Redende neigt oder was er ablehnt.« (Arist. Poet. 1450b) Von den Neigungen und der Entschlossenheit des Redners lassen wir uns (nach dem eleatischen äómoion-äómoio-Prinzip) anstecken. Überzeugend wirkt ein Redner vor allem dann, wenn er selbst den Geist jener Sache atmet, die er uns gegenüber vertritt, wenn er sein Thema libidinös besetzt. In diesem Sinne weist auch die moderne empirische Persusionsforschung145 darauf hin, dass uns der Ausdruck des Selbstvertrauens des Redners eher zu überzeugen vermag als die von ihm vorgebrachten Argumente. Knape fasst die diesbezüglichen Forschungen wie folgt zusammen: »Nach landläufiger Meinung überzeugen Überzeuger durch die besseren Argumente, was bedeuten würde, dass sie das ihnen entgegengebrachte Vertrauen erst nach und nach durch ihre Argumentationsfähigkeit aufbauen. Tatsächlich zeigt« die einschlägige psychologische Forschung »jedoch, dass der Faktor Vertrauen im Verlauf der Diskussion nicht zunimmt, sondern gegen Ende unbedeutend wird. Der Faktor confidence bestimmt also gleich zu Beginn den Persuasionserfolg und ist unabhängig von Einschätzungen der Argumente.«146 In den Reden des Isokrates finden sich eine Reihe von mit ]³joV weitgehend synonymen Substantiven wie ]épainoV (Lob, Zustimmung, Beifall),
144 Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, a.a.O., 169. 145 Harvey London/Philip J. Meldman/A. Van C. Lanckton, »The Jury Method. How the Persuader Persuades«, in: The Public Opinion Quaterly 34 (1970), 171-183. 146 Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, a.a.O., 74/75.
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tim® (Schätzung, Wertschätzung, Achtung, Ehre) oder e]udoxía (guter Ruf, Ruhm, Ansehen), die Ley-Hutton meist mit Anerkennung übersetzt. In der Rede an Demonikos etwa empfiehlt der Autor: »Denn die Anerkennung []épainoV], die das Volk dir schenkt, ist besser als großer Reichtum.« (Isocr. or. I 37). Auf diese Anerkennung kommt alles an. Der Redner erwirbt sie, wenn er im rechten Moment und mit dem rechten Engagement spricht: »entweder, wenn du über eine Sache genau Bescheid weißt oder wenn du über etwas reden mußt. Nur in diesen Fällen ist reden besser als schweigen, ansonnsten ist es umgekehrt.« (Isocr. or. I 41). Komplementär zur wichtigen Rolle, die er dem ]épainoV einräumt, gelten Isokrates der Vowurf (qógoV) und die üble Nachrede (]adoxía) als Übel, die es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Bevor ich beurteile, was jemand sagt, beurteile ich die Person des Redenden bzw. habe diese Person in der Regel immer schon beurteilt. Das ]³joV entscheidet darüber, ob eine Kommunikation überhaupt aufgenommen wird; es verkörpert sich entweder in einem Wissen, das ich von einer Person habe, oder, in Situationen eines Erstkontakts, in einer Haltung bzw. einem Engagement. Jedes Gespräch beginnt prädiskursiv, mimisch und gestisch, blicksuchend und blickaufnehmend. Bevor wir uns in den Raum der Argumente und Gründe begeben, begegnen wir uns auf der ästhetischen Ebene von Habitus und Antlitz. Aufgrund der Bedeutung des ]³joV hat sich der Redner um ein tugendhaftes Leben zu bemühen und von jedem Missbrauch der Rede Abstand zu nehmen. Seine Reden wiederum gehen insofern in sein ]³joV ein, als sie wiederum andere Reden, Reden über den Redner, provozieren: »Ruhm ist das häufige, mit Lob verbundene Reden über jemanden.« (Cic. de inv. II 166) Lysias, ein Schüler des Teisias und somit ein Rhetoriker der ersten 147 Stunde, entwickelt in seinen Reden eine regelrechte Kunst der ]hjopoi]ìa oder Charakterdarstellung. In seinen Gerichtsreden versucht er vor allem, seine Mandanten in ein gutes Licht zu srücken, sie als vertrauenswürdige und moralisch integre Personen figurieren zu lassen; er lässt ihren Werdegang Revue passieren, zeichnet sie im Kreise ihrer Liebsten, gibt Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten, verleiht ihnen Charme und entzieht so den gegen sie vorgebrachten Vorwürfen die entscheidende Grundlage. Ly-
147 Vgl. William Levering De Vries, Ethopoiia. A Rhetorical Study of the Types of Character in the Orations of Lysias, Baltimore 1892.
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sias kann darauf vertrauen, dass uns der Eindruck, den wir von einer Person gewinnen, im Zweifelsfall weit eher für oder gegen sie einzunehmen vermag als alle Indizien und Zeugenaussagen zusammen. Noch bedeutsamer als das ]³joV des Redners werden im Vortrag die Leidenschaften – die Leidenschaften des Redners, des Publikums und insbesondere diejenigen, in denen Redner und Publikum miteinander kommunizieren. Die Leidenschaften oder pájh gelten dabei nicht einfach nur als Voraussetzungen und Kontextbedingungen der Rede, sondern auch als deren Ziel, das mittels Rede allererst hervorgebracht wird. Aristoteles verweist darauf, dass wir überzeugen, indem wir die affektive Disposition des Hörers mit und durch unsere Rede verändern (vgl. Arist. Rhet. 1356a 14f., 23ff.). Im Gegensatz zu Platon begreift er die Gefühle nicht nur als zu überwindende Hindernisse für die Erkenntnis, sondern als deren Organon. Die römische Rhetorik übersetzt die Symmetrie, die für Aristoteles zwischen den drei Überzeugungsmitteln besteht, in eine dreifache Aufgabe oder Pflicht des Redners: docere, delectare und movere, zu belehren, zu erfreuen und zu bewegen. »Der beste Redner ist« für Cicero, »wer durch das Sprechen das Gemüt der Zuhörer belehrt, erfreut und erregt [docet et delectat et permovet].« (Cic. de opt. gen. or. I 3) Bei Quintilian heißt es im gleichen Sinne: »Dreierlei aber muß der Vortrag leisten: er soll gewinnend, überzeugend und erregend sein« (Quint. inst. or. XI 3, 154). Alle drei Dimensionen werden nicht von verschiedenen Redeteilen repräsentiert, sondern von allen gleichzeitig. An Stelle des docere findet sich häufig auch probare, welches beweisen bedeutet. Delectare wird oft auch durch conciliare, für sich gewinnen, ersetzt. An die Stelle des movere schließlich rückt gelegentlich inflammare, entzünden oder flectere, biegen, beugen, umstimmen. Ausgehend vom Zusammenspiel dieser drei Pole wäre eine komplexere Vorstellung von Performativität möglich als die von Austin entwickelte, eine Vorstellung von Performativität, die über drei und nicht nur über zwei Pole verläuft. Austin erläutert Performativität über eine gleichzeitige Identität und Differenz performativer und konstativer Anteile einer Äußerung. Er geht dabei in drei Schritten vor. Zunächst zeigt er, dass entgegen dem deskriptivistischen Fehlschluss der frühen analytischen Philosophie nicht alle Sätze Tatsache repräsentieren. Im Gegensatz dazu vollziehen wir mit einer bestimmten Klasse von Äußerungen (Versprechen, Bitten, Befehle...) Handlungen. Diese Äußerungen nennt Austin Performativa, um in einem zweiten Schritt allerdings zu zeigen, dass sich die Grenze zwischen Konsta-
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tiva und Performativa nicht stabilisieren lässt, dass sich auch das Feststellen von Tatsachen als Handlung beschreiben lässt. In einem dritten Schritt schließlich zeigt Austin, dass die (nun verallgemeinerten) Performativa gleichwohl von der Möglichkeit der Konstativa abhängig bleiben. Ein Versprechen etwa verwendet eine konstative Aussage (»Ich verspreche, dass ich morgen kommen werde.«). Die Handlungsförmigkeit oder Performativität besteht hier gerade in der kontrafaktischen Antizipation einer konstativen Aussage. Mit der rhetorischen Trias von docere, delectare und movere ließe sich dieses bei Austin angedeutete Vermittlungsverhältnis genauer ausdifferenzieren. Indem wir es bewegen, können wir unser Publikum erfreuen, indem wir es belehren, können wir es bewegen, indem wir es anrühren, können wir es belehren usw. Während dem docere der konstative Anteil an jeder Äußerung entspricht, spaltet sich der performative Anteil in das movere und das delectare auf, wobei das movere für die Handlungsdimension der Performativität steht und das delectare für die Vollzugsdimension und die sprachliche Form. Alle drei Ziele der Rede vereinen sich letztlich in einer holistisch gedachten Konzeption von Wirksamkeit, die nicht nur kognitive und affektive Zustände des Publikums betrifft, sondern auch die Veränderung bzw. Schaffung von sozialen Situationen. Cicero schreibt: »Der vollkommene Redner [...] wird also der sein, der auf dem Forum und in Zivilprozessen so spricht, daß er beweist, daß er unterhält, daß er beeinflußt. Beweisen ist Sache der Notwendigkeit, Unterhalten eine Frage des Charmes [suavitatis], Beeinflussen aber bedeutet den Sieg.« (Cic. or. 69) Die Rede entfaltet ihre Wirksamkeit in verschiedenen Dimensionen, die sich kreuzen und wechselseitig verstärken, sie »vermag auf jede Weise zu bewegen; bald bricht sie gewaltsam ein, bald schleicht sie sich ein in die Sinne, sät neue Gedanken, reißt aus die alteingewurzelten.« (Cic. or. 79) Zur Wirksamkeit der Rede gehört wesentlich die Fähigkeit, Gefühle zu wecken sowie vermittelt über diese Gefühle zu einem Handeln zu motivieren oder von etwas zu überzeugen. »Der Hörer eines Redners glaubt, was gesagt wird, er hält es für wahr, stimmt zu, billigt es, die Rede gewinnt Vertrauen [...]. Die Menge findet beim Zuhören ihr Vergnügen, sie läßt sich von der Rede leiten, wird von einem Gefühl des Genusses durchdrungen [...]. Sie empfindet Freude und Schmerz, sie lacht und weint, fühlt Zuneigung und Abneigung, Verachtung und Neid, sie wird zum Mitleid bewogen, zur Scham, zur Reue, empfindet Zorn und Sanftmut, Hoffnung und
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Furcht – all das tritt gerade so ein, wie Worte, Gedanken, Vortrag das Gemüt der Anwesenden beeinflussen.« (Cic. Brut. 187/188) Die Fähigkeit der Evokation und Transformation von Affekten geht, so Cicero, den Philosophen häufig ab. Deren Rede »besitzt nicht den Nerv, nicht den Stachel, wie der Redner des Forums sie braucht. Sie sprechen zu wissenschaftlich Gebildeten, sie wollen sie eher beruhigen als erregen, wenn sie über ruhige, keineswegs aufregende Themen sprechen, um zu belehren, nicht um hinzureißen.« (Cic. or. 64) Tendenziell sieht die Philosophie in den Affekten eher ein zu überwindendes Erkenntnishindernis. Aus der Sicht der Rhetorik bahnen Affekte Handlungen und Erkenntnisse an, motivieren sie, machen für sie geneigt. Bevor sie sich konstativ auf etwas bezieht, Sprecher und Hörer auf einen Gegenstand verpflichtet, eröffnet die Rede einen affektiven Modus, in dem diese konstative Bezugnahme erfolgen kann. Die Affekte haben vor diesem Hintergrund eine mehr als nur psychologische Funktion. Sie stehen für Handlungsmöglichkeiten, für die Offenheit einer Situation, in eine bestimmte Richtung hin überschritten werden zu können. Affekte wären von hier aus weniger als Zustände zu beschreiben denn als Dispositionen. So wie der Pragmatismus theoretische Überzeugungen als Inbegriff der Handlungsmöglichkeiten interpretiert, die sie uns eröffnen, so verweisen aus rhetorischer Sicht auch die Affekte auf Praxis. Die rhetorische Evokation und Transformation von Affekten geschieht nie um ihrer selbst willen, sondern zielt, im Kontext einer idealerweise demokratisch verfassten Polis, auf die praktische Veränderung von Situationen; jeder Affekt präfiguriert einen sozialen Effekt. Doch wie genau vermag es der Rhetor, Gefühle zu evozieren? An dieser Stelle kommt erneut das ]³joV ins Spiel. Affekte lassen sich nicht instrumentell herstellen, sondern allenfalls vorleben. Indem der Redner einen Affekt überzeugend verkörpert, evoziert er eine affektive Resonanz; diese Resonanz deutet sich in musikalischen Metaphern an, derer sich etwa Cicero bedient, wenn er die Affektkommunikation beschreibt: Die »Ohren des Volkes« werden dem Redner zu »Flöten«, die den »Hauch« seiner Rede aufnehmen (Cic. Brut. 192); die Gemüter des Auditoriums werden mit den »Seiten der Lyra« (Cic. Brut., 199) verglichen, die der Redner anschlägt. Die Alten kennen eine quasimusikalische Pathoskommunikation, eine über Gefühle verlaufende wechselseitige Identifikation. Rednerische Wirkung verweist hier auf eine Mimesis, ein prädiskursives, somatisches Moment. Deutlich wird das in Aristoteles’ Analyse des Mitleids (]éleoV) in der Poe-
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tik und Rhetorik. In letzterer definiert er Mitleid »als Schmerz beim Anblick eines schmerzhaften oder zerstörenden Übels [...] von dem man annehmen kann, daß es einen selbst oder einen seiner Angehörigen ebenso teffen kann« (Arist. Rhet. II 8,1-16). Jede gelingende Kommunikation hat etwas von dieser Emphatie. Kommunikation erfolgt nicht nur im Modus des Gründegebens, sondern auch im geteilten Affekt, der eine Art intersubjektiven Leibraum eröffnet. Der Affekt hat in der Rhetorik immer schon eine intersubjektive Ausrichtung. Er kommt nicht einfach einem isolierten Subjekt zu, sondern steht für die Möglichkeit einer Begegnung. Den Schmerz und die Freude des Anderen kann ich in vergleichbarer Weise verstehen wie seine Überzeugungen. Die antike Rhetorik hebt wie die Ethik Spinozas, die Freudsche Psychoanalyse und die Heideggersche Daseinsanalyse die affektive Dimension des menschlichen In-der-Welt-Seins hervor. Sie möchte Gefühle erzeugen und lenken und muss sie aus genau diesem Grund zunächst verstehen. Die Rhetorik des Aristoteles entfaltet über weite Strecken eine breit angelegte Affektenlehre, die sich insbesondere um ein Verständnis der Situationsabhängigkeit von Affekten bemüht. Diese variieren je nach Lebensalter, sozialer Lage, Geschlecht usw. Der Redner bietet im Evozieren von Affekten Möglichkeiten einer libidinösen Besetzung an, er eröffnet einen Mimetismus der Begierden148: »Leidenschaften werden erregt durch die Darstellung von Leidenschaften«149. Der Rhetoriker weiß, dass sich weder eine Wahrheit von allein durchsetzt noch eine Entscheidung zum Handeln aus rein logischen Gründen heraus erfolgen wird. Er bleibt skeptisch gegenüber der aufklärungsoptimistischen Unterstellung, das richtige Argument vermöge sich aus eigener Kraft durchzusetzen. Für das richtige Argument muss demgegenüber aus rhetorischer Sicht immer auch noch gestritten werden, jemand muss es ergreifen, es mit seiner ganzen Person besetzen, es zu seiner Sache machen. Warum sollte der Redner also »nicht begeistern, nicht steigern, nicht seine Rede mit tausend künstlichen Redewendungen abwechslungsreich und wechselvoll machen? So daß das, was er sagt, gerade zu entstehen und aus
148 Zur Figur eines Mimetismus des Begehrens vgl. das Werk des französischen Kulturanthropologen René Girard, etwa Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt/M. 1992 [1972]. 149 Gert Ueding, Antike Rhetorik, a.a.O., 77.
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eigener Natur hervorzukommen [...] scheine.« (Quint. inst. or. V 14,32) Der Redner evoziert etwas, lässt etwas entstehen, indem er es zum Fokus einer libidinösen Besetzung macht. Er artikuliert selbst ein Begehren, das sich als Vorbild des Begehrens der anderen anbietet: »Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich [...] darin, sich selbst der Erregung hinzugeben. [...]. Nur Feuer kann einen Brand entfachen, nur Feuchtigkeit uns durchnässen, und nichts kann auf anderes abfärben, wenn es selbst die betreffende Farbe nicht hat.« (Quint. inst. or. VI 2, 26/28) Ganz ähnlich heißt es bei Cicero: »Nicht die Kraft meiner Begabung, nein, die gewaltige Kraft meiner Leidenschaft entflammt mich so sehr, daß ich meiner selbst nicht mehr mächtig bin. Wird doch ein Hörer nur dann entzündet, wenn es eine flammende Rede ist, die ihn erreicht!« (Cic. or. 132) Die Rede entreißt sich dem Redner und entzündet ihn selbst. Erst diese Selbstentzündung ermöglicht ein inflammare des Publikums. Davon, dass ein solcher Mimetismus der Affekte auch im jüdisch-christlichen Kontext vertraut war, zeugt folgende Bemerkung des Paulus aus seinem ersten Brief an die Korinther: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle« (1 Kor 13). In Bezug auf die erotisch-verführende Sprache hebt Ovid in einer bemerkenswerten Passage seiner artis amatoria libri tres einen vergleichbaren Mimetismus hervor. Wenn wir zu verführen suchen und im Zuge unserer Verführung Liebe simulieren, sind wir nie davor gefeit, uns wirklich zu verlieben, uns rückwirkend anzustecken: »Dann ist Zeit zum Gespräch, dann, bäurische Schüchternheit, fliehe Weit! Wie Fortuna steht Venus dem Wagenden bei. Deine Beredsamkeit will ich dir nicht durch Regeln umschreiben; Machst du den Anfang erst, wirst du von selber beredt. Spiel den Verliebten und sprich, als seist du im Herzen verwundet. Daß dies glaublich ihr wird, wirke mit jeglicher Kunst. Auch ist die Mühe nicht groß: Man müsse sie lieben, denkt jede, Auch noch der Häßlichsten scheint reizend die eigne Gestalt. Oft schon fiel, wer verliebt sich gestellt, in wirkliche Liebe, Und was zuerst er zu sein heuchelte, war er zuletzt. Oh, ihr Mädchen, je freundlicher ihr euch zeiget dem Lügner, Desto sicherer wird wahr die erheuchelte Glut.
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Jetzt nun mußt du mit schmeichelndem Wort das Gemüt ihr berücken, Wie das Gewässer den Grund hangender Ufer zerwühlt. Werde nicht müde, der Liebsten Gesicht und Haare zu preisen, Und wie die Finger so schlank und wie so niedlich der Fuß.« (Ovid ars am. I 605-620)
Der Mimetismus des Gefühls vermag in gewisser Weise auch die Beredsamkeit anzustecken. Die Sprache der Verführung vermag sich an sich selbst zu entzünden – »Machst du den Anfang erst, wirst du von selber beredt« – und lässt sich insofern auch nicht lehren oder formalisieren. Was für das seduktive Sprechen gilt, wäre ausgehend von Ovid als Zug rhetorischen Sprechens insgesamt zu verstehen. Der Dichter analogisiert denn auch das seduktive Sprechen mit der politischen Rede: »So wie das Volk, der erlesne Senat und der würdige Richter, Wird durch die Kraft der Rede Gewalt selber ein Mädchen besiegt.« (Ovid ars am. I 459-460)
Sowohl im Politischen wie im Erotischen folgt die Rede einer selbstantizipativen oder performativen Logik. In den Worten von Perelman und Olbrechts-Tyteca: »Die antiken Redner bemühten sich in ihren Reden gerne darum, offene Fragen so darzustellen, als seien sie zu ihren Gunsten bereits entschieden« (NR 159). Cicero und Quintilian gehen davon aus, dass nur Affekte andere Affekte hervorrufen können. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Phantasie, die uns erlaubt, von uns selbst abzusehen und uns auf die affektiven Haltungen anderer einzulassen: »Jeder, der das, was die Griechen phantasiai nennen – wir könnten ›visiones‹ (Phantasiebilder) dafür sagen –, wodurch die Bilder abwesender Dinge so im Geiste vergegenwärtigt werden, daß wir sie scheinbar vor Augen sehen und sie wie leibhaftig vor uns haben: jeder also, der diese Erscheinung gut erfaßt hat, wird in den Gefühlswirkungen am stärksten sein.« (Quint. inst. or. VI 2, 29) Phantasie und Gefühl hängen mit der Fähigkeit zur Empathie zusammen, damit, sich in Andere hineinversetzen, sich ihnen gleichmachen zu können. Die Rede selbst erscheint hier als Organon der Phantasie oder Einbildungskraft. Sie vermag abwesende Dinge vor Augen zu führen und ein Spiel der Subjektpositionen zu eröffnen.
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Auch bei Platon finden sich Hinweise auf einen vor-rationalen Mimetismus, der sich in der und durch die Rede entfaltet. Platon bindet diesen Mimetismus an eine Art Psychagogie des Rhythmus; für Sokrates beruht »das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang vorzüglich in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen« (Plat. Pol. III 401 d). Die Redekunst wird in der Poli150 teia insofern auch als Teildisziplin der Musik behandelt. Zwar weist Platon eine bestimmte Musik und ihre Instrumente – den »tanzenden Wahnsinn« (Plat. Ion 533e) der Dionysien und die Flötenmusik – zurück, räumt aber insbesondere dem Rhythmus eine Kraft der Öffnung der Seele für die philosophische Lehre ein. Musik, Rede und Philosophie begegnen sich bei Platon im übergreifenen Zusammenhang eines pythagoräischen Weltbildes. Cicero knüpft an die Vorstellung einer rhythmusvermittelten Kommunikation an, gesteht ihr aber im Gegensatz zu Platon eine mehr als nur propädeutische Rolle zu. Während der Rhythmus bei Platon die Seele allenfalls vorzubereiten, für eine Lehre zu öffnen vermag, die sich letztlich doch in eine diskursive oder sogar noetische Gestalt kleidet, kann der Rhythmus aus der Perspektive Ciceros direkt mit der Seele kommunizieren. Die Seele hat für Cicero einen vollkommen anderen Stellenwert als für Platon. Während Platon sie strikt vom Körper trennt, begreift Cicero sie, darin eher in einer aristotelischen Tradition stehend, als Zustand des Körpers, als eine »Art von Spannung des Körpers selbst [...], wie sie sich beim Gesang und beim Saiteninstrument findet« (Cic. tusc. disp. I 10, 19). Als Zustand oder »Spannung« des Körpers kann die Seele also auch mit rein körperlichen Mitteln, etwa mit Stimmen und Gesten, in Resonanz versetzt werden. Gegen die Engführung des Rationalitätsbegriffs auf logisches Schließen macht Cicero die affektiven und libidinösen Anteile des Argumentierens stark und plädiert für ein volles, Sinnlichkeit und Verstand integrierendes Konzept von Rationalität: »Denn nichts ist ja beim Reden wesentlicher, Catulus, als daß der Zuhörer dem Redner gewogen ist und daß er selbst so tief beeindruckt wird, daß er sich nicht mehr durch den Drang seines Herzens und einen inneren Aufruhr als durch sein Urteil oder seine Einsicht lenken läßt. Die Menschen entscheiden ja viel mehr aus Haß oder aus Liebe, Be-
150 Dionysios von Halikarnass wird diese Zuordnung aufnehmen, wenn er schreibt: »Die Rhetorik – die Wissenschaft der öffentlichen Rede – ist sozusagen Musikwissenschaft.« (Dion. peri synth. 3)
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gierde oder Zorn, Schmerz oder Freude, Hoffnung oder Furcht, aus einem Irrtum oder einer Regung des Gemüts, als nach der Wahrheit oder einer Vorschrift, nach irgendeiner Rechtsnorm oder Verfahrensformel oder nach Gesetzen.« (Cic. de or. II 179) Kommunikation transportiert nicht nur Argumente, sondern vor allem auch Stimmungen, Gefühle, Momente des Hoffens und Begehrens. Cicero fordert den Redner geradezu dazu auf, seine Gegenstände libidinös zu besetzen, sich in der Rede als ganze Person zu engagieren und nicht nur einfach eine Position zu vertreten, die sich zur Person äußerlich verhält: »Denn wie kein Stoff so einfach zu entzünden ist, daß er ganz ohne Hilfe eines Feuers Feuer fangen könnte, so ist kein Herz derart empfänglich für die Wirkung eines Redners, daß es sich entflammen ließe, wenn er nicht selbst entflammt und brennend zu ihnen käme.« (Cic. de or. II 190) Überzeugung gleicht hier einer Ansteckung. Erst wenn ich selbst überzeugt bin, wenn ich mich der Sache mit Haut und Haaren verschreibe, vermag ich auch andere zu überzeugen: nicht mit Argumenten, sondern mit meinem Überzeugtsein selbst, mit meiner proaíresiV. Auch für Quintilian ist es in diesem Sinne letztlich »das Gefühl, das beredt macht [Pectus est enim quod disertos facit]« (Quint. inst. or. X 7, 15). Das Spiel der affektiven Ansteckung wird vom Redner allerdings nicht souverän beherrscht, er gerät, wie Eratosthenes einmal bemerkt, »in seinen Reden oftmals in einen bacchischen Rausch« (Plut. Dem. 9). Souverän wäre in diesem Spiel allenfalls die Rede, deren Wirkung sich auch auf den Redner erstreckt: »Denn eben die Natur der Rede, die man einsetzt, um auf andere zu wirken, wirkt noch stärker als auf irgendeinen der Zuhörer auf den Redner selbst.« (Cic. de or. II 191) Was dieser benötigt, ist also »das Feuer der Begeisterung und [...] eine gleichsam schwärmerisch-ekstatische Inspiration« (Cic. de or. II 194). Im Bereich der Rede scheint die stoisch inspirierte Ethik Ciceros an ihre Grenze zu stoßen. Auf dem Feld der Rede Maß zu halten, ist nur bedingt möglich, da sich die Rede, sofern ich mich ihr einmal hingegeben habe, nicht mehr vollständig kontrollieren lässt. Sie trägt mich fort und schlägt mich selbst in ihren Bann. Wie bei Gorgias und Isokrates erscheint die Rede auch bei Cicero letztlich als unüberwindliche Macht: »Aber sie, die ›die Herzen rührt und über alle Dinge herrscht, die Rede‹, wie ein guter Dichter treffend sagte, hat eine solche Macht, daß sie nicht nur den Wankenden vollends gewinnen oder den Stehenden ins Wanken bringen kann, sondern auch den Ablehnenden und Widerstrebenden wie ein energischer, tüchtiger Feldherr zu bezwingen weiß.« (Cic. de or. II
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187) Dies gilt noch für den Redenden selbst, der sich an den Strom seiner Rede verliert: »Ich werde ergriffen und hingerissen von einer gewaltigen inneren Kraft, so daß ich nicht mehr Herr meiner selbst bin.« (Cic. or. 130) Dieser Kraft muss auch Platon seine Referenz erweisen, der den von der Redekünstlerin Aspasia heimgekehrten Sokrates im Menexenos sagen lässt: »So einsiedeln kann sich die Rede und der Ton des Redners in den Ohren, daß ich mich kaum am vierten oder fünften Tag wieder besinne und merke, wo in der Welt ich bin« (Plat. Menex. 234 c).
6. Schlussbemerkung
Im Anschluss an die Sprachauffassung der rhetorischen Tradition deutete die vorliegende Studie eine Theorie sprachlicher Wirksamkeit an. Wie wir gesehen haben, verdankt sich die Wirkung der Rede aus der Perspektive der klassischen Rhetorik weniger einer Sprecherintention als vielmehr dem Potentialitätsgefälle einer Situation, über die Einzelne nicht vollständig verfügen können. Die Kraft der Rede erschöpft sich in keinem handlungstheoretisch rekonstruierbaren Überreden bzw. Überzeugen. Hinter der rhetorischen Idee sprachlicher Wirksamkeit verbirgt sich vielmehr eine breiter angelegte Theorie sprachlicher Welterzeugung, die der Situationalität des menschlichen In-der-Welt-Seins Rechnung trägt. Wirksamkeit der Rede besagt nicht, dass eine Dimension der Wirkung oder des Pragmatischen zu einer an sich schon bestehenden Sprache hinzukommt, sondern dass sich Sprache über ihr Wirken – als Rede – vollzieht und konsequentialistisch definiert. Im Gegensatz zur nach-wittgensteinschen Sprachpragmatik wurde Rede im Rahmen dieser Arbeit nicht von ihren vermeintlichen Ursachen her gedacht. Mentale Intentionen, konstitutive – seien es syntaktische oder soziale – Regeln und eine Vernunft, die Gründe gibt und verlangt bzw. Geltungsansprüche erhebt und anerkennt, können nicht als Ursachen je konkreter Rede begriffen werden, sondern allenfalls als deren Folgen. Während die Sprechakttheorien Austins und Searles die Konsequenzen eines sprachlichen Handels als dessen »perlokutionäre Effekte« jenseits des Vollzugs der Rede selbst verorten, definiert sich Rede aus rhetorischer Sicht gerade über diese ihre Effekte. Der Effekt oder die Wirkung wird als eine Art inneres Außen der Rede begriffen, auf das hin sie sich organisiert. Für John Dewey ist »die Seele der Sprache« in genau diesem Sinne »das Bewirken
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1
von Kooperation« ; Praxiszusammenhänge liegen der Rede für die Rhetorik wie für den Pragmatismus nicht einfach zu Grunde, sondern werden durch sie bewirkt. Da Rede ihre eigenen (sozialen wie mentalen) Gründe setzt, bleibt sie als Ganze ungegründet oder negativ; sie motiviert sich aus ihrer Grundlosigkeit, aus ihrem je konkreten Vollzug. Die Rekonstruktion eines rhetorischen Sprachdenkens versteht sich insofern als Beitrag einer post- oder antifundationalistischen Vernunftkritik, wie sie auf dem Feld der politischen Philosophie gegenwärtig von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau verfolgt wird. Diese post- bzw. antifundationalistische Kritik entbindet uns nicht von der Pflicht der Argumentation, sondern verweist darauf, dass sich Rede und Kommunikation nie hinreichend und vollständig als Argumentation rekonstruieren lassen. Gerade weil wir nicht immer schon über einen Raum der Gründe wie über Kriterien für gute Gründe verfügen, müssen wir kommunizieren. Indem sie diesen Punkt betont, evoziert die rhetorische Tradition einen Affekt gegenüber dem Faktum der Rede, der als der philosophische Affekt schlechthin gelten kann: den Affekt des Staunens. »Kommunikation«, so noch einmal John Dewey, »ist ein Wunder, neben dem das 2 Wunder der Transsubstantiation verblasst.«
1
John Dewey, Erfahrung und Natur, a.a.O., 179.
2
A.a.O., 167.
7. Siglen und Literatur
7.1 S IGLEN
Aisopos Aischylos Anax. Rhet. Apollod. Bibl. Arist. An. post.
Arist. An. pri. Arist. Ath. Pol.
Arist. EN
Arist. Int.
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Hesiod Erga
Horaz ars poet.
Il.
Isocr. epist.
Isocr. or.
KGW
KSA Lysias or. Noctes Atticae NR
Od.
Ovid ars am.
Pausanias
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Peri Hypsos Pind. Plat. Apol.
Plat. Euth. Plat. Gorg. Plat. Ion Plat. Krit. Plat. Krat. Plat. Men. Plat. Menex. Plat. Nom. Plat. Phaidr. Plat. Phileb. Plat. Pol. Plat. Prot. Plat. Soph. Plat. Sym. Plat. Theait. Plat. Tim. Plut. Cic.
Plut. Dem.
PMG Polybius Quint. inst. or.
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