Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert: Studien zur Geschichte der Inneren Mission 1918–1945 [Reprint 2018 ed.] 9783486825565, 9783486549614


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German Pages 517 [520] Year 1989

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Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Abkürzungen
Einleitung
I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche
II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege
III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft
Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
Register
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Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert: Studien zur Geschichte der Inneren Mission 1918–1945 [Reprint 2018 ed.]
 9783486825565, 9783486549614

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Jochen-Christoph Kaiser

Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945

R. Oldenbourg Verlag München 1989

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Diakonischen Werkes der EKD.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kaiser, Jochen-Christoph: Sozialer Protestantismus im 20. Jahrhundert : Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945 / Jochen-Christoph Kaiser. München : Oldenbourg, 1989 ISBN 3-486-54961-8

© 1989 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtherstellung: R.Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-54961-8

Meinem Vater gewidmet

Vorbemerkung Die vorliegende Studie will einen Beitrag zur neuen historischen Zweigdisziplin der Kirchlichen Zeitgeschichte leisten, die sich als Integrationswissenschaft versteht und politische, soziale, ideengeschichtliche und nicht zuletzt theologische Methoden und Fragestellungen miteinander verknüpft. Insofern hat sie mit Kirchen* und Allgemeingeschichte gleichermaßen zu tun, geht aber andererseits weder in einer primär als theologische Fachrichtung beschreibbaren Kirchengeschichte noch in einer vornehmlich an sozialen Erscheinungsformen des Konfessionellen interessierten Sozialgeschichte auf. Das Buch stellt die nur leicht überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die 1986 vom Fachbereich Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität angenommen wurde. Das Unternehmen ist von meinen akademischen Lehrern, meinen Freunden und Kollegen und nicht zuletzt von meiner Familie über Jahre hinaus mit Rat und Tat begleitet worden, wofür ich allen herzlich danke. Nennen möchte ich an erster Stelle Heinz Gollwitzer, der mit großer Sachkunde, Interesse und Verständnis diese Arbeit förderte und durch persönliche Großzügigkeit - ich war lange Zeit sein Assistent - ebenso wie sein Nachfolger Hans-Ulrich Thamer wesentlich zum Gelingen beitrug. Martin Greschat/Gießen, Kurt Meier und Kurt Nowak, beide Leipzig, sowie mein Kollege Rudolf Schlögl halfen mir durch kritische konzeptionelle Anfragen, aber auch durch Ermutigung, wenn es notwendig war. Weit über das Maß des Interesses hinaus, das ein Archivar normalerweise gegenüber den Benutzern seines Archivs aufbringt, förderte Helmut Talazko vom Archiv des Diakonischen Werkes der EKD in Dahlem das Projekt, indem er behutsam auf wahrscheinlich unergiebige Fragestellungen und andererseits auf lohnendere Schwerpunkte hinwies, deren Entfaltung mit Hilfe der reichen Bestände seines Hauses möglich war. In diesen Dank miteinschließen darf ich den Archivar der v. Bodelschwinghschen Anstalten, Wolf Kätzner/Bethel sowie Hans-Joachim Wollasch, den Leiter des Archivs des DCV, in Freiburg, deren Anregungen und praktische Hilfestellungen manches erleichterten. Cristoforo Schweeger unterstützte mich beim Lesen der Korrekturfahnen; für die Übernahme dieses undankbaren Geschäfts sei ihm genauso Dank gesagt wie andererseits meiner Frau Christel Ruth, die in fast schon gewohnter Weise von den ersten Entwürfen bis hin zur Druckfassung das Manuskript kritisch gegenlas. Mein Dank gilt endlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Diakonischen Werk der EKD; erstere gewährte mir zunächst ein Reisekostenstipendium zur Finanzierung der langwierigen Archivaufenthalte und gab dann - wie auch das Diakonische Werk - einen erheblichen Druckkostenzuschuß, ohne den die Arbeit nicht hätte veröffentlicht werden können. Dülmen, im August 1989

J-C.K.

Inhalt Abkürzungen Einleitung

X 1

I. 1.1.

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1.1.1. 1.1.2. 1.1.3. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. II. 11.1. 11.1.1. 11.1.2. 11.1.3. 11.2. 11.2.1. 11.2.2. 11.2.3. 11.2.4. II.2.4.1. 11.2.5. 11.3. 11.3.1. 11.3.2. 11.3.3. 11.3.4.

Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO) Das Vorspiel Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen zwischen Weltkrieg und Revolution KDEAO und kirchliche Neuordnung in der Nachkriegszeit. . . Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921 Der Centraiausschuß und die demokratische Neuordnung . . . Ansprüche an den Verfassungsneubau der Landeskirchen . . . . Die Gründung des Centraiverbandes Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege . . . Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege . . . . Erste Reformvorschläge und ihre Abwehr Der 35. Deutsche Armenpflegetag Revolution und freie Wohlfahrtspflege Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege Vorläuferorganisationen Die Gründung der Reichsgemeinschaft Die Arbeitsfelder der Reichsgemeinschaft Finanzprobleme der freien Wohlfahrtspflege und die Stellung des Reichsarbeitsministeriums ' Die Gründung der Hilfskasse (Hika) Das Ende der Reichsgemeinschaft Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege Die Gründungsphase Die Rolle von DRK und Arbeiterwohlfahrt im Vorfeld der Ligagründung Personalpolitische Weichenstellungen Die,Reichsgrundsätze' nach §§ 5 und 6 der Fürsorgepflichtverordnung

25 25 40 47 67 67 72 78 95 97 101 104 107 112 112 116 119 124 129 132 135 135 139 146 150

VIII II.3.5. I.3.6. II.3.6.1. II.3.6.2. II.3.6.3 11.4. 11.4.1. 11.4.2. 11.4.3.

III. 111.1. 111.1.1. 111.1.2. 111.1.2.1. 111.1.2.2.

Inhalt Noch einmal: Deutsches Rotes Kreuz 156 ,Volkshilfe in Volksnot': Das Winterhilfswerk 159 Die Finanzlage 160 Die Hilfsmaßnahmen bis 1933 168 Kritische Stimmen zur Winterhilfe 178 Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940 . . . 185 Gesundheitsführung versus Wohlfahrtspflege: Programm und Entstehung der NSV 186 Stufen der Gleichschaltung 190 Weitere Auseinandersetzungen und die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft 205

Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft. . . Das Jahr 1933 Die Ausgangslage Satzungsdiskussionen und Reichskirchenverfassung . . . . . . . Devaheim, Kirche und Satzungsfragen 1930-1933 Kirche und Innere Mission im Sog nationalsozialistischer Gleichschaltungspolitik 111.1.2.2.1. .Machtergreifung' im CA: Die Episode des Staatskommissariats 111.1.2.2.2. Der Einbau der Inneren Mission in die Reichskirche 111.2. Die neue Herausforderung: Der CA im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf III.2.1. Innere Mission und NSV 1933/34 II 1.2.2. Der Kampf um das Präsidentenamt 111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938 111.3.1. Die eugenischen Fachtagungen der Inneren Mission im Vorfeld des .Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' 111.3.1.1. Die Treysaer Konferenz 111.3.1.2. Sterilisation als politische Forderung: Der preußische Vorstoß und die Innere Mission 111.3.2. Das .Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' 111.3.3. Die Durchführung der Erbgesundheitsgesetze und die Innere Mission 111.3.4. Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung 111.3.5. Nachgehende Fürsorge und Ehevermittlung Sterilisierter . . . . 111.3.6. Eine vorläufige Bilanz II 1.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse 111.4.1. Reichskirchenausschuß und Innere Mission 111.4.2. Ein neuer Plan: Die Volkskirchliche Arbeitsgemeinschaft . . . . 111.4.3. Die Reichstagung der Inneren Mission 1937

227 230 230 237 238 249 252 264 279 279 298 316 321 324 332 340 353 366 378 384 391 393 403 406

Inhalt III.4.4. III.5. II1.5.1. 111.5.1.1. 111.5.1.2. 111.5.1.3.

Zoellners Rücktritt und die verordnete Kirchen wähl 1937 . . . . Auf dem Weg in den Krieg Existenzfragen der Inneren Mission Grundsatzkonflikte mit der NSV Das ,Modell Österreich' Sammlungsprobleme und Schwesternfragen

IX 412 418 422 422 428 433

Fazit

444

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Register

499

Abkürzungen ADCV ADW ADWDü AELKZ AfBSF AfS APK Apo APU Art. AWO BK CA CAH D. DC DCV DEK DRK EGG EKD EOK ESK ev. EZA GDC GF GG GK HA HAvBA Hg.

Archiv des DCV, Freiburg i. Br. Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin Archiv des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche im Rheinland, Düsseldorf Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde Archiv für Sozialgeschichte Akten der Parteikanzlei der NSDAP Apologetische Centrale des CA für IM (Ev. Kirche der) Altpreußischen Union Artikel Arbeiterwohlfahrt Bekennende Kirche Centraiausschuß Christliche Arbeiterhilfe Dr. theol. h.c. Deutsche Christen Deutscher Caritasverband Deutsche Evangelische Kirche Deutsches Rotes Kreuz Erbgesundheitsgericht Ev. Kirche in Deutschland Ev. Oberkirchenrat Ev. Sozialer Kongreß evangelisch Ev. Zentralarchiv in Berlin Glaubensbewegung Deutsche Christen Gesundheitsfürsorge Geschichte und Gesellschaft Geschäftsführerkonferenz Hauptausschuß des CA Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Anstalten, BielefeldBethel Herausgeber(in)

Abkürzungen

HZ IM IMG IWK JfWK KDEAO LKASt LT MD MR NL NSV ORR OKR OkonsR P. PrHdA PVS RAM RFM Rdl RKM RR RT Sehr. Schw. Sten. Ber. StS SW VfZ VKL Z(c)nA ZdJ ZfS ZStA-DM

XI

Historische Zeitschrift (Die) Innere Mission (Zeitschrift) Internationaler Militärgerichtshof, Nürnberg Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen Landeskirchliches Archiv Stuttgart Landtag Ministerialdirektor Ministerialrat Nachlaß Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Oberregierungsrat Oberkirchenrat Oberkonsistorialrat Pastor/Pfarrer Preußisches Haus der Abgeordneten Politische Vierteljahrsschrift Reichsarbeitsminister(ium) Reichsfinanzministerium Reichs- (und preußischer/s) Ministerium) des Innern Reichskirchenminister(ium) Regierungsrat Reichstag Schreiben Schwester Stenographische(r) Bericht(e) Staatssekretär Sämtliche Werke Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vorläufige Kirchenleitung Zentralwohlfahrtsstelle der (christlich) nationalen Arbeiterschaft Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland Zeitschrift für Sozialpolitik Zentrales Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg

Einleitung Das Profil des deutschen Protestantismus seit 1900 wurde im Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit nicht nur von den verfaßten evangelischen Landeskirchen, sondern ebenso, wenn nicht nachhaltiger, von den auf verschiedensten Sektoren praktisch tätigen Verbänden geprägt. So zielt unser Thema auf den größeren Bereich des sogenannten Verbandsprotestantismus; darunter ist die Vielfalt des evangelischen Vereinswesens zu verstehen, das um die Mitte des 19. Jahrhunderts als organisiertes religiöses Sonderinteresse neben das klassische Erscheinungsbild protestantischer Kirchlichkeit tritt, d.h. neben Ortsgemeinden und kirchenleitende Behörden. 1 Grob skizziert können vier Grundtypen solcher Vereine unterschieden werden: 1. diejenigen mit primär religiös-evangelistischer oder kirchenpolitischer Zielsetzung, 2. Zusammenschlüsse zur Ausübung und Förderung kirchlicher Sozialarbeit, 3. berufsständische Vertretungen und 4.evangelische Frauen-, Männer- und Jugendverbände mit zum Teil unspezifiziertem Vereinszweck. All diese Gruppen operierten sowohl in Anlehnung an die einzelnen Kirchengemeinden als auch überregional und unterhielten enge Beziehungen zur Spitze der verfaßten Kirche. Die Verbände repräsentierten das protestantische ,Laienelement' und nahmen mit wachsender Größe einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf ,Amtskirche' und Kirchenvolk, was angesichts ihrer Mitgliederzahl, die - um nur ein Beispiel zu nennen - allein beim Evangelischen Bund 1914 mehr als 500.000 betrug, nur zu verständlich war. Sie wurden deshalb in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext häufig mit dem Protestantismus und seinem (kirchen-)politischen Wollen bzw. Handeln schlechthin identifiziert. Während das Vereinswesen als neuartiges Phänomen des bürgerlichen Lebens im 19. Jahrhundert zunehmend das Interesse der historischen Forschung auf sich zieht, fehlen vergleichbare systematisierende Studien für die Zeit zwischen 1918 und 1945. Zwar existieren inzwischen zahlreiche Einzelmonographien zum bürgerlichen oder sozialistischen Vereinswesen auch für diese Zeit. Jedoch bildeten die Verbände des frühen 20. Jahrhunderts nur einen Ausschnitt aus jener Vielzahl heterogener Gruppierungen wie herkömmlicher Vereine, Parteien und geistig-politischer Strömungen bzw. Bewegungen, die den Emanzipationsanspruch 1

Eine veränderte und gekürzte Fassung dieser Einleitung erschien 1987 in der Zeitschrift „Pastoraltheologie" unter dem Titel „Zur Geschichte des Verbandsprotestantismus im 20. Jahrhundert. Das Beispiel der Inneren Mission 1914-1945".

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Einleitung

ihrer jeweiligen Klientel in der Öffentlichkeit vertraten. Darum mußten solche prägenden politisch-sozialen Impulse, wie sie die Vereinsbewegung des W.Jahrhunderts als neuartige gesellschaftliche Kraft jener Zeit hervorbrachte, jetzt mehr und mehr ausbleiben, was ihre Attraktivität als Gegenstand historischsystematischen Interesses reduziert haben dürfte. 2 - Bei den bisher vorliegenden Arbeiten zur Organisationsgeschichte von Vereinen in der Weimarer Republik finden sich noch immer auffallige Lücken: So gibt es derzeit nur wenige, modernen sozialgeschichtlichen Ansprüchen genügende Analysen zu den Verbänden des konfessionellen Spektrums. 3 U m diese aber, mit Schwerpunkt auf den Organisationen des kirchlicher Sozialarbeit verpflichteten Verbandsprotestantismus, soll es im folgenden gehen. Sofern Kirchenhistoriker überhaupt darauf aufmerksam wurden, blieb der Gegenstand bis heute weitgehend ihnen überlassen; die Allgemeingeschichte hat seit vielen Jahren mit einer gewissen Hartnäckigkeit konfessionelle und konfessionspolitische Fragestellungen ausgeklammert, und auch die Vorstellungen Wolfgang Schieders von einer neuen Religionsgeschichte als Sozialgeschichte schließen die Verbände ursprünglich nicht mit ein. 4 Während der Entwicklung der verfaßten Kirchen seit 1918 bis in den Kirchenkampf hinein immer wieder die ihnen unstrittig gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde, blieben die

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Thomas Nipperdey, „Verein als soziale Struktur im späten 18.und frühen ^.Jahrhundert". Dazu jetzt auch Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, und das von Dieter Fricke herausgegebene,Lexikon zur Parteiengeschichte 1789-1945', 4 Bde., Leipzig 1983-86. Diese These gilt nur mit Einschränkungen für die Verbandsgeschichte katholischer Provenienz. Hierzu legte die Kommission für Zeitgeschichte in den vergangenen Jahren wichtige Studien vor. - Auch die jüngste Neuerscheinung zum Thema (evangelische),Kirche und soziale Frage' geht auf den (sozialen) Verbandsprotestantismus mit Ausnahme des Ev.-Sozialen Kongresses und der Freien kirchlich-sozialen Konferenz, die ohnehin nur mit Einschränkungen dazuzurechnen sind, nicht ein; cf. E. I. Kouri, Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage. Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, hg. von Wolfgang Schieder. Vgl. darin bes. ders., „Religionsgeschichte als Sozialgeschichte. Einleitende Bemerkungen zur Forschungsproblematik", 291 -298; ferner ders., „Kirchengeschichte aus der Sicht des Historikers", in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 146 v. 27. VI. 1980.- Kritisch zu diesem reduktionistischen Verständnis von Religionsgeschichte, das die Geschichte der verfaßten Kirche und ihrer Untergliederungen ausdrücklich ausklammert: Rudolf v.Thadden, „Kirchengeschichte als Gesellschaftsgeschichte", in: GG 9.1983,598-614. - Inzwischen hat Schieder seine Auffassung jedoch modifiziert und will nun auch die verfaßten Kirchen und ihre Untergliederungen einbezogen wissen; vgl. seinen Beitrag „Religion in der Sozialgeschichte", in: Ders./Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. III, 9-31. Zum Verhältnis von Religions- bzw. Kirchengeschichte und Allgemeingeschichte s.a. Michael Klöcker/Ferdinand Magen, Zur Erforschung der Kirchen- und Religionsgeschichte, 38 ff. u. pass., und den Bericht des Vf., „Der Verbandsprotestantismus als Problem der neueren Forschung".

Einleitung

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protestantischen Vereinsgruppierungen weitgehend ohne Berücksichtigung. 5 Doch haben weder Landeskirchen noch Episkopate bis hin zu ihren Zusammenschlüssen im Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß bzw. in der Fuldaer oder Bayerischen Bischofskonferenz allein die spirituellen und gesellschaftspolitischen Vorstellungen ihrer jeweiligen Klientel geprägt. Dies war realiter auch Leistung der konfessionellen Verbände, deren schon zahlenmäßige Repräsentanz die geringe Aufmerksamkeit keineswegs rechtfertigt, die ihnen bisher zuteil wurde. Freilich wird an sie die gleiche Frage zu richten sein wie etwa an die mitgliederstarken Subsysteme der Arbeiterbewegung, ob sie nämlich eine Außenwirkung entfalteten, die über das eigene Mitgliederpotential hinausreichte, oder ob sie - freiwillig oder nicht - innerhalb jener Grenzen verharrten, die ihnen ihr Organisationsstatut bzw. der Vereinszweck zuwiesen. Viele Fragen nach der Bedeutung dieser Verbände für Kirche und Gesellschaft sind noch ungeklärt und können hier nur angedeutet werden: Wie steht es mit dem Verhältnis von Verbandswesen und Säkularisierung? Gelang es dem freien Protestantismus, den Prozeß def Entkirchlichung zu verzögern? Haben die Organisationen ihr starkes Wachstum bis 1914 und ihr gesellschaftspolitisches Gewicht in der Zwischenkriegsperiode in der Hauptsache bestimmten religiösen Interessenlagen zu verdanken, oder sind die gleichen sozialgeschichtlichen Voraussetzungen dafür ausschlaggebend, wie sie auch für die Entstehung sonstiger, nichtkirchlicher Verbände gelten? Inwieweit sind sie mitverantwortlich für die konservative und antirepublikanische Staatsgesinnung des deutschen Protestantismus nach 1918 und seine Anfälligkeit für den Nationalsozialismus? Fungierten protestantische Gruppierungen ebenfalls als politische Pressure groups, und - soweit dies der Fall war - wie erfolgreich suchten sie auf die Gesetzgebung einzuwirken? Schließlich: Welchen Einfluß übten die evangelischen Organisationen auf ihre Landeskirchen aus? Hatten sie Anteil an Vorformen eines innerkirchlichen Demokratisierungsprozesses, wie er mit der Einführung des Synodalprinzips begann? - Diese Fragen und andere mehr gilt es zu beantworten. Voraussetzung dafür wird in allen Fällen die sorgfältige Aufbereitung der einzelnen Verbandsgeschichten sein, ohne die Spezifika des unterschiedlichen Vereinsspektrums nicht zu erfassen sind. Wie schon angemerkt, hat die Geschichte der protestantischen Vereine - anders als einzelne Ausformungen des Verbandskatholizismus - in der kirchengeschichtlichen Forschung bisher so gut wie keine Berücksichtigung gefunden. Eine 1960 erschienene Aufsatzreihe über den „Verein als Lebensform der Kirche" griff das Thema erstmals auf, hat aber in den folgenden Jahren kaum

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Vgl. die Arbeiten von Jochen Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik, Kurt Meier, Der Evangelische Kirchenkampf, Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1.

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Einleitung

jemanden dazu angeregt, sich damit näher auseinanderzusetzen. 6 Immerhin existieren von einigen wenigen Organisationen Selbstdarstellungen bzw. Auftragsarbeiten aus der Vorkriegszeit, die jedoch häufig als Fest- und Jubiläumsschriften mit einem notgedrungen hohen Maß an Parteilichkeit konzipiert wurden. Kein Wunder, daß - anders als der Begriff des Verbandskatholizismus - das protestantische Pendant als Terminus technicus nicht existiert.7 Darin drückt sich der gleiche Mangel aus wie im Fehlen einer klar umrissenen Vorstellung von dem, was man in Anlehnung an den politischen Katholizismus als politischen Protestantismus bezeichnen könnte, für dessen historische Zuordnung Heinz Gollwitzer erst in jüngster Zeit Vorschläge gemacht hat. 8 Um welche Vereine handelt es sich im evangelischen Raum überhaupt? Die meist heute noch bestehenden Großgruppierungen sind rasch aufgezählt: das 1832 gegründete Diasporahilfswerk des deutschen Protestantismus - der Gustav-Adolf-Verein -, der 1886 von enttäuschten Kulturkampfanhängern gebildete Evangelische Bund, zahlreiche Frauen-, Männer- und Jugendbünde, dazu berufsständische Organisationen wie die Ev. Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine und viele mehr, auf die hier nicht einzugehen ist; schließlich der 1848/49 auf Anregung Wicherns ins Leben gerufene Centraiausschuß für Innere Mission. Spielten neben dem volksmissionarischen vor allem der konfessionsgegnerische Aspekt sowie die Förderung der evangelischen Diaspora bei GustavAdolf-Verein und Ev. Bund bis 1945 eine zentrale Rolle, so nahmen die berufsständischen Gruppierungen spezifische Interessen ihrer Mitglieder wahr, während die Frauen-, Männer- und Jugendverbände - mit Ausnahmen - vornehmlich zur Unterstützung der Geistlichen und ihrer Arbeit in den Kirchengemeinden gedacht waren. Der Centraiausschuß für Innere Mission unterschied sich von den zuvor genannten Organisationen durch seine von Beginn an klare Zweiteilung der

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„Der Verein als Lebensform der Kirche", in: IM 50.1960, 225-267. Der Zyklus enthält beachtenswerte Beiträge von Werner Conze, Erich Beyreuther, Karl Kupisch, Bodo Heyne und Hans-Christoph von Hase. Vgl. etwa Hermann Wolfgang Beyer, Die Geschichte des Gustav-Adolf-Vereins in ihren kirchlichen und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, und Fritz von der Heydt, Gute Wehr. Werden, Wirken und Wollen des Evangelischen Bundes. Zum Verbandskatholizismus s. Karl Buchheim, „Der deutsche Verbandskatholizismus. Eine Skizze seiner Geschichte", und Heinrich Krauss/Heinrich Ostermann (Hg.), Verbandskatholizismus? Verbände - Organisationen - Gruppen im deutschen Katholizismus. Vorüberlegungen zu einer Geschichte des politischen Protestantismus nach dem konfessionellen Zeitalter. S.a. Günther van Norden, „Politischer Protestantismus in Deutschland", in: NPL 1.1978, 3 4 - 4 5 . - Zum politischen Katholizismus vgl. Michael Klöcker, „Der Politische Katholizismus. Versuch einer Neuorientierung", in: Zeitschr. f. Politik 18.1971,124-130, und - in Anlehnung an ihn - Doris Kaufmann, Katholisches Milieu in Münster 1928-1933,14f. u. pass.

Einleitung

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Aufgaben: Religiöse Erneuerung durch Volksmission,9 gekoppelt mit praktischer Sozialarbeit zur Rettung der bürgerlichen Gesellschaft, bildeten sein Vereinsziel, womit der hohe Politisierungsgrad dieser nicht eigentlich als Organisation in engerem Sinne zu bezeichnenden Vereinigung schon angedeutet sein mag. Der Berliner Centraiausschuß, dem in der Gründungsphase nach 1848 prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Moritz August von Bethmann Hollweg, Heinrich von Mühler oder Friedrich Julius Stahl angehörten, fungierte vielmehr als Tableau für zahlreiche wohlfahrtspflegerische Aktivitäten des deutschen Protestantismus, die von dieser Zentralstelle her Anregungen und Leitlinien empfingen, ohne daran jedoch gebunden zu sein. Nach Art einer Honoratiorenversammlung ohne fest umrissene Kompetenzen repräsentierte der Centraiausschuß bis 1918 die im zeitgenössischen Sprachgebrauch so genannten Werke ,evangelischer Liebestätigkeit' in der Öffentlichkeit, d.h. gegenüber den Landeskirchen und dem Staat. Erst allmählich entstanden dann überall Landesund Provinzialvereine für Innere Mission mit einem Pfarrer als Geschäftsführer an der Spitze. In lockerer Verbindung zum Berliner Centraiausschuß koordinierten sie die Arbeit ihrer Einrichtungen und sorgten durch die Anstellung von Reisepredigern für die Förderung des evangelisch-volksmissionarischen Anliegens in ihrem Regionalbereich. Die Innere Mission als ,sozialer Konzern' des evangelischen Deutschland entfaltete ihre Wirksamkeit also im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft. Einerseits bildete sie de facto den Leitverband des freien Protestantismus, fast ohne institutionalisierte Abhängigkeit von der kirchlichen ,Hierarchie', andererseits konnte sie ihre Arbeit nicht wie andere, konfessionell unabhängige Wohlfahrtsorganisationen tun. Im Hintergrund ihres Engagements standen nicht humanitär-philanthropische Motive, sondern seit ihrer Gründung der doppelte Auftrag, durch volksmissionarisches und karitatives Handeln die sozialen Schäden der Industrialisierung zu heilen. Um ein mögliches Mißverständnis vorab auszuräumen: Wichern und seine Freunde gingen zwar von der Besorgnis über die sozialen und moralischen Schäden im Gefolge von Binnenmigration und Frühindustrialisierung aus; sie identifizierten indessen die soziale Frage nicht mit der .Arbeiterfrage', sondern mit den Erscheinungen des vormärzlichen Pauperismus und nahmen in allgemeinerem Sinne die Herausforderungen durch Armut, Krankheit und den Verlust religiöser Bindungen in den Aufgabenbereich der Inneren Mission mit hinein. Die betroffenen Unterschichten wollten sie auf diese Weise in die bürgerliche Gesellschaft integrieren und damit ihre wachsende Entfremdung von Religion und Kirchen überwinden. Der sozialistischen Arbeiterbewegung den Wurzelboden zu entziehen und einer Christianisierung 9

Der Begriff, Volksmission' ist jünger und wurde 1916/17 von dem Rostocker Theologen Gerhard Hilbert gesprägt. Vgl. den Art. ,V.' von Hilbert in RGG 2 V, 1677 -1680, und Martin Gerhardt, Volksmission im Geiste Wicherns, 4.

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Einleitung

der glaubenslosen Massen vorzuarbeiten, war Wicherns erklärtes Ziel gewesen. Traten solche Forderungen auch expressis verbis nach 1918 zurück - der Centraiausschuß verstand die soziale Frage noch immer nicht vorrangig als Arbeiterfrage - , so blieben sie doch als Folie der politischen Weltsicht der Führer des Centraiausschusses bis 1933 und darüber hinaus bestehen. Nach diesem knappen Umriß des Wichernschen Verständnisses evangelischer Liebestätigkeit ist zu ergänzen, wie es zu der Bezeichnung ,Innere Mission' kam. Wichern selbst äußerte sich darüber auf dem Stuttgarter Kirchentag 1857: Er hatte sich in der Anfangszeit des Rauhen Hauses bemüht, diesem auch eine Ausbildungsanstalt für //«¿e«missionare anzuschließen; sein Antrag war indessen von dem Förderer- und Trägerkreis der Einrichtung mit Hinweis darauf abgelehnt worden, es gebe genügend Rettungsaufgaben „innerhalb der Christenheit", die es anzufassen gelte. Dem folgte Wichern: „In der Behauptung des Rechts einer Missionsarbeit innerhalb der Christenheit gegenüber der Mission außerhalb derselben bildete sich der Name der innern Mission, der im Rauhen Haus aus dem Leben heraus entstanden und gebraucht war, noch ehe ihn jemand außerhalb desselben genannt hatte." 10 Schon der ältere Name inländische Mission', der beispielsweise Johannes Falk und Christian Heinrich Zeller von ihrer Erziehungsarbeit her vertraut und auch dem Kaiserswerther Diakonissenpfarrer Theodor Fliedner geläufig war, wies auf das Missionsmotiv hin.11 Auch die wissenschaftliche Theologie trug zur Begriffsbildung ,Innere Mission' bei. 1843 veröffentlichte der Göttinger Hochschullehrer Friedrich Lücke eine kleine Schrift über „Die zwiefache innere und äußere Mission der Evangelischen Kirche", deren Herstellung Druckerei und Verlag des Rauhen Hauses übernahmen. Wichern hatte in Göttingen noch bei Lücke studiert und fühlte sich von dessen Broschüre darin bestärkt, den Terminus,Innere Mission' fortan für alle Bereiche christlicher Liebestätigkeit anzuwenden. 12 Seit 1843 benutzte er den Begriff in der Öffentlichkeit, der sich innerhalb des deutschen Protestantismus und darüber hinaus in der Folgezeit rasch durchsetzte und über 120 Jahre lang in Kraft blieb, bis ihn Mitte der 1960er Jahre nach dem schon früher erfolgten Zusammenschluß mit dem Evangelischen Hilfswerk die neue Bezeichnung ,Diakonisches Werk' zu verdrängen begann. 13 10

„Zwölf Thesen über die innere Mission als Aufgabe der Kirche innerhalb der Christenheit. Einleitung und Schlußwort zu derselben vor dem Kirchentag in Stuttgart", in: SW I I I / l , 195-215.291-295, bes.210-212. " Martin Gerhardt, s.Anm. 15, Bd. I, 42-44, und Friedrich Mahling, Die Innere Mission, 9-29. 12 Lücke verstand unter,IM' freilich die geistliche Erneuerung,kranker' Kirchen wie derjenigen in Griechenland, Abessinien oder Armenien, die jede Missionskraft verloren hatten, und trat für die Schaffung einer Auslandsevangelisation der deutschen Landeskirchen unter diesen von innen her gefährdeten christlichen Gemeinschaften ein. Vgl. die gen. Schrift und Helmut Talazko, „Johann Hinrich Wichern", 53 f. 13 Vgl. Helmut Talazko, „Die Geschichte eines Namens. Innere Mission und Hilfswerk".

Einleitung

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Die Geschichtsschreibung der Inneren Mission ist untrennbar mit dem Namen des Theologen und Historikers Martin Gerhardt verbunden, der in den 1920er/ 30er Jahren die Archive des Rauhen Hauses in Hamburg-Horn und der Diakonissenanstalt Kaiserswerth ordnete, in denen die Nachlässe des Begründers der Inneren Mission, Johann Hinrich Wichern, und des Diakonissenpfarrers Theodor Fliedner aufbewahrt werden. Gerhardt legte als Ertrag seiner Arbeit u.a. eine Wichern- und eine Fliednerbiographie vor,14 bis er 1938 zum Ordinarius für Kirchengeschichte nach Göttingen berufen wurde. Nach 1945 verlor er im Zuge der Entnazifizierung zunächst seinen Lehrstuhl und verfaßte als Auftragsarbeit des Centraiausschusses, der ihn dabei zu mancherlei Zugeständnissen nötigte, sein zweibändiges, noch heute unentbehrliches Werk über die Entwicklung dieses Leitungsgremiums der Inneren Mission bis zum Jubiläumsjahr 1948.15 Von seinem Forschungsschwerpunkt her verständlich, liegt der Hauptakzent der imponierenden Studie freilich auf den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, wenngleich Weimarer Republik und Drittes Reich nicht ausgespart werden. Deutlich arbeitet er im zweiten Band heraus, wie sich nach der Revolution mit ihrer Brechung des Thron-und-Altar-Verhältnisses gerade die Innere Mission zu jener Dachorganisation des deutschen Verbandsprotestantismus entwickelte, die sie als Forschungsgegenstand so interessant macht: Die meisten reichsweit tätigen evangelischen Vereine nämlich schlössen sich ihr assoziativ an, und dies nicht nur, wenn sie ebenfalls wohlfahrtspflegerische Sonderzwecke verfolgten, sondern auch aus kirchenpolitischen Erwägungen. Hatte schon Wichern in der Inneren Mission die ansatzweise Verwirklichung des unitarischen Gedankens, d.h. die Vorform eines reichskirchlichen Zusammenschlusses aller Landeskirchen gesehen, 16 so gewann dieser Aspekt durch das Kriegserlebnis wieder an Bedeutung. Mit der Gründung der wenig bekannten .Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen' (KDEAO) 1916 versuchten führende Vertreter der Inneren Mission mit den ihr besonders eng verbundenen ,modern-positiven' Theologen Friedrich Mahling und Reinhold Seeberg an der Spitze, ihren Verbänden für die Zeit nach Kriegsende ein Mitspracherecht bei dem erwarteten Verfassungsneubau der Landeskirchen zu sichern. Die Kirchentage der Weima-

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M. Gerhardt, Johann Hinrich Wichern; ders., Theodor Fliedner. Ein Lebensbild. Nach dem Kriege folgte noch der erste Band einer großen Bodelschwinghbiographie, die Gerhardt jedoch nicht mehr vollenden konnte: Ders./Alfred Adam, Friedrich von Bodelschwingh. Ein Lebensbild aus der deutschen Kirchengeschichte. Ein Jahrhundert Innere Mission. Die Geschichte des Centrai-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Bd. I u. II. Hans-Walter Krumwiede, „Die Unionswirkung der freien evangelischen Vereine und Werke als soziales Phänomen des 19. Jahrhunderts", und Helmut Talazko, „Einheit für den Dienst", in: IM 63.1973,347-365. Vgl. a. Martin Gerhardt, „Zur Vorgeschichte der Reichskirche". Gerhardts Überblick ist allerdings nicht frei von den legitimatorischen Bedürfnissen einer deutsch-christlich geprägten Reichskirchen-Ideologie.

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rer Republik, das synodale Forum des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses (DEKA) und mit heutigen Kirchentagen als Laienbewegung nicht zu vergleichen, sind eine Gemeinschaftsleistung des DEKA und dieser von allen Verbänden beschickten Arbeitskonferenz unter Führung der Inneren Mission und ihres Centraiausschusses. Wer sich mit der Inneren Mission beschäftigt, hat es also mutatis mutandis mit dem gesamten Spektrum des protestantischen Verbandswesens zu tun. Ungeachtet notwendiger Differenzierungen können die Ergebnisse der Forschung zu diesem Thema deshalb in bestimmten Grenzen Allgemeingültigkeit beanspruchen, was um so bedeutsamer ist, als die Quellen zu den einzelnen Organisationen in unterschiedlicher Qualität und Dichte überliefert sind. Die Innere Mission hat sich von jeher bemüht, die Vielzahl ihrer karitativen Arbeitsfelder wissenschaftlich zu begleiten und zu dokumentieren. Davon zeugen die frühzeitige Einrichtung einer der bedeutendsten fachwissenschaftlichen Bibliotheken, eines Archivs, das inzwischen wertvolle Bestände verwaltet,17 sowie die Gründung eines ,Instituts für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission' 1927 an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, das nach seiner zwangsweisen Auflösung Mitte der 1930 er Jahre nach dem Krieg - in wenngleich anderen Formen - in Heidelberg neubegründet wurde. Die vorliegende Darstellung beruht überwiegend auf der Auswertung von Archivalien; zeitgenössische Zeitschriften, Broschüren und Selbstzeugnisse der Inneren Mission in sonstiger Form wurden ebenfalls herangezogen. Als wichtigste Fundorte des ungedruckten Materials erwiesen sich das Archiv des Diakonischen Werkes der EKD in Berlin-Dahlem (ADW) und das Evangelische Zentralarchiv in Berlin-Charlottenburg (EZA), welches die Bestände des ehemaligen preußischen Evangelischen Oberkirchenrats sowie diejenigen der Eisenacher Konferenzen und des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses aufbewahrt. Bedeutsames ergänzendes Material lagert im Düsseldorfer Archiv des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche im Rheinland (ADWDü) sowie im Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel (HAvBA). Schließlich ist vor anderen Fundstellen noch das Archiv des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg zu nennen (ADCV), dessen Überlieferung im Bereich der Wohlfahrtspflege zahlreiche parallele und ergänzende Quellen zu denen des ADW enthält. Sämtliche bisher genannten Institutionen blieben vor Kriegsverlusten weitgehend verschont; da sie zudem - abgesehen von bestimmten Zweigen 17

Zur Quellenlage hat sich bereits Gerhardt vor dem Krieg mehrfach geäußert; vgl. ders., „Die Organisation eines Archivwesens für die gesamte Innere Mission", in: IM 24.1929, 284-288 ; ders., „Hauptaufgaben einer Geschichtsforschung der Inneren Mission", in : IM 27.1932, 281-291 ; ders., „Archive der Inneren Mission in ihrer Bedeutung für die neuere deutsche Kirchengeschichtsforschung", in: IM 33.1939,261 -274; ders., „Zur Einrichtung von Archiven", in: IM 24.1929,195-198.- S.a. Helmut Talazko, „Das Archivgut der Diakonischen Werke der Gliedkirchen der EKD".

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der Fachforschung - von der allgemeinhistorischen Zunft noch kaum genutzt werden, erschließt sich dem Interessenten hier wertvolles Material, dessen Auswertung er häufig als erster in Angriff nehmen kann. So wurden die in den drei Hauptteilen dieser Arbeit vorzustellenden, oft über mehr als 20 Jahre laufenden Serienprotokolle der Sitzungen der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen von 1916-1933, der Geschäftsführerkonferenzen der Provinzialund Landesverbände der Inneren Mission zwischen 1917 und 1941, die Verhandlungsniederschriften der Liga-(Präsidiums-)Sitzungen von den 20er Jahren bis in den Krieg hinein oder diejenigen des Eugenetischen Ausschusses bzw. des Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege der Inneren Mission zwischen 1930 und 1938 erstmals in dieser Breite herangezogen. Hinzu treten Sachakten der Kirchenbehörden und des Centraiausschusses, zahlreiche Korrespondenzen zwischen den Direktoren der Inneren Mission in Berlin, den Verantwortlichen in den Provinzial- und Landesverbänden und einflußreichen Kirchenführern der Landeskirchen, des Kirchenbundes und der späteren Reichskirche. Die Fülle dieses Materials, das mit Zeugnissen aus anderen, hier nicht genannten Archiven angereichert werden konnte, läßt es verschmerzen, daß der Verfasser zum Zentralen Staatsarchiv der DDR mit seinen beiden Abteilungen Merseburg und Potsdam erst nach Fertigstellung des Manuskripts Zugang erhielt. Die Akten der Kirchenabteilung im preußischen Kultusministerium unter Ministerialdirektor Trendelenburg sowie jene des Reichskirchenministers Kerrl enthalten aber in der Regel nur ergänzende Informationen, da die Forschung wegen des Eigenschriftguts der Inneren Mission auf die Nutzung von Gegenüberlieferungen nur an marginalen Punkten angewiesen ist.18 Dazu gehören bestimmte Gesprächsnachschriften zwischen Ministerialbeamten und Vertretern der freien Wohlfahrtspflege in den preußischen bzw. Reichsministerien der Justiz, des Inneren und dem Reichsarbeitsministerium vor allem aus der Zeit nach 1933, auf deren Einbeziehung verzichtet werden mußte. Informelle, gleichwohl unaufgebbare Bindungen an die evangelischen Landeskirchen sowie die sich an Sachnotwendigkeiten orientierende gesellschaftliche Praxis christlicher Liebestätigkeit legen es nahe, die Innere Mission einerseits in ihrem Verhältnis zur verfaßten Kirche, andererseits unter dem Gesichtspunkt ihrer Einbindung in Staat und Gesellschaft zu betrachten. Ein Blick auf den ersten Komplex offenbart rasch gravierende Spannungen zwischen Innerer Mission und Kirche, weil sich letztere in ihren sozialpolitischen Absichten nicht immer von der Inneren Mission angemessen vertreten sah, auch wohl fürchtete, diese könne als Zweig des freien Protestantismus zu anderen gesellschaftspoliti-

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Diese Vermutung hat sich nach Durchsicht der in der D D R befindlichen Bestände inzwischen bestätigt.

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sehen Optionen kommen als die Kirchenleitungen. 19 - Machtfragen spielten eine Rolle, vor allem, als die Innere Mission und andere Gruppierungen mit der Gründung der erwähnten ,Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen' mitten im Weltkrieg begannen, aktive Kirchenpolitik auf der Basis neuaufgegriffener unitarischer Vorstellungen zu machen, die aus partikularistischen, in erster Linie aber konfessionellen Gründen auf Ablehnung und Kritik stießen. Ohnehin standen die Verbände stets in dem Verdacht, bis zu einem gewissen Grade bekenntnisindifferent zu sein, unionistische, lutherische und reformierte Spezifika zu einem dem Vereinszweck untergeordneten ,Einheitsbrei' zu vermischen und damit die Wesensmerkmale vor allem des (Neu-)Luthertums aufzugeben. - Blieben die von der religiösen Emphase der ersten Kriegsjahre stimulierten Forderungen nach Schaffung einer Reichskirche auch erfolglos, so gelang es der Konferenz jedoch, bei Einberufung der Kirchentage eine Vertretung der Verbände innerhalb dieses gesamtprotestantischen Forums durchzusetzen. So wird offensichtlich, daß Kooperation und einvernehmliche Abgrenzung der Aufgabenbereiche nicht die Regel waren; vorsichtiges Neben-, manchmal auch dezidiertes Gegeneinander einer immer selbstbewußter werdenden evangelischen Vereinskultur und einer nach 1918 zeitweise schwächeren ,Amtskirche' prägten diese Beziehung. Als die Reichskirche 1933 unter ganz anderen kirchenpolitischen Rahmenbedingungen verwirklicht wurde, hatten die Verbände daran keinen Anteil. Überwiegend begrüßten sie die Entwicklung, aber ihren Vorstellungen von einer Vertretung des Gesamtprotestantismus entsprach diese Reichskirche ,von oben' nicht. Das wirft die grundsätzliche Frage nach dem Verhalten des Verbandsprotestantismus im Kirchenkampf auf: Kam es hier zu ähnlichen Entwicklungen wie in der Reichskirche oder schlugen die Verbände eine andere Richtung ein? Die Kirchenkampfforschung hat zu dieser Frage, die einen wesentlichen Teil des organisierten Protestantismus nach 1933 betrifft, bisher nicht Stellung bezogen. Zeigte der letzte Abschnitt eine enge, wenn auch zu Zeiten spannungsreiche Verbindung von kirchlichen und Verbandsinteressen, auf die man seitens der Inneren Mission Rücksichten zu nehmen hatte, so wird anhand des folgenden Beispiels deutlich, daß es auch Bereiche gab, in denen der Centraiausschuß in großer Unabhängigkeit von der Kirche agierte und seinen gesellschaftlichen Auftrag in eigener Verantwortung wahrnahm. Dies trifft vor allem für seine Mitarbeit in den großen Zusammenschlüssen der freien Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik zu. Die durch den Krieg und seine politischen Folgen notwendig gewordene Umstellung des Wohlfahrtswesens von einer auf dem Verschuldensprinzip aufbauenden und nach polizeilichen Gesichtspunkten organi-

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Zur Erörterung und Klärung von strittigen Fragen wurde seit 1924 die Einsetzung eines ,Verständigungsausschusses' aus Vertretern des D E K A und der Inneren Mission erwogen, der sich jedoch erst 1927 konstituierte; EZA, E K D A 2 / 2 0 2 .

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sierten Armenpflege zu einer leistungsfähigen Sozialfürsorge, die ohne Ansehen der Person dem anschwellenden Strom der Unterstützungsempfänger gewachsen war, hatte auch den freien Trägern neue Tätigkeitsfelder zugewiesen. 20 Dies geschah, obwohl es anfangs nach Staatseingriffen in die Kriegswohlfahrtspflege und 1 9 1 8 / 1 9 wegen unbestimmter Gerüchte über eine bevorstehende radikale Kommunalisierung bzw. Verstaatlichung aller privaten Einrichtungen so aussah, als sei die Zeit der freien Wohlfahrtspflege vorbei. Die Weimarer Koalition, in deren Händen das federführende neugeschaffene Reichsarbeitsministerium mehr als dreizehn Jahre lang blieb, bestätigte solche Befürchtungen jedoch nicht, sondern erschloß mit der Durchsetzung des der katholischen Soziallehre entlehnten Subsidiaritätsprinzips den freien Verbänden ungeahnte neue Wirkungsfelder. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und die Fürsorgepflichtverordnung mit den ,Reichsgrundsätzen' schrieben die Gleichrangigkeit von öffentlichen und privaten Trägern fest und untersagten es vor allem den Kommunen, ohne Abstimmung mit letzteren neue Einrichtungen zu schaffen oder vorhandene in eigene Regie zu übernehmen. 21 Um die durch die Gesetzgebung eröffneten Chancen effizient wahrzunehmen und gleichzeitig Behörden und Regierungen gegenüber mit einer Stimme aufzutreten, gründeten die Verbände der freien Wohlfahrtspflege eine Dachorganisation, die spätere ,Liga der freien Wohlfahrtspflege', in der Innere Mission, Deutscher Caritasverband, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, der sogenannte Fünfte Wohlfahrtsverband, einige kleinere Vereinigungen und schließlich auch das Deutsche Rote Kreuz paritätisch zusammenarbeiteten. Die Arbeiterwohlfahrt verzichtete auf eine Mitgliedschaft: Sie fand ihre natürlichen Bündnispartner in den großen Kommunen mit ihren sozialdemokratischen Mehrheiten und betrachtete den Einfluß besonders der konfessionellen Verbände auf das Wohlfahrtswesen mit anhaltendem Mißtrauen. Antireligiöse Ressentiments und die Erfahrung einer paternalistisch organisierten Armenpflege im Kaiserreich, die den Betroffenen selbst die Schuld für ihre Lage zugewiesen hatte und oftmals mit einer von oben herab ausgeübten, .mitleidsvoll gewährten' Privatwohltätigkeit verbunden war, dürften hier nachgewirkt haben. - Im Laufe der Jahre drängte die Liga andere, bisher auf dem Sektor Wohlfahrtspflege einflußreiche, jedoch in erster Linie theoretisch arbeitende Gruppierungen wie den ,Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge' zurück und etablierte sich auf den ,Sprechtagen' des Reichsarbeitsministeriums als allein maßgebliche Vertretung der freien Wohlfahrtspflege im Reich. Das durch den langjährigen Arbeitsminister und Priester Heinrich

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Zur Entwicklung der Armenpflege vgl. Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Annenfürsorge in Deutschland, und Rolf Landwehr/Rüdeger Baron (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit, schließlich Rudolph Bauer (Hg.), Die liebe Not. Zur historischen Kontinuität der,Freien Wohlfahrtspflege'. RGBl. 1922 1,633, und 1 9 2 4 1 , 1 0 1 . 7 6 5 .

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Brauns und katholische Spitzenbeamte wie Erwin Ritter und Julia Dünner geprägte Ministerium sicherte dem Deutschen Caritasverband eine gewisse Vorrangstellung unter den Verbänden, was aber durch Person und Vermittlungskunst des Liga-Generalsekretärs Gotthilf Vöhringer, eines evangelischen Theologen aus Württemberg, und den Nutzen, den auch die evangelische Sozialarbeit aus diesen guten offiziellen wie privaten Kontakten der Caritas zog, größtenteils wieder ausgeglichen wurde. Die innere Ferne zur demokratischen Staatsform, die weithin das politische Bewußtsein der führenden Männer der Inneren Mission bestimmte, konnte auf diese Weise durch die Jahre der Republik hindurch aufrechterhalten werden, ohne daß man auf die mannigfaltigen Vorteile der Weimarer Gesetzgebung für die konfessionellen Träger verzichten mußte. Als 1933 die Auseinandersetzungen mit der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) begannen und die Liga zwangsweise auf die Mitgliedschaft von Innerer Mission, Deutschem Caritasverband, Deutschem Rotem Kreuz und Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt selbst reduziert wurde, übernahmen die Vertreter des Centraiausschusses die informelle Führung der Altverbände in den Verhandlungen mit der NSV, während die Caritas - verursacht durch die vorsichtige Distanzierung des deutschen Episkopats vom Dritten Reich und die kompromißlose Ablehnung der neuen ,rassehygienischen' Gesetze - an Einfluß verlor. Anpassungsbereitschaft kennzeichnet überhaupt die Haltung der Inneren Mission in den Jahren 1933-1945. Erst unter dem wachsenden Druck des Regimes, das nach dem Grundsatz ,die Gesunden für uns, die (unheilbar) Kranken für die konfessionellen Träger' Wohlfahrtspolitik unter primär völkisch-rassistischen Maximen betrieb, näherten sich Innere Mission und Caritas langsam wieder an. Anders als im Kaiserreich erhielt die freie Wohlfahrtspflege zur Erfüllung der von ihr wahrgenommenen öffentlichen Aufgaben nach 1918 regelmäßig erhebliche Zuwendungen, während die traditionelle Eigenfinanzierung durch Spenden etc. auf Grund von Kriegsfolgelasten und Inflation stark zurückging. Das hatte einen beispiellosen Investitionsboom auch bei der Inneren Mission zur Folge, der in Verbindung mit dem Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsbeamtentums in den Augen vieler Kritiker zur ,Vertrustung' der Fürsorge beitrug. Durch die zunehmende Professionalisierung entstand eine einflußreiche Wohlfahrtsbürokratie auch auf privatem Sektor, die in enger Anlehnung an Staat und Kommunen öffentlich tätig war, aber je länger je mehr ihre Flexibilität einbüßte. Bald nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise schien der Wohlfahrtsstaat Weimarer Prägung nicht mehr bezahlbar. Der zusätzliche Verlust an Beweglichkeit und Innovationspotential durch die ,Konzernbildung' der freien Wohlfahrtspflege ließ diese in eine schwerwiegende Identitäts- und Legitimationskrise geraten. An diesem Punkt kam die Schaffung des Massenhilfswerks,Volkshilfe in Volksnot', der sogenannten Winterhilfe, gerade recht, um über seinen unmittelbaren Nutzen für die betroffenen Menschen hinaus unvermindert Dynamik, Ideen-

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reichtum und damit Unersetzlichkeit der freien Wohlfahrtspflege zu demonstrieren. Der Appell an den Opfersinn der Bevölkerung sollte die Volksgemeinschaft festigen und den seitens der Reichsregierung für den schlimmsten Fall befürchteten Hungerunruhen den Boden entziehen. Diese Grundideen der Winterhilfe erwiesen sich als richtig; das zeigt ihr großer Erfolg in den Wintern 1930/31 und 32/33, der freilich später durch die von Goebbels und NSV-Hauptamtsleiter Hilgenfeldt organisierten Winterhilfswerkskampagnen des Dritten Reiches noch weit übertroffen wurde. 22 In den Jahren zwischen 1918 und 1933 baute die Innere Mission ihre Stützpunkte, d.h. allgemeine Krankenhäuser, Anstalten für geistig und körperlich Behinderte, kirchliche Wohlfahrtsämter, Erziehungsheime, Kindergärten und Gemeindepflegestationen auf bzw. weiter aus. Sie überzog das Land mit einem Netzwerk solcher karitativer Einrichtungen, so daß sich allgemein der Eindruck verfestigte, sie verfolge ausschließlich wohlfahrtspflegerische Aufgaben. Die volksmissionarische, erst recht die antisozialistische Zielsetzung trat nach 1918 im Bewußtsein der Öffentlichkeit in den Hintergrund, obwohl das de facto keineswegs der Fall war. Mit der Gründung der sogenannten Apologetischen Centrale im Spandauer Johannesstift verstärkte der Centraiausschuß im Gegenteil die Auseinandersetzung mit kirchenfeindlichen Weltanschauungen und nahm besonders die sozialdemokratischen und kommunistischen Freidenkerorganisationen aufs Korn. Die apologetische Arbeit erhielt dadurch einen antibolschewistischen Zug, der es nach 1933 der NSDAP erleichterte, über den Weg einer gemeinsamen antibolschewistischen Abwehrfront jene konservativen protestantischen und übrigens auch katholischen Bevölkerungsteile in den Staat zu integrieren, die dem System zurückhaltend begegneten. Die Entwicklung der Inneren Mission im Dritten Reich geht nicht in einer Beschreibung der Liga-Entwicklung auf, sondern bildet aus mehreren Gründen ein eigenes Thema. Trotz der unübersehbaren Fülle einschlägiger Neuerscheinungen gibt es zur Wohlfahrtspolitik des Regimes, sofern sie nicht Sozialpolitik im klassischen Sinne meint, bisher kaum Untersuchungen. Insonderheit fehlt noch eine befriedigende Studie zur Geschichte der NSV.23 Mit Hilfe der Materialien aus den Archiven der konfessionellen Wohlfahrtsverbände kann man trotz des Fehlens eines geschlossenen Quellenbestands zur Geschichte der NSV sehr plastisch die zunächst tastenden, dann immer energischer werdenden Bemühungen der NS-Volkswohlfahrt nachzeichnen, die Führung der freien

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Dazu Thomas E. de Witt, ,„The Struggle against Hunger and Cold'. Winter Relief in Nazi Germany, 1933-1939". Vgl. die insgesamt unzulänglichen, unabhängig voneinander entstandenen Arbeiten von Thomas E. de Witt, The Nazi Party and Social Weifare, 1919-1939, und Marc Alan Siegel, The National Socialist People's Welfare Organization 1933-1939: The Political Manipulation of Welfare. - Siehe auch die jüngst erschienenen Arbeiten von Vorländer im Lit.-verz.

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Wohlfahrtspflege an sich zu reißen. Auch die Rückschläge für Hilgenfeldt und seine Mitarbeiter, von denen viele 1933/34 von der Inneren Mission zur NSV stießen, 24 werden dabei sichtbar: Nie eigentlich genoß die NSV - abgesehen vom Winterhilfswerk und anderen Massenaktionen - große Popularität im Dritten Reich, weder an der ,Basis' des Parteivolks noch bei den Spitzenfunktionären der Bewegung, die dieses Hilgenfeldt auch sehr deutlich spüren ließen, etwa indem sie ihm den Rang eines Reichsleiters verweigerten; denn welchen Platz sollte eine starke .männliche', auf,gesundes Volkstum' und ,Rassenhygiene' bauende Bewegung den geistig und körperlich nicht Rehabilitationsfähigen zuweisen? Andererseits blieb die NSV selbst auf den von ihr beanspruchten Gebieten der Familien- und Gesundheits- und Jugendfürsorge in personeller Hinsicht auf Kooperation mit Caritas und Innerer Mission angewiesen.25 Teilzugeständnisse, der Widerruf bereits beschlossener Aktionen und mäßigende Einwirkung auf NSV-Beauftragte in den Gauen, die oft ohne Fühlung mit Berlin konfessionelle Einrichtungen wie Krankenanstalten und Diakonissenmutterhäuser beschlagnahmten, deuten darauf hin. Dennoch gehörte es auch zur Taktik Hilgenfeldts, bei Beschwerden auf seine Nichtzuständigkeit zu pochen und die Rivalität von Innerer Mission und Caritas dazu zu nutzen, sie gegeneinander auszuspielen, um aus dem Kompetenzchaos vor allem in den ersten Jahren nach 1933 Vorteile für seine Organisation zu ziehen. Insofern fügt sich das Bild der NSV ganz in das von der neueren Forschung beschriebene Spektrum der divergierenden Interessen der Machthaber des Dritten Reiches ein, deren oftmals improvisiertem Vorgehen auch auf wohlfahrtspflegerischem Sektor keine fest umrissenen Konzepte zugrunde lagen. Ein anderer Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang berührt die bisherige Kirchenkampfforschung protestantischer Herkunft: Die großen Gesamtdarstellungen von Meier und Scholder wie auch die meisten Einzelmonographien der Reihe ,Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes' bzw.,Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte' beziehen den Verbandsprotestantismus und seinen Anteil an den innerkirchlichen Auseinandersetzungen nach 1933 nur am Rande ein.

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Das geschah auch im Zusammenhang mit Entlassungen seitens des CA, dessen finanzielle Möglichkeiten nach der Devaheim-Affäre 1931/32 erschöpft waren. Zu den bekanntesten von der IM kommenden NSV-Funktionären gehörten der Stellvertreter Hilgenfeldts, Hermann Althaus, ein Vetter des Erlanger Systematikers, der von der Berliner Stadtmission zur NSV überwechselte, Bertha Finck, vorher Angestellte des CA in Dahlem und in der NSV verantwortlich für das Hilfswerk .Mutter und Kind', sowie der Volkswirt Dr. Werner Betcke, zuvor wissenschaftlicher Assistent in Seebergs erwähntem Berliner Universitätsinstitut. Das galt selbst für so umstrittene Arbeitsgebiete wie Kindergärten und Gemeindeschwesternstationen, die von der NSV zwar ohne Einschränkung für sich reklamiert wurden, eine Forderung, die sie wegen Personalmangels jedoch nicht durchsetzen konnte, weshalb sie auf die Unterstützung durch konfessionelle Kräfte zurückgreifen mußte.

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Das ist insofern ein Mangel, als die vier großen Vereinsgruppen Innere Mission, Evangelischer Bund, Gustav-Adolf-Verein und Evangelisches Frauenwerk nicht von Anfang an in gleich unzweideutiger Weise Partei ergriffen, wie dies Deutsche Christen auf der einen und die Bekennende Kirche auf der anderen Seite taten. Das Schwarz-Weiß-Raster der älteren Forschung, die mittlere oder neutrale Positionen wenig beachtete und sie im Zweifelsfall zu den Gegnern der Bekennenden Kirche rechnete, dürfte nach den Studien von Meier und Scholder überwunden sein. Das ist auch deshalb nützlich, weil das Verhalten der Verbände auf diese Weise erklärbarer wird. Es scheint an der Zeit, ihr Wirken sorgsam zu analysieren, um damit die Betrachtungsebene von Synoden und Kirchenleitungen zu erweitern und diese zunächst sicher notwendige Perspektive durch die Untersuchung des heterogenen Spektrums des organisierten (,Laien'-)Protestantismus zu ergänzen. - Der je nach Aufgabengebiet unterschiedliche Politisierungsgrad der Verbände führte bei Evangelischem Bund und Gustav-Adolf-Verein zunächst zu einer starken Sympathiewelle für den Nationalsozialismus und zur Bejahung der von den Deutschen Christen (DC) inspirierten Reichskirchenpolitik des Regimes. Spätere Teildistanzierungen gingen von einzelnen Landesverbänden aus, unter deren Druck auch die Verbandsspitzen einen neutraleren Kurs steuern mußten. Anders im Evangelischen Frauenwerk, dessen Leitung - von ihren Untergliederungen rückhaltlos unterstützt auf Gegenkurs zur Reichskirche und ihrem Bischof Ludwig Müller ging, als sich der Konflikt zwischen Bekennender Kirche und DC-Kirchenregierungen seit Ende 1933 immer mehr verschärfte. 26 Die Innere Mission endlich als größte und deshalb auch schwerfälligste protestantische Vereinsgruppierung hielt sich zunächst in Beibehaltung ihres schon während der Republik gezeigten funktionellen Pragmatismus zurück, obschon starke Kräfte innerhalb des Centraiausschusses frühzeitig offensiv für einen Kurswechsel im Sinne des Nationalsozialismus plädierten. Sie setzten sich indessen nicht durch, da das Gros der einflußreichen Landes- und Provinzialgeschäftsführer unbeschadet ihrer zumeist positiven Haltung zum neuen Staat, von dem sie sich die Renaissance volkskirchlichen Bewußtseins erhofften, einer bedingungslosen Festlegung auf den noch undeutlichen Kurs der Partei in Wohlfahrtsfragen nicht das Wort redete. Der somit innerhalb des Centraiausschusses angelegte Konflikt kulminierte, als im Zusammenhang mit Jägers Staatskommissariat die beiden dezidierten Parteigenossen und Deutschen Christen Karl Themel und Horst Schirmacher handstreichartig den Posten des Präsidenten und des Ersten Direktors übernahmen. Das militante Vorgehen dieser Männer zerstörte das Vertrauen bei den Landesund Provinzialgeschäftsführern, die schließlich Themeis Rücktritt durchsetzten, während Schirmacher bis zu seiner Einberufung zum Kriegsdienst 1941 blieb.

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Vgl. dazu J-C. Kaiser, Frauen in der Kirche, 207 ff.

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Neuer Präsident wurde Pastor Constantin Frick, der langjährige Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses, der in seiner Person die sachbezogen-flexible Linie des Centraiausschusses verkörperte und mit beträchtlichem diplomatischem Geschick in den folgenden Jahren die Verhandlungen mit Ministerien und Parteidienststellen leitete. Sein Gratwandel zwischen geschmeidiger Anpassung und gelegentlicher Widersetzlichkeit gegenüber Staat, Partei und Kirchenregiment blieb freilich nicht ohne Kritik, wie schon vorher der betonte NS-Kurs des Centraiausschusses unter Themel Gegenreaktionen ausgelöst hatte, die 1934 zur Gründung der bekenntniskirchlich orientierten ,Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände in der Deutschen Evangelischen Kirche' führten. 27 Mit dem Vorsteher von Kaiserswerth, Graf Lüttichau, mit Friedrich von Bodelschwingh aus Bethel und dem Direktor der Berliner Missionsgesellschaft Siegfried Knak fanden sich hier Persönlichkeiten der Mutterhaus- und Anstaltsdiakonie sowie der Äußeren Mission zusammen, um gegen die Politik des Reichsbischofs zu protestieren und die Belange der freien Werke gegenüber jenen Bestrebungen der Reichskirche zu wahren, die den Verbandsprotestantismus entmündigen und ihn rechtlich den Kirchenleitungen unterstellen wollten. Diese Tendenzen zur Verkirchlichung hatten einen doppelten Hintergrund: Sie gingen einmal von den kirchenleitenden Organen selbst aus, die den Verbandsprotestantismus unter ihre Botmäßigkeit bringen wollten, um zu verhindern, daß sich die Vereine zu stark in Richtung der bekenntniskirchlichen Bruderräte festlegten. Andererseits näherten sich die Verbände der verfaßten Kirche im Laufe der Jahre aus ureigenstem Interesse heraus wieder an. Dieser Prozeß setzte mit der Ära der Reichskirchenausschüsse ein und wurde gerade von der Inneren Mission nach wachsenden Bedrängnissen durch Behörden und NSV befördert. Die freiwillige Unterstellung ,unter den Schutz der Reichskirche', die 1940 zustande kam,28 nötigte diese, den Beschwerden über Staatseingriffe mit größerer Intensität nachzugehen als zuvor und das ihr noch verbliebene Prestige zugunsten der Inneren Mission in die Waagschale zu werfen. - Dem Staat kamen angesichts seiner kirchenpolitischen Fernziele solche Konzentrationsbestrebungen nur entgegen, die ihn der Mühe enthoben, mit mehreren, voneinander unabhängigen kirchlichen Gremien zu verhandeln; ferner konnte er damit die Aktivitäten der Religionsgemeinschaften besser unter Kontrolle halten und schließlich ihre Außenwirkung so reduzieren, daß im Endeffekt nur noch Kultusvollzug und biblische Besinnung ohne Öffentlichkeitswirkung übrigbleiben

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Dazu die Miszelle des Vf. „Die Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände 1933/34". Vgl. den „Erlaß des Leiters der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei betreffend die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" v. 12.VII.1940; GBl. d. DEK 1940 v.17.VII.1940,39f.

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sollten. Ungeachtet des Krieges, der den Kirchenkampf zu einem gewissen Stillstand brachte, ist es das Verdienst der Verbände und damit auch das der Inneren Mission, sich nicht durch vorzeitige Bindung an die kirchenamtlichen Autoritäten jenes Spielraums begeben zu haben, der ihrer jeweiligen Klientel zugute kam und den die katholischen Parallelorganisationen nach dem Konkordat nicht mehr in gleichem Maße besaßen. Auch Neubeginn und Wiederaufbau des protestantischen Verbandswesens nach 1945 haben davon profitiert. Wie im Untertitel schon angezeigt, hat die vorliegende Arbeit nicht die Absicht, die Geschichte der Inneren Mission zwischen 1918 und 1945 aufzubereiten - es handelt sich vielmehr um Studien zu ausgewählten zentralen Einzelproblemen. Angesichts der vielen noch offenen Fragen zum Forschungsfeld ,Innere Mission' enthielte ein derartiger Versuch im Rahmen einer wissenschaftlichen Monographie dieses Genres einen überzogenen Anspruch. Auf drei nicht gleichgewichtige, für die kirchliche und allgemeine Zeitgeschichte aber dennoch wesentliche Aspekte, die im folgenden nicht eigens zur Sprache kommen, soll abschließend noch hingewiesen sein. Zum einen ist die Rede von dem finanziellen Fast-Zusammenbruch des Centraiausschusses 1931/32, dem sogenannten Devaheim-Skandal, der am Ende einer lang andauernden ökonomischen Krise stand und durch ein Geflecht exogener Faktoren - d. h. durch Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf den mit einer US-Auslandsanleihe stark belasteten Centraiausschuß, sodann durch eine hausgemachte Mißwirtschaft - die Innere Mission an den Rand der Zahlungsunfähigkeit brachte. Nur dank der Intervention des Reichskanzlers Brüning und seines Staatssekretärs Pünder, die beide aus staatspolitischen Erwägungen heraus einen Bankrott der Inneren Mission durch eine Reichsbürgschaft mit freilich einschneidenden Auflagen erfolgreich verhinderten, war es dem Centraiausschuß möglich, seinen Verpflichtungen in allerdings stark verkleinertem Rahmen weiterhin nachzukommen. Mit kriminellen Methoden hatten kaufmännische Direktoren CA-eigener Versicherungsbetriebe und Bausparkassen den Versuch unternommen, sich auf Kosten zahlreicher kleiner Sparer und Versicherter persönlich zu bereichern. Was darüber hinaus die Öffentlichkeit erregte, war die Tatsache, daß mit Pfarrer Lic. Paul Cremer ein um den Verbandsprotestantismus an sich hochverdienter Mann auf undurchsichtige Weise in den Skandal verwikkelt wurde, und sei es nur, weil er seine Kontrollpfiichten als Vorsitzender des Aufsichtsrats der betroffenen Unternehmen nicht in korrekter Form wahrgenommen hatte. Das Bedeutsame dieser Aff are für Innere Mission, Kirche und freie Wohlfahrtspflege lag erstens darin, daß man hier ein Schulbeispiel für die Schattenseiten der Vertrustung' von sozialpflegerischen Institutionen und ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit zu beobachten meinte, was den Gegnern des wohlfahrtsstaatlichen Modells von Weimar griffige und propagandistisch ausgezeichnet zu verwertende Argumente gegen die soziale Republik in die Hand spielte. Zweitens markierte dieses Ereignis und sein gerichtliches Nachspiel, bei

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dem die Hauptbeteiligten einschließlich Cremers zu Gefängnis- und Geldstrafen verurteilt wurden, einen tiefgreifenden Vertrauensschwund der öffentlichen Meinung gegenüber den Leistungen der Inneren Mission. Drittens schließlich empfand man dies seitens der verfaßten Kirche als derart belastend und beschämend für die eigene Sache, daß sich schon vorhandene Spannungen und Ressentiments zwischen Innerer Mission und Kirche zusätzlich verschärften und der alten Forderung nach völliger Verkirchlichung evangelischer .Caritas' zusätzliche Nahrung gaben. Die Gründung des kirchlichen Hilfswerks durch Eugen Gerstenmaier nach 1945 scheint unter anderem Ausfluß des Versuchs, Vorfalle wie Devaheim durch strenge Bindung an die Weisungen des Kirchenregiments ein für allemal zu verhindern - ein Versuch, dem allerdings kein dauerhafter Erfolg beschieden war, wie die Geschichte des Hilfswerks bis zu seiner 1957 erfolgten Zusammenlegung mit der Inneren Mission demonstriert. 29 Der zweite zu ergänzende Aspekt betrifft die ökumenischen Außenbeziehungen des Centraiausschusses zwischen 1922 und 1945. Hatte schon Wichern für eine enge Zusammenarbeit der großen europäischen Industrieländer auf den Arbeitsfeldern der Inneren Mission plädiert, 30 so erschien es den Verantwortlichen angesichts des ökumenischen Aufbruchs nach dem Kriege geboten, solche Auslandskontakte nun ebenfalls zu verstärken bzw. neu zu knüpfen. Damit stand die Innere Mission nicht allein; auch der Evangelische Bund schuf Anfang der 20er Jahre in enger Kooperation mit der holländischen Parallelorganisation, der Evangelischen Maatschappij, einen ,Internationalen Verband zur Verteidigung des Protestantismus', später kurz .Protestantischer Weltverband' genannt. Bestimmend für die Entwicklung des 1922 begründeten Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie und des zwei Jahrzehnte lang damit eng verflochtenen Protestantischen Weltverbandes war die osteuropäische Orientierung. Die auf die Volks- und Auslandsdeutschen in den abgetretenen Gebieten und im Baltikum zielende (Betreuungs-)Arbeit, die auch der Gustav-Adolf-Verein betrieb, vermischte in vielfältiger Weise volksmissionarische, soziale und ideologische Elemente, unter denen der Antibolschewismus auch wegen der territorialen Nähe zur Sowjetunion und der Einbeziehung besonderer Hilfswerke für die Rußlanddeutschen eine herausragende Rolle spielte. Die kontinentale Ausrichtung und der nicht zu verkennende deutsche Führungsanspruch unterschied diese Verbände unter anderem von der in Genf zentrierten Ökumene. Franzosen, Engländer und Amerikaner waren kaum oder gar nicht vertreten,

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Zum Devaheim-Skandal vgl. die zeitgenössische kirchennahe Broschüre, die Herman Schumacher verfaßte und die ein Nachwort des Generalsuperintendenten der Kurmark, Otto Dibelius, enthält:,Devaheim, Innere Mission und Kirche', sowie den Abriß in Gerhardt II, 230 ff. Näheres zur Geschichte des Hilfswerks findet sich in der soeben erschienenen Diss. von Johannes Michael Wischnath, Kirche in Aktion. Martin Gerhardt, Zur Vorgeschichte der Reichskirche, 17 ff. Dort weitere Quellenangaben.

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dafür Niederländer, Skandinavier, Deutsch-Balten, Österreicher und Südosteuropäer um so stärker. Mit Ausnahme der Schweizer stießen sich die Mitgliedsverbände bis zum Beginn des Kirchenkampfes nicht an der deutschen Hegemonie, die innerhalb des diakonischen Zusammenschlusses und in der Person des Centralausschuß-Direktors und Geschäftsführers des Internationalen Verbandes, Gerhard Füllkrug, auch weniger prononciert zum Tragen kam als beim Protestantischen Weltverband, dessen Geschäftsführer, der ehemalige katholische Priester Gerhard Ohlemüller, in konfessionellen und politischen Fragen weit militanter agierte. Durchweg fehlte völlig das pazifistisch-demokratische Element, das manche Untergliederungen der ökumenischen Bewegung - wie den Bund für die Freundschaftsarbeit der Kirchen - besonders kennzeichnete. Als der Nationalsozialismus an die Macht gelangte und das neugegründete Kirchliche Außenamt unter Bischof Heckel die ökumenischen Beziehungen nur noch nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit für seinen staatsloyalen Kurs beurteilte und förderte, verstärkte sich das Gewicht des Internationalen bzw. des Protestantischen Weltverbandes, während der Stellenwert der Genfer Ökumene aus reichskirchlicher Perspektive an Gewicht verlor. Zugespitzt könnte man von einer sich konstituierenden ,Rechtsökumene' unter deutscher Führung sprechen, die sich um den Preis einer weitgehenden Duldung und Adaption an die nationalsozialistische und deutschchristliche Kirchenpolitik des besonderen Wohlwollens des Außenamtes erfreute. Zwar waren Geschäftsführung und Präsidentschaft beider Verbände 1933 an die niederländische Sektion übergegangen, die unter dem neuen Präsidenten, dem Theologieprofessor und langjährigen holländischen Arbeitsminister J. R. Slotemaker de Bru'ine, der Nazifizierung einen gewissen Widerstand entgegensetzte, sich anders als die dann ausscheidenden Schweizer aber aus taktischen Motiven zu Kompromissen bereit fand. 31 - Auf zahlreichen Kongressen und Regionaltagungen tauschten die Mitgliedsverbände Informationen über die eigentliche Verbandsarbeit aus, d. h. sie diskutierten Schwierigkeiten und Chancen einer die Ländergrenzen überschreitenden, christlich orientierten Wohlfahrtspflege und berieten darüber, wie das aus ihrer Sicht gefährliche Vordringen des Katholizismus in Europa gebremst werden könnte. Diese Themen verbanden sich immer auch mit konservativen politischen Implikationen, was nach 1933 ein dezidiertes Ja zum Nationalsozialismus nicht ausschloß. So wird begreiflich, warum das Dritte Reich im Rahmen seiner Einflußnahme auf die Auslandsdeutschen den Internationalen Verband und den Protestantischen Weltverband mehr als die nach Genf ausgerichteten ökumenischen Kreise unterstützte und in dieser Spielart des Verbandsprotestantismus die gegebene Möglichkeit sah, seine politischen Absichten in neutralem Gewände zu propagieren. Schließlich war es in dem vorgegebenen Rahmen nicht möglich, einen Struktur-

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Dazu auch neuerdings in knappem Abriß Ger van Roon, Zwischen Neutralismus und Solidarität.

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Einleitung

vergleich der deutschen Inneren Mission mit ähnlichen Organisationsformen des protestantischen Auslands, vor allem in Skandinavien, in den Niederlanden oder der angelsächsischen Welt zu leisten. Das gilt auch für eine komparatistische Untersuchung des katholischen Schwesterzusammenschlusses im Reich, des Caritasverbands. Sicherlich kann von Innerer Mission, ihren Aufgabenfeldern und ihrer Organisationsform nicht die Rede sein, ohne die katholische Wohlfahrtspflege mit ihren zahlreichen Parallelen, aber auch charakteristischen Unterschieden zur evangelischen Liebestätigkeit mit in den Blick zu nehmen. Dies ist in der vorliegenden Arbeit punktuell auch geschehen; aber eine systematisch-theologische und organisationshistorische wie -soziologische Vergleichsanalyse muß weiteren Untersuchungen über diesen Gegenstand vorbehalten bleiben. Unser vorläufiger Überblick bemühte sich um die Skizzierung dessen, was eine sorgfältige Analyse des protestantischen Verbandsspektrums mit dem Schwerpunkt auf der Inneren Mission für die Geschichte von Kirche und Gesellschaft zu leisten vermag. Obschon im Rahmen dieser Arbeit manche Probleme nur ansatzweise berührt werden können, ist es Anliegen des Verfassers, zu verdeutlichen, daß der Untersuchungsgegenstand ,Kirche und Öffentlichkeit' ohne eingehende sozial- und kirchenhistorische Untersuchungen zur Organisations- und Wirkungsgeschichte der Verbände einen wesentlichen Teil der meßbaren Realität protestantischer Lebensäußerungen und ihres Einflusses auf die deutsche Gesellschaft ausblendet. Gerade in Anbetracht einer veröffentlichten Meinung' nach 1918, die je nach politischem Standort Religion und Kirche mehr oder weniger als gesellschaftliche Mitgestaltungskräfte ignorierte oder ihnen eine nur instrumentelle Funktion im Spannungsfeld divergierender politischer Interessen zuwies, bietet das Forschungsfeld des Verbandsprotestantismus aussichtsreiche Ansätze zur Ergänzung und Korrektur bestehender (Vor-)Urteile und erlaubt eine nachprüfbare Bestandsaufnahme evangelischer Außenwirkung über den kirchlichen Binnenbereich hinaus. Es hat den Anschein, als würde die Chance dieser Aufgabe von Theologen und Historikern neuerdings zunehmend erkannt, 32 so daß in absehbarer Zeit mit Ergebnissen zu rechnen sein dürfte, die nicht nur Lücken füllen, sondern vielleicht auch zur Veränderung unseres Bildes der Wechselwirkung von Konfession, Kirche und Gesellschaft beitragen.

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In diesem Zusammenhang besitzt die Arbeit von Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, durch die breite Berücksichtigung der Verbände den Charakter einer Pilotstudie. S. ferner Volker Jakob, Sozialer Wandel und politische Kontinuität. Statistische Untersuchungen zur Geschichte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins 1918-1933; ferner David J. Fieldhouse, Pastors and Pluralism in Württemberg 1918-1933. Über den Ev. Bund ist eine Arbeit von Walter Fleischmann/Bensheim in Vorbereitung, die von Gottfried Maron betreut wird und wichtige Aufschlüsse erhoffen läßt. - Dazu nochmals den Beitrag des Vf., „Der Verbandsprotestantismus als Problem der neueren Forschung".

I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche In welch hohem Maße die Innere Mission als Eckpfeiler und führende Gruppierung des Verbandsprotestantismus angesehen werden muß, zeigt schon ein kurzer Blick auf Entstehung und frühe Entwicklung der vielfaltigen Formen evangelischer ,Caritas' im 19. Jahrhundert. Ohne Frage sind diese der aufblühenden bürgerlichen Vereinsbewegung des Zeitalters zuzurechnen. Dennoch bleibt eine solche Verortung als Erklärungsmodell für die Außenwirkung ihrer Spitzengliederung, des Berliner Centraiausschusses, unzureichend. Vielmehr muß noch ein weiteres Moment berücksichtigt werden: die kirchlichen Einigungsbestrebungen, die - wenn auch letztlich erfolglos - das protestantische Vereinsspektrum außerordentlich stimulierten und dazu anregten, über den Rahmen der verfaßten (Landes-)Kirchen hinaus die Vision einer deutschen ,Nationalkirche' bzw. kontroverse Positionen dazu in Kirchenvolk und Gesellschaft zu verbreiten, ja populär zu machen. Die politische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts vermittelte dem protestantischen Deutschland mehr als einmal gewichtige Impulse zur Reflexion über Ordnungen und Inhalte seiner kirchlichen Organisation. Es waren jeweils, wenn auch nicht ausschließlich, politische Anstöße, die hier weiterwirkten und Forderungen nach einer kirchlichen Einigung mit dem Ziel der deutschen ,Nationalkirche' - von einer ,Reichskirche' im Sinne der 1922 und besonders 1933 verwirklichten Zusammenschlüsse sprach man erst nach 19141 - laut werden ließen. Dieses begann mit den Befreiungskriegen, die auf religiösem Sektor den lähmenden Antagonismus zwischen lutherischer Orthodoxie, Erweckungsbewegung und Rationalismus zugunsten eines gemeinsamen kirchlichen Neubeginns für kurze Zeit aufzuheben schienen. Die Unionsbildung als geistige Idee - nicht ihre von mancherlei Zwangsmaßnahmen obrigkeitsstaatlicher Natur begleitete Durchführung - ist eine Frucht der in den Bereich des Religiösen transferierten nationalen Aufbruchstimmung. Das bekannte Scheitern des Verlangens nach Reichseinheit und Nationalkirche soll an dieser Stelle nur konstatiert werden, ohne damit ausdrücken zu wollen, politische Romantik, Restauration und der

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Reichskirchliche Vorstellungen, wie sie Fichte und Jahn, Runge und Gervinus als Vereinigung von Protestanten und Katholiken zur nationalen Volksreligion propagierten, bleiben hier außer Betracht. S. dazu RGG 1 IV, 1828 f.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

sich im Neuluthertum ausbildende Konfessionalismus seien ohne weiteres in eins zu setzen. Auch entstanden das hier primär zu behandelnde protestantische Vereinswesen und mit ihm die Innere Mission bis auf wenige Ausnahmen nicht im Vormärz, 2 sondern erst nach der achtundvierziger Revolution und - abgesehen von der Vereinsgesetzgebung - nicht in jedem Falle in direktem Kausalkonnex zu diesem Ereignis. Wenngleich die Parallelen zu 1813 augenfällig sind, stellte sich die Lage gut 30 Jahre später für die Landeskirchen doch davon unterschieden dar: Die drohende Trennung von Staat und Kirche, die § 147 der Paulskirchenverfassung dann rechtlich fixierte, ließ die verfaßten Kirchen einander näher rücken und bewegte prominente Theologen wie unter anderen den Jenenser Kirchenhistoriker Karl (von) Hase in einer Denkschrift zu offenem Eintreten für „Die evangelisch protestantische Kirche des deutschen Reichs". Kritische Entscheidungskonstellationen in Politik und Gesellschaft, ganz gleich ob von den Zeitgenossen positiv oder negativ e m p f u n d e n u n d stets mit offenem, ungewissem Ausgang, scheinen durchgängig konstitutiv für die Entstehung nationalkirchlicher Tendenzen im deutschen Protestantismus. Freilich schwanden solche, vom Kirchenregiment ohnehin nie sehr stark geförderten Einheitsüberlegungen oft ebenso schnell aus dem Bewußtsein einer größeren kirchlichen Öffentlichkeit, wie sie aufgebrochen waren. Die Beseitigung der jeweiligen potentiellen Gefahrensituation für den Bestand der verfaßten Landeskirchen stärkte regelmäßig jene konfessionalistischen und .organisationspatriotischen' Kräfte in deren Binnenbereich, die aus Sorge um Bekenntnis und Unabhängigkeit jeder Konföderationsform mit Mißtrauen begegneten. Zusätzlich bremste die enge Anlehnung an den Landesherrn als Summus episcopus etwa vorhandene und weiterbestehende Einigungsbestrebungen, weil dieser aus staatspolitischen Gründen an verpflichtenden grenzüberschreitenden Bindungen ,.seiner' Landeskirche kaum interessiert sein konnte. Nicht von ungefähr war die Gründung einer übergeordneten Vertretungskörperschaft der Inneren Mission mit dem Zusammentritt des ersten evangelischen Kirchentages im September 1848 aufs engste verbunden. Johann Hinrich Wiehern, der Leiter des Rauhen Hauses in Horn bei Hamburg u n d eigentliche Schöpfer dieser Zentralstelle für alle Bestrebungen evangelischer Sozialarbeit, gehörte zu den Mitunterzeichnern der Einladung nach Wittenberg, wo man eine „Conföderation der deutschen evangelischen Kirchen" voranzutreiben hoffte. 3

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Zu denken ist an das 1832 in Leipzig gegründete Diasporahilfswerk des Gustav-Adolf-Vereins, das sich allerdings erst nach dem Zusammenschluß mit einer elf Jahre später davon unabhängig entstandenen parallelen Unternehmung des Darmstädter Hofpredigers Dr. Zimmermann zur Unterstützung hilfsbedürftiger ev. Gemeinden als lebensfähig erweisen sollte. Vgl. Hermann Wolfgang Beyer, Die Geschichte des Gustav-Adolf-Vereins. Das folgende nach Helmut Talazko, „Einheit für den Dienst", in: IM 63.1973, 347-365. Vgl. a. Martin Gerhardt, Zur Vorgeschichte der Reichskirche, und Joachim Coch-

I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

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Seit dem Scheitern einer bekenntnismäßigen Einigung auf der 1. preußischen Generalsynode 1846 in Berlin baute Wichern auf das verbindende Element einer .gesunden Praxis', worunter er in erster Linie „diejenigen Werke und Wirkungsweisen evangelischer Liebe, deren Summe unter dem Namen der inneren Mission zusammengefaßt ist", verstanden wissen wollte.4 Wohl wurden die Errichtung des Centraiausschusses und periodisch zusammentretende Kirchentage in Wittenberg beschlossen; der Widerstand der meisten Landeskirchen verhinderte hingegen den ins Auge gefaßten Kirchenbund. Der in den Jahren bis 1872 stets mit dem Kirchentag gemeinsam veranstaltete ,Kongreß für die innere Mission' ist ein weiteres Indiz für das essentielle Interesse des Verbandsprotestantismus sozialer Ausprägung als treibender Kraft an einer kirchlichen Einigung. 5 Im Zusammenhang mit der Reichsgründung, wenn auch nicht ausschließlich durch sie motiviert, kam es im Oktober 1871 auf Initiative der Inneren Mission noch einmal zu einer von mehr als 1.300 Teilnehmern besuchten Konferenz über die kirchliche Lage, diesmal ohne einen gleichzeitig stattfindenden Kirchentag. Dabei wurden die Vorschläge des Berliner Generalsuperintendenten Brückner für eine „Gemeinschaft der evangelischen Landeskirchen im Deutschen Reiche", welche Abendmahlsgemeinschaft der evangelischen Konfessionen untereinander und eine Kirchenkonvokation, d.h. eine Art verfassunggebendes Konzil aller deutschen Kirchenregierungen, vorsahen, zwar von einer Mehrheit gebilligt; als die anwesenden Lutheraner daraufhin aus der Versammlung auszuziehen drohten, unterblieb eine förmliche Beschlußfassung jedoch. Es bedurfte noch weiterer, in das kirchliche Leben tief eingreifender Ereignisse, bis Kirchenbund und Reichskirche Wirklichkeit wurden. Dazu zählen die nationale und wiederum auch religiöse Hochstimmung der ersten Weltkriegsjahre, der Fall des landesherrlichen Kirchenregiments infolge der Revolution von 1918/19 und schließlich die nationalsozialistische Machtergreifung, die im Protestantismus ebenfalls als Revolution, diesmal von solcher Geschichtsmächtigkeit, erfahren wurde, daß die verfaßte Kirche sich ihr nicht entziehen zu können meinte. Bevor auf Haltung und Anteil der evangelischen Vereinsgruppierungen daran unter Führung der Inneren Mission näher einzugehen ist, seien die noch vor 1914 entstandenen gemeinsamen informellen Beratungsgremien der Landeskirchen wenigstens genannt, die - so geringe Kompetenzen sie auch besaßen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bei Herausbildung von Kirchenbund und

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lovius, Bekenntnis und Einheit der Kirche im deutschen Protestantismus 1840-1850, bes. 174 ff. J. H. Wichern, „Die Bedeutung der Praxis", in: SW, 106-109,107, und „Vorwort über den Zweck der Fliegenden Blätter", ebd., 72-75,74. S. a. H. Talazko, a. a. O., 349. 1928 schrieb der Kieler Kirchenrechtler Günther Holstein: „Die kirchliche Einheit Deutschlands ist zunächst in der Form christlicher Caritas, erst um vieles später auch in verfassungsmäßiger Form, Gestalt geworden." Ders., Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, 363, zit. nach H. Talazko, a. a. O., 352.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Reichskirche trotz aller Verdienste der Verbände den entscheidenden Part spielen sollten: Die 1852 erfolgende Etablierung der Eisenacher ,Konferenz deutscher evangelischer Kirchenregierungen' war ein schwacher Widerhall auf den Ruf nach einer nationalkirchlichen Einigung, jetzt von der ,Hierarchie' selbst ins Werk gesetzt und zwar ohne jede bekenntnis- und konfessionsverbindliche Tendenz. Dennoch gab die alle zwei Jahre zusammentretende Konferenz ein nicht unbedeutendes Forum der Aussprache für die Vertreter der verfaßten Kirche ab, die hier über die Grenzen der dominierenden Altpreußischen Union hinweg drängende Fragen diskutieren und in offiziöser Weise die unterschiedlichen Standpunkte des deutschen Kirchentums zur Kenntnis nehmen konnten. Im Vergleich mit den ohne Verbindung nebeneinander existierenden .Kirchengesellschaften' des 18. und frühen 19. Jahrhunderts selbst im Bereich ein und desselben Territoriums muß die Schaffung der Eisenacher Konferenz schon als Fortschritt bezeichnet werden. Ein Appell Kaiser Wilhelms an den deutschen Protestantismus - anläßlich der Feier zum Gedenken an den 300. Geburtstag des Gothaer Regenten Ernst des Frommen - , die Einheit bei Wahrung seiner inneren Unabhängigkeit anzustreben, führte 1903 zur Bildung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses (DEKA); 6 der aus fünfzehn Mitgliedern unter dem Vorsitz des Präsidenten des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats bestehende Ausschuß sollte die Interessen der angeschlossenen Landeskirchen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften, den Deutschen im Ausland sowie den gesetzgebenden Körperschaften im Inneren sichern. Rechtsverbindlichkeit erhielten seine Beschlüsse für die einzelnen Landeskirchen jedoch nur durch Einstimmigkeit. Die Kirchenkonferenz und ihr Ausschuß waren gewiß ein Schritt auf dem von vielen ersehnten richtigen Wege, aber sie symbolisierten Einheitsversuche ,von oben' und gaben ihren nicht an den Leitungen beteiligten Gliedern keinen Raum für kirchliche Gemeinschaft untereinander, von Partizipation am Kirchenregiment ganz zu schweigen. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß angesichts der Ausnahmesituation des Weltkriegs die in den Verbänden sich artikulierende kirchliche ,Basis' an alte Einigungskonzepte anknüpfte, mit dem gravierenden Unterschied, daß man 1914/15 D E K A und Eisenacher Konferenz zunächst nicht befragte, als es um die Schaffung einer Plattform für den stärkeren Zusammenhalt des protestantischen Deutschland unterhalb dieser kirchenleitenden Ebene ging.

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Der Kaiser replizierte damit auf die Ansprache des Coburger Regenten, des Erbprinzen Ernst zu Hohenlohe-Langenburg, der daran erinnert hatte, daß bereits Herzog Ernst ein Kirchenbund vorschwebte. Zu Konferenz und Ausschuß vgl. RGG 1 III, 1188-1198, und ebd., 1597 -1598, sowie vor allem die 1908 erschienene Studie von Friedrich Michael Schiele, Die Kirchliche Einigung des Evangelischen Deutschland im 19. Jahrhundert.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen ( K D E AO)

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1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO) 1.1.1. Das Vorspiel Einen Monat nach Ausbruch des Weltkrieges wandte sich der Vorsteher des Rauhen Hauses, Martin Hennig, an den geschäftsführenden Geistlichen des Berliner Centraiausschusses für Innere Mission mit der Anfrage, ob man dort nicht anstelle der jährlichen Novemberkonferenz eine früher stattfindende Tagung einberufen wolle, „welche die ernsten Fragen erörtert, die uns jetzt der Krieg ans Herz legt". Darunter faßte er in erster Linie die Möglichkeiten dauernder Konservierung und Fruchtbarmachung einer zu beobachtenden „geistigen Erweckung" für die Volkskirche.7 Noch in Unkenntnis dieses Vorstoßes regte zwei Tage später der CA-Präsident Albert Spiecker gegenüber Hennig an, doch das Forum der Novemberkonferenz für eine Besprechung des Themas zu nutzen: „Was soll geschehen, um unserem Volke den Segen der einmütigen Erhebung zu Gott zu erhalten?"; Hennig möge neben dem Kieler Generalsuperintendenten Theodor Kaftan das Hauptreferat halten. 8 Kaftan, ein dezidierter Lutheraner, lehnte indessen einen Beitrag unter Hinweis darauf ab, daß er mehr ein Mann der Kirche als der Inneren Mission sei. Er gehöre zu jenen, die vom Kriege keine „religiöse Neubelebung" erwarteten, obwohl niemand lieber unrecht haben wolle als er. Auch wisse er nicht, was die Innere Mission dazu beitragen könne. 9 - Dieses bei ansonsten einhelliger Zustimmung vereinzelt erscheinende negative Votum eines lutherischen CA-Mitgliedes hätte man ernster nehmen müssen, als es die Veranstalter der Kriegstagung taten; signalisierte es doch Skepsis, ja Mißtrauen und Distanz des konfessionalistischen Lagers gegenüber allen Bestrebungen der Inneren Mission, sich von der plötzlich hereingebrochenen ,religiösen Konjunktur' mitreißen zu lassen und womöglich Pläne zu schmieden, mit denen die traditionellen Arbeitsgebiete um neue, die Interessen bereits bestehender Gruppierungen tangierende Aufgabenfelder erweitert würden.

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Hennig an P. Wilhelm Scheffen/CA v. 4.IX. 1914; ADW, CA 118. Spiecker an Hennig v. 6.IX. 1914; ebd. In seiner Antwort schrieb Hennig am 9.IX., die geplante Veranstaltung sei das Gebot der Stunde, wie er aus entsprechenden Anfragen aus Posen und Sachsen wisse. Auch der IM-Geschäftsführer P. Studemund/Schwerin äußerte am 29.IX. in einem Brief an den CA „Befriedigung" über die projektierte Konferenz und unterbreitete eigene Vorschläge zur Ausweitung des Themas, die vornehmlich auf die Bekämpfung der sittlich-religiösen Gefahren der Kriegszeit für die Bevölkerung zielten. Er erinnerte an die Zeit von 1870/71, wo die anfängliche religiöse Begeisterung bald verflacht sei; dem müsse man rechtzeitig gegensteuern. - Am 15.X. konnte Scheffen an Hennig berichten, fast alle Landes- und Provinzialvereine der IM hätten dem Unternehmen „sehr freundlich zugestimmt". Ebd. Kaftan an Scheffen v. 10.X. 1914; ebd.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Als die Konferenz am 10./11. November in Berlin zusammentrat, sah es zunächst danach aus, als seien die noch vagen Befürchtungen Kaftans unbegründet. Hennig beschränkte sich ganz auf die Innere Mission, an der er „das Zurücktreten des kirchlichen Charakters der Diakonie gegenüber dem Humanitären", d.h. zugunsten „einem mehr äußerlich Helfenwollen" beklagte, um dann auf die sich durch den Krieg als „Offenbarer" neu eröffnenden Chancen christlicher Liebestätigkeit hinzuweisen. Er hoffe nur, daß die Kirche ihre Stunde erkenne und in dieser großen „Zeit des Erwachens der Volksseele" ihrem Auftrag gerecht zu werden imstande sei.10 Den Gedanken eines engeren Zusammenschlusses evangelischer und vaterländischer Organisationen im Hinblick auf die Herausforderungen der Kriegszeit hob Pastor Constantin Frick, der Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses, in Leitsätzen über „gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit mit anderen Verbänden" hervor, die er der Konferenz präsentierte. Darin hieß es, die Lage mache einen Verzicht auf manche Sonderinteressen um des Vaterlandes willen notwendig. „Mehr Einheitlichkeit" laute die Parole; und diese Einheit müsse unter Umständen - gewiß ohne Verleugnung des spezifischen Charakters der Inneren Mission - auch Körperschaften allgemeiner Art umfassen, wenn dadurch Staat und Volk gedient sei." - Frick hatte damit einen Gedanken entwickelt, der zwar nicht auf eine Spitzengliederung des Verbandsprotestantismus zielte und erst recht keine nationalkirchlichen Implikationen enthielt, immerhin aber zum Ausdruck brachte, daß die Innere Mission mehr tun müsse, als in ihrer herkömmlichen Arbeit zu verharren; deshalb appellierte er an die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen verwandten Gruppierungen. Der verfaßten Kirche war in diesem Prozeß keine Funktion zugedacht, und auch der vorsichtige Zweifel Hennigs an der Fähigkeit von Kirchenregiment und Pfarrern, auf die Kriegssituation angemessen zu reagieren, deutet darauf hin, daß man bei der Realisierung der hier geäußerten - noch unkonkreten Vorstellungen auf beide wenig Hoffnungen setzte. Es blieb den beiden Theologen der Berliner Universität im Centraiausschuß, Friedrich Mahling und - mehr im Hintergrund agierend - Reinhold Seeberg vorbehalten, in diesem Gremium für übergreifende neue Organisationsformen des evangelischen Deutschland unter Führung der Inneren Mission zu werben. Der baltische Systematiker Seeberg war das Haupt der,Modern-Positiven', einer 10

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Die vollständige Fassung des Vortrags von Hennig ist im Prot, der Nov.-konf. (ADW, CA 118) nicht enthalten. 14 Tage später wiederholte Hennig jedoch seinen Vortrag auf der 32. Generalversammlung des brandenburgischen Provinzialausschusses für IM, und dessen Zeitschrift druckte ihn unter dem Titel „Die Innere Mission und der Krieg" ab; Zitate ebd., 2020,2022,2024,2027. Zu Fricks Leitsätzen vgl. das gedruckte Prot.; ADW, CA 118. - Frick gründete im Kriege die ,Freie Vereinigung für Kriegsfürsorge', in der zahlreiche karitativ tätige Organisationen unbeschadet ihrer weltanschaulichen Orientierung zusammenarbeiteten. S. dazu Kap. III.4.3.mit Anm. 342.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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um die Jahrhundertwende entstandenen theologischen Richtung, die das von ihr konstatierte Schisma zwischen Kirche und Gesellschaft durch effiziente Neuvermittlung der Inhalte der christlichen Offenbarungsreligion an das politischsozial-ökonomische Bewußtsein des Industriezeitalters zu überwinden suchte. Sein „Plädoyer für eine moderne Zeitgestalt der Kirche" wies dieser eine doppelte Aufgabe zu: die Bewahrung des alten Glaubens bei gleichzeitigem Mut zum Betreten neuer Pfade, was auch massive, an Wichern und Stoecker orientierte, d. h. von sozialkonservativem Denken bestimmte Kritik an der Sozial- und Wirtschaftsverfassung des Kaiserreichs einschloß. Dem tiefen Graben zwischen Arbeiterbewegung und bürgerlicher Gesellschaft entsprach in dieser Sicht auf kirchlichem Gebiet der seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgende zweifache Exodus von Proletariat und liberalem Bildungsbürgertum aus der Kirche als sinnstiftender und kulturell wirkungsmächtiger Institution. Nach ersten Erfahrungen während des Krieges schien ein diese Antagonismen aufhebender Annäherungsprozeß von Christentum und Gesellschaft jetzt auf den Weg gebracht, ja sich kaum vorhersehbar noch zu beschleunigen. Es galt nun, die unverhoffte Chance zu nutzen und „die kreative Kraft des Krieges" zur Reorganisation einer auf umfassenden nationalen und religiösen Konsens abzielenden Volkskirche einzusetzen.12 Von ähnlichen Prämissen ging der praktische Theologe Friedrich Mahling aus. Der ehemalige Leiter der Hamburger Stadtmission war mit der Arbeit der Inneren Mission seit Jahren eng vertraut und gab mit einem Grundsatzreferat vor dem Centraiausschuß im Februar 1915 den eigentlichen Anstoß für die Bildung der späteren Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO). 13 Seinen Ausgangspunkt bildete die damals verbreitete, aber systematisch wenig reflektierte Vision einer zu bauenden Johanneischen Kirche', die unter Anleihen an mittelalterliche Vorstellungen (Joachim von Fiore) nach dem petrinischen und dem paulinischen Zeitalter nun dasjenige des Johannes heraufziehen sah. 14 Mit anderen Worten: In Anlehnung an das trinitarische Schema 12

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Günter Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg, bes. 10 f., 122 ff. Zu dem unseren Zusammenhang weniger betreffenden politischen Engagement Seebergs zugunsten der alldeutschen Kriegszielpropaganda vgl. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, 70 ff. u. pass. - Zum Problemfeld,Volkskirche' s. Friedrich Mahling, „Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben der Kirche", ferner RGG 2 IV, 126-128, und den Abriß von Kurt Meier, Volkskirche 1918-1945. „Können wir das wiedererwachte religiöse Leben in unserem Volke pflegen, und auf welche Weise soll es geschehen?"; Prot, der CA-Sitzung v. 9.II. 1915; ADW, CA 1651. Zur Nachgeschichte des Parakletenwortes aus den Abschiedsreden Jesu in Joh 14,16 f. 26; 15, 26; 16, 5-15 vgl. Günther Bornkamm, „Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte". - Es ist allerdings kaum anzunehmen, daß der .Praktiker' Mahling mit dieser Metapher auf das komplexe Problem der Parakletentradition anspielen wollte; er scheint den Ausdruck vielmehr als Schlagwort mit Appellcharakter verwandt zu haben, um seinen kirchenpolitischen Vorstellungen eine - freilich anfechtbare - ,theologische'

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

,Vater, Sohn und Heiliger Geist', das anstelle des augustinischen Dualismus von Civitas terrena und Civitas Dei eine Geschichtsdeutung in sich ablösenden Epochen geben wollte, folgten auf das Gesetz (Petrus) die Dialektik von Gesetz und Evangelium (Paulus) und endlich das alle konfessionellen Gräben zuschüttende Zeitalter einer „Kirche der Wahrheit, der Freiheit, der Bruderliebe" (Johannes). Mahling forderte Kirche als „Geistesgemeinschaft", in der rechtliche und organisatorische Dinge in den Hintergrund treten und politische Fragen überhaupt keine Rolle spielen dürften. Was als theoretischer Entwurf soweit noch dunkel klingen mochte, füllte der Referent dann sogleich mit Praxisinhalten: Überall sei seit Kriegsbeginn christliches und nationales Erwachen zu beobachten; weil man den Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen noch nicht genau kenne, habe man „zwischen einer religiösen Heilsbewegung und einer allgemeinen Erneuerung der Volksfrömmigkeit zu unterscheiden". Die große Aufgabe der Gegenwart sei die sorgfältige Analyse der kirchlichen Zeitlage, die nicht von einzelnen allein bewältigt werden könne. Der Centraiausschuß solle deshalb darüber nachdenken, ob nicht er eine Einrichtung schaffen wolle, um diese Arbeit in möglichst breitenwirksamer Weise zu bewältigen. Dafür kämen die vorhandenen evangelischen Verbände in Betracht. Wenn man der Gefahr begegne, daß durch einseitig orientierte kirchliche Blätter - Mahling hatte die Leipziger ,Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung' (AELKZ) im Blick - immer aufs neue Streit und Zwietracht ins Kirchenvolk hineingetragen werde, könne es dem CA vielleicht gelingen, „diese johanneische Kirche der Zukunft zu bauen". Auf praktischem' Felde gehöre dazu auch der Kampf gegen Alkoholismus und Unsittlichkeit - aus seiner Sicht Hauptfeinde der kämpfenden Truppe wie der Bevölkerung an der Heimatfront. 15 Mit seiner Anregung hatte Mahling, wie sich bald zeigen sollte, ins Schwarze getroffen. Nicht so sehr sein Rekurs auf die johanneische Kirche', sondern sein praktischer Vorschlag, ein entsprechendes Spitzengremium der Verbände zu konstituieren, stieß im Bereich der Inneren Mission auf nahezu einhellige Zustimmung. Man bildete eine Vorbereitungskommission, um die DurchfühFundierung zu geben. Offenbar nahm die wissenschaftliche Theologie Mahlings Rekurs auf die johanneische Kirche nicht besonders ernst. Das geht aus einem Schreiben Julius Kaftans an seinen Bruder Theodor in Kiel v. 18.XII. 1915 hervor, in dem der OKonsR im EOK und ebenfalls Professor an der Universität über seinen Kollegen mit mildem Spott schrieb, er habe den Gedanken der johanneischen Kirche wieder „ausgegraben", aber „alles bona fide". Am 30.VI. des Jahres ging Theodor K. in einem Brief an Julius noch einmal auf Mahling ein, den er als „Konfusionsrat" titulierte. Schon vor Jahren habe dessen Berufung an die Friedrich-Wilhelms-Universität ,in seinen Kreisen' Kopfschütteln erregt: „Wir hielten ihn nicht für tanti." Vgl. Kirche, Recht und Theologie in vier Jahrzehnten II, 585 f., 602. 15

Prot, der CA-Sitzung, a.a.O. - Anti-Alkohol- und Sittlichkeitsbewegung waren Mahlings bevorzugte Arbeitsfelder; sie sollten auch nach Gründung der KDEAO in der praktischen Ausgestaltung der Arbeit bis Kriegsende die führende Rolle spielen.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen ( K D E A O )

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rung d e s U n t e r n e h m e n s zu beraten, u n d b e s c h l o ß , Vertreter v o n z e h n g r ö ß e r e n kirchlichen G r u p p e n , w e l c h e die Vielfalt des e v a n g e l i s c h e n Vereinslebens v o n linksliberalen bis hin z u a u s g e s p r o c h e n konservativ-erwecklichen Kreisen repräsentierten, zu einer ersten B e s p r e c h u n g e i n z u l a d e n . 1 6 In e i n e m R u n d b r i e f an diese Verbände, in d e m er zu einer vertraulichen Z u s a m m e n k u n f t

einlud,

b e t o n t e Pastor S c h e f f e n , n i e m a n d w o l l e die innere Freiheit der b e s t e h e n d e n O r g a n i s a t i o n e n antasten, allerdings h a b e es bisher a n einer g e m e i n s a m e n Verständigung gefehlt. D a s geplante Treffen trage „durchaus privaten u n d unverb i n d l i c h e n Charakter" u n d solle lediglich e r k u n d e n , o b die Z i e l s e t z u n g

der

Inneren M i s s i o n geteilt werde, d e n Verbandsprotestantismus „zu g e m e i n s a m e r Beratung über die v o r l i e g e n d e n A u f g a b e n u n d d a n n zu g e m e i n s a m e r Darstellung der im E v a n g e l i u m d e s Herrn Jesu u n s e r e m Volke g e s c h e n k t e n Kräfte" zusammenzufassen.17 A m 5. Juli d e s Jahres trafen mit A u s n a h m e d e s E v a n g e l i s c h - K i r c h l i c h e n Hilfsvereins die g e l a d e n e n Vertreter der freien Verbände in der P r i v a t w o h n u n g des C A - P r ä s i d e n t e n D . Spiecker im G r u n e w a l d z u s a m m e n . Vertreter der Landeskirc h e n o d e r d e s D E K A waren offiziell nicht z u g e g e n , o b w o h l mit G e n e r a l s u p e r i n -

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Es handelte sich auf dem linken Flügel um den Evangelisch-Sozialen Kongreß und sein schon unter Stoecker von ihm separiertes sozial-konservatives Gegenstück, die Freie Kirchlich-Soziale Konferenz, deren Vorsitzender Seeberg war; ferner um die Konferenz für Evangelische Gemeindearbeit, den Evangelisch-Kirchlichen Hilfsverein, den Verband Deutscher Evangelischer Pfarrervereine, den Gustav-Adolf-Verein, die Deutsche Evangelische Missionshilfe und - eher rechts orientiert - den Deutschen Verband für evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation (Gnadauer Verband) sowie den Deutschen Evangelischen Volksbund, eine konservative Gegengründung zum ursprünglich in seiner Mehrheit nationalliberal ausgerichteten Ev. Bund, der als größte Massenorganisation des Verbandsprotestantismus hier natürlich nicht fehlen durfte. Vgl. die Prot, der CA-Sitzungen v. 9.III., U.V. und 10.VI. 1915; ADW, CA 165 I.

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Einladungsschreibenv.l2.VI.l915;ebd. - Am24.VI. 1915 wandte sich der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Volksbundes für öffentliche Mission des Christentums, der Bremer G r o ß k a u f m a n n Karl Vietor, an August Wilhelm Schreiber, den Geschäftsführer der Deutschen Evangelischen Missionshilfe, und bot an, seinen Bund anstelle des CA zur Gründungsplattform der geplanten Vereinigung zu machen. Im Gegensatz zum Ev. Bund und den anderen Vereinen, die nur für die,oberen Zehntausend' da seien, wolle der Volksbund „die Masse des Volkes packen"; er sei deshalb das geeignetere Forum. In seiner Antwort v. 30. VI. lehnte Schreiber diesen Vorschlag freilich ab. Er, der als Schrift- und eigentlicher Geschäftsführer der kommenden K D E A O bald zu deren wichtigster Figur werden sollte, sprach in diesem Brief auch erstmals von einem neuen deutschen ev. Kirchentag, den die IM nach Friedensschluß einberufen solle, und empfahl, bei dessen Vorbereitung den D E K A hinzuzuziehen. Schließlich beklagte er die konfessionellen, kirchenpolitischen und theologischen Gegensätze, die bedeutend größer seien, als Vietor annehme. Diese zu überwinden, müsse das religiöse Kriegserlebnis genutzt werden. ADW, C A 165 II. - Zur Geschichte des Bremer Handelshauses Vietor, die mit Karl Vietor endete, vgl. Klaus J.Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus der Bismarckzeit, 480f. S. Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus, 1884-1914,146f. u. pass.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

tendent Koehler/Berlin und Geh. Konsistorialrat Prof. Scholz, die für den Centraiausschuß bzw. den Ev. Bund teilnahmen, auch zwei hochrangige Männer des Kirchenregiments der Diskussionsrunde beiwohnten. 18 Wie vorauszusehen, beschloß man in großer Einmütigkeit, zur Klärung der anstehenden Fragen einen Vorbereitungs- und Verständigungsausschuß einzusetzen, der auch Kontakte mit der verfaßten Kirche aufnehmen sollte, um auf diese Weise die Planungen für einen großen evangelischen Volkstag nach dem Kriege und für eine ständige ,Arbeitsgemeinschaft' der Verbände voranzutreiben. Spiecker formulierte noch einmal das Ziel, die Einheit der Kirche zu fördern, und Mahling wiederholte seine bekannten Thesen, die er in Richtung einer jetzt notwendigen Rekonstruktion der Volkskirche zuspitzte: „Als ganzes müsse die Kirche dem gesamten Volke dienen"; Bindeglied dafür seien die freien Vereine. Dahinter stand erneut der Gedanke der Zerrissenheit des Volkes, als dessen Widerspiegelung Theologen wie Mahling und Seeberg die parteigebundenen und theologischen Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche interpretierten. Voraussetzung einer Wiedergewinnung der zerstörten doppelten Einheit von Nation und Religion war für sie die Überwindung dieser kirchlichen Spaltung durch konfessionelle und kirchenpolitische Harmonisierung der Gegensätze, nicht durch ihren Ausgleich im rationalen Diskurs. Während Mahling dafür das diffuse Leitbild einer alle inneren Spannungen aufhebenden johanneischen ,Geistesgemeinschaft' vorschwebte, wollte der systematisch-nüchterner denkende Seeberg jenseits von Kirchenpolitik und theologischem Richtungsstreit „das Erleben Gottes" und religiöses Empfinden wieder in den Mittelpunkt rücken, d.h. den Protestantismus „als geschichtliche Kulturmacht größten Stils" von der Kirche kraftvoll vertreten wissen. Die protestantische Kulturidee als völkischer und religiöser Integrationsfaktor blieb fortan mit dem projektierten Unternehmen - gerade auch in den Augen seiner Kritiker - untrennbar verbunden. Die Bedeutung jedoch, die jene mit seiner Planung und Durchführung betrauten Männer, unter ihnen an erster Stelle Spiecker und Schreiber, solchen geistigen Globalprogrammen in der Praxis zumaßen, scheint, in Kenntnis der kommenden Entwicklung, geringer gewesen zu sein, als ursprünglich zu vermuten. Nach derartigen Voten entbehrte es nicht einer gewissen Konsequenz, wenn Kirchenparteien und theologische Gruppierungen, die sich, wie wir noch sehen werden, ohne Rücksicht auf ein einheitliches Erscheinungsbild des deutschen Protestantismus in der Öffentlichkeit oft genug erbittert befehdeten, zum anvisierten Zusammenschluß der Verbände keinen Zutritt erhalten sollten. Die Frage war nur, wo die Grenzen zwischen herkömmlichen ,Arbeitsorganisationen' - so nannten sich die traditionellen Vereinigungen, die ihre Aufgaben .unpolitisch' 18

Auf die Frage, warum der DEKA nicht eingeladen worden sei, wurde geantwortet, dies wäre „unbescheiden" gewesen angesichts des noch unverbindlichen Charakters der Beratungen; man werde ihn zu späteren Sitzungen hinzubitten. Vgl. das Prot.; ADW, CA 1651.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen ( K D E A O )

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und ohne ,Theologengezänk' zu erfüllen wähnten - und den von vornherein nicht zugelassenen Gruppierungen lagen. Ob die Sogkraft der nun zu praktizierenden .großen Harmonie' im Endeffekt ausreichen würde, alle auseinanderstrebenden Tendenzen unter dem Dach des Verbandsprotestantismus zu vereinen, mußte höchst unsicher bleiben. Und was würde geschehen, wenn sich die nicht geladenen Richtungen zum gemeinsamen Angriff auf die Neuschöpfung des Centraiausschusses zusammenfänden, noch ehe diese förmlich konstituiert worden war? Pragmatiker wie August Wilhelm Schreiber und der Vorsitzende der Berliner Stadtmission, der gleichzeitig in der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz Seebergs engagierte Pastor Philipps, suchten dieser Gefahr von Anfang an dadurch zuvorzukommen, daß sie für eine Beteiligung auch des divergierenden kirchenpolitisch-theologischen Spektrums plädierten, konnten sich aber nicht durchsetzen. 19 - Daß man besser daran getan hätte, auf sie zu hören, und sei es aus der taktischen Erwägung, potentielle Gegner in die gemeinsame Verantwortung für die neue Spitzengliederung einzubinden, stellte sich nur zu bald heraus. Die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz nämlich, 1868 zur Bekämpfung der drohenden Ausweitung der Altpreußischen Union auf die neupreußischen Gebiete gegründet und seither Hüterin des lutherischen Konfessionalismus gegenüber allen bekenntnismäßig unklaren Einheitsbestrebungen, hatte durch eine Indiskretion von der vertraulichen Zusammenkunft bei Spiecker erfahren und griff die Pläne des Centraiausschusses in ihrem einflußreichen Organ AELKZ frontal an. 20 Der im Ton ironisch, in der Sache äußerst hart formulierende Artikel - wohl vom Schriftleiter Pfarrer Wilhelm Laible selbst stammend - monierte das unter ,semi-konspirativen' Bedingungen zustande gekommene Treffen und rügte das angeblich bewußte Fernhalten bekenntnistreuer Gruppen, zu denen in erster Linie seine Konferenz zähle. Ob die Veranstalter etwa „das Bekenntnis zurückstellen und nur .Arbeitsgemeinschaft' treiben" wollten? Kooperation im Raum der Kirche sei „ohne eine innere Gemeinschaft"

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Offizieller Antrag Schreibers v. 12.VIII. 1915 an den CA. Unter Berufung auf den Vorsitzenden des GAV, Prof. Rendtorff/Leipzig, setzte er sich dafür ein, wenigstens die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz und den Reformierten Bund künftig an den Verhandlungen zu beteiligen, eine Forderung, die er am 3.IX. gegenüber dem CA erneuerte. S.a. das Prot, der Sitzung des vorbereitenden Ausschusses V.7.X.1915, in dem sich P. Philipps diesem Wunsch anschloß. A m 24.X. 1915 wandte sich der Senior und ehemalige Präsident des CA, der fast neunzigjährige Prof. Bernhard Weiß, an seinen Nachfolger mit der dringenden Bitte, keineswegs auf die Erweiterungswünsche Schreibers und anderer einzugehen, die er für „verhängnisvoll" halte: „Über vierzig Jahre lang habe ich mit allem, was ich vermochte, mitgearbeitet, den Central-Ausschuß vor aller Verquickung mit den kirchenpolitischen Kämpfen zu bewahren. Mit jenem Vorschlage ist eine solche unvermeidlich." Wenn der CA die Kirchenparteien hinzuziehe, müsse er auch politisch Stellung nehmen ; daran könne er - Weiß - sich nicht beteiligen, „ohne meine gesamte Lebensarbeit zu desavouieren". A D W , C A 1651. A E L K Z 48.1915,905 f. Art. „Allerlei Gedanken zum kommenden religiösen Neubau".

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

nicht möglich, noch dazu, „wenn man die Stellung zum Evangelium als noli me tangere betrachte". Ihren Höhepunkt erreichte die polemische Attacke .in dem Vorwurf, man habe sich mit den „Bestreitern der Offenbarung" zusammengesetzt und die Vertreter der Gegenseite bewußt ausgeschlossen.21 Davon konnte wirklich keine Rede sein; selbst wer dem im Evangelisch-Sozialen Kongreß und teilweise auch im Evangelischen Bund organisierten liberalen Protestantismus rechte Auslegung und Verständnis des Evangeliums absprechen mochte, durfte doch nicht übersehen, daß dessen Exponenten im vorbereitenden Ausschuß durch die Anwesenheit,positiv' orientierter Teilnehmer sozusagen neutralisiert wurden. Vielleicht besaß der Artikel Laibles auch eher eine ,Schreckschuß'Funktion, um deutlich zu machen, mit welchen Gegnern und davon ausgehenden Schwierigkeiten die noch gar nicht offiziell ins Leben getretene Vereinigung der evangelischen Verbände künftig zu rechnen haben würde.22 Kritik aus diesem Lager blieb jedoch nicht auf die Konfessionalisten beschränkt; auch der Gnadauer Verband, das Sprachrohr des Gemeinschaftschristentums, meldete starke Bedenken an: Die Grundlagen des Bekenntnisses würden mit dieser Zusammensetzung in völlig unakzeptabler Weise ausgeweitet; neben einem Ev. Bund, wie er augenblicklich geführt werde, habe der Gnadauer Verband keinen Platz. Man fürchte, die Neugründung solle nur eine Plattform dafür bilden, die „Berechtigung abwegiger Strömungen" in der Öffentlichkeit zu sanktionieren; dazu werde man sich nicht hergeben.23 Gefährlicher als diese ablehnenden Stimmen mußte eine Resolution der am 20. Oktober in Hannover tagenden .Konferenz der verbündeten lutherischen Vereine für Innere Mission' empfunden werden, in der die Delegierten bedauerten, daß der Centraiausschuß nicht vor seinen entsprechenden Beschlüssen Fühlung mit den lutherischen Landesverbänden genommen habe. Obwohl man das Anliegen teile, halte man den eingeschlagenen Weg für „ungangbar", weil eine „innerliche Arbeitsgemeinschaft" nur zwischen Gruppen gleicher „Glaubensgrundlage" möglich sei. Da ein Volkstag der Inneren Mission nach Kriegsende wenig einbringen werde, könne der von ihr jährlich veranstaltete Kongreß in erweiterter Form die gleichen Aufgaben besser lösen.24 21 22

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Ebd. In einem Schreiben an Laible v. 2.X. 1915 gestand Schreiber zu, manchen in dem Art. aufgezeigten Monita könne er beipflichten. Er halte ein rigoroses Sich-Verschließen gegenüber dieser Idee jedoch für falsch. Laible habe mit seinem Beitrag das Eintreten Schreibers im CA für die Allgem. Ev.-Luth. Konf. erschwert, da dort Mahling, Seeberg und Scheffen als treibende Kräfte hinter deren Ausschluß stünden. ADW, CA 1651. Licht und Leben Nr. 13 v. 24.X. 1915. - Mit diesem Diktum war natürlich die liberale Theologie gemeint, die es durch dergleichen Unternehmungen nicht aufzuwerten und aus ihrer Ghettosituation herauszuführen gelte. Provinzial- und Landesvereine sollten Moderamen bilden aus Vertretern der einzelnen Organisationen, um durch „brüderlich vertrauliche Aussprache den unvermeidlichen Kampf in seinen Formen zu mildern und eine Schädigung des Ausschusses der evangeli-

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Die zitierten kritischen Kommentare vermitteln einen Eindruck davon, wie hart innerhalb des Protestantismus die Gegensätze aufeinanderprallen konnten. Vorbereitender Ausschuß und Innere Mission waren deshalb gut beraten, wenn sie einzelne Kritikpunkte aufnahmen und durch Modifikationen der programmatischen Entwürfe beruhigend auf die Gegner der Neugründung einzuwirken suchten. Am 7. Oktober erklärte der Ausschuß, er werde nur eine größere „Vertreterversammlung" der ev. Organisationen vorbereiten und besitze keine darüber hinausgehenden Ambitionen. Nicht einen neuen Verein gelte es zu gründen, sondern nur einen lockeren Zusammenschluß des Verbandsprotestantismus, unter Umständen sogar ohne Statuten im vereinsrechtlichen Sinne; ferner verstehe man sich nicht als „kleines Parlament" der Verbände mit „zufälligen Mehrheiten". Allerdings wurde über die Mitgliederfrage keine Einigkeit erzielt. Während der Pfarrerverein vorschlug, auch Synodale in den Kreis aufzunehmen, und andere Teilnehmer - wie schon zuvor - die Einladung auch kirchlicher Parteien und theologischer Richtungen in die Debatte warfen, verhielt sich die Mehrheit in dieser Hinsicht ablehnend. 25 Eine andere Sitzung des Ausschusses bestätigte Anfang November diese Aussagen. Obwohl die Pfarrer Philipps/ Freie Kirchlich-Soziale Konferenz, Pasche/Pfarrervereine, Schneemelcher vom Ev.-Sozialen Kongreß und Direktor Stuhrmann von Vietors Ev. Volksbund noch einmal für die Öffnung der Konferenz eintraten, weil sonst die Vertretung der Gesamtheit kirchlichen Lebens nicht gewährleistet sei, lehnten dies Ev. Bund, Gustav-Adolf-Verein und Centraiausschuß ab: Man wolle keine „Heerschau des gesamten Protestantismus" veranstalten; alle führenden ev. Männer Deutschlands werde man schwerlich an einen Tisch bringen. Die neue Konferenz solle sich auf praktisch-sittliche und soziale Aufgaben konzentrieren, d.h. nur solche Arbeiten anfassen, „bei denen sich eine weitgehende Übereinstimmung finden werde". Das Hinzuziehen der umstrittenen Gruppierungen könne zu Zwietracht und Streit führen, was die klassischen Verbände in ihrem Binnenbereich stets vermieden hätten. Als „unzweckmäßig" wurde selbst der Kompromißvorschlag verworfen, die Führer dieser Partei- und Bekenntnisrichtungen wenigstens als persönliche Teilnehmer zur Konferenz zuzulassen. 26 Daß man gut daran tat, den unverbindlichen Charakter der werdenden »Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen' (KDEAO) zu unterstreichen, insonderheit aber auf weitergehende kirchenpolitische Zielsetzungen zumindest verbal zu verzichten, bestätigte sich, als der liberale Neutestamentier

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sehen Kirche durch Wiederauftauchen von unerquicklichen Streitigkeiten zu verhindern". Vgl. „Entschließung der Delegierten-Konferenz der verbündeten lutherischen Vereine für Innere Mission [...] Hannover betreffend die Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen" ; EZA, E K D A 3/1. Vgl. das Prot., ADW, CA 1651. Prot, der Sitzung des vorbereitenden Ausschusses v. 3.XI. 1915; ebd.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Heinrich Weinel aus Jena im September 1915 einen Artikel im ,Kunstwart' veröffentlichte, worin er zum Bau einer deutschen Reichskirche aufrief und damit alle Befürchtungen der Konferenzgegner gegenüber diesem Lager zu bestätigen schien. Obwohl Weinel der ,Christlichen Welt' nahestand, gibt es für eine Absprache mit deren Freundeskreis und mit dem Herausgeber Martin Rade keinen Beleg. Andererseits besaß er auch zum vorbereitenden Ausschuß der KDEAO keine Kontakte und dürfte solche zu dessen liberalen Mitgliedern wie dem Berliner Pfarrer Wilhelm Schneemelcher, der hier den Ev.-Sozialen Kongreß vertrat, ebenfalls kaum unterhalten haben. Weinel unternahm also einen Alleingang, der dennoch beachtenswert ist, weil er für Hoffnungen der Befürworter und gleichermaßen Ängste der Gegner einer reichskirchlichen Einigung stehen kann. 27 In Anknüpfung an entsprechende Bestrebungen des 19. Jahrhunderts sah er deren Scheitern wesentlich darin begründet, daß es stets an der Einbeziehung des Volkes gemangelt habe. Vor allem die bescheidenen Versuche der Eisenacher Konferenz und des Kirchenausschusses zeichneten sich in negativer Weise durch dessen Ausklammerung aus. Seit der Weltkrieg ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen und Protestanten hervorgerufen habe, erkenne man die kirchliche Einheit wieder als drängende Aufgabe der Zeit. Schon die schlichte Übertragung dieses Gedankens aus dem staatlichen Bereich rechtfertige ein stärkeres Zusammenrücken der Kirchen im klaren Bewußtsein der Bedeutung, die eine einheitliche volkstümliche Organisation für die „Erzeugung einer gesunden und starken Lebensanschauung in einem Volk" besitze. Doch gebe es genügend „innerkirchliche und innerchristliche Gründe", die ein solches Ziel davon ganz unabhängig dringlich machten: Gottesdienstfragen, Jugendarbeit und Pfarrerausbildung, ja das Verbandswesen, das sich selbst als Innere Mission, Gustav-Adolf-Verein und Ev. Bund noch immer mehr als „Vereinssache" denn als „Volkssache" darstelle, nötigten heute zu einem Zusammenschluß. Er verkenne wahrlich nicht die kirchlichen und konfessionellen Probleme, die seinem Vorschlag entgegenstünden; eine deutsche Reichskirche müsse deshalb „mit völliger Freiheit und Anerkennung aller verbunden sein, die sich zu ihr halten wollen". Doch widerspreche er ganz entschieden jenem Argument, „daß ein so bunt zusammengesetzter Organismus unfähig zum Leben und gewiß unfähig zu einheitlichem Handeln sei". Denn für gemeinsames christliches Tun komme es nicht auf dogmatische Unterschiede an, sondern auf die Früchte christlicher Praxis im Geist „der Liebe als dem einzigen Erkennungszeichen der wahren Jünger Jesu".28

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Heinrich Weinel, „Die deutsche Reichskirche". S.a. Gottfried Mehnert, Evangelische Kirche und Politik 1917-1919,214 ff. Weinel, a.a.O., 130 f. 132 f. 133. - A m Ende seiner Ausführungenschlug Weinel die Einberufung eines Reichskirchentages vor, der anders als bisher das ganze Volk repräsentieren müsse; dazu sei eine Änderung der Wahlordnung im Sinne des Verhältnis Wahlrechts not-

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Es mag überraschen, daß Innere Mission und Vorbereitungsausschuß ihren Verhandlungsprotokollen zufolge die Initiative Weineis explizit nicht thematisierten, wenngleich der Vorstoß des liberalen Theologen sonst durchaus auf Zustimmung, freilich mehr noch auf Kritik traf.29 Einer der Gründe wird in dem Reizthema ,Reichskirche' selbst zu suchen sein, das man hier gar nicht erst ansprechen durfte, wollte man das viel bescheidenere Unternehmen der K D E A O nicht von Anfang an kirchenpolitisch unerträglich belasten. Man wußte sich wohl in seinen Hoffnungen von Weinel gar nicht weit entfernt, schätzte ihn allerdings mit Recht als Einzelgänger ein, dessen Einfluß bei weitem nicht an die - ohnehin beschränkten - Möglichkeiten heranreichte, die dem Verbandsprotestantismus zur Verfügung standen. 30 Auf der traditionellen Novemberkonferenz der Inneren Mission 1915 prallten die gegensätzlichen Anschauungen aufeinander, auch ohne daß man auf Weinel Bezug nahm. 31 Um den zu erwartenden Angriffen auf diese Vollversammlung des sozialen Protestantismus' zu begegnen, wies Seeberg namens der Befürworter den dreifachen Verdacht zurück, der sich gegen den Plan richte: Weder das Kirchenregiment selbst noch eine theologische Richtung oder gar die Mittelpartei 32 steckten dahinter; man habe es einzig und allein mit einer Initiative der Verbände unter Führung des Centraiausschusses zu tun. Als tief bedauerlich empfinde er, daß nur theoretische und politische, niemals aber praktische Probleme in der Kirche parteibildend wirkten. Dabei berühre sich gerade die verwaltende Tätigkeit der verfaßten Kirche „in keiner Weise mit den Hoffnungen", die der

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wendig. Es sei unerläßlich, noch im Kriege mit dem Neubau der Kirche zu beginnen, um das große Werk nach Friedensschluß Wirklichkeit werden zu lassen. Dazu der Beitrag Weineis von 1916, „Warum keine Reichskirche?", in dem er sich mit Befürwortern und Gegnern seines Vorschlags auseinandersetzt. Deshalb ist Weineis These wohl als überzogen anzusehen, er sei derjenige, der im Weltkrieg den Reichskirchen-Gedanken [als einziger] aufgegriffen und popularisiert habe. Auch seine Behauptung, die von ihm in Anlehnung an (von) Hase erhobenen Forderungen seien im Deutschen Ev. Kirchenbund 1922 mit Ausnahme des Wahlrechts weitgehend verwirklicht, wird skeptisch beurteilt werden müssen, soweit Weinel damit suggerieren will, die entscheidende Anregung sei von ihm ausgegangen. Vgl. seinen Art. „Reichskirche", in: RGG 2 IV, 1828 f. Prot.-auszug der Nov.-konf. v. 9.XI. 1915; ADW, CA 118. Gemeint ist die,Evangelische Vereinigung', eine kirchenpolitische Richtung, die sich nach links zum Protestantenverein und nach rechts zu den Lutherisch-Konfessionellen abgrenzte und unter maßgeblichem Einfluß des Hallenser Theologen Willibald Beyschlag 1877 zu einer festen Organisation wurde. Ihre gleichzeitige Wendung gegen einen starren Konfessionalismus wie auch gegen einen neuen, diesmal unierten Bekenntniszwang brachte sie bei ihren Gegnern leicht in den Verdacht, zwischen den Flügeln vermitteln zu wollen, was sie aber an sich nicht als ihre Aufgabe verstand. Vgl. RGG 1 II, 740-749 und RGG 2 II, 446f. An der Kürze des Art. in der 2. Aufl. läßt sich schon ablesen, welchen Bedeutungsschwund die Mittelpartei durch die kirchliche Neuorganisation nach dem Kriege erlitt.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Verbandsprotestantismus hege. Auch den Ausführungen Mahlings, der schon wieder die „Volkskirche als einheitliche Repräsentation der Liebe Christi in unserem Volke" beschwor, gelang es im Verein mit Spiecker und Seeberg nicht, die Kritiker zum Schweigen zu bringen. Pfarrer Oehlkers, der Sprecher der Konferenz der Brüderhausvorsteher und Mitautor der genannten Resolution von Hannover, wandte sich in scharfer Form gegen die Beteiligung der Liberalen, die zu Schuld und Erlösungsbedürftigkeit der Deutschen gerade im Kriege kein Wort fänden, statt dessen aber „von der ,Herrlichkeit des deutschen Wesens' und von der Größe dessen, was wir geleistet haben," redeten, was jede Gemeinsamkeit unmöglich mache. Und der enge Weggefährte und in vielem der politische Testamentsvollstrecker Adolf Stoeckers, Lic. Reinhard Mumm, hieb in die gleiche Kerbe, wenn er es ablehnte, mit theologischen Gegnern ,brüderlich' umzugehen. 33 Sogar Anhänger des Planes einer ,Clearingstelle' des Verbandsprotestantismus zur Beratung lediglich praktischer Fragen beurteilten die Novemberkonferenz von 1915 als Mißerfolg. Pastor Studemund/Schwerin lastete die Verantwortung dafür hauptsächlich Mahling und Seeberg an. Der Centraiausschuß habe den Fehler begangen, wenig nüchtern argumentierenden Professoren die Federführung in dieser Sache zu überlassen. Beide paßten gar nicht in die Kreise, von denen die Innere Mission getragen werde, man solle sie durch Männer aus dem Kirchenregiment, d.h. wohl durch Pragmatiker, die das ,Machbare' abzuschätzen wüßten, ersetzen.34 Ähnlich äußerte sich der Herrnhuter Unitätsdirektor Bauer: „Das Schicksal des schönen Plans" sei in Gefahr; Mahling und Seeberg hätten zu prinzipiell argumentiert. Vielleicht jage man tatsächlich einer Wunschvorstellung nach; immerhin sei die Sache so ernst, daß sie dem Centraiausschuß „den Hals kosten oder ihm eine neue segensreiche Stellung geben" könne. 35 Auch Theodor Kaftan schaltete sich ein und versuchte, auf Schreiber und Spiekker Druck auszuüben mit dem Ziel, sie von der Gründung der Konferenz abzubringen. Wie man ihm von der Novemberkonferenz berichtet habe, sei die Innere Mission auf dem besten Wege, sich auf Kirchenpolitik einzulassen; das werde ihr und ihrem Dienst schaden. 36 Auf die Versicherungen beider, man werde sich ausschließlich Problemen wie der Sittlichkeits-, Alkohol- und Woh-

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„Ich bin nicht in der Lage, dem Vertreter der religionsgeschichtlichen Auffassung brüderlich die Hand zu reichen." Vgl. das Prot., a.a.O. Zur Religionsgeschichtlichen Schule und ihrem überaus zwiespältigen Eindruck auf die theologisch interessierten Zeitgenossen, der mit den Nachwirkungen der,entmythologisierenden' Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Richtung mehr als 50 Jahre später zu vergleichen ist, s. Horst Stephan/Martin Schmidt, Geschichte der evangelischen Theologie in Deutschland, 338 ff. Studemund an Scheffen v. 12.XI. 1915; ADW, CA 1651. Bauer an Scheffen v. 13.XI. 1915; ebd. Th. Kaftan an Schreiber v. 20.XI.1915; EZA, E K D A 3/1, und an Spiecker v. gleichen Tage; ADW, CA 1651.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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nungsfrage widmen und peinlichst jede Politisierung vermeiden, 37 gab sich Kaftan beruhigt, konnte es aber nicht unterlassen, die ihm suspekten Hochschullehrer Mahling und Seeberg noch einmal der .Rädelsführerschaft' in dieser Hinsicht zu bezichtigen.38 Offenbar von ihm mitinspiriert, meldete die AELKZ am 10. Dezember - reichlich voreilig, wie sich zeigen sollte -, der Plan einer .Arbeitsgemeinschaft' sei nach all dieser Kritik nun wohl endgültig gescheitert.39 Ganz ohne Frage verfehlten Warnungen und grundsätzliche Ablehnung des von der Inneren Mission ausgehenden Versuches, den Verbandsprotestantismus zu einigen, ihre Wirkung auf die Initiatoren nicht; unbeirrt hielten sie dennoch an ihrem Vorhaben fest. Mitte Dezember legte der Vorbereitungsausschuß den Termin für die Gründungsversammlung der ,Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen', wie das Gebilde nach einem Vorschlag des GAV-Vorsitzenden Franz Rendtorff nun endgültig heißen sollte, fest.40 Rendtorff war es auch, der in Überwindung der wenig konkreten Vorstellungen Mahlings, welcher immer wieder auf einzelne Arbeitsvorhaben rekurrierte, ohne Langzeitperspektiven zu entwickeln, ein zwar unverbindliches, dafür aber zustimmungsfähiges vorläufiges Programm entwarf, das die Teilnehmer in Form folgender Entschließung verabschiedeten: „Die Konferenz deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen verfolgt das Ziel, die größeren, mit ihrer Arbeit über den Umkreis einzelner Landeskirchen hinausreichenden Vereinigungen, die deutsches evangelisches Leben in unserem Volke zu wecken, zu fördern und zu vertiefen bestrebt sind, derartig miteinander in Fühlung zu bringen, daß sie über ihr gedeihliches Zusammenarbeiten an der Verwirklichung dieser Aufgabe in regelmäßig wiederkehrenden 41 Verhandlungen Verständigung suchen."

Diese mit diplomatischem Geschick formulierte Positionsbestimmung hätte eigentlich die Kritiker beruhigen müssen; nichts anderes wollten doch Eisenacher Konferenz und Kirchenausschuß auch - nur mit Bezug auf die verfaßten Landeskirchen. Aber die Selbstzweifel bei einigen Beteiligten über den Sinn des Unternehmens wie die Angriffe von außen verstummten bis zum März nicht. 37 38

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Antwort Spieckers v. 26.XI.; ebd., und von Schreiber v. 4.XII. 1915; EZA, EKD, A 3/1. Th. Kaftan an Schreiber v. 6.XII. 1915. Das in der vertraulichen Besprechung bei Spiecker am 5.VII. Geplante sei eine kirchenpolitische Aktion der beiden Professoren gewesen, die ihn an sich unberührt lasse, wenn nicht der CA hineingezogen worden wäre. Für diesen würde es „eine Entgleisung" bedeuten, falls er damit begänne, Kirchenpolitik zu machen und dadurch die IM und sein eigenes Ansehen in Gefahr bringe; ebd. In einem Brief an seinen Bruder Julius rühmte er sich am 28.XI., er habe sein „bescheiden Teil" dazu beigetragen, daß der Versuch Seebergs und Mahlings, den CA für ihre Kirchenpolitik einzuspannen, ins Wasser gefallen sei; cf. Kirche, Recht und Theologie II, 584. 48.1915,1196 f. Art. „Allerlei Gedanken zum kommenden religiösen Neubau", XVI. Teil. Prot, der Verhandlungen des vorbereitenden Ausschusses v. 15.XII.1915; die Konstituierung der KDEAO sollte danach am 22.11.1916 stattfinden; EZA, EKD A 3/1. Hier folgt im Entwurf das später gestrichene Wort „vertraulichen"; ebd.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Kritische Anfragen kamen wie stets vornehmlich aus dem Lager des lutherischen Konfessionalismus. Die gewichtigste unter ihnen stammte von Hermann von Bezzel, Präsident des Königlich-Bayerischen Oberkonsistoriums in München und seit einigen Jahren in Personalunion Vorsitzender der Eisenacher Konferenz. In einer „Neujahrsbetrachtung" zum Jahreswechsel beschäftigte sich v. Bezzel mit den Vorschlägen Weineis, die er indirekt zu den Plänen der Inneren Mission in Beziehung setzte: Historische Entwicklung wie bekenntnismäßige Sonderausprägung der deutschen Kirchen ließen den Gedanken einer Reichskirche als reine Utopie erscheinen. Schon Artikel VII der Confessio Augustana habe Bekenntnis und Kirchenverfassung gleichermaßen im Blick; beide seien untrennbar verbunden. Die wahre Kirche stehe nicht über und außerhalb der Völker, wiewohl das Bekenntnis alle Menschen, wo sie auch in der Welt zerstreut lebten, innerlich einige. Seine berühmte Formel: „Nicht Nationalkirche als Zweckverband, sondern Internationale als Bekenntnisgemeinschaft" 42 bezog sich auf die Apologie der Confessio zum eben genannten Kirchenartikel 43 und verwarf eine Reichskirchenvision, die zwar kein Zwangsbekenntnis enthalte, das Luthertum inmitten eines religiösen Meinungspluralismus aber „höchstens noch als theologischen Standpunkt", d.h. als einen unter vielen möglichen zur Geltung bringe. Auch in den Verbänden dürfe es nicht bloß um „Pflege und Förderung irgendwelchen religiösen Lebens" gehen, sondern allein um das Evangelium. Wenn die Innere Mission anstelle des klaren Bekenntnisses „eine die Wahrheitsfrage versäumende Gefühlsreligion des humanitären Gefühlskultes" einführe, verflache ihre Arbeit, und sie verliere das kennzeichnende Signum christlicher Nächstenliebe, was um so bedrohlicher sei, je stärker humanitäre Wohlfahrtspflege und .Caritas' zusammenarbeiteten. Bei der ersten ernsthaften Belastungsprobe werde die KDEAO zusammenbrechen; „Arbeitsgemeinschaft ohne Glaubensgemeinschaft ist Selbstbetrug", lautete sein Fazit, das keinen Zweifel daran ließ, wie negativ er die Pläne des Centraiausschusses wertete.44 Dieses apodiktische Urteil im Namen eines an Schrift und reformatorische Bekenntnisse gebundenen Luthertums machte sich auch der Herausgeber der AELKZ, Wilhelm Laible, zu eigen. Die Konzentration auf praktische Aufgabenfelder sei lediglich eine Notlösung, weil die innere Einheit fehle. Arbeiten, die ein Freimaurer wie „jeder anständige Atheist und Jude" ebenfalls bejahen könne, hätten doch nichts spezifisch Evangelisches an sich. Anstatt dort Gemeinsamkeiten zu konstruieren, wo es keine gebe, solle der Verbandsprotestantismus lieber schweigen, um nicht zum Gespött der Katholiken zu werden; 45 mit einer „,Ethisierung* der Kirche", wie sie Martin Rade fordere, sei nieman-

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Hermann (von) Bezzel, „Neujahrsbetrachtung", 11. Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, 235 f. „Neujahrsbetrachtung", 12 f. 14. Laible an Schreiber v. 23.1.1916 (Abschrift); EZA, EKD A 3/1.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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dem gedient. 46 Es ist verständlich, daß Voten dieser Art auch unter den der Konferenz wohlgesonnenen Mitgliedern des Centraiausschusses Zweifel und Befürchtungen nährten. Ihnen ging es weniger um die angeschnittenen Bekenntnisprobleme als um den Fortbestand der Inneren Mission, die durch diese ihrer Meinung nach eher kirchenpolitische - Belastungsprobe nicht in ihrer Integrität und in der kirchlich-gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Arbeit gefährdet werden dürfe. Pastor Philipps artikulierte derartige Sorgen namens seiner Organisation, der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz, und warnte Präsident Spiecker vor einer zu starken Öffnung nach links. Seeberg und Mahling hätten dabei nichts zu verlieren, da sie keiner kirchenpolitischen Partei eindeutig zuzuordnen seien. Und die Liberalen könnten von der Zusammenarbeit nur profitieren, weil nur die Rechten Zugeständnisse machen müßten. Er frage sich manchmal, ob man nicht letzten Endes „der Sache des positiven biblischen Christentums und seiner Vertretung in Volk und Kirche mehr schaden als nützen" werde. 47 - Unter diesen Umständen mußte es fast als kleines Wunder erscheinen, daß die Gründungsversammlung der Konferenz dennoch zustande kam. Das ging nicht allein auf das Konto ihrer optimistischen Verfechter wie des CAPräsidenten Spiecker, der als Laie - er war Direktor bei Siemens - die konfessionspolitischen Differenzen geringer einstufte als viele seiner theologisch ausgebildeten Mitstreiter, sondern lag an den realen Machtverhältnissen innerhalb des Verbandsprotestantismus. Solange die Großorganisationen Ev. Bund, GustavAdolf-Verein und Innere Mission unerschütterlich zu ihrem Vorhaben standen, hatten die Kritiker wohl beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die programmatische Entwicklung; die Entscheidung für die KDEAO rückgängig zu machen, vermochten sie indessen nicht. Da man das Kirchenregiment vorerst nicht beteiligen wollte, besaßen skeptische Äußerungen von dieser Seite eben-

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Ders. an dens. v. 13.11.1916 (Abschrift). Anstelle der Alten Wort „wir glauben, lehren und bekennen" bäten die ,Modernen' darum, von Glaubenssachen zu schweigen. Wenn die KDEAO dennoch zustande komme, „wäre das erste Ergebnis des Krieges ein evangelischer Zusammenschluß mit dieser Bankrotterklärung über den Besitz des Evangeliums". Das ganze Projekt werde neuen „Sprengstoff" in die Kirche hineintragen. Er glaube nicht daran, daß ein solches Einigungswerk unter dem Segen des Hl. Geistes stehe; ADW, CA 1651. - Noch eine Woche vor Beginn der Gründungskonferenz wandte sich der sächsische Landesverein für IM an den CA und bat darum, von der Konstituierung oder wenigstens von einer Führungsrolle des CA in den Leitungsgremien der KDEAO abzusehen, da man nach wie vor davon überzeugt sei, daß die Konferenz in kirchliche Kämpfe der Gegenwart eingreifen werde. Vgl. a. das beschwichtigende Antwortschr. Spieckers v. 21 .II.; ADW, CA 165 III.

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Philipps an Spiecker v. 14.1.1916; EZA, E K D A 3/1. - Diese vorsichtige Kritik am Präsidenten teilten auch die Brüder Kaftan, die in Spiecker das von Mahling und Seeberg nur mißbrauchte, die Lage nicht mehr überblickende Aushängeschild bestimmter kirchenpolitischer Machinationen sahen. Vgl. Julius an Th. Kaftan v. 18.XII. 1915 und die Antwort v. 31.XII.1915; Kirche, Recht und Theologie II, 585-587.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

falls nur geringen Einfluß, zumal sie - wie angeführt - zumeist von dezidierten Lutheranern kamen, deren prinzipielle Gegnerschaft bekannt war. 1.1.2. Die Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen zwischen Weltkrieg und Revolution Als die Gründungsversammlung der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen am 22. Februar 1916 endlich zusammentrat, zeigte sich, daß trotz aller Bedenken und harscher Anfeindungen, denen sich dieser Versuch einer Spitzengliederung der Verbände seit dem ersten Auftauchen des Projekts ausgesetzt sah, die überwältigende Mehrzahl der in Frage kommenden Organisationen der Einladung Folge geleistet hatte.48 Lediglich der Gnadauer Verband, der ,lutherische Gotteskasten' (Martin-Luther-Bund) - das konfessionalistische Pendant zum Gustav-Adolf-Verein - und die Allgemeine Ev.-Luth. Konferenz waren nicht erschienen; letztere stellte jedoch in einer höflich gehaltenen Absage ihre künftige Mitarbeit unverbindlich in Aussicht.49 Dennoch kam es unter den 63 Teilnehmern der konstituierenden Sitzung beinahe zu einem Eklat, als der wie immer leidenschaftlich von seinen Überzeugungen überwältigte und gänzlich undiplomatisch agierende Mahling noch einmal ein ,Breitwandpanorama' seiner Johanneischen Theologie' entfaltete. Er beschrieb - wohl in Anspielung auf Bezzel - mit Emphase den tiefen Hiatus zwischen Kirche als Bekennergemeinschaft und Kirche als Volkskirche und unterschied in letzterer solche Christen, die den Weg der Volkskirche als Ausfluß einer festen Glaubensbindung beschritten hätten, und andere, die hier noch ohne innere Berufung mitgingen, aber darauf hofften, diese eines Tages zu erhalten. Auch ihnen müsse „die warme Bruderhand" gereicht werden, und es sei unchristlich, sie ihnen zu verweigern. Darin sah er den Schlüssel zum rechten Verständnis der christlichen Tat, die einem bloßen Bekennertum mindestens ebenbürtig sei. Die neue KDEAO wolle dieses Christentum der Tat' als „Dienst am Volk" verwirklichen und nicht Kirchenpolitik und „andere Nebenzwecke" verfolgen.50 - Spiecker und weitere Vertreter der Gemäßigten, wie der Leipziger Kollege Mahlings und GAV-Vorsitzende Franz Rendtorff, hatten daraufhin Mühe, die Konferenz wieder auf ihr eigentliches Thema zurückzubringen. Denn aus Mahlings Worten konnten nicht nur seine Gegner herauslesen, daß persönliche Glaubensüberzeugung und Bekenntnisbindung zugunsten einer vage bleibenden religiösen Gesin-

^ S. das gedruckte Prot. •,KDEAO. Bericht über die Gründungsversammlung'. 49 Diese Mitteilung machte Spiecker während der Tagung. Was davon wirklich zu halten war, hatte Laible am 13.11. Schreiber übermittelt: Die Bedenken der Luth. Konferenz seien so schwerwiegender Natur, daß der Fall eines späteren Zusammengehens schwerlich eintreten werde, „solange man mit Organisationen arbeitet, denen wir es absprechen müssen, daß sie evangelisches' Leben bauen und fördern". A D W , CA 165 11. 50 Vgl. das Prot., a. a. O., 10- 23, Zitate 18 u. 21.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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nungsethik in der Programmatik der KDEAO zurückzutreten hätten. Auch seine Freunde und die Befürworter der Gründung waren verunsichert, und es ist charakteristisch für Rendtorffs Wirklichkeitssinn, daß er, ohne auch mit einem Satz auf seinen Vorredner einzugehen, in einer Art negativer Positionsbestimmung die Aufgaben der Konferenz weit realistischer umriß: Keine reichskirchlichen Forderungen, keine Kirchenpolitik, keine theologischen Richtungsstreitigkeiten und keine Eingriffe in bestehende Strukturen der Landeskirchen wolle die KDEAO, sondern einzig das, was in der - oben zitierten - Vorlage vom 15. Dezember festgelegt worden sei.51 Dem schloß sich die Versammlung an. Mit Ausnahme der Kaiserswerther Generalkonferenz ev. Diakonissenmutterhäuser, die Rücksichten auf ihre über die deutschen Grenzen hinausreichende Mitgliedschaft nehmen mußte, stimmten die Anwesenden Rendtorffs Votum zu und vollzogen auf dieser Grundlage die förmliche Konstituierung der Konferenz. Wie nicht anders zu erwarten, lösten der Gründungsakt und das ebenso unglückliche wie mißverständliche Eröffnungsreferat Mahlings eine breite publizistische Reaktion aus, innerhalb derer sich, was Übelwollen und kompromißlose Verwerfung betrifft, wiederum die AELKZ hervortat.52 Während die lutherischen Landesvereine für Innere Mission in Bayern und Sachsen ebenfalls wenig Gutes zu berichten wußten, 53 verteidigte der Vorsitzende der Vorsteherkonferenz der Brüderhausdiakonie, Pastor Oehlkers, den Beitritt seiner Organisation, der nach anfänglicher Skepsis erfolgt sei: Auch diejenigen Geistlichen, die das unverfälschte' Evangelium verkündigten, müßten sich fragen lassen, warum ihre Kirchen so leer seien. Für einen Anschluß habe die Gelegenheit des Protestantismus, nun mit einer Stimme zu sprechen, als wesentliches Motiv den

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Ebd., 24 f. Zum programmatischen Satz, den Rendtorff im Dezember formuliert hatte, s.Anm.40. AELKZ 49.1916, 204-08. Interessanterweise druckte das Blatt den an die Presse gegebenen offiziellen Konferenzbericht unverändert ab und schloß erst im Nachspann seine Polemik an, die darin gipfelte, daß man dem ESK und der liberalen Theologie insgesamt in ihren Exponenten Adolf v. Harnack und Otto Baumgarten die Bindungen an den Glauben der Väter rundheraus absprach. Die,Blätter für Innere Mission in Bayern* sahen in der Gründung eine „Überspannung des Organisationsgedankens innerhalb der evangelischen Kirche", die zu deren Schwächung führe, weil das Vereinsprinzip überwiege und die Kirche damit zu einer Gruppe unter vielen werde. Damit unterminiere man die Stellung der Landeskirchen und letztlich auch den Bekenntnisstand; 31.1916,17 f., 17. - Im Ton moderater meinten die,Bausteine', das IMOrgan im Königreich Sachsen, die Ziele der Konferenz hätten auch durch „Verständigung von Fall zu Fall" erreicht werden können; dazu benötige man keine Neugründung. Die doppelte „Achillesferse" der Konferenz liege darin, daß man entweder wegen innerkirchlicher Auseinandersetzungen die erstrebte kirchliche Einheit doch wieder werde aufgeben müssen oder um eines nur äußerlichen Zusammengehens willen innere Gegensätze um jeden Preis unter den Tisch kehren werde; 48.1916,62-64,63 f.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Ausschlag gegeben.54 Völlig unbeeindruckt von den - nicht zuletzt durch sein Einwirken - so allgemein gehaltenen und sowohl Bekenntnis- als auch politische Fragen bewußt ausklammernden Arbeitszielen der Konferenz zeigte sich der Kieler Generalsuperintendent Theodor Kaftan. In freundlich gehaltenen Briefen an Spiecker wiederholte er nochmals seine Vorbehalte und monierte insbesondere das gedruckte Protokoll, das anders, als es ihm Spiecker seinerzeit zugesichert habe, 55 nun doch den Anschein erwecke, als wolle man den alten Plan einer Repräsentanz des gesamten Protestantismus durch die KDEAO wiederaufnehmen. Er bedaure das politische Engagement des Centraiausschusses und stelle seine Mitgliedschaft in diesem Gremium hiermit zur Verfügung. 56 Spiecker wies den versteckten Vorwurf zurück, die Innere Mission sei ihrem ursprünglichen Auftrag untreu geworden, und bestürmte den prominenten Kirchenführer vergeblich, seine Entscheidung zu überdenken. 57 Der streitlustige58 alte Herr - er ging im folgenden Jahr in den Ruhestand - dachte jedoch gar nicht daran und benutzte das Forum der AELKZ im Mai des Jahres für eine geharnischte Attacke auf KDEAO und Centraiausschuß: Jene trete in harmlosem Gewände auf und behaupte, den angeblichen religiösen Aufschwung erhalten zu wollen; dieser suche ein neues Betätigungsfeld, nachdem seine Bedeutung als Reichsvertretung der Inneren Mission seit Jahren im Sinken begriffen sei. Mahling und Seeberg hätten die Gunst des Augenblicks erkannt und den CA zur Aufgabe seiner bisher stets gewahrten kirchenpolitischen Neutralität bewogen. Die Konferenz erhebe Anspruch auf Bearbeitung der gleichen Themen wie der DEKA; ob sie sich diesem etwa als selbsternanntes Synodalorgan zur Seite stellen wolle? Entweder erweise sie sich auf Dauer als der unambitiöse

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Oehlkers, „Altera pars", in: AELKZ 49.1916,256-259. - Nicht überraschend kam eine vorbehaltlose Zustimmung von der .Christlichen Welt'. In einem Kommentar zur Gründung kritisierte der Hg. Martin Rade die Attacken seitens des Bekenntnisflügels und meinte: „Die Sorge um die Reinheit der eigenen Überzeugung und um die Heiligkeit des Evangeliums soll nicht so leicht zu einem Mißtrauen führen, das dem Bruder Schlimmes zutraut und von ihm nur Schaden fürchtet für das Reich Gottes. Man sollte Gott und seinem Wort lieber mehr zutrauen"; CW 30.1916, 230 f., 231. Gemeint ist das Schreiben Spieckers an Th. Kaftan v. 26.XI. 1915; s. Anm. 37. Brief v. 16.IV. 1916; ADW, CA 165 III. Spiecker an Kaftan v. 27.IV. 1916; ebd. Am 29. d. M. antwortete Kaftan noch einmal, blieb aber bei seiner Meinung, man könne liberalen Professoren wie Rade und Baumgarten nicht über den Weg trauen, die, wie ihre Haltung im ,Fall Jatho' demonstriere, keine Grenzen respektierten und ein Christentum verträten, das drohe, ins Heidentum auszuufern; ebd. Zur Aff are um den Kölner Pfarrer Carl Jatho, der 1911 in Anwendung des wesentlich gegen ihn gerichteten kirchlichen Irrlehregesetzes von 1909 in einem Spruchkammerverfahren des Pantheismus bezichtigt und aus dem Amt entfernt worden war und den Otto Baumgarten als Verteidiger vertreten hatte, cf. RGG 2 III, 43. Am 16.VI. 1916 warnte Julius Kaftan seinen Bruder Theodor vor zu großer Schärfe und berichtete ihm, er stehe im Ruf, „Freude am Streit zu haben"; Kirche, Recht und Theologie II, 600 f.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDE AO)

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Zusammenschluß, der sie vorgebe zu sein, oder sie enttarne sich als ein „in friedliche Arbeitsorganisationen Spaltung und Streit hineintragendes Organ für mittelparteiliche Kirchenpolitik" - dann aber werde sie auf entschiedenste Gegenwehr stoßen. 59 Als die KDEAO nach langer Anlaufphase und unbeschadet des Kreuzfeuers der Kritik von vielen Seiten endlich zustande gekommen war, mochten ihre eifrigsten Verfechter hoffen, sie werde nun rege Aktivitäten entfalten und dem freien deutschen Protestantismus - als dessen berufene Vertretung man sich auf dem Felde .praktischer' Arbeit sah, auch wenn man das explizit nicht mehr thematisierte - noch im Kriege wichtige, mit Blick auf die Friedenszeit am Ende sogar ausschlaggebende neue Impulse vermitteln. Die vielbeschworene Beschränkung auf die Praxis erwies sich angesichts dieses Anspruchs bis zur Revolution allerdings als mühseliges Geschäft; denn es stellte sich heraus, daß manche aus Realitätssinn und Pragmatismus geäußerte Warnung vor einem durch einen kleinen Arbeitsausschuß ohne ausreichenden Etat 60 und Einwirkungsrechte repräsentierten schwerfälligen Organisationsverbund nur zu sehr ihre Berechtigung besaß. Das Prinzip der Einstimmigkeit bei allen Beschlüssen, das für öffentliche Verlautbarungen der KDEAO unerläßlich war, sowie die unterschiedlichen Arbeitsgebiete und Interessen der Mitgliedsorganisationen erleichterten es ihr nicht, in angemessener Frist auf aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen zu reagieren und sie zu beeinflussen. Wenn man etwa an die lange diskutierte Petition zu Fragen der Sittlichkeit und des Alkoholismus denkt - Vorhaben, auf die sich die Arbeit der Konferenz vornehmlich konzentrierte so gelangten entsprechende Resolutionen erst an Parlamente und Presse, nachdem Ausschüsse und Minister bereits eigene Vorstellungen entwickelt bzw. darauf zielende Verfügungen erlassen hatten. 61

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Th. Kaftan, „Der Centrai-Ausschuß für Innere Mission und die Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen", in: AELKZ49.1916,423-428,428. So betrugen beispielsweise die Einnahmen für 1917 2.460,66 M, wovon 1.400 M an Spenden und nur 1.050 M als Beiträge von den Mitgliedsorganisationen zusammenkamen. Dem gegenüber standen Ausgaben von 2.503,30 M; allein die Bürokosten - die Geschäftsstelle befand sich in den Räumen der Deutschen Ev. Missionshilfe, weil deren Direktor Schreiber gleichzeitig als Schriftführer der KDEAO fungierte - beliefen sich auf 1.486,40 M. Daß man mit diesen Beträgen wenig bewegen konnte, lag auf der Hand. Vgl. das Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 8.IV. 1918; ADW, CA 165 IV. Die Beratungen über einen Aufruf zur Bekämpfung von Prostitution und Geschlechtskrankheiten wie diejenigen über eine Eingabe an das Kriegsministerium, die kommenden Siegesfeiern nicht durch Alkohol ausarten zu lassen, indem man von dort ein Verbot der Schnapsproduktion aus Lebensmitteln (Korn, Kartoffeln) erließ, schleppten sich vom Juli 1916 bis zum April 1918 hin. Die formulierten Ziele wurden in der Zwischenzeit durch einen Gesetzentwurf des Reichstags v. 16.11.1918 zur Eindämmung der Prostitution und eine Verfügung des Kriegsministeriums über die „alkoholfreie Demobilisierung des Heeres" vom Frühjahr 1918 überholt. Vgl. KDEAO. Verhandlungsnachweis über die zweite

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission u n d Kirche

Der Kampf beider Konfessionen um ,sittliche Reinheit', 62 gegen Prostitution und außerehelichen Geschlechtsverkehr bei der Truppe und unter der Zivilbevölkerung wird von heutiger Warte aus allzuleicht als Ausfluß eines schon damals in Auflösung begriffenen - lediglich religiös unterfütterten - bürgerlichen Moral- und Ehekodex eingeschätzt, eine Deutung, die nur die Oberfläche dieses Phänomens streift, weil dahinter zwar unleugbar genuin christliche, aber auch konkrete gesundheits- und bevölkerungspolitische Motive und Interessen standen. Die Anschauung vom Mißbrauch der Schöpfung durch ein ungezügeltes Triebleben war untrennbar verwoben mit vaterländischen' Beweggründen: Die mangels eindämmender Medikamente wie Penicillin und Sulfonamiden unter den Bedingungen der Kriegszeit durch erhöhte Promiskuität grassierenden venerischen Erkrankungen63 gefährdeten nicht allein den moralischen Zusammenhalt der Familien, sie schienen sich vor allem prohibitiv auf die Zeugung von Nachkommenschaft auszuwirken. Die Anhebung der Geburtenrate gehörte aber gerade mit Blick auf den als bedrohlich empfundenen sogenannten Geburtensturz zu den erklärten bevölkerungspolitischen Zielen des Staates und zumindest auch - der protestantischen Kirchen. Der Ausgleich des hohen Blutzolls im Kriege und die Behauptung der durch ihn zu erringenden politischen Weltmachtstellung des Reiches würden wieder in Frage stehen, wenn es an Menschen fehlte, von denen die kommenden Aufgaben bewältigt werden konnten. 64 - Entwürfe und Debatten über zahlreiche Entschließungen zu derartigen

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Tagung zu Berlin am 5. Juli 1916, 9.13 f., u n d d a s Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung V.8.IV. 1918; A D W , C A 165 IV. Vgl. die Art. zum Stichwort „Sittlichkeitsbestrebungen", in: R G G 1 V, 695-703; R G G 2 V, 556-560; R G G 3 VI, 93-95. S.a. Gerhardt II, 160 ff. 210 ff. u.pass. - Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses in hohem M a ß e von religiösen wie ideologischen A n s c h a u u n g e n durchsetzten Komplexes bleibt ein Desiderat der Forschung. Vgl. dazu die intensive fachwissenschaftliche Diskussion in den Kriegs- u n d Nachkriegsjahrgängen d e r , M ü n c h e n e r Medizinischen Wochenschrift' und d e r , D e u t s c h e n Medizinischen Wochenschrift'. N a c h Karl Zieler, M M W 64.1919, 415 w u r d e mehr als die Hälfte aller Ansteckungen an d e r Westfront von d e n Soldaten bereits a u s der Heimat mitgebracht [!]; a u c h sei die Infektion in den letzten beiden Kriegsjahren ein beliebtes Mittel gewesen, sich d e m Dienst zu entziehen. - Ein Gesamtüberblick zum Problem bei H. Gottron, „Geschlechtskrankheiten beim Heer in Krieg u n d Frieden", i n : Die Medizinische Welt 14.1940,736-739.759-763. „ D e r Geburtenrückgang m u ß überwunden werden, der Wille z u m Kind m u ß alle Eltern gleichmäßig beseelen, die Freude a n der Kinderstube als dem Heiligtum des deutschen Familienlebens m u ß durch den Krieg in uns allen neu geweckt sein. Für d e n Bestand unseres Volkes sind unsere Helden gefallen, f ü r d e n weiteren Bestand unseres Volkes wollen u n d müssen wir sorgen. D a s deutsche kinderreiche H a u s in sittlicher Reinheit wollen wir als köstlichsten Schatz unserm Volke hüten u n d mit allen Kräften pflegen." So der .Spezialist' f ü r diese Fragen, Friedrich Mahling, in dem Entwurf eines Aufrufs „An unsere deutschen Volksgenossen", o. D. [Ende 1916]; A D W , C A 165 IV. - Weitere Belege f ü r protestantische Positionen zu Geburtenrückgang, Mutterschaft u n d Bevölkerungspolitik im Ersten Weltkrieg bei Kaiser, Frauen in der Kirche, 75 ff.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Fragen bildeten bis in den November 1918 hinein die Hauptbeschäftigung der Konferenz, 65 der es nur sehr vereinzelt gelang, auch zu anderen Problemen Stellung zu nehmen. Intransigenten Kritikern vom Schlage eines Theodor Kaftan konnte das nur recht sein, und es muß ihn mit gewisser Befriedigung erfüllt haben, daß seine Prophezeiungen, was die Probleme der Zusammenarbeit in diesem Gremium betraf, sich - mit Abstrichen - erfüllten. Am 13. November 1916 fand eine vertrauliche Aussprache im kleinen Kreis statt, in der versucht wurde, den offenen Streit mit dem alten Generalsuperintendenten zu begraben. Außer diesem nahmen daran sein westfälischer Kollege Wilhelm Zoellner, CAPräsident Spiecker, KDEAO-Schriftführer Schreiber und zeitweilig der neue leitende Vereinsgeistliche des Centraiausschusses, Gerhard Füllkrug, teil.66 Nach beschwichtigenden Zugeständnissen Spieckers, was Ungeschicklichkeiten und die unzureichende Informationspolitik der Inneren Mission im Vorfeld der Gründung anging, verteidigte Kaftan seinen Artikel in der AELKZ, mit dem er nur die „Unklarheit" habe geißeln wollen; jetzt sehe er mit Genugtuung, daß mit Beschränkung auf sittlich-soziale Probleme seine Monita gegenstandslos geworden seien, wobei er sich dennoch erlaube, weiterhin an der Zweckmäßigkeit des Unternehmens zu zweifeln. Als Zoellner die Schwierigkeiten erwähnte, die sich durch Kooperation ganz unterschiedlich strukturierter Verbände in der KDEAO ergeben würden, betonte Schreiber, die Mitglieder beurteilten die religiösen Spannungen - abweichend von Kaftan und Zoellner - nicht als unüberwindlich im Sinne zweier miteinander unvereinbarer Religionen; das Kriegserlebnis habe manch starren Dogmatismus aufgebrochen, so daß Liberale und Positive gelernt hätten, sich gegenseitig zu respektieren und auch zu vergeben. Geschickt konterte Schreiber ferner auf die erneute Warnung der ranghohen Geistlichen vor der Entwicklung eines Bewußtseins innerhalb der KDEAO, sich als „Vertretung der evangelischen Kirche" und als „Oberschiedsgericht" in Kirchenfragen zu verstehen, womit .problematische' Gestalten wie Everling und Baumgarten „einen unerwünschten Einfluß" auf die Innere Mission erhalten würden. Um das zu verhindern, habe er ja von Anbeginn für die Einbeziehung der Lutherischen Konferenz plädiert. Auch mit dem Vorschlag, die KDEAO möglichst wie-

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Vgl. die undatierten Entwürfe für Eingaben an verschiedene Behörden und kirchliche Gremien [Ende 1916] „betreffend Beschränkung der Alkoholherstellung", „betreffend alkoholfreier Rückmarsch der Truppen", „betreffend Vorsorge für eine würdige Begehung der Friedensfeiern", „betreffend Schutz der Jugend gegen die Alkoholgefahren", „betreffend die mit der Trunksucht verbundene Unzucht" und „betreffend den Kampf gegen die Völlerei"; ADW, CA 165 III. S. Schreibers Nachschrift in der Anlage seines Briefes an Füllkrug v. 27.XI. 1916; ebd. Aus dem Hinweis des Begleitschreibens, das über die Zusammenkunft auch mit Exzellenz v. Bezzel gesprochen werden solle, läßt sich schließen, daß die beiden Kirchenführer zumindest inoffiziell im Benehmen mit der Eisenacher Konferenz an dieser Unterredung teilnahmen.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

der auf den Centraiausschuß als die gegebene „Zusammenfassung der evangelischen Lebenskräfte im deutschen Volke" zurückzuführen, drang Zoellner nicht durch; die Festigung der Spitzengliederung sei bereits so weit fortgeschritten, daß ihre Auflösung nicht zur Diskussion stehe. 67 Neben den genannten Themen spielten in den Mitgliederversammlungen und Ausschußsitzungen der KDEAO noch die Auseinandersetzungen zwischen Protestantismus und Katholizismus eine gewisse Rolle. Hier profilierte sich immer wieder Otto Everling, nationalliberaler Reichstagsabgeordneter und führender Funktionär des Evangelischen Bundes, dessen geschäftsführenden Vorsitz er von 1919 bis 1922 übernehmen sollte. Er warb für Unterstützung des Kampfes seiner Organisation gegen den politischen Einfluß des Zentrums und der katholischen Weltkirche, in deren Haupt, Benedikt XV., er wegen der päpstlichen Friedensinitiative von 1917 trotz aller angeblichen Deutschfreundlichkeit des römischen Oberhirten einen letztlich doch den Alliierten zuneigenden Feind des Reiches sah.68 Ganz unverblümt forderte Everling zur Politisierung der Konferenz auf, die sich namens aller Evangelischen gegen den politischen Katholizismus wenden müsse, um die von dessen Seite bereits erzielten Erfolge, die einem „moralischen Eroberungsfeldzug" glichen, wieder rückgängig zu machen. Den meisten Protestanten fehle das Verständnis für diese Gefahren. Während die Bischöfe ihre Gläubigen fest im Griff hätten, litten die Evangelischen unter dem Verlust des Corpus Evangelicorum.69 - Als einziger widersprach solch polemischen Bemerkungen im Arbeitsausschuß der Konferenz regelmäßig der zweite Schriftführer und Generalsekretär des Ev.-Sozialen Kongresses,70 Wilhelm Schneemelcher. Ausgerechnet er, dessen Vereinigung eben dieses häufig vorgeworfen worden war, beanstandete das Abgleiten der KDEAO in kirchenpolitische Gefilde durch derartige Ausführungen und rief dazu auf, sich allein „sittlichen, religiösen und sozialen Fragen, nicht [ . . . der] Besprechung strittiger ins Dogmatische oder Politische fallender Probleme" zu widmen.71 Auch sei, was den behaupteten Siegeszug des Katholizismus im Weltkrieg betreffe, das Faktum zu berücksichtigen, daß umgekehrt das Vordringen des Protestantismus eine solche Reaktion erst ausgelöst habe.72 67 68 69 70

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Ebd. KDEAO. Bericht über die dritte Tagung [12./13.IX. 1917], 16-24. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 1.VII. 1918; A D W , C A 165 IV. Zum ESK cf. Gottfried Kretschmar, Der Evangelisch-Soziale Kongreß, und die beiden Bände der Simons-Biographie von Horst Gründer. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 30.XI. 1917; ADW, CA 165 IV. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. l.VII. 1918; ebd. - Auf das bemerkenswerte Referat, das Schneemelcher im Anschluß an Everling auf der dritten Tagung der KDEAO im September 1917 über „Deutsche evangelische Aufgaben angesichts der Sozialistischen Internationale" hielt, kann hier nicht näher eingegangen werden. Jedenfalls stieß sein Appell, nicht nur die Schuld der anderen, sondern auch die des eigenen Volkes aus christlicher Verantwortung heraus anzuerkennen sowie die sozialen und ethischen Intentionen der Inter-

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Soll man eine Zwischenwertung des Wirkens der KDEAO bis Kriegsende wagen, so wird man angesichts der Tatsache, daß dieser Zusammenschluß des Verbandsprotestantismus unter maßgeblicher Beteiligung der Inneren Mission überhaupt realisiert wurde, nicht von einem Fehlschlag sprechen. Unter Berücksichtigung der geschilderten Widerstände war es schon erstaunlich, daß sich das Verlangen nach. einheitlicher Vertretung des freien Protestantismus als gegenüber allen kritischen Einwänden stärker erwies, obgleich ihnen nicht jede Berechtigung bestritten werden kann. Das in den Bereich des Religiösen transponierte Kriegserlebnis nötigte selbst die verfaßten Kirchen zur Zurückhaltung gegenüber der K D E A O ; von etwaigen Versuchen ihrerseits, die Konferenz schon in statu nascendi für obsolet zu erklären oder ihr späterhin ihr Mandat als Sprecherin der Verbände abzuerkennen, sagen die Quellen nichts. 73 Wenn sich auch einzelne Kirchenführer gedrängt fühlten, Kritik und Befürchtungen zu artikulieren, so taten sie dies nicht im Namen von Eisenacher Konferenz, D E K A oder einzelnen Landeskirchen, sondern in ihrem eigenen. Die Kirchenregierungen mochten glauben, daß es auch für sie nützlich sein könne, wenn sich die in den ev. Organisationen zusammenfindende ,Basis' inmitten des bewegenden historischen Erlebens durch das Medium der K D E A O in begrenzten Bahnen aktivierte, anstatt ihre Aufmerksamkeit auf Fragen der kirchlichen Verfassung und Partizipation an den Verantwortlichkeiten der Kirchenregierungen zu lenken. Daß solche Forderungen vor der Tür standen, dürfte mit zunehmender Dauer des Krieges und Verschlechterung der politischen Situation nicht wenigen bewußt geworden sein. Noch einmal sah man mit der Revolution die Chance der Einheit nicht nur der Verbände, sondern auch der Kirchen in greifbare Nähe gerückt. Die - wenn man so will - .historische Stunde' der K D E A O schien erst mit dem 9. November des Jahres 1918 zu schlagen. 1.1.3. KDEAO und kirchliche Neuordnung in der Nachkriegszeit Die Zuspitzung der politischen Situation im Herbst 1918 und der Wechsel im Amt des Reichskanzlers mit der damit verbundenen Verfassungsreform, die dem Parlament weitgehende und entscheidende Mitwirkungsrechte einräumte, blieb - ähnlich den erwähnten politischen Erschütterungen des 19. Jahrhunderts und

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nationale nicht gering zu schätzen, auf erbitterten Protest der Teilnehmer dieser Vollversammlung; Vgl. den Bericht, a.a.O., 24-28. In der zweiten Sitzung des Arbeitsausschusses am 25.V. 1916 berichteten Spiecker und Schreiber, daß von 29 Kirchenregierungen, die das Prot, der Gründungsversammlung erhalten hatten, 10 dafür gedankt hätten, darunter der preuß. EOK und 5 seiner Provinzkonsistorien. Auch der DEKA wünschte der Konferenz „gesegnete Tätigkeit". - Freilich war damit nicht vorbehaltlose Zustimmung, aber wenigstens vorsichtiges Hinwarten gegenüber der künftigen Tätigkeit der KDEAO signalisiert. Vgl. das Prot., EZA, EKD, A 3/7.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

des Jahres 1914 - nicht ohne Signalwirkung für den deutschen Protestantismus. 74 Viele ahnten es: Die große Krise war da! Die Zeit des traditionell verfaßten, an Fürst und Territorium gebundenen Kirchenregiments neigte sich dem Ende zu. Schon im Frühsommer regten sich vereinzelt wieder jene Stimmen, die trotz aller gegenteiligen Beteuerungen von der K D E A O mehr erhofft hatten als ein lockeres Koordinierungsforum für praktisch-soziale Aufgaben, nämlich eine Sprecherrolle für den Öffentlichkeitswillen des evangelischen Deutschland. Wieder war es Mahling, der in der Juni-Nummer 1919 der »Monatsschrift für Pastoraltheologie' diese Forderung anmeldete und auf die Unentbehrlichkeit der Konferenz für die Kirche pochte, die ohne jene im öffentlichen Leben gar nicht gehört werde. 75 Tatsächlich scheint sich dieser Gedanke gegen Ende des Krieges mehr und mehr auch in den einzelnen Landeskirchen durchgesetzt zu haben; davon zeugen regionale Arbeitsgemeinschaften, wie sie die freien Verbände etwa in Hessen, Braunschweig und Mecklenburg bildeten. 76 Auf der letzten Sitzung des Arbeitsausschusses der K D E A O vor der Revolution am 21. Oktober 1918 wurde erstmals die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche im erwarteten „Zusammenbruch des bisherigen Weltgefüges und dem Beginn einer neuen Ordnung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens" aufgeworfen, der sich die Konferenz als neuem Arbeitsgebiet widmen müsse. Auch wenn man über diesen von Schreiber stammenden Vorschlag zur Tagesordnung überging, weil, wie Rendtorff pointiert formulierte, die K D E A O „keine Vertretung der Kirche" sei, 74

Schon die Osterbotschaft Wilhelms II. von 1917, in der die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen angekündigt wurde, löste in protestantischen Kreisen bis hin zum EOK Beunruhigung aus, da mit dem Verlust der kirchenfreundlichen konservativen Mehrheit in der zweiten Kammer gerechnet werden mußte. Ein charakteristisches Zeugnis dieser Besorgnis sind die auf einer freien Synodalkonferenz am 18.VII.1918 in Wanzleben vorgetragenen Leitsätze des provinzsächsischen Pfarrers Huschenbett „Trennung von Staat und Kirche? Was wird aus unserer Landeskirche?", in denen der Vf. dazu aufrief, zwar nicht auf die Trennung hinzuarbeiten, aber sich auf die künftig denkbare Scheidung von Staat und Kirche einzustellen. In Verbindung mit der Übersendung dieser Thesen an den CA regte die Konferenz in einer Entschließung die Einberufung eines Kirchentages für den Herbst 1918 an, was CA-Präsident Spiecker mit Rücksicht auf die knappe Zeitspanne und die angespannte Lage ablehnte. Spiecker an Sup. Theobald/Wanzleben v. 31 .VII. 1918; ADW, CA 857'. Zu evangelischen Reaktionen auf die 1917 einsetzende Parlamentarisierung der Politik im Reich und in Preußen und die Verfassungsreform des Prinzen Max v. Baden vgl. Jochen Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik, 43 f., und Gottfried Mehnert, a. a. O., 70 ff.

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Der Beitrag analysierte von praktisch-theologischer Warte aus den Zustand der Volkskirche und beschrieb ihre Zukunftsaufgaben, zu denen Mahling auch eine stärkere organisatorische Einheit des Protestantismus rechnete: „Wir brauchen eine Zusammenfassung der verschiedenen preußischen Kirchen zu einer Repräsentationseinheit, und eine ebensolche Zusammenfassung der verschiedenen deutschen Kirchengebiete aus ihren General- und Landessynodalverbänden zur Ergänzung und Stützung des deutsch-evangelisch [!] Kirchenausschusses . . . " Ders., „Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben der Kirche", 296. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 21.X. 1918; ADW, CA 165 IV.

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1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen ( K D E AO)

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kündigte der Vorstoß dennoch an, daß angesichts der bevorstehenden tiefgreifenden Umwälzungen führende Männer des Verbandsprotestantismus nicht daran dachten, jetzt weiterhin kirchenpolitische Abstinenz zu üben, sondern im Gegenteil den Zeitpunkt nutzen wollten, um auf den erwarteten Neubau der Kirche Einfluß zu nehmen. 77 Gleichzeitig sollte die KDEAO endlich dazu werden, wozu sie ursprünglich geschaffen worden war: eine lebensfähige und kraftvolle Mittelinstanz zwischen Gemeinden und Kirchenregiment, die auch auf der Ebene von Staat und Gesellschaft jene Anerkennung und damit Wirkungsmöglichkeit fand, die sie als Repräsentantin des Verbandsprotestantismus für sich beanspruchte. Nachdem mit der Revolution die monarchische Staatsspitze gefallen war und Scheidemann die Republik ausgerufen hatte, überstürzten sich auch in der evangelischen Kirche die Ereignisse. Der fast ungläubig und nur zögernd, mit Scham und vielfältigen Ressentiments gegenüber den rasch gefundenen ,wahren Schuldigen' zur Kenntnis genommene Ausgang des Krieges, das plötzliche Ende des Summepiskopats und die ungewissen Erwartungen darüber, was die Zukunft bringen würde, stellten das Weiterbestehen des Protestantismus in seiner volkskirchlichen Gestalt in Frage. Wurde die Lage schon für sich als entsetzlich und schmählich genug empfunden, so kam noch die tiefe Sorge vor einschneidenden Maßnahmen der Religionspolitik seitens der Sozialdemokratie hinzu, was nach allem, was diese in der Vergangenheit programmatisch dazu geäußert hatte, 78 für die Landeskirchen Schlimmes befürchten ließ. Nicht nur die Trennung von Staat und Kirche, auch die Reduktion des Korporationsstatus auf das Vereinsrecht und die damit drohende Streichung der Staatsdotationen für Pfarrerbesoldung und Verwaltungsaufwendungen sowie schließlich die Zurückdrängung ihres Einflusses in der Öffentlichkeit - unter anderem durch Aufhebung des Reli-

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Schreiber machte seine Anregung in Anlehnung an Formulierungen des Einladungsschreibens zur 27. Jahrestagung des ESK in Leipzig. Dennoch verwarf selbst dessen Generalsekretär Schneemelcher die Behandlung des Themas durch die KDEAO, weil die damit zusammenhängenden Fragen „noch zu undurchsichtig" seien. Ebd. - Noch am 10.XII., zu einem Zeitpunkt also, als die,Volkskirchenbewegung' bereits überall begonnen hatte, sich zu organisieren, und ihren Anspruch auf Beteiligung am Neubau der Kirche anmeldete, lehnte der Posener Generalsuperintendent Blau eine Anregung Marburger Theologen, sich an einem Ausschuß zur Vorbereitung eines Kirchentages Anfang 1919 zu beteiligen, mit dem Argument ab, das sei keine Aufgabe für einen privaten Kreis. Vgl. das Sehr, der Prof. Bornhäuser, Rade und Stephan und des Pfr. Thimme an Blau v. 2.XII. und Blaus Absage V.10.XII. 1919; EZA, E K D A 3 / 4 3 . S. die einschlägigen Passagen unter den Stich worten .Religion' und,Kirche' im .Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage 1863-1909'; ferner die im ganzen unbefriedigende Arbeit von Rüdiger Reiz, Christen und Sozialdemokratie, sowie zum Aufweis für das nach der Jahrhundertwende nachlassende Interesse der Partei und ihrer Führung an religiösen bzw. kirchlichen Fragen den Beitrag des Vf. „Sozialdemokratie und praktische' Religionskritik".

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

gionsunterrichtes als ordentlichen Schulfachs - schienen die Kirche in eine ausweglose Situation zu manövrieren und lösten bei,Hierarchie', Gemeinden, Verbänden und einzelnen ev. Persönlichkeiten noch im November des Jahres 1918 hektische Betriebsamkeit aus - die Entwicklung im Detail wurde von der neueren Forschung bereits eingehend aufgearbeitet. 79 Das nun Darzustellende beschränkt sich deshalb auf die bisher kaum erfolgte Skizzierung des Anteils der Verbände und des freien Protestantismus überhaupt, soweit er Kontakte zur KDEAO unterhielt und von ihr als das gegebene Organ zur Vertretung seiner Interessen beim kirchenpolitischen Neubeginn angesehen wurde. So unterschiedlich die Motive jener Gruppierungen sein mochten, die sich noch im November des Jahres sammelten und damit begannen, über die kommende kirchliche Neuordnung nachzudenken - in einem waren sie sich einig: Notwendige demokratische Reformen, ob als Modifizierung und Stärkung des herkömmlichen Synodalprinzips oder durch Urwahl von kirchlichen Konstituant e s mußten unter Wahrung der Rechtskontinuität den radikalen Bruch von Staat und Kirche verhindern, um die volkskirchliche Grundstruktur des deutschen Protestantismus aus dem Kaiserreich in die ungewisse, sich vorerst nur in schemenhaften Konturen abzeichnende republikanische Zukunft hinüberzuretten. 80 Als der Marburger Hochschullehrer Martin Rade - Symbolfigur eines religiös-politischen Liberalismus - am 15. November zur Bildung von ,Volkskirchenräten' aufrief, schickte er ein Exemplar seines Manifestes auch an die KDEAO mit der Empfehlung, die Konferenz sei die berufene Stelle, reichsweit in dieser Sache die Initiative zu ergreifen, um „dem deutschen Kirchenwesen volkskirchlichen Charakter zu erhalten oder zu schaffen". Überall entstanden nun in rascher Folge volkskirchliche Arbeitsgemeinschaften, Räte und Bünde,81 so auch in Berlin, wo zum dortigen ,Volkskirchendienst' unter dem Vorsitz des Kirchenrechtlers und ,Mittelparteilers' Wilhelm Kahl sieben Mitglieder des

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Vgl. die einschlägigen Monographien von Gottfried Mehnert, a.a.O., Jochen Jacke, a. a. O., und Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Eine überblickartige Zusammenfassung der Probleme gibt neuerdings Heinz Hurten, Die Kirchen in der Novemberrevolution. S. a. Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I. Auf damit nicht konvenierende Vorstellungen von einer,staatsfreien Volkskirche', wie sie von den bekannteren Kirchenführern wohl als einziger Theodor Kaftan und im übrigen Spektrum des freien Protestantismus die der Gemeinschaftsbewegung nahestehenden münsterschen Theologen Karl Heim und Otto Schmitz vertraten, braucht in unserem Zusammenhang nicht weiter eingegangen zu werden. Vgl. Karl Heim, „Die Bedeutung der Gemeinschaftsbewegung für eine staatsfreie Volkskirche", in: Revolution und Kirche, 255-272. Zu Kaftan s.a. Jacke, a.a.O., 41 ff. Allein in Preußen schlössen sich binnen dreier Monate rund 500.000 Protestanten dieser Bewegung an. Vgl. Otto Dibelius, „Volkskirchenräte, Volkskirchenbund, Volkskirchendienst", in: Revolution und Kirche, 201-213. S. ferner den Art. „Volkskirchenbünde" in: RGG 2 V, 1664 f.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDE AO)

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Arbeitsausschusses der KDEAO zählten. 82 Diese Vielfalt eines ,Protestantismus in Aktion' barg unbeschadet der globalen Zielsetzung, die Volkskirche zu bewahren und die Folgen der Umwälzung abzumildern, divergierende kirchenpolitische Optionen in sich. Standen Rade und sein Marburger Kreis mit der Forderung nach einer behutsamen, mit sichernden Übergangsregelungen versehenen Trennung von Staat und Kirche und der Einberufung einer aus Urwahlen hervorgegangenen evangelischen Reichssynode sozusagen auf dem linken Flügel der Bewegung, so nahm deren größter Ableger, der Göttinger Volkskirchenbund unter Prof. Titius, eine mittlere Linie ein. Der Berliner Volkskirchendienst schließlich wußte sich mehrheitlich dem vom Kirchenregiment vorgegebenen Kurs verpflichtet. Das ist verständlich, denn seine Mitglieder gehörten zum Teil gleichzeitig dem wenig später berufenen ,Vertrauensrat' an, einem dem preußischen EOK beigeordneten Gremium von Vertretern aller Kirchenparteien, das den Selbstbehauptungskampf der Landeskirche gegenüber den beiden sozialdemokratischen Kultusministern Adolph Hoffmann und Conrad Haenisch auf eine breitere Basis stellen sollte.83 Diese Zurückhaltung gegenüber radikaleren' Reformvorstellungen aus dem liberalen Lager wirkte sich auch auf die Neuorientierung der KDEAO aus, deren Arbeitsausschuß den „von außen" an sie herangetragenen Vorschlag Rades, sie möge sich in dieser geschichtlichen Stunde zum Koordinierungszentrum aller einigenden und Reformbestrebungen erklären, distanziert aufnahm und sich vorerst nur dazu bereit fand, die Funktion einer „Austausch- und Auskunftsstelle" auszuüben, „um die über ganz Deutschland sich erstreckende, durch die Sorge für die Erhaltung und den Ausbau der Volkskirche hervorgerufene Bewegung vor Zersplitterung und Doppelarbeit zu bewahren". Diese vorsichtige Beschreibung der künftigen Aufgaben hinderte die KDEAO freilich nicht daran, den jahrelangen Streit über eine Erweiterung der Mitgliedsverbände durch kirchenpolitische und theologische Vereinigungen jetzt zu ihrer beider Gunsten zu beenden. Auch der Frauenorganisationen, die bisher innerhalb der Konferenz eher ein Schattendasein geführt hatten, wollte man sich in Anpassung an den neuen Zeittrend besonders annehmen, zumal man wußte, daß bei den bevorstehenden Wahlen in Staat und Kirche die Stimmen der nun wahlberechtigten Frauen ausschlaggebend sein konnten. 84 - Doch die Lage ließ 82

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Schreiber an den Arbeitsausschuß der KDEAO v. 21 .XI. 1918; EZA, E K D A 3/8. Zweiter Vorsitzender war Mahling, Spiecker fungierte als Schatzmeister. S.a. Jacke, a. a. O., 54 f. Zur Bildung des Vertrauensrates wieder Jacke, 47 ff. 354. Im Volkskirchenbund wie im Vertrauensrat wirkten außer Kahl, der im übrigen Vorsitzender der Evangelischen Vereinigung, also der Mittelpartei war, auch Mahling, Spiecker, Everling, Mumm und Stock von seiten der KDEAO mit. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 22.XI. 1918; ADW, CA 165IV. Mitglied war zunächst nur der gemäßigt progressive' Deutsch-Ev. Frauenbund; erst am 14.IV.1921 wurde sein konservatives Gegenstück, die (preußische) Evangelische Frauenhilfe, eine Tochterorganisation des Ev.-Kirchl. Hilfsvereins,aufgenommen; vgl. das Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung; ebd.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Abwarten und Verzicht auf eindeutiges Engagement nicht zu. Deshalb korrigierte man schon bei der nächsten Besprechung die Entscheidung, keinesfalls eigenständig zu handeln, und forderte den Vorstand des Berliner Volkskirchendienstes auf, dem Arbeitsausschuß der K D E A O geschlossen beizutreten. Davon wurde Verstärkung bei der Klärung der Frage eines Kirchentages erhofft, der auch einer auf breitem Konsens ruhenden Forderung der Volkskirchenbewegung entsprach und binnen kürzester Frist einberufen werden sollte. Die verwirrende Fülle von Eingaben und Vorschlägen an die K D E A O für den Verfassungsneubau der Kirche und die Sicherung ihres gesellschaftlichen Einflusses, die bis hin zur Idee der Gründung einer „Evangelischen Volkspartei für Deutschland" reichten, zwang zum Handeln, wollte man nicht Gefahr laufen, von der Entwicklung überrollt zu werden und den Mitgestaltungswillen des freien Protestantismus beim Verfassungsumbau der Kirche preiszugeben. Aus diesem Grunde plante der Ausschuß für Anfang Januar eine ,Freie Konferenz zur Besprechung der kirchlichen Lage', die aus praktischen Erwägungen wenige Tage zuvor sollte bereits eine zentrale Verbandstagung zum selben Thema in Elberfeld stattfinden - auf Ende Februar verschoben wurde. 85 Es blieb nicht aus, daß die engen personellen Verflechtungen zwischen Volkskirchendienst, Vertrauensrat und Arbeitsausschuß zu Spannungen innerhalb der K D E A O führten, die ja 1916 unter der inzwischen bekräftigten Prämisse angetreten war, dem Verbandsprotestantismus im vielstimmigen Konzert innerkirchlicher Meinungsbildung angemessenes Gehör zu verschaffen. Man wird die Dinge nicht so sehen dürfen, daß die Exponenten von Kirchenregiment und Vereinswesen sich wie feindliche Antipoden gegenübergestanden hätten; die Grenzen waren durchaus fließend, zumal man angesichts der Situation aufeinander angewiesen war. Und dennoch gab es auf beiden Seiten einen bestimmten Korpsgeist, der genau registrierte, ob die jeweils eigenen Zielsetzungen gewahrt blieben. Mit Mißtrauen verfolgten die Kirchenleitungen die sich ihrer Kontrolle entziehenden, ihnen bereits zu weit gehenden Reformbestrebungen der liberalen Professoren in Göttingen und Marburg oder ihrer der Gemeinschaftsbewegung verbundenen, politisch eher konservativen Kollegen Heim und Schmitz aus Münster, der Hauptinitiatoren der bevorstehenden Elberfelder Konferenz. 86 Die

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Prot.der Arbeitsausschuß-Sitzungv.5.XII.1918;ebd.Zum Problemev. Parteigründungen cf. Walter Braun, Evangelische Parteien im Zweiten Reich, und Kurt Nowak, a. a. O., 144 ff. Beide Arbeiten gehen auf den hier erwähnten Vorschlag, den Pfr. Trommershausen im Namen der kirchlich-positiven und freikirchlichen Verbände in Frankfurt a. M. unterbreitete, nicht ein. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 30.XII. 1918; ADW, CA 165 IV. Die Teilnehmer der Zusammenkunft beklagten, das Vorpreschen der Genannten gebe „zu ernsten Bedenken Anlaß, da diese Vorschläge für die Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse auf die bisherigen Träger der kirchlichen Autorität, die kirchlichen Behörden und synodalen Einrichtungen zu wenig Rücksicht nehmen".

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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einen wie die anderen schienen den sich auf Gesetz und Herkommen berufenden, defensiv-hinhaltenden Kurs der verfaßten Kirche durch vorschnellen Verzicht auf jahrhundertealte Rechtspositionen zu konterkarieren und dem sozialistischen Gegner in die Hände zu arbeiten. Wirklichen Einfluß bei der Beratung einer neuen Verfassung wollte man ihnen daher nicht einräumen, obwohl man offensichtlich froh war, daß die Volkskirchenbewegung den breiten Strom evangelischen Partizipationswillens in sich aufnahm und - wie man hoffte - durch geschicktes Taktieren der Kirchenregierungen in geordneten, d. h. diesen genehmen Bahnen kanalisieren würde. Deshalb favorisierte man auch die personelle Durchdringung der verschiedenen Gremien mit den gleichen Verbands- und Kirchenvertretern, was die Gemäßigten unter ihnen verständigungsbereit machen und die Forderungen der Ungestümeren abdämpfen sollte. Wie aus der weiteren Entwicklung ablesbar, ging diese Rechnung auf. Insbesondere Otto Everling, Mitglied des Verfassungsausschusses des Volkskirchendienstes und des Vertrauensrats, ließ sich die Hervorhebung der Bedeutung „der bisherigen Träger der Kirchengewalten" so sehr angelegen sein, daß er damit innerhalb des geschäftsführenden Vorstands der KDEAO auf bezeichnende Kritik nicht nur von seiten Schneemelchers stieß. Auch Spiecker und Füllkrug vom Centraiausschuß teilten dessen Eindruck: „Wir werden nicht gefragt, wir werden nicht gehört." 87 Man einigte sich auf Vorschlag des wendigen Schreiber schließlich auf den matten Kompromiß, die Neuordnung bei Wahrung von „Kontinuität und Legalität" unter Leitung des alten Kirchenregiments, das dazu lediglich Beiräte hinzuziehen solle, herbeizuführen, und wollte selbst die Einberufung des Kirchentages dem DEKA überlassen. 88 Die vertrauliche „Besprechung zur Herbeiführung eines Kirchentages" in Elberfeld schloß sich einer öffentlichen Kundgebung vom gleichen Tage an, auf der die Professoren Karl Heim und Otto Schmitz ihre „Grundsätze für die Umge-

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„Das Prinzip des Obrigkeitsstaates, der im wesentlichen alles allein machen will, ohne Mitwirkung des Volkes, habe auch zu stark in der Kirche geherrscht, das Kirchenvolk müsse stärker als bisher zur Geltung kommen." Als Füllkrug ergänzte, überall im Lande sei die „Abneigung gegen das ,Hineinregieren von Berlin' und der Drang zur Selbstbetätigung" außergewöhnlich groß, schwenkte Everling um und bekannte sich - allerdings noch immer unter Betonung des Kontinuitätsaspektes - zum Mitbestimmungsrecht der freien Verbände, was ihm die übrigen Teilnehmer der Sitzung kaum abgenommen haben dürften. Ebd.

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Für Schreibers Einstellung gegenüber dem Kirchenregiment ist eine Passage seines Briefes an den Präs. des Ev.-luth. Landeskonsistoriums, D. Boehmer/Dresden, charakteristisch, in der es heißt: „Ich habe mich immer bemüht, alles zu vermeiden, was nach einer kirchlichen Revolution aussieht, zumal ein autochthoner Kirchentag sich kaum eine autoritative Stellung wird schaffen können. Dagegen bin ich immer, wie Sie auch aus meiner Arbeit in der Missions-Hilfe wissen, für eine Anknüpfung an das Bestehende eingetreten, für eine gesunde Evolution." EZA, EKD A 3/43.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

staltung unserer Landeskirche zu einer staatsfreien evangelischen Volkskirche" zur Diskussion gestellt hatten.89 Als sich die Teilnehmer am frühen Abend in einem kleineren, auffallig von bekannten Theologieprofessoren dominierten Kreis wiedertrafen, war von den Anregungen der Gemeinschaftsbewegung nicht mehr die Rede. Man konzentrierte sich ganz auf das Kirchentagsthema und darauf, welche Rolle die Verbände bei dessen Einberufung spielen sollten. Carl Mirbt aus Göttingen arbeitete viel schärfer als noch vor wenigen Tagen der KDEAO-Ausschuß die Bedeutung der einheitlichen Repräsentanz des deutschen Protestantismus heraus, welche sich am besten auf einem von DEKA und KDEAO, deren Beteiligung allerdings auch er „entscheidendes Gewicht" beimaß, gemeinsam zu veranstaltenden Kirchentag darstellen ließe. Zustimmung fand die Absicht der Arbeitsorganisationen, eine ,Freie Konferenz' zur Vorbereitung des Kirchentages einzuberufen; Zoellner und der westf. Synodalpräses Kockelke plädierten zusammen mit Mirbts Kollegen Titius allerdings dafür, die Initiative an den DEKA abzugeben, durch dessen Mitwirkung „eine Beteiligung der Landeskirchen besser gewährleistet" sei und auch den Verhandlungen und ihren Ergebnissen ein größeres Gewicht zukomme. Der geschäftsführende Ausschuß der KDEAO könne ihm dabei als eine Art Vertrauensrat assistieren. Obwohl Füllkrug daran erinnerte, die alten Kirchentage seien entweder durch Einzelpersönlichkeiten oder später den Centraiausschuß zusammengerufen worden, und damit andeutete, man könne auch auf Einbeziehung der ,Amtskirche' verzichten, faßten die Anwesenden ohne Gegenvoten den Beschluß, durch Schreiber und Füllkrug in der Angelegenheit Kontakte mit dem DEKA aufzunehmen ; nur wenn dieser ablehne, solle die KDEAO die Vorkonferenz in eigener Regie durchführen. 90 Und so geschah es. Der Kirchenausschuß stimmte den ihm von Schreiber und Füllkrug vorgetragenen Plänen zu, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Er wollte den Teilnehmerkreis der Vorkonferenz stärker begrenzen, als die freien Verbände zuzugestehen bereit waren; denn neben dem Gedanken der Arbeitsfähigkeit und Effizienz beseelte sie verständlicherweise der Wunsch, ein

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Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 8.1.1919; ADW, CA 165 V. Zum Programm dieser Volkskirche s. nochmals den Beitrag von Karl Heim, wie Anm. 80. Prot, der „Besprechung zur Herbeiführung eines Kirchentages in Elberfeld" v. 3.1.1919; ADW, CA 165 IV. S.a. den Bericht der KDEAO an den D E K A v. 9.1.1919; EZA, E K D A 3/43, sowie Jacke, 154, und Nowak, 64f. 232.- Für die Einberufung eines Kirchentages hatte sich der bekannte Kirchenhistoriker Mirbt schon am 29.XII. 1918 in einem ausführlichen Schreiben an den DEKA stark gemacht. Es enthält bereits alle Elemente seiner später in Kassel (s. Anm. 103) geäußerten Meinung, der Kirchentag könne nur in Verbindung mit dem D E K A veranstaltet werden, weil er „nicht nur von einzelnen Gruppen und Teilen des deutschen Protestantismus", sondern von dessen Gesamtheit unter Einschluß der Landeskirchen getragen werden müsse. Die Idee einer Reichskirche bleibe aus Bekenntnisgründen utopisch; EZA, E K D A 3 / 4 3 .

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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möglichst breites Spektrum der interessierten evangelischen Öffentlichkeit an den Besprechungen zu beteiligen. Der Kirchenausschuß ließ sich nicht in seinem Nein zu einer Tagung mit von ihm kaum mehr überschau- und lenkbarem Publikum beirren, gestand aber zu, gegen eine zusätzliche Besprechung der Verbände ohne seine Vertreter nichts einwenden zu wollen, solange nur die eigentliche Vorkonferenz dadurch nicht beeinträchtigt werde. 91 Ganz unrecht hatte der innerhalb des KDEAO-Ausschusses schon angeeckte Otto Everling nicht, wenn er gegen solche Zusatzkonferenzen ins Feld führte, dann werde innerhalb kürzester Frist das gleiche Thema in ähnlicher personeller Besetzung auf drei verschiedenen Zusammenkünften variiert.92 Die Verbände ließen sich die Gelegenheit jedoch nicht entgehen, ihre Vorstellungen über den kirchlichen Neuaufbau auch ohne ,Oberaufsicht' des Kirchenregiments zu beraten, und so wurden für die letzte Februarwoche drei nacheinander in Kassel tagende Versammlungen anberaumt: Es begann mit einer Gesamtkonferenz des erweiterten Centraiausschusses vom 24.-26. Februar, die auch die ausgefallene Novemberkonferenz des Vorjahres ersetzen sollte, 93 gefolgt von der für den 27./28.vom D E K A im Benehmen mit der K D E A O einberufenen .Freien Konferenz zur Besprechung der gegenwärtigen gemeinsamen Aufgaben der deutschen evangelischen Landeskirchen', 94 und schließlich fand am Monatsende eine ,Freie Besprechung über die gegenwärtige Lage der Kirche' statt, bei der Arbeitsorganisationen und Volkskirchenbewegung unter sich blieben. 95

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Vgl. das Rundschreiben des DEKA-Präsidenten Voigts an die obersten Kirchenbehörden v. 14.1.1919; ebd. Eindeutig geht daraus hervor, daß sich der Kirchenausschuß nach Elberfeld dem Drängen von KDEAO und Volkskirchenbewegung in der Kirchentagsfrage nicht mehr zu entziehen können glaubte, gleichzeitig aber in den dort abgegebenen Voten, die seine Mitwirkung wünschten, die Chance sah, die Entwicklung in seinem Sinne zu steuern. - Das Drängen auf einen beschränkten Teilnehmerkreis von ca. 40- 50 Personen entsprang, wie Schreiber Boehmer berichtete, dem „Bedenken, nicht komparente [!] Größen zur Seite zu nehmen, zumal dadurch die Kontinuität dem Staate gegenüber gestört werden könnte"; wie Anm. 88. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 17.1.1919; ADW, CA 165 V. Es war für Everling charakteristisch, wenn er in einer Vorbesprechung mit dem DEKA, einer ohne diesen und in einem - wie er irrtümlich glaubte - sich daran unmittelbar anschließenden Kirchentag nicht etwa unnötige Doppelarbeit und Energieverschleiß sah, sondern befürchtete, die ohne Kontrolle des DEKA stattfindenden Konferenzen könnten den Landeskirchen die Führungsrolle bei den Verfassungsberatungen streitig machen; sein Einwand wurde jedoch zurückgewiesen. Auch hierher hatte das Kirchenregiment seine Vertreter entsandt: So waren der Geistliche Vizepräsident des EOK, Lahusen, fünf preußische Generalsuperintendenten, ein Konsistorialpräsident und mehrere Konsistorialräte anwesend. Vgl. die Teilnehmerliste im Prot.: Verhandlungen der Konferenz des Centrai-Ausschusses, 6-8. Niederschrift der Verhandlungen der Vorkonferenz. Die Druckfassung des Prot, erschien unter gleichem Namen; eine Teilnehmerliste enthält es leider nicht.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Auf die Veranstaltung des Centraiausschusses ist an anderer Stelle einzugehen, weil sie vornehmlich die Haltung der Inneren Mission zu den politischen Ereignissen und ihre künftige Stellung im Kontext von Staat und Kirche thematisierte.96 Um so intensiver beschäftigte sich die offizielle Vorkonferenz mit der anstehenden Verfassungsreform der Kirche. Der DEKA hatte zu ihrer Vorbereitung wiederum einen jener zahlreichen Ausschüsse etabliert, die in den ersten Monaten nach Kriegsende unaufhörlich zu tagen schienen und in denen die wichtigsten Vorentscheidungen für den einzuschlagenden kirchenpolitischen Kurs fielen. Er entsandte selbst vier Mitglieder in dieses Gremium, während nur vier weitere von den Verbänden kamen. Auf Verlangen des Gnadauer Verbandes sollte die Einladung nach Kassel von DEKA und KDEAO gemeinsam erfolgen. Als das Rundschreiben hinausging, hatte es ersterer indessen allein unterzeichnet, und nur im Text war davon die Rede, daß die Konferenz „im Einvernehmen" mit den freien Organisationen zusammentrete. 97 EOK- und DEKA-Präsident Voigts versäumte nicht hinzuzufügen, seiner Institution als der augenblicklich einzigen anerkannten kirchlichen Leitungsebene müsse die Führung beim Neubau der Kirche vorbehalten bleiben; man sei sich mit den Verbänden in der Ablehnung der Bildung der Reichskirche einig und wolle statt dessen eine starke Interessenvertretung des deutschen Protestantismus, die der in Aussicht genommene Kirchentag „als ständige Einrichtung" bilden könne. 98 - So harmonisch wie offensichtlich geplant, verlief die Vorkonferenz dann nicht. Der liberale Frankfurter Pfarrer und Honorarprofessor an der dortigen Universität, Erich Foerster, zweifelte etwa die rechtliche Vertretungskompetenz des DEKA für das evangelische Deutschland an. Obwohl er eine Reichskirche verbal ebenfalls ablehnte, forderte er die Schaffung einer Gesamtkirche als Verbund aller Gemeinden, in der zunächst wenigstens die Landeskirchen der Einzelstaaten aufzugehen hätten, und plädierte damit faktisch doch für einen reichskirchlichen Zusammenschluß, freilich nicht im Sinne des obrigkeitsstaatlichen Modells, sondern gewissermaßen ,von unten'. Foerster und seine Freunde blieben jedoch wie nicht anders zu erwarten - mit ihren Ideen allein. Der Schweriner Oberkirchenratspräsident Giese und der zwischenzeitlich pensionierte Theodor Kaftan widersprachen namens der Mehrheit ganz energisch den vorgeschlagenen Eingriffen in die bestehenden Landeskirchen sowie auch dem Weg, das Modell durch Urwahlen zu realisieren.99 Als sich neben anderen die Göttinger Professo-

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S. w.u., Kap. 1.2. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 30.1.1919; E Z A , E K D , A 3 / 8 . Zum Einladungsschreiben des DEKAs. die,Niederschrift', wie Anm. 94,37-39. - In dem erwähnten Brief Schreibers an Boehmer (s. Anm. 88) wies der Absender darauf hin, daß der DEKA die Alleinzeichnung ausdrücklich gewünscht habe. Niederschrift, 38. Ebd., 6-8. - Das Thema .Urwahlen' hatte tags zuvor auf der CA-Konferenz schon Zoellner am Rande zur Sprache gebracht, aber nicht mit der ihm gewiß unerwünschten ,Demokrati-

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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ren Titius und Mirbt nur auf einen Zusammenschluß als lockere Konföderation festlegten, weil ohne Plazet und Beteiligung der verfaßten Kirchen kein Reformansatz gelingen werde, wurde die Linie deutlich, auf der man sich höchstens einigen konnte: eine „geordnete rechtliche Fortentwicklung des Bestehenden" kein Neubau von Grund auf. In Anerkennung dieser Marschrichtung würde es den freien Verbänden nicht gelingen, ihren Anspruch auf Mitgestaltung des kommenden Kirchenbundes und seines Synodalorgans, des Kirchentages, in dem vormals erhofften M a ß e durchzusetzen; das zeichnete sich ab. Aber es lag nicht ausschließlich an der nach wie vor starken Stellung des alten Kirchenregiments, wenn dies so war. Das Harmoniebedürfnis vieler Delegierter der Vereine und theologisch-kirchenpolitischen Richtungen, ja selbst eines einst verfemten liberalen kirchlichen Kritikers wie Gottfried Traub, der 1911 sein Dortmunder Pfarramt wegen seines Eintretens im Irrlehrestreit für Carl Jatho verloren hatte 100 und nun dem D E K A bescheinigte, er habe gute Arbeit geleistet, ihm fehle nur [!] „der Rückhalt im Gesamtbewußtsein der Gemeinden", mutet schon erstaunlich an. Auch Schreiber beteiligte sich an dieser freiwilligen Demontage des Verbandseinflusses, wenn er die ,Großzügigkeit' des D E K A lobte, der bei der Nominierung der 140 Teilnehmer der Vorkonferenz die Auswahl in 56 Fällen Volkskirchenbewegung und Arbeitsorganisationen überlassen habe. Das konnte als Eingeständnis aufgefaßt werden, als sei diese Zahl fast schon zu hoch, und kam jenen entgegen, die sich ohnehin an der, wie sie meinten,,Überrepräsentanz' der Verbandsvertreter stießen und das Fehlen des synodalen Elements bemängelten. Indem man die - nach dem Siebsystem zu wählenden - Synoden als einzige legitime Vertretungskörperschaft mit Befähigung und Recht, für die Landeskirchen verbindliche Beschlüsse zu fassen, in Antithese zum Verbandsspektrum hochstilisierte,

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sierung' der Volkskirche und ihrer Denaturierung zu einer ,Massenkirche' argumentiert, sondern mit dem Schema ,Kerngemeinde - Randgemeinde' operiert, d. h. er stellte die Kerngemeinde als Bekenntnisgemeinschaft einer noch kirchlichen, aber nicht im Sinne praktizierender Frömmigkeit gebundenen Mitgliedschaft gegenüber. Wenn letztere kirchenleitende Funktionen durch Urwahlen erhalte, sei der missionarische Auftrag der Volkskirche gefährdet. Vgl. sein Referat „Bedürfnisse und Wünsche der Inneren Mission beim Aufbau der Volkskirche", in: Verhandlungen der Konferenz des Central-Ausschusses, 56-71, 6 7 . - Für Kaftan hieß die auf der Vorkonferenz von Baumgarten und Bornemann verfochtene Forderung nach Urwahlen, „die Kirche dem großen Haufen ausliefern" ; Niederschrift, 27. S. Ernst Brinkmann, „Der Fall Traub als Brennpunkt der Dortmunder Kirchengeschichte". Traub hatte freilich im Kriege eine vaterländische' Kehrtwendung vollzogen und war in seiner Zeitschrift,Christliche Freiheit' spätestens seit 1917 als entschiedener Annexionist hervorgetreten. Nach der Revolution schloß er sich der D N V P an und galt damit in kirchlich-konservativen Kreisen wieder als bündnisfähig. Vgl. Mehnert, a.a.O., 41 f. 145 ff.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

sprach man diesem Kompetenz und Mandat innerhalb von Kirchentag und -bund implizit ab; die bescheidene Quote von 14 Teilnehmern, die später von der KDEAO für ersteren vorgeschlagen werden durften, dokumentiert diese Einstellung. Die Warnung vor einer „Notabeinversammlung" ohne Frauen, Bauern und Arbeiter verhallte hier noch ungehört, und D. Giese konnte am Ende der Konferenz das zumindest für die Kirchenregierungen beruhigende Fazit ziehen, es sei gelungen zu verhindern, „daß mit der Revolution auch in der Kirche alles über den Haufen geworfen wurde", man habe nun „an das Bestehende anzuknüpfen und die Rechtskontinuität zu wahren". 101 Die damit zum Ausdruck gekommene Tendenz setzte sich auch in der,Freien Besprechung' fort, obwohl die Verbände hier offener ihre Ziele hätten darlegen können. In seinem Bericht über die Vorkonferenz zollte ihr Schreiber die seltsam übertrieben klingende Anerkennung, sie habe alle ihr vorauseilenden „Hoffnungen nicht nur erfüllt, sondern übertroffen". Die „Einheit im Geiste und der Wille zu schnellem geschlossenen Handeln" sei deutlich geworden. 102 Nach dem oben Gesagten blendete eine solche ,Würdigung' alle abweichenden Voten aus und stützte vorbehaltlos die Position des Kirchenregiments. Da sich ein Teilnehmerverzeichnis nicht erhalten hat, ist fraglich, ob Foerster und seine Gesinnungsfreunde Bornemann/Frankfurt sowie Baumgarten/Kiel zugegen waren; Widerspruch gegen die Ausführungen Schreibers erhob sich nach dem Protokoll jedenfalls nicht. Dafür konnte Carl Mirbt als einer der Hauptredner noch einmal seine Konzeption eines Kirchenbundes entfalten, die er mit der Verwerfung jeder Reichskirchenidee als bekenntnisschädlicher Utopie verknüpfte. Nach dem Sturz der Monarchie habe der einem Bund früher hinderliche Unionsgedanke seinen stärksten Rückhalt verloren; deshalb dürfe man heute darangehen, dessen Konstituierung im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft oder eines Zweckverbandes aller deutschen Landeskirchen in Angriff zu nehmen. - Über eine früher für so wichtig gehaltene angemessene Vertretung der Verbände und das Problem der personellen Zusammensetzung des Kirchentages diskutierte die Versammlung nur am Rande. Daß der rheinische Fabrikant Rosenkranz dafür die Presbyterialverfassung seiner Provinzialkirche als Vorbild hinstellte und forderte, der Kirchentag müsse zu zwei Dritteln aus Synodalen, davon je 50% Laien und Theologen, und zu einem Drittel aus Verbandsvertretern bestehen, blieb hier ohne großen Eindruck, kam aber, jedenfalls was die Zahl der von den Synoden gewählten Mitglieder - nicht der Synodalen selbst - betrifft, der späteren Verfassungsgestalt des Kirchentages erstaunlich nahe. 103

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Niederschrift, 9.11 f. 19.21.26.52 f. Freie Besprechung über die gegenwärtige Lage der Kirche, 11. Ebd., 15-17.21. S.a. Anm.106.Die weiteren Themen der Versammlung wie die Diskussion von Leitsätzen über .Arbeiterschaft und Kirche' von Pfarrer D. Jeremias/Leipzig

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Zur Erhellung der Frage, welche Rolle der Verbandsprotestantismus durch das Medium der K D E A O bei der kirchlichen Neugestaltung nach dem Kriege spielte, ist die weitere Entwicklung bis zum Zusammentritt des Dresdener Kirchentages im September 1919 und bis zur Verabschiedung der Verfassung des Kirchenbundes zwei Jahre später in Stuttgart nicht mehr von zentraler Bedeutung. Die Würfel waren schon in Kassel gefallen, und dies nicht zugunsten der freien Arbeitsorganisationen, die in Gestalt ihrer Spitzengliederung - weniger als eigenständige Vereinigungen mit Spezialzwecken - weder bei den Ausschußberatungen noch auf dem Synodalforum der Kirchentage ihr Gewicht befriedigend zur Wirkung bringen konnten. Zwar gelang es ihnen, für Dresden noch 75 Teilnehmer zu stellen, womit sie nach den Synodalen mit 102 und vor den Kirchenregierungen mit 51 Delegierten die zweitgrößte Gruppe bildeten; 104 realiter wurde diese Zahl jedoch nicht erreicht, da sich karitative und Gesinnungsverbände mit der Gemeinschaftsbewegung und den Volkskirchenbünden die Vertreter teilen mußten. 105 Als sich in Stuttgart 1921 der Kirchenbund mit seinen Organen konstituierte, entfielen von den 35 durch den D E K A in Absprache mit nebenkirchlichen Institutionen zu berufenden Mitgliedern 8 auf die theologischen Fakultäten, 12 auf die Religionslehrer und nur noch 14 auf die Vereine; Nominierungsvorschläge konnten zwar vorgelegt werden, sie sollten jedoch nur dann für den Kirchenausschuß verbindlich sein, wenn der Kirchentag die dahinterstehenden Gruppierungen als vorschlagsberechtigte Stellen anerkannt hätte. 106 In Dresden kamen jene die Verbände berührenden Themen in eigen-

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sind im Rahmen unserer Fragestellung von untergeordneter Bedeutung. - Obwohl er gegen die ,Freie Besprechung' nichts eingewandt hatte, legte der DEKA größten Wert darauf, daß sie nicht etwa als,Gegenveranstaltung' zur eigentlichen Vorkonferenz aufgefaßt wurde, „da sonst der beabsichtigte Eindruck der Geschlossenheit des evangelischen Deutschlands leicht in sein Gegenteil verkehrt werden könne". Vielleicht liegt darin der Grund für die außergewöhnliche Zurückhaltung der meisten Referenten und Diskutanten, die für einen solchen Verdacht keinen Anlaß geben wollten. Vgl. das Prot, der Verhandlungen über die Vorkonferenz zwischen DEKA- und KDEAO-Vertretern am 4.II. 1919; EZA, EKD A 3/43. Vgl. den ,Bericht über die fünfte Tagung' der KDEAO am 6.V. 1921,18. - Dafür wurden die Verbände auch kräftig zur Kasse gebeten: An den Gesamtkosten des Dresdener Kirchentages in Höhe von 40.143,68 M mußten sie sich mit 13.378,22 M beteiligen, die „nicht ohne Mühe" aufgebracht wurden; ebd., 4. „Verhandlungs-Niederschrift der ersten Sitzung des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung eines allgemeinen Deutschen Evangelischen Kirchentages", Anlage Senatspräsident D.Berner, „Grundsätze" V.2./3.V. 1919; EKD, A3/45. Insgesamt bestand der Kirchentag aus 210 Mitgliedern, wovon 150 von den Synoden der einzelnen Landeskirchen gewählt werden sollten. Dazu traten, wie gesagt, die 35 vom DEKA zu berufenden Abgeordneten der theol. Fakultäten, Religionslehrer und Verbände sowie 25 weitere Mitglieder der „Ausgleichsgruppe", für die der DEKA verdienstvolle Einzelpersönlichkeiten nach freiem Ermessen benennen konnte. Bemerkenswert an dieser Regelung ist die Tatsache, daß den Vertretern des Kirchenregiments nicht per se ein

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ständigen Referaten nicht zur Sprache, o b w o h l es im Vorfeld dieser Großveranstaltung einige Versuche gab, vor allem seitens der Inneren M i s s i o n , solche Beiträge in die Tagesordnung a u f n e h m e n zu lassen. 1 0 7 S o konnten die „ W ü n s c h e der großen evangelischen Arbeitsorganisationen für d e n kirchlichen N e u b a u " , die Pastor Oehlkers im Auftrag der Vereine formuliert hatte, zunächst nur auf einer internen Mitgliederversammlung der K D E A O an einem tagungsfreien A b e n d in D r e s d e n vorgebracht werden; d e n übrigen Kirchentagsabgeordneten überreichte m a n eine Druckfassung. Schließlich war es Oehlkers d o c h n o c h m ö g l i c h , seine T h e s e n vor dem Plenum zu erläutern. Er betonte das A n l i e g e n d e s Verbandsprotestantismus, in loser Form in die kirchlichen Verfassungen hine i n g e n o m m e n zu werden, was a u c h u m der Kirche selbst willen n o t w e n d i g sei; er machte aber zugleich deutlich, d a ß es sich dabei nicht „um eine sofortige, b e d i n g u n g s l o s e Verkirchlichung", sondern nur „um weitherzige G e w ä h r u n g einer allmählich fortschreitenden Eingliederung" handeln könne. 1 0 8 Konkret bat er um Integration der Verbände in die kirchlichen Selbstverwaltungskörperschaften, um die Anerkennung v o n Parochialrechten für die Anstaltsgemeinden der Inneren M i s s i o n s o w i e um d i e Gleichstellung der t h e o l o g i s c h e n Berufsarbeiter mit d e n landeskirchlichen Geistlichen in versorgungsmäßiger u n d juristischer

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bestimmter Teil der Sitze eingeräumt wurde, wie das die ersten Verfassungsentwürfe noch vorgesehen hatten, sondern daß auch sie von ihren Synoden gewählt werden mußten. Vgl. Verhandlungen des 2. Deutschen Evangelischen Kirchentages 1921,32 f. Am 10.VII.1919 regten der Vereinsgeistliche der IM in der Grafschaft Mark, P.Thomä, und der Vorsitzende des westf. Provinzialausschusses, Sup. Präses Kockelke, in gleichlautenden Schreiben an, der CA möge dafür sorgen, daß auf dem bevorstehenden Kirchentag nicht nur über Verfassungsprobleme, sondern auch über Fragen des „inneren Lebens" und über die „Arbeit am Seelenleben unseres Volkes und für den neuen Aufbau seines gesellschaftlichen und völkischen Lebens" gesprochen werde. Geschehe das nicht, so sei das ein „Unglück" für die Kirche, da viele Christen „schon lange mit Mißtrauen auf die verfaßte Kirche blick[t]en". Für den Rheinischen IM-Provinzialausschuß schloß sich P. Ohl am 31.VII. diesem Antrag a n ; ADW, CA 857'. Der CA, der die westf. Vorschläge befürwortend an Schreiber weitergeleitet hatte, erhielt von diesem am 26.VII. Nachricht, daß der DEKA-Vorbereitungsausschuß die zusätzliche Einstellung eines Vortrages etwa über die Aufgaben der IM in der ev. Kirche in die Dresdener Tagesordnung abgelehnt habe. Derartige Topoi würden bereits in den allgemeinen Eröffnungsvorträgen mitbehandelt; auch sei die Anregung zu spät eingereicht worden; EZA, E K D A3/45. „Wir sind [...] in einer eigentümlichen Lage. Wir haben bisher den Gedanken einer Verkirchlichung der freien Liebestätigkeit immer abgelehnt. Wir sind in Freiheit erwachsen und wollten frei bleiben. Aber das war unter der alten Obrigkeitskirche. Müssen wir uns zu der neuen freien Volkskirche nicht anders stellen? Da weht uns ein neuer verwandter Geist an. Und doch wissen wir nicht, wie die neue Kirche sich entwickeln wird." Vgl. Schreiber, Die Eingliederung der freien evangelisch-kirchlichen Vereinigungen in den kirchlichen Neubau, 4f. 8. S.a. Verhandlungen des Deutschen Evangelischen Kirchentages 1919,184-188.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Hinsicht.109 - Der Erfolg dieser eher einer Petition denn einer selbstbewußten Partizipationsforderung gleichenden Eingabe blieb bescheiden, wenn man auf die einschlägigen Passagen der in Stuttgart verabschiedeten Verfassung des Kirchenbundes blickt: Zwar konnte man aus der Bestimmung des Bundeszweckes in § 1 herauslesen, daß unter „das Gesamtbewußtsein des deutschen Protestantismus", das es zu pflegen gelte, auch die Verbände fielen, aber schon im nächsten Abschnitt hieß es, für sie sei der Bund nur ,mittelbar' zuständig. Immerhin gehörte auch zu seinen Aufgaben „die Förderung der freien kirchlichen Arbeitsorganisationen, insbesondere der Werke der äußeren und inneren Mission, der Bibelverbreitung sowie aller Bestrebungen, welche auf die Durchdringung des evangelischen Volkes mit den Kräften des Evangeliums abzielen".110 Wenn die KDEAO in der Rückschau auf Dresden mit Genugtuung feststellte, neben den Kirchenregierungen und Synoden seien die Verbände ,zum dritten konstitutiven Faktor' des Kirchentages - und das hieß implizit zu Mitbegründern einer synodalen Gesamtvertretung des deutschen Protestantismus - geworden,111 war dies formell nicht falsch. Betrachtet man aber den hier oder später auf den Kirchentagen in Stuttgart, Bethel und Königsberg ausgeübten Einfluß in seiner Substanz, so scheint diese in den kommenden Jahren immer wieder geäußerte Sicht der Dinge übertrieben, vielleicht auch reiner Zweckoptimismus und meistens unbegründet. Schließlich war der Kirchentag nicht das einzige Organ des Kirchenbundes, der ohnehin gegenüber den Landeskirchen nur beschränkte Kompetenzen besaß, und weder im DEKA noch im neu eingerichteten Kirchenbundesamt wurden den freien Vereinen Mitspracherechte eingeräumt. Mit dem rapide zunehmenden Bedeutungsschwund der Konferenz, dessen Anfänge schon die Kasseler Tagungssession signalisiert hatte, kontrastierte ein auffälliger Aktivismus, der nach neuen Aufgaben suchte. Die Konservierung eines hohen Selbstwertgefühls der engeren Führungsspitze, die sich nach wie vor in dem Glauben wiegte - oder dies zumindest aus organisationspatriotischen Motiven vorgab -, als seien die Dienste der KDEAO für Kirche und Mitgliedsverbände nach wie vor unentbehrlich, kann dafür als untrügliches Indiz gelten. Mit der Konsolidierung der Landeskirchen, die jetzt auf nebenkirchliche Gruppierungen zur Verbreiterung ihrer ,Basis' nicht mehr angewiesen waren, mit der im Vergleich zur offenen Situation der Jahre 1918/19 verhältnismäßigen Festigung auch der politischen Lage und der sich daraus ergebenden Rückbesinnung und Konzentration der Verbände auf ihre traditionellen Aufgaben, überlebte sich die

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Schreiber, a.a.O., 4f. - Ganz ähnliche Forderungen enthielten die .Leitsätze', die P.Cremer/Ev. kirchl. Hilfsverein auf der IV. Tagung der KDEAO, die am 26.11.1919 am Rande der Kasseler Konferenzen stattgefunden hatte, unterbreitete; ebd., 3. Die Verfassung ist abgedruckt in den Verhandlungen des 2. Deutschen Ev. Kirchentages' 1921,30-45. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung v. 19.1.1920; A D W . C A 165 V.

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K D E A O langsam selbst. Das geschah nicht von heute auf morgen, sondern in kontinuierlichem Niedergang; letzte Ausläufer dieses Prozesses sind noch 1933 auszumachen. Im Grunde wiederholte sich seit 1919 die Geschichte der Konferenz nach ihrer Gründung 1916: Die Beschränkung auf praktische' Arbeitsfelder und der erneute freiwillige Verzicht auf die Abgabe theologischer und kirchenpolitischer 1 1 2 Voten ließen für eigenständige Initiativen nur geringen Spielraum. Zu ihnen zählte als erfolgreichstes Projekt die Gründung der ,Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte', später in ,Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung' umbenannt, mit der man die schon während des Krieges begonnene Zusammenarbeit in der Sittlichkeitsbewegung wieder aufgriff. Es gelang Schreiber als entscheidendem Mann hinter diesem schillernden Unternehmen, das mit dem Kampf um sittliche Reinheit und gegen den .Geburtensturz' ebenfalls bevölkerungspolitische Ziele verfolgte und 1926 den .deutschen Muttertag' kreierte, prominente Persönlichkeiten wie Geheimrat Prof. Wilhelm Kahl für den Vorstand zu gewinnen. Der junge Mediziner und Nationalökonom Hans Harmsen, der als Leiter der Abteilung .Gesundheitsfürsorge' des Centraiausschusses hier bald eine wichtige Rolle spielen sollte, übernahm 1924 die Geschäftsführung." 3 - Im März 1924 wurde auch der Versuch gemacht, durch Bildung eines .Sozialen Ausschusses' der K D E A O verstärkt Enfluß auf die Diskussion gesellschaftspolitischer Fragen innerhalb der Kirche auszuüben. Mit der Einsetzung eines entsprechenden DEKA-Ausschusses, den bereits der Dresdener Kirchentag beschlossen hatte, nahm das Interesse an diesen Fragen einen gewissen Aufschwung. 114 Vorausgegangen war der Entscheidung für den Ausschuß eine ebenfalls von der Konferenz einberufene ,soziale Führertagung' am 29. Januar in der Berliner Universität. Zum Thema ,Evangelium und soziale Frage 1890-1924' sprachen Mahling, Füllkrug, Schneemelcher, der Rostocker Systematiker Friedrich Brunstäd und - als Vertreter der religiösen Sozialisten, obschon nicht deren Mitglied - Pfarrer Günther Dehn. Mit seiner herben Kritik an der Haltung der Kirche gegenüber der Sozialdemokratie, deren Existenz ein Generalangriff auf die Kultur des 19. Jahrhunderts sei, vor allem aber mit seinem Diktum, für die den Kirchen feindlich gesonnene Kultuspolitik mancher

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So mußte ein Aufruf zu den preußischen Kirchen wahlen 1920 zurückgezogen werden, nachdem die Pastoren Philipps und Bunke sich dazu kritisch geäußert hatten. Vgl. das Rundschr. Spieckers an die Mitglieder des Arbeitsausschusses v. 11 .XI. 1920; ebd. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzungen v. 19.1.1920, 10.111.1920, 30.V. 1921; ebd., C A 876, C A 165 V. Die Zusammensetzung der Arbeitsgemeinschaft war interkonfessionell; in den letzten Jahren der Republik gehörten ihr rund 350 Wohlfahrts-, Jugend-, Frauenverbände und Behörden sowie Einzelpersonen an. Vgl. dazu und zu Hans Harmsen Kap. III.3.1.mit Anm.236. Prot, der konstituierenden Sitzung des Sozialen Ausschusses der K D E A O v. 3.III. 1924; ADW, C A 1 6 5 A .

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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SPD-Länderregierungen habe er volles Verständnis, brachte Dehn das Gros der Teilnehmer gegen sich auf. Während die übrigen Referenten um Vermittlung zwischen Kirche und Arbeiterschaft warben, lehnte Dehn - wohl aus dem Motivgeflecht einer Verwerfung sozialkonservativer Versuche zur .Bekehrung' des Proletariats und in Übernahme der radikalen Kritik an kulturprotestantischen Reformbemühungen durch die Dialektische Theologie - jede Einmischung' der Pastoren in die soziale Frage ab. Deren Lösung sei nicht ihre Aufgabe; sie täten besser daran, sich auf „Predigt, Seelsorge, Unterricht" zu beschränken. 115 - Dehns rigoristische Thesen stießen in diesem überwiegend von Christlich-sozialen und Anhängern des Ev.-sozialen Kongresses besetzten Plenum auf heftige Antikritik. Denn was blieb der Kirche und ihren Nebenorganisationen noch übrig, wenn sie weiterhin bewußt auf jenen Dialog mit der Arbeiterschaft verzichten sollte, dem sie so lange aus dem Wege gegangen war? Deshalb traf der Einwand Reinhard Mumms, der Dehns Position für,sozialethischen Pessimismus' hielt, und dies nicht nur, weil Mumm als Exponent des christlich-sozialen DNVP-Flügels an solchen Thesen ohnehin keinen Geschmack fand. Als Mumm jedoch die religiösen Sozialisten aufforderte, die Sozialdemokraten stärker zur Zurückhaltung in kirchlichen Fragen zu mahnen und das ,böse Wort' von der,Privatsache Religion' zu streichen, wurde ihm erwidert, gerade das werde man nicht tun; es sei nicht Aufgabe der Christen, Sozialdemokraten für die Kirche oder eine christliche Partei „einzufangen". 116 Die Vorbehalte Dehns und seiner Freunde hinderten die KDEAO nicht an der beabsichtigten Einsetzung des sozialen Ausschusses, aber weitreichende Aktivitäten, die sich nach außen wie nach innen positiv auf Stabilität und Bedeutung der Konferenz hätten auswirken können, entfaltete auch er nicht. Schreiber versuchte dieses Ziel noch mit anderen Mitteln zu erreichen: Qua Umwandlung der Konferenz in einen Zweckverband nach dem Vorbild des inzwischen installierten Centraiverbandes für Innere Mission, auf den unten einzugehen ist.117 Doch hätte es dem Selbstverständnis der klassischen Altverbände diametral widersprochen, sich auf die dazu erforderliche straffe Organisation der Arbeit durch eine mit Weisungsbefugnissen ausgestattete Spitzengliederung einzulassen. Es war deshalb kennzeichnend, daß in erster Linie Ausschußmitglieder wie Reinhard

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So mit Bezug auf eine Äußerung des ehemaligen ev. Abtes von Kloster Loccum, Gerhard Uhlhorn. S. „Bericht über die soziale Führertagung in der Berliner Universität" v. 29.1.1924; ebd. Ebd. - Selbst Dehn merkte wohl, daß er den Bogen überspannt hatte und gab in der Schlußdiskussion zu, „einige freche Bemerkungen gemacht" zu haben, wollte aber in der Sache nichts zurücknehmen. Den anwesenden Pastoren riet er: „Kümmert Euch nicht um die Arbeiterfragen, sondern kümmert Euch um die Sache des Evangeliums." S.a. das Prot, der Arbeitsausschußsitzung v. 20.11.1924; ebd. Vgl. die Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzungen v.19.1. und 14.IV. 1921; ADW, CA 165 V. S.a. Kap. 1.2.3.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

Mumm, die nur lockere Zusammenschlüsse, aber keine Großorganisation hinter sich wußten, für den Plan eintraten. - Bei den Altverbänden schwand das Interesse an der KDEAO seit Beginn der 20er Jahre spürbar; Mitgliederversammlungen und Ausschußsitzungen wurden immer schlechter besucht, und besonders der Centraiausschuß machte seit seiner Statutenrevision unverhohlen deutlich, daß eigentlich er es sei, der die meisten Aufgaben der Konferenz in eigene Regie übernehmen könne. 118 Trotz ihres faktischen Niedergangs schlössen sich noch immer neue Vereinigungen der KDEAO an; die Gesamtzahl erreichte im November 1926 den höchsten Stand von 47, von denen freilich allein die Innere Mission mit 16 ihr ebenfalls angehörenden Untergruppen den größten Anteil stellte. Angesichts dieser Sachlage legte Schreiber, mehr als neun Jahre lang Schriftführer und heimlicher Kopf der Konferenz, seinen Posten nieder. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, hatte aber in Anbetracht seiner niemals den Verbänden allein verpflichteten Amtsführung auch Konsequenz in sich, wenn er ausgerechnet in die Administration der verfaßten Kirche überwechselte, die ihn im Juni 1925 zum Oberkonsistorialrat im Kirchenbundesamt berief.119 Sein im Mai 1933 erfolgter letzter Versuch, die Konferenz noch einmal zum Leben zu erwecken, 120 erschien wohl schon den Zeitgenossen als Anachronismus. Jetzt stand - unter dem Druck des werdenden völkischen Staates, der ohne das Pendant einer machtvollen Einheitsorganisation des deutschen Protestantismus in den Augen vieler evangelischer Christen nur ein Torso bleiben würde - die Schaffung der Reichskirche unmittelbar bevor. Von den freien Vereinigungen sprach niemand mehr; sie hatten sich entweder in diese Reichskirche einzugliedern, das hieß, sich ihr zu unterstellen, oder die Gleichschaltung' zu nationalsozialistischen Einheitsverbänden zu gegenwärtigen. Daß diese Lagebeurteilung einer Rechnung mit mehreren Unbekannten glich, wurde bald offenbar. Einmal mehr täuschte eine hochgestimmte politische Erwartungshaltung Kirche und Kirchenvolk über die Realität und die immer enger gezogenen Grenzen ihrer öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten hinweg.

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So waren von den 27 Mitgliedern der Konf. auf ihrer 5. Tagung am 6. V. 1921 nur 14 vertreten; s.,Bericht über die 5.Tagung' der KDEAO, 1. Am 24.VII.1922 erschienen in der Sitzung des Arbeitsausschusses, dem 12 Verbandsvertreter angehörten, nur Schreiber und Spiecker, die sich jedoch für beschlußfähig erklärten, weil man rechtzeitig zu der Zusammenkunft eingeladen habe; ebd. Auch die Umgestaltung zum Zweckverband kam nicht voran; am 6.VII.1921 vereinbarte man, das Unternehmen vorerst zurückzustellen; vgl. das Rundschr. an die Mitgliedsorganisationen v. 4. VI II. 1923; ebd. Anläßlich einer CA-Sitzung betonte Direktor Steinweg am 12.IV. 1921, der KDEAO seien kaum noch Aufgaben verblieben, was Schreiber am 30. V. in einem Brief an den CA bestritt; ebd. Prot, der Arbeitsausschuß-Sitzung V.25.XI. 1926; ebd. - Auch Spiecker, der gleichzeitig das Präsidentenamt des CA zugunsten Seebergs aufgab, zog sich aus der K D E A O zurück, die ihn zu ihrem Ehrenvorsitzenden ernannte. Sein Nachfolger als Leiter der KDEAO wurde P. Philipps, der spätere Vorsteher des Spandauer Johannesstiftes. Schreiber an Philipps v.6.V. 1933; ADW, CA 165 VI.

1.1. Die Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen (KDEAO)

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Die Skizzierung der Vorgeschichte der KDEAO hat gezeigt, daß reichs- oder nationalkirchliche Vorstellungen in den hundertzwanzig Jahren protestantischer Kirchengeschichte zwischen 1813 und 1933 stets als begleitende Symptome politischer Krisen auftraten; seit 1848 spielten die Verbände unter Führung der Inneren Mission dabei eine ausschlaggebende Rolle. Die Gegner solcher Einheitsvisionen standen im Lager des Kirchenregiments und des lutherischen Konfessionalismus bzw. von ihm beeinflußter Gruppierungen. Dennoch verstanden es die Arbeitsorganisationen, unter denen Innere Mission, Gustav-Adolf-Verein und Evangelischer Bund dominierten, sich vielfach zu Beginn der jeweiligen krisenhaften Situation gegen ihre Kritiker durchzusetzen. Die Jahre zwischen 1914 und 1919 markieren in dieser Hinsicht einen weder vor- noch nachher erreichten Höhepunkt. Das Andersartige der Situation von 1918/19 ergibt sich im Vergleich zur Vorkriegszeit durch die Tatsache, daß jetzt einen Moment lang die Kirchen durch die Trennung vom Staat und eine restriktiv bis religionsfeindlich agierende Kultuspolitik ernsthaft in Gefahr gerieten, ihren umfassenden volkskirchlichen Anspruch aufgeben zu müssen. Nur so ist die vorübergehende Bereitschaft der verfaßten Kirche zu verstehen, sich den Partizipationswünschen der Verbände zu beugen, die in ihren Inhalten von umfassenden Demokratisierungsforderungen noch weit entfernt waren, jedoch innerkirchliche Emanzipationsbedürfnisse in Antithese zum obrigkeitlich organisierten Kirchenregiment zum Ausdruck brachten. Sobald sich die Lage wieder konsolidierte, wuchsen die Widerstände gegenüber den Reformbestrebungen und kanalisierten diese in einer die traditionellen Verwaltungsstrukturen nicht mehr substantiell bedrohenden Weise. Nur - und das könnte ein wesentliches Ergebnis dieses Kapitels sein - ,schuld' daran, wenn man überhaupt in derartigen Kategorien reflektieren will, war nicht die ,Amtskirche' allein, die etwa von ihren Privilegien' nicht lassen konnte und ihre Gläubigen aus tradierten ,Herrschaftsinteressen' unmündig halten wollte;,schuld' hatten vielmehr und vielleicht in höherem Maße diejenigen, die jene 1918/19 heraufziehende, vermutlich einmalige Gelegenheit einer radikalen Umgestaltung evangelischer Kirchlichkeit ganz bewußt und aus ähnlichen Motiven wie die Konsistorialbürokratie nicht wahrnahmen, sondern im Namen von Rechtskontinuität und Konfessionspartikularismus die - wenn auch zu modifizierende - Rekonstruktion des Bestehenden auf ihre Fahnen schrieben. Daß die Repräsentanten der ,Amtskirche' nicht »progressiver' denken und handeln konnten als die Majorität des gesamten Protestantismus, ist eine triviale Einsicht. Wer dennoch unbeirrt auf durchgreifenden Reformen beharrte wie das Häuflein der liberalen und religiös-sozialen ,Systemveränderer', durfte noch weit weniger als die Mehrheit der national-konservativ-monarchistisch gesonnenen evangelischen Christen wagen, im Namen der Volkskirche zu sprechen. Ob diese oft beschworene und als Legitimationsbasis für viele innovative Anliegen mit Beschlag belegte Größe im 20. Jahrhundert überhaupt noch real existierte, mag dem in den nüchternen Bahnen seiner Wissenschaft sich bewegenden Allge-

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

meinhistoriker ohnehin fraglich sein. Zwischen Ansprach und Wirklichkeit klaffte an diesem Punkt in den Debatten aller Lager eine tiefe Lücke. Volkskirche als kirchlich-theologisches Telos war (und ist) gewiß ein zu respektierender Wert; die Bestandsaufnahme ex post kann jedoch nicht von der Prämisse seiner Wünschbarkeit ausgehen, sondern muß die volkskirchliche Wirklichkeit von der theologischen Reflexion auf die empirisch nachprüfbare, sozialgeschichtlich relevante Ebene sozusagen herunterholen. Damit wird diese auf jenes - zweifellos recht geringe - Maß reduziert, das in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende meß- und verifizierbar ist. Das noch grobe Raster einer Dreiteilung des Untersuchungsgegenstandes ,Kirche' in Leitungsbereich, Verbandswesen und ,Massenbasis' leistet dabei solange gute Dienste, wie ein verfeinertes Methodenrüstzeug - ähnlich dem der französischen ,histoire religieuse', die vornehmlich mit mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen arbeitet - für die an die Gegenwart heranreichende kirchliche Zeitgeschichte noch kaum zur Verfügung steht. Insofern bedeutet es historiographisch schon einen Fortschritt, wenn zunächst immerhin der Verbandsprotestantismus als Vergleichspunkt und Gegenpart zur ,Hierarchie' in den Blick kommt. Bezogen auf den Gegenstand dieses Kapitels und sein Ergebnis heißt das jedoch, daß die behaupteten Antagonismen weit weniger zu Buche schlugen, als man auf Grund der Quellen zunächst annehmen konnte. Die Interessenidentität derjenigen Wortführer des freien Organisationsspektrums, die das Experiment KDEAO befürworteten, mit den verantwortlichen Männern des Kirchenregiments besaß einen höheren Stellenwert als der Anspruch auf substantielle Mitgestaltung der neuen Kirchenverfassung und deren reformerischer Veränderung im Sinne einer Partizipation breiterer Trägerschichten. Diese Gemeinsamkeit bezog sich auf die Essentials einer Trennung von Staat und Kirche, Wahrung der Rechtskontinuität und Behauptung des kirchlichen Öffentlichkeitswillens in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft. - Und dennoch erhielten die Verbände mit der Bildung des Kirchenbundes und seines synodalen Organs, des Kirchentags, erstmals innerhalb des deutschen Protestantismus eine gewiß noch unzureichende, gleichwohl anerkannte Vertretung in den kirchlichen Selbstverwaltungsgremien zugestanden; das bleibt festzuhalten. - Die Kehrseite dieser beginnenden Demokratisierung lag irritierenderweise in der damit verbundenen Selbstentmächtigung der Arbeitsorganisationen. Denn der nach 1918 verstärkt einsetzende innerkirchliche Demokratisierungsprozeß schuf mit den Synodalverfassungen - trotz allem, was man gegen das ,Siebwahlsystem' und die daraus resultierende notabelnähnliche Zusammensetzung dieser Gremien einwenden konnte - eine neue Diskussionsplattform für das evangelische Deutschland, die informell zuvor von den Verbänden gebildet worden war. Daraus resultierte im Bereich ,Kirche und Öffentlichkeit' ein wachsender kirchenpolitischer, nicht arbeitsspezifischer Bedeutungsschwund der Verbände, da die von ihnen mitübernommene Aufgabe, Anliegen und Wünsche des Gesamtprotestantismus zu

1.2. Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921

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artikulieren, nun an die Synoden überging. Mit anderen Worten: Die nach dem Krieg eingeleitete Entwicklung ließ eigentlich nur zwei dauerhafte Lösungen des Verbandsproblems zu - die völlige Integration in die verfaßte Kirche um den Preis der Selbständigkeit oder das Weiterbestehen autonomer nebenkirchlicher Gruppierungen, die ihre Sonderzwecke verfolgten und nur von Fall zu Fall mit dem Kirchenregiment kooperierten. Das zweite Modell hatte den Vorzug, das geschichtlich ältere zu sein, aber den Nachteil, daß Konflikte mit der Kirche vorprogrammiert blieben. Außerdem konnte es nur unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reibungslos funktionieren, in denen Organisationsformen des Christentums allgemein akzeptiert wurden. Der vom Verfassungsauftrag her religionsneutrale Staat von Weimar und erst recht der Weltanschauungsstaat nationalsozialistischer Ausprägung machten aber - vor allem in ökonomischen Krisenzeiten - den Schutz der Kirche für ihre freien Untergliederungen unentbehrlich. Hier lag im Ansatz der Hebel zur Durchsetzung der seit 1918/19 nicht mehr verstummenden, im Namen volkskirchlicher Notwendigkeiten erhobenen Forderung nach einer völligen Verkirchlichung der Verbände. Im Spannungsfeld von Kirche und Gesellschaft, d.h. in Auseinandersetzung mit beiden mußten sich diese künftig zu behaupten suchen, was sich an der Geschichte der Inneren Mission zwischen 1918 und 1945 besonders plastisch nachzeichnen läßt.

1.2. Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921 1.2.1. Der Centraiausschuß und die demokratische

Neuordnung

Das Ende des Weltkriegs, der Sturz der Monarchie und die ungewissen Erwartungen an die von der Revolution verdunkelte Zukunft erschütterten die Innere Mission und ihre Führungsgremien in gleichem Maße wie den deutschen Protestantismus insgesamt. Am 18. November wandte sich Präsident Spiecker namens des Centraiausschusses mit einem Aufruf zur Lage an alle angeschlossenen Vereine und Einrichtungen: Deutschland erleide eine „schwere Heimsuchung", die als „furchtbares Gericht Gottes" zu verstehen sei. Der Christ müsse sich dem beugen, Mutlosigkeit sei aber fehl am Platz; Gott richte den Demütigen wieder auf und weise ihm neue Aufgaben zu. Die Innere Mission habe sich auf ihren Dimyfcharakter zu besinnen und jetzt verstärkt die Not der Zeit, die ihren Höhepunkt erst noch erreichen werde, durch solidarisches Handeln zu bekämpfen. Mit jeder Institution, die gleiche Ziele verfolge, so der Appell, wolle sich die Innere Mission verbinden: „Ob Arbeiter- oder Soldatenrat [sie], ob Akademikeroder Beamten-, ob Bürger-, Bauern- oder Volksrat" - die Trauer über das Geschehene dürfe nicht die Arbeit lähmen und den Blick für das Notwendige trüben. Nun sei die Möglichkeit einer völligen Trennung von Staat und Kirche in greifbare Nähe gerückt. In diesem Falle werde die Innere Mission beim

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Ersatz des Religionsunterrichtes und beim Gemeindeaufbau intensiv mitarbeiten, um die einschneidenden Konsequenzen, die neben anderem auch zur Abschaffung der Kirchensteuern führen könnten, abzumildern. Die Betreuung der heimkehrenden Krieger, das Überdenken der Rolle der Frau, die nach der politischen Gleichstellung nun auch in der Kirche stärker beteiligt werden müsse, all das dulde keinen schwermütigen Blick zurück in Trauer und Schmerz.121 Diese pragmatische, wenig vorurteilsbeladene Einschätzung der revolutionären Umwälzung trug deutlich die Handschrift des liberalen Präsidenten, der darauf drang, Centraiausschuß und Innere Mission so schnell als möglich auf den Boden der Tatsachen zu stellen und neu zu aktivieren. Keinesfalls durfte der Anschluß an jetzt beginnende andersartige gesellschaftspolitische Entwicklungen verpaßt werden. - Unberührt von einer solchen Bereitschaft zum diakonischen und volksmissionarischen Neuanfang blieb jedoch das Revolutionsverständnis selbst. Es waren in erster Linie die älteren Vereinsgeistlichen wie der Vorsteher des Rauhen Hauses, Martin Hennig, die sich angesichts der Revolution sofort an die ihnen vertrauten Texte des CA-Begründers, J. H. Wichern, und seine Deutung der 1848 er Aufstände erinnert fühlten. Wichern hatte damals in den ,Fliegenden Blättern' als unmittelbare Reaktion auf die Februar-MärzEreignisse einen Beitrag mit der Überschrift „Die Revolution und die Innere Mission" veröffentlicht. Darin umriß er die Haltung der evangelischen Liebestätigkeit zu den großstädtischen Unruhen mit markanten Worten, die in der Revolutionsauffassung des deutschen Protestantismus ein Jahrhundert lang nachwirken sollten, so daß der Artikel noch 70 Jahre später im Dezemberheft 1918 der ,Inneren Mission' unverändert wieder abgedruckt werden konnte. 122 Wichern analysierte nicht etwa die Ursachen der europäischen Erhebungen nach ihrem sozialen und politischen Gehalt, sondern nahm theologisch begründete Schuldzuweisungen vor. Das ,Unerhörte' habe nur geschehen können, weil alle Warnungen rechtschaffener Männer in Kirche und Innerer Mission in den Wind geschlagen worden seien. Wer den friedvollen Kampf um das ewige Heil aus den Augen verliere, dürfe sich nicht wundern, wenn die Macht der Sünde durch die unfriedliche Empörung der Völker ans Licht komme. Immerhin habe die Revolution die desolaten religiösen Zustände und die aus ihnen resultierenden sittlichen und sozialen Schäden offengelegt. Innere Mission und Staat müßten nun gemeinsam handeln: „Es gilt die Rettung der bürgerlichen Welt, um deswillen wir uns treu zu unserem Vaterlande halten, es gilt die Gewinnung des besten ewigen Vaterlandes, um deswillen wir uns treu und mutig wie bisher der Kirche anschließen; denn die innere Mission ist ebenso wahrhaft patriotisch als sie das

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„An alle uns angeschlossenen Vereine, Verbände und Anstalten der Inneren Mission" v. 18.XI.1918; A D W D ü , BO, 10/1-1,5. IM 13.1918,353-357. S.a. J. H. Wichern, SW 1,129-132.

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Schwert führt gegen die, welche sich gegen die Kirche erheben. Vaterland und Kirche - sie können in diesen Stürmen untergehen, aber nur, um herrlicher wieder aufzustehen."' 23 Ganz ohne Modifikationen ließ sich die Wichernsche Revolutionsschau von 1848 natürlich nicht in das Jahr 1918 verpflanzen, hatten sich doch nahezu alle Rahmenbedingungen grundlegend gewandelt. CA-Direktor Füllkrug gestand in einer Betrachtung zum Jahreswechsel auch zu, daß seinerzeit die Staatskirche erhalten geblieben sei, während nun an die Stelle des Obrigkeitsstaates der Volksstaat mit Dissidenten, Juden und überwiegend Nichtchristen an der Spitze trete. Zwar könnten Kirche und Christen auch in anderen Staatsformen als der monarchischen leben, indessen scheine ihm der an Opportunismus grenzende Enthusiasmus mancher Protestanten für die Republik anstößig; schließlich habe man dem Ancien régime der Hohenzollern als Kirche und Innere Mission viel zu verdanken. Jetzt, da Bismarcks Reich untergegangen sei, dürfe man doppelt froh sein, „daß die Innere Mission ein Band um alle evangelischen Christen im deutschen Vaterlande" schlinge, das Revolution und Republik nicht hätten zerreißen können. Ein klarer Kurs und festes Auftreten seien heute für den Protestanten gefordert; denn Deutschland stehe vor der Alternative, ein christliches oder heidnisches Volk zu werden. Der Religionslose' Staat sei letztlich auch ein ,gottloser', da er Schulen, Militär und andere öffentliche Einrichtungen ohne seelsorgerlichen Beistand lasse. Gegen diese Politik müsse die Innere Mission ankämpfen; Kirche und Volk brauchten sie. Auch die Republik werde sie nicht entbehren können. 124 - Einen Schritt weiter in dieser Argumentation ging Martin Hennig, der unter ständigem Rückbezug auf Wichern unverhohlen zur Politisierung der christlichen Liebestätigkeit aufrief: „Die innere Mission wird den Weg der politischen Presse und Rede nicht unbetreten lassen", weil „der Christ sich von der Pflicht des politischen Lebens nicht zurückziehen darf". 125 Allerdings habe die Innere Mission diesen ihren auch politischen Auftrag in der Ver-

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SW1,132. - In einer redaktionellen Anmerkung, die von Hennig stammte, hieß es: „Man braucht nur das Datum zu ändern, und seine [sc. Wicherns] Worte könnten ebensogut nach 70 Jahren im November 1918 gesprochen sein. Wir wußten an die Spitze der ersten Nummer unserer Monatsschrift [sc. nach dem Kriege] nichts besseres zu setzen, als Wicherns Aufsatz. Er ist uns Christen und Mitarbeitern der Inneren Mission aus dem Herzen geschrieben." IM 13.1918,353. Gerhard Füllkrug, „Die Innere Mission und die Republik", in: IM 14.1919,1-7. Zur problematischen Gleichsetzung von .religions-' und,gottlos' vgl. die programmatische Rede Julius Kaftans auf dem Stuttgarter Kirchentag 1921; zur Kritik der von Kaftan vertretenen These, die Kultuspolitik des religionslosen Staates führe, wenn auch nicht unbedingt beabsichtigt, in der Praxis stets zur Religions/eiWsc/ia/i, s. Kurt Nowak, Ev. Kirche und Weimarer Republik, 76 ff. Martin Hennig, „Das Gebot der Stunde für die Freunde und Mitarbeiter der Inneren Mission", in: IM 14.1919,7-10; die Wichern-Zitate stammen aus dem II., dem eher politischen' Teil seiner .Denkschrift an die deutsche Nation' von 1849; SW 1,175-366,201.

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gangenheit nur unzureichend wahrgenommen. Nicht anders sei es sonst zu erklären, daß die widerchristlichen Mächte seit 1848 an Boden gewonnen hätten. Vor allem ihr Versagen gegenüber der Sozialdemokratie und deren kirchenfeindlicher Propaganda müsse beklagt werden. 126 Jetzt, nachdem Adolph Hoffmann die Karten offen auf den Tisch gelegt habe, gelte es, christliche Politiker zu gewinnen, die in den Parteien - Hennig dachte allein an die DNVP - für die gerechte Sache des christlichen Volksteils kämpferisch in der Öffentlichkeit einstehen würden. In vielem erwies sich die Haltung der Inneren Mission zu Revolution und Republik als identisch mit den Positionsbestimmungen des übrigen Protestantismus: An die Stelle der ,systemstabilisierenden' Kommentierung des Politischen im Kaiserreich trat nun die ,Systemkritik'. Auffallig ist in diesem Zusammenhang jedoch die weitaus geringere Zahl von Äußerungen zur Lage in der Verbandspresse oder in den Protokollen der - meist vertraulichen - Mitarbeiterkonferenzen der Inneren Mission. Das hatte seinen guten Grund; denn obwohl die Mehrheit der Vereinsgeistlichen deutschnational orientiert war und in den Liberalen des Naumannkreises, im Zentrum oder gar in der Sozialdemokratie ihre politischen Gegner sah, wußte man gerade als führende Spitzenorganisation der freien Wohlfahrtspflege, was eine, wenn auch nicht von Trübungen freie, so doch ohne größere Friktionen verlaufende Zusammenarbeit mit Ministerien, Behörden und Kommunen für die Innere Mission und ihre Tätigkeitsfelder wert war. Wo etwa der Vertreter des Evangelischen Bundes das Zentrum und den politischen Katholizismus frontal attackieren konnte, wo deutschnationale Protestanten die ,schwarz-rot-goldene Internationale' für den Ausgang des Krieges und die Misere der Republik verantwortlich machen durften, 127 mußte die Innere Mission Zurückhaltung üben, wollte sie ihre Verhandlungspartner, auf die sie in allen Wohlfahrtsfragen angewiesen war, nicht vor den Kopf stoßen. Arbeitsorganisationen ihrer Art zeichneten sich, bedingt durch die Zwänge der Praxis und angesichts des wachsenden Aufgabenbereichs in einer ökonomisch, sozial und politisch durch Inflation und Kriegsfolgelasten stigmatisierten Epoche, nach außen durch einen geringeren Grad an ideologischer Fixierung und eine damit korrespondierende höhere Kompromißfähigkeit aus als andere konfessionelle Verbände. Dies wird im weiteren Verlauf wiederholt deutlich werden.

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„Hat sie [sc. die IM] der sozialdemokratischen Agitation gegenüber, die seit mehr als vier Jahrzehnten unermüdlich den revolutionären Gedanken im Volke verbreitete, ja förmlich in das Volk hineinpeitschte, irgendwelchen nennenswerten Widerstand geleistet und wirklich sich in ihrer vollen Kraft gegen ihn erhoben?" Hennig, a. a. O., 8. Vgl. den Beitrag des Vf. „Der Evangelische Bund und die Politik 1918-1933", in: Evangelisch und Ökumenisch. Beiträge zum 100jährigen Bestehen des Evangelischen Bundes, demnächst.

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In zähen, fast immer fairen Auseinandersetzungen mit Sozialdemokraten, 128 Juden, Katholiken und Vertretern einer philanthropisch ausgerichteten liberalen Wohlfahrtspflege kam man sich näher und vermochte auf diese Weise - über traditionelle Gräben hinweg - gewisse Vorreiterdienste für eine allmähliche Besserung des Verhältnisses zur anderen Großkonfession, zu den Parteien der Weimarer Koalition oder zu den auf dem karitativen Sektor tätigen Minderheitengruppierungen zu leisten. Daß sich dabei im Laufe der Jahre Anflüge eines ,Vernunftrepublikanismus' auch in den Reihen der Inneren Mission herauskristallisierten, 129 wird deshalb kaum überraschen. - Freilich ist die Leitthese des folgenden Kapitels, in der diese Aussage näher entfaltet und begründet wird, noch eine andere: Anhand der empirischen Bestandsaufnahme läßt sich u.E. nämlich nachweisen, daß die Innere Mission zwar von allen ,Segnungen' des Weimarer Wohlfahrtsstaates profitierte - übrigens auch alle seine Unzulänglichkeiten am eigenen Leibe verspürte - , daß die Durchsetzung der großen wohlfahrtspflegerischen Reformwerke im Reich und in Preußen aber in erster Linie Katholiken und Sozialdemokraten zu verdanken war. So konnte die Innere Mission sozusagen im Windschatten der staatstragenden Parteien dieser Republik an den neuen Möglichkeiten partizipieren, ohne sich mit dem ,System' identifizieren zu müssen.

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Vgl. dazu Referat und Leitsätze des rheinischen IM-Geschäftsführers Otto Ohl zum Thema „Die Aufgabe der Inneren Mission gegen die Sozialdemokratie und den Kommunismus" auf der Konf. theologischer Berufsarbeiter der IM im Mai 1920 in Blankenburg. Zwar differenzierte Ohl nicht zwischen demokratischem Sozialismus und der dem Marxismus-Leninismus verpflichteten KPD, versuchte aber, neben harten Verdikten gegen die Religions- und Kirchenkritik beider Parteien, auch ihrem positiven Wollen gerecht zu werden. Während er die Forderungen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Solidarität untereinander hervorhob, kritisierte er die Praxis des Klassenkampfes als Rückfall in den wirtschaftlichen und sozialen Egoismus, der in seinen die Persönlichkeit vergiftenden Auswirkungen das ethisch hochstehende Wollen des Sozialismus wieder zunichte mache. Sein Vorschlag, mit Hilfe eines christlichen Sozialismus im Geiste Wicherns das Monopol der Sozialdemokraten auf diesem Felde zu brechen, wirkte freilich vor dem Hintergrund der vergeblichen Bemühungen schon Stoeckers wie ein Atavismus. - Der Korreferent, P. Hermann Wilm aus Witten, Vorsteher der dortigen Diakonenanstalt, wollte diesen Weg nicht mitgehen; er berichtete von ermutigenden Erfahrungen in Gesprächen mit Sozialdemokraten an seinem Ort und faßte seinen Eindruck dahin zusammen, daß man es innerhalb der SPD nicht mehr mit einer festgefügten antichristlichen Weltanschauung zu tun habe, da hier die verschiedensten - auch religiös-soziale - Strömungen zusammenflössen - eine Beobachtung, die inzwischen weitgehend bestätigt wird. S. Verhandlungen der 23. Konferenz theologischer Berufsarbeiter der Inneren Mission, 9-13, und ADWDü, BO 8/1,5. Zu neueren Ergebnissen der Forschung vgl. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 86 ff. u. pass., ferner ders., „Sozialdemokratie und praktische Religionskritik".

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Für diesen Begriff, bezogen auf die Kirchenführer, vgl. Jonathan R. C. Wright, ,Über den Parteien'.

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1.2.2. Ansprüche an den Verfassungsneubau der Landeskirchen Das Verhältnis der Inneren Mission zur verfaßten Kirche, das seit jeher von mancherlei Spannungen beeinträchtigt worden war, die vor allem mit dem doppelten Anspruch Wicherns auf Diakonie und Wortverkündigung zu tun hatten, 130 schien sich mit dem Ausgang des Weltkriegs und der notwendigen Neustrukturierung des Kirchenregiments grundsätzlich zu wandeln. In welche Richtung dieser Wandel gehen würde, vermochte in den Zeitwirren der ersten Monate nach der Revolution allerdings niemand exakt vorauszusagen. Ähnlich wie innerhalb der K D E A O war in der Inneren Mission die Vorstellung verbreitet, daß sich jetzt ein Neues anbahnen werde; nicht allein im Sinne einer wünschbaren Annäherung an die Kirche, sondern auch als tatkräftiges Mitwirken der Inneren Mission am kirchlichen Verfassungsneubau. Häufig nahm man in diesen Wochen die bevorstehende Trennung von Staat und Kirche als gegebene Tatsache hin, die beispielsweise der märkische Vereinsgeistliche Johannes Thomä so interpretierte, als sei damit schon der Weg zur Freiwilligkeits- bzw. Freikirche beschritten. Der Fortfall des alten obrigkeitsstaatlichen, sprich konsistorialen Elements werde es der Inneren Mission leicht machen - so die Spekulation Thomäs - , in der verfaßten Kirche aufzugehen. Im Hinblick auf die bevorstehenden Aufgaben, zu deren wichtigsten er den Kampf gegen die 1919 mit kaum faßbarer Wucht einsetzende Kirchenaustrittsbewegung rechnete, 131 müßten Kirche und Innere Mission fest zusammenstehen; letztere vielleicht als politische Vorhut, unter Umständen auch mit Hilfe der Gründung einer christlich-sozialen Partei. 132 - Realistischer beurteilte der provinzsächsische Geschäftsführer Pastor Menzel im Januar 1919 die kommende Entwicklung, die ja keineswegs in die Freikirche einmündete, nicht einmal eine klare Scheidung

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Zu diesen Spannungen, die auch wieder teilweise konfessionalistische Hintergründe besaßen, vgl. die aufschlußreiche kleine Schrift, die ein Pfarrer Th. Hugues 1849 erscheinen ließ: ,Die Kirche und die Innere Mission'. Noch 1917 betonte Zoellner, es sei das Beharren auf der Wortverkündigung gewesen, das viele Kirchenführer in ihrer kritischen Sicht der Inneren Mission geleitet habe, „da schien die letztere der Kirche an das zu greifen, was ihren Lebensnerv ausmachte". Ders., Ziele und Wege, 191. Zu den Kirchenaustritten zwischen 1908 und 1933 vgl. die Statistik bei Kaiser, Arbeiterbewegung, 352. Während im Deutschen Reich 1918 nur insgesamt 8.692 Personen die Kirchen verließen, waren es 1919 im Reich bereits 237.668, wovon sich 224.015 keiner neuen Religionsgemeinschaft anschlössen. Vorstehendes nach Johannes Thomä, „Aufgabe der Inneren Mission in der künftigen Kirche", in: IM 14.1919, 10-18.- Ähnliche Vorstellungen entwickelte Johannes Steinweg, „Die Innere Mission und die neu werdende Kirche", in: Der Reichsbote Nr.3 v. 17.11.1919, Beilage ,Kirche und Schule'. Der Vf. ging davon aus, daß das Kirchenregiment nicht länger .Aufsichtsbehörde', sondern jetzt nur noch ,Arbeitsbehörde' sei. Die Formel,getrennt marschieren, vereint schlagen' gelte heute nicht mehr. Man müsse vor allem .vereint marschieren' und eng zusammenstehen. Dann könne er sich einen Prozeß vorstellen, an dessen Ende die Gesamtkirche Trägerin der IM werde.

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nach französischem Muster, sondern nur eine ,hinkende' Trennung von Staat und Kirche hervorbrachte. 133 Menzel wollte die Gunst der Stunde nutzen und der Inneren Mission ein wirkungsvolles Mitspracherecht in den neuen landeskirchlichen Verfassungen sichern. Schließlich seien ihre Leistungen „als bedeutsamste Lebensäußerung der Kirche" bisher immer so gewertet worden, als habe sie die Kirche selbst erbracht. Demgegenüber besitze die Innere Mission in den meisten Kirchenverfassungen keinen angemessenen Ort. Zwar berge die bisherige Regelung auch Vorteile in sich: organisatorische Eigenständigkeit und finanzielle Freiheit für die Innere Mission. Insgesamt betrachtet habe jedoch die Kirche jeweilige Erfolge für sich verbucht, während sie bei Mißgriffen und finanziellen Engpässen die Verantwortung dafür nicht zu übernehmen brauchte. Die Nachteile sah Menzel überwiegend auf seiten der Inneren Mission, die der Kirche stets dann Arbeitsfelder abnehmen mußte, wenn deren Arm so weit nicht reichte, um selbst aktiv zu werden. Andererseits mußte sie es hinnehmen, daß die Kirche diese Arbeit in dem Moment wieder an sich zog, in dem sie dazu in der Lage war. Die Innere Mission werde in solchen Zeiten „zur Winkelsache herabgedrückt, wo sie [doch] Gemeinde- und Volkssache sein könnte und müßte". Dieser Weg führe zur Passivität der Gemeinden und präsentiere in der Öffentlichkeit das Bild einer Pastoren- und Behördenkirche, der die Gläubigen abhanden gekommen seien. Die Innere Mission müsse in der Kirche wieder „Heimatrecht" erhalten, dann werde die Frage zweitrangig, ob ihre Arbeit ,frei' sei oder kirchlichen Charakter trage. Menzel zog aus dem Dargelegten auch konkrete Schlußfolgerungen, die einmal auf die rechtlich festgeschriebene Vertretung von IM-Vertretern in den kirchlichen Selbstverwaltungsgremien - vom Presbyterium bzw. Gemeindekirchenrat bis zu den höchsten synodalen Körperschaften - zielten und ferner die Wahl zum Kirchenvorsteher nicht allein von der Teilnahme am gottesdienstlichen Leben, sondern auch vom diakonischen ,Engagement' innerhalb der Parochie abhängig machen wollten.134 Diese noch unbestimmten Forderungen erhielten schärfere Konturen, als sich mit Generalsuperintendent Zoellner ein Mann der Inneren Mission und

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Vgl. Axel Frhr. von Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, und die Religionsbestimmungen der Weimarer Reichsverfassung in Art. 135-141. P. Menzel/Magdeburg, „Gedanken zur Eingliederung der Inneren Mission in die verfaßte Kirche". S. ferner die Niederschrift einer Sitzung der hauptamtlichen theologischen Berufsarbeiter des Berliner Hauptvereins für IM am 15.11.1919, in der Steinweg ein Referat über „Die Innere Mission und die Neugestaltung der Kirche" hielt, woraufhin man eine Kommission einsetzte, die ähnliche Leitthesen wie die Menzels verabschiedete. Außerdem forderte man die Einrichtung von „Beigeordneten"-Stellen der IM bei den Provinz- und Landeskonsistorien, das Verhältniswahlrecht für alle kirchlichen Gremien und schließlich die Aufhebung des Parochialzwangs, damit Vereinsgeistliche der IM das Recht zur Ausführung von Amtshandlungen ohne Dimissoriale, d. h. unabhängig von der Genehmigung des zuständigen Gemeindepfarrers, erhalten konnten. ADW, CA 876.

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zugleich ein bekannter Kirchenführer zu den angeschnittenen Problemen äußerte. Zoellner referierte in seiner Eigenschaft als persönliches Mitglied des Centraiausschusses auf dessen Kasseler Konferenz am 26. Februar 1919 über „Bedürfnisse und Wünsche der Inneren Mission beim Aufbau der Volkskirche" :135 In dieser kirchengeschichtlichen Stunde müsse das Verhältnis zwischen beiden einer Revision unterworfen werden. Erstere bleibe „Dienerin" der letzteren, „die nur auf das Wohl der Herrin" bedacht zu sein habe; auch könne sich evangelische Liebestätigkeit nur „in der Kirche und durch die Kirche" verwirklichen. Dazu sei das Aufgeben der alten Unabhängigkeitsgesinnung eine Notwendigkeit. Bisher habe sich die Innere Mission „als ein Kräutlein .Rührmichnichtan'" verstanden in der steten Sorge, die Kirche wolle ihre Freiheit einengen; andererseits nehme sie die Annehmlichkeiten bestimmter sachlicher Bindungen, wie den Anschluß ihrer Vereinsgeistlichen an die landeskirchlichen Versorgungskassen, gerne an. Peinlich berühre es ihn, wenn die Öffentlichkeit die Leistungen der Diakonie als genuines Werk der Kirche anerkenne und dann Vertreter der Inneren Mission behaupteten, mit der verfaßten Kirche hätten sie nichts zu tun. Die historische Hypothek des Verhältnisses von Innerer Mission und Kirche liege darin begründet, daß Wicherns reformerischer Elan vor den Landeskirchen haltmachen mußte. Angesichts deren Unterstellung unter die Staatsverwaltung habe es bis 1918 gar keine Alternative für die Innere Mission gegeben, als ihren Dienst in größtmöglicher Freiheit zu tun; das sei heute anders geworden. Der altpreußische Ev. Oberkirchenrat habe seinen Generalsuperintendenten - die bislang wenig mehr als die geistlichen Spitzenrepräsentanten der Provinzialkirchen waren, während das eigentliche Kirchenregiment bei den Konsistorialpräsidenten lag - neue Aufgaben im übergemeindlichen Bereich anvertraut. Sein Vorschlag sei der, auch die Verantwortung für die drängenden Arbeiten der Inneren Mission in der Hand dieser Männer zu konzentrieren, die als Persönlichkeiten' dazu eher in der Lage seien als eine anonyme Konsistorialbürokratie, in der jeder Beamte die Verantwortung an den anderen abschiebe. Eine Eingliederung dieser Art, d. h. durch Bindung an eine führende Persönlichkeit der Landes- resp. Provinzialkirche bedeute aber nicht das völlige Aufgehen der Inneren Mission und ihrer Arbeitsfelder in der Kirche. Zoellner neigte, wie wir auch noch weiter unten sehen werden, 136 schon unmittelbar nach dem Kriege zu einer ,Zwitterlösung' in der Frage einer Integration der Inneren Mission - später aller freien ev. Verbände - in die verfaßte Kirche.

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Auch abgedruckt in: IM 14.1919,109-120.129-134. Im folgenden wird zitiert nach .Verhandlungen der Konferenz des Centrai-Ausschusses... in Cassel', 56-73. Vgl. Kap. III. 4.1.-3., das die Verbindung zwischen IM und Kirche in der Zeit der Reichskirchenausschüsse zum Inhalt hat. Hier versuchte der greise Kirchenführer ein letztes Mal, die ihm seit langem am Herzen liegende Verkirchlichung der Verbände voranzutreiben.

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Neben bestehenbleibenden gewissen Freiräumen sollte es den Kirchenleitungen möglich sein, bestimmenden Einfluß auf die Verbände auszuüben, allerdings nur in Gestalt exponierter ,Persönlichkeiten', im Regelfälle also in Preußen der Generalsuperintendenten. Was ihn, der ja selbst zu diesem Kreise zählte, letztlich wirklich zu seinem Vorschlag bewog, wird sich nicht mehr restlos klären lassen. Neben sachlich überzeugenden Gesichtspunkten war es vielleicht auch der Gedanke, daß nach jahrhundertelanger Dominanz des juristischen Elements innerhalb der protestantischen Kirchenverwaltung nun eine Aufwertung der geistlichen Vertreter des Kirchenregiments an der Zeit sei. Mit Hilfe neuer Leitungsbefugnisse der Generalsuperintendenten unter Einbeziehung der Inneren Mission ließ sich deren Stellung stärken und die ,Emanzipation' der Theologen von den Juristen erfolgreicher durchfechten, als das ohne diesen Rückhalt möglich schien.137 - Das von Zoellner damit zweifellos anvisierte ,bischöfliche Amt' bildete in der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion auch sogleich den Hauptpunkt der Kritik. Aus Courtoisie wollte niemand Zoellner selbst persönliche Lauterkeit und Eignung für ein solches zusätzliches Amt des Koordinators der Inneren Mission absprechen. Aber - so Martin Hennig - Zoellner sei ja einer der ganz wenigen, die gleichzeitig in Kirche und Innerer Mission wurzelten; von anderen Kirchenführern könne man das nicht durchweg behaupten. Solange noch das Wort gelte, „die offizielle Kirche kann nichts wagen", brauche die Innere Mission unabhängige, charismatisch begabte Persönlichkeiten ohne Bindung an das Kirchenregiment. - Der rheinische Geschäftsführer Otto Ohl nannte die mit Zoellners Anregungen verbundene Unterstellung unter die verfaßte Kirche einen Rückschritt für die Innere Mission; die Probleme der Spezialisierung innerhalb der ev. Wohlfahrtspflege könnten auf diese Weise ganz sicher nicht gelöst werden. Statt dessen müßten die Einzelgemeinden das tragende Fundament der Inneren Mission bilden, und auf höherer Ebene könne die Etablierung eines beratenden Kollegiums aus Fachleuten von Nutzen sein.138 Zoellners Vorstoß schlug breite Wellen und rief wohl in nicht wenigen Untergliederungen der Inneren Mission bis hin zum Centraiausschuß selbst Unbehagen und die Sorge hervor, die erstrebte Annäherung an die Kirche über den Weg einer stärkeren Berücksichtigung in den Verfassungsberatungen vermehre die Gefahr, von den Konstituanten dazu benutzt zu werden, die Innere Mission bei

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Zum lutherisch geprägten Amtsbegriff Zoellners, für den wahre geistliche Kirchenleitung nicht durch Synoden, sondern nur durch spirituell besonders bevollmächtigte Persönlichkeiten denkbar war, vgl. sein Verhalten in der Anfangszeit des Kirchenkampfes und seinen .Aufruf an alle Lutheraner' v. 13.IV. 1933. Dazu Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1,371 ff. In seiner Erwiderung nahm Zoellner die eigenen Vorschläge teilweise wieder zurück; er habe keine Unterstellung der IM unter das Kirchenregiment im Sinn gehabt. Beide müßten sich aber „solidarischer erklären können, die I. M. frei in der Kirche und die Kirche freier in unserem Volk"; cf. Verhandlungen der Konf. des Centrai-Ausschusses, 73-79.

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dieser Gelegenheit ,handstreichartig' der Kirche einzuverleiben. Es durfte deshalb niemanden, der mit diesem Problem vertraut war, überraschen, daß Zoellners Vorschläge überall auf Ablehnung stießen. Man billigte zwar - wie der Vorsteher der Brüderhauskonferenz, Pastor Oehlkers - das Ziel, die Geschlossenheit der Inneren Mission gegenüber Staat und Behörden nach katholischem Vorbild zu fördern, warnte aber vor den Verlockungen der Zoellnerschen Pläne, die erheblich von der jeweiligen Person des Amtsinhabers abhingen und im ungünstigsten Fall zur Angelegenheit seines ,Stabes' degenerieren würden. Auch eine demokratisierte Landeskirche werde nicht ohne Regiment auskommen, und da letzteres auch nur aus Menschen bestehe, könne es „sehr leicht in den alten Fehler der Konsistorien verfallen, daß von Regiments wegen eine Richtung gefördert wird". Schon der Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn habe aus diesem Grunde die Angliederung der Inneren Mission an die verfaßte Kirche abgelehnt. 139 Der ehemalige provinzsächsische Oberpräsident D. v. Hegel, auch er persönliches CA-Mitglied, brachte das Problem auf den Punkt, wenn er in einem im Juni 1921 verschickten Memorandum zum Thema feststellte, es gehe nicht um den förmlichen Anschluß der Inneren Mission an die Kirche; nur von Annäherung könne die Rede sein. Diese sei freilich unabdingbar, denn die christliche Liebestätigkeit benötige einen „Rückhalt an der verfaßten Kirche und ihren Schutz heute mehr denn je; vor allem gegenüber den Übergriffen einer entchristlichten Obrigkeit und den sozialisierenden und kommunalisierenden Gelüsten des demokratischen Staates". Im Endergebnis müsse diese Annäherung die Förderung der Inneren Mission durch die Kirche und ein Schutzrecht für diese gegenüber jener beinhalten. Niemand könne es dem Staat verargen, fuhr der ehemalige Spitzenbeamte fort - und schwächte seine antirepublikanische Polemik in Wahrung gouvernementaler Interessen wieder ab -, wenn er aus drängenden staatspolitischen Notwendigkeiten heraus die freie Wohlfahrtspflege straff zusammenfasse. Um in dem zu erwartenden Konkurrenzkampf bestehen zu können, müßten Innere Mission und Kirche alle Kräfte anspannen. 140 - Eine wichtige

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P. Oehlkers, „Die Innere Mission und die Verfassung der neuen staatsfreien Volkskirche", in: IM 14.1919,140-149. Undatiertes Rundschr. des CA v.Juni 1921. Es enthielt außer der Denkschr. v. Hegels über „Die Wünsche der Inneren Mission für den Neubau der Kirchenverfassung" auch Beiträge von P. Ernst Bunke, „Nähere Verbindung von Kirche und Innerer Mission", und von CA-Direktor Johannes Steinweg, die sich hauptsächlich auf verfassungstechnische Details wie die Vertretung der IM in den synodalen Körperschaften bezogen. Steinweg plädierte außerdem für die Schaffung Ev. Wohlfahrtsdienste, die der Ev. Gemeindetag vorgeschlagen habe - ein zukunftsträchtiges Modell, das in den nächsten Jahren überall verwirklicht wurde, um den Anspruch der IM als eines der bevorrechtigten freien Träger gegenüber Kommunen und Landesfürsorgeverbänden durchzusetzen. - Am 22.VI.1921 schloß sich im Auftrage des schlesischen Provinzialaussch. für IM Regierungspräs. a. D. v. Miesitscheck/Liegnitz den Ausführungen v. Hegels ohne Einschränkung an. ADW, CA 876.

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Ergänzung zu diesen Ausführungen lieferte noch einmal Menzel/Magdeburg inzwischen der Fachmann des Centraiausschusses für diese Fragen - , der am Beispiel der Geschichte seines Provinzialausschusses aufzeigte, daß man in der Provinz Sachsen seit dessen Gründung 1869 aufs engste und vertrauensvollste zusammenarbeite, wenngleich auf völlig ungesicherter Grundlage: Stets sei und bleibe man „auf das Verständnis und Wohlwollen der kirchlichen Stellen und Ämter angewiesen"; noch immer fehle „die allgemein verbindliche Verankerung des Grundsatzes, daß die Verantwortung und Sorge für die freie Liebestätigkeit eine Hauptaufgabe der Kirche ist". Als praktisch „rechtlos" könne man die Position der Inneren Mission gegenüber der Kirche bezeichnen, und deshalb sei eine verfassungsmäßige Klärung dieses Zustandes unabweisbar. 141 Die zahlreichen Äußerungen der Inneren Mission und ihrer gewählten Gremien zur Frage einer angemessenen Berücksichtigung im Verfassungsneubau der Landeskirchen wie des Kirchenbundes sind natürlich in Parallele zu den Forderungen der Konferenz Deutscher Ev. Arbeitsorganisationen in Kassel und Dresden zu sehen. Nicht von ungefähr spielten außer Missionsdirektor Schreiber vor allem Männer der Inneren Mission eine führende Rolle in dieser Organisation. Und dennoch waren die Anliegen des Centraiausschusses und seiner Verbände noch von anderer Art und für die Beteiligten hier wie in den Kirchen auch von höherer Wertigkeit, weil - wie immer wieder nachzulesen ist - evangelische .Caritas' das sichtbarste und außenwirksamste Zeichen der Lebensfähigkeit und gesellschaftlichen .Nützlichkeit' des deutschen Protestantismus inmitten eines kulturpolitisch weitgehend un- und gegenkirchlichen Klimas darstellte. Gesinnungsgemeinschaften wie der Evangelische Bund, das Gustav-Adolf-Diasporahilfswerk oder andere kirchenpolitische und theologische Gruppierungen besaßen demgegenüber nicht die gleiche Bedeutung, da sie keine oder nur in weit geringerem Maße als die Innere Mission sozialkaritative Einrichtungen unterhielten. Die meisten der dann verabschiedeten landeskirchlichen Verfassungen trugen 141

Menzel an den CA v. 20.VI. 1921 mit einem Memorandum in der Anlage über „Wünsche der Inneren Mission beim kirchlichen Verfassungsneubau"; ADW, CA 873. - Daß nicht alle Mitglieder des CA der Auffassung waren, die Beziehungen der IM zur Kirche müßten auf eine neue, rechtlich unanfechtbare Basis gestellt werden, zeigte ein undatiertes Schreiben des Gesandten und Wirkl. Geheimen Rates Dr. Georg von Eucken-Attenhausen an den CA, das dort am 22.VI.1921 einging. Eucken lehnte die von diesem übermittelten Vorschläge rundheraus ab. Auch wenn Wiehern im Nebeneinander von Kirche und IM nur einen Notbehelf gesehen habe, so entwickelte sich dieser seiner Ansicht nach inzwischen doch zu einer Tugend. Die Zeiten litten an einer Überschätzung organisatorischer Regelungen; auch die Geschlossenheit des Caritasverbandes könne der IM kein Vorbild sein, denn dieser sei „völlig auf das unevangelische Wesen der kathol. Kirche zugeschnitten". „Evangelische Freiheit" müsse die Devise lauten, in deren Namen IM und Kirche gewiß kooperieren sollten, dies aber ohne Zwang und ohne Einbau in das kirchliche Verfassungswerk. ADW, CA 873.

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dieser Sachlage Rechnung. Neben Zugeständnissen an die Versorgungswünsche der Vereinsgeistlichen und ihrer Vertretung in den synodalen Körperschaften wurden regional unterschiedliche Beratungsgremien geschaffen, oder das jeweilige Kirchenregiment entsandte führende Repräsentanten in die Vorstände der allmählich aus den früheren Ausschüssen entstehenden Provinzial- und Landesverbände der Inneren Mission. Doch bleibt festzuhalten, daß eine Verkirchlichung im Sinne der Ideen Zoellners, auch nicht in anderen Formen, und erst recht eine förmliche Unterstellung unter die Kirchenbehörden in keinem Fall erfolgte. 142 Eine Neuauflage dieser Diskussion gab es erst 1933, als im Zuge des reichskirchlichen Einigungswerkes auch die Funktion der Inneren Mission zusammen mit derjenigen der anderen Verbände neu überdacht wurde. 143 Die vielfaltigen regionalen und fachlichen Zusammenschlüsse evangelischer Liebestätigkeit wurden durch diese Zurückhaltung der Landeskirchen seit 1918 jedoch nicht aus der Pflicht entlassen, nun selber für Organisationsstrukturen Sorge zu tragen, mit denen die politisch-sozialen Herausforderungen der Nachkriegszeit zu meistern waren. 1.2.3. Die Gründung des Centraiverbandes Für den Problemkreis ,Kirchenverfassung' und ,Verkirchlichung* von hohem Stellenwert war die Frage nach dem Selbstverständnis der Inneren Mission und ihres Centraiausschusses. Die unbestimmten Willensbekundungen der ersten Statuten von 1849, die mit 1878 vorgenommenen leichten Modifizierungen bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Geltung blieben, hatten dem CA keinerlei Vertretungsrechte für den Gesamtbereich der Inneren Mission zugebilligt. Die Förderung der bestehenden Einrichtungen durch „Rath und Hülfe", die Herstellung und Pflege von Kontakten zwischen den Werken evangelischer Liebestätigkeit sowie Impulsgebung zwecks Gründung neuer Einrichtungen gehörte zu seinen Aufgaben, nicht aber die Wahrnehmung einer Sprecherrolle für die Innere Mission gegenüber der Öffentlichkeit in Reich und Ländern. 144 Von seiner

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Vgl. die detaillierte Untersuchung von 21 Kirchenverfassungen nach 1918 auf ihre Bestimmungen für die IM hin, die Pastor Menzel 1926 vorlegte: „Die Innere Mission in der Kirchenverfassung", in: IM 21.1926, 184-187.215-223.246-255.286f.Menzels These, daß die Klärung des Verhältnisses der IM zur verfaßten Kirche zu den „brennendsten Fragen der kirchlichen Gegenwart und Zukunft gehöre", sowie der Auffassung, daß das Ringen von konsistorialen, synodalen und episkopalen Elementen in den Kirchenverfassungen die Schaffung eines einheitlichen Verfassungssystems unter Einbeziehung der IM bisher verhindert habe, ist wenig entgegenzusetzen. - Vgl. a.den knappen Abriß von Georg Krüger-Wittmack, „Das Verhältnis der verfaßten Kirche zur Inneren Mission seit der Kirchenbundeszeit". Vgl. die einschlägigen Abschnitte im III. Kap. „Statuten des Centraiausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche", in: Fliegende Blätter Nr.2 v.9.1.1849; s.a. Wichern, SW 1, 260-266. S.ferner

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Besetzung und - fehlenden - Ausstattung mit hauptamtlichen Vereinsgeistlichen her war der Centraiausschuß schon mit diesem Programm überfordert; nur die Vielzahl ehrenamtlicher,Agenten', d. h. örtlich und regional für Innere MissionsBelange zuständiger Geistlicher in allen Landesteilen, ermöglichte es ihm, einen Einfluß auszuüben, der größer war, als man in Kenntnis dieser Satzungen annehmen möchte. Nachdem 1848 die beiden Präsidenten der Wittenberger Kirchenversammlung, Moritz August von Bethmann Hollweg und Friedrich Julius Stahl, die gleichen Positionen im gerade etablierten Centraiausschuß übernommen hatten und neben dem Sekretär, dem späteren preußischen Kultusminister Heinrich v. Mühler, und Wichern selbst noch sechs weitere bekannte Persönlichkeiten eingetreten waren, 145 ergänzte sich der Ausschuß fortan durch Kooptation neuer Mitglieder auf Lebenszeit. So besaßen die im Laufe der folgenden Jahre gegründeten Provinzial- und Landesausschüsse genausowenig ein Recht auf einen Sitz im Centraiausschuß wie die späteren Fachverbände. Ihre Vertreter konnten nur darauf hoffen, in einem der durchweg älteren vornehmen Herren aus den Spitzen der Staatsverwaltung, des Kirchenregiments oder des sonstigen öffentlichen Dienstes' - Spiecker als ,Mann der freien Wirtschaft' scheint in diesem Kreise eine Ausnahmeerscheinung gewesen zu sein - einen Anwalt ihrer Interessen zu finden. Als der Centraiausschuß 1918 neben dem 1916 zum Nachfolger Wilhelm Scheffens berufenen ,Sekretär' Gerhard Füllkrug mit Johannes Steinweg erstmals einen weiteren hauptamtlichen Vereinsgeistlichen einstellte, tat er das in der Einsicht, daß die Koordinierungsaufgaben der Inneren Mission durch eine ,Honoratiorenversammlung' und nur eine bezahlte Fachkraft in Anbetracht der drängenden Herausforderungen der Kriegswohlfahrtspflege und der zukünftigen Arbeit nicht mehr bewältigt werden konnten. 146 Die angespannte Lage verlangte nach einem tatkräftigen, mit Sach- und Vertretungskompetenzen ausgestatteten Führungszirkel evangelischer Sozialarbeit, der nur durch eine grundsätzliche Statutenrevision zu schaffen war. Im Oktober 1916 machte sich der Bremer Diakonissenpfarrer Constantin Frick, einer der innovationsfreudigsten und gleich-

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„Revidirtes Statut des Centrai-Ausschusses für die innere Mission der deutschen ev. Kirche", in : Fliegende Blätter Nr. 4 v. 28.1.1878. Nämlich Rechtsanwalt Dr. August Abendroth/Hamburg; Superintendent, später Generalsup. Karl Büchsei/Berlin; Pfarrer Dr. Karl Grossmann/Püchau b. Leipzig, Sohn des GAV-Begründers; Albert Ernst Ludwig Karl Graf v.Schlippenbach/Arendsee b.Prenzlau ; Prof. Dr. Heinrich Eduard Schmieder/Wittenberg; Geh. Oberfinanzrat, später Oberpräs. v. Pommern Ernst Frhr. v. Senfft-Pilsach. Zur Situation gegen Kriegsende vgl. die Erinnerungen Steinwegs, Innere Mission und Gemeindedienst in meinem Leben, 77; s.a. Helmut Talazko, „Neubeginn des CentraiAusschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche nach dem Kriege". Allgemein zu den Satzungsreformen von 1920/21 und 1928/29 ders. in seinem Beitrag „Das Archivgut der Diakonischen Werke der Gliedkirchen der EKD", bes. 5-8, und Dorothea Kopfermann, Die Innere Mission als Organisation, 34 ff.

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zeitig mit großem organisatorischen Geschick begabten jüngeren Praktiker unter den CA-Mitgliedern, zum Sprecher dieser Reformbestrebungen und regte die Ausweitung der Berliner Zentrale durch Heranziehen von Fachreferenten für jedes Sachgebiet an. Schon vor 1914 hätten viele Mitarbeiter den „Mangel eines ausgebaute^ Generalstabes der Inneren Mission" empfunden; Aufwand und Ergebnis ständen bei der augenblicklichen Verwaltungsstruktur des Centraiausschusses häufig in keinem Verhältnis mehr. Pflicht dieser Referenten solle die wissenschaftliche Durchdringung ihres Gebietes sein, für das sie als Experten laufend Materialien zu sammeln bzw. zu analysieren, aktuelle Veränderungen sorgfaltig zu beobachten und von ihren Resultaten regelmäßig die Direktoren des Centraiausschusses zu unterrichten hätten. Diese würden wiederum dafür Sorge tragen, die jeweils neuesten Erkenntnisse an die haupt- und nebenamtlichen Vereinsgeistlichen im Lande weiterzuleiten.147 - Die Annahme dieses Vorschlags markierte den Beginn einer neuen Entwicklung der Inneren Mission. Auch wenn sie von Anfang an durch die an wissenschaftlichen Standards orientierten Arbeiten einzelner ihr verbundener Theologen - beginnend bei Wichern selbst bis zu Uhlhorn, Hennig oder den Herausgeber der ,Monatsschrift für Innere Mission', Theodor Schäfer - begleitet wurde, fehlte bisher eine zentrale Einrichtung zur fachlichen Aufbereitung und Klärung der anstehenden Fragen. Im Zeitalter einer rapide zunehmenden Professionalisierung der Wohlfahrtspflege und angesichts verstärkter Staatseingriffe, die sich aus den Notwendigkeiten des Weltkriegs ergaben und nicht etwa erst in der Republik einsetzten, wurde der Ausbau des Centraiausschusses in diesem Sinne unumgänglich. Die Frage, die jedoch noch immer einer Lösung harrte, war die einer Satzungsänderung, ohne die Reformen der geschilderten Art kaum würden greifen können. Ebenfalls noch im Weltkrieg wurde deshalb eine Kommission gebildet, die eine Satzungsänderung vorbereiten sollte. Ihr ging es zunächst darum, die neuen hauptberuflichen Mitarbeiter des Centraiausschusses für die Dauer ihrer Dienstzeit zu dessen Mitgliedern zu machen. 148 Doch sehr bald schon beschäftigte sie sich mit darüber hinausgehenden Problemen, vor allem mit der künftigen Stellung der Provinzial- und Landesvereine bzw. -ausschüsse zur Berliner Spitze. Sollten diese hier Sitz und Stimme erhalten, vielleicht auch mit dem Centraiausschuß zusammen einen Gesamtverband bilden? Wie konnten ihre Rechte und Pflichten jenem gegenüber und untereinander geregelt werden? Selbst eine Befristung der bisher lebenslangen Mitgliedschaft, die einer Entmachtung der ,Honoratioren' gleichgekommen wäre, wurde erwogen, dann aber wieder ver-

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Prot, der C A-Sitzung v. 10.X. 1918; ADWDü, BO, 10/1 -1,1 -11. Anträge dieser Art waren zuvor schon mehrfach gestellt, jedoch regelmäßig abgelehnt worden. Diesmal stimmten die Anwesenden dem Vorschlag Fricks einhellig zu und setzten eine Kommission zur Auswahl der Fachreferenten ein. Vgl. den Prot.-auszug der CA-Sitzung v. 11 .VI. 1918; ADW, CA 100 II.

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worfen. Doch wie hätte man den Centraiausschuß als arbeitsfähiges Gremium erhalten können, wenn - wie zu erwarten stand - in Kürze zahlreiche weitere Vereins- und Fachverbandsdelegierte zu ihm stoßen würden? Schließlich dachte man - im Juli 1918! - sogar an eine ,Parlamentarisierung' der Inneren Mission; d. h. entweder die turnusmäßigen Kongresse oder die jährlichen Novemberkonferenzen sollten zur „Vertreter-Versammlung" der Landes- und Provinzialvereine ausgebaut werden. 149 Ein von Füllkrug noch vor der Revolution präsentierter Satzungsentwurf schied die CA-Mitglieder u.a. in - lebenslange - persönliche, in solche, die ehrenhalber dazu berufen wurden, in Abgesandte der Landes- und Provinzialvereine und in hauptamtliche Berufsarbeiter. Von Bedeutung war auch seine Neudefinition der Aufgaben des CA, der nun „die Gesamtbelange der Inneren Mission wahrzunehmen" habe. 150 Damit hatte Füllkrug die bisher fehlende Sprecherrolle des Centraiausschusses für die Interessen der gesamten deutschen Inneren Mission ansatzweise in den Statuten verankert, was sich, berücksichtigt man die zahlreichen Staatseingriffe in den Sachbereich Wohlfahrtspflege während des Krieges und in den Jahren der Republik, als höchst wichtige und vorausschauende Regelung erweisen sollte. Noch fehlte aber das Mandat der überregional organisierten Fachverbände und auch der angeschlossenen geographisch gegliederten Vereine für eine Außenvertretung dieser Art; insofern enthielt der Passus mehr eine Absichtserklärung denn eine bereits praktikable Bestimmung. - Nur geringfügige Änderungen gegenüber Füllkrugs Vorschlägen wies der ,amtliche' Vorentwurf auf, der am 14. Januar 1919 auf einer CA-Sitzung beschlossen wurde, um dann den Landes- und Provinzialverbänden mit der Bitte um Stellungnahme zuzugehen. Hatte schon Füllkrug dem CA über das allgemeine Vertretungsrecht hinaus keine Leitungsfunktionen im eigentlichen Sinne zugebilligt, so unterstrich die letzte Entwurfsversion diesen Punkt ausdrücklich und sicherte den Untergliederungen volle Freiheit in ihrer Arbeit sowie den grundsätzlichen Verzicht des Centraiausschusses schon auf den bloßen Versuch zu, darein reglementierend einzugreifen. Ein charakteristisches Zugeständnis an die stürmischen, von Kirche und Innerer Mission als bedrohlich empfundenen Zeiten scheint die in der Satzungsendfassung noch enthaltene Anmerkung zu einem Rekurs auf das Werk Wicherns, dem alle Innere Mission verpflichtet sei: Wiehern hatte 1847 erklärt, Innere Mission „als christliche Volkssache" ziele auf „Verwirklichung der christlichen und sozialen Wiedergeburt des heillosen Volkes" und könne nicht eher von dieser Aufgabe ablassen, „bis das Ganze ein wahrhaft christliches Volk in Staat und Kirche geworden"

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S. die undatierte Vorlage für die Sitzung der Satzungskommission am 8.VII. 1918 und einen Aktenvermerk ohne Paraphe und Dat. über die Ergebnisse dieser Zusammenkunft; ebd. Undat. Entwurf nach den Vorgaben der ersten Sitzung der Satzungskommission am 8.VII.1918; ebd.

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sei.151 Wieder begegnet hier die auch im Katholizismus virulente, diesmal protestantische Version des (Re-)Christianisierungsauftrages mit dem Endziel der Schaffung eines christlichen Staates' - eine Vorstellung, die als Ideologie preußisch-deutscher Staatlichkeit noch zu Lebzeiten ihres Schöpfers Friedrich Julius Stahl und seines Weggenossen Wichern von den maßgeblichen Realpolitikern unterschiedlichster Couleur zugunsten einer an Macht- und Selbstbehauptungskategorien orientierten Raison d'être des Gemeinwesens verworfen worden war.152 In Kirche und Innerer Mission sollte diese Vision einer umfassenden Ethik des Politischen allerdings noch gut hundert Jahre erstaunlich virulent bleiben. 153 Die Einsicht in die Verführbarkeit jeder politischen Theologie durch unkritische Anlehnung an ein außertheologisches Apriori als Vorgabe des Zeitgeistes wurde Teilen des deutschen Protestantismus erst durch den Kirchenkampf bewußt. Der sich dort auftuende Hiatus zwischen Kirche und Bekenntnis auf der einen und dem Totalanspruch des NS-Staates auf der anderen Seite war freilich schwieriger und nur langfristiger zu diagnostizieren als die vermeintliche Religionsfeindschaft des Weimarer .Systems'. Schrieb die Republik in Wirklichkeit nur die alten Grundsätze des paritätisch eingestellten neuzeitlichen Staates im Sinne eines modernen Weltanschauungspluralismus fort, so verfolgte der Nationalsozialismus, nachdem er die biedermännische Maske des ,positiven Christentums' hatte fallen lassen, das Ziel, jede Religion und Glaubensüberzeugung, die seinem völkischen Wert- und Normengefüge entgegenstand, in eine Winkelexistenz ohne gesellschaftliche Außenwirkung zu verbannen. Nur weil er zuvor durch ihm ergebene evangelische Gruppierungen - die Deutschen Christen - versucht hatte, unmittelbar in Organisation und Bekenntnis der Landeskirchen einzugreifen, kam es zum Ausbruch des Kirchenkampfes. In dessen Verlauf begann eine Minderheit des bekenntniskirchlichen Flügels das Telos des christlichen Staates als das zu durchschauen, was es schon um die Mitte des

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Vgl. Wichern, „Die preußischen Reichsstände und die Innere Mission", in: SW I, 101-105,103. S.a. den gedruckten „Vorentwurf für die neuen Satzungen des Zentralausschusses für Innere Mission" nach den Beschlüssen der CA-Sitzung v. 14.1.1919; ADW, CA 100 II. Die 1921 von den Aufsichtsbehörden genehmigte neue Satzung findet sich in ,Wort und Tat', 47-52. Zu Stahl vgl. neuerdings Arie Nabrings, Friedrich Julius Stahl - Rechtsphilosophie und Kirchenpolitik. S. Martin Greschat, „Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der evangelischen Kirche nach 1945", in: Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte. Berichtsband der Arbeitstagung katholischer und evangelischer Zeithistoriker aufschloß Hünigen b. Bern vom 25.-29.IX. 1985, Göttingen 1988. Greschat hob in seinem Vortrag auf das bekannte Phänomen einer angesichts des totalen Zusammenbruchs 1945 einsetzenden, jedoch nur kurzzeitig anhaltenden kirchlichen Renaissance ab, die von den Kirchenleitungen so gedeutet wurde, als sei noch - oder wieder - einmal eine reale Möglichkeit zur Verchristlichung der deutschen Gesellschaft gegeben - eine Hoffnung, die für wenige Jahre auch der deutsche Episkopat teilte.

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19. Jahrhunderts gewesen war: eine protestantische Vision, die das Wesen des neuzeitlichen Staates verkannte und den politisch-sozialen Realitäten vergeblich diese rückwärtsgewandte Utopie entgegenstellte, welche an einem verklärt interpretierten mittelalterlich-ständischen Ordnungsgefüge orientiert war. Hatten die Bemühungen um eine Statutenrevision bis Anfang 1919 ausschließlich den alten Centraiausschuß beschäftigt, während andere Vereinsgeistliche nicht hinzugezogen wurden, änderte sich das mit der Versendung des gedruckten Entwurfs im Januar des Jahres. Die schon mehrfach erwähnte Kasseler Konferenz der Inneren Mission, auf der Zoellner seine umstrittenen Thesen präsentierte, gab den bisher nicht Beteiligten erstmals Gelegenheit, sich zu den von Berlin ausgehenden Vorstellungen öffentlich zu äußern, was jedoch kaum jemand in Anspruch nahm. Da sich die übergroße Mehrheit entweder gar nicht zu Wort meldete oder die Vorschläge der Satzungskommission uneingeschränkt begrüßte, müßte das Votum des einzigen dezidierten Kritikers, des rheinischen Geschäftsführers Otto Ohl, an sich nicht eigens angeführt werden, wenn Ohl damit nicht grundsätzliche Probleme des in Berlin vorherrschenden Demokratieverständnisses angesprochen hätte: Er griff den Stil der laufenden Planungen zur Änderung der Satzung an, warf dem CA vor, er habe die Landes- und Provinzialvereine in der Vergangenheit eher „bemuttert" als an Entscheidungen beteiligt und überhaupt „Geheimdiplomatie" betrieben, statt das Gespräch mit den Untergliederungen zu suchen. Die Gründung der KDEAO ohne Beratung mit den Vereinen und die Auswahl der Delegierten für die am folgenden Tag zusammentretende Vorkonferenz seien dafür Beispiele. In Zukunft verlange man seitens der Untergliederungen, mitarbeiten zu dürfen und gehört, „nicht nur bearbeitet [zu] werden". 154 - Obwohl Ohl seine Monita im Namen der Vereine für Innere Mission vortrug, pflichtete ihm in Kassel keiner seiner Kollegen bei.155 Vielleicht glaubte man, der Junge' Mann - Ohl war Jahrgang 1886 und seit 1911 im Amt - habe sich gegenüber den meist älteren und zum Teil gesellschaftlich weit über ihm rangierenden CA-Mitgliedern im Ton vergriffen. Daß seine Beschwerden ihrem sachlichen Gehalt nach nicht jeder Berechtigung entbehrten, lag aber auf der Hand; auch die weitere Entwicklung zeugt davon. Hinter diesem Vorstoß stand noch etwas anderes: die Verärgerung des rheinischen Provinzialausschusses darüber, daß er keinen Vertreter in die durch den DEKA einberufene Konferenz entsenden konnte, obwohl dort wichtige kirchenpolitische Vorentscheidungen fallen sollten. Das traditionelle Mißtrauen gegenüber Berlin seitens der beiden kirchlichen Westprovinzen von Rheinland-Westfalen, die wegen der starken Betonung des synodalen Elements seit jeher eine Sonderstellung innerhalb der Altpreußischen Union einnahmen und ab 1835 eine progressive' gemeinsame Kirchenordnung besaßen, entzündete sich stets

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Verhandlungen der Konferenz des Centrai-Ausschusses für Innere Mission, a. a. O., 39. So Spiecker in einem ausführlichen Schreiben an Ohl v. 13.111.1919; ADW, CA 617.

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an der Sorge um die Prärogative des synodalen zugunsten des konsistorialen Prinzips, die man - mit Recht - in Kassel nicht gewahrt sah.156 Trotz dieser Einwände schien die Frage der Satzungsänderung im Sommer 1919 geklärt. Die einlaufenden Antworten der Landes- und Provinzialvereine signalisierten ausnahmslos Genugtuung über ihre künftig stärkere Teilhabe, und am 1. April 1920 wurden die neuen Statuten dem Berliner Polizeipräsidenten mit der Bitte übersandt, die Zustimmung der preußischen Staatsregierung zu den Änderungen zu erwirken.157 Allerdings fingen die Verantwortlichen der CASpitze im letzten Moment doch an, daran zu zweifeln, ob das Ergebnis langer Diskussionen den Anforderungen der Zeit wirklich in allen Punkten gerecht werden würde. Es handelte sich um zwei Problemkreise, die noch einer Klärung bedurften: die Verbindung der Regionalvereine und -verbände untereinander und die Vertretung der überregionalen Fachgruppen für bestimmte Arbeitsbereiche im Centraiausschuß. Steinweg, der wohl als erster mit klarem Blick erkannte, daß die Lösung dieser Fragen ein drängendes Desiderat blieb, regte deshalb die Gründung eines Centraiverbandes der Inneren Mission an, der in Form einer Spitzenkonferenz unter Einschluß des CA regelmäßig tagen sollte, den man jedoch zunächst in der Satzung nicht verankern wollte.158 Obwohl sich Steinweg mit diesem Gedanken nicht auf die KDEAO bezog, weil ihm ,nur' eine alle Gruppierungen der Inneren Mission und nicht den deutschen Protestantismus insgesamt umfassende lockere Organisation vorschwebte, lag eine derartige Parallele natürlich nahe. Sie bewog auch Spiecker, sich für den neuen Plan auszusprechen; außerdem überzeugte ihn anscheinend Steinwegs Argument, daß, wenn der CA mit Hilfe des Centraiverbands nicht die Initiative ergreife, ihm diese durch die anderen großen Zusammenschlüsse der Inneren Mission - wie den Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser - abgenommen werden könne. 159 Anfang März des Jahres wurde also eine Kommission zur

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Vgl. den - durch einen jede Konvention verletzenden groben Beschwerdebrief des Vorstehers des Bergischen Diakonissenmutterhauses in Aprath, Lic. Paul Erfurth, an Dir. Füllkrug ausgelösten - Schriftwechsel zwischen diesem, Spiecker, Schreiber und Ohl v.März 1919; ebd. Erfurth hatte sich darüber beklagt, daß er keine Einladung für die Vorkonferenz erhalten hatte, und geargwöhnt, dies hänge unter anderem mit der Mißachtung des rheinischen Synodalprinzips durch den CA zusammen. ADW, CA 100 II. S.a. den Prot.-auszug der CA-Sitzung v. 8.VII. 1919, wo Füllkrug über die zustimmenden Reaktionen aus den Vereinen über die Zusendung des Satzungsentwurfs berichtete; ebd. Steinweg an Spiecker v. 24.11.1920; ADW, CA 9451. Zu denken ist etwa an den Verband deutscher Krüppelheime, an den,Verband der christlichen Idiotenanstalten' oder an den Ev. Reichsverband weiblicher Jugend Deutschlands. Vgl. a.Spiecker an Steinweg v.26.11.1920 und Steinweg an Spiecker v.28.11. des Jahres; ebd. Letzterer sprach davon, es sei seines Erachtens „naturnotwendig", den Weg zu einem Centraiverband zu beschreiten, wenn sich der CA nicht später dem Vorwurf aussetzen solle: „Warum habt ihr nicht rechtzeitig zugegriffen?" Er sage das weniger aus langer

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Beratung des neuen Themas ,Centraiverband' installiert, die eines ihrer Mitglieder, den Geschäftsführer des Ev.-kirchlichen Hilfsvereins, Pastor D. Paul Cremer, damit betraute, über Aufgaben und Zielsetzungen des geplanten Centraiverbandes eine Denkschrift auszuarbeiten. 160 Cremer ging in seinem Memorandum von der Feststellung aus, daß der Öffentlichkeitswille und -anspruch der Inneren Mission sich nur mit Hilfe einer schlagkräftigen Organisation künftig würde durchsetzen lassen; diese stehe ihr derzeit nicht zur Verfügung. Das fehlende Mandat des Centraiausschusses, der bislang nicht mehr als eine ,diakonische „Akademie"' gewesen sei, so daß er für die angeschlossenen Einrichtungen und Verbände nicht habe sprechen können, fördere zwar regionale Eigenarten und gewisse Sonderentwicklungen; dieses Defizit wirke sich aber dort problematisch aus, wo es die erfolgreiche Einflußnahme auf staatliche Gesetzesvorhaben und Erlasse durch widersprüchliche Eingaben unterschiedlicher Instanzen der Inneren Mission unmöglich mache. Das sei in der Vergangenheit erträglich gewesen, „solange die Träger der staatlichen Gewalt Persönlichkeiten waren, die entweder selbst auf dem Boden christlicher Weltanschauung standen oder doch Verständnis für christlich orientierte Arbeit hatten". Heute sehe man sich dagegen „in eine Kampfstellung gedrängt" und komme um die Sammlung aller Abwehrkräfte nicht mehr herum. Das geschehe am besten durch Bildung eines Centraiverbandes, der die bestehenden über 100 Vereinigungen der Inneren Mission zusammenfasse und von sich aus einen Arbeitsausschuß bilde, in den jeder der 9 wichtigsten Fachverbände 2 Vertreter entsenden könne. 6 Delegierte stünden den Landes- und Provinzialvereinen zu; und 6 sonstige Mitglieder sowie die Berufsarbeiter des CA sollten ebenfalls Sitz und Stimme in dem Ausschuß erhalten. Wenn sich der alte CA in diesen Arbeitsausschuß umwandle, werde er vom „Centraikomitee" zur „Centraivertretung" der Inneren Mission und könne dann mit vollem Recht den Anspruch erheben, ihre Belange in der Öffentlichkeit zu vertreten.161 Cremers Überlegungen lösten ein zwiespältiges Echo aus, das von einhelliger Zustimmung bis zu radikaler Verwerfung reichte. Die Wortführer dieser höchst kontroversen Bewertungen gehörten zwei genau lokalisierbaren Lagern an, die

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Erfahrung in der Arbeit der IM als aus „einem instinktiven Erfassen der Situation" heraus. „Verhandlungsniederschrift über die Beratungen wegen eines näheren Zusammenschlusses der Spitzenverbände der Inneren Mission" am 9.III. 1920; ebd. S. a. den undat. Bericht Steinwegs über die 1. Sitzung der neuen Kommission, auf der man in vier Punkten Einigkeit erzielt habe : 1. die Bildung des Centraiverbandes überhaupt und 2. eines Arbeitsausschusses, der ihn vertreten könne, 3. die Umwandlung des CA in diesen Arbeitsausschuß, 4. die Beauftragung des CA, die neue Organisationsstruktur in die Praxis umzusetzen; ADW, CA 945 V. Vgl. die undat. gedruckte .Denkschrift betreffend Bildung eines Centrai-Verbandes der Inneren Mission' [wohl v. April 1920],

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bis dahin als gegensätzlich kaum in Erscheinung getreten waren: Fachverbände und Provinzial- bzw. Landesvereine auf der einen und die persönlichen Mitglieder des alten Centraiausschusses auf der anderen Seite. Selbst den maßgeblichen Befürwortern der Cremerschen Denkschrift gingen indessen seine Anregungen zur Neustrukturierung des Centraiausschusses zu weit, der bei Verwirklichung dieser Vorstellungen ja tatsächlich eine fast revolutionär zu nennende Umgestaltung erfahren hätte. Mit einer an die ,Kontinuitätsbeschwörungen' von KDEAO und DEKA gemahnenden Zähigkeit wurde deshalb alles unternommen, um die auf Lebenszeit gewählten CA-Mitglieder auch in den neuen Arbeitsausschuß zu integrieren, der nach einem Kompromißvorschlag Spieckers so lange keine neuen Mitglieder hinzuwählen sollte, bis die vorgeschriebene Gesamtzahl nach Cremer nicht mehr als sechs Einzelmitglieder - unterschritten worden wäre. Eine andere komplizierte Rechtskonstruktion brachte Steinweg ein, der den CA im Centraiverband aufgehen lassen wollte, um dann aus letzterem wieder einen Arbeitsausschuß mit dem Namen ,CA* zu bilden. Auf diese Weise könnten alle Altmitglieder des CA in den neuen Centraiverband überführt werden. 162 Die schon fast verzweifelt zu nennenden Versuche, Altes mit Neuem zu verknüpfen und niemandem von den persönlichen CA-Mitgliedern zu nahe zu treten, ja sie insgesamt in Centraiverband und umstrukturierten Centraiausschuß ,hinüberzuretten\ wurden von den Betroffenen jedoch in keiner Weise honoriert. Friedrich Mahling profilierte sich als Sprecher dieser,Ablehnungsfront', die sich formal gegen Cremer richtete, in Wirklichkeit aber den ganzen reformerischen Flügel treffen sollte. Cremers Denkschrift sei „ein Strich durch die gesamte bisherige Entwicklung" von Innerer Mission und Centraiausschuß. Wenn man ihre Forderungen in die Tat umsetze, würden alle Altmitglieder von sich aus ausscheiden. Cremer habe „oberflächlich, flüchtig und nachlässig gearbeitet" - ein Urteil, das sich auch Reinhold Seeberg zu eigen machte. Ministerialdirektor Nentwig, Leiter der Kunstabteilung im neuen preußischen Kultusministerium, bemängelte den mit dem Centraiverband Einzug haltenden Bürokratismus und wies auf die vermögensrechtlichen Konsequenzen hin, die mit dem Fortfall des alten CA eintreten würden. Oberkonsistorialrat Burghart, seit Dezember 1918 Referent für Innere Mission des altpreußischen EOK,163 verstieg sich endlich zu

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Prot, der dritten Besprechung der Satzungskommission V.24.IV. 1920; A D W , CA 945 V. In der gleichen Sitzung wurde auch beschlossen, den Antrag an den Berliner Polizeipräs. auf Weiterleitung der neuen Satzung an das preuß. Staatsministerium zurückzuziehen, was noch am selben Tage erfolgte; A D W , CA 100 II. - Ein typischer Vertreter der Kontinuitätslinie war der Vorsitzende des Ev. Reichsverbandes weiblicher Jugend Deutschlands, Pastor Thiele, der bei aller Zustimmung zu den Thesen Cremers vor einem „Bruch mit der geschichtlichen Überlieferung" warnte. Vgl. seine „Stellungnahme zu den Ausführungen von Pastor Cremer über den Centraiverband" v. 16.IV. 1920; A D W , 945 II. S. die betr. Mitteilung des damaligen Geh. KonsR und späteren geistlichen Vizepräsidenten seiner Behörde an Füllkrug v. 18.XII. 1918; ADW, C A 876.

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der Wertung, „es gebe fast nichts, was den Prinzipien der I. M. weniger gerecht [... werde] als der Inhalt dieser Denkschrift". 164 Daß es kaum sachliche Gesichtspunkte waren, von denen sich diese Kritik leiten ließ, sondern die gewiß menschlich verständliche - Furcht, der Centraiausschuß als ,Forum der Persönlichkeiten' habe damit ausgespielt oder müsse zumindest Einfluß und Wirkungsmöglichkeiten künftig mit gewählten, nicht berufenen Repräsentanten der Inneren Mission teilen, ist an einer weiteren Stellungnahme Mahlings ablesbar, in der er von einer „Depossedierung" des Centraiausschusses sprach und die neuen Satzungen polemisch als „Einführung des Betriebsrätesystems in die Innere Mission" bezeichnete.165 Die Demokratisierung der Führungsgremien der Inneren Mission blieb in den Augen Mahlings und seiner Freunde mit dem ,Ludergeruch der Revolution' belastet; doch ihre vorerst zu keinerlei Zugeständnissen bereite Ablehnung der Reformpläne kann noch aus anderen Motiven heraus gedeutet werden. Einmal handelte es sich um einen Generationenkonflikt, den die hochgestellten älteren Mitglieder des Centraiausschusses, deren Voten vom ,clerus minor' der theologischen Berufsarbeiter seit den Tagen Wicherns selten in Zweifel gezogen worden waren, nun im Zeichen einer egalisierenden Gesellschaftskonjunktur mit dem zumeist - jüngeren theologischen Nachwuchs auszufechten hatten. Gravierender als solche - sich aus dem Festhalten an überkommenen Normierungen des gestürzten Obrigkeitsstaates ergebenden - Spannungen erscheint der nun offen ausbrechende Grundsatzstreit zwischen den neuen dynamischen Funktionären' wie Füllkrug, Steinweg, Cremer, Thiele und vielen anderen, die sich professionell mit Fragen der Inneren Mission beschäftigten, und jenen .Amateuren', die sich dieses Status eben nicht immer bewußt blieben, sondern in der Weise mancher Dilettanten gleiche Professionalität vergebens für sich in Anspruch nahmen; ihre Zeit war nun abgelaufen. Sie mußten ins zweite Glied zurücktreten und den ideenreichen, tatkräftigen und einschlägig vorgebildeten Fachleuten das Feld räumen, wenn die Innere Mission mit dem auf diesem Sektor viel weiter fortgeschrittenen Deutschen Caritasverband und den neu eingerichteten Arbeits- und Wohlfahrtsministerien im Reich und Preußen partnerschaftlich mithalten wollte. Binnen weniger Monate hatte sich die Opposition der theologischen Berufsarbeiter gegen die ,Notabein' des Centraiausschusses durchgesetzt. Allerdings gab 164 165

Prot, der CA-Sitzung v. 11 .V. 1920; A D W , CA 94. So nach dem Prot, der CA-Sitzung V.8.VI.1920; ebd. Vgl. etwa die charakteristische Äußerung des Wirkl. Geh. ORR v. Frowein auf der genannten CA-Sitzung v. l l . V . 1920, in der dieser jeden Gedanken an die Schaffung einer neuen Zentralinstanz der IM, um gegenüber Kirche und Behörden geschlossener auftreten zu können, als „nicht zweckmäßig" verwarf und statt dessen vorschlug, die einzelnen Untergliederungen möchten sich wie bisher direkt mit jenen Instanzen ins Benehmen setzen; das sei gewiß wirkungsvoller [sie]; a.a.O.

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e s a u c h unter ersteren M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n u n d K o n k u r r e n z d e n k e n , d a s s i c h an der Rivalität z w i s c h e n F a c h v e r b ä n d e n u n d d e n g e o g r a p h i s c h gegliedert e n Z u s a m m e n s c h l ü s s e n der Inneren M i s s i o n entzündete. W e n n C r e m e r letzteren nur 6, d e n F a c h v e r b ä n d e n aber 18 Vertreter im C A z u b i l l i g e n wollte, s o erhielten diese ein Ü b e r g e w i c h t , das ihrer B e d e u t u n g a u s der Sicht der Landesu n d Provinzialausschüsse bzw. -vereine verständlicherweise nicht

entsprach.

O f f e n b a r war es w i e d e r Otto O h l , der die v o r g e s e h e n e R e g e l u n g heftig attakkierte u n d d e m es mit Unterstützung seiner K o l l e g e n schließlich gelang, d i e paritätische B e s c h i c k u n g der b e g e h r t e n Sitze i m C A zu erreichen. 1 6 6 D i e Zahl d e r p e r s ö n l i c h e n Mitglieder a u f Lebenszeit legte m a n k l u g e r w e i s e nicht fest 1 6 7 u n d e n t z o g s i c h d a m i t d e m D i l e m m a , j e m a n d e n aus d e m Kreis der Altmitglieder u m s e i n e n Rücktritt bitten zu m ü s s e n . D e r 39. K o n g r e ß für Innere M i s s i o n , der i m S e p t e m b e r 1920 in Breslau stattfand, n a h m a m 10. d e s M o n a t s die f ö r m l i c h e K o n s t i t u i e r u n g des Centraiverbandes vor. In einer W ü r d i g u n g d i e s e s Vorgangs schrieb Füllkrug kurz darauf mit e m p h a t i s c h e m Z u n g e n s c h l a g : „ D a m i t ist der S c h l u ß s t e i n gelegt z u d e m g r o ß e n G e b ä u d e , für d a s J o h a n n Hinrich W i c h e r n b e i m Wittenberger Kirchentag 1848 d e n G r u n d s t e i n bot." 1 6 8 D a s war i n s o f e r n e i n E u p h e m i s m u s , als bald d i e S c h w a c h s t e l l e n a u c h dieser n e u e n

Statuten

o f f e n b a r wurden. Z w a r schien n u n d a s Z e n t r a l p r o b l e m einer S a t z u n g s a n p a s -

166

167

168

Die Kritik Ohls ist indirekt einem Schreiben der Düsseltaler Anstalten/Düsseldorf-Grafenberg v. 27.V. 1920 an den C A zu entnehmen. Der ungenannte Vf., wahrscheinlich P. Schlegtendal, erwähnte die von Ohl beanstandeten Punkte; A D W , CA 9451. - Schließlich sollten aus folgenden 8 Arbeitsgebieten zu bildende Fachgruppen j e zwei Vertreter entsenden: 1. männliche und weibliche Diakonie, 2. Pflege der heranwachsenden Jugend, 3. Erziehungsarbeit, 4. Frauenarbeit, 5. soziale Arbeitsorganisation, 6. öffentliche Mission (Presse, Volksbildung, Evangelisation usw.), 7. Fürsorge für die wandernde Bevölkerung, 8. Bekämpfung sittlicher Volksschäden und Fürsorge f ü r Gefährdete u n d Gescheiterte. Diese Zahl, d.h. 16 Delegierte, wurde dann auch den Landes- und Provinzialvereinen zugestanden. Die neue Satzung, die der preuß. Kultusminister Carl Heinrich Becker am 9.VIII.1921 namens der Staatsregierung genehmigte, ist abgedruckt in ,Wort und Tat', a . a . O . ; s.a. ADW, C A 100 II. In Breslau hatte man sich auf die Zahl von maximal 10 persönlichen CA-Mitgliedern verständigt - wohl schon ein Kompromiß, der aber am Widerspruch des ehemaligen Oberpräs. v. Hegel gescheitert war. Der Rechtsausschuß verwarf später in einem Rundschr. an alle Provinzial- und Landesverbände jede zahlenmäßige Fixierung mit dem zweifelhaften Argument, damit werde den Nachgeborenen die Möglichkeit genommen, „kirchliche Männer in den C. A. zu wählen". Immerhin einigte man sich dann darauf, in den zu bildenden Ausschüssen und im CA selbst ein Verhältnis von 1 / 3 persönlichen Mitgliedern zu 2 / 3 Verbands- bzw. Fachgruppenvertretern herzustellen. Vgl. das Prot, der Mitgliederversammlung des Centraiverbands v . l . Mai 1925 in Dresden; A D W , CA 945 A. Gerhard Füllkrug, „Der 39.Kongreß der Inneren Mission", in: I M 15.1920, 147-155, 154. Füllkrug bezog sich im Zitat implizit auf eine Äußerung Mahlings, der in der denkwürdigen CA-Sitzung am U.V. 1920 die These gewagt hatte, Wichern habe 1848 nur das Dach der I M geschaffen, aber auch späterhin kein Haus darunter gesetzt - eine Behauptung, der die anwesenden Berufsarbeiter des C A energisch widersprachen; a. a. O.

1.2. Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921

89

sung an die gesellschaftspolitisch auf der Tagesordnung stehenden Demokratisierungsforderungen in nahezu vorbildlicher Weise gelöst, so daß man sich damit Ministerien und Behörden als moderner Großverband und Partner präsentieren konnte, der die Zeichen der Zeit erkannt und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen hatte. Dennoch, bei der Reform der Organisationsstrukturen der Inneren Mission 1920 in der Bewegungsrichtung „vom Verein zum Verband" 169 war man - wie sich bald zeigen sollte - auf halbem Wege stehengeblieben. So sahen sich im Laufe der folgenden Jahre Berufsarbeiter wie ehrenamtliche Vorstands- und Ausschußmitglieder zunehmend Hemmnissen ausgesetzt, deren Überwindung unnötige Energien verschlang. Manche mit der Satzungsreform eingeleiteten Entwicklungen nahmen auch sich verselbständigende Züge an und erschienen einem Teil der Verantwortlichen ohne eine erneute Statutenrevision nicht mehr aufzuhalten. Zu letzteren gehörte das rasche Wachstum des Centraiausschusses als wissenschaftlicher und administrativer Mittelpunkt der gesamten Inneren Mission. Mit Entstehung der neuen Direktorate ,Apologetische Centrale' (Carl-Gunther Schweitzer), Volksmission (Füllkrug), Wohlfahrts- (Steinweg) und Wirtschaftsabteilung (Kaufmann Schlunk) unter jeweils eigenständiger Leitung kamen auf den geschäftsführenden Direktor, dem schließlich nur noch Volksmission und Allgemeine Abteilung blieben, anders geartete Aufgaben zu als bisher. Nun galt es, die expandierenden und - bedingt durch die jeweiligen Sachzwänge - auseinanderstrebenden Bereiche zusammenzuhalten und eine einheitliche Linie evangelischer Wohlfahrtspflege nach innen wie außen zu wahren. Das Problem der schwer zu bewerkstelligenden Verbindung von praktischer Fürsorge und Volksmission, von verwaltungstechnischem ,Management' und geistlich-,theoretischen' Arbeitsfeldern trat hinzu. Mit der zur Zeit gültigen Satzungskonstruktion, zudem mit der Persönlichkeit Füllkrugs, welchem Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen - also Führungsqualitäten - abgingen, waren diese Herausforderungen nicht zu bewältigen.170 Der starke Flügel der Verbands- und Fachgruppenvertreter dachte deshalb bereits Mitte der 20 er Jahre daran, anstelle des ,geschäftsführenden' das Amt eines .Ersten Direktors' zu schaffen, der, wenn auch nicht als Vorgesetzter, so doch als primus ínter pares, im Sinne eines Koordinators und Sprechers aller Direktoren und darüber hinaus der gesamten Inneren Mission fungieren sollte. - Ein zweiter Grund für Überlegungen, die Satzung binnen weniger Jahre ein zweites Mal zu ändern, ergab sich durch den Dualismus zwischen Centraiausschuß und -verband, der sich vor allem auf ökonomisch-finanziellem Gebiet bemerkbar machte und die Frage

169

170

So eine treffende Formulierung von Helmut Talazko, „Das Archivgut der Diakonischen Werke", 5. Zur Person Füllkrugs und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten s.a. Kap. III. 1.2.1. mit Anm.23.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

nach den Zuständigkeiten aufwarf. Da beispielsweise CA und CV je einen eigenen Finanzausschuß mit weitgehenden Vollmachten besaßen, konnte es zu Konflikten kommen, wenn etwa eingehende Gelder verteilt werden mußten. Eben dieser Fall ereignete sich 1925, als sich nach einer solchen Überweisung aus dem Reichsarbeitsministerium, die für die angeschlossenen Anstalten und andere Einrichtungen bestimmt war, das Problem der Verfügungsberechtigung stellte; sie gehörte zu den Kompetenzen des Centraiausschusses, obwohl der Centraiverband von der Sachlage her der Eigentümer war. Letzterer besaß aber nach den Satzungen nicht die Rechte einer juristischen Person und konnte deshalb nur durch den CA handeln. In der Mitgliederversammlung des Centraiverbandes am 1. Mai 1925 nahm deshalb einer der,Satzungsväter' von 1920/21, D. Paul Cremer, den Vorfall zum Anlaß, neben einer Vereinigung beider Finanzausschüsse auch gleich eine grundlegende Statutenreform zu beantragen, wobei ihn die anwesenden Geschäftsführer der Landes- und Provinzialverbände unterstützten, während der Vorstand mit Präsident Spiecker an der Spitze und die Gruppe der persönlichen CA-Mitglieder diese Initiative abzuwehren suchten. 171 Die nun einsetzende und fast drei Jahre andauernde, mit .harten Bandagen' bis hin zur Inkaufnahme eines Eklats geführte Debatte zielte keineswegs allein auf praktisch-technische und personelle Probleme des reibungslosen Ablaufs der Arbeit in der Berliner IM-Zentrale. Im Hintergrund stand immer wieder der alte Streit zwischen den auf Zeit gewählten Gruppenrepräsentanten und lebenslang berufenen Einzelpersönlichkeiten, die keiner Vereinigung, nur dem Gesamtinteresse der Inneren Mission verpflichtet waren. Der Antagonismus zwischen dem aristokratischen' und dem ,egalitär-demokratischen' Leitungsprinzip erfuhr jetzt eine Neuauflage und endete - um dies vorwegzunehmen - mit einem nahezu vollständigen Sieg der geographischen und Fachverbände. Die Emanzipationsbestrebungen ihrer Vertreter beinhalteten deshalb noch lange kein uneingeschränktes Ja zur Republik und ihrer Verfassung; doch mochte sich im Binnenraum des Verbandswesens niemand mehr dem persönlichen Regiment weniger, wenn auch verdienter Männer beugen, deren Führungsanspruch aus vergangenen Tagen stammte und nun zu Lasten freiheitlicher Mitwirkungsrechte der einzelnen Zusammenschlüsse ging. Die Argumente, mit denen Gegner wie Befürworter einer neuerlichen Satzungsänderung operierten, waren von zahllosen Widersprüchlichkeiten geprägt und umkreisten oft nur die eigentlichen Konfliktpunkte, ohne je zu ihnen direkt vorzustoßen; so drängt sich der Eindruck geradezu auf, als seien manche der Begründungen nur vorgeschoben', um andere und darüber hinausgehende Motive zu verschleiern. Der oben genannte, von Cremer eingebrachte Antrag

171

Vgl. das Prot.; ADW, CA 945 A.

1.2. Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921

91

hatte nichts weniger im Visier als eine Eliminierung des Centraiverbandes, an dessen Stelle nun der Centraiausschuß selbst treten sollte. Auf diese Weise konnte man den CA erhalten, was aus Vermögens- und korporationsrechtlichen Gründen eine Rolle spielte. Dem neuen Centraiausschuß als Verband von Verbänden sollte ein Hauptausschuß vorstehen, der wiederum einen kleineren Verwaltungsausschuß wählte, um zusammen mit dem Präsidium die laufenden Geschäfte zu besorgen. Persönliche Mitglieder auf Lebenszeit kannte sein Ende Dezember 1925 vorgelegter Entwurf nicht; vielmehr sollten sich auch Einzelmitglieder, deren Zahl Cremer auf rund ein Dutzend begrenzen wollte, in regelmäßigen Abständen zur Wahl stellen. Wenn Cremer zur Untermauerung seiner Neufassung jedoch anführte, der CA habe zwar seit 1921 einen gewissen Funktionsverlust durch die Konkurrenz des Centraiverbands erlitten, seine reale Bedeutung sei in den letzten Jahren aber gestiegen, und man trage mit der Reform nur einem bereits vorhandenen Faktum Rechnung, so klang das wenig plausibel. 172 Überhaupt erinnerte der Entwurf die Kritiker an Cremers Denkschrift von 1920, in der er schon ähnliche Forderungen erhoben hatte, ohne sich mit ihnen durchsetzen zu können. 173 Zwei Jahre lang wurden die Pläne im Finanzausschuß des Centraiverbandes, in welchem Cremer und seine Anhänger dominierten, und dem Rechtsausschuß des CA, den Geheimrat v. Kameke als Exponent der Gegner leitete, hin- und 172

173

Ebd. und Cremer an MDa. W. von Kameke v. 31.XII.1925 mit dem gedruckten Satzungsentwurf in der Anlage; ADW, CA 100 III. Die widersprüchliche Argumentation konstatierte auch v. Kameke in seinen „Bemerkungen zu dem vom Finanzausschuß des Zentralverbandes aufgestellten Entwurf einer neuen Satzung des Zentralausschusses bezw. Zentralverbandes" V.25.IX. 1926; ebd. Vgl. Anm. 161 dieses Kap. Am 12.VI. 1926 tagte der Rechtsausschuß des CA im Amtszimmer des juristischen Vizepräs. Duske/EOK. Dort wies dieser selbst auf die Parallele hin und fragte nicht ohne ironischen Unterton, warum man nicht schon vor sechs Jahren das verwirklicht habe, was man heute im Begriff zu tun sei. Duske verlegte sich in seiner Polemik gegen die neuen Änderungswünsche auf das Argument, damit werde das Laienelement noch weiter zurückgedrängt als bisher. Setze sich die Entwicklung fort, so sei der CA eines Tages nichts anderes mehr als die Vertretung der Berufsarbeiter der IM. - Deutlich wird daran, welche Ressentiments Duske und seine Mitstreiter bewegten: Sie kämpften gegen die Professionalisierung ev. Wohlfahrtspflege und stellten das angeblich vernachlässigte Laienelement modisch wirksam in den Vordergrund, wo sie doch tatsächlich den schwindenden Einfluß der,Honoratioren' meinten, zu denen sie sich selbst zählten. Vgl. das Prot.; ADW, CA 100 III. - Ähnlich charakteristisch erscheint eine andere Äußerung Duskes auf einer gemeinsamen Sitzung von Finanz- und Rechtsausschuß am 10.1.1927, wo er erklärte, früher hätten sich die Mitglieder des alten CA „mit großer Freude" an der Arbeit beteiligt, heute verlören sie zunehmend die Lust dazu, „weil das Element der Facharbeiter absolut überwiege. Eine offene Aussprache sei auch deshalb nicht mehr möglich, weil die Kanzlisten des CA anwesend seien" - eine Diskreditierung der nicht zu den Direktoren gehörenden Angestellten, die auch für einen Kirchenmann, der noch ganz in der Vorstellungswelt des ,Ancien regime' lebte und dachte, ungewöhnlich deutlich ausfiel und sogleich durch den anwesenden Otto Ohl zurückgewiesen wurde. Vgl. das Prot.; ebd.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

hergewendet. Jede Seite legte umfangreiche Gutachten vor, um ihre Auffassung zu stützen; 174 man konnte aber keine Einigung erzielen. Zuletzt blieben nur noch zwei Punkte kontrovers: die Einführung eines Ersten Direktors und die Zusammensetzung des Vorstandes. Am 21. Dezember 1927 beschlossen beide Vorbereitungsausschüsse, der im März tagenden Mitgliederversammlung des Centraiverbands einen gemeinsamen Entwurf zu präsentieren, um die leidige Angelegenheit per Abstimmung aus der Welt z# schaffen. Doch die kaum gewonnene ,Eintracht' zerbrach wieder, als der Vertreter des Rechtsausschusses im Alleingang ein gänzlich neues Modell vorlegte, das in keiner Weise den im Dezember getroffenen Abmachungen entsprach. Als sich auch der CA-Vorstand, der ohnehin mit den ,Honoratioren' sympathisierte, für ihn erklärte und Anstalten machte, über ihn - unter Außerachtlassung der Cremerschen Vorschläge - auf der Mitgliederversammlung abstimmen zu lassen, begann eine Machtprobe, die mit der endgültigen Niederlage der ,Altherrenriege' endete. Einen von Cremer noch einmal zustande gebrachten neuen Verhandlungstermin, zu dem mit Adolf Wendelin/Dresden und Otto Ohl/Langenberg zwei auswärtige Vereinsgeistliche telegraphisch nach Berlin gerufen worden waren, ließen die beteiligten Mitglieder des Rechtsausschusses sowie der CA-Präsident in letzter Minute einfach ,platzen', weil sie nach einer Mitteilung Füllkrugs „ihre Teilnahme nicht für notwendig hielten" [!].175 Daß man auf Herausforderungen von solcher Tragweite auch in der an Disziplin geübten Mitarbeiterschar der Inneren Mission nicht mehr auf diese Weise reagieren konnte, erfuhren die für den Eklat Verantwortlichen bald. Zwölf einflußreiche regionale Geschäftsführer forderten nun Cremer als Vorsitzenden des Finanzausschusses in ultimativer Form auf, seinen - von ihnen längst gebilligten - Entwurf in die Mitgliederversammlung einzubringen. Wenn der Centraiausschuß, der für Leitung und Aufstellung der Tagesordnung zuständig war, dies ablehnen sollte, wolle man den Antrag selbst in Form einer Tischvorlage präsentieren; 176 das konnte Cremer nur recht sein. Tatsächlich zog der Rechtsausschuß daraufhin sein angefochtenes Papier zurück. Eine Kampfabstimmung im CA kurz vor der Mitgliederversammlung Ende März bestätigte 174

175

176

S.außerdem bereits in Anm. 172 genannten Papier von v. Kameke das undatierte Gutachten von Johannes Steinweg „zu dem Entwurf der Satzung des Centraiverbands der Inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche" und die „Denkschrift betreffend eine Neuorganisation des Centraiverbandes der Inneren Mission", die P. Dr. Hoppe/Potsdam v. Ev.-kirchl. Hilfsverein am 22.XI.1926 an den CA übermitteln ließ; ebd. Aktennotiz bzw. Briefentwurf Cremers v.l.II. 1928, in der er die Entwicklung seit der Besprechung V.21.XII.1927beschrieb. Ebd. Sehr. v. 21.1.1928. Unter den Unterzeichnern finden sich Otto Ohl, Adolf Wendelin, D. Ulrich/Berlin und Bodo Heyne/Bremen. Der Brief gipfelt in dem Satz, es sei Gefahr im Verzuge, wenn nicht umgehend gehandelt werde: „Die Unterzeichneten müssen mit Sorge sehen, daß mangels straffer, einheitlicher Leitung im Centrai-Ausschuß die Einheitlichkeit der Inneren Mission im Inneren und die Geschlossenheit ihrer Vertretung der Kirche wie dem Staat gegenüber immer mehr verlorengeht." ADW, PAflM, lfd. Nr. 55.

1.2. Anpassungszwänge der Inneren Mission 1918-1921

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- wenn auch nur mit der knappen Mehrheit von 15 gegen 13 Voten - das Satzungskonzept der Verbände.177 Damit war die Annahme des Entwurfs auch durch die Mitgliederversammlung vorprogrammiert, weil seine Anhänger hier über die überwältigende Mehrheit der Sitze verfügten. Beide Seiten erläuterten hier noch einmal ihre Positionen. Umstritten blieb schließlich lediglich der Posten eines Ersten Direktors, dem angeblich auch Cremer nur eine Sprecherrolle zubilligen wollte, dessen Einrichtung der Rechtsausschuß aber dennoch verwarf, freilich mit der auf schwachen Füßen stehenden Begründung, damit würden zwei Klassen von Direktoren geschaffen; außerdem sei eine neue Planstelle nicht finanzierbar. In Wirklichkeit bewegte die hohen Juristen und ihre Fraktion die Furcht vor einer Herabsetzung des Präsidentenamtes durch zu weit ausufernde Vertretungsrechte und -pflichten des Ersten Direktors. War dieser eine starke Persönlichkeit, konnte er - gestützt auf den Verwaltungsapparat der Zentrale und seine wesentlich umfassenderen Kenntnisse der Arbeitsbereiche ohne Mühe einen nebenberuflichen Präsidenten in den täglichen Entscheidungsprozessen, aber auch bei längerfristig zu lösenden Problemen überspielen. Insofern war bei ungünstigen personellen Konstellationen auch in der novellierten Satzung ein erneuter Dualismus festgeschrieben, es sei denn, man wäre seitens der Reformer von der Prämisse ausgegangen, dem Präsidenten nur noch eine ausschließlich repräsentative Rolle zuzugestehen. Diese Frage aber ließen die endlich erstrittenen und am 29. März einstimmig angenommenen Satzungen offen. 178 Solange Füllkrug und - in der Nachfolge des inzwischen aus Altersgründen zurückgetretenen Spiecker - Reinhold Seeberg diese Ämter innehatten, stellten sich die befürchteten Konflikte nicht ein. Doch als der Centraiausschuß Ende 1931 in den sogenannten Devaheim-Skandal verwickelt wurde, offenbarte sich, daß der Präsident wie freilich auch die Direktoren, an deren Spitze jetzt Steinweg stand, ihren Aufsichtspflichten nicht gewachsen waren. Nach den Erschütterungen durch diese Affäre und nach Abwehr der nationalsozialistischen Usurpationsversuche, von denen im III. Kapitel die Rede sein wird, konsolidierte sich die Lage dann langsam wieder. In dieser Situation - Ende 1934 berief man mit Constantin Frick einen erfahrenen theologischen Berufsarbeiter zum Präsidenten, dessen persönliches Regiment' die Schwächen der Rechtskonstruktion - soweit dies unter den besonderen Bedingungen der Zeit möglich war - auffangen konnte. Erst die Vereinigung der Ämter des Ersten Direktors und 177 178

Prot.-auszug der CA-Sitzung v. 16.111.1928; ADW, CA 100 III. Prot, der Mitgliederversammlung des Centraiverbands v.29.111.1928; ADWDü, BO, 10/1-1,1-11. Wegen punktueller Bedenken der preuß. Staatsregierung, die aber schließlich ausgeräumt werden konnten, mußte ein Jahr später, am 23.IV. 1929, noch einmal über die Annahme der Satzung abgestimmt werden, was ebenfalls ohne Gegenvotum erfolgte; Prot, der Mitgliederversammlung des Central Verbands; ADW, CA 945 A. Am 27.VI.1929 fertigte das preuß. Staatsministerium die Genehmigungsurkunde für die neuen Satzungen aus; ADW, CA 100 III.

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I. Verbandsprotestantismus, Innere Mission und Kirche

des Präsidenten im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland beseitigte diesen Dualismus und trug damit einer Entwicklung Rechnung, die im Zeichen der zunehmenden Professionalisierung des Sachbereichs Wohlfahrtspflege nur noch beratende, nicht mehr leitende Funktionen für ,Laien' bereithielt.

II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege Die Einbindung der karitativen konfessionellen Verbände und anderer auf diesem Felde tätiger gemeinnütziger Gruppierungen in eine Reichsspitzenorganisation der freien Wohlfahrtspflege zwischen 1918 und 1942 ist Thema des folgenden Kapitels. Seit Beginn des Weltkrieges hatten allgemeine Fürsorgemaßnahmen für die Zivilbevölkerung im Spektrum der deutschen Innen- und Sozialpolitik einen wachsenden Stellenwert erhalten, der in der Republik mit ihrer wohlfahrtsstaatlichen Orientierung noch zunahm und die freien Verbände zu enger Kooperation zwang. Gefährdungen des neuen Sozialrechts sollten auf diese Weise abgewehrt und die von ihm eröffneten Möglichkeiten den eigenen Interessen dienstbar gemacht werden. Das konnte nur mit überzeugenden Konzepten gelingen, zu deren Ausarbeitung sich schon im Kriege solche Vereinigungen zusammenfanden, die sich praktisch und/oder theoretisch mit den Problemen einer erneuerten Wohlfahrtspflege beschäftigten. Die bedeutendsten unter ihnen waren Innere Mission und Caritas sowie als theoretisches Forum der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit. Ihre Arbeit unter den Bedingungen von Republik und Diktatur wurde maßgeblich von jener gemeinsam ins Leben gerufenen Dachorganisation beeinflußt und mitgestaltet, die sich 1921 als ,Reichsgemeinschaft von Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege' und 1925 als .Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege' konstituierte. Wenn die staatliche Fürsorgepolitik ihre Zielvorstellungen auf dem Gesetz- und Verordnungswege realisieren wollte, richtete sich ihre Aufmerksamkeit stets als erstes auf Reichsgemeinschaft und Liga. Diese bildeten gewissermaßen die Lobby der freien Wohlfahrtspflege, die in ständigem intensiven Kontakt mit den zuständigen Ministerien und Behörden ihr Anliegen zur Geltung zu bringen wußte. Der vor uns liegende Abschnitt dieser Studie unternimmt den Versuch eines Perspektivenwechsels: Hier kommen weniger die Intentionen und Zwänge in den Blick, denen das Handeln der Inneren Mission im Binnenbereich der eigenen Organisation und mit Bezug auf die Kirchen ausgesetzt war, als vielmehr die gesellschaftliche Außenwirkung des Centraiausschusses sowie seine Tätigkeit auf einem bedeutsamen Felde deutscher Innen- und Sozialpolitik nach 1918. Daher wird in diesem Kapitel die Innere Mission in ihrer Gesamtheit eher in den Hintergrund treten und nur gelegentlich durch ihre Sprecher in den sich seit 1921 herausbildenden neuen Organisationsformen der Spitzenverbände der

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

freien Wohlfahrtspflege kenntlich. Dabei zeigt sich andererseits - soviel sei schon vorweggenommen - auch die charakteristische Schwäche der Organisationsstruktur des Centraiausschusses, dem es viel mehr Mühe bereitete als dem zentralistisch ausgerichteten Deutschen Caritasverband, die Provinzial- und Landesverbände hinter sich zu bringen und stets mit einer Stimme zu sprechen. Sein unbestrittener Rang, was Volumen und personelle Besetzung der Arbeitsbereiche anging, sicherte ihm gleichwohl gebührende Aufmerksamkeit und Kompromißbereitschaft der übrigen Teilnehmer jener Runde der kooperierenden sechs Hauptverbände. Vorab sind einige der Termini zu klären, die im folgenden immer wieder begegnen. Prinzipiell soll der zeitgenössische Sprachgebrauch erhalten bleiben, der hinreichend präzise erscheint und in den Jahren bis 1933/1945 allgemein Anerkennung fand. Mit einem auch substantiellen Wechsel des Bedeutungsgehaltes verbunden, auf den noch einzugehen sein wird, spricht man seit der Jahrhundertwende zunehmend von Fürsorge statt Armenpflege, bis sich der erstgenannte Begriff dann sprachlich in der Gesetzgebung der Weimarer Republik endgültig durchsetzte. Ähnlich ist es mit der Bezeichnung Wohlfahrtspflege, auf deren frühen Gebrauch im Sinne systematisch orientierter vorbeugender Sozialarbeit in Antithese zu punktueller .Wohltätigkeit' Heinz Wolfram hingewiesen hat. Später schwankt der Wortsinn zwischen präventiver Fürsorge außerhalb der eigentlichen Armenpflege bis zu deren Einschluß unter teilweiser Einbeziehung auch der SozvApolitik. Der Ausdruck ,freie Wohlfahrtspflege' wird ebenfalls erst nach 1918 allgemein gebräuchlich und verdrängt ziemlich abrupt den der ,freien' und ,privaten Wohltätigkeit', wohingegen ,christliche' und ,freie Liebestätigkeit' begrifflich erhalten bleiben. 1 In Anlehnung an Ludwig Preller soll der Bereich Fürsorge/Wohlfahrtspflege nicht mit staatlicher Sozialpolitik gleichgesetzt werden, weil man bis 1945 darunter wesentlich gesetzliche Initiativen zur Lösung der sozialen Frage oder - nach Heinrich Herkner - der Arbeiterfrage verstand. Im Vergleich dazu wird Sozialpolitik heute grundsätzlich weiter gefaßt als Daseinsvorsorge in umfassendem Sinne, in die sowohl die ,alte' Sozialpolitik wie auch Fürsorge bzw. öffentliche und freie Wohlfahrtspflege eingegangen sind. 2

1

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Zur Klärung der Termini vgl. Heinz Wolfram, Vom Armenwesen zum heutigen Fürsorgewesen, 88-99, und Carl Ludwig Krug v. Nidda, „Entwicklungstendenzen und gegenseitige Beziehungen der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Deutschland", 135. Johannes Steinweg definiert 1924: „In der Praxis handelt es sich bei der [freien und öffentlichen] Wohlfahrtspflege um den Kampf mit Notständen körperlicher und seelischer, wirtschaftlicher und sittlicher Art. Aus dem Bestreben, diese Notstände zu beseitigen oder zu verhüten, erwachsen bestimmte Hilfsmaßnahmen und Hilfseinrichtungen. Die Summe dieser Maßnahmen und Einrichtungen nennen wir Wohlfahrtspflege." Cf. ders., Die Innere Mission der evangelischen Kirche, 164. Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, 21978, hg. v. Florian Tennstedt, XVII f., 563 f. Eine frühe Quelle, die in der Wohlfahrtspflege bereits einen Bestandteil der

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege Der Ausbruch des Weltkrieges brachte der freien und öffentlichen Armenpflege eine Fülle zusätzlicher Aufgaben, die erstere ohne Erschließung neuer Geldquellen und ohne Gewinnung neuen Personals, um die durch die Rekrutierung bewährter Mitarbeiter und Helfer entstandenen Lücken zu schließen, nicht zu bewältigen vermochte. Die aus dem Boden schießenden vielfältigen privaten Initiativen zur Betreuung und Versorgung der Zivilbevölkerung und besonders der Angehörigen von gefallenen und verwundeten Soldaten waren Legion.3 Auf Dauer trat jedoch die gesetzlich fixierte offizielle Kriegswohlfahrtspflege in den Vordergrund, da die hier vorherrschenden Elemente straffer Zentralisation und nicht zuletzt der vorhandene größere finanzielle Spielraum Möglichkeiten boten bzw. weiter bestehen ließen, die den freien Verbänden versperrt blieben. Zu fragen ist an dieser Stelle nicht vorrangig nach den Inhalten der neuen Arbeitsfelder, sondern nach den Konsequenzen für die freie Wohlfahrtspflege; denn unter den Ausnahmebedingungen des Krieges wurden die Grundlagen für eine konzeptionelle Neuorientierung der Armen- bzw. Wohlfahrtspflege in Deutschland gelegt, die auch Rolle und Selbstverständnis der bisherigen freien Liebestätigkeit in die Veränderung miteinbezogen, aber erst in der Republik voll zum Tragen kamen. Das Reich, das in der Verfassung von 1871 so gut wie keine gesetzgeberischen Kompetenzen für den Bereich der Wohlfahrtspolitik erhalten hatte, griff dennoch 1915 und 1917 mit zwei Bundesratsverordnungen in die Organisation der Kriegswohlfahrtspflege ein.4 Dabei ging es um die Abwendung von Mißbrauch und Fehlentwicklungen im Sammlungswesen, das im Namen der unterschiedlichsten Aufgaben und angeregt durch die sich verschärfende soziale Lage einen nahezu abenteuerlichen Aufschwung erlebte. So sah sich Preußen genötigt, eigens einen Staatskommissar für die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege' zu bestellen, zu dessen Aufgaben auch die Genehmigung oder Versagung von Sammlungen, Lotterien und verwandten Bestrebungen zum Zwecke der Mittelbeschaffung für kriegsbedingte Notsituationen gehörte. Dilettantismus, in vielen Fällen auch berechnender Geschäftssinn mit kriminellem Einschlag waren bei zunehmender Dauer des Krieges auf dem besten Wege, den Ruf der gesamten

3

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ScmaXpolitik sieht, ist das vom Hauptausschuß für Arbeiterwohlfahrt herausgegebene Lehrbuch der Wohlfahrtspflege von 1930. - Zum Terminus .Fürsorge' in Abgrenzung von Versicherung' und,Versorgung' s. jetzt die Arbeit Christoph Sachßes über die Geschichte der Sozialarbeit: Mütterlichkeit als Beruf, 31 f. und 314, Anm. 17. Auf dem 35. deutschen Armenpflegetag 1917 nannte Siddy Wronsky die Zahl von 600 Kriegsgründungen der freien Wohlfahrtspflege; vgl. Stenographischer Bericht, 164f. Verordnungen V.22.VII.1915 und 15.11.1917, RGBl. 1915,449f.und RGBl. 1917,143-147.

98

II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

freien W o h l f a h r t s p f l e g e z u ruinieren; 5 z u d e m fehlte der gesetzliche R a h m e n für ein a b g e s t i m m t e s Vorgehen, so d a ß selbst zahlreiche an sich g u t m e i n e n d e Initiativen m a n g e l s konkreter wohlfahrtspflegerischer K e n n t n i s s e u n d überregionaler K o o r d i n a t i o n im S a n d e verliefen, o b s c h o n z u m Teil beträchtliche G e l d e r z u s a m m e n g e k o m m e n waren. 6 B e i d e Verordnungen, b e s o n d e r s aber der w e s e n t l i c h eindeutiger g e f a ß t e z w e i t e Erlaß d e s Bundesrates, lösten i m Lager der freien W o h l f a h r t s p f l e g e Beunruhig u n g u n d d i e Sorge aus, nach K r i e g s e n d e w e r d e d i e s e R e g l e m e n t i e r u n g b e i b e halten u n d der erste Schritt zu einer u m f a s s e n d e n U n t e r w e r f u n g der freien Verb ä n d e unter die Staatsaufsicht sein. B e m e r k e n s w e r t ist d i e Tatsache, d a ß nicht j e n e n e u e n Vereine, d i e erst im Kriege e n t s t a n d e n waren, ö f f e n t l i c h e Kritik a n d e n B u n d e s r a t s m a ß n a h m e n übten, s o n d e r n nur die Altorganisationen, die s c h o n vor 1 9 1 4 existierten u n d deshalb n a c h d e m Verordnungstext v o n 1917 ausdrücklich v o n d e n b e s o n d e r s e i n s c h n e i d e n d e n B e s t i m m u n g e n a u s g e n o m m e n waren. 7

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Vgl. die besorgte „Erklärung zur Organisation der Wohlfahrtspflege" der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, in: Concordia 23.1916, 5 7 f . - Schon vor der Jahrhundertwende hatten innerhalb des Deutschen Vereins Kritiker einzelne Formen der Geldbeschaffung angegriffen : „Ernsteste Bedenken erwachsen aus dem Umfange der seit einiger Zeit so sehr M o d e gewordenen Veranstaltungen zu Wohltätigkeitszwecken; was wird nicht alles zum Besten der Armen, zugunsten dieses oder jenes wohltätigen Zweckes inszeniert und veranstaltet! Hier dekoltiert [!] man sich zum Besten der Ferienkolonien, dort tanzt man zugunsten einer Rettungsanstalt für gefallene Mädchen, heute ist man so selbstlos, zum Besten der Überschwemmten einen Skatabend abzuhalten, und morgen kostümiert sich die Damenwelt, um in dem Basar für die Gründung eines Mädchenheims ihre Rolle als Verkäuferin zu spielen. Wer könnte sie aufzählen, die Lieder-, Kneip-, Theater-, Lese-, Tanz- usw. Abende, auf welchen man sich um der Armen und Elenden willen opfert und dabei doch ein klein wenig a m ü s i e r t . . . " ; vgl. Ludwig Fuld, Die Grenzen der Wohltätigkeit, 281 ff. Den Hinweis auf dieses Zitataus dem Jahre 1888 (!) verdankeich Christoph Sachße, a.a.O., 83. - Zur Kritik Wicherns an derartigen Wohltätigkeitsfesten, die er in der Tradition eines religionsfremden aufklärerischen Gefühlshumanismus sah, vgl. Martin Gerhardt, Zur Vorgeschichte der Reichskirche, 16 f. - Noch 1925 machte der Direktor der Hamburger Stadtmission, P. Dr. Helmuth Schreiner, die Wohltätigkeitsfeste für den drohenden Zerfall der freien Liebestätigkeit verantwortlich; vgl. seine Broschüre: Der Ruin der freien Wohlfahrtspflege durch ihre Freunde.

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Häufig standen die Kosten für Personal und Propaganda dieser oft auch in betrügerischer Absicht gegründeten Organisationen in keinem Verhältnis zu den Überschüssen, die dann der eigentlichen Kriegswohlfahrtspflege zuflössen. Drastische Beispiele dafür lieferte der stv. preuß. Staatskommissar für die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege, Geh. Regierungsrat Dr. Prokrantz, ebenfalls auf dem 35. Armenpflegetag; a.a.O., 123 ff. Dazu gehörten die §§ 4 - 6 , die den Behörden die Überprüfung der Kassenbücher bei dem Verdacht mißbräuchlicher Handhabung des Sammlungswesens ermöglichten sowie im äußersten Fall die Einsetzung eines staatlichen Verwalters vorsahen, der an die Stelle des jeweiligen Vorstandes treten sollte. Etablierte Organisationen wie Innere Mission und Caritas hatten solches nicht zu befürchten; auch sie mußten sich jedoch damit abfinden, bei Sammlungen und anderen öffentlichen Initiativen zur Förderung der Kriegswohlfahrtspflege zunächst die Erlaubnis der zuständigen Landeszentralbehörden einzuholen.

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11.1. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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Weniger die konkreten Formulierungen der Verordnung als der Verdacht, dahinter stehe die - gefürchtete - Tendenz einer allgemeinen Einschränkung der freien Liebestätigkeit zugunsten dirigistischer Optionen seitens der Länder und Kommunen, veranlaßte den Deutschen Caritasverband im Herbst 1917 dazu, eine Schrift herauszubringen, die, soweit im Rahmen der kriegsbedingten innenpolitischen Restriktionen möglich, ungewöhnlich kritisch mit der durch die Bundesratsverordnungen vermeintlich oder tatsächlich zum Ausdruck gekommenen neuen öffentlichen Wohlfahrtsgesinnung ins Gericht ging.8 - Aber auch im Lager der freien Verbände selbst waren seit Kriegsbeginn Stimmen laut geworden, die gravierende Mängel der freien Armen- und Wohlfahrtspflege beklagten und die Schaffung von halbstaatlichen Instanzen und überregionalen Zusammenschlüssen forderten, um eine Reform der gesamten Wohlfahrtspflege voranzutreiben. Das Forum, auf dem diese divergierenden und noch keineswegs ausgereiften Entwürfe diskutiert wurden, bildete in erster Linie der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit, ab 1919 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, der auf seinen eigenen Jahrestagungen sowie auf denen seiner Fachausschüsse die willkommene Gelegenheit zur Auseinandersetzung bot. 9 In Kenntnis der Entwicklung nach 1918 könnte man vermuten, daß die sozialdemokratische Kritik an der Praxis der staatlichen, aber gerade auch der freien Armenpflege mit ihren durch das Verschuldensprinzip bedingten entwürdigenden Auflagen für den erfaßten Personenkreis den Hauptanstoß zu einem Nachdenken über neue Möglichkeiten und Erfordernisse der Wohlfahrtspflege gegeben hätte. Das war jedoch nicht der Fall. Wie Anneliese Monat in ihrer Studie zur Geschichte der Arbeiterwohlfahrt zeigen konnte, beschäftigten sich vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige Sozialdemokraten mit diesem Thema. In der Partei behielt die Überzeugung lange fast kanonische Gültigkeit, daß Armenpflege und Wohltätigkeit mit der erwarteten Sozialrevolutionären Umwälzung gleichsam von allein an Bedeutung verlieren würden. Hinzu trat, daß die Klientel der Partei zwar arm, aber in der Regel nicht notleidend im Sinne der Unterstützungsgesetze war.10 Erst nach der Jahrhundertwende wiesen sozialdemokratische Kom-

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Schließlich sollten auch sie nachweisen, daß Kosten und Nutzen ihrer Unternehmungen auf diesem Felde sich in einem angemessenen Rahmen bewegten; a. a. O. Vgl. die DCV-Denkschrift ,Soll die Staatsaufsicht über die freie Wohlfahrtspflege in die Friedenszeit hinübergenommen werden?'; im folgenden wird nach dem Durchschlag des masch.-schr. Originals zitiert; ADW, CA 744 II. Zur Geschichte des Deutschen Vereins vgl. die Beiträge von Carl Ludwig Krug von Nidda, von Eberhard Orthbandt und Florian Tennstedt. Allerdings erfaßte der noch vor 1914 geprägte Begriff der „sozialen Fürsorge" im Sinne einer Erweiterung herkömmlicher Armenpflege zur „Volkswohlfahrtspflege" schon vor dem Kriege „mehr oder minder nur Angehörige der Arbeiterklasse"; vgl. Polligkeit, „Die künftigen Ziele der sozialen Fürsorge", in: Künftige Ziele der sozialen Fürsorge, 12-22,13.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

munalpolitiker vereinzelt auf die fortdauernde Bedeutung wohlfahrtspflegerischer Maßnahmen hin und entwickelten eigene Reformvorstellungen; in der Öffentlichkeit lösten sie damit aber kaum Resonanz aus. 1 ' Behutsame Kritik an der Zersplitterung des privaten Wohlfahrtswesens - verbunden mit der Empfehlung einer engeren Anbindung an staatliche und kommunale Wohlfahrtspflege - ging bis Kriegsende eher von jenen bewährten Praktikern aus, die entweder langjährige Erfahrungen in der kommunalen Fürsorge besaßen oder an leitender Stelle reichsweit bestimmte Zweige der freien Wohlfahrtspflege vertraten. Sie kamen meist nicht aus dem Lager der konfessionell geprägten Liebestätigkeit, sondern wußten sich einem aus Aufklärung und Liberalismus stammenden humanitären Gedankengut verpflichtet. In politischer Hinsicht standen sie dem Freisinn und später in der Weimarer Republik der Deutschen Demokratischen Partei nahe, unterhielten aber auch gute Verbindungen zu Teilen der Sozialdemokratie. Sehr viele dieser Persönlichkeiten, unter ihnen zahlreiche Frauen, die vielfach an exponierter Stelle in der bürgerlichen Frauenbewegung mitarbeiteten, waren Juden, was angesichts des latenten Antisemitismus der christlich-sozial orientierten protestantischen Wohlfahrtspflege, aber wohl auch in katholischen Caritaskreisen Einfluß und Durchsetzungskraft ihrer reformerischen Ideen Abbruch tat. In der Republik formierten sich dann dies sei im Vorgriff vermerkt - antisemitische, antiliberale und antisozialistische Ressentiments zu einem diffusen Abwehrkartell, das zunächst nur die Ausgrenzung der 1919 entstehenden Arbeiterwohlfahrt betrieb, 1933 aber zu dem ohne Widerspruch, ja kommentarlos hingenommenen ,freiwilligen' Ausscheiden der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZdJ) aus der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege beitrug.12 11

Zur Entwicklung der Arbeiterwohlfahrt vgl. Anneliese Monat, Sozialdemokratie und Wohlfahrtspflege. Eine informative Zusammenstellung sozialdemokratischer Gravamina gegenüber der freien Wohlfahrtspflege wird dort auf S.34f.geboten: Danach nahm man vor allem Anstoß am Verschuldensprinzip, das den,Objekten' der Armenpflege das Wahlrecht versagte und mit der Attitüde ,von oben herab zu gewährender Wohltaten' Hilfe leistete, anstatt diese Hilfe zum sozialen Recht' der Betroffenen zu erklären. Die deutlich antisozialdemokratische Haltung der großen konfessionellen Verbände Innere Mission und Caritas sowie die häufige Beschränkung der Hilfe auf die eigenen Glaubensgenossen bildeten neben der so gesehenen Planlosigkeit' der Einzelhilfsmaßnahmen den Hauptpunkt der Kritik. Die freie Wohlfahrtspflege kuriere lediglich an Symptomen, gehe aber dem Hauptübel, der wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeit, nicht auf den Grund. Zu eigenen Reformvorstellungen der Partei vgl. etwa Edmund Fischers, „Die Armenfürsorge nach dem Krieg", der im wesentlichen die Vorschläge Kurt Blaums auf der Kriegstagung des Deutschen Vereins 1916 weithin zustimmend kommentiert. Dazu weiter unten. Hingewiesen sei auf die kurz vor dem Abschluß stehende, von Karin Hausen betreute Berliner Dissertation von Christiane Eifert über die .Geschichte der Arbeiterwohlfahrt (1919-1960)', die neue Forschungsergebnisse erwarten läßt.

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Auf den hohen Anteil von Persönlichkeiten jüdischen Glaubens an Entwürfen zur Reform der Fürsorge auf interkonfessioneller Ebene wies der Nürnberger Wohlfahrtsdezernent

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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II.1.1. Erste Reformvorschläge und ihre Abwehr Im September 1916 veranstaltete der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit seine 34. Jahresversammlung in Leipzig unter dem Leitthema ,Die Armenpflege nach dem Kriege'. Das in unserem Zusammenhang wichtigste Hauptreferat hielt der Straßburger Verwaltungsdirektor Dr. Kurt Blaum. 13 Da die allgemeine Armenpflege - so seine These - infolge der Kriegsereignisse und ihrer für viele notvollen Begleitumstände in der Kriegswohlfahrtspflege aufgegangen sei, dürfe man auch in der kommenden Friedenszeit beide nicht mehr voneinander trennen, es sei denn um den Preis einer Benachteiligung derjenigen, deren individuelle Subsistenzgefährdung ihre Ursache eben im Kriege, nicht aber in eigenem Verschulden habe. Der Übergang in die Nachkriegszeit erfordere angesichts der zahlreichen zu versorgenden Invaliden, Witwen und Waisen sowie der kriegsbedingten Teuerung noch auf Jahre hinaus die ordnende Hand des Staates, welcher nach einem Zusammenschluß aller an der Wohlfahrtspflege beteiligten Institutionen - etwa in der Form eines zu gründenden Reichssozialrates - diesen konsultieren müsse. Ihm zur Seite solle ein Reichskommissar für Übergangsfürsorge treten, der alle staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang zu koordinieren habe. Eine davon gesonderte Armenfürsorge im traditionellen Sinne dürfe der einmal eingeschlagenen neuen Richtung wegen von der Übergangsfürsorge nicht scharf abgegrenzt werden. Freilich bleibe damit das Verschuldensprinzip weitgehend auf der Strecke; es habe durch die Kriegsereignisse seine frühere Bedeutung eingebüßt. Immerhin könne sich ein ebenfalls neu zu konstituierender Reichsarmenrat desjenigen Personenkreises gutachterlich annehmen, den „ethische Mängel wie UnWirtschaftlichkeit, Liederlichkeit, Trunksucht, Arbeitsscheu usw." in seine derzeitige Lage gebracht hätten. Ihm dürfe nach wie vor nur ein „Notbedarf" gewährt werden, um jedem Mißbrauch vorzubeugen. Ehrenamtliche Einzelfürsorge sei derzeit zugunsten einer Profes-

und spätere Oberbürgermeister von Mannheim, Hermann Heimerich, anläßlich der Reichstagung der Arbeiterwohlfahrt im September 1924 in Hannover hin; vgl. ders., „Die Zusammenarbeit der öffentlichen Fürsorge mit der privaten Fürsorge und den Trägern der Sozialversicherung", in: Allgemeine Fürsorge, 73- 84,75. - Prominente Frauen unter ihnen waren Alice Salomon, Siddy Wronsky und Margarete Jacobsohn, die mit ihren Schriften (s. Literaturverzeichnis) ganz wesentlich den Gang der Diskussion mitbestimmten. - Es steht zu dem Gesagten nicht in Widerspruch, wenn die beiden konfessionellen Großverbände mit der ZdJ in der Weimarer Republik eng zusammenarbeiteten; hier wurden klar definierte Gruppeninteressen gegenüber den vielfältigen Kommunalisierungsbestrebungen vertreten, die weitergehende Vorstellungen der jüdischen Wohlfahrtspflege nicht tangierten. 13

S. das gleichnamige Protokoll und Carl Ludwig Krug v. Nidda, „Entwicklungstendenzen und gegenseitige Beziehungen", 2 2 7 f . - Unter dem Titel ,Die Übergangsfürsorge vom Krieg zum Frieden' veröffentlichte Blaum auch eine ausführlichere Fassung; wir zitieren im folgenden nach dem Protokoll der Tagung, a.a.O., 64-80.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

sionalisierung der Armenpflege in den meisten deutschen Städten in den Hintergrund getreten, könne aber auf ,sittlich-erzieherischer' Ebene weiterhin Entscheidendes leisten.14 - In der anschließenden Diskussion wies das Mitglied des Zentralausschusses des Deutschen Vereins, Wilhelm Polligkeit, auf den ungeheuren Finanzbedarf der Wohlfahrtspflege nach dem Kriege hin. Ganz sicher werde die freie Liebestätigkeit mit herkömmlichen Mitteln nicht in der Lage sein, die dadurch hervorgerufenen Probleme zu lösen. Nur eine schlagkräftige Zusammenfassung aller privaten Fürsorgeanstrengungen könne die Krise in enger Kooperation mit der öffentlichen Wohlfahrtspflege auf Dauer meistern. 15 - Ähnlich argumentierte Siddy Wronsky von der Berliner Zentrale für private Fürsorge in einem Beitrag der .Zeitschrift für das Armenwesen'. 16 Die Ausübung privater Wohlfahrtspflege sei selbstverständliches Recht jeden Bürgers, verpflichte diesen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung aber zu sorgsamer, den Nutzen der Allgemeinheit stets berücksichtigender Wirksamkeit. Weil freie Liebestätigkeit und ihre Effizienz nicht von Zufällen abhängen dürfe, sei „die Forderung einer planmäßigen Regelung der Wohlfahrtspflege unerläßlich". Während der Gesetzgeber der öffentlichen Fürsorge klare Richtlinien gebe, müßten solche innerhalb der freien Arbeit selbst geschaffen werden: „Ihre empfindlichere Oberfläche hilft ihr, die Forderungen der Zeit frühzeitig zu bemerken und Vorarbeit für das Gesamtwesen zu leisten."17 Die vorgestellten, heute kaum mehr brisant erscheinenden Positionen lösten bei ihren Gegnern innerhalb der freien Verbände starken Widerspruch aus, mit dem sie verklausuliert bis heftig den Befürwortern einer eng umrissenen staatlichen Aufsichtskompetenz kompromißlos entgegentraten. Gelegentlich geschah das auch in konzilianter Form; so in einer Schrift des Leiters der Hamburgischen Gesellschaft für Wohltätigkeit, Friedrich Zahn, über das Problem staatlicher Aufsicht im Bezugsrahmen der privaten Fürsorge. 18 Nach Hinweisen auf die Nützlichkeit der bestehenden Vorschriften zur Regelung des Sammlungswesens in der genannten Bundesratsverordnung von 1915 lehnte Zahn weitergehende Bestrebungen, wie sie im Vorfeld der ergänzenden zweiten Verordnung von 1917 im Reichstag erörtert wurden, 19 als unnötig ab. Zusammen mit dem Vereinsrecht, dem sich allerdings jeder Verband unterwerfen sollte, reichten die bestehenden Vorschriften völlig hin. Eine weiterzielende Staatsaufsicht, die alle Neu14 15 16 17 18

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Ebd., 73 ff. Ebd., 108 ff. 17.1916,303-312, Art. „Zur Neuordnung der freien Wohlfahrtspflege". Ebd., 304 f. Staatliche Aufsicht über die freiwillige Wohlfahrtspflege? Kritische Betrachtungen. - Der Vf. war außerdem Hauptgeschäftsführer der Hamburgischen Kriegshilfe. Vgl. den Bericht des 17. Reichstagsausschusses und den daraus folgenden Antrag an den Reichskanzler v. 4.XI.1916 zur Ergänzung der Bundesratsverordnung V.23.VII. 1915; Sten. Ber. RT, 13. WP, II. Sess. 1914/16, Bd.308,2146 und Bd.319,852-855.974f.

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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gründungen auf Bedarf und personelle Handlungskompetenz überprüfen wolle, schwäche die private Liebestätigkeit, enge ihr innovatives Potential ein und schädige damit die Gesellschaft insgesamt.20 Von anderem Zugriff war die oben erwähnte Denkschrift des Deutschen Caritasverbandes, die Präsident Werthmann ein Jahr später auf dem 35. Deutschen Armenpflegetag 1917 in Berlin verteilen ließ. Beide Bundesratsverordnungen und die Befürworter einer verstärkten Staatsaufsicht, unter ihnen die auch anwesenden Siddy Wronsky und Dr. Albert Levy - letzterer sollte eines der mit Spannung erwarteten Hauptreferate halten - wurden darin unverblümt attackiert, wobei man der preußischen Gesetzgebung zumindest Rudimente einer kulturkämpferischen Gesinnung und den übrigen Verfechtern der Staatsaufsicht laizistisch-ideologische Motive unterstellte.21 Natürlich gebe es Mißstände und Fehlentwicklungen; diesen habe der Staat entgegenzutreten und dafür zu sorgen, daß der gute Name und die Arbeit der anerkanntermaßen erfolgreich arbeitenden Organisationen nicht von unseriösen Unternehmungen mißbraucht würden. Statt vermehrter Staatsaufsicht müsse die Selbsthilfe wieder in den Vordergrund gestellt werden. Die „Bevormundung" der freien Wohlfahrtspflege, wie sie die zweite Bundesratsverordnung intendiere, sei ein „zerstörender Widerspruch"; eine Übernahme der Thesen Siddy Wronskys komme „einer Entmündigung der freien Arbeit gleich". Wie denn August Hermann Francke und Friedrich von Bodelschwingh ihre großen Liebeswerke hätten aufbauen sollen, wenn sie vor der Gründung eine Bedarfsrechnung einreichen und - so könnte man in Kenntnis der Vorschläge Frau Wronskys hinzufügen - die Qualifikation ihres Personals den zuständigen preußischen Stellen gegenüber hätten nachweisen müssen?22 Angesichts der politischen Veränderungen 1918/19 und daraus resultierender neuer und wesentlich realistischerer Befürchtungen bezüglich einer Vereinnahmung der freien Fürsorge, jetzt unter sozialistischem Vorzeichen, muten die von der Caritas 1917 geäußerten Bedenken gegen Staatsaufsicht und Umorientie20

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Der Vf. spielt hier auf einen anderen Beitrags Siddy Wronskys „über die Regelung der privaten Wohlfahrtspflege" in der Zeitschrift für das Armenwesen 16.1915,182-188, an. „Gerade dieser enge Zusammenhang zwischen Wohlfahrtspflege und Weltanschauung, Religion, Konfession macht dies Gebiet zu einem der geeignetsten Kampfgebiete gegen eine unliebsame Richtung, so befremdend und schmerzlich dies auch klingen mag." Die katholische Wohlfahrtspflege habe in Preußen „bitterernste Erfahrungen" machen müssen, die sich in administrativen Beschränkungen bei der Neugründung katholischer Fürsorgeeinrichtungen ausdrückten; a.a.O. - Allerdings war dieser Verdacht so abwegig nicht, wie er erscheinen mochte ¡immerhin hatte die .Gesellschaft für ethische Kultur', eine bürgerlich-gemäßigte Freidenkerorganisation, mit ihrer 1893 auf Betreiben Jeanette Schwerins gegründeten,Auskunftsstelle' bei der Etablierung der Berliner,Zentrale für private Fürsorge' Pate gestanden; dazu jetzt Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, 69 f. Dieses polemische Argument übernahm die Denkschrift von Zahn, a. a. O., 15; es wurde in ähnlichen Diskussionen immer wieder angeführt.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

rung der freien Fürsorge überzogen an. Zwar war auch dieser Bereich durch Kriegseinwirkung in den Strudel der mächtigen Zentralisierungs- und Reglementierungstendenzen geraten, die das Reich mit Hilfe der Verfassung unversehens in eine Militärdiktatur umgewandelt hatten, aber den Führungseliten stand in ihrer konservativ-protestantischen Prägung sicher nicht der Sinn nach einer Unterdrückung bewährter Formen christlicher Liebestätigkeit; und ob der Kulturkampfvorwurf in Anbetracht der weitgehend vollzogenen politischen und kulturellen Integration des deutschen Katholizismus nicht eher wohlfeiles Propagandainstrument denn Bestandteil einer sachlich-argumentativen Auseinandersetzung war, wird gefragt werden müssen. Auch die Beschuldigung an die Adresse der genannten Befürworter eines höheren, staatlicherseits zu fordernden Organisationsgrades der freien Wohlfahrtspflege, sie seien von ideologischen, am Ende gar religionskritischen Interessen geleitet, muß gerade dann abgeschwächt werden, wenn wir Albert Levy und Siddy Wronsky zusammen mit dem Gründer und Präsidenten des Caritasverbandes, Prälat Werthmann, Centralausschuß-Direktor Füllkrug und vielen anderen konfessionellen Vertretern in der Unterschriftenliste zu jener Resolution wiederfinden, die der Fachausschuß des Deutschen Vereins für private Fürsorge 1919 gegen sozialistische Bestrebungen verabschiedete, die eine Verstaatlichung und Kommunalisierung der gesamten freien Wohlfahrtspflege zum Ziele hatten. 23 II.1.2. Der SS. Deutsche Armenpflegetag Jedenfalls waren die Fronten abgesteckt, als der 35. Deutsche Armenpflegetag im September 1917 in Berlin zusammentrat. Das Hauptreferat des zweiten Tages, an dem über die „Beaufsichtigung der freien Liebestätigkeit nach dem Kriege" verhandelt wurde, hielt der Vorsitzende der Berliner Zentrale für private Fürsorge, Dr. Albert Levy.24 Levy galt als Verfechter einer in die Friedenszeit mit hinüberzunehmenden Staatsaufsicht und war unter anderem durch eine Arbeit über die Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege hervorgetreten. 25 Korreferate hielten der stellvertretende preußische Staatskommissar für die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege, Geheimer Regierungsrat Dr. Prokrantz, und der schon zitierte Hamburger Fachmann für Fürsorgefragen, Dr. Zahn. - In relativ zurückhaltender und durchaus differenzierender Weise ging Levy sein Thema an, betonte immer aufs neue die Notwendigkeit einer eigenständigen freien Wohlfahrtspflege und verwahrte sich wiederholt gegen den im Publikum offenbar grassierenden Verdacht, er denke an eine Zerschlagung der privaten Verbände

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Auch abgedruckt in: Zeitschrift für das Annenwesen 21.1920, 23f.Zu diesem Komplex vgl. Abschnitt 1.1.3. Vgl. Stenographischer Bericht, a. a. O., 114 ff., und C. L. Krug v. Nidda, a. a. O., 311 ff. Die Beschaffung der Geldmittel für die Bestrebungen der freien Liebestätigkeit.

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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zugunsten einer Übernahme durch staatliche und kommunale Institutionen. Er fühle „sich voll und ganz als Vertreter der freien Liebestätigkeit", diese könne aber nur einen neuen Aufschwung erleben und ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen erfüllen, wenn die Entwicklung in neue Bahnen gelenkt werde. Dazu komme der „Mangel an Organisation, an Zusammenfassung, an Verständigung und steter Fühlungnahme" wie auch das Fehlen eines „Standesbewußtseins und eines Gemeinschaftsgefühls" 26 - eines .Korpsgeistes' der freien Wohlfahrtspflege, würde man heute sagen. Wenn der Staat der privaten Fürsorge bisher kaum Auflagen gemacht habe, so zeige dies auch ein Desinteresse und eine Unterschätzung ihrer Leistungen. Räume man öffentlichen Organen jedoch bestimmte Aufsichtsrechte ein, so könne man ohne Beeinträchtigung der Arbeit zu ihrer Wirksamkeit entscheidend beitragen. Zweierlei werde eine öffentliche Instanz erreichen: eine unparteiische, fachkundige Prüfung aller neu geplanten Projekte und schließlich mit staatlicher Autorität eine Zentralisierung der freien Wohlfahrtspflege auch dort, wo sich einzelne Verbände solchen Notwendigkeiten verweigerten. Dabei solle der Zusammenschluß allein Sache der privaten Organisationen sein, so daß eine Beschneidung der praktischen Tätigkeit von Seiten staatlicher Stellen nicht zu befürchten sei. Freilich müsse in diesen lokalen und regionalen Wohlfahrtsspitzengremien die öffentliche Fürsorge eine angemessene Vertretung haben, um die Koordination der Aufgaben zu sichern. Für den Fall, daß man sich dort über den Vorsitz nicht einige, werde am besten ein neutrales Mitglied der öffentlichen Fürsorge dazu bestellt. Es sei seine feste Überzeugung, schloß Levy, „daß die Weiterentwicklung der Stellung der freien Liebestätigkeit in Deutschland in der Richtung der Wünsche und Ziele zu suchen sein wird, die ich vor Ihnen zu entwickeln mir erlaubt habe". 27 Mit diesen Ausführungen erntete Levy bei seinen Zuhörern sogleich heftigen Widerspruch, der sich übrigens allein gegen ihn richtete, während Prokrantz, der die Bundesratsverordnungen vehement verteidigt hatte und ebenfalls für engere Zusammenschlüsse der freien Wohlfahrtspflege plädierte, wohl aus Gründen politischer Opportunität weitgehend von Kritik verschont blieb.28 So wies Lorenz Werthmann namens seiner Organisation alle Vorstellungen Levys ohne Einschränkung zurück und würdigte die Verdienste der (katholischen) Liebestätigkeit, die auch ohne Zwang und Staatsaufsicht „herrliche Blüten vollendeter Caritasübung hervorgebracht" habe. Gegen stärkere Zentralisation und Zusam-

26 27 28

Ebd., 116.124. Ebd., 131. Zahn, dessen Korreferat hier unberücksichtigt bleiben kann, weil er seine bekannten Thesen wiederholte, wurde von der Zeitschrift,Innere Mission' später als derjenige Redner gewürdigt, der im Sinne der freien Wohlfahrtspflege die Vorschläge Levys zutreffend korrigiert habe; IM 12.1917, 207.303. Die .Concordia', Organ der Zentralstelle für Volkswohlfahrt, ergriff dagegen vorsichtig für Levy Partei, vgl. den Art. „Deutscher Armenpflegetag", 24.1917,244-247.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

menarbeit der freien Verbände, wie sie in der Zentralstelle für Volkswohlfahrt bereits bestehe, wolle er nichts einwenden, wohl aber gegen die Staatsaufsicht und den schon jetzt unerträglichen .Papierkrieg', der für die Verwirklichung selbst der unbedeutendsten Initiativen inzwischen notwendig geworden sei.29 Auch der zweite theologische Berufsarbeiter des Centraiausschusses, Pastor Reinhard Mettin, erklärte namens der Inneren Mission, man sehe „in der für die Friedenszeit geplanten Beaufsichtigung der freien Liebestätigkeit eine schwere Gefahr für die Selbständigkeit, Innerlichkeit und den Erfolg" der Arbeit; die bis Anfang August 1914 gültigen gesetzlichen Bestimmungen seien völlig ausreichend. 30 Emotional und teilweise polemisch bestimmte Beiträge lieferten neben anderen der damalige Frankfurter Bürgermeister Hermann Luppe und Agnes Neuhaus, die Gründerin und Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder in Dortmund. 31 Während Luppe mit dem Verdacht operierte, Levy wolle letztlich auf die Stärkung der staatlichen und kommunalen Wohlfahrtspflege hinaus, um diese von der lästigen Konkurrenz der freien Liebestätigkeit zu ,befreien', nahm Frau Neuhaus den Punkt der Qualifikation des Personals aufs Korn; jeder, auch und gerade derjenige, welcher Notstände erkenne und helfen wolle, habe das Recht, Fehler zu machen: „Wer kann Genialität von der Unfähigkeit im Anfang unterscheiden? Das Geniale sieht im Anfang oft auch sehr töricht aus. Das wollen wir nicht unterdrücken. Torheit ist unter Umständen auch etwas sehr Schönes." 32 Gegen eine solche Argumentation kamen andere, vielleicht besonnenere, jedenfalls aber nicht mehr in solchen Denkkategorien befangene Diskussionsredner wie der bekannte Frankfurter Wohlfahrtstheoretiker Prof. Christian Jasper Klumker und Siddy Wronsky nicht an. Ihre Einwände, in zwanzig Jahren und mehr gewachsene große und erfolgreiche Organisationen der privaten Fürsorge (Caritas bzw. Innere Mission) könnten in veränderten Zeiten nicht länger die

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So müsse jede Ordensschwester, die eine Fabrikküche für Arbeiterinnen eröffnen oder in einer Spielschule kleine Kinder beaufsichtigen wolle, zuvor die Genehmigung zweier Ministerien einholen; daß man deswegen gegen jede vermehrte Staatsaufsicht sei und „wir im Gegenteil das Verlangen haben und auch die Hoffnung, es möge doch der Krieg uns die Befreiung von diesen lästigen Fesseln bringen", sei doch einsichtig; Stenographischer Bericht, a.a.O., 162. Ebd., 163 f. Am Historischen Seminar der Westf. Wilhelms-Universität arbeitet Andreas Wollasch an einer Dissertation über diesen Verband, aus dem später der ,Sozialdienst katholischer Frauen' wurde. Ebd., 180. Pastor Constantin Frick, seit kurzem Vorsteher des Evangelischen Diakonissenmutterhauses in Bremen und auf der Konferenz als Vertreter des Roten Kreuzes anwesend, pflichtete ihr ausdrücklich bei; sein Fazit: „Wir wollen nicht reglementieren, sondern wir wollen regulieren, aber wir wollen uns selber regulieren und aus den Gesetzen heraus, die in der freien, wie in der christlichen Liebestätigkeit oder in der religiösen Liebestätigkeit enthalten sind." Ebd., 182.

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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.Unschuld' der Anfangsjahre für sich in Anspruch nehmen, sondern müßten ihre Erneuerungs- und Anpassungsbereitschaft unter Beweis stellen, setzten sich nicht durch. Man wird nicht umhin können, einen Mangel an gesellschaftspolitischer Vorausschau bei den meisten Teilnehmern der Tagung zu konstatieren. Wenn selbst die preußische Staatsregierung, deren geringe Reformneigung außer Frage steht, über den Tag hinaus dachte und für die Nachkriegszeit eine grundlegende Revision der Wohlfahrtspolitik anvisierte,33 so mußte das für die freien Verbände, die sich viel auf ihre innovativen Fähigkeiten zugute hielten, erst recht gelten. Freilich mochte die Ausnahmesituation des Weltkrieges den Blick für die Notwendigkeiten der Professionalisierung, der Zentralisierung und der staatlicherseits geforderten Zusammenarbeit mit den Vertretern der öffentlichen Wohlfahrtspflege in Ländern und Kommunen trüben. Als der Krieg verloren war und die Revolution eine ganz andere, von vielen nicht für möglich gehaltene politische Konstellation schuf, verblaßten die beschriebenen Probleme angesichts der wesentlich größeren Herausforderung durch sozialistische Grundgedanken zu Aufgabe und Funktion von (freier) Wohlfahrtspflege. Die 1917 noch strittigen Reformvorschläge wurden nun bereitwillig akzeptiert und in die Tat umgesetzt. Diese Modernisierung wirkte über den Zeitabschnitt der Republik hinaus und trug mit dazu bei, wenigstens den konfessionellen Verbänden auch unter der Herrschaft des Nationalsozialismus eine relative Eigenständigkeit zu sichern. II.1.3. Revolution und freie

Wohlfahrtspflege

Waffenstillstand, Revolution und staatliche Neuordnung wurden von der freien Wohlfahrtspflege aus unterschiedlichen Motiven als Katastrophe empfunden. Nicht allein die traditionell konservativ eingestellten konfessionellen Träger sahen all ihre Befürchtungen und Ressentiments gegenüber der Sozialdemokratie und den mit ihr identifizierten .Kräften des Umsturzes' bestätigt, auch die liberalen Kritiker herkömmlicher Armen- und neuer Kriegswohlfahrtspflege begrüßten den Zusammenbruch und seine sich vorerst nur in Umrissen abzeichnenden Folgen keineswegs. Schien den einen nun der Damm endgültig gebrochen, mit dem die deutsche Gesellschaft den kirchen- und religionsfeindlichen Massen im Umfeld des Sozialismus bisher getrotzt hatte - das Bündnis von Thron und Altar -, so beklagten die anderen den vermeintlichen Fehlschlag ihrer jahrzehntelangen sozia\reformerischen Bemühungen, mit denen sie der revolutionären Flut nicht nur standhalten, sondern im Endeffekt die Revolution

33

Vgl. die reichhaltigen Materialien im Bestand ,Preußisches Ministerium für Volkswohlfahrt' zu den beiden Bundesratsverordnungen und den Problemen betrügerischer Wohlfahrtsinitiativen, die das erst nach dem Kriege entstandene Ministerium bis weit in die Republik hinein beschäftigten; ZStA-DM, Rep. 191.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

selbst hatten überflüssig machen wollen. Dabei ließen konkret einschneidende wohlfahrtspflegerische Maßnahmen und Verordnungen des noch lange um seine politische Konsolidierung ringenden neuen Staates auf sich warten. Zwar beschloß das preußische Kultusministerium unter Adolph Hoffmann - etwas vorschnell, wie sich später herausstellte - einige Dekrete zum Religionsunterricht und zum Kirchenaustritt, mit denen kirchliche Freiheits- und Gestaltungsräume vorübergehend eingeengt wurden; 34 die konfessionell gebundene freie Wohlfahrtspflege traf das jedoch nicht. Vereinzelte Stimmen in der sozialdemokratischen Parteipresse, in der Nationalversammlung und in den parallel tagenden verfassunggebenden Länderversammlungen, die eine völlige Aufhebung privater Fürsorgeorganisationen zugunsten der Verstaatlichung oder doch Kommunalisierung der Wohlfahrtspflege forderten, setzten sich nicht durch, zumal die tonangebende Mehrheitssozialdemokratie keine klare politische Konzeption auf diesem Felde vorlegen konnte; die verwirrende Entstehungsgeschichte der Arbeiterwohlfahrt, die sich als Spitzengliederung erst im Dezember 1919 konstituierte, gibt dafür ein treffendes Beispiel.35 Als die Weimarer Reichsverfassung im August 1919 in Kraft trat und mit ihr wichtige Forderungen der freien Wohlfahrtspflege vor allem zum Arbeits- und Versicherungsrecht erfüllt wurden, nahm man das nicht überschwenglich, letztlich aber mit Erleichterung zur Kenntnis, 36 obwohl darin über das Verhältnis von öffentlicher und privater Fürsorge nichts ausgesagt war. Noch im gleichen Jahr beschäftigten sich mehrere Fachkonferenzen der freien Wohlfahrtspflege mit der Entwicklung. Auf der Abschlußtagung der Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrt im Mai 1919 in Marburg erklärten alle Teilnehmer ihre grundsätzliche Bereitschaft, sich den gewandelten politischen Verhältnissen anpassen zu wollen; 37 freilich nicht um jeden Preis und unter Betonung der weiterhin hohen Bedeutung der privaten Wohlfahrtspflege. Pastor Frick aus Bremen ging im Rahmen seines Referats über „das zukünftige Verhältnis staatlicher und gemeindlicher Fürsorge zur freien Liebestätigkeit" auch auf die nach der Revolution häufig diskutierten Sozialisierungstendenzen ein. Bemerkenswert an sei34

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Vgl. Jochen Jacke, Kirche in Monarchie und Republik, 41 ff., und Heinz Hürten, Die Kirchen in der Novemberrevolution, bes. 37 ff. Anneliese Monat, a.a.O., 31 ff.53 ff., und Hedwig Wachenheim, Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie, 73 ff. 117 ff. Vor allem Art. 9, Abs. 1; ferner die Art. 151,157,161,163, Abs. 2,165. S. a. den nicht gezeichneten Beitrag „Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege in der neuen Verfassung", in: Concordia 26.1919,140f.: „Es kann nicht geleugnet werden, daß die neue Reichsverfassung sozialen Geist in hohem Maße atmet. Gegenüber der alten Reichsverfassung bedeutet sie einen außerordentlich weitgehenden Fortschritt auf sozialem Gebiete [...]. Wie man auch sonst zu der neuen Verfassung [...] stehen mag, es muß anerkannt werden, daß die neue Verfassung in sozialer Hinsicht die Grundlage für ein segensreiches und das deutsche Ansehen wieder zu Ehren bringendes Schaffen bildet." Vgl. Künftige Ziele der sozialen Fürsorge.

II.l. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

109

ner durch ideologische ,Scheuklappen' kaum beeinträchtigten Lagebeschreibung war sein Hinweis, daß der Ruf nach Verstaatlichung einzelner Arbeitsfelder der freien Verbände viel älter und auch folgenreicher gewesen sei, als man jetzt auf Grund der unbestimmten sozialdemokratischen Programmatik vielfach vermute. Hellsichtig sah er in den zur Bewältigung der drängenden Fürsorgeaufgaben der Nachkriegszeit notwendigen öffentlichen Mitteln einen Hebel, mit dem Staat und Kommunen versuchen könnten, die Eigenständigkeit der freien Träger einzuschränken, und wandte sich in seinem zustimmend aufgenommenen Beitrag gegen jede über ein gewisses Maß hinausgehende Staatsaufsicht und Reglementierung, bot aber seitens der Verbände der öffentlichen Wohlfahrtspflege die Hand zur Kooperation. 38 - Eine wichtige Quelle für die Hoffnungen und Ängste der Verbände im Hinblick auf die Fortsetzung ihrer Arbeit ist ferner das Protokoll der Tagung des Fachausschusses für private Fürsorge über die „künftige Stellung der privaten Fürsorge im neuen Staat", die am 17. und 18. Oktober 1919 im ehemaligen preußischen Herrenhaus in Berlin stattfand. 39 Bereits in seiner Begrüßung der Delegierten faßte der Vorsitzende, Geheimer Kirchenrat Schlosser aus Frankfurt a.M., die zu verhandelnden Probleme zusammen: Die große Verarmung des deutschen Volkes durch Krieg und Zusammenbruch weise der Wohlfahrtspflege neue Tätigkeitsbereiche zu; allerdings sei das Mißtrauen gegenüber der freien Liebestätigkeit stark angewachsen, besonders wenn diese vornehmlich von „gesellschaftlich höher gestellten Kreisen" ausgeübt werde. Man habe deshalb auch den „alten schönen Namen" des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit umändern müssen in Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Freilich sei ein Teil der Vorwürfe berechtigt, wenn man sich daran erinnere, wie oft Wohltätigkeit ,von oben herab' in der Manier von Almosenverteilung ausgeübt worden sei. Heute fordere man ,Rechte' statt,Wohltaten' und versuche, die Wohlfahrtspflege neuen Stils durch Beamte und unter Ausschaltung der freien Liebestätigkeit zu betreiben. Glücklicherweise habe man in den Finanzministern der Länder gute Verbündete gegen diese meist aus den Kommunen kommenden Angriffe; hier wisse man nicht allein um die Leistungen, sondern auch um die geringeren Kosten der freien Fürsorge, und das sei angesichts der angespannten Finanzen vielleicht ausschlaggebend für den Willen zu ihrer Erhaltung. 40 - Die folgenden Referate setzten recht unterschiedliche Akzente, mit denen sie der veränderten politischen

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Ebd., 27-34. Solche Tendenzen zur Verstaatlichung von Arbeitsfeldern, die von der freien Wohlfahrtspflege erstmalig,entdeckt' und in Angriff genommen worden waren, beschrieb bereits 1888 Friedrich Naumann, damals noch Vereinsgeistlicher der Inneren Mission in Frankfurt a. M., der diese Entwicklung freilich positiv sah; vgl. ders., „Die Zukunft der Inneren Mission", in: CW 2.1888,403 f.421-423. „Die künftige Stellung der Fürsorge im neuen Staat". S.a. Carl Ludwig Krug v.Nidda, a.a.O., 222 ff. Prot.,a.a.O.,3-7.

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11. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Lage Rechnung trugen. So wollte Marie Baum, seit 1919 Referentin für Wohlfahrtspflege im badischen Arbeitsministerium, die freie Fürsorge auf „schöpferische, neue Not aufspürende pfadfinderische Arbeit", auf die Bereitstellung von geeigneten Persönlichkeiten für die Wohlfahrtspflege neuer Art und auf Aufklärungstätigkeiten unter der Bevölkerung festlegen, während die kostenintensiven Anstaltsbereiche in staatliche bzw. kommunale Hände übergehen sollten.41 Dagegen warnte Wilhelm Polligkeit vor der Illusion, die öffentlichen Träger seien eher in der Lage, die damit auf sie zukommenden finanziellen Lasten zu verkraften; er glaube im Gegenteil eher an eine noch stärkere Inpflichtnahme der freien Wohlfahrtspflege. Trotz der drohenden Politisierung der Wohlfahrtspflege durch das parlamentarische System, das auch hier Auswirkungen zeigen werde, müsse man zu einem Miteinander kommen. Die Chancen dazu stünden nicht schlecht; schließlich habe man im Kriege gelernt, daß alle Fürsorge nur ein Ziel kenne: „das allgemeine Volkswohl".42 - Harte Kritik an den Auswüchsen der Revolutionszeit' übten Prälat Werthmann und Frau Neuhaus in Diskussionsbeiträgen, aber auch Alice Salomon in einem weiteren Referat: 43 Materialismus, Begehrlichkeit, sittliche und religiöse Verflachung seien die Begleiter der neuen Zeit. Der Klassenkampf, dem die Sozialarbeit immer entgegengearbeitet habe - so Frau Salomon -, wüte schlimmer denn je. Die Geschichte habe jedoch der Sozialdemokratie recht gegeben; man müsse sich nun in die Lage schicken und aufs neue daran gehen, die Liebestätigkeit zu einer Sammlungsbewegung derjenigen zu machen, „die eine aufrichtige soziale Gesinnung besitzen und pflegen wollen". Denn darin stimme man mit dem Sozialismus überein, daß man „die Herrschaft der sozialen Gerechtigkeit oder [...] die Erfüllung der Liebesidee Christi" erstrebe.44 Am Schluß der Tagung wurde eine Resolution verabschiedet, in der das Anliegen der privaten Wohlfahrtspflege noch einmal zum Ausdruck kam. 45 Gegen alle Versuche, die Arbeit der freien Liebestätigkeit zu beeinträchtigen, wende man sich entschieden, weil damit das „sittliche Recht und die heilige Pflicht der Menschenliebe", die immer „der Ruhmestitel unseres Volkes" gewesen sei, empfindlich berührt werde. Man sei bereit, auch mit dem neuen Staat vertrauensvoll zu kooperieren, dieser müsse dafür andererseits die freie Wohlfahrtspflege

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Referat „Warum ist auch künftig der Staat auf die Mitwirkung der privaten Fürsorge angewiesen?", a.a.O., 7-13. Wilhelm Polligkeit, „Die Frage der Kommunalisierung der privaten Fürsorge", a.a.O., 14-22. Vgl. a.ders., „Formen der Arbeitsgemeinschaft zwischen den Zentralbehörden der staatlichen Wohlfahrtspflege und Zentralvereinigungen der freien Wohlfahrtspflege", in: Concordia 26.1919,213-221. Alice Salomon, „Wie stellt sich der einzelne Sozialarbeiter und die einzelne Organisation der privaten Fürsorge auf die neuen Verhältnisse ein ?", a. a. O., 43 - 53. Ebd., 48.50. A. a. O., 79- 81 ; auch abgedruckt bei Krug v. Nidda, a. a. O., 226 f.

II.1. Diskussionen um die Neuordnung der Wohlfahrtspflege

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schützen und ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sie wolle alle Schichten der Bevölkerung, auch die Arbeiterschaft, in ihre Arbeit integrieren, damit die gravierenden sozialen Probleme der Gegenwart „zum Heil unseres Volkes" einer Lösung nähergebracht würden. Als Ergebnis der Wohlfahrtskonferenzen in Kriegs- und unmittelbarer Nachkriegszeit läßt sich mithin zusammenfassen, daß die Verantwortlichen trotz mancher Proteste und mit einem unterschiedlichen Grad an Flexibilität in einen Lern- und Umdenkungsprozeß eingetreten waren, an dessen Ende das bedingte Ja aller beteiligten Gruppen zur wohlfahrtspolitischen Neuorientierung der Weimarer Reichsverfassung stand. Es scheint jedoch, als habe man, besonders in der konfessionellen Wohlfahrtspflege, für die Einstellung auf die gegebenen politischen Realitäten einen hohen Preis bezahlt: Der neuerliche Verzicht auf jeden Dialog mit der Sozialdemokratie, der die größte staatstragende Partei der Republik ausgrenzte und damit zur Schwächung der Weimarer Demokratie beitrug, sollte sich in den späteren Krisenjahren noch verhängnisvoll auswirken. Vordem galt das Bündnis von preußischer Ministerialbürokratie und (links-)liberalen ,Vordenkern' der nichtreligiös-humanitär orientierten Verbände als Bedrohung für Autonomie und ungehemmte Wirksamkeit der praktisch tätigen' konfessionellen Organisationen. Hier, so wähnte man, würden die Konzeptionen entwikkelt, die in den Bundesratsverordnungen nur einen ersten abgeschwächten Niederschlag gefunden hätten, die nach dem Kriege aber der Staatsaufsicht und der sie begleitenden Reglementierung der freien Liebestätigkeit Tor und Tür öffnen sollten. Doch nun, nach Revolution und Kriegsende, traten Sozialdemokratie und Sozialismus als neues ,Feindbild' an die Stelle der alten Bündniskonstellation, und die Gegner von einst vereinten sich jetzt friedlich in prophylaktischer Abwehr angenommener und tatsächlicher Bedrohungen der freien Wohlfahrtspflege. - Mit rationalen Argumenten allein ist diese Stimmungslage nicht zu erklären, denn von einem konkret geplanten ,Generalangriff' sozialdemokratischer Regierungen und Magistrate auf Einrichtungen der Inneren Mission, Caritas und sonstiger Träger nach der Revolution kann nicht die Rede sein. Allerdings war 1919 noch nicht abzusehen, ob nicht auch in Deutschland .bolschewistische Verhältnisse' eintreten würden. In der Furcht davor kam der .Koalition der Enttäuschten', die aus jeweils anderen Motiven den Ausgang des Krieges mit seinen innenpolitischen Implikationen nicht verwinden konnten, die Sozialdemokratie als Bedrohungssymbol gerade recht. In Abgrenzung von deren - an sich noch kaum faßbaren - wohlfahrtspolitischen Plänen entstand ein neues Gemeinschaftsbewußtsein, das bald durch die Gründung von Dachverbänden der freien Wohlfahrtspflege aktiv auf die Diskussion der Fürsorgegestaltung Einfluß nehmen - und sich damit auch politisch wirksam erweisen sollte.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege II.2.1. Vorläuferorganisationen Um die zuvor geschilderte Herausforderung gemeinsam besser zu bestehen, lag es nahe, sich zusammenzuschließen. Die Erkenntnis, dringend eine Stelle schaffen zu müssen, die zentral die anstehenden Verhandlungen mit den neugebildeten Reichs- und Länderministerien wenn nicht führen, so doch koordinieren konnte, setzte sich innerhalb der betroffenen Verbände bald durch; so nahm man im Anschluß an gescheiterte Versuche, schon bestehende ältere Dachorganisationen nach dem Krieg zu reaktivieren, unter dem ,Patronat' des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und seines dynamischen Vorsitzenden Wilhelm Polligkeit die Gründung einer ,Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege' in Angriff. Es war nicht der erste Zusammenschluß dieser Art, über dessen Konstituierung Innere Mission, Caritas, Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, 46 der Zentralwohlfahrtsausschuß der christlich-nationalen Arbeiterschaft, der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrt und Heimatpflege und eben der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge seit Anfang 1921 intensiv miteinander verhandelten. Bereits 1898 hatte sich ein ,Verband deutscher Wohlfahrtsvereinigungen' gebildet, dessen Mitgliedschaft der Centraiausschuß für Innere Mission sogleich erwarb, ohne davon auf Dauer besonders zu profitieren. Die große Zahl der hier beteiligten heterogenen Gruppen ließ kein Gefühl für Solidarität entstehen; erst recht nicht mochte man für wohlfahrtspflegerische Anliegen gemeinsam streiten, da die Einzelinteressen zu stark divergierten. Wenn Polligkeit 1921 urteilte, „vor lauter Satzungsentwürfen und schönen Reden" sei dieser Verband „nie zu eigentlich praktischer Arbeit gekommen", zog er damit ein Fazit, das eine Neuauflage des Verbandes deutscher Wohlfahrtseinrichtungen von vornherein verbot. Zur Bewältigung der nach dem Weltkrieg anstehenden Neuorientierung und zur Lösung der damit verbundenen Probleme schien diese Organisation jedenfalls denkbar ungeeignet.47 Bald nach der Jahrhundertwende hatte es weitere Bemühungen gegeben, die Arbeit der öffentlichen und privaten bzw. freien Wohlfahrtspflege mit Hilfe einer ,Clearing-Stelle' aufeinander abzustimmen - ein Plan, der bei Behörden und auch den freien Trägern selbst auf hartnäckigen Widerstand stieß, wobei letztere vor allem um ihre Eigenständigkeit fürchteten. Als dann 1906 die halb46

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Dazu vgl. die Skizze von Adolf Diamant, „Zur Geschichte der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland", der demnächst vom gleichen Vf. eine Monographie zum Thema folgen soll. Vgl. das Prot, über die Verhandlungen zur Gründung einer Reichsgemeinschaft am 2.III. 1921, ADCV, 460.040,1, und Gerhardt II, 113.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

113

staatliche »Zentralstelle für Volkswohlfahrt' doch gegründet wurde, trat ihr der Centraiausschuß für Innere Mission bei und entsandte mit seinem geschäftsführenden Sekretär, Pfarrer Wilhelm Scheffen, und dem Senatspräsidenten am Oberverwaltungsgericht Hugo v. Strauß und Torney, der dem CA angehörte, zwei hochrangige Vertreter. Die Einrichtung der Zentralstelle erfolgte auf eine parlamentarische Initiative des Grafen Douglas im preußischen Abgeordnetenhaus durch Umbenennung der 1891 gegründeten Zentralstelle für ArbeiterWohlfahrtseinrichtungen und wurde allgemein von großen Erwartungen begleitet.48 Wie Polligkeit 1919 in der Rückschau schrieb, „sollte die Zentralstelle den neutralen Boden bilden, auf dem sich die freie Wohlfahrtspflege der verschiedenen Richtungen und Weltanschauungen zu gemeinschaftlichen Erörterungen und zum Ausgleich ihrer Erfahrungen" zusammenfände. 49 Endlich - so die Hoffnung - hatte man den dringend notwendigen ,,geistige[n] Mittelpunkt für die gesamte öffentliche und private Wohlfahrtspflege" geschaffen. Der alte Bodelschwingh sah in der Zentralstelle in einer für ihn typischen Formulierung gar „eine Art,geistigen Generalstab für die Liebesarmee'". 50 Doch erwiesen sich solche Vorschußlorbeeren als verfrüht: Ähnlich wie der als Dachorganisation der gesamten freien Liebestätigkeit ältere ,Verband deutscher Wohlfahrtseinrichtungen' entwickelte die Zentralstelle zu wenig eigene Initiativen. Sie vermochte es wohl auch kaum, da hier die einvernehmliche Klärung des Verhältnisses zu den Mitgliedsverbänden ebenfalls ausblieb und die fest umrissenen Kompetenzen wiederum fehlten, die für jene anregenden theoretischen und praktischen Impulse notwendig gewesen wären, mit denen man eigentlich gerechnet hatte.

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Zu den Aufgaben der Zentralstelle, in der sich alle fürsorgerisch tätigen Organisationen, „soweit sie nur Ziele verfolgen, welche mit der Erhaltung des Staates vereinbar sind", sammeln sollten, vgl. Zeitschrift der Centralstelle f. Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen 1.1894, lf. Der Antrag wurde im Juli 1904 eingebracht und die Einsetzung einer Beratungskommission dafür beschlossen; cf. Sten. Ber. PrHdA, 20.WP I.Sess. 1904/05, Drucks. Nr.491 v.28.VI. 1904. S.a. die Debatten über diesen Antrag am 24.X1.1904 und am 6.IV. 1905, an der sich neben Graf Douglas auch der Gründer Bethels, Friedrich v. Bodelschwingh, und Emil Münsterberg, der bekannte Leiter der Zentralstelle für Armenpflege und Wohltätigkeit in Berlin, beteiligten; ebd., 103.Sitzung, Sp.7444-7475. 174. Sitzung, Drucks. 792, Sp. 12523-12586. - Nach ihren Satzungen hatte die ZfVdrei Hauptaufgaben: „1. Zusammenfassung der organisierten Wohlfahrtsbestrebungen; 2. Sammlung und Registrierung und wissenschaftliche Verarbeitung der gemachten Erfahrungen, sowie Auskunfterteilung auf Grund dieser Erfahrungen; 3.Propagandistische Tätigkeit"; Vgl. W. Polligkeit, „Formen der Arbeitsgemeinschaft zwischen den Zentralbehörden der staatlichen Wohlfahrtspflege und Zentralvereinigungen der freien Wohlfahrtspflege", in: Concordia 26.1919, 213-221, 218.Zur Gründung vgl. den Jahresbericht der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen 1905/06, a.a.O., 13.1906,180-185. So Polligkeit nach dem Prot, v.2.111.1921, a.a.O. - In seinem Debattenbeitrag am 24.XI. 1904 hatte v. Bodelschwingh die neue Zentralstelle den Generalstab im „Krieg der Barmherzigkeit" genannt; a. a. O., Sp. 7462.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Der Weltkrieg mit den neuen Problemen der Kriegswohlfahrtspflege überforderte die geringen Möglichkeiten der Zentralstelle dann endgültig.51 Der zunehmende Staatseinfluß und das finanzielle Desaster nach dem Zusammenbruch des alten Reiches führten schließlich zur Auflösung der Zentralstelle, obschon sich die an ihr beteiligten Organisationen über die Notwendigkeit im klaren waren, diese Arbeit in neuen, dem Wandel der Zeit besser angepaßten Formen fortzuführen. 52 Noch zwei weitere Gründungen der Nachkriegszeit sind an dieser Stelle zu nennen, da sie einer Neuformierung der freien Wohlfahrtspflege in fester organisatorischer Gestalt entscheidend vorarbeiteten: Es handelt sich um den Reichsverband der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, meist kurz als,Reichsverband' bezeichnet, und den aus ihm hervorgegangenen ,Wirtschaftsbund', kurz ,Wibu' genannt. 53 Der Reichsverband entstand am 28. Oktober 1919 in Frankfurt a.M.; angeschlossen waren ihm der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser, der Verband der katholischen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, der Bund der jüdischen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, der Verein deutscher Mutterhäuser vom Roten Kreuz und die keiner Weltanschauung oder Konfession verpflichtete Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands. Da sich die wirtschaftliche Krisensituation auf die Krankenanstalten der Verbände wesentlich unmittelbarer auswirkte als auf die Organisationsspitzen oder die in erster Linie konzeptionell-wohlfahrtspflegerisch wirkenden Institutionen wie Deutscher Verein, Archiv für Wohlfahrtspflege usw., gehörte ein solcher Zusammenschluß schon aus ökonomischen Zwängen zu den wichtigen Erfordernissen der Stunde. Doch unverkennbar besaß der Reichsverband auch eine politische Funktion, die Obergeneralarzt a.D. Dr. Werner vom Roten Kreuz am 4. Februar 1920 anläßlich der offiziellen Gründung des Reichsverbandes erläuterte: Es gebe ein Gedankengut, das sich in der Gesetzgebung und in konkreten politischen Maßnahmen zeige und den freien Kranken- und Pflegeeinrichtungen „Gefahren für ihr Fortbestehen und gedeihliches Wirken" bringe. Man müsse den Kommunalisierungsbestrebungen der „Weimarer Machthaber" [!] entgegentreten, um „unter Ausschluß aller religiösen und politischen Fragen" die gemeinsamen Interessen wahren zu können. 54 - Diese Interessen richteten sich auch gegen heute berechtigt erschei51

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Am 1. August 1914 teilte sie ihren Mitgliedern mit, daß der Krieg die gesamte Arbeit „jäh unterbrochen" habe und alle für die kommende Zeit gefaßten Pläne zurückgestellt werden müßten; Concordia 21.1914, Nr. 8 (Einlegeblatt). S. das Prot., a.a.O., und Gerhardt II, 113.226. Das Folgende nach Otto v. Holbeck, Fünfundzwanzig Jahre Reichsverband der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, 28. Oktober 1919 bis 28.Oktober 1944, ungedr. Manuskript; ADW, C A / G 40. Ebd.

11.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

115

nende Versuche, die arbeitsrechtlichen Reformen der Weimarer Republik auf den Bereich Wohlfahrtspflege auszudehnen: Acht-Stunden-Tag, Betriebsratsverfassung oder öffentliche Stellenvermittlung signalisierten jedoch für die betroffenen Träger den Frontalangriff des angeblich religionsfeindlichen, in Wirklichkeit aber nur religionsneutralen, zunächst sozialistisch geprägten Staates auf die freie Krankenpflege überhaupt. 55 Einer Übernahme solcher, als materialistisch und sittenzerstörend empfundener Forderungen stand das unbedingte Festhalten der konfessionellen Verbände an der Tradition des Dienst- und Opfergedankens christlicher Liebestätigkeit in der Mutterhaus-Diakonie im Wege. Dieses an vorindustriellen Leitbildern von Familie und Wohltätigkeit orientierte Ideal spiegelte zu einem Gutteil auch das Frauenbild der beiden Konfessionen wider56 - denn andererseits gehörten der Abschluß von Tarifverträgen und Sozialleistungen für Ärzte und Pfleger, soweit es sich bei letzteren nicht um Diakone handelte, zu den selbstverständlich akzeptierten Pflichten des jeweiligen Dienstherrn. Das Beharren auf althergebracht-paternalistischen und noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg theologisch-religiös begründeten Formen konfessioneller Wohlfahrtspflege wenigstens auf personellem Sektor kontrastierte auffällig mit einem Pragmatismus in anderen Bereichen, der modernste technische und ökonomische Hilfsmittel nicht nur duldete, sondern bewußt einsetzte, um die Arbeit der Kranken- und Pflegeeinrichtungen möglichst effizient und kostengünstig zu gestalten. - In diese Richtung zielte auch der 1921 aus dem Reichsverband heraus gebildete Wirtschaftsbund, eine Art zentraler Einkaufsgenossenschaft der freien Wohlfahrtspflege, in dem sich im Mai 1922 bereits 941 Anstalten zusammengefunden hatten. Vom Auftragsvolumen her arbeiteten die Einrichtungen der Inneren Mission am intensivsten mit dem Wibu zusammen, der 1922 mit der Gründung der Wirtschaftsabteilung beim Centraiausschuß unter Kaufmann Walter Schlunk und dem Ausbau von Regionalvertretungen einen großen Aufschwung nahm und seine erste Bewährungsprobe in den Stürmen der Inflationszeit und bei der Versorgung der Anstalten in den besetzten Gebieten bestand. 57 Die in Reichsverband und Wirtschaftsbund vereinigten Organisationen kooperierten hier ohne auffällige Reibungsverluste miteinander. Das verdient festge55

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Dazu s. Hans-Josef Wollasch, „Werthmann, Kreutz und die Anfänge der Hauptvertretung Berlin des Deutschen Caritasverbandes (1918-1922)", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Caritas, 85. - Zum Vorwurf der Religionsfeindlichkeit des Weimarer Staates, den prominente evangelische Kirchenführer, wie der Vizepräsident des EOK, Prof. Julius Kaftan, öffentlich erhoben, vgl. Kurt Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 76 ff. Quellen und Überlegungen zum Frauenbild des deutschen Protestantismus bei JochenChristoph Kaiser, Frauen in der Kirche. S. jetzt auch Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion. Vgl. Gerhardt II, 320f.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

halten zu werden, weil andere Formen des Zusammenschlusses immer wieder an der unterschiedlichen Interessenlage gescheitert waren. Freilich ging es bei Reichsverband und Wibu in erster Linie um drängende ökonomisch-organisatorische Fragen, die zudem der freien Wohlfahrtspflege derart auf den Nägeln brannten, daß jede Möglichkeit zu ihrer Lösung ohne große Diskussion genutzt wurde und Meinungsverschiedenheiten auf konzeptioneller Ebene zurücktraten. Erstaunlicherweise scheint diese Zusammenarbeit auch dann ähnlich wirkungsvoll fortgeführt worden zu sein, als sich die wirtschaftliche Lage besserte und die Anstalten nicht mehr in gleichem Maße auf Reichsverband und Wibu angewiesen blieben. Vielleicht nahm hier die Eigengesetzlichkeit technologisch-ökonomischen Sachverstandes bestimmenden Einfluß auf das Verhalten der Mitgliedsorganisationen. Die sich eher auf theoretisch-politischer Ebene bewegenden Diskussionen innerhalb der sich formierenden Reichsgemeinschaft verliefen jedenfalls kontroverser und ließen Spannungen, etwa zwischen dem Roten Kreuz und den konfessionellen Verbänden, zutage treten, die sich innerhalb des Reichsverbandes und des Wibu nicht artikulierten, obschon dort die gleichen Gruppierungen zusammenarbeiteten. II.2.2. Die Gründung der Reichsgemeinschaft Zu Beginn des Jahres 1921 entfaltete der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt a.M. auffallende Aktivitäten, um die Neugründung einer Dachorganisation der freien Wohlfahrtspflege voranzutreiben. Die Zeit zur Schaffung einer handlungsfähigen übergreifenden Institution, die mitgestaltend in die vielfältigen Überlegungen zum Auf- und Ausbau der deutschen Wohlfahrtspflege eingreifen konnte, schien aus aktuellem Anlaß zu drängen. Gerade hatte sich am 25.1.1921 in einer Überraschungsaktion und entgegen dem ausdrücklichen Votum einer Denkschrift des Reichsarbeitsministeriums aus der Vielzahl .deutscher Landesvereine vom Roten Kreuz' das ,Deutsche Rote Kreuz' konstituiert, das im Einklang mit Art. 25 der Völkerbundsakte satzungsgemäß seine Friedensarbeit besonders hoch bewertete und von dem die bereits etablierten Verbände argwöhnten, daß es im Begriff stand, bestimmte Führungsansprüche als neuer Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege anzumelden. 58 Sein

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Dieser Sorge gab Agnes Neuhaus, inzwischen Reichstagsabgeordnete des Zentrums, Ausdruck, als sie in der Aussprache der ersten Sitzung zur Vorbereitung der Gründung der Reichsgemeinschaft öffentlich die Ausdehnung der Rotkreuz-Arbeit auf alle Gebiete der Wohlfahrtspflege bedauerte und das DRK aufforderte, diese Pläne wieder einzuschränken; eine ausgleichende Wirksamkeit der Reichsgemeinschaft sei sonst gefährdet; s. Prot, der Sitzung v. 2.III. 1921, a. a.O. Ein Hinweis auf die in den ADW- und ADCV-Akten nicht enthaltene RAM-Denkschrift vom September 1920 ,über die Bildung einer deutschen Rotkreuz-Gemeinschaft' findet sich in einem - freilich offiziösen - ,Privatbrief' des Ministerialdirektors Dr. Erwin Ritter/RAM V.17.XII.1925 an DRK-Präsident v.Winterfeldt;

11.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

117

Präsident, Landesdirektor Joachim von Winterfeldt-Menkin, stand in Personalunion dem oben erwähnten, inzwischen von Polligkeit für erledigt erklärten Verband deutscher Wohlfahrtsvereinigungen' vor, was mit zu den Befürchtungen der übrigen freien Gruppierungen beitrug, sie könnten künftig - vor allem im internationalen Bereich - vom guten Willen des DRK und seiner Verbandspolitik abhängig werden. Dieses nicht ganz unberechtigte Mißtrauen gegenüber dem DRK und seinen auf Genfer Konvention und Völkerbundsabkommen gegründeten, stets dezidiert angemeldeten Sonderinteressen sollte die Zusammenarbeit der Spitzenverbände in der Reichsgemeinschaft und später auch in der Liga über Jahre immer wieder belasten; weiter unten wird darauf zurückzukommen sein.59 - Auch die gerade etablierte Arbeiterwohlfahrt, die engste Beziehungen zur Sozialdemokratie unterhielt und in Anlehnung an die sozial- und wohlfahrtspolitischen Forderungen dieser Partei in wichtigen Punkten von den Vorstellungen der anderen Trägerverbände zur freien Fürsorge abwich, ließ es geraten erscheinen, Vertreter des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt in eine gemeinsame Dachorganisation einzubinden. - Ein weiterer Grund schließlich, regelmäßigen Kontakt auf tragfähiger Basis aufzunehmen und diesen rechtlich zu institutionalisieren, lag in der sich durch die zunehmende Geldentwertung ständig verschlechternden finanziellen Situation der Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Da die Anstalten seit Kriegsende in wachsendem Maße auf Zuwendungen des Reiches, der Länder und der Kommunen angewiesen waren und das Reichsarbeitsministerium einen Entwurf für ein - dann später doch nicht verabschiedetes - Reichswohlfahrtsgesetz erstellte, schien es geboten, die Konstituierung der Reichsgemeinschaft nicht länger hinauszuzögern. Nur auf diese Weise konnte man seitens der freien Verbände Vorbehalte anmelden oder Ergänzungen vorschlagen und damit die Interessen der nichtstaatlichen bzw. nichtkommunalen Wohlfahrtspflege wahren. Im Februar 1921 legte Wilhelm Polligkeit ein Memorandum vor, das die Notwendigkeit eines derartigen Spitzenverbandes dartun sollte, und fügte gleich einen detaillierten Satzungsentwurf bei. Auf der Grundlage dieser beiden Papiere berieten am 2. März 1921 Vertreter zahlreicher Wohlfahrtsorganisationen über den geplanten Zusammenschluß. 60 Angesichts der augenblicklichen Notlage stehe die Wohlfahrtspflege vor einer Zerreißprobe noch unbekannten Ausmaßes, führte Polligkeit aus. Nicht mehr Sinn und Funktion einer Spitzengliederung sei das Problem - heute gehe es nur noch um die geeignete Form. Hauptziel der zu bildenden Reichsgemeinschaft müsse es sein, „die freie Wohl-

59 60

ADW, CA 1195 II. Zur Geschichte des Deutschen Roten Kreuzes s. Friedrich Grüneisen, Das Deutsche Rote Kreuz in Vergangenheit und Gegenwart. Vgl. Abschnitt II.3.2. .Entwurf für die Begründung einer Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege', o. D. [Febr. 1921], und Memorandum Polligkeit .Reichsgemeinschaft der Hauptorganisationen der deutschen Wohlfahrtspflege' v. 17.11.1921; ADCV, 460,1. - Zum Prot, selbst s. o.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

fahrtspflege so stark und leistungsfähig wie möglich zu machen, damit sie nicht nur die über ihr selbst infolge der allgemeinen Wirtschaftskrise schwebende Krise überwindet, sondern auch im Rahmen der gesamten Wohlfahrtspflege an der Behebung der allgemeinen Volksnot den gebührenden Anteil nehmen kann". Satzung und Denkschrift akzentuierten jedoch eindrücklich die Unabhängigkeit und Integrität der Mitgliedsverbände, die an Mehrheitsbeschlüsse der Reichsgemeinschaft nicht gebunden sein sollten. Zu ihrer Leitung war ein ,Führerrat' vorgesehen - eine Formulierung, die man später als „zu modern klingend" fallenließ -, 61 dessen Vorsitz man jährlich unter den angeschlossenen Organisationen wechseln lassen wollte. Die anwesenden Vertreter der Inneren Mission, der Caritas, der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZdJ), des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (DV), des Deutschen Roten Kreuzes und des Reichsarbeitsministeriums waren augenscheinlich bemüht, zu einem Konsens zu kommen, um den beabsichtigten Zusammenschluß nicht zu gefährden. Der Delegierte des Roten Kreuzes erklärte ausdrücklich, seine Organisation erstrebe entgegen anderslautenden Gerüchten nicht das Ziel, „Kuppelbau der Wohlfahrtspflege" zu werden, sondern wolle als gleichberechtigter Partner mit den anderen Verbänden kooperieren. Großen Wert - zumindest verbal - legten die Anwesenden auf die Mitwirkung der Arbeiterwohlfahrt, die offiziell keinen Vertreter entsandt hatte. Da sie allein jedoch nicht die gesamte Arbeiterschaft vertrete, regte eine Teilnehmerin an, müsse u.U. auch mit den Hirsch-Dunckerschen und den christlichen Gewerkschaften über eine Mitgliedschaft verhandelt werden. 62 Der werdenden Reichsgemeinschaft könne nur Erfolg beschieden sein - so der Tenor der Verhandlungen - , wenn alle großen Verbände in ihr präsent seien. - Recht genaue Vorstellungen entwickelte Regierungsrat Dr. Behrend vom Reichsarbeitsministerium, dessen Haus neben dem Deutschen Verein als treibende Kraft hinter der Errichtung der Reichsgemeinschaft stand: Die Gründung müsse vor allem praktische Arbeit leisten, habe die Sonderinteressen von Ländern und Provinzen zu beachten, solle sich vornehmlich um Wirtschaftlichkeitsfragen kümmern und schließlich durch geeignete propagandistische Maßnahmen den Wohlfahrtsgedanken in weiten Bevölkerungskreisen fördern. Reichsmittel für diese Arbeit könne er nicht zusagen, aber in Aussicht stellen. Als man sich anderthalb Wochen später in Berlin wiedertraf, war die Reichsgemeinschaft beschlossene Sache.63 Diesmal hatte auch die Arbeiterwohlfahrt mit 61 62

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Statt dessen wurde der Ausdruck,Verwaltungsrat' gewählt; s. Prot. v. 2.III. 1921, a. a. O. Diesen Vorschlag machte Siddy Wronsky, die an der Konferenz als Delegierte der ZdJ teilnahm; ihr Vorschlag ist um so bemerkenswerter, als sie auch der Arbeiterwohlfahrt nahestand, zu deren Beirat sie Anfang der 20 er Jahre gehörte. Ihre Anregung spricht für die Unabhängigkeit des Denkens in Teilbereichen der (links-)liberal orientierten freien Wohlfahrtspflege; ebd. Vgl. a. Juchacz/Heymann, Die Arbeiterwohlfahrt, 28. Prot, der Sitzung v. 12.111.1921; ADCV, 460,1.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

119

Johanna Heymann eine Beobachterin geschickt - wohl ohne Vollmachten, denn Frau Heymann meldete sich laut Protokoll nicht zu Wort und fand sich ebensowenig wie das D R K bereit, die förmliche Konstituierung mitzuvollziehen. Der DRK-Vertreter, Oberstleutnant Draudt, entschuldigte die Abstinenz seines Verbandes mit dem gerade erst erfolgten Zusammenschluß der deutschen Rotkreuzvereine, was ein Eingehen neuer Verpflichtungen noch nicht zulasse. Außerdem müsse zunächst das Verhältnis der Reichsgemeinschaft zum alten .Verband der Wohlfahrtsvereinigungen' geregelt werden, eine Forderung, der die Gründerverbände mit der sicher nicht im Sinne des D R K kurzerhand gefaßten Entschließung entsprachen, alle Mitglieder der neuen Dachorganisation hätten aus dem anderen Verband auszuscheiden. - Den letzten Schritt taten schließlich nur die drei konfessionellen Organisationen Innere Mission, Caritas und ZdJ sowie der Deutsche Verein Polligkeits und der minder bedeutsame ,Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege'. Für Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt sollte die Mitgliedschaft offenbleiben, außerdem für den noch zu bildenden ,Sozialhygienischen Konzern', 64 dessen Sprecher, Prof. Gonser vom d e u t schen Verein zur Bekämpfung des Mißbrauchs geistiger Getränke', bereits an der Gründungsversammlung teilnahm. Für die aufzunehmende Arbeit wurde das Gebot der Einstimmigkeit bei Abstimmungen vereinbart, wenn die angeschlossenen Verbände im Namen der Reichsgemeinschaft sprechen würden ein zentrales Anliegen vor allem für die Großverbände Innere Mission und Caritas, die andernfalls eine Majorisierung durch die wesentlich kleineren Mitgliedsorganisationen fürchten mußten. 65 II.2.3. Die Arbeitsfelder der Reichsgemeinschaft Gemäß den Voraussetzungen, unter denen sie angetreten war, beschäftigte sich die Reichsgemeinschaft in der kurzen Zeit ihres Bestehens mit einer Unzahl von Einzelproblemen, verzichtete jedoch darauf, verbindliche Richtlinien mit verpflichtendem Charakter für die angeschlossenen Verbände zu verabschieden. Schon im organisatorischen Bereich gab es Schwierigkeiten, deren man bis 1924 kaum Herr werden konnte. Das begann mit dem langwierigen Ringen um die Einrichtung einer Geschäftsstelle im zentral gelegenen Berlin, über deren Not-

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Dazu gehörten das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose, die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die Deutsche Vereinigung für Säuglingspflege, der Bund deutscher Bodenreformer, die Gesellschaft für Wohnungsreform, die Gesellschaft für Rassenhygiene sowie der Deutsche Verein zur Bekämpfung des Mißbrauchs geistiger Getränke; vgl. Prot, der Sitzung des Hauptausschusses der Reichsgemeinschaft v. 10. V. 1921; a. a. O. Der Generalsekretär des DCV, Kuno Joerger, hielt diesen Passus immerhin für so wichtig, daß er ihn den Diözesan- und Fachverbänden mitteilte; Schreiben an die Caritas-, Diözesan- und Fachverbände V.28.IV. 1921; ADCV, 460,1.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

wendigkeit an sich kein Zweifel bestand, und mit der Einsetzung eines Geschäftsführers, der schließlich mit Pfarrer Dr. Adolf Stahl, einem Mitarbeiter Polligkeits in Frankfurt, gefunden wurde. 66 Die am 12. März vereinbarten 3000 M Mitgliedsbeiträge jährlich reichten natürlich bei weitem nicht, um auch nur die Verwaltungskosten aufzufangen; hinzu kam die galoppierende Inflation, die nicht nur die angeschlossenen Organisationen in ihrer Arbeit schwer beeinträchtigte, sondern auch dem Dachverband in seinem Aktionsradius enge Grenzen setzte.67 Schließlich erwies sich das Fehlen von Arbeiterwohlfahrt und DRK als hinderlich, da beide Spitzenverbände zwar in wechselnder Regelmäßigkeit einen Vertreter zu den Ausschußsitzungen entsandten, an den Entscheidungen der Reichsgemeinschaft jedoch nicht mitwirken konnten. Auf diese Weise wurden sie stets über die neuesten Entwicklungen und Initiativen informiert, standen aber doch einer gemeinsamen Willensbildung der freien Wohlfahrtspflege nolens volens immer wieder im Wege. Andererseits war es manchen der kleineren Verbände ganz lieb, daß Rotes Kreuz und Arbeiterwohlfahrt von sich aus auf Distanz gingen. So vermerkte der Delegierte des offensichtlich im politischen Spektrum weit rechts angesiedelten Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrt und Heimatpflege gelegentlich, daß die Arbeiterwohlfahrt gegenüber dem Parteivorstand der SPD weisungsgebunden sei, Parteipolitik in der Reichsgemeinschaft aber nichts zu suchen haben dürfe.68 Die Arbeiterwohlfahrt besaß

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Stahl war vorher Auslandspfarrer in Österreich gewesen; durch Vermittlung seiner Schwester, Dr. Hilde Eiserhardt, kam er zum Deutschen Verein. Am l.VII. 1924 schied er dort aus und ging als Geschäftsführer zum Landesverband der Inneren Mission in Hessen-Nassau nach Wiesbaden. Von 1926 bis 1932 wirkte er als Direktor des CA f ü r Innere Mission und Dezernent f ü r Jugendwohlfahrtspflege in Berlin und übernahm nach dem infolge des Devaheimskandals erzwungenen Ausscheiden nahezu der gesamten CA-Führungsgruppe 1933 die Leitung der Diakonissenanstalt Altona. Seine engste Mitarbeiterin im Deutschen Verein und dann im CA war seine spätere Frau Bertha Finck, die nach 1933 in der NSVReichszentrale die Müttererholungsfürsorge (Hilfswerk,Mutter und Kind') verantwortlich mitgestaltete; Befragung B.Stahl am 3.XI.1983; s.a. Gottes Lob in 100 Jahren. Aus der Geschichte der ev.-luth. Diakonissenanstalt Altona-Alteneichen, 40-43.

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Im Rechnungsjahr 1922 betrugen die Einnahmen 392.501,54 M, denen Ausgaben von 589.195,08 M gegenüberstanden. Für März 1923 legte Stahl einen Voranschlag für die monatlichen Kosten der Berliner Geschäftsstelle in Höhe von 1 Mio. M vor; davon sollten 1 / 3 durch Reichs- und Länderzuschüsse, 1/3 durch die Spitzenverbände a u ß e r d e m Deutschen Verein und 1/3 durch den Deutschen Verein aufgebracht werden. Auf dem Höhepunkt der Inflation im September und Oktober 1923 beliefen sich die Mitgliedsbeiträge auf 580 Mio. M ; für November und Dezember gingen 21 Dollar ein. Nach Einführung der Rentenmark am 15.XI. 1923 wurden die Kosten für das Gehalt des Geschäftsführers, der Sekretärin u n d für Büromaterial auf monatlich 150 Goldmark festgesetzt. Vgl. die Prot, der Sitzungen des Verwaltungsausschusses der Reichsgemeinschaft v.28.III. 1923 und v. 16.1.1924; ADCV, 460.040,1.

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So Ökonomierat Lembke in der Sitzung des Hauptausschusses v. 10.V. 1921. Prof. Gonser gab daraufhin zu bedenken, ob man sich nicht mit dem Ausschluß der A W O jeglichen Einflusses auf die Politik des Hauptausschusses für A W O begäbe; s. das Prot., a. a. O.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

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in Polligkeit und Frau Wronsky von der ZdJ allerdings wohlwollende Sachwalter ihrer Interessen, so daß die Aversionen gegen sie dadurch teilweise aufgefangen werden konnten. Dauernd problematisch gestaltete sich gleichfalls das Verhältnis zum DRK. Seine Beobachter, vor allem Regierungsrat Grüneisen, bemühten sich zwar, so gut es ihr Status zuließ, sachlich in der Reichsgemeinschaft mitzuarbeiten, konnten aber das Mißtrauen und die Konkurrenzfurcht von Innerer Mission und Caritas letztlich nicht überwinden. Dahinter standen neben politischen auch ideologische Motive. Galt das Rote Kreuz manchem als Teil des 1918 zusammengebrochenen politischen Systems, das seine Privilegien um jeden Preis in die Republik hinüberretten wollte, so stieß auch der prononciert vertretene Anspruch weltanschaulicher Neutralität bei den konfessionellen Verbänden auf Ablehnung. Einmal hielt man das für billige Tarnung zur Konservierung überholter Machtansprüche; und außerdem waren die religiös gebundenen Organisationen davon überzeugt, daß man ohne weltanschaulichen Bezugspunkt erfolgreiche Arbeit auf wohlfahrtspflegerischem Sektor gar nicht treiben könne. 69 Die erhaltenen Sitzungsprotokolle der Reichsgemeinschaft spiegeln das in sich uneinheitliche Spektrum der Sorgen und Probleme, mit denen sich die Wohlfahrtspflege in den krisenreichen ersten Jahren der Republik auseinandersetzen mußte. Vieles an Vorschlägen zur Besserung der Lage wurde diskutiert, manches wieder fallengelassen. So etwa ein „Mahnruf gegen den Luxus", für dessen Ausarbeitung sich eigens ein Unterausschuß bildete und der als Eingabe an Regierungen und Behörden wie durch die Publikation in der Presse Bürger, Parlamente und Exekutive auf die wirtschaftliche Not der Wohlfahrtspflege mit dem Ziel hinweisen sollte, für höhere Spenden und Staatszuwendungen zu werben. Als jedoch ökonomische Gründe und außenpolitische Rücksichten gegen einen solchen Aufruf geltend gemacht wurden - der Export devisenbringender ,Luxusgüter' werde durch die mögliche Produktionseinstellung gefährdet und schädige das Reich -, verschwand das ganze Projekt rasch wieder von der Tagesordnung. 70 - Einen anderen oft erörterten Punkt bildete das Altershilfswerk des Deutschen Volkes (Deutsche Altershilfe e.V.), das auf Betreiben des Preuß. Staatskommissars für die Wohlfahrtspflege von der Reichsgemeinschaft

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70

Das Thema spielte auch bei Ausbildungsfragen des Personals der freien Wohlfahrtspflege eine zentrale Rolle; so wies CA-Direktor Johannes Steinweg auf der 1. Vorbereitungstagung der Weimarer Konferenz ,zur Beratung über die Fragen der Ausbildung zur sozialen Arbeit' (s. u.) daraufhin, daß s. E. „gewisse Tätigkeiten der Wohlfahrtspflege, die besonders viel Geduld erfordern (die Arbeit an den Gebrechlichen und Epileptikern), nur auf bekenntnismäßiger Grundlage möglich" seien; Sitzungsprot. V.2.IX. 1921, a.a.O. Ähnlich argumentierte P. Helmuth Schreiner 1925 in seiner Broschüre ,Der Ruin der freien Wohlfahrtspflege durch ihre Freunde', 13 ff. Vgl. die Prot, der Hauptausschußsitzungen v. 10.V.u. 2.IX. 1921 sowie das Prot, der Sitzung des Unterausschusses ,zur Beratung des Mahnrufes gegen den Luxus' v. 8. VI. 1921, a. a. O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

in eigene Regie übernommen werden sollte. Die Altershilfe unterhielt keine Heime, sondern versuchte durch die Beschaffung der notwendigen Mittel für den Unterhalt und den Neubau entsprechender Einrichtungen mittels öffentlicher Gelder und (Straßen-)Sammlungen die Altersfürsorge auf breiter Grundlage zu sichern.71 - Wichtige Probleme, die den Mitgliedsverbänden der Reichsgemeinschaft Kopfzerbrechen bereiteten, waren ferner die Ausbildung des erforderlichen wohlfahrtspflegerischen Personals, das durch die Ausweitung der Aufgabenbereiche nach 1918 vermehrt benötigt wurde, ebenso die staatliche Anerkennung dieser Studiengänge. Eine vom 24. bis 26. Oktober 1921 von der Reichsgemeinschaft nach Weimar einberufene Fachkonferenz im Zusammenhang mit dem Fürsorgetag des Deutschen Vereins „über die Fragen der Ausbildung zur sozialen Arbeit" wurde durch eine gesonderte Kommission sorgfältig vorbereitet und gibt Aufschluß über die Vorstellungen der einzelnen Träger, die wie Innere Mission und Caritas bekannte Fachleute zu den beiden Einführungstagungen schickten.72 In der Hauptsache ging es um das Problem, ob für die soziale Berufsarbeit eine akademische Grundlage notwendig sei oder nicht, ob dazu ein eigener Studiengang ,Wohlfahrtskunde' geschaffen werden solle, der auf einem Grundstudium der Nationalökonomie aufbauen könne, wie Caritasdirektor Dr. Weber aus Münster vorschlug, oder ob die Einführung eines etwa einjährigen Aufbaustudiums in Anschluß an ein beliebiges anderes Fach praktikabler sei. Dr. Studders, der neue Geschäftsführer des Deutschen Vereins, setzte sich energisch für letztere Lösung ein; ein neuer Studiengang eröffne angesichts der geringen arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten seinen Absolventen kaum Aussichten, außerhalb der Wohlfahrtspflege unterzukommen. Ministerialrätin Gertrud Bäumer aus dem Reichsministerium des Innern, bei welchem die Federführung für die gesetzgeberischen Initiativen auf dem Sektor Jugendwohlfahrt lag, wandte sich gegen Volkswirtschaft als Grundlage und plädierte statt dessen für eine soziologisch-pädagogische Ausbildung auf der obligatorischen Basis der neuen Universitätsdisziplin Soziologie. Einig waren sich die Teilnehmer in der Auffassung, alle wohlfahrtspflegerischen Berufe in Erziehungs- und Gesinnungsgemeinschaften integrieren zu sollen, da soziale Arbeit grundsätzlich

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Prot. v.4.VII., 2.IX. und l . X . 1921, a.a.O. Prot, der 1. u. 2. vorbereitenden Sitzung der Konf. ,zur Beratung über die Fragen der Ausbildung zur sozialen Arbeit' V.2.IX. U.30.IX/1.X. 1921, a.a.O. Von Seiten der Inneren Mission waren vertreten: Pfr. Lic. Paul Erfurth/Elberfeld, der sich im folgenden Jahr für das Fach,Innere Mission' an dertheol. Fakultät der Rheinischen Wilhelms-Universität habilitierte, Direktor Lic. Johannes Steinweg vom CA, die Leiterin der Sozialen Frauenschule der Inneren Mission, Gräfin Schulenburg, und Pfr. Karl-Wilhelm Backhausen/HannoverKleefeld, der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fürsorgeerziehungstages. Zur Weimarer Tagung selbst, von der ein Protokoll nicht erhalten scheint, vgl. den Bericht von Maria Kröhne: Zentralblatt f. Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und Fürsorgeerziehung 13.1921/22,164-166.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

123

von weltanschaulichen Bindungen abhänge. Die sich daraus ergebende, an sich logische Konsequenz, daß dann auch die Arbeiterwohlfahrt eigene Aus- und Weiterbildungsstätten einrichten müsse, verfiel allerdings der Ablehnung, weil damit „eine Beschränkung des Urteils und eine geistige Trennung der Menschen durch die Darbietung einer einseitig orientierten Grundlage eintreten müßte", wie Dr. Ollendorf von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden unter einhelliger Zustimmung der Anwesenden bemerkte. Für die nicht religiös fixierten Träger brachte Siddy Wronsky, die hier das Archiv für Wohlfahrtspflege und nicht den ZdJ vertrat, den Settlement-Gedanken zur Stärkung interkonfessioneller Gemeinschaftsbildung ins Spiel,73 worüber die Konferenz jedoch hinwegging. Neben den akademischen Berufsfeldern, die nur für Führungspositionen der Wohlfahrtspflege in Frage kommen sollten, beschäftigten sich die Vorkonferenzen auch mit den personellen Erfordernissen auf unterer Ebene. Caritas und Innere Mission betonten immer wieder das Vorbild der Orden, Diakonissenund Diakonenanstalten und den für sie zentralen Gedanken der religiösen Erziehung, die gleichberechtigt an die Seite der eigentlichen Fachausbildung treten sollte. Man bezog sich dabei pointiert auf traditionelle Denkmuster und zeigte eine gewisse Distanzierung gegenüber der ,ProfessionaIisierung' des Berufsbildes Wohlfahrtspflege, etwa wenn der Freiburger DCV-Referent für Jugendfürsorge, Josef Beeking, warnte, es komme nicht auf Examina an, sondern auf Menschen, die aus religiöser Gesinnung Caritas trieben. Von evangelischer Seite entwarfen die Pfarrer Erfurth und Backhausen ein an herkömmlicher Diakonen- bzw. Diakonissenschulung orientiertes Erziehungs- und Ausbildungsideal, dessen Verwurzelung in gesellschaftlichen Normierungen des 19. Jahrhunderts unverkennbar war und der konzeptionellen Neuorientierung der deutschen Wohlfahrtspflege nach dem Kriege im Grunde kaum gerecht werden konnte. 74 Immerhin nahm die Weimarer Konferenz diese Gedanken in einer 73

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Einen zusammenfassenden Abriß zur Geschichte der aus England kommenden Settlement-Bewegung bietet Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, 125 ff. Zu ähnlichen Initiativen auf protestantisch-konfessioneller Grundlage in Deutschland (Friedrich SiegmundSchultze) vgl. ders., 137, und Jörg KnifTka, Das kirchliche Leben in Berlin-Ost in der Mitte der zwanziger Jahre. Erfurth: „Die Gesinnungsgemeinschaft erzieht die Mitschwester zur Demut, [...] die die [sc. christliche] Wohlfahrtspflege [- über das Humanitätsideal hinausgehend - ] als Liebesschuld der Gemeinschaft und des einzelnen empfindet. Zum Opfer in jedem Sinne bereit, sind die Mitschwestern innerhalb der Gesinnungsgemeinschaft zur freiwilligen Unterordnung zu erziehen, ohne die eine Organisation nicht möglich ist." Backhausen: „Ziel der Ausbildung ist es, den Diakon den Geist der Inneren Missionsarbeit in seiner ganzen Tiefe erleben zu lassen [...]. Der Diakon muß jede Arbeit tun, die ihm zugewiesen wird. Das ist der erste Prüfstein für seine Eignung, denn der Dienst an den Menschen verlangt Opfer, wenn er nicht darauf eingestellt ist, kann er die Innere Missionsarbeit nicht leisten." Vgl. Prot. v. 30.IX./1.X.1921, a.a.O. - Zur damaligen Ausbildungssituation im katholischen Bereich aus der Perspektive kirchlicher Zeitgeschichte vgl. neuerdings Hans-Josef Wollasch, Beiträge zur Geschichte der deutschen Caritas, Kap. 4 u. 5.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

besonderen Resolution auf, in der „die unbedingte Notwendigkeit einer inneren ethischen Verwurzlung des Wohlfahrtsbeamten mit seinem Berufe" betont und festgestellt wurde, „daß aus den Erfahrungen der in langer Arbeit bewährten Schulung und Erziehung der konfessionellen Wohlfahrtspflege auch die neuen Formen der Schulung zur Wohlfahrtspflege Nutzen ziehen" könnten. 75 Die skizzierten Themenkreise illustrieren ausgewählte Einzelfälle aus jenem letztlich nur schmalen Wirkungsbereich der Reichsgemeinschaft, den sie alleinverantwortlich bearbeitete. Zentralere Anliegen der Wohlfahrtspflege in den beiden Jahren bis zur Stabilisierung der Währung wurden, wie zu zeigen ist, auf Ebenen verhandelt und Entscheidungen zugeführt, an denen die Reichsgemeinschaft wegen ihrer satzungsbedingten restriktiven Konstruktion als ein Diskussionsforum der Wohlfahrtspflege unter anderen - ohne Richtlinienkompetenzen und zur Einstimmigkeit verurteilt - nur beschränkt Anteil nehmen konnte. II.2.4. Finanzprobleme derfreien Wohlfahrtspflege und die Stellung des Reichsarbeitsministeriums Dasjenige Thema, das die Mitgliedsverbände der Reichsgemeinschaft zwischen 1921 und 1924 mehr als alles andere beschäftigte, war die angesichts der rapiden Geldentwertung nicht mehr mögliche Konsolidierung der Finanzen aus eigener Kraft, d. h. durch Spendenaufkommen, kirchliche Beihilfen etc.76 Obwohl diese Frage den Großteil der Plenums- und Ausschußsitzungen immer wieder in Anspruch nahm, zeigten sich sehr bald die angedeuteten engen Grenzen einer Einwirkung der Gemeinschaft auf die Lösung der teilweise existenzbedrohenden Probleme für die zahlreichen Anstalten und anderen Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Ohne Staatshilfe und ohne Beteiligung der beiden der Gemeinschaft nicht angehörenden Spitzenverbände Arbeiterwohlfahrt und Deutsches Rotes Kreuz blieben die Initiativen der Gemeinschaft eher akademische Veranstaltungen', was den Mitgliedern auch bewußt war. Ein selten ausgesprochener, wenngleich auf Dauer belastender Dissens schälte sich zudem im Laufe der Zeit zwischen jenen Verbänden, die ,nur' theoretisch wohlfahrtspflegerisch wirkten, und denen heraus, die wie Innere Mission und Caritas für große Anstalten verantwortlich waren, d.h. .praktische' Wohlfahrtspflege trieben. Die .Praktiker' benötigten öffentliche Geldzuwendungen wesentlich dringlicher als diejenigen Verbände, die wie der ,Sozialhygienische Konzern' oder der Frankfurter Deutsche Verein zwar konzeptionell viel leisteten, dessenungeachtet aber

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Vgl. den Konferenz-Bericht von Maria Kröhne, a . a . O . , 165. Zur Vorkriegsfinanzierung der freien Wohlfahrtspflege vgl. den 1912 von Albert Levy für den Deutschen Verein erstatteten (gedruckten) Bericht: ,Die Beschaffung der Geldmittel für die Bestrebungen der freien Liebestätigkeit'.

11.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

125

neben Personalkosten für Geschäftsführung, Zeitschriften und wissenschaftliche Dienste vergleichsweise nur geringe Mittel aufzuwenden hatten. Es lag nahe, daß sich in diesen wirtschaftlichen Notzeiten bisher unbekannten Ausmaßes das ,Krisenmanagement' dort konzentrierte, wo die unmittelbare Betroffenheit am größten war: Der Reichsverband der freien gemeinnützigen privaten Kranken- und Pflegeanstalten und der Wirtschaftsbund trugen die ganze Last der katastrophalen Versorgungslage und gewannen neben der Reichsgemeinschaft, deren Mitglieder freilich zum größeren Teil auch hier vertreten waren, ständig an Bedeutung. Auf diese Weise bildeten sich sozusagen an ihr vorbei informelle neue Führungs- und Entscheidungszentren der freien Wohlfahrtspflege, in denen die eigentlich der Reichsgemeinschaft vorbehaltene Arbeit getan wurde und in denen die zuständigen Ministerien auf Länder- und Reichsebene kompetente Ansprechpartner fanden. Natürlich ging diese Bedeutungsverschiebung nur langsam vonstatten und wurde allen Beteiligten erst recht bewußt, als die Entwicklung irreversibel geworden war. Vielleicht kann damit erklärt werden, warum innerhalb der Gemeinschaft vor März 1923 keine kritischen Stimmen laut wurden, die auf die Machtlosigkeit des Dachverbandes hingewiesen und Vorschläge zur Abhilfe unterbreitet hätten. Seit Mitte 1922 wurde die Finanznot der Anstalten täglich drückender; die Pflegesätze deckten die entstehenden Kosten längst nicht mehr, und das Spendenaufkommen, mit dem die freien Verbände vor dem Kriege die meisten anderen Verpflichtungen hatten erfüllen können, sank derart rapide, daß schnelle Staatshilfe unumgänglich war, wollte man nicht den Zusammenbruch der gesamten Wohlfahrtspflege riskieren.77 Kriegsanleihen und Inflation hatten in vielen Fällen das Vermögen ,milder Stiftungen' aufgezehrt, so daß gerade auch traditionsreiche konfessionelle Einrichtungen vor dem finanziellen Ruin standen. Vielfach wurden Eingaben an Regierungen und Behörden gerichtet, in denen m a n über Unzulänglichkeiten der Versorgung mit Brennmaterial und Nahrungsmitteln klagte und zum Teil drastische Belege dafür beibrachte, wie ausweglos die Situation inzwischen tatsächlich geworden war. 78 Presse und Parlament griffen das Thema auf und drängten die Regierung zum Handeln. 7 9 Daraufhin stellte das

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Vgl. das Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten an den Staatskommissar für die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege in Preußen v. l.VII. 1922; ADW, CA 1195, Z 2. S. Eingabe des Vereins der Krankenhausärzte Deutschlands an den Reichskanzler V.22.VIII.1922. Am 7.XII.1922 richtete das Berliner Elisabeth-Stift einen Hilferuf an das RAM: Auch bei einem Pflegesatz von täglich 100 M sei die Versorgung der alten und gebrechlichen weiblichen Patienten nicht mehr zu gewährleisten. Wöchentlich stünden pro Person 125 Gramm Fett, ferner nur 20 Liter Milch für insgesamt 200 Personen zur Verfügung; ADW, CA 1195, Z I . Amalie Lauer, MdL, „Die Not der privaten gemeinnützigen Wohlfahrtsanstalten", in: Kölnische Volkszeitung V.30.X.1922, und Vorwärts Nr.514v.31.X.1922, Art. „Ein Hilferuf der Hilfewilligen. Die Wohlfahrtspflege vor dem Zusammenbruch".

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Reichskabinett Mitte Oktober zunächst 500 Mio., Anfang November des Jahres sogar 1 Mrd. M „zur außerordentlichen, auf Antrag zu gewährenden Beihilfe zur Unterstützung gemeinnütziger Anstalten und solcher öffentlichen Anstalten, denen aus Mitteln der Länder, der Gemeinden und der Gemeindeverbände nicht ausreichend geholfen werden kann", in den Nachtragshaushalt für 1922 ein. 5/10 der Summe sollten die freie Wohlfahrtspflege, Berufsorganisationen mit eigenen (Alters-)Heimen sowie kommunale und gemischtwirtschaftliche Anstalten erhalten, 3/10 waren für die Länder zur Weiterleitung an solche Einrichtungen vorgesehen, die sonst keine Zuschüsse bekamen, und die verbleibenden 2/10 hielten Reichsarbeitsministerium und Reichsministerium des Innern zu ihrer freien Verfügung zurück.80 Die Lage erschien den freien Organisationen auch deswegen prekär, weil aus ihrer Sicht die Gefahr bestand, daß die kommunale Wohlfahrtspflege nun versuchen könnte, ihren Vorrang mit Hilfe der besseren finanziellen Ausstattung ihrer Einrichtungen endgültig durchzusetzen. Die Städte erhielten nämlich einen Ausgleich für die inflationsbedingten Besoldungsverluste ihrer Bediensteten, der auch den Angestellten der kommunalen Fürsorge zugute kam. So wurde es ihnen möglich, die Pflegesatzforderungen der freien Träger zu unterbieten und diesen das wichtigste ökonomische Argument für die Berechtigung einer unabhängigen Liebestätigkeit aus der Hand zu nehmen. 81 Die Reichsgemeinschaft forderte deshalb mit Blick auf die zu erwartenden Reichsmittel „nicht nur vorübergehende Hilfe, sondern Sanierung", da nur so das Selbsthilfeprinzip zu sichern sei. Damit dieses nach dem Ende der Geldentwertung erneut an die Stelle staatlicher Nothilfe treten konnte, mußte die existenzbedrohende Verschuldung aufgefangen werden, um die freien Verbände in den Stand zu versetzen, ihre Arbeit wieder eigenverantwortlich tun zu können. 82 1

Vgl. den undatierten RAM-Vermerk [Anfang Nov. 1922] und den Vermerk vom 21.XI. 1922, wonach die einzelnen Verbände folgende Gelder erhalten sollten: Innere Mission 195 Mio. M Caritas 195 Mio. M DRK 28 Mio. M ZdJ 16 Mio. M Reichsverband 16 Mio. M Arbeiterwohlfahrt 15 Mio. M Zc(n)A 5 Mio. M RAM und Rdl hielten für sich 30 Mio. zurück; ADW, a. a. O. Laut Paragraph 60 des Finanzausgleichsgesetzes [RGBl. 19231, 494] wurden den wohlfahrtspflegerischen Einrichtungen der Länder und Gemeinden 75% der inflationsbedingten Mehraufwendungen für Personalkosten erstattet; diese Regelung galt auch für diejenigen freien Verbände, die Aufgaben der öffentlichen Wohlfahrtspflege übernommen hatten. Da die Kommunen ihren Einrichtungen aber bis zu 90% der Mehrkosten erstatteten, gerieten die freien Träger wieder ins Hintertreffen. Vgl. O. v. Holbeck, Fünfundzwanzig Jahre Reichsverband, 8. Prot, der Sitzung des Verwaltungsausschusses v. 6.1.1923; ADCV, 460.040,1.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

127

Das 1919 neugebildete Reichsarbeitsministerium stand der freien Wohlfahrtshilfe grundsätzlich wohlwollend gegenüber. Die politischen Motive dafür lagen in der Tendenz des Ministeriums, zur Durchsetzung des Verfassungsgebots, das dem Reich die gesetzgeberische Initiative auf dem sozialen Sektor zusprach, die freien Träger als Gegengewicht zur kommunalen Wohlfahrtspflege besonders zu fördern. Außerdem entsprach diese Einstellung dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre, der sich eine Reihe der leitenden Beamten des Hauses mit dem langjährigen Minister und Priester Heinrich Brauns an der Spitze als Katholiken und Anhänger des Zentrums verpflichtet wußten. 83 Leiter der Wohlfahrtsabteilung (VIII) des Ministeriums und der eigentlich politische Kopf auf diesem Felde war Ministerialdirektor Dr. Erwin Ritter, dessen grundlegende Denkschrift vom 14.11.1923 über die Vorarbeiten zu einem Reichswohlfahrtsgesetz84 von dem Einfluß zeugt, den dieser Mann auf die einschlägige Gesetzgebung der Weimarer Republik genommen hat. Ihm zur Seite stand als Regierungs-, später Ministerialrätin Dr. Julia Dünner, bekannt als Herausgeberin der zweiten Auflage des .Handwörterbuchs der Wohlfahrtspflege', die - wie übrigens Ritter auch - über beste Beziehungen zum Deutschen Caritasverband verfügte und diese nicht selten zur Vorabklärung strittiger Probleme außerhalb des Dienstwegs nutzte. Vertrauensmann der Inneren Mission im Ministerium scheint der Protestant Ministerialrat Dr. Otto Wölz gewesen zu sein, der zwar in Personalfragen gelegentlich anders votierte, sonst aber die von Brauns bestimmte Politik des Hauses ohne Einschränkungen mittrug.85 An der langsamen Erosion der Reichsgemeinschaft war das 'Arbeitsministerium nicht ganz unschuldig. Obwohl man den Zusammenschluß der freien Wohlfahrtspflege hier mit aus der Taufe gehoben hatte, mußte man bald einsehen, wie wenig die lockere Konstruktion der Gemeinschaft den Erfordernissen des Tages gewachsen war. Das Ministerium beschritt deshalb einen neuen Weg, um die notwendige ständige Kommunikation mit den freien Trägern herzustellen. Von Januar 1923 an richtete es monatliche Sprechtage ein, zu denen ausschließlich die praktisch' arbeitenden Verbände eingeladen wurden. Neben den drei konfessionellen Vereinigungen und den beiden Kleinorganisationen Zentralwohlfahrtsausschuß der christlich(-nationalen) Arbeiterschaft 86 und Deutscher Verein

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Zur Geschichte des RAM vgl. Deutsche Sozialpolitik 1918-1928.Zu Brauns s.Hubert Mockenhaupt, Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns. Biographische Informationen zu Ritter im Lebensbild seiner Schwester: Linus Bopp, Clara Sieber (1873-1963). - Einen instruktiven knappen Abriß der katholischen Soziallehre bieten Stephan H. Pfürtner/Werner Heierle, Einführung in die katholische Soziallehre. Abgedruckt bei Julia Dünner (Hg.), Reichsfürsorgerecht, 74 ff. Näheres dazu s. w. u. Wölz gehörte als Protestant natürlich nicht zur Zentrumsfraktion des Ministeriums, sondern war Mitglied der D D P ; cf. Florian Tennstedt, „Fürsorgegeschichte und Vereinsgeschichte", 88. Der Zc(n)A bestand je zur Hälfte aus Vertretern der christlichen Gewerkschaften und kon-

II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

128

für l ä n d l i c h e Wohlfahrts- und H e i m a t p f l e g e w a r e n hier e n d l i c h a u c h Arbeiterw o h l f a h r t u n d R o t e s K r e u z vertreten, nicht a b e r d e r F r a n k f u r t e r D e u t s c h e Verein, d e r nur d u r c h eine a d p e r s o n a m Polligkeits geltende r e g e l m ä ß i g e E i n l a d u n g zu d e n Sitzungen Z u g a n g hatte. 8 7 U n t e r d e r Verhandlungsführung Ritters f a n d d e r erste S p r e c h t a g a m 15. J a n u a r 1 9 2 3 i m Reichsarbeitsministerium statt. O b s c h o n d e r S p i t z e n b e a m t e in s e i n e m E i n f ü h r u n g s r e f e r a t betonte, m a n wolle sich hier künftig n u r m i t e i n a n d e r auss p r e c h e n , nicht a b e r ,Politik m a c h e n ' , d i e behalte sich d a s M i n i s t e r i u m

vor,

w u r d e d e n A n w e s e n d e n rasch klar, in w e l c h e m M a ß e sich Ritter u n d seine Mitarbeiter

die

genuinen

Interessen

der

freien

Wohlfahrtsverbände

zu

eigen

g e m a c h t hatten. Seine Feststellung, m a n wisse, d a ß die freie W o h l f a h r t s p f l e g e a u f G r u n d d e r wirtschaftlichen Situation nicht m e h r o h n e R e i c h s m i t t e l a u s k o m m e n k ö n n e , wie a u c h die Erklärung, d a ß sein H a u s gegen den Protest einiger L ä n d e r a u f einer Verteilung d e r Mittel d u r c h die Verbände selbst

bestehen

w e r d e , k a m allen, mit A u s n a h m e vielleicht d e r Arbeiterwohlfahrt, m e h r als entg e g e n . D a s B e h a r r e n a u f der Bettenzahl als Verteilerschlüssel begünstigte z w a r I n n e r e Mission u n d Caritas, d i e d a m i t d e n , L ö w e n a n t e i l ' d e r Z u w e n d u n g e n für sich v e r b u c h e n konnten, stieß a b e r im K r e i s der E i n g e l a d e n e n z u n ä c h s t nicht a u f P r o t e s t . 8 8 Als Ritter schließlich n o c h ergänzte, Reichsmittel w e r d e es n u r fessioneller Standesorganisationen wie katholischer Gesellenvereine und Evangelischer Arbeitervereine. Er war in Reaktion auf die Gründung der AWO entstanden, um die nichtsozialistische Arbeiterschaft an den öffentlichen Mitteln für die freie Wohlfahrtspflege partizipieren lassen zu können. Seine Bedeutung blieb gering; die fortdauernde Mitgliedschaft in Reichsgemeinschaft und später Liga ist wohl nur als Zugeständnis an die Interessenlage des stark an den politischen Vorstellungen des Zentrums orientierten Reichsarbeitsministeriums zu verstehen; vgl. Otto v.Holbeck, Grundzüge der Organisation der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland, 14. 87

Dagegen protestierte der Deutsche Verein in einem Schreiben vom 11.1.1923 an das R A M . Auch der Hauptausschuß für AWO, der Zc(n)A und der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrt und Heimatpflege trieben keine praktische' Fürsorge, sondern organisierten diese nur als Dachverbände. Andererseits sei gerade der Deutsche Verein in seiner Zielsetzung auf praktische Tätigkeit fixiert; das Ministerium werde nicht bestreiten, daß man praktische Arbeit leiste „im Sinne der Entfaltung von Aktivität und Initiative". Wie aus einem von Julia Dünner angefertigten RAM-Vermerk v.9.11.1923 hervorgeht, sprach Polligkeit Anfang Februar selbst im Ministerium vor. Man versicherte ihm, daß er als Vertreter der Reichsgemeinschaft jederzeit eine Einladung erhalten werde, daß man aber daran festhalte, auch weiterhin nur Verbände der „tätigen Wohlfahrtspflege" zu den Sprechtagen zu bitten. Das habe Polligkeit akzeptiert; A D W , C A 1195, Z 2. - Wahrscheinlich wurde damit der Anfang für eine tiefgehende, auch persönliche Verstimmung zwischen dem Deutschen Verein und den leitenden Beamten des R A M gelegt; es ist auffällig, daß noch in den Publikationen des DV, die nach 1945 erschienen, die Leistung von Ritter und Frau Dünner nicht eigens gewürdigt wird; cf. die Biogramme in den beiden Arbeiten von Carl Ludwig Krug von Nidda von 1955 und 1961.

88

Später beklagte sich vor allem die Arbeiterwohlfahrt über ihre Benachteiligung bei der Mittelvergabe, da sie als erst nach 1918 entstandene Organisation naturgemäß nur über wenige Einrichtungen verfüge, auf die der ,BettenschlüsseI' zuträfe. Die,Lobby' der konfessionel-

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden derfreien Wohlfahrtspflege

129

geben, wenn die Höhe der Pflegesätze den tatsächlichen inflationsbedingten Kostensteigerungen angepaßt würde, konnten die Verbände mit dem Ergebnis dieses ersten Sprechtages zufrieden sein. In allen wesentlichen Punkten war Einigkeit erzielt worden: Man kann von einer Interessenkoalition sprechen, die das Arbeitsministerium mit der freien Wohlfahrtspflege einging. Dies geschah zwar mit der Nebenabsicht, die kommunalen und Länder-Fürsorgeverbände zurückzudrängen und die Reichskompetenzen zu wahren, vermittelte aber andererseits den freien Trägern, denen das nur recht sein konnte, eine realistische Chance, die wirtschaftliche Notlage mit vereinten Kräften doch noch zu bewältigen. II.2.4.1. Die Gründung der Hilfskasse (Hika) Je enger eine - ohne schlagkräftigen Dachverband geeinte und agierende - freie Wohlfahrtspflege mit dem Reichsarbeitsministerium kooperierte, desto mehr wuchs der von hier ausgehende politische Einfluß auf die einzelnen Verbände. Die Ministerialbeamten erkannten durchaus die Probleme, die sich durch steigende Staatszuwendungen auf lange Sicht für die Selbständigkeit der freien Liebestätigkeit ergaben: Gewöhnung und Abhängigkeit von Dauerzuschüssen mußten letztlich die Eigenständigkeit der Verbände zerstören und damit eine Entwicklung heraufbeschwören, der alle Beteiligten gerade vorbeugen wollten.89 Die Wohlfahrtsabteilung des Reichsarbeitsministeriums drängte die Spitzenverbände deshalb immer wieder, sich fester zusammenzuschließen. ,Hilfe durch Selbsthilfe' auch in Krisenzeiten lautete die ausgegebene Parole. Wölz, der an einem der nächsten Sprechtage über die Sanierung der Kranken- und Pflegeanstalten referierte, verstand darunter die Ausschöpfung aller Rationalisierungsmöglichkeiten im wirtschaftlichen Bereich, die Bildung von Arbeitsgemeinschaften mit den Versicherungsträgern zur Formulierung ,planwirtschaftlicher' Richtlinien und schließlich die Gründung eines gemeinsamen Geldinstituts, mit dessen Hilfe die Reichsmittel verwaltet und die Finanzierung wohlfahrtspflegerischer Aufgaben auch mit (Auslands-)Krediten erfolgen sollte.90

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len Verbände setzte sich allerdings durch; eine von der AWO geforderte Änderung des Verteilungsmodus kam bis 1933 nicht zustande. Prinzipiell sahen das Caritas und Innere Mission genauso. Eine Dauerunterstützung sei „peinlich" und werde von den Verbänden selbst abgelehnt; augenblicklich benötige man jedoch staatliche Zuwendungen als ,Hilfe zur Selbsthilfe' und als Ansporn für die eigene Arbeit, führte Kreutz am 7.IV. 1923 auf einer Sonderkonferenz für die Wohlfahrtspflege in den besetzten Gebieten mit Vertretern des RAM und des Rdl aus; cf. Prot, in ADW, CA 1195, Z 2. Prot, der Sitzung im RAM am 12.11.1923; ADCV, R 297 b I. Die Bezeichnung,Wohlfahrtsbank' für die Hilfskasse (Hika) lehnte Wölz ab, es handele sich eigentlich nur um ein Finanzierungsinstitut; s. Sprechtag-Prot. v. 12.111.1923, a.a.O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Unter Umgehung der Reichsgemeinschaft legten die an einem solchen Geldinstitut eben aus Kreditgründen interessierten Spitzenverbände dem Reichsarbeitsministerium am 16.1.1923 eine Denkschrift vor, die Notwendigkeit und Nutzen einer gemeinsamen Bank darlegen sollte.91 Dabei rechnete man natürlich auf die zugesagten Reichsmittel und kalkulierte das berechtigte und diesen Plänen entgegenkommende Anliegen des Ministeriums mit ein, die Verteilung dieser Gelder möglichst überschaubar und effizient zu gestalten. Nach einer vorbereitenden Zusammenkunft zwischen Vertretern der freien Wohlfahrtspflege und des Reichsarbeitsministeriums Mitte Februar, auf der Wölz eine Kapitalhilfe für die zukünftige ,Hilfskasse' (Hika) in Aussicht stellte, wurde die Bank am 10. März 1923 mit einem Stammkapital von 800.000 M, von denen Innere Mission und Caritas je ein Viertel einbrachten, offiziell gegründet. Beteiligt waren neben den genannten konfessionellen Verbänden vor allem die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, der Wirtschaftsbund und die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden. Arbeiterwohlfahrt und Kleinverbände, die (noch) keine Krankenanstalten unterhielten, blieben, was die Selbstverwaltungsgremien der Hika anging, wiederum ohne Berücksichtigung, obwohl die ihnen zustehenden Gelder ebenfalls über die neue Bank ausgezahlt werden sollten. Vier Aufgabenbereiche der Hika sah die Satzung vor: Beschaffung von Mitteln im In- und Ausland, Gewährung von Darlehen aus diesem Kapital an gemeinnützige Wohlfahrtseinrichtungen, die Verwaltung der Sparguthaben solcher Verbände und ihre sachkundige Beratung in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht. Die zu erwartenden Gewinne sollten nicht ausgeschüttet, sondern einem Reservefonds zugeführt werden, aus dem den Mitgliedern dann wieder zinsgünstige Kredite gewährt werden konnten. 92 Tatsächlich erarbeitete die Hilfskasse bereits im ersten Jahr ihres Bestehens einen Überschuß. Sie hatte großen Anteil an der Bewältigung der durch die Geldentwertung hervorgerufenen Finanzierungsprobleme und konnte mit Hilfe der Reichszuschüsse ihre Inflationsverluste an Eigenkapital - am Tag des Währungsschnitts betrug dieses noch ganze 160 Goldmark - schon 1924 wieder aus-

91

Soweit nicht anders angegeben, das Folgende nach Harry Nitsch, Sozialwirtschaft zwischen Soll und Haben 1923-1973. - Am 19.11.1923 beschwerte sich namens der Reichsgemeinschaft Polligkeit beim Präsidenten des DCV, Benedict Kreutz, über die beabsichtigte Neugründung, von der er offiziell bisher nichts erfahren habe. Zwar gebe es mit dem .Hilfswerk der deutschen Wohlfahrtsorganisationen GmbH' bereits eine derartige Einrichtung, die Reichsgemeinschaft trage den Entschluß, eine neue Hilfskasse zu gründen, jedoch mit. Es sei langsam an der Zeit, das Verhältnis der Reichsgemeinschaft zum Reichsverband wie auch zum Wirtschaftsbund zu klären, damit die anvisierte Arbeitsgemeinschaft aller Trägerverbände endlich Wirklichkeit werde; ADCV, 460,1.

92

Nitsch, a.a.O., 26. Zu den Aufgaben der Bank, wie sie das RAM sah, vgl. das Prot, des Sprechtages v. 12.111.1923; ADCV, R 297 b I.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege

131

gleichen.93 Dabei spielten nicht unbeträchtliche Restgelder aus dem Fonds des Finanzausgleichsgesetzes, die noch nicht ausgezahlt worden waren und nun der Hika für Darlehnszwecke zur Verfügung gestellt wurden, eine Rolle.94 - In den wenigen verbleibenden Monaten bis zur Einführung der Rentenmark kümmerte sich die Hilfskasse vor allem um die Verteilung der Kohlekreditmittel, die binnen kurzem astronomische Höhen erreichten, ohne die Versorgung mit Heizmaterial für den Winter 1923/24 sichern zu können. Waren im April 1923 noch Reichszuschüsse für das laufende Jahr in Höhe von 20 Mrd. M im Gespräch, 95 so schnellte dieser Betrag bis zum Juli auf 100 Mrd. empor und belief sich endlich im Spätherbst des Jahres auf 11,5 Billionen M. Im Juli 1923 kostete der Zentner Hausbrand 100.000 Mark; die Anstalten hätten für diese Summe also 50.000 Tonnen kaufen können, aber das auch nur, wenn das Geld unverzüglich für diesen Zweck eingesetzt worden wäre. Erstens war das gar nicht der Fall, und außerdem hatte man 1 Mio. Tonnen für eine hinreichende Versorgung der Einrichtungen veranschlagt und beantragt. Da dem Reichskohlekommissar 1923 jedoch nur 1 Mio. Tonnen für die Gesamtbevölkerung monatlich zur Verfügung standen, blieb die Situation auch ohne die Auswirkungen der Inflation äußerst gespannt. 96 - Große Befürchtungen hegte man angesichts des erwarteten Währungsschnitts hinsichtlich einer Devisenzwangsbewirtschaftung, die die Auslandsguthaben der Verbände gefährdet und die Erfüllung ihrer nur in harter Währung finanzierbaren Verpflichtungen gegenüber Arbeitsfeldern mit langer Tradition wie Seemannsheimen, Auswandererhilfe, aber auch Auslandsdienstreisen erschwert oder unmöglich gemacht hätte. 97 Die Reichsgemeinschaft wandte sich deshalb Ende September 1923 an den Reichskommissar für Devisenerfassung wegen einer Sondergenehmigung für ausländische Guthaben und Spendenmittel. Da es sich ausschließlich um Liebesgaben in fremder Währung handele, bitte man um Gleichstellung dieser Gelder mit gespendeten, zollfrei eingeführten Naturalien. Wenn das Ausland von einer Beschlagnahme der

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Am 10.XII.1923 beschloß der Aufsichtsrat, die Papiermark- und Kohlenkredite abzuschreiben, d. h. die Anstalten mußten davon nichts zurückzahlen, was ihrer wirtschaftlichen Gesundung sehr zugute kam. 1924 wurde das Eigenkapital auf 160.000 RM, 1926 auf 500.000 RM erhöht; Nitsch, a.a.O.,32.35. Mitte Januar besaß die Hilfskasse noch 45.703 Goldmark aus den Dezemberzahlungen nach Paragr.61 Finanzausgleichsgesetz. Im März standen dem RAM insgesamt 4 Mio. Goldmark aus diesem Fonds zur Verfügung. Vgl. das Prot, der Sitzung des Verwaltungsausschusses der Reichsgemeinschaft v. 16.1.1924, ADCV, 460.040,1, und den Aktenvermerk Julia Dünners über eine Besprechung zwischen ihr, Wölz und den Vertretern der Spitzenverbände am 22.111.1924; ADW, CA 1195, Z 2. Vgl. das Sprechtag-Prot. v. 23.IV. 1923; A D W , C A / G 100100/1. S. die Ausführungen des Beigeordneten Dr. Beisiegel/RAM im Prot, des Sprechtages v. 23.VII. 1923; A D W , CA 1195, Z 2. Vgl. die Verordnung des Reichspräsidenten über die Devisenerfassung V.7.IX. 1923, RGBl. 19231,865-869.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Spenden durch das Reich erfahre, werde der Strom solcher finanziellen Hilfsmaßnahmen gewiß versiegen. 98 Es wird nicht überliefert, ob diese Eingabe Erfolg hatte oder ob ihre Dringlichkeit nach der Währungsreform überhaupt noch zur Debatte stand. Der Vorgang selbst ist ein kennzeichnender Hinweis auf die Lage der freien Wohlfahrtspflege im ersten Drittel der Republik. Wie die neue Staatsform hatte sich auch die Wohlfahrtspflege nach ihrer grundsätzlichen Umorientierung noch nicht konsolidieren können, weil sie infolge der Erweiterung ihrer Aufgabenbereiche und dazu in jenen wirtschaftlichen Notzeiten in zuvor nicht gekanntem Maße auf staatliche Zuwendungen angewiesen war und sich in dieser Abhängigkeit erst neue Freiräume erschließen mußte. Dazu benötigte sie - wie zu zeigen sein wird - jedoch eine geschlossene und handlungsfähige Interessenvertretung. 11.2.5. Das Ende der Reichsgemeinschaft Die Sprechtage des Reichsarbeitsministeriums boten den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege ein halboffizielles Forum, um sie im Hinblick auf die sozialund fürsorgepolitischen Initiativen der Reichsregierung auf dem laufenden zu halten; gleichzeitig verschafften sie ihnen die Gelegenheit, schon im Vorfeld der Gesetzgebung ihre Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Aber das war nur die eine Seite. Als nachteilig, ja störend empfand man die Anwesenheit der Arbeiterwohlfahrt, die das Ministerium schon aus Proporzgründen und parteipolitischen Rücksichten hinzuziehen mußte, wie auch - obschon aus anderen Motiven - die Vertretung des Deutschen Roten Kreuzes. Weil beide der Reichsgemeinschaft nicht angehörten, fehlte die Möglichkeit zur internen Vorabklärung strittiger Probleme; einheitliches und entschlossenes Auftreten gegenüber der Exekutive schien so erschwert." Da auch die Reichsgemeinschaft in der bestehenden Form an Einfluß verlor und wie im geschilderten Fall der Hilfskasse zunehmend von Ministerien und Fachverbänden übergangen wurde, stellte sich seit dem Frühjahr 1923 die Frage einer Umstrukturierung immer drängender. Außerdem hatte der 1920 gegründete Reichsverband der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten inzwischen ein bemerkenswertes Eigenleben entwickelt. Den hinter ihm stehenden drei konfessionellen Verbänden, dem D R K und einer nicht unbeträchtlichen Zahl weltanschaulich oder traditio98

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Schreiben der Reichsgemeinschaft an den Reichskommissar für Devisenerfassung v. 22.IX. 1923; ADCV, 460,1. Am 23.IV. 1923 beschloß der Verwaltungsausschuß der Reichsgemeinschaft ein VierPunkte-Papier, dessen wichtigster Passus lautete: „Die Vertreter der freien Wohlfahrtspflege wünschen: 1) die Möglichkeit zu haben, in Form einer Organisation zu ungezwungenen Aussprachen und gemeinsamen Beratungen unter Ausschluß aller behördlichen, gemischten und Fachorganisationen und allen nicht zur freien Wohlfahrtspflege gehörenden Stellen..."; ADCV, 460.060,1.

II.2. Die Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege 133 nell-politisch nicht gebundener Einrichtungen floß über den Reichsverband die Masse der für die freie Wohlfahrtspflege bestimmten Reichsmittel zu. Das stärkte sein Gewicht, machte aber auch den an keine Großorganisation angelehnten ,freien' Anstalten bewußt, daß sie weder in der Reichsgemeinschaft noch bei den Sprechtagen des Reichsarbeitsministeriums angemessen vertreten waren. Sie suchten deshalb Anschluß an eine Reichsgemeinschaft neuer Art, für deren Bildung sie intensive Vorarbeit leisteten. Unter Führung des Berliner Pädiaters Prof. Leo Langstein formte sich aus diesen Einrichtungen der dann 1924 gegründete ,Fünfte Wohlfahrtsverband', ab 1931 paritätischer Wohlfahrtsverband'. 100 Er setzte sich gegen den erklärten Widerstand von Caritas und Deutschem Verein durch, wobei Prälat Kreutz sich mehr darüber sorgte, daß damit eigentlich den Altverbänden zustehende Gelder mit der neuen Organisation geteilt werden müßten, während Polligkeit kritisierte, der 5. Verband vertrete keine leitende Idee und sei nur als Geldverteilungsorganisation zustande gekommen.101 Als auch das Rote Kreuz in Aussicht stellte, sich der reformierten Reichsgemeinschaft anzuschließen, sobald diese nur noch ein arbeitsfähiges Gremium von Hauptverbänden umfassen werde, setzte die Diskussion um eine Umgestaltung offen ein. In der Sitzung des Verwaltungsausschusses am 28. März 1923 rekapitulierte Polligkeit noch einmal die Entstehungsgeschichte der alten Reichsgemeinschaft: Seinerzeit sei ausdrücklich darauf verzichtet worden, sie als „Kuppelbau", als streng gegliederten Dachverband der deutschen Wohlfahrtspflege zu konstruieren; nicht ein „Parlament zum Meinungsaustausch, sondern eine arbeitsfähige Gemeinschaft zur Inangriffnahme bestimmter Aufgaben" habe man schaffen wollen. Die erste Lösung hätte zu viele Konflikte produziert und die sachliche Arbeit auf bestimmten, eng umrissenen Sektoren verhindert. Aus diesen Gründen habe man Abstimmungen bewußt ausgeschlossen und sich auf die einvernehmliche Regelung der Bereiche Ausbildung, Organisation und Finanzen beschränkt. - Caritas und Innere Mission ließen sich auf diese Argumentation indes nicht ein und forderten den baldigen Umbau der Reichsgemeinschaft in Richtung eines Zusammenschlusses nur der Spitzenverbände. Damit aber war für die nicht praktisch' ausgerichteten Organisationen kein Platz mehr; obwohl es niemand offen aussprach, mußte dies die Konsequenz einer Umbildung sein, die neben dem ,Sozialhygienischen Konzern' und anderen Kleinverbänden auch den Frankfurter Deutschen Verein treffen würde. Dessen häufig betontes Selbstverständnis als Bindeglied zwischen öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege dürfte hier wie bei den anderen Mischorganisationen

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Vgl. Otto v. Holbeck, Grundzüge der Organisation der freien Wohlfahrtspflege in Deutschland, 12 f. Zu den Spannungen zwischen Reichsgemeinschaft und Reichsverband s.a. ders., Fünfundzwanzig Jahre Reichsverband, 38. Sprechtag-Prot. RAM v.23.IV. 1923; ADW, C A / G 100100/1.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

den Ausschlag für die deutlich wachsende Bereitschaft der Großverbände gegeben haben, die Statuten der Reichsgemeinschaft schließlich doch nicht zu modifizieren, diese statt dessen langsam ,absterben' zu lassen und eine völlig neue übergreifende Institution zur alleinigen Interessenvertretung der freien Wohlfahrtspflege anzuvisieren. Man wollte unter sich sein und sich nicht mit Vereinen auseinandersetzen, die neben dem eigenen Anliegen wenigstens in Teilbereichen auch die Zielvorstellungen der öffentlichen Träger im Auge behielten. Offenbar hat Polligkeit diese Gefahr zu spät gesehen und nicht mehr angemessen reagieren können; die völlig periphere Rolle des Deutschen Vereins im Vorfeld der Liga-Gründung deutet darauf hin. - Ohne Rückendeckung des Reichsarbeitsministeriums wären diese Pläne wohl a priori zum Scheitern verurteilt gewesen. Zudem besaßen sie insoweit eine gewisse Inkonsequenz, als sie dem ,Problem der Arbeiterwohlfahrt' nicht Rechnung trugen; denn auch diese wollte ja freie und öffentliche/kommunale Fürsorge konzeptionell miteinander verbinden. Wenn sich wirklich nur Spitzenverbände zusammenfanden, mußte die Arbeiterwohlfahrt schon wegen ihrer politischen Bedeutung im Umfeld der punktuellen Kooperation zwischen Sozialdemokratie und Zentrum darunter sein, was man späterhin verbal auch zugestand, realiter aber stets zu hintertreiben suchte.102 Vorerst noch blieb alles beim alten; die angeschlossenen Verbände mußten die Reichsgemeinschaft nicht verlassen, und man begnügte sich einstweilen damit, neue Aufnahmeanträge abzulehnen und unverbindliche Resolutionen zu verabschieden, die der Abgrenzung von behördlichem Einfluß und einer größeren Effizienz der Gemeinschaft in der Formulierung und Durchsetzung ihrer Anliegen dienen sollten.103 Außerdem wurde - nach Überwindung erheblicher, sich auf Finanzierungsprobleme beziehender Schwierigkeiten - im Laufe des Jahres 1923 die Berliner Geschäftsstelle eingerichtet, die Pfarrer Dr. Stahl und Bertha Finck gemeinsam führten und die gleichzeitig als Berliner Vertretung des Deutschen Vereins gedacht war. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf Prof. Rott, der den ,Sozialhygienischen Konzern' inzwischen in der Reichsgemeinschaft vertrat, als Vorsitzenden. Die Wahl Rotts kann als symptomatisch für

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Prot, in ADCV, 460.040,1. Unmittelbar nach der Sitzung berichtete Caritasdirektor Heinrich Wienken darüber an die Freiburger Zentrale. Man habe eine Umgruppierung der Reichsgemeinschaft beschlossen, nachdem eingangs sogar die sofortige Auflösung im Gespräch gewesen sei. Nur auf die eindringliche Bitte Dr. Polligkeits hin dürfe der Deutsche Verein weiterhin Mitglied bleiben; ADCV, 460, 1.- Zu Wienken vgl. jetzt Martin Höllen, Heinrich Wienken, der unpolitische' Kirchenpolitiker. Prot, der Sitzung des Verwaltungsausschusses v. 23.1 V. 1923. Noch einmal gaben Dr. Polligkeit und Ökonomierat Lembke in offensichtlicher Verkennung der Sachlage die Erklärung ab, daß sie öffentliche wie private Wohlfahrtspflege in ihre Verbandsarbeit einbezögen und damit die Plattform für eine fruchtbare Diskussion beider Gruppierungen böten. - Schließlich wurde der schon genannte Grundsatzbeschluß gefaßt, auf dessen Basis man die Neuordnung der Reichsgemeinschaft durchführen wollte; vgl. Anm. 99.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

135

die Einschätzung der Lage durch die Großverbände gewertet werden: Hier hatte man einen Kompromißkandidaten gefunden, der nicht in dem Verdacht stand, durch außerordentlichen persönlichen Einsatz eine Neubelebung der Reichsgemeinschaft zu wagen und damit die längerfristigen Zielvorstellungen der etablierten Spitzenverbände zu durchkreuzen. 104 Als im Juli 1924 Stahl seinen Dienst quittierte und durch den Wechsel von Bertha Finck zum Centraiausschuß für Innere Mission die Berliner Geschäftsstelle verwaiste, 105 erfolgte angesichts der ja nicht im geheimen betriebenen Vorbereitungen zur Konstituierung einer Deutschen Wohlfahrtsliga keine Neubesetzung. Die Gründungsväter hielten es andererseits nicht für erforderlich, Rott von der formellen Bildung der Liga im Dezember des Jahres zu unterrichten. Er trat daraufhin zurück und leitete gegen hinhaltenden Widerstand des Deutschen Vereins die Auflösung der Reichsgemeinschaft ein, die nach schriftlicher Abstimmung unter den Mitgliedern - eine Konferenz mochte man dazu nicht mehr eigens einberufen - am 4. Februar 1926 per Rundschreiben erfolgte. 106

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege II.3.1. Die

Gründungsphase

Zu den dargestellten Motiven, die alte Reichsgemeinschaft durch eine Wohlfahrtsliga mit erweitertem Aufgabenbereich abzulösen, traten im Laufe der Jahre 1923/24 weitere hinzu, die den Anstoß zur Beschleunigung dieser Entwicklung

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Vgl. die Prot, der Sitzungen des Verwaltungsausschusses v. 16.1., 5.V. und 17.VI.1924; ADCV, 460.040,1. S. nochmals Abschnitt 1.2.3., Anm. 66 dieses Kapitels. Am 20. Januar 1925 teilte Rott den angeschlossenen Organisationen mit, er habe als Vorsitzender der Reichsgemeinschaft jetzt erstmals von der vollzogenen Liga-Gründung gehört; er trete zurück und schlage die Auflösung der Reichsgemeinschaft vor; ADW, CA 11951. - Die letzte gemeinsame Sitzung der Reichsgemeinschaft fand am 6. Mai des Jahres statt; die Spitzenverbände hatten dazu nur ihre ,zweite Garnitur' entsandt. Als Rott anregte, die Reichsgemeinschaft bis auf weiteres „in suspensu zu belassen", erklärten die Vertreter von IM, Caritas und ZdJ, daß nach Gründung der Wohlfahrtsliga die Reichsgemeinschaft ihrer Auffassung nach „überflüssig" geworden sei. Sie habe - so der kaufmännische Direktor des Centraiausschusses, Walter Schlunk - in Krisenzeiten Außerordentliches geleistet, dafür wolle man dankbar sein. Auf den Einwand von Frau Dr. Heynacher vom Deutschen Verein, in der Liga sei im Gegensatz zur Reichsgemeinschaft nur ein Teil der führenden Organisationen der Wohlfahrtspflege vereint, kündigten die konfessionellen Verbände ihren Austritt für den Fall an, daß man nicht über eine Liquidation der Reichsgemeinschaft beschließen werde; ADCV, 460.040, 1.- Bei der Auflösung der Reichsgemeinschaft betrug ihr Vermögen nur 484,58 RM, die den sozialhygienischen Reichsfachverbänden als Entschädigung für ihre Geschäftsführung überlassen wurden; ADCV, 460,1.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

gaben. Am 14. Februar 1923 hatte das Reichsarbeitsministerium die oben genannte Denkschrift ,über die Vorarbeiten zu einem Reichswohlfahrtsgesetz' publiziert, die deutlich die Handschrift Ritters trug und in einer Situation, die sich auf den Höhepunkt der Inflation hinbewegte, erstmals die Gleichrangigkeit der freien Träger gegenüber der öffentlichen Wohlfahrtspflege festschrieb.107 ,Geregelte Zusammenarbeit' hieß das Programm, das private und staatlich-kommunale Fürsorge vereinen sollte, denn letztere werde auf Dauer „auf die unterstützende und ergänzende Hilfe der freiwilligen Wohlfahrtspflege angewiesen" bleiben. Ihre Pionierleistungen könne man auch künftig nicht entbehren, und es sei zu überlegen, ob man anerkannten freien Einrichtungen nicht einen besonderen Status mit Schutzrechten, die sich auch auf ein Abzeichen bezögen, zugestehen solle. Allerdings dürfe sich die Kooperation mit den Behörden nicht zu einer verkappten Reglementierung entwickeln und müsse von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt sein.108 - Es kam wegen der schweren inflationsbedingten Notlage jedoch nicht zur Verabschiedung des geplanten Reichswohlfahrtsgesetzes; statt dessen wurde fast genau ein Jahr später, am 13. Februar 1924, mit Hilfe des Ermächtigungsgesetzes vom 8. Dezember 1923 die Fürsorgepflichtverordnung erlassen, die in § 5 den Einbau der freien Verbände in das Wohlfahrtswesen regelte.109 Die nunmehr neu zu schaffenden Fürsorgeverbände sollten das „Bindeglied zwischen öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege sein" und für eine reibungslose Zusammenarbeit sorgen. Sie waren außerdem gehalten, keine neuen Einrichtungen dort zu schaffen, wo solche bereits in ausreichender Weise von den freien Trägern zur Verfügung gestellt wurden. Zusammen mit den sogenannten Reichsgrundsätzen ,über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge' kam die Fürsorgegesetzgebung der Republik damit zu einem gewissen Abschluß.110 Roland Wegener urteilt über die Auswirkungen: „Die Pole Letztverantwortung des öffentlichen Trägers - bedingter Vorrang der ,freien' Vereinigungen, Zusammenarbeitsgebot zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen [...] bestimmten die weitere Entwicklung des Sachbereichs .Wohlfahrtspflege' bis in die Gegenwart." 111 107

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Abgedruckt bei Julia Dünner (Hg.), Reichsfürsorgerecht, 74-81. - Im Sprechtag-Prot, des RAM v. 12.11.1923 wird Ritter als Vf. genannt; ADCV, R 297 b I. Dünner,a.a.O.,80f. RGBl. 19231,1179 und RGBl. 19241,100-107.S.a. B. Kreutz, „Die Notverordnung über die Fürsorgepflicht vom 13.Februar 1924.Grundsätzliches und Geschichtliches", in: Caritas, Jg. 1924,34-38. RGBl. 19241, 765. Vgl. a. die Erläuterungen zu den Reichsgrundsätzen bei Dünner, a.a.O., 26-34, und B.Kreutz, „Zu § 6 der Reichsfürsorgepflichtverordnung vom 13. Februar 1924", a.a.O., 1924, 198-202.- Es handelte sich hierbei also nicht um die Reichsgrundsätze nach § 5, sondern um jene nach § 6 der Fürsorgepflichtverordnung; auf erstere konnten sich Gesetzgeber und Verbände auch nach intensivster Diskussion nicht verständigen; dazu s. Kap. 1.3.4. Staat und Verbände im Sachbereich Wohlfahrtspflege, 67. Zur Entwicklung der Fürsorge-

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

137

Der Erlaß der Fürsorgepflichtverordnung und das Inkrafttreten des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes am 13. bzw. 14. Februar 1924 signalisierten somit „eine völlige Neuregelung der öffentlichen Wohlfahrtspflege", 112 auf die mitgestaltend zu reagieren die freien Verbände nun ausdrücklich aufgefordert waren. Das hatte auf die Vorbereitungen zur Konstituierung der Deutschen Liga den wohl entscheidenden Einfluß. Andere Faktoren waren im Vergleich dazu von untergeordneter Bedeutung: So kursierten 1924 Gerüchte über die vom Bund deutscher Frauenvereine initiierte Gründung eines konkurrierenden ,Deutschen Verbandes für Wohlfahrtspflege'; und schließlich hatten inzwischen die Pläne für den Ankauf eines .deutschen Wohlfahrtshauses' im Zentrum Berlins, in dem die neue Spitzengliederung Verwaltungsräume erhalten sollte, ein konkretes Stadium erreicht.113 Auch das Reichsarbeitsministerium beteiligte sich aktiv und drängend an der Errichtung der Liga. Am 5. September wurde dem Berliner Caritasdirektor Johannes van Acken ein von Ritter und Frau Dünner ausgearbeiteter Satzungsentwurf ausgehändigt, den er „streng vertraulich" seinem Präsidenten übermitteln sollte. Da der Entwurf nicht einmal einen Passus über die anzustrebende Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege enthielt, regte van Acken in seinem Begleitschreiben an, wenigstens „aus Opportunitätsgründen" darüber etwas hinzuzufügen. 200.000 RM wolle das Ministerium „als Morgengabe" für die neue Liga bereitstellen. Der Ministerialdirektor und seine Referentin hätten sich auch schon Gedanken über ein Abzeichen der Liga gemacht, wie van Acken mit leicht ironischem Unterton Kreutz weiter berichtete. Dabei übersah er freilich die hohe Bedeutung, die solche Symbole im Rahmen der diskutierten Schutzbestimmungen für die Wohlfahrtspflege und im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das Rotkreuzzeichen inzwischen erhalten hatten. 114 Eine undatierte Denkschrift „über die Notwendigkeit einer Liga" diente innerhalb der Spitzenverbände den Beratungen der folgenden Monate als Grundlage.

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gesetzgebung in der Weimarer Republik s.a. Rolf Landwehr/Rüdeger Baron (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit, 92 ff. 161 ff. und Christoph Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, 182 ff. So der rheinische Landesgeschäftsführer der Inneren Mission, Pfr. Otto Ohl/Langenberg, in undatierten Leitsätzen über die „Neuregelung der öffentlichen Fürsorge durch Fürsorgepflichtverordnung und Reichsjugendwohlfahrtsgesetz"; ADWDü, BO, Mappen M. Prot, der RG-Sitzung V.17.VI.1924; ADCV, 460.040, l.Ain 10. Oktober d.J. wurde bekannt, daß die Hilfskasse inzwischen sogar 300.000 RM zum Ankauf des Wohlfahrtshauses in der Oranienburger Str. 13-15 aus Mitteln des RAM erhalten hatte; s.Prot. der Sitzung der fünf Reichsspitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege; ADW, C A 11951. Brief V.6.IX. 1924; ADCV, 460,1. Bei dem Entwurf von Dünner/Ritter handelte es sich vermutlich um einen der Weltkugel ähnlichen Kreis, an dessen oberen und unteren Polen je ein Kreuz angebracht war.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Sie bezog sich ausdrücklich auf die veränderte Gesetzgebung, die eine Neuorientierung erforderlich mache, damit die freie Liebestätigkeit in den Stand gesetzt werde, „aus eigener innerer Zuständigkeit heraus gleichberechtigt mit der öffentlichen Wohlfahrtspflege am Volksganzen" zu wirken. Man sei historisch älter, besitze die bessere .Infrastruktur' und könne in besonderem Maße auf Einsatzbereitschaft, Erfahrung und Effektivität der Mitarbeiterschaft bauen. Die Liga wolle die „so notwendig gewordene Volksgemeinschaft wenigstens auf einem Teilgebiet praktisch [...] verkörpern". 115 Auf dieser Basis verhandelte auch der von Innerer Mission, Caritas, ZdJ, DRK und Fünftem Verband eingesetzte Gründungsausschuß. 116 Immer wieder wurde betont, man brauche ein Forum der freien Wohlfahrtspflege, um die anstehenden Fragen „allein unter sich zu beraten". Das hieß, nur die praktisch tätigen Organisationen kamen für eine Mitgliedschaft in Frage, die manche Vertreter der konfessionellen Wohlfahrtspflege am liebsten auf Caritas und Innere Mission beschränkt gesehen hätten.117 Wesentlich gravierendere Probleme gab es mit Arbeiterwohlfahrt und Deutschem Roten Kreuz, worauf noch zurückzukommen sein wird. Jedoch waren die konfessionellen Verbände zusammen mit Langstein fest entschlossen, die Gründung so rasch wie möglich zu vollziehen. Nach Rückversicherung des Caritasverbandes beim Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, dem Breslauer Kardinal Bertram, und dem in den Westprovinzen einflußreichen Kölner Kardinal Schulte waren für Prälat Kreutz mögliche Widerstände aus kirchlicher Richtung beseitigt.118 Ob die Innere Mission sich mit dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß vor Konstituierung der Liga kurzgeschlossen hat, ist den Akten nicht zu entnehmen, mutet aber angesichts des Selbstbewußtseins und der auch organisatorischen Eigenständigkeit protestantischer Fürsorge gegenüber den verfaßten Landeskirchen unwahrscheinlich an. Trotz aller Einigkeit mußte

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1.7

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A D W , CA 11951. Ihm gehörten u.a. an: die Pfarrer Thiel/Kaiserswerth und Ohl/Langenberg für die Innere Mission, Prälat Kreutz, DCV-Generaldirektor Klieber und van Acken für die Caritas, Dr. Segall und Dr. Philipsborn für die ZdJ, Regierungsrat Grüneisen für das D R K und Prof. Langstein für den Fünften Verband; vgl. das Prot, der Sitzung der Gründungskommission V.13.XI. 1924, ADCV, 460.040,1. Solche Stimmen kamen vor allem aus Rheinland-Westfalen, wie van Acken am 29.XI. Kreutz mitteilte. Starke Vorbehalte hege man hier gegenüber der jüdischen Wohlfahrtspflege und vermutlich auch gegenüber dem Fünften Verband Langsteins; dieser halte sich aber mehr und mehr zur konfessionellen Seite und werde auch von seinen verbandsinternen Gegnern als konfessionsfreundlich eingeschätzt; offenbar schäle sich der Gegensatz .konfessionell - humanitär' dort immer schärfer heraus; ADCV, 460,1. Am 18.XI.1924 teilte Bertram mit, „daß prinzipielle Bedenken gegen den Beitritt des Caritasverbandes nicht erhoben" würden. - Bereits drei Tage vorher hatte sich Kreutz in einem ausführlichen Schreiben an Schulte gewandt, dem er vor allem die Rolle des weiterhin abseits stehenden D R K erläuterte, weil er vermutete, das Rote Kreuz werde sich intervenierend an den Kölner Erzbischof wenden; ebd.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

139

in den letzten Wochen des Jahres 1924 noch hart gerungen werden, bis am 22. Dezember der förmliche Gründungsakt - ohne Arbeiterwohlfahrt und Rotes Kreuz! - endlich vollzogen werden konnte. 11.3.2. Die Rolle von DRK und Arbeiterwohlfahrt im Vorfeld der Ligagründung Es ist im Vorhergehenden wiederholt angedeutet worden, daß die freien Wohlfahrtsverbände zum Deutschen Roten Kreuz in einer spannungsreichen Beziehung standen. Man fürchtete besonders den Führungsanspruch des 1921 als Zusammenfassung aller deutschen Rotkreuzvereine gegründeten DRK, das nach dem Kriege die Bedeutung der Friedensarbeit wesentlich stärker als zuvor akzentuierte und sich in § 2 seiner Satzungen selber eine Generalvollmacht für alle wohlfahrtspflegerischen Arbeiten zugesprochen hatte. Hinzu traten die internationalen Beziehungen, aus denen man innerhalb des D R K den verdeckten Anspruch herleitete, alle Hilfsmaßnahmen und Verbindungen mit außerdeutschen Wohlfahrtsorganisationen alleinverantwortlich zu koordinieren. 119 Da jedoch Innere Mission und Caritas im Rahmen der katholischen Weltkirche und der sich entwickelnden ökumenischen Bewegung vielfältige Kontakte und Zusammenschlüsse unterhielten, 120 wurden solche Bestrebungen des Roten Kreuzes strikt abgelehnt. Ferner muß man sich auch die Größenrelationen klarmachen: Wie eine Statistik des Reichsarbeitsministeriums aus dem Jahre 1926 nachweist, spielten die wohlfahrtspflegerischen Einrichtungen des D R K im Vergleich zu denen der konfessionellen Verbände nur eine untergeordnete Rolle; 121 die von den Rotkreuzverbänden ausgehenden Forderungen kontrastierten also auffällig mit den Leistungen, die sie auf diesem Felde erbrachten. Das an der Arbeit des D R K lebhaft interessierte Ministerium hätte an sich gegen eine federführende Stellung dieses Verbandes im Gesamtbereich der Wohlfahrtspflege nichts einzuwenden gehabt, forderte aber eine Übertragung des Rotkreuzzei-

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Vgl. nochmals das Prot, der Verhandlungen zur Gründung einer Reichsgemeinschaft v. 2.III. 1921. Wie Polligkeit darin ausführte, hatte sich schon Anfang 1920 IRK-Präsident Gustave Ador/Genf an das Auswärtige Amt mit der Bitte gewandt, das deutsche Rote Kreuz nach Art. 25 der Völkerbundssatzung auf eine neue Grundlage zu stellen. Daraufhin schlug Außenminister Simons vor, das reorganisierte Rote Kreuz mit der Außenvertretung der deutschen Wohlfahrtspflege zu betrauen. Erst die nachhaltigen Proteste der freien Verbände hätten diesen Plan zunichte gemacht. ADCV, 460.040,1. Vgl. dazu Johann Hafenbradl, CARITAS CATHOLICA. Danach unterhielten Innere Mission und Caritas zusammen 23.086 Einrichtungen der geschlossenen, halboffenen und offenen Fürsorge mit 427.105 Betten bzw. 361.538 Plätzen und 91.052 Pflegekräften. Die Vergleichszahlen für das DRK lauteten 2.766 Einrichtungen, 15.971 Betten bzw. 22.280 Plätze mit 7.935 Pflegekräften; vgl. Anlage 25 des (gedruckten) Referentenentwurfs einer „Denkschrift über die Friedensaufgaben des Roten Kreuzes und ihre Einwirkung auf die Verleihung der Rotkreuzberechtigung" v.21.IX.1927;ADW,CA/G 1001001/11.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

chens auf alle Beteiligten,122 wohl um im Schutze dieses Symbols die Tätigkeit der freien Organisationen gegenüber der kommunalen und staatlichen Fürsorge zu stärken. Außerdem dürfte man davon ausgegangen sein, daß Innere Mission und Caritas innerhalb eines nach Bettenschlüssel und Mitgliederzahl besetzten DRK-Vorstandes sehr bald eine Führungsposition eingenommen hätten. Die Einbindung des DRK in die freie Wohlfahrtspflege und die Beschneidung seiner anspruchsvollen Autonomiewünsche gehörte zu jenen Anliegen, die Erwin Ritter namens des RAM mit besonderer Hartnäckigkeit verfocht. Denn solange das DRK sich nicht in den Kreis der übrigen Verbände integrierte, war an ein effektives Zusammenwirken der gesamten freien Wohlfahrtspflege im Reich kaum zu denken. Die Versuche des Reichsarbeitsministeriums, in diesem Sinne Einfluß auf das Rote Kreuz zu nehmen, können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden; sie endeten nach vielem Hin und Her 1927 mit einer ,Niederlage' des Ministeriums, das sich vor allem in der Frage einer Übertragbarkeit des Rotkreuzzeichens auf die gesamte Wohlfahrtspflege nicht durchsetzen konnte wahrscheinlich auch, weil die außenpolitischen Interessen des Reiches auf humanitärem Sektor es geraten erscheinen ließen, dem DRK und seinem Abzeichen auch weiterhin eine gewisse Sonderstellung einzuräumen. - Schließlich kamen noch die ideologischen Faktoren hinzu: Das durch seine Eingliederung in den militärischen Sanitätsdienst und seine engen Verbindungen zu den Eliten der wilhelminischen Gesellschaft mit der Kaiserin Auguste Viktoria als Protektorin an der Spitze als besonders exklusiv geltende und einer vergangenen Epoche verpflichtete Rote Kreuz hatte die Wendung zur freien Wohlfahrtspflege erst nach dem verlorenen Kriege notgedrungen vollzogen, um das im Heeressanitätsdienst gewonnene, nun zwangsweise aufgegebene Aufgabenterrain auf zivile Arbeitsgebiete zu verlagern und dadurch seine national wie international noch bestehenden Wirkungsmöglichkeiten zu behaupten. Das wurde von den übrigen Verbänden als ein eher taktisch-politisches Manöver empfunden, mit dem das DRK, das bislang seine Mitarbeit im Gesundheitswesen primär als Vorbereitung des Kriegseinsatzes verstanden hatte, in ihr ureigenstes Gebiet als ,Konkurrenz' eindrang. Auf Skepsis stieß endlich auch das Postulat weltanschaulicher Neutralität. Wer wie Innere Mission und Caritas fest davon überzeugt war, daß eigentlich erst eine religiöse Grundhaltung wahrhafte Hilfe und eine sich gegenüber der Volksgemeinschaft verantwortlich wissende Wohlfahrtspflege ermöglichte, mußte einer Organisation mit Mißtrauen begegnen, in der sich altkonservativspätfeudale Gesinnung mit einem, wie man glaubte, weltanschaulich indifferenten, vielleicht gar laizistischen Humanitätsdenken verband. Ungeachtet all dieser Vorbehalte waren die freien Organisationen bestrebt, mit dem Roten Kreuz zusammenzuarbeiten, was ja auf ökonomisch-finanziellem

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Vgl.Anm.114.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Gebiet auch ohne größere Friktionen seit 1921 erfolgreich gelang. Die Abstimmung im Reichsverband der freien Kranken- und Pflegeanstalten, im Wirtschaftsbund und in der Hilfskasse verlief ohne besondere Komplikationen nur gegen eine Mitgliedschaft in der Reichsgemeinschaft hatte sich die Babelsberger DRK-Zentrale immer wieder gesträubt. So entstand die eigentümliche Situation, daß mit dem Roten Kreuz zwar alle anstehenden Probleme besprochen wurden, daß dieser Sachverhalt jedoch auch nach einem Konsens in strittigen Fragen nicht verbandspolitisch im Sinne einer nach außen wirkenden einheitlichen Willensbildung der freien Wohlfahrtspflege zum Ausdruck kam. Wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohung der freien Organisationen schien das aber unverzichtbar, und deshalb griff man im Frühjahr 1923 die Ankündigung des DRK hoffnungsvoll auf, es werde im Rahmen eines neuen Dachverbandes, in dem ausschließlich die in praktischer Sozialarbeit engagierten Hauptverbände vereint sein würden, als Vollmitglied mitarbeiten. 123 Doch sollte es noch anderthalb Jahre dauern, bis die Verhandlungen in ein konkretes Stadium traten. Wie schon im Vorfeld der Gründung der Reichsgemeinschaft erwies sich das DRK jetzt erneut als ,Bremser'; während sich die übrigen vier Spitzenverbände Innere Mission, Caritas, ZdJ und Fünfter Verband rasch über die Satzung verständigen konnten, bemängelten DRK-Präsident v. Winterfeldt und sein Stab zahlreiche Einzelheiten, angefangen beim Namen ,Liga' - der ja ,Bündnis' bedeute, während man lediglich eine Arbeitsgemeinschaft wolle - bis hin zu dem Passus, der einen gesetzlichen Schutz des geplanten Liga-Abzeichens vorsah, was wiederum mit dem Rotkreuzzeichen, das man exklusiv für sich beanspruchte, kollidieren konnte.' 24 Manches von den Einwänden des DRK gegen die Liga schien den Verhandlungspartnern als kleinliches Beharren auf einmal eingenommenen Positionen, und sehr zu Recht erklärte man das mit Prestigerücksichten. Eine ins Persönliche gehende Zuspitzung erfuhr der Kampf um den Liga-Beitritt des DRK, als v. Winterfeldt nach der einstimmigen Ablehnung des Satzungsentwurfes durch seinen Hauptvorstand am 28. November selbst die Initiative ergriff und nun seinerseits zu Verhandlungen über eine an den Wünschen des DRK ausgerichtete Satzung in seine Dienststelle als Landesdirektor

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Am 20.111.1923 berichtete Direktor Beutel/Innere Mission in der Sitzung des Verwaltungsausschusses der Reichsgemeinschaft von Verhandlungen mit dem DRK, in denen dieses Angebot gemacht worden war; ADCV, 460.040,1. Von Winterfeldt an den Präsidenten des Centraiausschusses V.5.XI.1924; A D W , C A 11951.- Schon vorher hatte Grüneisen als mit den Verhandlungen beauftragter DRKVertreter moniert, das Liga-Programm greife „zu stark über das in den fünf Spitzenverbänden gemeinschaftliche Interessengebiet hinaus", so daß man die Entscheidung dem erst Ende November zusammentretenden Hauptvorstand überlassen wolle; Schreiben Grüneisens an Steinweg v. 20.X. 1924, a. a. O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

bat. 125 Pfarrer Steinweg lehnte die Einladung ins Landeshaus namens der anderen Organisationen ab und schlug statt dessen eine Zusammenkunft ,auf neutralem Boden', d. h. in der Hilfskasse vor, was wiederum v. Winterfeldt als Affront auffaßte und das Treffen absagte. 126 Gleichzeitig versuchte er mit einer Beschwerde bei Prälat Kreutz über Steinwegs angeblich unfreundliches Verhalten gegenüber dem DRK einen Keil zwischen Caritas und Innere Mission zu treiben. Das gelang ihm jedoch nicht. Die vier Verbände waren sich einig darin, notfalls auf die Mitgliedschaft des Roten Kreuzes zu verzichten, und wiesen dessen Änderungsvorstellungen einmütig zurück - eine Haltung, die ihnen um so leichter fiel, als sie das Reichsarbeitsministerium hinter sich wußten. 127 Am 9. Dezember präzisierte Frhr. v.Rotenhan in einer Sitzung nochmals die Vorstellungen des DRK: Man sei nach wie vor an einem Ausbau der Beziehungen interessiert, nur nicht auf der Grundlage einer festen Organisation. Darauf könne sich sein Verband wegen seines besonderen Charakters und seiner internationalen Verflechtungen nicht einlassen. Seines Erachtens genüge eine lockere Arbeitsgemeinschaft, um die anstehenden Fragen zu besprechen. Daraufhin erinnerte ihn Steinweg unverblümt an die untergeordnete wohlfahrtspflegerische Bedeutung seines Verbandes im Vergleich zu den übrigen freien Trägern und hielt ihm vor, das Rote Kreuz gelte noch immer „als Anhängsel der Regierung", das Pochen auf Sonderrechte sei aber „ein heute überwundener Standpunkt", was nicht heiße, daß sich die Liga in die inneren Angelegenheiten des DRK einmischen wolle.128 - Damit war klar, daß mit einem Anschluß des Roten Kreuzes an die kommende Liga vorerst nicht gerechnet werden konnte. Seine Vertreter blieben auch folgerichtig fern, als die vier anderen Spitzenverbände die Liga endlich zwei Tage vor Weihnachten förmlich konstituierten. Vorher freilich hatte es noch harte Auseinandersetzungen um eine Mitgliedschaft der Arbeiterwohlfahrt gegeben, auf die noch eingegangen werden muß.

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Winterfeldt an Steinweg V.28.XI.1924; a.a.O. - In einer Resolution hatte der DRKHauptvorstand drei Bedingungen für eine Mitgliedschaft gestellt: 1. Der Liganame müsse verschwinden, auch dürfe der neue Verband keine juristische Person werden. 2. Eine Festlegung des Stimmenverhältnisses sei abzulehnen. 3. Auch die Schaffung eines gesonderten Abzeichens, das die Bedeutung des Rotkreuzzeichens beeinträchtigen könne, werde man nicht billigen: vgl. die undatierte [28.XI.] .Entschließung des Hauptvorstands des DRK'; a.a.O. Steinweg an v. Winterfeldt V.4.XII. 1924 und v. Winterfeldt an Steinweg V.5.XII.1924; a.a.O. Van Acken an Kreutz V.2.XII. 1924; ADCV, 460,1. Vgl. das Prot, der Sitzung zur Begründung einer Gemeinschaft der Reichsspitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege; ADW, CA 11951.- Nach einem Brief v. Ackens an Kreutz v. gleichen Tage kritisierte Steinweg auch die Betonung der Gesinnungsneutralität des Roten Kreuzes: „Wir sind heute Gegner des Weltanschauungsbreies." Die Liga mit ihren an unterschiedlichen Wertvorstellungen ausgerichteten Mitgliedsverbänden verkörpere das neue Neutralitätsideal; ADCV, 4601,1.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

143

Ganz anders als im Falle des Roten Kreuzes fand die Kontroverse um die Mitgliedschaft der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sozusagen unter Ausschluß der betroffenen Organisation nur im Kreise der Mitglieder der Reichsgemeinschaft statt. Was man seitens der AWO von der geplanten neuen Liga wirklich hielt, wird weder aus den Archivmaterialien noch aus dem Schrifttum des Ende 1919 entstandenen sozialdemokratischen Wohlfahrtsverbandes recht deutlich. Es sei hier die These gewagt, daß der Hauptausschuß für Arbeiterwohlfahrt selbst in sich darüber uneins war, ob er eine Mitgliedschaft anstreben sollte oder nicht. Einerseits herrschten hier die bereits geschilderten - teils verständlichen, teils von ideologischen Faktoren herrührenden - alten Ressentiments gegenüber einer vornehmlich von den beiden großen Konfessionen getragenen freien Wohlfahrtspflege; andererseits waren in der AWO kommunalpolitisch erfahrene sozialdemokratische Pragmatiker am Werk, die die Leistungen der freien Verbände in finanzieller, aber auch ideeller Hinsicht zu würdigen wußten und sich um ein gutes Verhältnis zum nicht staatlich oder kommunal bestimmten Zweig der Wohlfahrtspflege bemühten. 129 Im Gesamtspektrum der sozialistischen Parteien und ihrer sozialkulturellen Subsysteme spielte dieser Sektor, wie es scheint, eine nur untergeordnete Rolle und wurde allgemein als Betätigungsfeld der Frauenbewegung des eigenen Lagers angesehen, die sich ja an den sozialen Aktivitäten der bürgerlichen Parallelverbände zum Teil ganz bewußt nicht beteiligte und deshalb in der Arbeiterwohlfahrt eine angemessene, wenn auch abgelegene und letztlich unpolitische Aufgabe fand. Diese nicht gerade emanzipationsfreundliche Sicht vieler Parteimitglieder dürfte es den Frauen an der Spitze der neugegründeten Arbeiterwohlfahrt auch erschwert haben, klare Konzeptionen für ihre Arbeit zu entwickeln und diese innerhalb der Führungsgremien der Partei politisch durchzusetzen. In den Jahren bis 1924 hatte sich freilich ein Modus vivendi des Miteinanders in der gesamten freien Wohlfahrtspflege ergeben, an dem die Arbeiterwohlfahrt trotz gelegentlicher Klagen über die ungerechte Verteilung öffentlicher Mittel partizipierte. Der enorme Aufschwung ihrer Einrichtungen, die nach der Statistik des Reichsarbeitsministeriums schon 1926 diejenigen des Deutschen Roten

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Zu ihnen gehörte auch Marie Juchacz, die Gründerin, die einem Anschluß schon an die Reichsgemeinschaft nicht abgeneigt gewesen war, wie Polligkeit am 2.III.1921 anläßlich der Verhandlungen über die Gründung der RG berichten konnte; cf. das Prot., ADCV, 460.040,1. - Am 10. Mai 1921 teilte er den Teilnehmern der Sitzung des Hauptausschusses der RG mit, die AWO sehe sich derzeit außerstande, der RG beizutreten, weil es in ihr zwei widerstreitende Richtungen gebe: eine parteipolitisch orientierte und eine vom Parteivorstand unabhängige Fraktion. Zwar wünsche man seitens der RG die Mitgliedschaft der AWO, sei aber gegen parteipolitische Interessenvertretung - aus welcher Richtung auch immer; Prot., ebd.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Kreuzes an Zahl weit überflügelt hatten, 130 machte sie ebenso zu einem nicht zu vernachlässigenden Faktor der freien Wohlfahrtspflege wie ihre Parteibindung; denn was die Caritas für das Zentrum war, bedeutete die Arbeiterwohlfahrt für die Sozialdemokraten. Ob letztere nun im Reich an der Macht beteiligt waren oder nicht - vor den Kopf stoßen konnte man die SPD schon aus Rücksicht auf die anhaltende Weimarer Koalitionsregierung in Preußen nicht. Damit ist auch die zuratende, zumindest aber freundlich-abwartende Haltung des Reichsarbeitsministeriums in der Frage einer AWO-Mitgliedschaft in der Liga erklärt, wobei Brauns und Ritter unter dem zusätzlichen Druck standen, daß der Wirtschaftsflügel der DNVP langfristig die Auflösung ihres Ministeriums im Visier hatte und sie deshalb einen so wichtigen Bündnispartner wie die Sozialdemokratie nicht verprellen durften. 131 Die Arbeiterwohlfahrt beteiligte sich also nicht aktiv an der Diskussion um ihre Mitgliedschaft, obwohl sie daran eigentlich ein vitales Interesse gehabt haben müßte. Dafür legten die Gründungsverbände intern fest, unter welchen Umständen sie einer Aufnahme der AWO zustimmen wollten. Unter Berufung auf § 5 der Fürsorgepflichtverordnung vom Februar des Jahres sollte die AWO zunächst „die Gleichberechtigung und Notwendigkeit" der freien Wohlfahrtspflege anerkennen „und sich in diesem Sinne betätigen" - dann könne man über ihre Mitgliedschaft sprechen, beschloß die Vorbereitungskommission am 13. November. 132 Bemerkenswerterweise war es der Rotkreuzvertreter Grüneisen, der vor einer zu harschen Gangart warnte und dafür plädierte, die Türen offenzuhalten und keine Mauern dort zu errichten, wo es um die Beteiligung aller „am Aufbau des deutschen Volkes mitarbeitenden Kreise" gehe. Zwei Tage später verabschiedete das gleiche Gremium bei einer erneuten Zusammenkunft folgenden Grundsatz, den sich die AWO vor einer Aufnahme zu eigen machen müsse: „Die freie Wohlfahrtspflege ist gegenüber der staatlich-kommunalen geschichtlich die ältere und gleich notwendig und gleich unentbehrlich, und zwar nicht nur auf absehbare Zeit, sondern dauernd." Ergänzend fügte Prälat 130

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Danach unterhielt die AWO insgesamt 4.976 Einrichtungen gegenüber 2.766 des D R K ; davon waren 981 Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge mit 59.345 Betten und 6.054 Pflegekräften. So forderte die Deutsche Industriellen-Vereinigung nach den Reichstagswahlen v.7.XII. 1924, es müsse Aufgabe einer antimarxistischen neuen Reichsregierung sein, „durch Abkehr von den bisher herrschenden außen- und innenpolitischen Grundsätzen den staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Reiches entschlossen in die Tat umzusetzen". Dazu gehöre auf dem Gebiete der Steuer- und Tarifpolitik auch die „Ausschaltung staatlicher Einmischung in die Beziehungen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaft". Somit werde das RAM entbehrlich; Restbereiche könne man dem Reichswirtschaftsministerium angliedern. Vgl. Preußische (Kreuz-)Zeitung Nr.586 V.13.XII. 1924 (Abendausg.), Art. „Die Folgerungen aus dem Wahlergebnis", und Germania Nr.549 v. 14.XI1.1924 (Morgenausg.), Art. „Trau, schau, wem?" Prot., a.a.O. - Zu § 5 der Fürsorgepflichtverordnung vgl. RGBl. 19241,101.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Kreutz hinzu, die freien Verbände bildeten die „Keimzelle" der Volksgemeinschaft und hätten „staatserhaltende Wirkung". 133 - Jeder Zweifel an Leistungsfähigkeit, Monopolansprüchen auf gewissen Gebieten oder gar der Existenzberechtigung der privaten Organisationen war so mit historisch-ideologisch eingefärbten Argumenten abgewiesen - ein Hinweis auf Selbstbewußtsein und inzwischen wiedergewonnene Machtstellung der nichtöffentlichen Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik. Verhandlungsrichtlinien dieser Art waren Bestandteil der offiziellen Sitzungen der Liga-Gründer. Weitaus aufschlußreicher sind die erhaltenen Privatkorrespondenzen, in denen Bedenken und Abneigung gegen die Arbeiterwohlfahrt wesentlich massiver zum Ausdruck gebracht wurden. So erklärten etwa Staatssekretär Geib und Ministerialdirektor Ritter dem Caritasbeauftragten beim gemeinsamen Frühstück, eigentlich seien auch sie höchstens für eine außerordentliche Mitgliedschaft der AWO. Leider könne man ihr die reguläre Aufnahme jedoch bei einem Bekenntnis zu den geforderten Grundsatzerklärungen nicht verweigern.134 Caritaspräsident Kreutz sah Effizienz und Homogenität der bisherigen Arbeit gefährdet, wenn die Arbeiterwohlfahrt gleichberechtigtes Mitglied werden würde, und dachte bereits über die Änderung der Satzungen in einem solchen, ihn allerdings unwahrscheinlich dünkenden Fall nach. 135 In einem weiteren Privatbrief van Ackens an Kreutz stellte der Berliner Caritasdirektor einen Katalog von Vor- und Nachteilen für die freie Wohlfahrtspflege auf, wenn die Arbeiterwohlfahrt in die Liga einträte: Dagegen spreche die politische Unzuverlässigkeit der Sozialdemokratie, deren Wohlfahrtspolitik ja durch Parteitagsbeschluß jederzeit geändert werden könne. Außerdem laufe man dann Gefahr, daß es in der Liga zu Reibereien, etwa wegen der freidenkerisch akzentuierten Schulpolitik der SPD, komme. Möglicherweise mache man sich durch die Einbeziehung der AWO selbst Konkurrenz, und auch die Herren Bischöfe seien ja nicht für eine Mitgliedschaft. Dem stünden die Chancen gegenüber, erzieherisch auf einen Teil der Sozialdemokratie einzuwirken; vielleicht sei es dadurch möglich, einen Prozeß einzuleiten, an dessen Ende die Spaltung der Partei in einen radikalen und einen kleinbürgerlich-reformorientierten Flügel stehen könnte. Schließlich ergäbe sich damit - volksmissionarisch gesehen - die Gelegenheit, einen Teil des kirchenfernen Proletariats für den christlichen Glauben wiederzugewinnen. Im übrigen seien die anderen Verbände für eine AWOMitgliedschaft, und auch die Caritas solle sich aus Gründen politischer Rücksichtnahme nicht dagegen sperren.136

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Prot. V.15.XII. 1924; ADCV, 460.040,1. Van Acken an Kreutz V.2.XII. 1924; ADCV, 460,1. Kreutz an van Acken v. 5.XII. 1924; ebd. Van Acken an Kreutz v. 15.XII. 1924; ebd. - Als Gegenkraft zur AWO forcierte die Caritas die Mitgliedschaft des Zc(n)A in der Liga, obwohl dieser im Gegensatz zur AWO gar

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Obwohl sich die Arbeiterwohlfahrt selbst zu einem Beitritt definitiv gar nicht geäußert hatte, waren damit Vorsichtsmaßnahmen getroffen, die den von dort zu erwartenden .Gefahren' die Spitze nehmen sollten. Es ist nicht überliefert, ob der AWO-Hauptausschuß von diesen Überlegungen erfuhr und sich seine hinhaltend bis desinteressiert gebenden Reaktionen von daher erklären lassen, aber eine Interpretation, die das Verhalten der Altverbände als bewußte Ausgrenzung' der Arbeiterwohlfahrt versteht, geht wohl nicht fehl. Wie sehr bei der Abneigung gegen eine sozialdemokratische Wohlfahrtsorganisation die religions- und kirchenkritische Tradition der Partei eine Rolle spielte, ist evident und wird sicher kaum überschätzt werden können. Andererseits dürfte nicht zu bestreiten sein, daß Wohlfahrtspflege in weltanschaulicher Hinsicht hochgradig sensibel war (und ist), wie im linken Spektrum die Gründung der ,Dissidentischen Fürsorge' 1927 zeigt.137 Jedenfalls verzichtete die Arbeiterwohlfahrt schließlich auf eine Mitgliedschaft in der Deutschen Liga und hielt an dieser Haltung bis zur Auflösung 1933 fest. Einer Begründung oder einer öffentlichen Auseinandersetzung über die Ziele der anderen Verbände ging sie jedoch aus dem Weg, wahrscheinlich, weil sich ein breiter Konsens dafür innerhalb der eigenen Organisation nicht finden ließ. 138 11.3.3. Personalpolitische Weichenstellungen Schon in der Vorphase der offiziellen Ligagründung am 22. Dezember 1924 hatte hinter den Kulissen ein hartnäckiges Tauziehen um die Besetzung der Posten des Präsidenten, des Vizepräsidenten und des Reichsgeschäftsführers begonnen; daran beteiligten sich in erster Linie Innere Mission und Caritas. Diese Auseinandersetzung kam an Intensität jener um den Beitritt von DRK und Arbeiter-

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keine .praktisch tätigen' Einrichtungen unterhielt. In Verhandlungen mit dem christlichen Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald und Frau Dr. Nebgen(-Kaiser) sollte der Zc(n)A dafür gewonnen werden, solche zu schaffen; heikel an dessen Mitgliedschaft waren jedoch mögliche Konkurrenz, wenigstens aber Überschneidungen mit Arbeitsfeldern der Caritas. Man müsse - so v. Acken in seinem oben zit. Brief - Stegerwald in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied des DCV „anfassen", um die Dinge im Sinne der Caritas zu regeln. - Zur Funktion des Zc(n)A s. a. Anm. 86. - Falls die Bischöfe gegen eine Mitgliedschaft der AWO in welcher Form auch immer Einspruch erheben würden, wolle Dr. Ritter äußerstenfalls selbst nach Breslau fahren und mit Bertram reden. Die Diss. Fürsorge grenzte sich bewußt von der in ihren Augen weltanschaulich indifferenten AWO [!] ab, wollte auf der Grundlage eines dezidiert proletarischen Atheismus Fürsorge betreiben und verstand sich sozusagen als freidenkerisches Gegenstück zu den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden. An den letzten Zusammenkünften des Gründungsausschusses und an der eigentlichen Konstituierung nahm sie mit der fadenscheinigen Entschuldigung nicht teil, die Berliner Mitglieder des Hauptausschusses seien wegen der Vorbereitung anstehender Weihnachtsfeiern an einem Erscheinen verhindert; Mitteilung v. Ackens an Kreutz v. 23.XII. 1924; a.a.O.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Wohlfahrt nahe und verzögerte mehrfach den förmlichen Akt der Konstituierung. Protestanten wie Katholiken waren davon überzeugt, daß der Stellenbesetzung höchste Aufmerksamkeit geschenkt werden mußte, damit keiner dieser beiden mächtigsten Partner im Konzert der Liga den anderen übervorteilen konnte. Zu Mißtrauen gab es mancherlei Anlaß, wie die Kulturkampf-Reminiszenzen belegen, die der erste Caritaspräsident Lorenz Werthmann in die Debatte um die Bundesratsverordnungen hineintrug. 139 Auf der anderen Seite galten Katholiken und Zentrum den meist deutschnational gesonnenen evangelischen Christen und Kirchenführern wegen ihrer Einbindung in die Weimarer Koalition als Parteigänger des Sozialismus, die außerdem durch ihre ultramontane Orientierung im nationalen Sinne nicht verläßlich seien.140 Nirgendwo sonst existierten bislang reichsweit operierende Koordinierungsgremien, die - interkonfessionell ausgerichtet - die Interessen der Kirchen vertraten. Selbst im Kampf gegen Gottlosenbewegung und Freidenkertum, die an den Grundfesten der Religionsgemeinschaften rüttelten, war aus Gründen unterschiedlicher apologetischer Konzepte und althergebrachter Ressentiments keine gemeinsame ,Abwehrfront' zustande gekommen. 141 Von daher wird der Behauptungswille von Innerer Mission und Caritas verständlich und die große Sorgfalt, mit der nach Persönlichkeiten gesucht wurde, die - streng nach Proporz ausgewählt als die jeweils besonderen Vertrauten ihrer Konfessionsverwandten galten. Die Diskussion bezog sich vor allem auf die Personen des Präsidenten und des Geschäftsführers, die satzungsgemäß nicht aus den Mitgliedsorganisationen selber kommen durften, während man in Prof. Langstein vom Fünften Verband rasch einen Vizepräsidenten fand, auf den sich die konfessionellen Kontrahenten einigen konnten. 142 Als Präsident war zunächst Ministerialdirektor Ritter im Gespräch. Seine unbestreitbaren Verdienste um die freie Wohlfahrtspflege und die von ihm mitgetragenen Gesetzesinitiativen der Jahre 1923/24 ließen seine Kandidatur aussichtsreich erscheinen. Da Ritter katholisch war, sollte die Innere Mission ein Vorschlagsrecht hinsichtlich der Person des Geschäftsführers erhalten. Doch in jener Sitzung am 22. Dezember, in der die Ligagründung erfolgte, machte Steinweg als Vorsitzender plötzlich einen anderen Vorschlag: Er regte an, auf einen Präsidenten überhaupt zu verzichten, da Ritter ohnehin im Ministerium bleiben wolle, und nur einen Geschäftsführer einzustellen. Damit kam er dem Roten Kreuz entgegen, das als einzige Konzession in den - dann gescheiterten - Verhandlungen über seinen Beitritt der Liga einen Geschäftsfüh-

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Dazu noch einmal Kap. II.1.1.und Anm.21. Vgl. a. Albrecht Langner, „Politischer Katholizismus im Urteil des Weimarer Protestantismus", und die Skizze des Vf. „Der Evangelische Bund und die Politik 1918-1933". Vgl. J-C. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 307 ff. Langstein wurde in der Liga-Sitzung v.4.111.1925 offiziell zum Vizepräsidenten berufen; eine Personaldebatte fand nicht statt. ADW, CA 11951.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

rer zugestanden hatte, von einem Präsidenten indes nichts wissen wollte. Nur weil die übrigen Verbände dieses Zurückweichen Steinwegs verwarfen und mehrheitlich die sofortige Etablierung der Liga forderten, drang der IM-Vertreter mit diesem Vorschlag nicht durch. 143 Als sich herausstellte, daß Ritter in der Tat nicht zur Verfügung stand, wurden von katholischer Seite die Namen der ehemaligen Reichskanzler Fehrenbach und Marx sowie des bayerischen Diplomaten und Reichstagsabgeordneten Graf Lerchenfeld in die Debatte eingebracht, während Langstein sich für den bereits fünfundsiebzigjährigen evangelischen Kirchenrechtler Wilhelm Kahl einsetzte.144 Die einzige realistische Alternative zu Ritter blieb sehr bald nur Hugo Graf von Lerchenfeld-Köfering. Der kurzzeitige bayerische Ministerpräsident (1921/22) und Abgeordnete der BVP, der häufig Sondermissionen im Auftrag des Auswärtigen Amtes durchführte und später Gesandter in Wien und Brüssel wurde, kannte als Vorstandsmitglied des Deutschen Caritasverbandes die Probleme der freien Wohlfahrtspflege; er war kein konfessioneller Eiferer und deshalb auch für die Innere Mission wählbar. Als der Centraiausschuß am 11. Februar für Lerchenfeld votierte, erhielt die Innere Mission im Gegenzug freie Hand bei der Auswahl des Geschäftsführers. 145 Hier dachte man zunächst an Landesrat Dr. Bruno Jung aus Münster, der die Fürsorgeabteilung des westfälischen Provinziallandschaftsverbandes leitete und sich mit zahlreichen Veröffentlichungen als Kenner der Wohlfahrtsmaterie ausgewiesen hatte.146 Er besaß im Bereich der westfälischen Anstaltsdiakonie gute Kontakte und war überdies mit Ministerialrat Wölz vom Reichsarbeitsministerium befreundet, was innerhalb der Caritas jedoch eher gegen ihn zu sprechen schien.147 Offenbar auf ihren Einspruch hin ließ die Innere Mission seine Kandi-

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Dagegen war auch Pastor Thiel vom Kaiserswerther Verband, wie v. Acken am 23.XII. an Kreutz berichtete. Er vermutete hinter dem Kurswechsel Steinwegs Machtansprüche der Inneren Mission, die wohl der Ansicht gewesen sei, nach dem Fortfall des Präsidentenamtes den Geschäftsführerposten weiterhin in eigener Regie mit einem Protestanten besetzen zu können; s. a. den Brief v. Ackens an Kreutz v. 24.XI 1.1924; ADCV, 460,1. Das offzielle Prot, der Sitzung V.22.XII. enthält diese Informationen nicht; ADW, CA 11951. Mitteilung v. Ackens an Kreutz v. 27.1.1925; a. a. O. Ders. an dens. v. 12.11.1925; a. a. O. Jung gehörte der DVP an und bekleidete von 1926 bis 1938 das Amt des Oberbürgermeisters von Göttingen. 1932 erhielt er eine Honorarprofessur für Fragen der Wohlfahrtspflege; biographische Informationen über Jung (1886-1966) verdanke ich der Tochter Magdalene Jung/Göttingen. Am 17.X.1924 wandte sich der Leiter Bethels, Fritz v. Bodelschwingh, an Steinweg, um sich für die Wahl Jungs zum Geschäftsführer der Liga zu verwenden; ADW, CA 11951.Mißbilligend berichtete v. Acken am 31.1.1925 an Kreutz, Jung und Wölz duzten sich [!]; ADCV, 460,1. Andererseits waren auch Kreutz und Jung miteinander bekannt; am 8.II. 1925 beklagte sich Jung bei Kreutz in einem privat gehaltenen Brief, daß man ihn wegen des Berliner Postens hintergangen habe. Ihm sei großes Unrecht geschehen, weil man so

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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datur fallen und brachte den Geschäftsführer der württembergischen Zentralwohlfahrtsleitung, Regierungsrat Dr. Gotthilf Vöhringer, ins Spiel. Vöhringer war von Hause aus evangelischer Pfarrer und an einem Wechsel in die Reichshauptstadt eigentlich wenig interessiert.148 Er stellte deshalb einige Vorbedingungen finanzieller und organisatorischer Art für die Übernahme des Berliner Amtes, die seine Berufung immer wieder verzögerten. Andererseits war Vöhringer trotz seiner Herkunft aus der evangelischen Theologie bei den Katholiken wohlgelitten, was auf eine von der württembergischen Caritas im Auftrage der Freiburger Zentrale abgegebene Beurteilung seines dortigen Wirkens zurückzuführen sein dürfte. 149 Aber Vöhringer hatte auch Gegner: Vor allem die kleineren Verbände erhoben Bedenken wegen seiner nicht sehr publikumswirksamen zurückhaltenden Art und fanden sein Auftreten nicht repräsentativ genug für die zu vergebende Spitzenposition. 150 Ebenso war man im Reichsarbeitsministerium, wo Wölz die Verwerfung der Kandidatur seines Freundes Jung offenbar nicht verwinden konnte, nicht glücklich über Vöhringer und schien einem neuen Vorstoß der Inneren Mission, die wegen der andauernden Verhandlungen mit Stuttgart plötzlich Steinweg selbst für den Posten ins Gespräch brachte, nicht abgeneigt. Als Wölz jedoch die Unvorsichtigkeit beging, sich vor Mitarbeitern der Hika abfällig über Vöhringer zu äußern und dies der Inneren Mission zur Kenntnis kam, zog sie Steinwegs Kandidatur zurück und hielt fortan unbeirrbar an Vöhringer fest.151 Mit dessen Wahl am 11. März 1925 hatte man eine leitende Persönlichkeit gewonnen, die der Liga in den Jahren bis zur Machtergreifung ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken sollte. Personelle Probleme waren auch noch in einem anderen Zusammenhang zu

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lange mit ihm verhandele, aber auch Kontakte mit anderen Kandidaten unterhalte; beruflich habe ihm das schwer geschadet; ebd. Zur Biographie Vöhringers vgl. den Abriß bei Antonie Kraut, D. Dr. Gotthilf Vöhringer Ein Leben für die Wohlfahrtspflege. Darin ist auch der größte Teil seiner wahrscheinlich im Auftrag Lerchenfelds in den 30er Jahren angefertigten Erinnerungen,Zur Geschichte der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege' abgedruckt, die als wesentliche Quelle zur Entwicklung der Liga bis 1934gelten können; ADW, CA 1195 IV. Am 14.11.1925 schrieb der Rottenburger Caritasdirektor Johannes Straubinger an Kreutz: „Vöhringer ist eine ausgesprochene Persönlichkeit, der genau weiß, was er will und unbeirrbar seinem Ziel entgegengeht, dabei suaviter in modo, etwas langsam wie alle Schwaben, aber klug und vorsichtig [...]. Die katholische Caritas kann mit ihm zufrieden sein [...]. Es ist für Württemberg ein großer Verlust, wenn Vöhringer weggeht, aber ich bin überzeugt, daß er in Berlin noch mehr wirken kann als in Stuttgart." ADCV, 460,1. Van Acken an Kreutz v. 18.11.1925, ebd. Mitteilung des DCV-Generaldirektors Arthur Hugo Klieberan Kreutz v.9.111.1925. Wölz habe behauptet, „daß Vöhringer der Tod der Liga sei"; ebd. Dr. Ritter vermutete, das Zurückweichen der IM könne auch mit Personalproblemen im Bereich des CA zusammenhängen; dort hätte die Neuwahl der Pfarrer Ohl/Langenberg und Thiel/Kaiserswerth als Direktoren zur Debatte gestanden, schließlich sei man aber wieder auf Stein weg zurückgekommen; v. Acken an Kreutz v. 11.III. 1925, ebd.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

lösen. Seit Gründung der Liga dachte man über die Notwendigkeit einer eigenen Zeitschrift nach, um die Interessen der freien Wohlfahrtspflege in der Öffentlichkeit wirkungsvoll zu präsentieren. Zwar sollte Vöhringer die Verantwortung für diese Publikation mitübernehmen; für die praktische Arbeit benötigte er aber zusätzlich einen Redakteur, der außerdem für den Aufbau von Bibliothek und Archiv der Dachorganisation verantwortlich sein würde. 152 Wie sehr auch Vöhringer in konfessionellen Proporzkategorien dachte, zeigt eine Anfrage, die er in dieser Angelegenheit an Otto Ohl richtete: Ob dieser ihm raten könne, auf den Posten einen katholischen Mitarbeiter zu setzen, dem u. U. eine protestantische Hilfskraft an die Seite zu stellen wäre, fragte er den rheinischen Provinzialgeschäftsführer der Inneren Mission. Immerhin bleibe gewährleistet, daß er selbst die Artikelauswahl überwache, und schließlich sei ein Katholik hier „leichter tragbar" als an einem Ort, an dem er „mehr hintenherumarbeiten" oder wo er selbständig in Vertretung des Generalsekretärs agieren könne. 153 Am 18. Dezember 1925 wurde mit Dr. Johannes Sunder der von der Caritas vorgeschlagene Kandidat für das Amt des Redakteurs bestätigt; ferner beschloß man, zur konzeptionellen Vorbereitung der Zeitschrift eine Kommission, bestehend aus Prof. Langstein und Pfarrer D. Cremer, einzusetzen. Als die ,Freie Wohlfahrtspflege' im Juni des folgenden Jahres erstmals erschien, war neben Vöhringer und Sünder noch der Liga-Justitiar Dr. Philipsborn als rechtskundiger Berater Mitglied der Redaktion geworden.' 54 II.3.4. Die ,Reichsgrundsätze' nach §§ 5 und 6 der Fürsorgepflichtverordnung Die Fürsorgepflichtverordnung vom Februar 1924 hatte nur die legislativen Rahmenbedingungen für eine Neuordnung der Wohlfahrtspflege in der Republik abgesteckt, die Ausgestaltung der einzelnen Bestimmungen dieser Vorlage blieb Ländersache. Zur Vereinheitlichung der kommenden Detailregelungen kündigte die Verordnung für die §§ 5 und 6 sogenannte Reichsgrundsätze an, die im Benehmen mit den Vertretern der öffentlichen und privaten Fürsorge erlassen werden sollten. Während das für § 6, der „Voraussetzung, Art und Maß der zu gewährenden Fürsorge" bestimmte, schon Ende des Jahres geschah, wurde eine Einigung auf Grundsätze im Kontext von § 5 nicht erreicht, obschon oder

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Das teilte Kreutz dem in Aussicht genommenen Kandidaten Dr. Johannes Sunder am 6.XI. 1925 mit. Es handele sich um „die schönste geistige Führerstelle, die die Liga überhaupt zu vergeben" habe; ebd. Sunder war Mitarbeiter von Polligkeit in Frankfurt, der ihn nur ungern nach Berlin ziehen ließ; cf. Sunders Schreiben an Kreutz v. 3.XI. 1925, ebd. So Vöhringer am 28.VII.1925 an Ohl; ADWDü, BO, 10/5,1. In seiner Antwort v. l.VIII. 1925 erklärte sich Pfarrer Ohl mit dem Vorgehen des Generalsekretärs einverstanden, wies ihn aber auf die Verpflichtung hin, für einen angemessenen Anteil von Beiträgen aus dem protestantischen Lager zu sorgen; ebd. Vgl. die Prot, der Präsidiumssitzungen v. 18.XII.1925 und 25.111.1926; ADW, CA 1195 II.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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gerade weil dieser das heikle Problem der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern betraf.155 Über die Formulierung der Reichsgrundsätze entbrannte eine heftige Auseinandersetzung, die von Reichsarbeitsministerium und Liga auf der einen und dem Deutschen Verein mit Hilfe des Städtetages auf der anderen Seite geführt wurde. - Mitte August 1924 veranstaltete der Deutsche Verein eine Tagung über die Durchführung der Fürsorgeverordnung, an der als Vertreter des Reichsarbeitsministeriums Regierungsrat Dr. Richter teilnahm. Sein Bericht über das Treffen veranschaulicht die tiefgehenden Spannungen zwischen dem Ministerium und der Organisation Polligkeits, der vehement versuchte, die anwesenden Delegierten der Kommunen und Provinzial- bzw. Landesfürsorgeverbände auf seinen Kurs einzuschwören. Diskutiert wurden der Entwurf Polligkeits und der des Ministeriums zu § 6, wobei der Kern des Streits offenbar darin lag, daß Polligkeit jenen Unterschied zwischen Klein- bzw. Sozialrentnern und den übrigen Hilfsbedürftigen, den die Wohlfahrtsabteilung Ritters beibehalten sehen wollte, zugunsten einer Einheitsbehandlung aller Versorgungs- und Unterstützungsempfänger zu beseitigen bestrebt war. Dahinter stand der egalisierende Gedanke, die frühere Besserstellung der ursprünglich von eigenem Vermögen zehrenden Kleinrentner, deren Kapital in der Inflation verlorengegangen war, nicht auf Kosten der öffentlichen Hand weiterhin zu garantieren, sondern sie den durch die Rentenversicherung finanzierten Sozialrentnern und den übrigen Unterstützungsempfängern gleichzustellen.156 - Demgegenüber erklärte sich der Caritasverband mit dem Regierungsentwurf „im wesentlichen einverstanden". In einer Eingabe an das Reichsarbeitsministerium setzte sich Prälat Kreutz ausdrücklich von dem Vorwurf der Gegner ab, die von einer „unerträglichen Klassifizierung der Hilfsbedürftigen" sprachen: Er sei überzeugt, daß ein Festhalten an einer „gehobenen Fürsorge" für besondere Gruppen die Gewähr dafür biete, nicht allein „berechtigte Ansprüche weitester Kreise der Hilfsbedürftigen" zu erfüllen, sondern daß auch gerade „die Handhabe dieser besonderen Fürsorge segensvoll auf die Hebung der Gesamtfürsorge zurückwirken" werde [sie]. Bei einer Nivellierung aller Fürsorgeleistungen und einem Verzicht auf die Einteilung der Empfänger in verschiedene Gruppierungen bestünde die Gefahr, daß die Kommunen und Länder wieder Wohlfahrtspolitik auf eigene Faust trieben und schließlich in eine veraltete Armenpflege zurückfallen würden. Wenn es auch paradox klinge, fuhr der Caritas-Präsident fort, Tatsa-

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Vgl. nochmals RGBl. 19241,101 und 765-770. Interessanterweise geht das aus dem Bericht Richters nicht hervor, der lediglich persönliche Motive Polligkeits vermutet: „Aus den ganzen Verhandlungen habe ich den Eindruck gewonnen, daß Dr. Polligkeit sich in scharfer Gegnerschaft zum R.A. M. befindet und keine Gelegenheit ungenutzt lassen wird, um dies auch nach außen zum Ausdruck zu bringen. Der Hauptgrund für sein Verhalten dürfte darin liegen, daß nicht der von ihm ausgearbeitete Entwurf, sondern der Regierungsentwurf die Unterlage für die Weiterbehandlung der Grundsätze bildet." ADW, CA 1195, Z 3.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

che sei, daß „durch diese scheinbare Typisierung" der Weg für verstärkte Einzelfürsorge, d.h. für die „Individualisierung" der sozialen Arbeit freigemacht und gesichert werde.157 Mit dieser Interpretation wurde nicht nur ein Zweiklassenmodell für Unterstützungsempfänger fortgeschrieben - hier stand der alte Gedanke des Verschuldensprinzips Pate, für dessen Abschaffung der Deutsche Verein lange gekämpft hatte und das nun in modifizierter Weise in die gesetzliche Fixierung der Wohlfahrtspolitik wieder Eingang fand. Besonderes Augenmerk dürfte man dabei auf die Kleinrentner gelegt haben, deren tragisches Schicksal in der Inflation mit dem Verlust aller flüssigen Vermögenswerte gerade in den bürgerlichen Mittelschichten der Republik einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Hier waren nicht Randgruppen der Gesellschaft oder solche Schichten betroffen, denen man sich nicht zugehörig fühlte und um die man sich seitens der freien Wohlfahrtspflege eher aus humanitären oder religiösen Erwägungen ,kümmerte', hier hatte man es mit Gleichgestellten zu tun, deren existenzielle Notlage auch diejenigen etwas anging, die sich bis jetzt vor solchem sozialen Abstieg sicher fühlten. Eine solche ,Verelendung' ehemals gutsituierter Kreise schuf ein neues Bewußtsein und zeitigte politische Folgerungen, in denen der auch in der Demokratie latente Konflikt zwischen sozialer Egalität und bürgerlicher Selbstbehauptung samt den dazu gehörenden Sekuritätsbedürfnissen in der Sache zugunsten der letzteren entschieden wurde. Als schwierig, ja letztlich unmöglich erwies sich die Verwirklichung jener Grundsätze zu § 5 der Fürsorgeverordnung, die von der Caritas im Einvernehmen mit den anderen Organisationen ausgearbeitet worden waren. Zu ihrer Formulierung bildeten die Katholiken eigens einen besonderen Ausschuß unter der Leitung ihres Vorstandsmitglieds, des ehemaligen westfälischen Oberpräsidenten Bernhard Wuermeling; denn die übrigen Verbände, vor allem die Innere Mission, hatten Kreutz und seine Freunde zuvor darum gebeten, in Sachen dieser Reichsgrundsätze die Initiative zu ergreifen.158 Bereits Anfang September legte Wuermeling als Kenner des Verwaltungsrechts eine umfangreiche Denkschrift zum Thema Reichsgrundsätze vor, die in den Ausschußsitzungen als maßgebliche Diskussionsgrundlage diente. 159 Sie zeichnete sich in ihren uns in erster Linie interessierenden politischen Partien durch eine kompromißlose Vertretung der Interessen der konfessionell orientierten freien Liebestätigkeit aus. Zwar betonte der Verfasser immer wieder die Notwendigkeit eines auf Vertrauen beruhenden guten Einvernehmens zwischen öffentlichen und freien Institutionen, die innerhalb der auszubildenden Fürsorgeverbände zusammenarbeiten

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158 ,59

Eingabe v. 11.IX. 1924, ebd. Vgl. dazu auch den bereits angeführten Artikel von Kreutz „Zu § 6 der Reichsfürsorgepflichtverordnung vom 13. Februar 1924", wie Anm. 110. Vgl. das Prot, der Ausschußsitzung v. 16.1.1925; ADCV, 111.055. Denkschrift V.7.IX. bzw. 28.X. 1924; ebd.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

153

sollten, ließ es aber an Kritik und Mahnungen an die Adresse der Länder und Gemeinden nicht fehlen. Weil diese allein ihren fürsorgerischen Aufgaben gar nicht gewachsen seien, müsse der Vorwurf zurückgewiesen werden, daß die Hinzuziehung freier Träger eine Einschränkung der Selbstverwaltung der Gemeinden bedeute. Hart attackierte Wuermeling dann die zunehmende Politisierung der öffentlichen Wohlfahrtspflege und die sich danach richtende Besetzung ihrer Gremien vor Ort, billigte aber jenen politischen Organisationen, die sich seit der Revolution auch wohlfahrtspflegerisch betätigten, ein Existenzrecht zu. Freilich hatte er hier weniger die sozialdemokratische Wohlfahrtspflege als vielmehr die formell interkonfessionelle, faktisch aber wesentlich katholisch geführte Zentralstelle der christlichen Arbeiterschaft im Auge, die - wie erinnerlich - die Aufgabe besaß, ein Gegengewicht zur Arbeiterwohlfahrt zu bilden. 160 - Deutlich auf letztere gemünzt war auch die Auffassung des genannten, am 16. Januar 1926 zusammentretenden Sonderausschusses, nur solche Verbände seien als der freien Wohlfahrtspflege zugehörig zu akzeptieren, die ein uneingeschränktes Ja zur Gleichberechtigung öffentlicher und privater Träger sagen könnten. Als wichtiges Desiderat zur Aufnahme in die Reichsgrundsätze fügte der Ausschuß ferner hinzu, im Falle der Übertragung von Fürsorgeaufgaben an die privaten Verbände müsse gewährleistet sein, daß diese Zuweisungen betreuungsbedürftiger Personen nur getrennt nach weltanschaulicher Ausrichtung erfolgten, wobei jeder Zwang „in religiöser oder weltanschaulicher Hinsicht" zu vermeiden sei. Damit war ein Problem angesprochen, das allen Organisationen aus verständlichen Gründen sehr am Herzen lag: die Betreuung von konfessions- oder weltanschauungshomogenen Fürsorgeempfängergruppen, um derentwillen es mit der Arbeiterwohlfahrt von Zeit zu Zeit zu größeren Auseinandersetzungen kam. Bei strikter Anwendung dieses angestrebten Passus in den kommenden Reichsgrundsätzen wäre die Klientel der AWO nämlich auf den schmalen Bereich der dissidentischen Bevölkerung zusammengeschrumpft, während evangelische und katholische Bedürftige, die den Hauptanteil der in Frage kommenden Personen ausmachten, den Einrichtungen der jeweiligen Großkirchen vorbehalten geblieben wären.161 Am gen alle den

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28. März schickte die Freiburger Caritaszentrale als Ergebnis der langwieriAusschußberatungen einen gedruckten Entwurf der Reichsgrundsätze an Ligaverbände und an das Reichsarbeitsministerium. In Begleitschreiben an Centraiausschuß und an das Ministerium betonte Kreutz ausdrücklich, man

Mitte Dezember 1924 erklärte Adam Stegerwald in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der christlichen Gewerkschaften, „er betrachte die Wohlfahrtsstelle als eine Stütze der konfessionellen Wohlfahrtspflege. Vor allem habe man mit der Arbeiterwohlfahrt nichts gemein." Mitteilung v.Ackens an Kreutz V.19.XII.1924 über ein Gespräch v.gleichen Tage mit führenden Vertretern des christlichen Gewerkschaftsbundes; ADCV, 460,1. 16 ' Prot.v.16.1.1925,a.a.O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

habe nicht nur die Interessen der freien Wohlfahrtspflege, sondern auch diejenigen der staatlichen und kommunalen Fürsorge darin berücksichtigt.162 Das in fünf Abschnitte mit insgesamt 28 Paragraphen gegliederte, 14 Seiten lange Schriftstück enthielt eine detaillierte Begründung für jeden einzelnen der Grundsätze und hätte bei einer unveränderten Übernahme durch die Gesetzgebung des Reiches den in der Liga organisierten freien Fürsorgeinstitutionen eine überragende Stellung innerhalb der deutschen Wohlfahrtspolitik eingeräumt. So forderte man 2/5 aller zu berufenden und nicht beamteten Mitglieder der staatlicherseits vorgeschriebenen Fürsorgeverbände für sich, die darin, weil sie gleichberechtigte Mitarbeiter und „keine Fremdkörper" darstellten, auch uneingeschränktes Stimmrecht erhalten müßten. Wie schon in der Denkschrift Dr. Wuermelings akzentuiert, sollten aber nur rechtsfähige freie Fürsorgevereine zugelassen werden, womit wohlfahrtspflegerischen Schwindelunternehmungen, aber auch jenen linken Gruppen, die aus ideologischen Gründen die Rechtsform eingetragener Vereine für sich ablehnten, 163 jede Mitwirkungsmöglichkeit vor allem aber die Partizipierung an öffentlichen Geldern - verwehrt werden konnte. Ausdrücklich verlangte der Entwurf auch Rücksicht auf das jeweilige Bekenntnis der Fürsorgeempfänger, weil eine Betreuung durch konfessions- und weltanschauungsfremde Stellen niemandem zugemutet werden dürfe. Der Abschnitt V sah schließlich die Konstituierung eines ,Reichsausschusses für Wohlfahrtspflege' vor, den man beim Reichsarbeitsministerium ansiedeln wollte und der gemischten Gremien aus Vertretern der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege jenes Diskussionsforum bieten sollte, dessen Schaffung schon 1916 angeregt worden war und das die lediglich fakultativen ,Sprechtage' des RAM ersetzen sollte.164 Dieser Entwurf blieb auch innerhalb der Liga nicht unumstritten. Eine neue Fassung wurde deshalb angefertigt, die das Liga-Präsidium mit nunmehr nur noch geringfügigen Änderungen am 8. Juni 1926 akzeptierte und dem Arbeitsministerium übermittelte. 165 Im Dezember des Jahres nahm Ministerialdirektor Ritter anläßlich eines Sprechtages seines Hauses mit den Vertretern der Spitzen162 163

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165

Entwurf v. 18.HI. und die Begleitschreiben in ADCV, R 307. Zu denken ist an die dissidentischen Fürsorgevereine neben der Arbeiterwohlfahrt im Ruhrgebiet oder an die Selbsthilfeeinrichtungen der KPD wie Rote Hilfe oder die Internationale Arbeiterhilfe, mit denen die Ligaverbände keinesfalls kooperieren wollten. 1916 hatte Kurt Blaum von einem zu schaffenden,Reichssozialrat' gesprochen, den es zu gründen gelte; dazu noch einmal Kap. II. 1.1. Vgl. das Prot, der Präs.-sitzung; ADCV, 460.040, l . D i e zweite Fassung des Memorandums datierte v. 19.X.1925 und sollte ursprünglich in den Nummern 3 u.4 des ersten Jahrgangs der Liga-Zeitschrift publiziert werden, was aber nicht geschah, nachdem Vertretern von Innerer Mission und Caritas, die an der Eisenacher Tagung des Deutschen Vereins im Juni 1926 teilgenommen hatten, Bedenken gekommen waren. S.den Kommentar Wuermelings v. 22.11.1927 zu dem im Oktober des Vorjahres vorgelegten 2. Entwurf; ADW, CA 1195 II.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

155

verbände zum Problem der Reichsgrundsätze erneut ausführlich Stellung. Bisher habe man diese noch nicht verabschiedet, um „der Entwicklung einen gewissen Spielraum" zu lassen; für notwendig halte er sie jedoch auf jeden Fall, weil es nach den Erfahrungen mit der Durchführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes häufig „Zuständigkeitsstreitigkeiten" zwischen den Trägern gebe, die durch das Nebeneinander der verschiedenen Ämter bedingt seien.166 Steinweg pflichtete ihm namens der Inneren Mission bei; zwar brauche man für die endgültige Formulierung noch Zeit, müsse aber auf den Grundsätzen bestehen, schon um „Zufallsbeschlüsse", wie sie bei der wechselnden Zusammensetzung der Parlamente täglich zustande kommen könnten, zu verhindern. Ritter schlug daraufhin die Veranstaltung eines wissenschaftlichen Preisausschreibens vor, mit dessen Hilfe die freie Wohlfahrtspflege ihre Anliegen in der Bevölkerung werbewirksam popularisieren könne, während Kreutz, der in der Angelegenheit zur Eile drängte, die Bestellung eines wissenschaftlichen Gutachtens in Erwägung zog. Beide Anregungen fanden wenig Beifall. Eine zukunftsweisende Bemerkung machte dagegen der inzwischen zu einem der Direktoren des Centraiausschusses für Innere Mission avancierte Pfarrer Dr. Stahl, als er zu bedenken gab, ob nicht detaillierte Reichsrichtlinien den Raum zur freiheitlichen Ausgestaltung von § 5 der Fürsorgepflichtverordnung einengten, wodurch sich die gegensätzlichen Positionen auch versteifen könnten; Voraussetzung eines gedeihlichen Miteinanders von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege bleibe das gegenseitige Vertrauen. 167 Ähnlich argumentierten dann führende Repräsentanten von Innerer Mission und Caritas auf einer Vorstandstagung des Deutschen Vereins, die im Juni 1926 in Eisenach stattfand. Obwohl die Reichsgrundsätze zu § 5 der Reichsfürsorgeverordnung hier gar nicht zur Debatte standen, wurden Bedenken laut, ob selbst der revidierte Entwurf vom 19. Oktober des Vorjahres den Interessen der freien Wohlfahrtspflege hinreichend Rechnung trüge. Die enge Anlehnung an § 9 des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes, mit dem man wegen der - regional unterschiedlichen - wenig entgegenkommenden Haltung der kommunalen Jugendämter im Bereich der gemischten Kommissionen keine guten Erfahrungen gemacht hatte, wirkte hier nach: Die freien Verbände blieben dort „eine geborene Minderheit" und hatten wegen ihrer unterschiedlichen Orientierung zudem Schwierigkeiten, geschlossen aufzutreten. Auch die übrigen Auflagen der Fürsorgeverordnung wie etwa das Verbot der Gründung neuer Einrichtungen durch die Fürsorgeverbände, wenn solche schon in ausreichender Zahl seitens der freien Träger zur Verfügung stünden, werde kaum beachtet, so daß man fragen müsse, welchen Einfluß der Erlaß von Reichsgrundsätzen überhaupt noch 166

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§ 9, a-c des RJWG regelte die Zusammensetzung der Jugendämter; vgl. RGBl. 19221, 633 ff., und K.-W. Jans/E. Müller, Jugendwohlfahrtsrecht, 4. Vgl. das Sprechtag-Prot. v. 9.XII. 1926; ADCV, R 297 b 1.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

haben könne. - So schlug man jetzt einen anderen Weg vor: Die freie Wohlfahrtspflege solle „sich von dem grundsätzlich anerkannten Boden ihrer Selbständigkeit und Gleichberechtigung aus einfach neben die öffentliche Wohlfahrtspflege stellen" und höchstens noch allgemeine Reichsrichtlinien „für die Betreuung der Hilfsbedürftigen durch die Organe der öffentlichen Fürsorge" anregen.' 68 Das gestiegene Selbstbewußtsein der privaten Trägerverbände hatte konkrete Ursachen. Einmal waren seit der Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes und der Fürsorgepflichtverordnung überall katholische und evangelische Wohlfahrtsdienste in den Kommunen gebildet worden. 169 Hier verbanden sich die jeweils auf lokaler Ebene agierenden kirchlichen Organisationen - nach Konfessionen getrennt und meist unter der Leitung eines Geistlichen - und konnten somit gegenüber den städtischen Fürsorgeinstitutionen einheitlich agieren, was nicht ohne positive Folgen im Sinne der freien Wohlfahrtspflege geblieben war. Außerdem brachte die ,dritte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen' vom 4. Dezember 1926 den namentlich aufgeführten sieben Spitzenverbänden - bis auf die Arbeiterwohlfahrt inzwischen alle zur Liga gehörig - endlich die erstrebte staatliche Anerkennung in gesetzlich kodifizierter Form. 170 Der Kampf um Gleichberechtigung im Rahmen der Neuorientierung des Fürsorgewesens nach dem Ersten Weltkrieg war damit erfolgreich bestanden. Künftigen Auseinandersetzungen konnte man mit diesem Rechtstitel gelassen entgegensehen und auf die Hilfskonstruktion fest umrissener ,Reichsgrundsätze' verzichten, solange sich die politische Lage nicht grundlegend veränderte. II.3.5. Noch einmal: Deutsches Rotes Kreuz Arbeiterwohlfahrt und Deutsches Rotes Kreuz nahmen zwar nicht ständig an den Liga-Sitzungen teil, wurden jedoch bei sie mitbetreffenden Angelegenheiten

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Nach der zweiten Denkschrift Wuermelings v.27.11.1927, a.a.O. - W. war offensichtlich der einzige, der an dem Gedanken der Reichsgrundsätze im ursprünglichen Sinne festhielt, wie seine Denkschrift ausweist; er konnte sich damit jedoch innerhalb der Liga wie auch des DCV nicht durchsetzen. Für den ev. Bereich vgl. dazu Gerhardt II, 280 ff. RGBl. 19261,494.Zu diesen Spitzenverbänden zählten die IM, der DCV, das DRK, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die ZdJ, die Christliche Arbeiterhilfe und die AWO. Zum Anlaß des Gesetzes s.a. den Art. „Soziale und kulturelle Wohlfahrtsrente" von A. Schott in: Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege 2 1929, 784-787.- Auf die Anleiheproblematik, die im Zusammenhang mit der Aufwertungsgesetzgebung jenen Anstalten der freien Wohlfahrtspflege einen Finanzausgleich zukommen ließ, die während des Krieges Anleihen gezeichnet hatten, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

157

regelmäßig eingeladen; 171 ein gemeinsamer Mindestinformationsstand war auf diese Weise gewährleistet. Auf Dauer blieb dieses Verfahren jedoch unbefriedigend, und Vöhringer unternahm deshalb große Anstrengungen, wenigstens das DRK doch noch für eine Liga-Mitgliedschaft zu gewinnen. Im Zusammenhang mit bestimmten Projekten, an denen sowohl die Ligaverbände als auch das Rote Kreuz beteiligt waren, lief die Kooperation über den Generalsekretär persönlich, so daß die Liga hier gar nicht in Erscheinung trat. Das geschah beispielsweise bei den Vorbereitungen zur ,Gesolei', der großen Kölner Ausstellung für Gesundheitspflege, Soziales und Leibesübungen, wo AWO und DRK personell wie hinsichtlich der Finanzierung von den Möglichkeiten der Liga profitierten. Schadete dies dem öffentlichen Prestige der Liga schon beträchtlich, so empfanden die Mitgliederverbände den Versuch des Roten Kreuzes als noch unhaltbarer, im internationalen Bereich so etwas wie einen Alleinvertretungsanspruch für die gesamte deutsche Wohlfahrtspflege zu behaupten. Schon bald nach seinem Amtsantritt schlug Vöhringer Präsident Lerchenfeld deshalb vor, entweder in einen Verdrängungswettbewerb mit dem DRK einzutreten oder eine gütliche Einigung anzustreben; er bevorzuge letzteres, da ein offener Kampf auch das Ansehen der Liga in Mitleidenschaft ziehen werde. Vielleicht könne man die Auslandsrepräsentanz der Liga dem Roten Kreuz dann überlassen, wenn jenes bereit sei, Mitglied der Liga zu werden, und außerdem einen besonderen internationalen Ausschuß einrichte, in dem die Liga Sitz und Stimme habe. 172 - Graf Lerchenfeld und Prälat Kreutz begrüßten die Anregung des Generalsekretärs, Kreutz freilich mit der Einschränkung, auch er sei „für eine friedliche Lösung", aber ohne falsche Kompromisse: „Wir können in der Liga keine privilegierten Mitglieder gebrauchen." 173 Für die bevorstehenden Verhandlungen einigte sich das Liga-Präsidium im Oktober 1926 auf vier Richtlinien: Die Liga wolle keinesfalls die Eigenständigkeit der Mitgliederverbände einengen und verstehe sich auch nicht als „Kampforganisation gegen die öffentliche Wohlfahrtspflege", d. h. man werde das Rote Kreuz nicht „in einen Gegensatz gegen die öffentliche Fürsorge hinein[..]drängen". Die internationalen Verpflichtungen des DRK würden durch die Liga nicht berührt; allerdings verwahre man sich auch künftig gegen alle Versuche, die freie Wohlfahrtspflege im Ausland ohne Mandat zu vertreten. 174 Das Deutsche Rote Kreuz befand sich Ende 1925 in einer prekären Lage: Die erwähnten Versuche des Reichsarbeitsministeriums, das Rotkreuzzeichen auf

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Beschluß der Liga-Sitzung v. 18.11.1925; ADW, CA 11951. Schreiben Vöhringers an Graf Lerchenfeld v. 19.VIII. 1925.Ausweislich einer handschriftlichen Notiz war der Präsident mit diesen Vorschlägen einverstanden; ADCV, 460,

1.

Kreutz an Lerchenfeld v. 11 .IX. 1925; ebd. Prot. v. 19.X. 1925; ADW, CA 11951.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

alle Verbände der freien Wohlfahrtspflege zu übertragen und eine exklusive Nutzung durch das DRK zu unterbinden, berührten Selbstverständnis und selbstgewählte Aufgabenbereiche in psychologischer wie materieller Hinsicht und nötigten den Vorstand zu vorsichtiger Kompromißbereitschaft. 175 Es scheint so, als hätten erst die vermeintlichen oder tatsächlichen Bedrohungen der Verbandsintegrität durch die „Aktion Ritter", wie die Initiative des Ministeriums allgemein genannt wurde, zu einer Wiederannäherung an die Liga geführt. Trotz der bekannten guten Beziehungen zwischen der Wohlfahrtsabteilung des Ministeriums und der Deutschen Liga dürften sich die Verantwortlichen des Roten Kreuzes von einer Mitgliedschaft einen gewissen Schutz erhofft haben und waren deshalb bereit, wieder in Verhandlungen einzutreten. Am 11. November trafen die Generalsekretäre Vöhringer und Frhr. v. Rotenhan zu ersten vorbereitenden Gesprächen zusammen. Rotenhan versicherte noch einmal, seine Organisation sei bisher nicht aus „Prestigerücksichten" der Liga ferngeblieben, sondern wegen Befürchtungen hinsichtlich ihrer internationalen Verpflichtungen; die .Aktion Ritter' habe diese Sorgen noch verstärkt, und wenn die Liga den Standpunkt des Reichsarbeitsministeriums in der Frage des Abzeichens teile, könne es Beitrittsverhandlungen nicht geben. Vöhringer erklärte daraufhin, die Liga verhalte sich neutral. Wenn eine reichsgesetzliche Regelung die Anerkennung des Rotkreuzzeichens ausschließlich als Neutralitätssymbol festlege, wolle die Liga darauf auch keinen Anspruch mehr erheben. Wenn sich allerdings Ritters Auffassung durchsetze, werde man dazu auch Stellung beziehen. Im übrigen - so Vöhringer - sei es an der Zeit für eine klare Entscheidung; es gehe auf Dauer nicht an, das Rote Kreuz, „so wie bisher geschehen, immer mit durchzuschleppen und an den Erträgnissen der Arbeit der Liga teilnehmen zu lassen". 176 Obwohl v. Rotenhan diesen Vorwurf akzeptierte, ergaben sich aus der Unterredung noch keine greifbaren Ergebnisse; immerhin legte das DRK nun seinerseits die Marschrichtung für einen Eintritt in die Liga fest. Die Mitgliedschaft wurde an vier Bedingungen geknüpft: Man wolle nur als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege beitreten und den internationalen Aufgabenbereich ausklammern. Außerdem solle § 5 der Liga-Satzung, der ein zu schaffendes gemeinsames Abzeichen vorsah, ersatzlos gestrichen werden, um die erwartete gesetzliche Lösung dieser Frage nicht zu präjudizieren. Die beiden letzten Punkte betrafen vermögensrechtliche Fragen im Falle einer Auflösung der Liga.177 Auf diese - im Vergleich zu den vorhergehenden - maßvollen Forderungen konnte sich die Liga einlassen. Nach Überwindung letzter Schwierigkeiten wegen des nachträglich erhobenen DRK-Anspruchs, wie Innere Mission und

175 176 177

Dazu vgl. nochmals Anm. 58 dieses Kapitels. S. Prot. v. 10.XI. 1925; ADW, CA 1195 II. Nach dem Vorbereitungspapier zur Präsidiumssitzung am 18.XII. v. 12.XII. 1925; ebd.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Caritas auch drei Vertreter in das Liga-Präsidium zu entsenden, 178 stand einem Beitritt nichts mehr im Wege: Am 4. März 1926 fand in feierlichem Rahmen die Aufnahme des Roten Kreuzes in die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege statt.179 Damit war nach langen Querelen, die vor allem den Beteiligten auf seiten der Liga viel Geduld abnötigten, aber auch innerhalb des Deutschen Roten Kreuzes einen Umdenkungsprozeß bewirkten, so etwas wie eine gemeinsame Front der freien Wohlfahrtsverbände zustande gekommen. Lediglich die Arbeiterwohlfahrt blieb aus Gründen ideologischer Abgrenzung fern; diese lagen sowohl in ihr selbst als auch in der Abneigung der konfessionellen Verbände gegenüber einer Zusammenarbeit. Spiritus rector und Architekt des Rotkreuzbeitritts war eindeutig Vöhringer, der damit seine erste große Bewährungsprobe als Generalsekretär bestand. Prälat Kreutz gratulierte ihm mit bewegten Worten „zur Abdichtung dieser Phalanx der Liga, die beim dauernden Fehlen des D e u t schen] Roten Kreuzes doch an mehr gelitten hätte, als bloß an einem Schönheitsfehler", und meinte, das Postulat „viribus unitis" sei nun für die gemeinsame Arbeit erfüllt.180 In der Tat spielte aus solcher Perspektive die Arbeiterwohlfahrt jetzt keine Rolle mehr, denn diejenigen Verbände, die ohne Wenn und Aber die freie Wohlfahrtspflege bejahten, waren vereint. Angesichts des schwindenden Einflusses der Sozialdemokratie im Reich brauchte man auf ihr nahestehende Unterorganisationen nicht mehr in dem Maße Rücksicht zu nehmen wie früher und konnte sich ohne Abstriche der gemeinsamen Arbeit und der Auseinandersetzung mit den öffentlichen Trägern in Ländern und Kommunen widmen. II.3.6.,

Volkshilfe in Volksnot':

Das

Winterhilfswerk

Die wenigen wirtschaftlich relativ stabilen Jahre der Republik waren angefüllt mit zahlreichen Initiativen der Liga, die hier im einzelnen nicht behandelt werden können; 181 denn ein Problem erwies sich je länger je mehr als beherrschend

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Auch dieser, an sich völlig unangemessenen Forderung gaben die Altmitglieder nach, um nicht den Beitritt des DRK noch im letzten Moment zu gefährden; Schreiben Vöhringers an Kreutz v. 11 .II. 1926; ADCV, 460,1. Mitteilung v. Ackens an die Direktion des DCV v. 6.III. 1926; das Prot, selbst scheint nicht erhalten. Ebd. Kreutz an Vöhringer v. 30.XII. 1925; ebd. Im Binnenbereich der freien Wohlfahrtspflege spielten u. a. die Vorbereitungen zur Einrichtung einer Unfallberufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, die am 28.VI. 1929 gegründet wurde, eine gewichtige Rolle, da sie auch die Angehörigen der geistlichen Orden und Diakonissenmutterhäuser bzw. Diakonenanstalten zur Mitgliedschaft verpflichtete, was mit Kosten verbunden war und deshalb zunächst abgelehnt wurde. Vgl. dazu Vöhringer, „Die Einführung der berufsgenossenschaftlichen Unfallversicherung in der freien Wohlfahrtspflege", in: Freie Wohlfahrtspflege 6.1931/32, 1 -11.49-67, und ADW, CA 1195 V.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

für die Dachorganisation: die drückende finanzielle Lage. Diese betraf die Wohlfahrtspflege insgesamt und war keineswegs auf die freien Träger beschränkt. Alle Diskussionen über Aufgaben und Möglichkeiten praktischer Fürsorge begannen und endeten immer wieder bei der Finanzierungsfrage, die schon lange vor der 1929/30 einsetzenden Weltwirtschaftskrise den Spielraum für Innovationen einengte, aber auch die Erhaltung des Bestehenden zunehmend problematisch machte. Der Wohlfahrtsstaat Weimarer Prägung, in der Verfassung verankert und durch die Ministerialbürokratie im Reich und in Preußen im ersten Jahrfünft der Demokratie zügig ausgebaut, schien einfach nicht mehr bezahlbar. Als die Krise mit ihren bekannten Folgen dann auch Deutschland mit voller Wucht erreichte, stiegen die Probleme der Wohlfahrtspflege ins Uferlose; ein Ausweg war nicht in Sicht. Auf diesem Hintergrund müssen Idee, Vorbereitung und Durchführung der Winterhilfe gesehen werden, die in ihrer reichsweiten Ausdehnung innerhalb der Liga entstand und mit der die Grundlagen für das heute meist dem Nationalsozialismus zugeschriebene Massenhilfswerk geschaffen wurden. Die Winterhilfe blieb die größte über den Rahmen der engeren Wohlfahrtspflege hinausgehende Leistung der Liga, wenn das auch von der Öffentlichkeit trotz intensiver Pressearbeit nicht hinreichend gewürdigt wurde. Es ist kennzeichnend für das Schicksal der freien Verbände im Dritten Reich, daß die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt ihnen das Winterhilfswerk auf der Höhe seiner Wirksamkeit aus der Hand nahm und die errungenen und wie sich zeigen sollte - propagandistisch wie materiell ausbaufähigen Erfolge für sich beanspruchte. 182 II.3.6.1. Die Finanzlage Nach Einführung der Rentenmark verringerten sich die Reichszuwendungen kontinuierlich. Auch wenn diese Mittel ausdrücklich „nicht mehr als einen knapp bemessenen Zuschuß zur Selbsthilfe" darstellen sollten und ihrem Charakter entsprechend Jahr für Jahr zurückgingen, 183 versuchte die Liga immer wieder, das Reich zu einer Festschreibung der Höhe der gewährten Gelder zu veranlassen. Gewisse Hoffnungen dürfte vor allem die Caritas auf den Minister182

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Einen ersten Abriß zur Geschichte des Winterhilfswerks im Nationalsozialismus bietet Thomas E.de Witt, „The Struggle against Hunger and Cold. Winter Relief in Nazi Germany 1933-39". Der Vf. geht auf die Genese und Vorgeschichte dieser beispiellosen öffentlichen Sammlungsaktion in der Weimarer Republik nicht ein. Damit übernimmt er implizit die NS-Version der Entstehung des WH W, die im Schrifttum der NSV und in zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten mit dem Aufruf von Goebbels am 13.IX.1933 zum ersten WHW auf den Spätsommer 1933 datiert wird. Vgl. Walter Klaus Köbel, Die Rechtsform des Winterhilfswerkes, 16f. - S. dagegen jetzt Florian Tennstedt, „Wohltat und Interesse", und Herwart Vorländer, „NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des deutschen Volkes". Vgl. Deutsche Sozialpolitik 1918-1928,259f.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Wechsel mit Antritt des ersten Kabinetts Brüning gesetzt haben, als der Führer der christlichen Gewerkschaften, Adam Stegerwald, den Sozialdemokraten Rudolf Wissell im Amt des Reichsarbeitsministers ablöste. Kennzeichnend für den Umgang miteinander, der von einer Mischung aus konfessionspolitischer Vertraulichkeit - Stegerwald war, wie bereits angemerkt, auch Vorstandsmitglied der Caritas 1 8 4 - und Respekt vor dem hohen Amt geprägt wurde, ist ein Briefwechsel zwischen Kreutz und Stegerwald von Ende 1930. Darin warf der Caritas-Präsident dem neuen Minister vor, die Interessen der freien Wohlfahrtspflege in finanzieller Hinsicht nicht genügend zu wahren. Selbst der Sozialdemokrat Wissell habe 1929 den Etatansatz im wesentlichen halten können und der Liga gegenüber geäußert, „daß er als sozialistischer Minister nicht die Hand dazu leihe, daß dieser Wohlfahrtsetat zulasten der freien Liebestätigkeit gekürzt werde"; und nun wolle er, Stegerwald, in den man so große Hoffnungen setze, eben dieses tun? Es gehe nicht an, „daß der sozialistische Reichsminister mit größerem Nachdruck die freie Liebestätigkeit verteidigt hätte als der Reichsminister des Zentrums". 1 8 5 Stegerwald antwortete darauf konziliant, aber bestimmt, er wende sich gegen einseitige Interessenvertretungen und werde in diesem Punkt selbst dann dem Kabinett gegenüber loyal an den gefaßten Beschlüssen festhalten, wenn er damit in den falschen Verdacht gerate, er bringe für die Not des Volkes nicht genügend Verständnis auf. 1 8 6 Da sich das Reich außerstande sah, seine Zuschüsse an die freie Wohlfahrtspflege auf dem ursprünglichen Stand zu belassen, und die Länder und Kommunen - einmal ganz abgesehen von der zuweilen spürbaren Rivalität zwischen öffentlichen Trägern und privaten Einrichtungen - mangels eigener Ressourcen dafür ebenfalls keine Gelder freimachen konnten, erhielten Überlegungen in Richtung einer verstärkten Selbstfinanzierung neuen Auftrieb. Doch auch die Quellen, aus denen die Mittel der privaten Fürsorge früher kamen, flössen seit der Inflation nur noch spärlich. Die traditionell für die freien Verbände spendenden Bevölkerungsschichten waren verarmt und verfügten oft selbst nicht mehr über genügend finanziellen Rückhalt, um den gewohnten Lebensstandard aufrechtzuerhalten. So mußten neue und unkonventionelle Wege beschritten werden, um die freie Wohlfahrtspflege vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Dies geschah nach zwei Seiten hin: Neben einer Reaktivierung des Sammlungswesens, für das man die restriktive Genehmigungspraxis der Staatsbehörden zu lockern bestrebt war, 187 hoffte die Liga auf Einnahmen aus einer zu organisie184 185 186 187

Van Acken an Kreutz v. 15.XII. 1924; ADCV, 4 6 0 , 1 . Schreiben V . 3 0 . X I . 1 9 3 0 ; ADCV, R 297 b II. Antwort Stegerwaids V.18.XII. 1930; ebd. Die angestrebte Neuordnung des Sammlungswesens war eng verbunden mit Überlegungen, ein Reichsgesetz zum Schutz der Wohlfahrtspflege zu schaffen, da die Bundesratsverordnung v. 1917 nicht mehr auszureichen schien. - Die Liga ihrerseits versuchte, eine Lockerung der relativ strengen Sammlungsbedingungen zu erreichen, indem etwa ver-

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

renden besonderen Wohlfahrtslotterie für ihre Zwecke und strebte außerdem danach, halböffentliche Konkurrenzorganisationen wie die Deutsche Zentralstelle für die Auslandshilfe oder die Deutsche Nothilfe in die Liga zu integrieren bzw., wie in letzterem Fall, deren öffentliche Wirksamkeit durch Vereinbarungen mit Behörden und Ministerien auf ein ihr ungefährliches Maß einzugrenzen. Die kapitalkräftige Deutsche Zentralstelle, über die in der unmittelbaren Nachkriegszeit die gesamte Auslandshilfe koordiniert worden war, hatte ihre Geschäftsstelle schon 1925 mit derjenigen der Liga vereinigt; sie brachte unter anderem einen Restbetrag von 100.000 $ der Deutsch-Amerika-Stiftung des Central Relief Committee in die Liga ein.188 Die Deutsche Nothilfe dagegen, auf dem Höhepunkt der Inflation gegründet, fungierte in den Jahren bis 1929 nur noch als Ausgabestelle für die von ihr 1924 erstmals kreierten Wohlfahrtsbriefmarken; sie gewann - sehr zum Ärger der Ligaverbände, die darin eine lästige Konkurrenz sahen - mit dem drastischen Ansteigen der Notsituation für weite Bevölkerungsschichten wieder an Bedeutung. 189 - Schon früh dachte man über Erfolgschancen einer eigenen Liga-Lotterie nach, die zunächst nur die nicht unerheblichen Verwaltungskosten der Geschäftsstelle abdecken sollte.190 Arbeiterwohlfahrt und Rotes Kreuz führten bereits derartige Lotterien durch, allerdings in kleinerem Rahmen, und in den Verhandlungen mit dem preuß. Ministerium für Volkswohlfahrt, dem hier Aufsichtsrechte zustanden, tauchte immer wieder die Frage auf, ob die Glücksspielaktionen einzelner Spitzenverbände neben einer großangelegten Liga-Lotterie noch Bestand haben könnten. 191 Im

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mehrt Jugendliche für Straßensammlungen auch in den größeren Städten eingesetzt werden konnten, was nach geltendem Recht nicht gestattet war; zum Komplex vgl. ADW, CA 1195, Z 3. Zur Geschichte der DZA cf. Vöhringer, Art. „Deutscher Zentralausschuß für die Auslandshilfe", in: Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege 2 1929, 171 f. Zur Deutsch-Amerika-Stiftung s.die Prot, der Präsidiumssitzungen v. 18.XII.1925 (ADW, CA 1195 II) und v. 13.X. 1926, a. a. O., 1195 Ia. Auch die Aufnahme einer US-Anleihe über die DZA wurde in der Liga ventiliert; dazu scheint es aber nicht gekommen zu sein, was die Liga anders als die Innere Mission, die eine solche Anleihe gezeichnet hatte, in der Weltwirtschaftskrise mit ihren plötzlichen Kapitalrückforderungen vor drückenden wirtschaftlichen Problemen bewahrt hat. Frhr. v. Gemmingen, Art. „Deutsche Nothilfe", in: Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege 2 1929, 4 8 0 f . - Manche Oberpräsidenten und Reichsbehörden bevorzugten die Deutsche Nothilfe als Spendensammelstelle gegenüber anderen wohlfahrtspflegerischen Einrichtungen wegen ihrer weltanschaulichen und verbandspolitischen Neutralität, vor deren Hintergrund die Nothilfe als Ausdrucksform der solidarisch zusammenstehenden Volksgemeinschaft erschien. Vgl. das Prot, der Präs.-sitzung v. 8.VI. 1926; ADCV, 460.040,1. Eine nur zur Deckung der Liga-Verwaltungskosten veranstaltete Lotterie hatte danach keine Aussicht auf Genehmigung; s.a. Prot, der Liga-Sitzung v.9.1.1928, ebd. Vgl. das Schreiben Vöhringers an den CA f.IM v. 12.XII. 1929; ADW, CA 1195 IV. In Preußen wurden danach jährlich Lose für 10 Mio. RM verkauft, die einen Reinertrags-

IL.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Mai 1931 gab das Ministerium endlich sein Placet, allerdings nur für einen verhältnismäßig geringen - Reinertrag von 500.000 RM und verbunden mit der Auflage, zunächst detaillierte Verwendungspläne einzureichen. 192 Im Oktober des Jahres konnte die Aktion dann realisiert werden, jedoch nicht im Namen der Liga, sondern als 21. preußische Volkswohl-Lotterie, deren Ertrag ausschließlich der Winterhilfe zugute kommen sollte.193 Trotz solcher vielfaltigen Bemühungen, neue Geldquellen zu erschließen, gelang es der Liga weder kurzfristig noch auf längere Sicht, die finanzielle Lage der freien Wohlfahrtspflege zu konsolidieren. Die allgemeine Notsituation, die sich mit Zunahme der Arbeitslosigkeit ständig verschärfte, überstieg aber nicht nur ihre Möglichkeiten, sondern auch jene der Länder und Kommunen, für die Oberbürgermeister Heimerich/Mannheim auf der Tagung des Hauptausschusses des Deutschen Vereins im Oktober 1931 erschütternde Zahlen vorlegte: Danach waren die Wohlfahrtsausgaben seiner Stadt gemessen am Gesamtetat von 15,3% im Jahre 1914 auf 36,1% 1920, auf 43,4% 1930 und auf 55% 1931 gestiegen; in den Gemeinden des rheinisch-westfälischen Industriegebiets und in den großen Metropolen wie Berlin und Hamburg schätzte man den entsprechenden Anteil noch höher. 194 Bei einer Gesamteinwohnerzahl des Deutschen Reiches von 62,4 Millionen waren im Januar 1931 fast 10 Mio. Menschen oder 16% der Bevölkerung auf öffentliche Unterstützung angewiesen, d.h. wenn man die Familienmitglieder hinzurechnet, lebte jeder Sechste von der Fürsorge. Dieser Personenkreis setzte sich aus vier Großgruppen zusammen: den Empfangern der Arbeitslosenversicherung, den Unterstützten der Krisenfürsorge, d. h. jenen, die länger als ein halbes Jahr arbeitslos waren, den Wohlfahrtserwerbslosen, die nach einjähriger Arbeitslosigkeit aus der Krisenfürsorge auszuscheiden hatten, und schließlich aus der sonstigen unterstützungsbedürftigen Bevölkerung, wie Klein- und Sozialrentnern, Kriegsbeschädigten etc.; Kurzarbeiter und arbeitslose nicht versicherungspflichtige Angestellte waren in dieser Aufstellung genausowenig erfaßt wie die hohe Zahl von Jugendlichen ohne Arbeit, die von der

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wert zwischen 2 und 2,5 Mio. RM erbrachten. Die AWO besaß bereits eine Lotterie mit einem Spielkapital von 1 Mio. RM. Prot, der Liga-Sitzung v. 22.V. 1931; ADW, CA 1195 VI. - Die eingereichten Pläne lehnte das Ministerium jedoch ab, da „angesichts der katastrophalen Notlage [...] nur Verwendungspläne Genehmigung finden [könnten], welche sich auf die Bekämpfung der unmittelbaren Nöte beschränken"; Prot, der Liga-sitzung v. 27.VII. 1931, ebd. Vgl. das Prot, der Liga-Sitzung v. 13.XI.1931, ebd. - Zu gewinnen waren Landhäuser, Weltreisen, Automobile usw.; vgl. den Prospekt der Volkswohl-Lotterie in der Anlage zum Prot, der Präs.-sitzung v.ll.XII.1931; a.a.O., 1195 VII. Zur historischen Entwicklung von Wohlfahrtslotterien s. a. Johannes Sunder, „Lotterie und Wohlfahrtspflege. Aus vier Jahrhunderten Geschichte des Lotterie- und des Armenwesens", in: Freie Wohlfahrtspflege 7.1932/33,344-352.443-465. Zahlen nach Bruno Jung, „Entwicklungstendenzen der Wohlfahrtspflege in der deutschen Notzeit", in: Freie Wohlfahrtspflege 6.1931/32,393-405,399.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Liga Ende Januar 1931 auf 550.000 geschätzt wurde. 195 - Dauernd problematisch blieb ferner die mangelhafte Auslastung der geschlossenen Fürsorge und die Unmöglichkeit, den Pflegekostenanteil der öffentlichen Hand zu erhöhen. Die während des,Booms' Mitte der 20 er Jahre überall erfolgten Neuinvestitionen hatten zu Bettenüberkapazitäten geführt, die nun eine wirtschaftliche, d.h. kostendeckende Betriebsführung verhinderten. 196 Schließlich neigten viele Kommunen dazu, wenn schon nicht die eigenen Einrichtungen zu sanieren oder doch wenigstens zu halten, was in der Regel zu Lasten der freien Träger ging. Statt engerer Zusammenarbeit zwischen Liga und kommunalen Spitzenverbänden wurden zu Beginn der Krise zunächst ideologische Ressentiments wiederbelebt. Sie richteten sich vor allem gegen konfessionelle Anstalten und hatten häufig die Funktion, die mit ,harten Bandagen' ausgefochtenen Verteilungskämpfe um jedes Bett und jeden Fürsorgezögling nach außen hin zu legitimieren. 197 - Es nützte der freien Wohlfahrtspflege auch wenig, wenn sie ihr stärkstes Argument gegen die öffentlichen Träger ins Feld führte: nämlich ihre kostenmäßig höhere Effizienz. Im Dezember 1930 gab die Liga eine aufschlußreiche Materialsammlung heraus, in der Johannes Sunder die jeweiligen Kosten miteinander verglich und eine detaillierte Aufstellung über die einzusparenden Gelder bei einer Übertragung aller bisher von Gemeinden und Ländern wahrgenommenen Aufgaben der geschlossenen Fürsorge vorlegte. 198 In der Tat waren die präsentierten Zahlenbeispiele frappant, die vor allem auf den Sektoren Fürsorgeerziehung und Krankenhauswesen bei den freien Trägern Minderselbstkosten von 30 bis 50% gegenüber den kommunalen oder Landes- bzw. Provinzialeinrichtungen auswiesen. Belief sich die eingesparte Summe bei den bestehenden Fürsorgeerziehungsheimen laut Sunder bereits auf 21,5 Mio. RM jährlich, so errechnete er fürden Gesamtbereich der freien Wohlfahrtspflege rund 250 Mio. RM, von denen

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„Zahlen der Not", a. a. O., 5.1930/31,483 f. Vgl. die Prot, der Liga-Sitzung v. 17.11.1931 und der Besprechung mit Vertretern der kommunalen Spitzenverbände am 21.11. d.J.; ADW, CA 1195 V.S.a. die Memoranden des Liga-Justitiars Philipsborn und eines Dr. v. Schmeling über die Lage der Anstalten und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege und ihre Erhaltung v. Februar 1932; ADW, CA 1195 VII. S. dazu den instruktiven Aufsatz von Hans Achinger, „Fürsorge und Weltanschauung", 180: „Da legt man Anstalten trocken, d. h. man schickt ihnen keine neuen Zöglinge mehr und läßt sie durch Überschuldung eingehen, und zwar oft aus keinem anderen Grunde, als dem politischen Widerwillen eines Kommunallandtags gegen konfessionelle Erziehung [...]. Kurz und gut: Man streitet sich in der Fürsorge an Menschen um bare Macht und die Gewalt über Menschen, die das Unglück gehabt haben, hilfsbedürftig zu werden, und man nutzt diese Macht aus zu dem Versuch, diese Menschen, sei es politisch, sei es konfessionell, in die Hand zu bekommen." Johannes Sunder, „Was erspart die freie Wohlfahrtspflege der öffentlichen Wirtschaft und was könnte sie ihr ersparen? Eine vorläufige Materialsammlung", in: Freie Wohlfahrtspflege 5.1930/31,385-402.521-524.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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die öffentliche Hand jährlich durch die privaten Träger entlastet werde. 199 - Der damit implizit angemeldete Anspruch, Arbeitsfelder der öffentlichen Fürsorge zugunsten der freien Verbände abzubauen, ließ sich in der Praxis zwar nicht realisieren, dürfte aber dazu beigetragen haben, daß kommunale Vertretungskörperschaften wie der Deutsche Städtetag und Landes- bzw. Provinzialbehörden im Zeichen der alle betreffenden Notlage wieder mehr Verständnis für die freie Wohlfahrtspflege entwickelten und ungeachtet einzelner Übergriffe die Zusammenarbeit verstärkten. 200 Andererseits wird man dem Urteil Gerhard Bucks zustimmen, der die Selbsteinschätzung der privaten Wohlfahrtspflege „als letzter sozialpolitischer ,Ausfallbürge' in der allgemeinen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise" als »Täuschung' qualifiziert, weil auch sie von Steuern, Sammlungen und Spenden abhängig blieb und die radikale Beschneidung der öffentlichen Sozialleistungen auf das Niveau des absoluten Existenzminimums höchstens „abmildern oder hinauszögern", aber keine tragfähige Dauerlösung anbieten konnte.201 Wie oben ausgeführt, waren öffentliche und private Wohlfahrtspflege ungeachtet aller exogenen Faktoren an dieser Entwicklung freilich nicht unschuldig. Anstelle sparsamster Ausgabe der vorhandenen Mittel hatten sie ohne Zögern zugegriffen, wenn sich mit Hilfe staatlicher Zuschüsse oder Kredite die Möglichkeit bot, neue Objekte, die gelegentlich Prestigebedürfnisse widerspiegelten, zu errichten, ohne daß in jedem Falle zuvor gutachterlich die Bedarfssituation geprüft worden wäre. Die Schattenseiten des Wohlfahrtsstaates: übermäßige Bürokratisierung aller Hilfsmaßnahmen oder Vertrustung', wie man im zeitgenössischen Sprachgebrauch sagte,202 sowie die Orientierung an Idealvorstellun199

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Auch der Reichsfinanzminister nahm die Ausarbeitung Sunders mit Interesse zur Kenntnis und beauftragte den Reichssparkommissar, die dort ausgeworfenen Zahlen zu überprüfen; vgl. Prot, der Präs.-sitzung v.l.VII.1931, ADW, CA 1195 VI, und das Prot, der Liga-Sitzung V.20.VIII. 1931, ADCV, 460.040,2. Vgl. nochmals das Prot, der Besprechung mit Vertretern der kommunalen Spitzenverbände v. 21.11.1931 ; ADW, CA 1195 V.Anfang 1931 klagte Kreutz dem damaligen Ministerialdirektor und späteren Reichsfinanzminister Graf Schwerin v. Krosigk die offenkundige Benachteiligung der freien Wohlfahrtspflege durch die ineffizienter arbeitenden Kommunen; Zuschüsse von Reich und Ländern für die freien Träger seien deshalb hier besser angelegt als innerhalb der öffentliche Fürsorge; Exposé von Kreutz als Anlage eines Schreibens von Wienken an Steinweg v. 17.11.1931 ; ADW, CA 744 II. Gerhard Buck, „Die Entwicklung der freien Wohlfahrtspflege von den ersten Zusammenschlüssen der freien Verbände im 19. Jahrhundert bis zur Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips in der Weimarer Fürsorgegesetzgebung", in : Rolf Landwehr/Rüdeger Baron (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit, 139-172,170f. Die ganze Organisation der freien Wohlfahrtspflege „gemahnt in nahezu erschreckender Weise an die großen Kartelle der Wirtschaft. Auch hier in den Spitzenorganisationen der freien Fürsorge ist die Rationalisierung - wenigstens der Idee und Absicht nach - im Fortschreiten begriffen. Fast überkommt einen das Gefühl : Wo bleibt hier noch das der freien Fürsorge Eigentümliche? Man kann bereits von einer Art,Riesenvertrustung' der freien

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

gen, die jeden vernünftigen Kostenrahmen sprengen mußten, wirkten sich auch innerhalb der freien Verbände aus. Deren gerühmte Flexibilität und Uneigennützigkeit angesichts neuer Herausforderungen schwand zusehends, und es war nicht von ungefähr die Innere Mission, die durch den sogenannten DevaheimSkandal 1931/32 fast bankrott gegangen wäre, wenn nicht die Reichsregierung mit dem Kanzler an der Spitze aus staatspolitischen Erwägungen heraus den Zusammenbruch mit Zuschüssen und Bürgschaften abgewehrt hätte. 203 - Selbstkritisches zur Lage war aus den Reihen der Wohlfahrtspflege selten zu hören, wohl um nicht die Position der jeweils eigenen Seite in der Öffentlichkeit zu schwächen. Nur unabhängige Beobachter der Szenerie wie der Nestor der Fürsorgewissenschaft als Universitätsdisziplin, Prof. Klumker aus Frankfurt, wagten manchmal ein offenes Wort, das dann an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen konnte. Im Dezemberheft 1931 der,Freien Wohlfahrtspflege' übte Klumker schärfste Kritik am Zustand der deutschen Fürsorge, die er angesichts der Massennot auf den Stand polizeilich reglementierter Armenpflege der Zeit um die Jahrhundertwende zurückfallen sah.204 Der Traum vom Wohlfahrtsstaat war für ihn ausgeträumt; kostspielige und gutgemeinte, wenngleich auf individuelle Zuwendung respektive Wiedereingliederung der Hilfsbedürftigen zielende Fürsorge werde nun nach dem römischen Vorbild von Brot und Spielen durch die Verteilung von Almosen abgelöst; nicht allein um den Unterstützungsempfängern das Existenzminimum zu sichern, sondern auch aus innenpolitischen Gründen, um Rebellion und Aufruhr zu verhindern. Diese Art prohibitiver Wohlfahrtspflege habe mit dem nach dem Kriege gesteckten Ziel, Volksgemeinschaft zu bauen, kaum noch etwas zu tun. Schuld seien übertriebene Ansprüche und an der Realität vorbeigehende, ,utopische' Konzeptionen, ferner der falsche Weg, Fürsorge über Kredite und Auslandsanleihen zu finanzieren, und schließlich der Wasserkopf einer Wohlfahrtshierarchie, die in bürokratischer Übertreibung Fürsorge mehr verwalte als vernünftige und bezahlbare Initiativen'ergreife. Wohlfahrtspflege als Instrument sozialer Kontrolle - dieser heute so geläufige Interpretationsansatz neuerer Untersuchungen zur Geschichte der Armenpflege 205 - wurde also schon von Zeitgenossen als Vorwurf gegen eine als verhängnisvoll begriffene Entwicklung gebraucht. In der Tat gibt es Belege dafür,

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Wohlfahrtspflege sprechen, einem ,enormen Apparat, dessen Schaltwerk nur wenige Sachkundige kennen und zu bedienen vermögen'"; Else Wex, „Die Entwicklung der sozialen Fürsorge in Deutschland", in Anlehnung an Annemarie Fraenkel, „Die Neugewinnung ehrenamtlicher Hilfskräfte und ihre Aufgabe", in: Mitteilungen des Deutschen Verbandes der Sozialbeamtinnen, Sept. 1927. - Vgl. a.Gerhard Buck, a.a.O., 171 f. Zum Devaheim-Skandal vgl. nochmals die Einleitung. Christian J. Klumker, „Fürsorge und Almosen. Die Lage der deutschen Wohlfahrtspflege", in: Freie Wohlfahrtspflege 6.1931/32,685-693. S. u.a. Wolfgang J.Mommsen (Hg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850-1950, passim, und Ernst Köhler, Arme und Irre.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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daß Politiker wie Reichsinnenminister Dr. Wirth der Wohlfahrtspflege auch diese, nun allerdings positiv gewendete Funktion zumaßen. So nahm Wirth im Zusammenhang mit der Organisation der Winterhilfe im Juli 1931 an einer LigaPräsidiumssitzung teil, um den Spitzenverbänden für ihren Einsatz im vergangenen Winter zu danken. Anlaß seines persönlichen Besuches „sei die Sorge um unsere staatliche Gemeinschaft gegenüber den Fluten des Radikalismus". Es sei erforderlich, daß die Wiederholung der Sammlungen im laufenden Jahre „nicht nur im Sinne der letzten Winterhilfe, sondern im Sinne einer großen auch nach außen hin stark in Erscheinung tretenden Aktion durchgeführt werde. An das ganze Volk müsse der Aufruf ergehen, damit wir der Sturmflut Herr werden." 206 Die Winterhilfe fungierte demnach als politisch-soziale Sammlungsbewegung, als gemeinsamer Versuch der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege, die unbestreitbar vorhandene Not zu lindem, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der innenpolitischen Situation zu leisten und schließlich im Binnenbereich der Fürsorge durch neue machtvolle und außenwirksame Initiativen aus der Sackgasse zu gelangen, in die der Wohlfahrtsstaat von Weimar hineingeraten war. Weil sich dieser im folgenden näher zu beschreibende Aufbruch des gesellschaftlichen Großbereichs ,Wohlfahrtspflege' jedoch nicht ausdrücklich zu bestimmten, den demokratischen Inhalten der Verfassung verpflichteten politischen Zielen bekannte, sondern sich mit den dunklen Leitbildern einer als überparteilich' apostrophierten völkischen Solidargemeinschaft begnügte, gewann die Winterhilfe am Ende von Weimar nicht jene integrierende politische Kraft, die - auf den vorhandenen demokratischen Grundlagen aufbauend - einen Impuls zur Konsolidierung der Republik hätte vermitteln können. Das gelang später, unter entgegengesetzten Vorzeichen zwar, dem Nationalsozialismus bis zur Perfektion: Der totale Staat übernahm um den Preis der bewußt gewollten radikalen Politisierung auch hier eine schon vorhandene äußere Form, die er mit seinen spezifischen Möglichkeiten füllte; so konnte er jenen .Erfolg' in sozialer und ideologischer Hinsicht für sich verbuchen, der dem Winterhilfswerk bürgerlich-konservativer Prägung versagt blieb.207

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Prot, der Präs.-sitzungv.l.VII.1931;a.a.O. - Zu den Versuchen Wirths und seines kommissarischen Nachfolgers Wilhelm Groener, den innenpolitischen Radikalismus auch mit Hilfe der Kirchen zu bekämpfen, s. J-C. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 298 ff. S. a. de Witt, a. a. O., 363: „Having criticized Weimar Authorities for creating an impersonal and costly welfare system which was bankrupting communities and demoralizing honest Germans who wanted work, not welfare, the Nazis had to offer tangible solutions after coming to power."

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

II.3.6.2. D i e H i l f s m a ß n a h m e n bis 1933

Die Idee, für den Fall überraschend eintretender Notsituationen vorsorglich besondere Hilfsaktionen zu planen, wurde schon Mitte der 20 er Jahre innerhalb der Liga diskutiert. 208 Auslösendes Moment scheint damals die wirtschaftliche Lage des Grenz- und Auslandsdeutschtums gewesen zu sein und die aus LigaPerspektive drohende .Gefahr', daß der Deutsche Verein Polligkeits auf diesem Gebiet eigenständig handeln würde. Aber auch im Reich selbst glaubte man am Beginn der ökonomischen Erholungsphase! - mit regional plötzlich ausbrechenden Hungerunruhen rechnen zu müssen. Zwei Modelle standen zur Wahl: Denkbar war einmal die Ausarbeitung detaillierter Pläne für Sofortspeisungen in den notleidenden Gebieten im Benehmen und mit Finanzmitteln der zuständigen Ministerien oder die Einschaltung der Deutschen Zentralstelle für die Auslandshilfe, welche noch immer beträchtliche Zuwendungen für Kinderspeisungen erhielt, die man auch für die allgemeine Nahrungsmittelbeschaffung zu nutzen hoffte. Im ersten Fall hatte die Liga politische Rücksichten zu nehmen, da solche gemeinsamen Überlegungen von Staat und Verbänden bei Bekanntwerden in der Öffentlichkeit Beunruhigung auslösen würden; sie konnte sich damit aber für akute oder zukünftige Katastrophen jeder Art als vorausschauender Partner empfehlen. Bei Übertragung der Planungen auf die DZA blieb man unabhängig und verfügte doch über einen Fonds, mit dem Sofortmaßnahmen zu finanzieren waren. Die Liga entschied sich schließlich für die zweite Option, ohne vorauszusehen, daß in wirklich existenzgefährdenden Krisenzeiten wie in den Wintern 1930/31 bis 1932/33 sie allein mit Hilfe des DZA den Herausforderungen nicht gerecht werden würde.209 Erst im Herbst 1930 kam das Thema wieder auf die Tagesordnung einer LigaKonferenz, jetzt freilich unter völlig veränderten politischen, wirtschaftlichen 208

209

Schon im Spätherbst 1922 wurde die Idee einer Notstandssammlung mit dem Ziel der Schaffung eines Ausgleichsfonds auf der Grundlage von Spenden zur Förderung strukturschwacher Regionen des Reiches im Wohlfahrtspflegebereich diskutiert. Als Ergebnis entstand unter der Leitung von StS Dr. G e i b / R A M am 30.X.1922 die .Deutsche Notgemeinschaft', die alsbald in Konflikte mit weiteren Gründungen, diesmal auf Landes- und lokaler Ebene geriet. So versuchte der DRK-Präsident und brandenburgische Landesdirektor v. Winterfeldt, ein unter Führung seines Verbandes stehendes Hilfswerk, die,Winterhilfe/Notgemeinschaft' Berlin ins Leben zu rufen; Geschäftsführer sollte Regierungsrat Grüneisen werden. Allerdings war dieser kein Erfolg beschieden, da der Berliner Polizeipräsident im Einvernehmen dem preuß. Staatskommissar zur Regelung der Kriegswohlfahrtspflege, MD Dr. Bracht/preuß. Wohlfahrtsministerium, die Exklusivansprüche Winterfeldts in bezug auf Sammelgenehmigungen für seine Organisation zurückwies. Den Wünschen des DRK-Präsidenten zu folgen hätte nämlich bedeutet, alle anderen Sammelaktionen der freien Wohlfahrtspflege bis März 1923 zu untersagen - eine deutliche Spitze vor allem gegenüber den konfessionellen Trägern. Vgl. die Akte ZStADM, Rep. 191, Nr. 4288". Prot, der Liga-Sitzung v.21.1.1926; ADW, CA 1195 II.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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und sozialen Rahmenbedingungen. Vor allem die grassierende Arbeitslosigkeit, die gerade kaum unterstützungsberechtigte Jugendliche vor unabsehbare Probleme stellte, forderte Abwehrmaßnahmen der freien Wohlfahrtspflege heraus.210 Durch einen gleichzeitigen Vorstoß in der Öffentlichkeit und durch flankierende vertrauliche Verhandlungen mit den zuständigen Instanzen versuchte die Liga jener Benachteiligung jugendlicher Arbeitsloser und darüber hinaus der sozialen Notlage weitester Bevölkerungsteile gegenzusteuern. Eine große Sammelaktion wurde ins Auge gefaßt und die Fühlungnahme mit Länderverwaltungen und Reichsregierung beschlossen. Einhellig war man der Auffassung, „daß diese Aktion von der freien Wohlfahrtspflege nur in Übereinstimmung mit Behörden und Kommunen durchgeführt werden [... könne], aber grundsätzlich eine freie Aktion unter Führung der freien Wohlfahrtspflege bleiben" müsse. Noch dürfe man nicht an die Öffentlichkeit treten und könne das Hilfswerk höchstens psychologisch vorbereiten, um notfalls „auf Abruf mit der Aktion herauszutreten". 211 - Die Reichsregierung begegnete diesen Vorschlägen zunächst mit gewisser Zurückhaltung. Wie Brüning durch seinen Staatssekretär Pünder im Oktober mitteilen ließ, sei für den Kanzler die Unterstützung der Aktion augenblicklich nicht möglich, da sonst der mißliche Eindruck entstehe, die Regierung habe zur „Wirksamkeit ihrer eigenen Maßnahmen selbst kein Vertrauen". Auch legte Pünder Wert auf die Beteiligung der Arbeiterwohlfahrt, wohl um angesichts der Tolerierungspolitik der SPD nicht für unnötigen Konfliktstoff zu sorgen. Günstiger gestaltete sich das Echo aus Reichsarbeits- und Innenministerium; auch der Deutsche Städtetag äußerte sich entgegenkommend, und selbst die Arbeiterwohlfahrt signalisierte durch Stadtrat Friedländer zunächst das vorsichtige Einverständnis zu dem geplanten Unternehmen - eine Haltung, die freilich bald durch schroffe Ablehnung der gesamten Winterhilfe konterkariert werden sollte.212 Noch im selben Monat ließ die Reichsregierung ihre politischen Bedenken fallen und stimmte den Vorbereitungen der Liga schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu. Diese sah sich zur Eile gedrängt, denn inzwischen hatten auch ver-

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Die Beteiligung der Kirchen an Vorbereitung und Durchführung des freiwilligen Arbeitsdienstes kann im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden; vgl. für den evangelischen Bereich u.a. Friedrich Ulrich, „Die Mitwirkung der Kirche und Inneren Mission bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland", und Gerhard Stratenwerth, Die Sigmarshofer. Umschulung jugendlicher Erwerbsloser von der Industrie zur Landwirtschaft. - Eine zusammenfassende neuere Darstellung des freiwilligen Arbeitsdienstes in der Weimarer Republik liegt bisher nicht vor; Ansätze bieten Henning Köhler, Arbeitsdienst in Deutschland, und Karl Bühler, Die pädagogische Problematik des Freiwilligen Arbeitsdienstes. Prot, der Präs.-sitzung V.29.IX. 1930; ADW, CA 1195 V. Prot, der Liga-Sitzung V.16.X.1930, ebd. Zur Haltung von Arbeiterwohlfahrt und Gewerkschaften gegenüber dem Winterhilfswerk s. w.u., Kap. II.3.6.3.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

schiedene politische Verbände damit begonnen, Notstandssammlungen einzuleiten. Nun fürchtete man seitens der freien Wohlfahrtspflege, im Bewußtsein der Öffentlichkeit als Initiator und Leitorganisation der Winterhilfe ins Hintertreffen zu geraten. Gegen das Votum Direktor Steinwegs vom Centraiausschuß, der nicht an die Gefahr einer Zersplitterung glaubte und dezentrale Arbeitsformen von Beginn an favorisierte, erwirkten Rotes Kreuz und Caritas eine erneute Kontaktaufnahme mit Reich und Ländern, einmal um einheitliche Zielvorstellungen zu definieren und ferner, um die Spitzenposition der Liga innerhalb der jetzt als Volkshilfe in Volksnot bezeichneten Großaktion zu festigen.213 Erste konkrete Ergebnisse erbrachte eine Konferenz im Reichsarbeitsministerium, an der neben Stegerwald selbst auch Staatssekretär Geib und der Nachfolger des inzwischen als Vertreter des Reiches beim Internationalen Arbeitsamt in Genf tätigen Erwin Ritter, Ministerialdirektor Grieser, teilnahmen. 214 Als Zeitpunkt für den Beginn der kommenden Sammlungen, die ausdrücklich unpolitischen bzw. überparteilichen Charakter tragen und unter Führung der Liga stehen sollten, faßte man Ende Januar/Anfang Februar 1931 ins Auge. Das RAM erklärte außerdem, darauf hinwirken zu wollen, daß andere, bereits angelaufene ähnliche Aktionen in den Ländern wieder gestoppt würden. Dies gelang jedoch vorerst nicht: Das von Heinrich Hirtsiefer (Zentrum) geleitete preuß. Ministerium für Volkswohlfahrt band nämlich die beantragte Sammlungserlaubnis an die Auflage, sich des Apparats der Deutschen Nothilfe zu bedienen, andernfalls solle die Genehmigung versagt werden. 215 Als die Liga daraufhin wegen der schon angedeuteten Ressentiments gegenüber der Nothilfe nicht sogleich einlenkte, riefen Hirtsiefer und sein sozialdemokratischer Kabinettskollege im Amt des Innenministers, Carl Severing, Anfang Dezember zu Sammlungen für eine auf Berlin beschränkte Winterhilfe auf. Damit war dem Exklusivanspruch der Liga auf Idee und Durchführung der Hilfsmaßnahmen ein - wie es zunächst schien - schwerer Schlag versetzt worden. Denn natürlich würde eine Aktion

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„Zweck der Sammlung soll sein, Notleidende gegen Hunger und Kälte zu schützen, Notleidende, d. h. von Erwerbslosigkeit Betroffene, besonders jugendliche Erwerbslose und kinderreiche Erwerbslose, Alte und Kranke. Die Hilfe soll geschehen durch Einrichtung bezw. Darreichen von Speisung oder von Lebensmitteln, durch Bereitstellung erwärmter Räume, Abgabe von Heizmaterial und von Bekleidungs- und Wäschestücken." Prot, der Liga-Sitzung v. 27.X.1930, a. a. O. Die Besprechung fand am 11.XI.1930 statt; für die Liga waren Steinweg, Kreutz, Grüneisen und Vöhringer vertreten; Prot. a.a.O. Prot, der Liga-Sitzung v. 12.X1.1930, a.a.O. In einem Schreiben an den RAM hatte der Preuß. Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege bereits am 6.XI. angekündigt, den zu erwartenden Antrag der Liga auf Sammlungsgenehmigung für Preußen abzulehnen ; er könne sich von einer Notstandssammlung der freien Verbände keinen Ertrag versprechen, „der zu dem Organisationsaufwand in angemessenem Verhältnis stände und neben den gewaltigen Leistungen der öffentlichen Wohlfahrtspflege eine wirklich fühlbare ergänzende Hilfe ermöglichen werde". ADW, CA 1195 Z 4.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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mit zwei preußischen Ministern an der Spitze überregionale Bedeutung haben und einen nicht geringen Teil vor allem jener Spenden binden, die man sich aus Kreisen der Wirtschaft erhoffte. 216 Ungewollt profitierte die Liga jedoch von der isolierten Berliner Initiative, die sich allein auf Geldsammlungen verlegte und im Ergebnis, das nicht einmal 5% der erwarteten Zuwendungen erreichte, ein ziemliches Fiasko erlebte.217 Die Liga sah sich jetzt nämlich in ihrer Entscheidung bestätigt, nicht allein Gelder, sondern auch Textilien, Lebensmittel und Brennstoffe in das Sammelprogramm aufzunehmen. Der finanzielle Spielraum der Bevölkerung, die mit Arbeitslosigkeit, Gehalts- und Lohnkürzungen fertig werden mußte, war durch die Krise derart eingeengt, daß mit der Aufbringung der notwendigen Barmittel auf diesem Wege nicht gerechnet werden konnte. Andererseits stellten Sammlung, Aufbewahrung und Verteilung von Sachspenden die Liga schon allein wegen der Transportfrage vor gravierende Probleme. Obwohl man die Bereitstellung von Transportraum durch Polizei und Reichswehr einkalkulierte, erwies sich bald, daß dies nur bedingt und allein auf lokaler Ebene weiterhelfen würde. Für ein Gelingen der Aktion im Reichsmaßstab blieb deshalb die Zusage der Frachtfreiheit auf den Strecken der Reichsbahn unerläßliche Voraussetzung, um die Massen der erwarteten oft auch leicht verderblichen Liebesgaben in angemessener Frist an die Empfanger weiterzuleiten - eine Hürde, die erst im Zuge der Vorbereitungen für die zweite Winterhilfe 1931/32 genommen werden konnte. - In organisatorischer Hinsicht gelangte man ansonsten schon Mitte November zu einem gewissen Abschluß: Unter dem Motto „Gegen Hunger und Kälte" sollte sich bei Eröffnung der Aktion ein Reichsausschuß konstituieren, in dem Reichs- und Länderregierungen, Kommunen und Kirchen vertreten wären. Die eigentliche Verantwortung würde bei einem Arbeitsausschuß liegen, dem die sieben Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sowie „nach Bedarf andere Gruppen" angehörten. Im Bereich von Ländern und Provinzen, in Landkreisen und einzelnen Orten sollten entsprechende Unterausschüsse die praktische Durchführung der Sammlungen koordinieren. 218 Bis zuletzt, das heißt bis Ende Januar 1931 stand nicht fest, ob das von der Liga 216

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Prot, der Liga-Sitzung v. 8.XII. 1930; ADW, CA 1195 V. - Auf der gleichen Sitzung wurde festgelegt, die Deutsche Nothilfe als Trägerin großer Sammelaktionen nach wie vor abzulehnen ; sie solle nur für die Herausgabe von Wohlfahrtsbriefmarken und als Sammelbekken für Spenden in Katastrophenfallen zuständig bleiben, allerdings auch dann nur, wenn die Liga-Verbände an der Mittelverteilung beteiligt würden. Prot, der Liga-Sitzung v. 16.1.1931, a. a. O. - Erst mit Beginn der zweiten Winterhilfsaktion 1931/32 kam es im November 1931 zu einer Annäherung zwischen beiden Hilfswerken. Zu diesem Zweck wurde ein Sechser-Ausschuß eingesetzt, zu dessen Vertretern seitens der Berliner Winterhilfe mit Prof. Ulrich vom Ev. Hauptwohlfahrtsamt Berlin und Direktor Wilhelm Scheffen bemerkenswerterweise zwei prominente Angehörige der Inneren Mission, wenn auch nicht des Centraiausschusses gehörten; vgl. die Prot, der Liga-Sitzungen v. 5.XI.1931 (ADCV, 460.040,2) und v. 13.XI.1931; ADW, CA 1195 VI. Prot, der Liga-Sitzung v. 12.XI. 1930; a. a. O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

detailliert vorgeplante Unternehmen überhaupt durchgeführt werden konnte, weil die um ihre - vor allem unter propagandistischen Aspekten wichtige - Mitarbeit gebetenen Ministerien die Entscheidung darüber hinauszögerten. In der Zwischenzeit waren auf lokaler und regionaler Ebene kleinere Hilfsaktionen angelaufen, die zusammen mit politischen Initiativen wie in Berlin und kurz darauf auch in Schlesien die freie Wohlfahrtspflege beunruhigten und das Gefühl verstärkten, möglichst bald handeln zu müssen. 219 Überdies fürchtete man, die Masse der Notleidenden werde wenig Verständnis für die Zurückhaltung der freien Verbände zeigen. So klagte Prälat Kreutz: „Die Verbitterung wächst, und eine Aktion, die man [als] verspätet' empfindet, vermag sie nicht zu lösen, sondern nur zu steigern."220 Dahinter verbarg sich die Sorge vor einer wachsenden Entfremdung der freien Wohlfahrtspflege von der Bevölkerung und einer schwindenden Sensibilität gegenüber der alle angehenden Not; beide Aspekte hatten ja bei den Vorbereitungen zu dieser großangelegten Sammlung im Vordergrund gestanden. Nach einer weiteren Konferenz im Reichsarbeitsministerium war endlich abzusehen, daß die Werbekampagne für die Winterhilfe noch im Februar beginnen konnte. Staatssekretär Geib erklärte zwar, die Regierung erwarte weder eine baldige Besserung der wirtschaftlich-sozialen Situation noch sehe sie eine solche Verschärfung der Lage, daß für die projektierte Reichssammlung in naher Zukunft eine zwingende Notwendigkeit bestehe. Sein Haus sei jedoch einverstanden, wenn sich die Liga jetzt mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit wende; denn „eine völlige Passivität der Spitzenverbände und der Reichsregierung wäre auch nicht das Richtige, da nun einmal in einer Reihe von Ländern und Provinzen noch auf eine Losung von Berlin her gewartet" werde. Die Kundgebung solle an das „Pflichtgefühl des deutschen Volkes appellieren", weniger um des Ergebnisses einer einmaligen großen Aktion willen, als um „gesinnungsmäßig eine Bewegung des Helfenwollens einzuleiten und zu fördern, welche geeignet ist, auch während einer längeren Notzeit durchzuhalten". 221

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Zu frühen Winterhilfsmaßnahmen im Regional- und Ortsbereich vgl. „Gemeinsame Winterhilfsaktionen", in: Freie Wohlfahrtspflege 5.1930/31, 373-378.- Am 13.11.1931 wandte sich der Oberpräsident von Schlesien über den Rundfunk an die Bevölkerung und rief zu Spenden für bedürftige „Volksgenossen" auf; die Liga beschloß daraufhin, die schlesischen Liga-Gruppierungen um eine Eingabe an den Oberpräsidenten zu bitten, um „ihm ihr Befremden darüber auszusprechen, daß er diese Aktion eingeleitet" habe, „ohne sich irgendwie mit ihnen in Verbindung zu setzen". Ferner sollten sie „verlangen, daß sie zu Mitträgern dieser Aktion und zu Mitverwaltern der einkommenden Spenden gemacht" würden; s.Prot. der Liga- Sitzung v.27.11.1931; ADW, CA 1195 VI. Schreiben v. Kreutz an die Liga v. 26.1.1931; ADCV, 460,1. Vgl. das Prot, der RAM-Besprechung v. 26.1.1931; ADW, CA 1195 V . - Die Liga-Verbände ihrerseits erklärten sich damit einverstanden, daß die AWO den Aufruf ebenfalls unterschriebe, konnten aber durchsetzen, daß dies nicht Conditio sine qua non für die Unterstützung der Reichsregierung sein würde. Da dem geplanten Aufruf keine Konto-

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Nachdem das Kabinett dem Liga-Entwurf einer Kundgebung an das deutsche Volk zugestimmt hatte, wurde diese Ende Februar unter der Überschrift „Not, bittere Not liegt über dem deutschen Volk" in der .Freien Wohlfahrtspflege' und anderen Presseorganen veröffentlicht. 222 Neben der Aufforderung, für örtliche Sammlungen Geld, Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs, vor allem Kleidung und Kohlen zu spenden, hatte die Kampagne das Ziel, „eine mächtige Welle der Hilfsbereitschaft, der Selbsthilfe durch das ganze deutsche Volk zu wecken". Der als letzter Satz formulierte Imperativ: „Keiner darf sich ausschließen!" ließ wieder das Volksgemeinschafts-Leitmotiv anklingen, dem die ganze Aktion verpflichtet war. Gleichzeitig setzte ein regelrechter Werbefeldzug zur Propagierung der Hilfsmaßnahmen ein: Die Liga-Publikationen waren in den beiden folgenden Jahren voll von Hinweisen auf die Winterhilfe; später wurde sogar ein besonderes Mitteilungsblatt dafür geschaffen. 223 Aber auch neue Medien wie Rundfunk und Ufa-Wochenschau suchte man mit Hilfe des Filmbeauftragten der Inneren Mission, Pastor Engelmann, in den Dienst der Sache zu stellen. 224 In Postämtern und Bahnhöfen wurden rund 100.000 Exemplare des Aufrufs angeschlagen, und Generalsekretär Vöhringer mühte sich, mit Vorträgen vor kapitalkräftigen Industrievertretern um Verständnis für die effizientere und kostenneutralere Arbeit der freien gegenüber der öffentlichen Wohlfahrtspflege und besonders für das Winterhilfsanliegen zu werben. 225

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nummer beigefügt werden sollte, war man nicht auf eine Sammelgenehmigung angewiesen und konnte die Bedingungen des preuß. M f W umgehen. 5.1930/31, 481 f. - Dem Aufruf war im N a m e n des Reichskanzlers folgende Erklärung beigefügt: „Aus der Not der Zeit durch helfende Liebe zu neuem Aufstiege! Hilfsbereitschaft ist vaterländische Pflicht und Dienst am Volkstum. Wer helfen kann, m u ß helfen." Vgl. die Beiträge in den folgenden Jahrgängen der .Freien Wohlfahrtspflege'. Auch die Schriftenreihe der Liga n a h m sich der Winterhilfe an: Wir wollen helfen! Anregungen zur Durchführung des Winterhilfswerks 1931/32, oder das folgende Heft: Wir wollen helfen! Erfahrungen und Ergebnisse des Winterhilfswerks 1931/32, wie schließlich auch: Das Winterhilfswerk 1932/33. Abschlußbericht. Ab Oktober 1931 erschien in zwangloser Folge das Mitteilungsblatt,Nachrichten für den Dienst in der Winterhilfe' 1931/32. - Am 20.III. 1931 tagten die Schriftleiter der Liga-Verbandszeitschriften; an der Konferenz nahmen für die Innere Mission Dir. Dr. Stahl, Dr. Harmsen und Frau Dr. Ida Hundinger teil. M a n suchte nach Wegen, um näher zusammenzuarbeiten und eine gemeinsame wohlfahrtspolitische Konzeption zu entwickeln; vgl. den Bericht Stahls über die Besprechung; ADW, CA 1195 V. Sehr erfolgreich war Engelmann allerdings nicht, wie er Vöhringer am 14.111.1931 mitteilte. Die Ufa hatte seinen Vorstoß nämlich „als eine der üblichen Belästigungen der Wohlfahrtsorganisationen" abgetan und zu erkennen gegeben, keine Präzedenzfalle schaffen zu wollen, um sich nicht auch anderen Organisationen zu verpflichten; ADW, C A 1195 VI. - Ein späteres Angebot der Döring-Filmgesellschaft/Hannover, unentgeltlich einen Film über die Winterhilfe zu drehen, wenn ihr die Liga fünf Kopien abnehme, wurde dagegen abgelehnt; s. Prot, der Liga-Sitzung v. 13.XI. 1931; a . a . O . Am 28.V.1931 veranstaltete der Reichsverband der deutschen Industrie eine Sitzung seines Ausschusses für Unterstützungs- und Förderungswesen, in der Vöhringer Gelegen-

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Als die Verantwortlichen dieser ersten großen Hilfsaktion der Liga im Juli des Jahres ein Fazit aller Anstrengungen zogen, herrschte bereits Einigkeit darüber, daß die Winterhilfe damit nicht abgeschlossen sein dürfe, sondern - gestützt auf die gewonnenen Erfahrungen - in verbesserter Form während der kommenden Wintermonate wiederholt werden müsse. Allerdings stellte Vöhringer in einer Denkschrift für den Deutschen Verein auch klar, „daß die freie Wohlfahrtspflege die rein materielle Fürsorge für die Massen nicht übernehmen" könne, weil ihr „Mittel und Kräfte" dafür fehlten. Andererseits habe sie mit Initiativen zu Arbeitsvermittlung, freiwilligem Dienstjahr, Speisungseinrichtungen, Bekleidungshilfe, Auswanderungs- und Siedlungshilfe zur Entlastung der öffentlichen Träger Erhebliches geleistet und damit Ländern und Kommunen manche Ausgaben erspart. Hinter der äußeren Not von heute stehe freilich auch ein „Mangel an [innerer] Widerstandsfähigkeit", dem ausschließlich mit materiellen Mitteln nicht abzuhelfen sei.226 - Dennoch, das Ergebnis der Sammlungen war erfreulich; die ländliche Bevölkerung hatte landwirtschaftliche Produkte in überraschendem Ausmaß zur Verfügung gestellt, und auch sonst war die Gebefreudigkeit größer, als unter Berücksichtigung der Zeitlage billigerweise erwartet werden durfte. 227 Zwei Erkenntnisse bestimmten die Überlegungen für eine Fortführung der Aktion: der Ausbau einer Verbindung von zentraler und dezentraler Organisation künftiger Winterhilfsmaßnahmen, um die Einsatzbereitschaft regionaler und lokaler Helfergruppen zu erhöhen, ohne die Einheitlichkeit des Vorgehens auf Reichsebene,228 und ferner die Frage des Transports der Liebesgaben. Bei Ausbleiben des angestrebten Erlasses der Frachtgebühren durch die Reichsbahn und den von der Reichspost unterhaltenen Überland-Omnibusverkehr würde der Erfolg künftiger Aktionen ungewiß bleiben, weil die Beförderungskosten in keinem angemessenen Verhältnis zum finanziellen Wert der gespendeten Güter standen. Die materiellen und politischen Erfolge dieser ersten ,Volkshilfe' - der Name

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heit erhielt, die Leistungen der Liga vorzustellen; s. das Prot, a. a. O. - Zur Werbung in Postämtern und Bahnhöfen s.das Prot, der Präs.-sitzung v. 19.1 II. 1931, a.a.O. Memorandum v. 7.VI 1.1931; a. a. O. Vgl. „Material zur Winterhilfsarbeit der freien Wohlfahrtspflege" mit Anlage „Die Sammlungserfahrungen im Winter 1930/31", in: Freie Wohlfahrtspflege 6.1931/32, 222-231. Dort auch Angaben zu ersten Winterhilfsaktionen der Inneren Mission im Freistaat Sachsen, in Hannover, Oldenburg, Bremen und Braunschweig. In der Broschüre von Böhme/Sunder zur Vorbereitung des WHW 1931/32 hieß es ausdrücklich, das WHW trage „ausgeprägt dezentralistischen Charakter" und sein Schwergewicht liege auf örtlichen und regionalen Sammlungen; vgl. Wir wollen helfen! Anregungen, 5. S.a. die Erinnerungen Vöhringers, der die zentralistischen Tendenzen vor allem dem DRK zuschreibt, wogegen die anderen Verbände opponiert hätten; ders., Zur Geschichte der Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege, MS, 24; ADW, CA 1194 XIV.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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.Winterhilfe' wurde erst Anfang September 1931 offiziell festgelegt - bewogen die Reichsregierung, eine Wiederholung der Aktion wesentlich stärker zu fördern als zuvor. Neben der politischen Unterstützung machte sich das vor allem in der Frage der Frachtfreiheit bemerkbar. Die Reichsbahn war von sich aus zu solchen, sie um erhebliche Beförderungsgebühren bringenden Zugeständnissen nicht bereit, mußte aber einlenken, als am 21. August eine Chefbesprechung zwischen Reichsarbeits-, Innen- und Verkehrsministerium die befristete kostenlose Beförderung von Winterhilfsgaben beschloß. Nicht nur unentgeltlich gelieferte Sachspenden sollten darunter fallen, sondern auch solche, für die bis zu 30% des Marktwertes als Entschädigung für Ernte- und Transportarbeiten gezahlt werden mußten. Eine wesentliche Erleichterung bedeutete es ferner, daß die Regelung auch für Heizmaterialien, also für Kohlen und Holz, galt, allerdings nur für kostenlos abgegebenen Hausbrand, der zudem noch zu den Verteilbahnhöfen frachtfrei anzuliefern war; denn gerade hier beliefen sich die Transportkosten oft auf bis zu 50% des Warenwertes.229 Die Beförderung von Gütern für den Anstaltsbedarf sollte dagegen ausgeschlossen sein. Um einem Mißbrauch dieser für die Sammlungen unschätzbaren Kostenentlastung vorzubeugen, bestand die Reichsbahn-Hauptverwaltung auf strengen Kautelen: Für Transporte innerhalb der Länder verteilte die Berliner Caritas-Vertretung numerierte gelbe Frachtbriefe, während blaue Frachtbriefe für den .grenzüberschreitenden' Verkehr bei der Liga-Zentrale selbst zu beziehen waren und vor Ausführung der Transporte bei der Reichsbahn angemeldet werden mußten. Über jedes Begleitdokument hatte die Liga genau Buch zu führen und zeichnete der Reichsbahn gegenüber für eine korrekte Abwicklung verantwortlich. 230 Insgesamt belief sich die Fracht-

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Prot, der Liga-Sitzung V.2.IX.1931; ADW, CA 1195 VI. Am l l . I X . teilte Vöhringer den Liga-Verbänden das Ergebnis seiner Verhandlungen mit der Reichsbahn-Hauptverwaltung und dem Reichswehrministerium mit: Danach sollte die Frachtbefreiung am 20.IX. 1931 einsetzen und bis zum 31.III. 1932 gelten. Reichswehr und Reichsmarine hätten Anweisung erhalten, ihre Transportmittel, „soweit es die dienstlichen Verhältnisse erlauben", für die Beförderung der Liebesgaben und außerdem mobile Feldküchen zur Verfügung zu stellen; ebd. Tatsächlich konnte bei etwa 14.500 frachtfrei beförderten Sendungen nur etwa 30mal ein Mißbrauch festgestellt werden, obwohl für die Frachtbriefkontrolle nicht mehr als höchstens vier Hilfskräfte der Liga bereitstanden. Auch die Spitzenverbände hielten sich in der Regel an die Bedingungen; es war deshalb besonders ärgerlich, als der badische Hauptausschuß der AWO im Winter 1932/33 die Freifrachtbriefe der Liga für die verbilligte Abgabe regulär bezogener Kohlen nutzte, wodurch der Preis auf etwa 50% des Niveaus des regionalen Kohlenhandels fiel. Dieses Fehlverhalten einer Untergliederung der AWO, die sich im übrigen an der Durchführung des WHW gar nicht beteiligte, konnte juristisch nicht mehr geahndet werden, weil SPD und AWO schon in den ersten Monaten nach der Machtergreifung aufgelöst wurden und die NSV, die das AWO-Vermögen übernommen hatte, sich weigerte, der Reichsbahn den entstandenen Schaden zu ersetzen. Noch zehn Jahre später urteilte Vöhringer mit Blick auf dieses Vorkommnis: „Der Schmutzflecken blieb auf dem zweiten Winterhilfswerk haften und gab diesem letzten

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

ersparnis 1931/32 auf 721.291 RM für die Beförderung von 101.065,7 t Liebesgaben, während sich die Zahlen für den Winter 1932/33 auf 1.914.174 RM bzw.251.185,5 t erhöhten. 231 Auch sonst konnten sich die Ergebnisse der beiden Hilfswerke, die von der Liga in eigener Regie durchgeführt wurden, sehen lassen: Die Summe des Spendenaufkommens aller beteiligten Organisationen betrug für 1931/32 97 Mio. RM, für 1932/33 91 Mio. RM, ein Rückgang um etwa 6%, der jedoch durch verstärkte .Veredelung' von Kleider- und anderen Sachspenden zum Teil ausgeglichen wurde. Die Ligaverbände selbst hatten 25 bzw. 35 Mio. RM beigesteuert, die restlichen Beträge brachten die Sammlungen der Arbeitsgemeinschaften der Winterhilfe, der deutsche Kohlenbergbau und Eigensammlungen sonstiger Winterhilfe leistender Gruppen und Parteien wie der NSDAP auf. Pro Kopf der Bevölkerung wurden 1931/32 68 Pfg. und 1932/33 immerhin noch 42 Pfg. gespendet. Obschon diese Zahlen angesichts der Erträge der folgenden Winterhilfswerkskampagnen im Dritten Reich bis 1938/39 gering anmuten - allein im Winter 1933/34 kam es zu einem Gesamtergebnis von 358,2 Mio. RM, davon 184,3 Mio RM an flüssigen Mitteln -, 232 darf die Leistung der freien Wohlfahrtspflege inmitten der Endkrise der Republik keinesfalls unterschätzt werden. Hier war im Gegensatz zu den Jahren nach 1933 Freiwilligkeit, Ideenreichtum und Improvisation verwirklicht worden. An 4.000 bezahlte Helfer, wie sie schon im Winter 1933 im Einsatz waren, oder besondere Gesetzesinitiativen zur Forcierung der ,Spendenfreudigkeit' der Bevölkerung, die sich im Laufe nationalsozialistischer Herrschaft an ein Sammlungsopfer gewöhnen mußte, das bald den Charakter einer informellen Wohlfahrtssteuer annahm, hatte innerhalb der Liga niemand gedacht. 233

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großen Werk, das die Liga durchgeführt hatte, einen bitteren Nachgeschmack." Ders., a.a.O. Zu diesen und den folgenden Angaben vgl. Das Winterhilfswerk 1932/33. Abschlußbericht, 34 ff. Zahlen nach de Witt, „The Struggle against Hunger and Cold", 370. Danach erbrachten die Winterhilfswerke unter Führung der NSV zwischen 1933/34 und 1938/39 insgesamt einen Ertrag von fast 2,5 Mrd. RM. - Zur Darstellung des WHW aus nationalsozialistischer Sicht vgl. Erich Hilgenfeldt, „Das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes"; dort weitere Angaben. Am 9.V.1935 würdigte Otto Ohl, der ansonsten der Aktion nicht unkritisch gegenüberstand (s.den folg. Abschnitt), in einem Brief an Vöhringer die Leistungen des WHW: Er habe wiederholt gesagt, „daß es uns angesichts der großen Resultate dieses Winterhilfswerks, hinter dem eine geschlossene Volksgemeinschaft steht, für das der ganze politische Apparat, der ganze Finanzapparat des Staates und der ganze moralische Druck eingesetzt wird, wie ein Wunder sei, daß unsere Winterhilfswerke in den vorhergehenden Jahren in einem politisch und parteienmäßig zerrissenen, klassenkämpferisch verhetzten, wirtschaftlich darniederliegenden und weiter absteigenden Volk zu solch großen Leistungen von ca. 90 Millionen herangewachsen seien. Leistungen, die ohne politischen Druck und ohne Einbehaltung von Gehaltsteilen, von Postscheckkonten u.dergl. aufgebracht worden seien. Und daß diese großen Hilfswerke gerade in dem zerrissenen Volk ihre ganz

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Durch die in gemeinsamer Arbeit gewonnenen überwiegend ermutigenden Erfahrungen mit der Winterhilfe näherten sich freie und öffentliche Wohlfahrtspflege im Laufe des Jahre 1932 wieder an. Die Anstöße gingen dabei von den kommunalen Spitzenvertretungen aus, wie sie im Deutschen Städtetag zusammengefaßt waren. So forderte dessen Vertreter Dr. Memelsdorf bei einer Besprechung im RAM Anfang 1932 die Liga dazu auf, eine engere Zusammenarbeit aller Beteiligten zur Bekämpfung der Notstände in den Blick zu nehmen. Wichtigster Partner für die verstärkten Kooperationswünsche der Kommunen wurde innerhalb der Liga das Deutsche Rote Kreuz. Seinem etatistischen Selbstverständnis nach fühlte es sich schon immer mehr als die anderen Ligaverbände der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verpflichtet, was auch die spätere reibungslose Integration in die Wohlfahrtspolitik des Dritten Reiches erklärlich macht. Auf dieser Linie lag die Ausarbeitung eines Memorandums „über die Zusammenarbeit von freien und öffentlichen Trägern zur Erfüllung von Notaufgaben", das Regierungsrat Grüneisen/DRK Anfang 1932 anläßlich eines ,Sprechtages' im Arbeitsministerium zur Diskussion stellte. Da es um Schaffung und Sicherung der Existenzgrundlage ganzer Bevölkerungsgruppen gehe, könne es sich nicht mehr um „Abgrenzung, sondern nur noch um gegenseitige Durchdringung" öffentlicher und privater fürsorgerischer Bemühungen handeln, führte Grüneisen aus und schlug gemischte Gliederungen zur Bekämpfung des Notstands vor. Die übrigen Verbände stimmten ihm prinzipiell zu, wünschten aber gewisse Abänderungen des Papiers, das die „Eigenständigkeit" der freien Wohlfahrtspflege nicht genügend zum Ausdruck bringe. 234 Diese solle keinesfalls beeinträchtigt werden, versicherte der Präsident des Deutschen Städtetages, Dr. Mulert, auf einer weiteren großen Wohlfahrtskonferenz, zu der am 3. Februar des Jahres wiederum das RAM eingeladen hatte. Er wandte sich gegen die Mittelbeschaffung der Kommunen durch Spendenfinanzierung, was allein den privaten Verbänden vorbehalten bleiben müsse, und betonte, die geplante Kooperation dürfe nicht zu einer Vermischung führen; allein die Stärkung der vereint operierenden Wohlfahrtspflege sei das Ziel. Wenn Lotte Lemke schließlich für die Arbeiterwohlfahrt forderte, öffentliche Aufgaben dürften nicht den freien Organisationen übertragen werden, diese könnten höchstens „im Auftrage und unter der Verantwortung der öffentlichen Wohlfahrtspflege" wirken, ging sie allerdings erheblich über das hinaus, was die Ligaverbände

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große moralische Bedeutung hatten und Volksgemeinschaft bildend waren, kann ja auch keiner übersehen, der sehen will. Daß diese Aufgaben so sauber und klar durchgeführt wurden, wie es geschehen ist, das danken wir Ihnen. Und wenn man das heute nicht sieht oder nicht sehen will, weil grundsätzlich alles verdorben ist und verdorben gewesen sein muß, was in den 14 Jahren existierte, so wird die Geschichte sich durch solche Maximen nicht hindern lassen, einmal die Wahrheit festzustellen." ADWDü, BO, 10/5,1 b. Prot, der Liga-Sitzung v.12.1.1932; das Memorandum Grüneisens datiert v.29.1.1932; ADW, CA 1195 VII.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

zuzugestehen bereit waren; die Weigerung der AWO, sich an der Winterhilfsaktion zu beteiligen, wird von dieser Auffassung her verständlich. Auf weitere Motive, die dabei eine Rolle spielten, geht der nächste Abschnitt ein.235 II.3.6.3. Kritische Stimmen zur Winterhilfe Wenn es Ziel der Winterhilfe gewesen war, inmitten der drückenden Not am (Wieder-)Aufbau der Volksgemeinschaft mitzuwirken und den Interessenpartikularismus aller gesellschaftlichen Gruppierungen zugunsten eines solidarischen Einstehens für die Opfer der Weltwirtschaftskrise und der sie begleitenden Massenarbeitslosigkeit zu überwinden, so gelang ihr dies höchstens in Ansätzen. Neben den angedeuteten Gründen eines bewußten Verzichts auf die Politisierung der Aktion im Sinne der Republik lag das auch am Fernbleiben des in der Wohlfahrtspflege engagierten Teils der organisierten Arbeiterbewegung. Während die Kommunisten mit den ihnen nahestehenden Verbänden ohnehin jeder öffentlichen und privaten Fürsorge innerhalb des bürgerlichen Staates mißtrauisch, meist jedoch feindlich begegneten, 236 legte die Arbeiterwohlfahrt keinen besonderen Wert auf die Kooperation mit den anderen Spitzenverbänden und reihte sich nur ein, wenn es um die Verteilung öffentlicher Mittel ging. Statt dessen baute sie ihre Unterorganisationen verstärkt aus und sah, gestützt auf die sozialdemokratische Vorherrschaft in den meisten Großstädten, in den kommunalen Wohlfahrtsverbänden ihre traditionellen Partner. Da die freie Wohlfahrtspflege als Initiator und zunächst auch alleiniger Träger die Winterhilfe gestaltete und die Kommunen nach Möglichkeit nicht daran zu beteiligen gedachte, stand die Arbeiterwohlfahrt der ganzen Aktion distanziert gegenüber, jedenfalls was die Grundaussage ihres Hauptausschusses betraf. Dazu kam die Tatsache, daß sie die von der Winternot vornehmlich betroffene Bevölkerung nicht zu Unrecht mehrheitlich zu ihrer Klientel zählte und um die Wahrung ihrer politischen wie auch ,verbandspatriotischen' Interessen fürchtete, wenn der Großteil der Hilfe aus dem klassengegnerischen Lager kam. Die dezentrale Struktur der Winterhilfsaktionen in den letzten Jahren der Republik ermöglichte es dem Hauptausschuß jedoch, auf regionaler und lokaler Ebene durchaus eine begrenzte Koope235

An der Konferenz im RAM nahmen unter Leitung Stegerwaids 30 Vertreter der freien Wohlfahrtspflege, der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, des Dt. Städtetages, des Reichsstädtebundes, des Dt. Landkreistages, des Dt. Landgemeindetages und des Verbandes preußischer Provinzen teil. Bereits hier kam ein Sachverhalt zur Sprache, der sich im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen WHW noch weit gravierender zum Nachteil der Krankenanstalten in freier Trägerschaft auswirken sollte: die Beeinträchtigung des Spendenaufkommens einzelner Einrichtungen durch den Sog des Massenhilfswerks Winterhilfe; Prot, der Sitzung v.3.11.1932; ADCV, 297 b II.

236

Dazu siehe beispielsweise ,Der proletarische Wohlfahrtspfleger' und Hartmann Wunderer, Arbeitervereine und Arbeiterparteien, 112 f.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

179

ration mit den der Liga angeschlossenen Organisationen zuzulassen. Freilich widersprach das der öffentlich vertretenen Doktrin der Verbandsspitze, wurde aber von dieser toleriert und dann auch gefördert, weil es der Arbeiterwohlfahrt nicht unerheblichen Nutzen brachte und die selbstgewählte Isolierung des Hauptausschusses de facto wieder durchbrach. Soweit die Motive für die Abstinenz der Berliner AWO-Zentrale gegenüber der Winterhilfe nach außen drangen bzw. mit Absicht publik gemacht wurden, wirkten sie nicht sonderlich überzeugend: Da ließ der Hauptausschuß den Mitgliedern Ende 1930 in der Verbandszeitschrift mitteilen, die Arbeiterwohlfahrt werde einen eigenständigen Beitrag zur Überwindung der Krise leisten, der sich am Gedanken der (Klassen-)Solidarität mit den arbeitslosen Unterstützungsempfängern orientiere und deshalb auf die Förderung durch bürgerliche Sammelaktionen verzichten könne; Bezirks- und Ortsausschüsse wurden ausdrücklich angewiesen, sich keinesfalls an den Hilfsmaßnahmen bürgerlicher Wohlfahrtsverbände zu beteiligen. 237 Offenbar wollte man nicht mit denjenigen gemeinsame Sache machen, die als Verfechter des kapitalistischen Wirtschaftssystems und kompromißlose Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft aus sozialistischem Blickwinkel die große Krise erst ermöglicht und damit letztlich auch zu verantworten hatten. 238 - Von ihrer unbeweglichen Haltung ließ sich die Arbeiterwohlfahrt auch durch die Vermittlungsbemühungen des Reichsarbeitsministeriums nicht abbringen, die darauf abzielten, sie wenigstens den gemeinsamen Aufruf der Ligaverbände mitunterschreiben zu lassen. 239 U m so befremdli-

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Arbeiterwohlfahrt 5.1930, H. 22, Art. „Winterhilfsaktion". Darin wurde angekündigt, alle Partei-, Gewerkschafts- und sonstigen Verbandsangestellten der Arbeiterbewegung müßten ab sofort einen Teil ihres Gehalts an die Erwerbslosenfürsorge abführen. Vgl. den gemeinsamen Aufruf zur Winterhilfe von AWO, SPD, Sozialistischer Deutscher Arbeiterjugend, der Zentralkommission für Arbeitersport und Körperpflege, dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, dem Allgemeinen freien Angestelltenbund und dem Allgemeinen Deutschen Beamtenbund v.September 1931, der in offener Abgrenzung vom Aufruf der Ligaverbände erschien: „[...] Es geht um die Kinder, die Jugend, die Invaliden und die Alten. Es sind Klassengenossen, Hand- und Kopfarbeiter, die schuldlos aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet sind. Die Arbeiterwohlfahrt ruft die Arbeiterschaft und ihre Freunde, alle diejenigen, die für die große Gegenwartsnot Verständnis haben, zu einer Hilfsaktion für unsere notleidenden Klassenkameraden auf. Sie fordert dazu auf, zusammenzustehen und mit kameradschaftlichem Helfen zu beweisen, daß die Schicksalsverbundenheit der Arbeiterschaft lebendig ist und bleibt [...]. Wir wissen, daß wir mit dieser Hilfe nicht die sozialen Schäden der kapitalistischen Wirtschaft beheben können [...]." ADW, CA 1195 Z 4 / I I . Seitens des Ministeriums führte StS Dr. Geib die Verhandlungen, erreichte aber nichts; vgl. das Schreiben Vöhringers an Geib v.7.111.1931; ADW, CA 1195 Z 4/1. - Die von Geschäftsführerin Lotte Lemke unterzeichnete Absage der AWO an die Liga vom gleichen Tage enthielt nur den lapidaren Satz: „Wir bringen Ihnen hiermit zur Kenntnis, daß der Hauptausschuß für Arbeiterwohlfahrt e.V. sich außerstande sieht, den Aufruf der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege mit zu unterzeichnen."

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

eher mußte es allen an der Winterhilfe Beteiligten erscheinen, als sich die Arbeiterwohlfahrt - mitten in den Vorbereitungen zu einer zweiten Auflage der Sammelaktion im September 1931 - empört an Liga und Reichsarbeitsministerium wandte und darüber Klage führte, nicht zu den Vorbesprechungen eingeladen worden zu sein. Augenscheinlich wollte sie mit dieser Offensive eine Kursänderung des Hilfswerks erzwingen und eine gemeinsame Trägerschaft von freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege erreichen. Die Einbeziehung der letzteren sei um so dringlicher, so ihre von Polemik nicht freie Argumentation, als das Ansehen der privaten Fürsorge durch die Vorfälle in der Inneren Mission gemeint war der Devaheim-Skandal - „in breiten Kreisen der Bevölkerung die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Winterhilfsaktion der freien Wohlfahrtspflege zerstört" hätte; die Arbeiterwohlfahrt sei jetzt bereit, zusammen mit den öffentlichen Trägern und den Ligaverbänden an der Aktion mitzuarbeiten. 240 Es wird offenbleiben müssen, ob dieser Vorstoß der Arbeiterwohlfahrt ernst gemeint war oder die Ligaverbände zu ihrem Nein provozieren sollte. Wie kaum anders zu erwarten, zogen diese den Vorschlag gar nicht erst in Erwägung, auch sie vermutlich nicht ohne eine gewisse Erleichterung darüber, mit der sozialdemokratischen Konkurrenz nicht gemeinsame Sache machen zu müssen. Woran beide aber nicht gedacht hatten, war die Notwendigkeit einer Sammlungsgenehmigung durch den preuß. Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege. Ihm lagen nun zwei Anträge für eine Wintersammlung vor, die er aus Paritätsgründen beide hätte genehmigen müssen. Da dies jedoch der Zersplitterung des Hilfswerks Vorschub geleistet und zudem der Abmachung zwischen dem preuß. Minister für Volkswohlfahrt und den Reichsministerien für Arbeit und Inneres widersprochen hätte, die Einheitlichkeit der Aktion unter allen Umständen zu wahren, mußte er vor Erteilung der Genehmigung nach einer Lösung suchen, „die ein einhelliges Zusammenwirken aller anerkannten Wohlfahrtsorganisationen sicherte]". 241 Tatsächlich gelang es dem Kommissar in einer Besprechung am 19. September 1931, die Arbeiterwohlfahrt zu dem Zugeständnis zu bewegen, sie könne zwar den Aufruf der Liga nicht mehr mitunterzeichnen, weil entsprechende Presseerklärungen schon publiziert seien, werde aber an ihre Untergliederungen Weisung ergehen lassen, auf Ortsebene mit den übrigen Verbänden zusammenzuarbeiten. 242 Der Arbeiterwohlfahrt genügte die dadurch erlangte Sammelgenehmigung für Preußen jedoch nicht. Da RAM und Rdl der Liga für diejenigen Länder, deren Sammelerlaubnis noch nicht erteilt 240

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Vgl. das Schreiben von Marie Juchacz an den Reichsarbeitsminister v. 2.IX. 1931 und ihre Mitteilung an die Liga v.gleichen Tage; ADW, CA 1195 Z 4/II. Der preuß. Staatskommissar für die Regelung der Wohlfahrtspflege an die Dt. Liga V.18.IX. 1931, ebd. Daraufhin erteilte der Staatskommissar, M D Peters, den Sammlungen von Liga und AWO die Genehmigung; vgl. den Aktenvermerk MR Frhr. v. Gemmingens/RAM V.23.1X. 1931, ebd.

11.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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war, eine Empfehlung ausgestellt hatten, bemühte sich auch die Arbeiterwohlfahrt um ein solches Papier, stieß hierbei aber auf hartnäckigen Widerstand. Während das Arbeitsministerium den Antrag zunächst hinauszuzögern suchte 243 und der Innenminister strikt dagegen war, schien mit dem Amtsantritt des zweiten Kabinetts Brüning am 9. Oktober 1931 den Befürwortern des AWO-Antrags innerhalb des Reichsarbeitsministeriums ein günstiger Zeitpunkt gekommen, die Zustimmung des Rdl doch noch zu erhalten. Jedenfalls hoffte man dies und ließ bereits die Schreiben an die Länderregierungen zur Mitunterschrift des Rdl ausfertigen,244 als der nun mit der Führung der Geschäfte des Innenministers beauftragte Reichswehrminister Wilhelm Groener überraschend eingriff und mit einer ausführlichen Begründung seine Unterschrift verweigerte: Sein Haus halte an der Auffassung fest, daß lediglich die Winterhilfe der Liga förderungswürdig sei und gegenüber allen anderen daran beteiligten Organisationen die Gewähr für die einheitliche Durchführung böte. Schon früher hätten Verbände wie der Stahlhelm eine entsprechende Empfehlung erbeten, die ihnen mit Hinweis auf den abschlägigen Bescheid an die Arbeiterwohlfahrt versagt worden sei. Wenn das Reichsarbeitsministerium jedoch aus politischen Gründen der Arbeiterwohlfahrt weiterhin entgegenkommen wolle, müsse es sich damit einverstanden erklären, daß er - Groener - den Stahlhelm davon in Kenntnis setze.245 Daraufhin wurde jetzt wie auch im folgenden Jahr der Antrag der Arbeiterwohlfahrt auf Reichsunterstützung ihrer Sondersammlung abgelehnt. Über den engeren Rahmen hinaus ist dieser Vorgang von besonderem Interesse, weil an ihm demonstriert werden kann, wie der Einfluß des Reichsinnenministeriums im Sachbereich Wohlfahrtspflege bereits vor der Machtergreifung zunahm. Damit erhielt der Minister auf diesem Sektor ein Gewicht, das ihm von der Verfassung nicht zugestanden wurde; sie billigte ihm lediglich die Federfüh243

S. den Vermerk v.Gemmingens V.25.IX.1931 über die Unterredung mit Lotte Lemke, die betont habe, „die Arbeiterwohlfahrt müsse großen Wert auf die Empfehlung durch die Reichsministerien legen; sie fürchte, daß ihr Ansehen und auch der Erfolg ihrer Sammlung durch Ablehnung des Antrags möglicherweise gefährdet werden könnten". Am 24.IX.1931 richtete Marie Juchacz für den Hauptausschuß ein Schreiben an Minister Stegerwald und drängte nochmals auf Ausstellung der Empfehlung. Dabei warnte sie, die AWO werde es als Diskriminierung auffassen, wenn nur die Liga für ihre Winterhilfe die Unterstützung der Reichsministerien erhalte; dies sei die unterschiedliche Behandlung gleichberechtigter anerkannter Spitzenverbände; a. a. O.

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Offenbar hatte sich im RAM ein Gesinnungswandel vollzogen, da Stegerwald und sein Staatssekretär plötzlich auf die beschleunigte Ausfertigung des Rundschreibens drängten; vgl. den Vermerk Dünner/Schott v. 12.X. 1931, a.a.O. - Der Entwurf des Schreibens an die Länder datiert v. 13.X.1931 und hat folgenden Wortlaut: „Die geplante Sammlung des Hauptausschusses für Arbeiterwohlfahrt wird u.E. geeignet sein, weitere Mittel zugunsten der Notleidenden flüssig zu machen und Kräfte aufzurufen, die der Überwindung der Winternot dienlich sein werden. Wir bitten daher, auch dieser geplanten Sammlung wohlwollende Aufmerksamkeit und Förderung zuteil werden zu lassen." Ebd.

245

Groener an den RAM v. 22.X. 1931, a. a. O.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

rung im Bereich der Jugendwohlfahrt zu. Die Gründe für eine solche Entwicklung lagen einmal in der traditionellen Schwäche des seit seiner Gründung umstrittenen Arbeitsministeriums, das im Laufe des Verfassungswandels mit Beginn der Kanzlerschaft Brünings und infolge der Krise und ihrer Auswirkungen auf die Bezahlbarkeit von Wohlfahrtspflege und Arbeitslosenversicherung mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Der Innenminister konnte hingegen seine Stellung behaupten und - wie die Notverordnungen im Bereich der inneren Sicherheit ausweisen - noch festigen.246 Eine weitere Erklärung bietet der ,Preußenschlag' vom 20. Juli 1932, in dessen Folge das Präsidialkabinett von Papen das preußische Ministerium für Volkswohlfahrt kurzerhand auflöste und seine Kompetenzen in der Hauptsache dem Innenministerium übertrug übrigens nicht ohne Widerspruch seitens der Liga, der aber erfolglos blieb.247 Es dauerte seine Zeit, bis diese Verlagerung der Verantwortlichkeit in Sachen Wohlfahrtspflege auf Reichsebene auch gesetzlich fixiert wurde.248 Man muß jedoch festhalten, daß dieser Prozeß bereits 1930/31 einsetzte und mitnichten ausschließlich der Eigendynamik nationalsozialistischer Gleichschaltungspolitik zuzuschreiben ist. Kritik an der Winterhilfe kam nicht nur von Verbänden, die außerhalb der Liga standen oder den Vorrang der öffentlichen Fürsorge betonten, sondern auch aus Kreisen, die sich der privaten Wohlfahrtspflege durchaus eng verbunden wußten. Es scheint, als ob die Dauerhaftigkeit der Not, deren Ende nicht abzusehen war, und der relative Rückgang des Spendenaufkommens im Winter 1932/33 zum kritischen Nachdenken über Aufgaben, Struktur und Leistungsvermögen des Massenhilfswerks angeregt haben. So klingt der nachträgliche Erklärungsversuch Vöhringers gewiß plausibel, daß die scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen jener letzten Monate im Vorfeld der Machtergreifung „die leise 246

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Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Verbote von SA und SS am 13. April 1932 und die beiden Notverordnungen v. 5. Mai ,zur Sicherung der Staatsautorität' und ,über die Auflösung der kommunistischen Gottlosenorganisationen', RGBl. 19321,185 f. Nach § 2 Abs. 2 der .Zweiten Verordnung zur Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung', PrGS 1932,333-339, wurde das Ministerium aufgelöst und seine Zuständigkeiten aufgeteilt. Am 10. XI.1932 beschloß die Liga, wenigstens eine eigenständige Wohlfahrtsabteilung unter Leitung eines renommierten Fachmanns im preuß. Mdl zu fordern und verabschiedete am 18.XI. eine Erklärung, die in verhaltener Form an der Auflösung des MfV Kritik übte und die Notwendigkeit betonte, „an zentraler Stelle in der Staatsverwaltung ein Organ zu besitzen, dessen Aufgabe es zu sein hat, die wohlfahrtspflegerischen Gesichtspunkte in der gesamten Staatsverwaltung lebendig zu erhalten". ADW, CA 1195 VII/1 und CA 2043 B/1. Am 31. Dezember 1935 wurden dem Reichs- und Preußischen Minister des Innern die Angelegenheiten der freien Wohlfahrtspflege übertragen. Dem Reichs- und Preußischen Arbeitsminister blieben die Arbeitsfürsorge und „Sondermaßnahmen zugunsten der minderbemittelten Bevölkerung". Darüber hinaus hatten sich die Minister in allen grundsätzlichen Fragen zu verständigen. Vgl. den .Erlaß über die Abgrenzung der Zuständigkeit auf dem Gebiete der Wohlfahrtspflege', in: RGBl. 19361,1.

II.3. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege

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Stimme der Liebestätigkeit" übertönt hätten. 249 Doch greift das nicht weit genug, denn die gravierenden Existenzprobleme der Millionen von Unterstützungsempfängern waren täglich aufs neue spürbar und wurden durch die erbitterten politischen Auseinandersetzungen höchstens in der (ver)öffentlich(t)en Meinung überlagert. Langsam ,dämmerte' es einigen wenigen Liga-Vertretern, daß auch die Winterhilfe letztlich ein Notbehelf bleiben und allein nicht imstande sein würde, die Krise der Wohlfahrtspflege zu überwinden. Ihre ursprünglich intendierte nur subsidiäre Funktion habe, wie Otto Ohl, der rheinische Provinzialgeschäftsführer der Inneren Mission besorgt anmerkte, bereits den Charakter einer Ersatzleistung für die öffentliche Pflichtfürsorge angenommen - ein gefährlicher Weg, der die Kommunen von ihrer vornehmsten Aufgabe immer weiter wegführe, zunächst das Existenzrecht ihrer Bürger zu sichern, bevor sie sich anderen, sicher ebenfalls dringlichen Pflichten zuwendeten. Ähnlich den erwähnten Befürchtungen Christian Jasper Klumkers verwies auch Ohl auf den Rückfall der Wohlfahrtspflege in die Praktiken des 19. Jahrhunderts, wenn nur noch das Existenzminimum in der Art eigentlich überwundener ,Wohltätigkeit' erhalten werde, aber nicht mehr eine differenzierte, auf die individuelle Notlage zugeschnittene Hilfestellung möglich sei.250 - Einen anderen Aspekt hob der Leiter der Frankfurter Centrale für private Fürsorge, Hans Achinger, hervor, der die „Gleichschaltung" der Winterhilfe mit der öffentlichen Fürsorge gleichfalls kritisierte und darüber hinaus die Ausgangsthese der Liga durch die vorliegenden Ergebnisse für widerlegt hielt, daß der Massennot großer Bevölkerungsteile nur mit einer zentral gesteuerten und einheitlich ausgerichteten Massenhilfsaktion beizukommen sei. Dadurch würden die vielfältigen privaten Anstrengungen, die wesentlich flexibler auf verschiedenartige Herausforderungen reagieren könnten, behindert und der Helferwille der Bevölkerung insgesamt geschwächt. 251 Auf diese Weise gab die Winterhilfe in manchen der Liga angeschlossenen Verbänden den Anstoß dazu, über Grundfragen der Wohlfahrtspflege kritisch nachzudenken. Daß sich besonders Vertreter der Inneren Mission dazu veranlaßt sahen, hängt freilich auch mit den hier noch längst nicht überwundenen Folgen des nur knapp vermiedenen wirtschaftlichen Zusammenbruchs zusammen, sollte aber nicht isoliert nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden, denn die übrigen Verbände empfanden die Notwendigkeit zur Überprüfung des bis249 250 251

Vöhringer, Zur Geschichte der Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege. Otto Ohl, „Gedanken und Fragen zur Winterhilfe", in: IM 27.1932,6-11. „Es scheint mir deshalb gefahrlich, wenn man aus wohlverständlichen politischen Beruhigungsversuchen der Winterhilfe aus öffentlichen Mitteln und unter öffentlicher Führung da aufhelfen will, wo sie von selbst nicht wächst. Denn damit wird man den Acker eher noch unfruchtbarer machen, als er schon vorher gewesen ist." Hans Achinger, „Zwischen heute und morgen. Gedanken zur Lage der freien Wohlfahrtspflege", in: Freie Wohlfahrtspflege 7.1932/33,477-481,478.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

herigen Kurses freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege ebenso. Hatte schon Ohl seine kritischen Bemerkungen in der Absicht gemacht, den in christlicher Ethik wurzelnden besonderen Auftrag der freien Wohlfahrtspflege, d.h. vor allem den der konfessionellen Verbände gegenüber der weltanschaulich neutralen öffentlichen Fürsorge zu akzentuieren, so führte der scheidende Direktor des Centraiausschusses, Johannes Steinweg, diese Gedanken in einem Referat vor dem Präsidium der Liga näher aus.252 Hinter der ökonomisch-sozialen Krise sah er einen wesentlich weiterreichenden geistig-politischen Notstand, den er mit den bekannten Vokabeln protestantisch-konservativer Zeitgeistdeutung umschrieb: Seit dem 19. Jahrhundert hätten Liberalismus und Marxismus den Menschen seinen angestammten Bindungen an Familie, Scholle und Religion entfremdet. An die Stelle von Staat und Volksgemeinschaft seien Klassen, Interessengruppen und Parteien getreten, eine Entwicklung, die in Sowjetrußland ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden habe. Doch sei heute überall eine Gegenbewegung zur Atomisierung und Individualisierung des Menschen festzustellen. Bindung und Einordnung statt Autonomie und Vereinzelung seien wieder gefragt. Parlamentarismus und Demokratie hätten versagt, weil sie „dem organischen Volksleben und seinen Notwendigkeiten nicht gerecht" geworden seien. Die Menschheit fordere heute ein Denken und einen einheitlichen Lebensvollzug, „die nicht in erster Linie gemacht oder beschlossen oder angeordnet werden können, sondern die aus seelischen Tiefen herauswachsen müssen". Das Zeitalter des Liberalismus sei zu Ende, eine neue Epoche kündige sich an. Das bringe auch Folgen für die Wohlfahrtspflege mit sich, deren Überorganisation in der Vergangenheit häufig auf gewachsene Strukturen keine Rücksicht genommen habe. .Rationalisierung' und Planwirtschaft' hätten ein Ausmaß angenommen, das die irrationalen Wurzeln christlicher Liebestätigkeit zu verschütten drohe. Darum müsse die weltanschauliche Komponente wieder stärker betont werden, es gelte, die Wohlfahrtspflege „aus dem Spezialistentum heraus in die großen seelischen, geistigen und weltanschaulichen Zusammenhänge" hineinzustellen. 253 Die Tatsache, daß Steinwegs Vortrag in dem offiziellen Liga-Organ erschien, deutet auf die Übereinstimmung der Mitgliederverbände mit diesen Ausführungen hin, die auch in den Reihen der Arbeiterwohlfahrt zur Kenntnis genommen und ironisch-kritisch kommentiert wurden. 254 Wichtig für die Stellung der Liga 252

253 254

Am 23.V.1932 faßte das Präsidium den Entschluß, in einer der folgenden Sitzungen einen Vortrag „über die Veränderungen im Seelenleben des deutschen Volkes" halten zu lassen, den Steinweg übernahm; ADW, CA 1195 VII. Der Beitrag „Zeitenwende?" erschien dann in der Freien Wohlfahrtspflege 7.1932, 285-293, nachdem das Präsidium noch einige Ergänzungen eingefügt hatte; ebd., 290f. Ebd., 290 f. Hedwig Wachenheim, „Die neue Seele und die Vernunft vor der Liga", in: Arbeiterwohlfahrt 8.1933, 28f.Die Vf. referiert u.a. das Staats- und Gesellschaftsbild Steinwegs und

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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zu den politischen Ereignissen des Jahres 1933 ist das hier präsentierte Bild von Staat und Gesellschaft, das die Republik selbst im Visier hat und sich von ihr nichts mehr erhofft, freilich auch nicht eindimensional den Nationalsozialismus als einzig möglichen ,Retter' erwartet. Für den Standpunkt der Wohlfahrtspflege sind noch andere Gesichtspunkte von Bedeutung: einmal der Sachverhalt, daß der von den Ligaverbänden so vehement mitbetriebene Aufbau des Wohlfahrtsstaates Weimarer Prägung nun in der Rückschau als monströs, als konstruiertes Gebilde ohne Anbindung an ,organische' Formen herkömmlicher Fürsorge erschien, womit sich die Arbeit der freien Wohlfahrtspflege in den Jahren seit 1918 selbst ihr Urteil spricht; zum andern der Rekurs auf verstärkte weltanschauliche Orientierung der Wohlfahrtspflege im Sinne ihrer Gründungsintentionen, was bei Steinweg doch eigentlich nur Rückbesinnung auf die genuin christlichen Motive konfessioneller Liebestätigkeit heißen durfte. Gerade diese aber werden erstaunlicherweise ausgeblendet, was nicht nur aus der Perspektive kritisch betriebener Theologie- und Kirchengeschichte verwundern mag. Denn was hat ein zeitgebundenes Gesellschaftsmodell mit ethisch fundierter Zuwendung zum Nächsten zu tun? Und schließen rational-effiziente Planungen und christliche Liebestätigkeit einander aus? Zum dritten endlich mutet es wie eine Ironie der Geschichte an, daß ausgerechnet jener auf die Republik folgende solchem organologischen Denken wenigstens verbal verpflichtete - nationalsozialistische Gewalt- und Unrechtsstaat mit den Leitbegriffen .Rationalisierung' und ,Planwirtschaft', denen Steinweg gerade abgeschworen hatte, den Gestaltungsraum der freien Wohlfahrtspflege zunehmend einengte und ihr unter Rückbezug auf diese Schlagworte wohl letztlich den Garaus gemacht hätte, wenn dies durch den Krieg und seinen Ausgang nicht verhindert worden wäre.

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940 Eine Darstellung der Liga-Entwicklung im Dritten Reich wird nicht allein die ganz andersartigen politischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen haben, sie kommt auch nicht daran vorbei, jene große wohlfahrtspflegerische Untergliederung der Staatspartei in den Blick zu nehmen, die in den folgenden Jahren die

stellt dann die rhetorische Frage: „Zu gern wüßte ich, welche Staatsform nach der Auffassung der Liga [...] denn eigentlich dem organischen Volksleben und seinen Notwendigkeiten gerecht wird? Zu gern wüßte ich auch, ob es zur Propaganda für die evangelische Kirche gehört, wenn evangelische Pastoren schildern, wie der Satan Marxismus die Zeit und ihre Seelen überwuchern konnte, ohne daß ihre Kirche imstande war, das abzuwehren, und wenn sie an der neuen Zeit gerade das preisen, was aus München kommt [!] und nicht aus Wittenberg." Ebd., 29.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

einschlägige Gesetzgebung und den Weg der freien Wohlfahrtspflege insgesamt entscheidend bestimmte: die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt e.V. (NSV). Diese bemühte sich schon bald nach der Machtergreifung mit wachsendem Erfolg, die Liga und die dann an ihre Stelle tretenden Organisationsgebilde schrittweise auszuschalten, d. h. ohne den ,Umweg' einer Clearing-Stelle mit den privaten Verbänden direkt zu verhandeln, um sie einzeln leichter unter ihre Botmäßigkeit zu bringen. Auf diese Weise entfiel dort die in den Jahren der Republik bewährte Möglichkeit, sich vor wichtigen sozialpolitischen Weichenstellungen abzusprechen und gegenüber Ministerien und Behörden (wie auch der NSV) einheitlich aufzutreten. Das Resultat dieses intendierten Funktionsverlustes der Liga war ihr rapide zunehmender Bedeutungsschwund, der mit einer Aufwertung der übriggebliebenen, vergleichsweise noch ,freien' Verbände Innere Mission und Caritas korrespondierte und letztlich nach jahrelanger erzwungener Untätigkeit in der gleichwohl überraschenden Auflösung der Spitzengliederung durch die NSV endete. - Da sich mit der Entwicklung der Inneren Mission nach 1933 ein anderes Kapitel beschäftigt, das auch die Auseinandersetzungen mit der NSV behandelt, klammert der folgende Abschnitt das Verhältnis von IM und NSV soweit wie möglich aus und beschränkt sich auf die Nachzeichnung der sich in Etappen vollziehenden Entmächtigung und schließlichen Liquidierung der Dachorganisation der freien Wohlfahrtspflege im März 1940. II.4.1. Gesundheitsfiihrung versus Wohlfahrtspflege: Programm und Entstehung der NSV Indirekte Berührungspunkte zwischen Liga und NSV gab es schon vor der Machtergreifung. Der im April 1932 auf Privatinitiative mehrerer Tempelhofer Nationalsozialisten hin gegründete und vorerst auf Berlin beschränkte Verein bildete nur eine der zahlreichen Initiativen von Untergliederungen der NSDAP, bedürftige Parteigenossen, darunter vor allem arbeitslose SA-Männer, mit dem Notwendigsten zu versorgen, ohne sich von den Fürsorge- und Hilfsmaßnahmen des ,Systemstaats' abhängig zu machen. 255 Im November des Jahres wurde 2SS

Zur Geschichte der NSV vgl. die 1971 und 1976 fertiggestellten US-Dissertationen von Thomas de Witt, The Nazi Party and Social Weifare. 1919-1939, und Marc Alan Siegel, The National Socialist People's Weifare Organization. 1933-1939, wobei letztere - nach ihrem Literaturverzeichnis zu schließen - ohne Kenntnis der ersteren angefertigt wurde. Beide Arbeiten kranken daran, daß sich ein geschlossener Aktenbestand der NSVReichsleitung nicht erhalten hat, so daß die Vf. darauf angewiesen waren, bestehende Lücken durch Hypothesen zu füllen oder sich auf Selbstdarstellungen der NSV verlassen zu müssen, was vor allem bei Siegel gelegentlich zu einer unkritischen Übernahme der vorgefundenen Materialien führt. S. jetzt auch die beiden Arbeiten Herwart Vorländers zum Thema: „NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk des deutschen Volkes" und: Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation. - Ver-

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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die NSV der Hauptabteilung III des Gaues Groß-Berlin der NSDAP angeschlossen und erhielt damit einen parteioffiziösen Anstrich, galt aber deshalb noch keineswegs als anerkannte Unterorganisation der Partei. Man beteiligte sich an den vielfältigen politischen Sammlungen außerhalb und neben der Winterhilfe der Liga genauso, wie das auch die Parteien der äußersten Linken taten, deren Aktivitäten der Berliner Polizeipräsident zum Anlaß nahm, ihnen die Gemeinnützigkeit abzusprechen und eine neue reichsgesetzliche Regelung zu fordern, die an die Stelle der eingangs genannten Bundesratsverordnung von 1917 treten sollte.256 Um einer administrativen Beschränkung ihrer Sozialarbeit zu entgehen, die zwei Zielen gleichzeitig verpflichtet war, nämlich bestimmte Versorgungsleistungen für die Mitglieder zu erbringen und daneben das ,soziale Gewissen' der Partei in der politischen Agitation herauszukehren, ließ die NSDAP im November 1932 vorfühlen, ob ihre regionalen Wohlfahrtsabteilungen nicht Mitglied der Liga werden könnten. In solchem Zusammenhang ist wahrscheinlich auch die Anfrage des preuß. Wohlfahrtsministeriums an die Liga zu sehen, welcher Stellenwert der NS-Fürsorge aus ihrer Sicht zuzubilligen sei, ob sie den Standards neuzeitlicher Wohlfahrtspflege entspreche und welche Bedeutung ihr im Rahmen der freien Trägerverbände zukomme. An der hinhaltenden Antwort kann der geringe Wirkungsgrad nationalsozialistischer Wohlfahrtsmaßnahmen abgelesen werden, die zur weitreichenden Arbeit der Ligaverbände in überhaupt keiner Relation standen: Man wolle sich gern informieren, ansonsten aber zunächst einmal abwarten, „bis sich die Dinge klarer erkennen" ließen, als das derzeit der Fall sei.257 Diese ,Klärung' sollte rascher und anders erfolgen, als die meisten Liga-Mitglieder erwarteten. Sie bedeutete das Ende der kleineren Verbände oder ihren Anschluß an die NSV bzw. eine radikale Neugestaltung der Arbeit der einzig verbleibenden drei Gruppierungen Innere Mission, Caritas und Deutsches Rotes Kreuz. Denn die ,braune Revolution' zog sehr bald auch die freie Wohlfahrtspflege in ihren Bann, beschnitt ihre Selbständigkeit Zug um Zug und ließ den Verbänden nur noch schmale Freiheitsräume auf jenen genau definierten

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257

altet ist die am inzwischen aufgelösten Institut für Caritaswissenschaft der Universität Freiburg entstandene ungedruckte Diplomarbeit von Berta Wülfing, Die .Nationalsozialistische Volks Wohlfahrt', die keine Archivalien berücksichtigt. Zur Organisationsstruktur der NSV noch immer sehr informativ, wenngleich von de Witt und Siegel nicht benutzt, das Gutachten Hans Buchheims von 1958, „Die Übernahme staatlicher Fürsorgeaufgaben durch die NSV". Schreiben des Berliner Polizeipräsidenten an den PrMdl v.28.V. 1932. Diese Sammlungen zu politischen Zwecken würden vor allem von „radikalen staatsfeindlichen Parteien und Organisationen" durchgeführt, die sich dadurch, daß sie diese Sammlungen ausdrücklich als politisch' und nicht als ,mildtätig' klassifizierten, den Vorschriften der Sammlungsgesetzgebung entzögen. Problematisch sei auch die Verwendung der aufgebrachten Mittel für rein private Zwecke der Organisatoren; ADW, CA 1195 Z 3. Nach dem Prot, der Liga-Sitzung v. 17.XI. 1932; ADW, CA 1195 VII.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

und eng begrenzten Arbeitsfeldern, die ihnen der neue Staat nur deshalb auf Zeit überlassen wollte, weil er an ihnen aus rassenpolitischen Erwägungen kein Interesse zeigte. Alten- und Gebrechlichenfürsorge wie die Anstalten für geistig und körperlich Schwerstbehinderte sollten den kirchlichen Organisationen verbleiben, während die nun vehement aufzubauende parteinahe ,Gesundheitsfiihrung' - auch dies eine Neuschöpfung der NS-Terminologie258 - sich den Erziehungs- und Vorsorgebereich reservierte, der in Anlehnung an sozialdarwinistisches Gedankengut der rassisch-biologischen Konsolidierung und der damit in untrennbarem Zusammenhang stehenden Wehrhaftmachung des deutschen Volkes im Kampf um den Lebensraum zu dienen hatte. Der Wohlfahrtsstaat Weimarer Prägung mit seinem ursprünglichen, dann freilich nicht durchzuhaltenden Ansatz, individualisierende Fürsorge treiben zu wollen, galt den Nationalsozialisten als Relikt der ,Systemzeit', aus ,liberalistisch-marxistischem Ungeist' geboren und schließlich an seiner Versorgungsmentalität und nicht an den wirtschaftlichen und sozialen Realitäten gescheitert. Schwächung des Verantwortungsbewußtseins des einzelnen und „Züchtung von Unterstützungsempfängern" statt Hilfe zur Selbsthilfe - so lauteten die plakativen Anschuldigungen auch an die Adresse derer, die in der Republik freie Wohlfahrtspflege betrieben hatten und jetzt - soweit es die Ligaverbände betraf - nur noch jene ,bedauernswerten' Volksgenossen betreuen sollten, „denen wir nicht mehr helfen können". 259 Gerade die Kirchen traf der Vorwurf, sich am Niedergang der Fürsorge maßgeblich beteiligt zu haben. Bei aller Anerkennung christlicher Motive ihrer Liebestätigkeit hätten sie die „unwerten Elemente unseres Volkes" häufig mit einem „übersteigerten christlichen Mitleid überflutet" und so die Selbstheilungskräfte der Volksgemeinschaft sukzessive zerstört.260 Stärkung der Widerstandskraft der gestrauchelten, aber ,resozialisierungsfähigen' Volksgenossen, Überwindung der Massenarmut durch Steigerung nationaler Hilfswerke auf ein bisher ungeahntes Ausmaß, Erhöhung der Geburtenrate durch Einrichtung der NSV-Abteilung ,Mutter und Kind' und flankierende Maßnahmen zur Bekämpfung der Volksseuchen wie Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, d.h. Verbesserung der Volksgesundheit auf den Grundlagen der Rassenhygiene würden künftig die bestehenden Einrichtungen und Anstalten für Unheilbare und rassisch Wertlose überflüssig machen, so die Überzeugung der Verantwortlichen. Sie schreckten hierbei - wie der Anfang 1933 zum Leiter der NSV bestellte Erich Hilgenfeldt nicht davor zurück, diesem Prozeß auch mit Taten nachzuhelfen: „Das Ungeeignete muß rückhaltlos ausgemerzt werden aus der Erkenntnis unserer nationalsozialistischen Weltanschauung, daß das Recht des einzelnen geringer ist als das

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260

Dazu jetzt Michael H. Kater, „Die,Gesundheitsführung' des Deutschen Volkes". N.S. Volkswohlfahrt (E.V.) Reichsleitung, Richtlinien für die Arbeit, 4 f., und Erich Hilgenfeldt, „Aufgaben der NS.-Volkswohlfahrt", in: NSV 1 . 1 9 3 3 / 3 4 , 1 - 6 , 4 . Ilse Geibel, Die Umwertung der Wohlfahrtspflege durch den Nationalsozialismus, 8 f.

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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R e c h t der G e m e i n s c h a f t , u n d d a ß d a s R e c h t d e s e i n z e l n e n g e b r o c h e n w e r d e n m u ß , w e n n das Recht der G e m e i n s c h a f t es fordert." 2 6 1 , G e s u n d h e i t s f ü h r u n g versus W o h l f a h r t s p f l e g e ' o d e r ,Vorsorge statt Fürsorge' lauteten d i e Parolen, mit d e n e n die Partei o d e r besser ihre s o z i a l p o l i t i s c h aktiven U n t e r g l i e d e r u n g e n 1933 damit b e g a n n e n , ihr n o c h reichlich u n b e s t i m m t e s Programm in d i e Tat umzusetzen, ein Vorhaben, d a s in der N S D A P auf m e h r P r o b l e m e s t o ß e n sollte, als seinen Verfechtern z u n ä c h s t b e w u ß t war. S c h o n in der A n f a n g s p h a s e ihres B e s t e h e n s m u ß t e n die im s o z i a l e n Bereich n o c h o h n e zentrale Vertretung o d e r Leitung w i r k e n d e n parteinahen G r u p p i e r u n g e n größere Schwierigkeiten ü b e r w i n d e n , bis es i h n e n gelang, sich reichsweit z u s a m m e n z u s c h l i e ß e n u n d die A n e r k e n n u n g der N S D A P zu erhalten. E i n e führende R o l l e spielte d a b e i Erich H i l g e n f e l d t , der die N S V n a c h der Machtergreif u n g in w e n i g e n M o n a t e n zu einer R e i c h s o r g a n i s a t i o n ausbaute, d e r e n Leitung er i m April 1933 übernahm. 2 6 2 W i e d i e m e i s t e n seiner Mitarbeiter g e h ö r t e der e h e m a l i g e Weltkriegsoffizier, der sich n a c h 1918 in v e r s c h i e d e n e n B e r u f e n als Angestellter - zuletzt im Statistischen R e i c h s a m t - versucht hatte, o h n e j e zu reüssieren, nicht zu d e n g a n z ,alten K ä m p f e r n ' , trat aber i m m e r h i n bereits 1929 der Partei bei, in der er sich als Block- u n d Zellenleiter, schließlich als Kreisleiter u n d B e z i r k s p r o p a g a n d a r e d n e r betätigte. 2 6 3 Seine b e s c h e i d e n e Parteikarriere

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Hilgenfeldt, a.a.O., 5. Eine ganz andere Version der NSV-Gründung, die allerdings durch die Gegenüberlieferung des NSV-Schriftguts bzw. - Aktenmaterials nicht gestützt wird und auch bisher in der Sekundärliteratur nicht erwähnt wurde, bietet Vöhringer in seinem Abriß der LigaGeschichte: Danach wandte sich 1931/32 Eva von Schröder, die eigentliche „Mutter der NSV", im Auftrag der N S D A P an Vöhringer persönlich mit der Bitte um 150 Freifrachtbriefe f ü r Liebesgaben, die für Stahlhelm und SA bestimmt waren. Vöhringer erfüllte gegen zahlreiche Widerstände diesen Wunsch und unterhielt in den folgenden Monaten enge Kontakte zu Frau von Schröder, die sich bezahlt machten, als die Partei nach der Machtergreifung auch den Bereich der freien Wohlfahrtspflege unter ihre Kontrolle bringen wollte. Robert Ley beanspruchte alle Anstalten und sonstigen Einrichtungen f ü r sich, während die gesamte Jugendwohlfahrtspflege Baidur v.Schirach zugeschlagen werden sollte. Um diese G e f a h r abzuwenden, förderte die Liga im Benehmen mit Frau v. Schröder den Aufbau einer eigenen Wohlfahrtsorganisation der Partei, was schließlich durch Einwirkung derschlesischen Altparteigenossin, die dann Stellvertreterin Hilgenfeldts im Vorstand der NSV wurde, auch Hitlers Billigung fand. Für die Geschäftsführung der NSV war zunächst Vöhringer selbst vorgesehen, was auch die Liga befürwortet hätte, aber an der Weigerung Vöhringers scheiterte, den unerläßlichen Parteieintritt zu vollziehen. Erst jetzt fiel die Wahl auf Hilgenfeldt, während die Liga bemüht blieb, den Aufgabenkreis der NSV so abzustecken, daß die Interessen und Arbeitsgebiete der Ligaverbände nicht tangiert wurden. Man einigte sich schließlich auf die Formel, daß für .materielle' Hilfeleistung die NSV, für,seelische' Betreuung jedoch die anderen Verbände zuständig sein sollten. Vgl. Vöhringer, Zur Geschichte der Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege, MS, 1944; ADW, C A 1194 XIV. Biographische Hinweise zu Hilgenfeldt bei Wollasch, Beiträge, 157 f., Anm.680, und in den Restbeständen seiner NSDAP-Personalakte, die sich im BDC befindet. Dort vor

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

bis 1933 rechtfertigt die Vermutung, daß er starke Förderer besaß, die früh die propagandistisch verwertbare Bedeutung des innerhalb der Partei nicht sehr angesehenen Wohlfahrtsbereichs erkannten und in Hilgenfeldt ein willfähriges Werkzeug fanden, das ihre Vorstellungen in die Tat umsetzen würde; 264 sei es, daß die Parteiorganisation in den ersten Jahren des Dritten Reiches dringlichere Aufgaben zu erledigen hatte, oder sei es, was naheliegender scheint, daß sie fürsorgerischen Aufgaben ohnehin mit Geringschätzung begegnete. So belegt ein erhaltener Schriftwechsel zwischen der von Rudolf Heß geführten Politischen Zentralkommission und der Obersten Parteileitung unter Robert Ley, daß man an der Spitze der N S D A P noch im April/Mai 1933 gar nicht daran dachte, Hilgenfeldt und seine NSV als Untergliederung der Partei zu akzeptieren. Ohne daß Ley und Heß davon erfuhren, hatte jedoch Hitler selbst inzwischen diese Anerkennung in einem Führererlaß ausgesprochen und der NSV bescheinigt, sie sei „zuständig für alle Fragen der Volkswohlfahrt und der Fürsorge". 265 Damit war der Weg frei für eine nationalsozialistisch ausgerichtete Fürsorgeorganisation, die am 25. Juli vom Reichs- und Preußischen Minister des Innern als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege und am 25. September des Jahres durch den preuß. Finanzminister als,milde Stiftung' anerkannt wurde. 266 II.4.2. Stufen der Gleichschaltung' Auch die Ligaverbände wurden 1933 von der nationalen Aufbruchstimmung erfaßt, die im Gefolge der Machtergreifung nahezu alle Bereiche der bürgerlichen Gesellschaft faszinierte und den Menschen suggerierte, der NS-Staat werde die ersehnte Neuordnung der politischen und sozialen Verhältnisse endlich vollbringen und die offenkundigen Schwächen der Republik machtvoll überwinden. In dem Bewußtsein, daß man von manchen liebgewonnenen Vorstellungen der Vergangenheit werde Abschied nehmen müssen, waren auch sie zu Opfern und

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allem ein handschriftlicher Lebenslauf v. 27.X. 1937. Zwischen Hilgenfeldt und Eva v. Schröder, die Vöhringer zufolge ja diesen als Geschäftsführer favorisiert hatte, bestanden starke Spannungen, die noch durch die engen Beziehungen, die der spätere Hauptamtsleiter zur Führerin der NS-Frauenschaft, Gertrud Scholtz-Klink, unterhielt, verstärkt worden sein dürften; s. dazu auch Anm. 302. Mit ziemlicher Sicherheit gehörte der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, der die NSV ja Ende 1932 in die Hauptabteilung III seiner Gauverwaltung eingegliedert hatte, zu jenen Männern, die hinter Hilgenfeldt standen. Dafür spricht u.a. die Übernahme der LigaWinterhilfe als nationalsozialistisches Winterhilfswerk durch den Reichspropagandaminister Mitte 1933, dessen Durchführung er dann Hilgenfeldt und seiner Organisation übertrug, ohne dabei jedoch die Gesamtverantwortung aus der Hand zu geben. Schriftwechsel V.25.IV. und 19.V. 1933; APK-NS, 117 05 308 ff. Der Führererlaß, mit dem die N S V „als Organisation innerhalb der Partei für das Reich anerkannt" wurde, datiert jedoch schon v. 3.V. 1933. Er ist in den .Richtlinien für die Arbeit' abgedruckt. Vgl. Buchheim, a. a. O., 126.

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Zugeständnissen bereit, solange die Integrität der großen Verbände - und das hieß vor allem von Caritas und Innerer Mission - unangetastet blieb. Die kleineren Organisationen würde man nicht halten können, darüber scheint man sich innerhalb des Präsidiums klar gewesen zu sein. Den frühzeitigen Austritt der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, mit der man von Beginn an so erfolgreich zusammengearbeitet hatte, nahmen die beiden anderen konfessionellen Verbände lediglich zur Kenntnis - einen Vorstoß gegenüber Regierung und Partei, die jüdische Wohlfahrtspflege trotz der öffentlichen antisemitischen Agitation in der Liga zu halten, unternahmen sie nicht. Außerdem hätte das höchstens aufschiebende Wirkung gehabt, da die ZdJ mit ihrem Schritt nur dem von Partei und Staat vielfach geforderten erzwungenen Ausschluß zuvorkam. 267 Auch die gemischtkonfessionell orientierte Christliche Arbeiterhilfe war nach Abschluß des Konkordats und der Auflösung der Gewerkschaften als eigenständige Organisation nicht zu retten. Auf Vorschlag des Grafen Lerchenfeld löste sie sich selbst auf und übertrug ihre katholischen und evangelischen Einrichtungen an Caritas und Innere Mission. 268 Der Paritätische Wohlfahrtsverband endlich ging in der NSV auf, und das Deutsche Rote Kreuz erfuhr durch den vom Stellvertreter des Führers', Rudolf Heß, beauftragten SA-Sanitätsobergruppenführer Dr. Hocheisen eine gründliche Umstrukturierung im Sinne einer Wiederausrichtung auf seine Kriegsaufgaben, blieb aber Mitglied der Liga. 269

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Merkwürdigerweise wurde in Sitzungen der Liga bzw. des Präsidiums über das Schicksal der ZdJ nicht gesprochen; nur am Rande, unter der Rubrik ,Personalia', ging man gelegentlich auf die damit zusammenhängenden Probleme ein; so, als es um die Ablösung des langjährigen Liga-Justitiars Philipsborn ging, der gleichzeitig Geschäftsführer des Reichsverbandes der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands war und der für diese Tätigkeit jetzt nicht mehr in Frage kam. Freilich suchte man seitens der Liga eine Lösung, um die Trennung von Philipsborn „menschlich vornehm und gerecht zu gestalten". S. das Schreiben des Leiters der Gesundheitsabteilung des CA, Dr. Hans Harmsen, an den Vorsitzenden des Reichsverbandes, Pastor Frick, v.24.IV. 1933; ADW, CA 1195 IX. Auch die drohende Auflösung des Archivs für Jugendwohlfahrt, das von Siddy Wronsky geleitet wurde, nahm man nur ,mit Bedauern' zur Kenntnis und verwarf ausdrücklich den Gedanken einer Demarche beim Rdl als aussichtslos; vgl. die Prot, der Liga-Sitzungen v.27.11. und 9.III. 1933; ADW, CA 1195 VII/1 und VIII. - Am 4.V.1933 erklärte der Leiter der ZdJ, Oberrabbiner Dr. Leo Baeck, gegenüber Frick und Kreutz persönlich den Austritt seiner Organisation aus der Liga; s.Gerhardt II, 368, der fälschlicherweise angibt, Baeck habe daraufhin sofort Deutschland verlassen und sei nach England gegangen. Zum Schicksal Baecks vgl. Leonard Baker, Hirt der Verfolgten.

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Graf Lerchenfeld an Bernhard Otte/CAH V.27.V. 1933; ADCV, 460,1. Vgl. Friedrich Grüneisen, Das Deutsche Rote Kreuz in Vergangenheit und Gegenwart, 183 ff., und das Memorandum Dr. Hocheisens v.20.VII. 1933, „Das Rote Kreuz und der Nationalsozialismus"; StAMü, NS-Frauenschaft Westfalen Nord, Nr. 326. - Zur Angliederung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes an die NSV s.Gesundheitsfürsorge 8.1934, 57; im Juli 1933 hatte sich der Centraiausschuß noch Hoffnungen gemacht, die Einrichtungen des Fünften Verbandes in evangelische Trägerschaft übernehmen zu kön-

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Eine erste Begegnung der Liga mit führenden Vertretern der NSV fand am 9. Mai 1933 statt. Die Unterredung vollzog sich „in freundschaftlicher Form", wenn auch Hilgenfeldt bereits hier unzweideutig darauf hinwies, daß die Reorganisation der freien Wohlfahrtspflege unter seiner Führung erfolgen werde. Hinsichtlich des Verhältnisses von Liga und NSV legte er sich noch nicht fest, da diese Fragen erst mit der Parteileitung besprochen werden müßten. Die Arbeiterwohlfahrt werde jedoch baldmöglichst aufgelöst, das stehe fest. Er bejahe aber das Lebensrecht der freien Wohlfahrtspflege und werde für ihre Durchführung „in christlichem Sinne eintreten". Das klang beruhigend, wenngleich die Liga-Repräsentanten in der anschließenden Diskussion darüber uneins blieben, ob Hilgenfeldt mit seinem Verein der Liga beitreten oder umgekehrt die Liga in die NSV eingliedern wolle.270 Um die unausweichliche Neuordnung der freien Wohlfahrtspflege vorzubereiten, wurde eine Überleitungskommission unter Beteiligung der NSV eingesetzt, die in langen und zähen Verhandlungen das Arrangement schuf, das am 27. Juli zur Gründung der .Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege Deutschlands' (RG) führte. Reibungslos verlief der Weg dorthin nicht, zumal sich Innere Mission und Caritas hinter den Kulissen über die Zukunft der Liga nicht einig werden konnten. Während der Centraiausschuß, vor allem der Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge, der Mediziner und Nationalökonom Hans Harmsen, auf eine rasche Einigung drängte, aus taktischen Erwägungen ein offenes Bekenntnis der Liga zum Nationalsozialismus forderte und vor einschneidenden personellen Umbesetzungen des Präsidiums, die Hilgenfeldt zu den Voraussetzungen der Neuordnung zählte, nicht zurückschreckte,271 stand die Caritas solchen radikalen Änderungen wesentlich zurückhaltender gegenüber. Schließlich aber mußte auch sie sich zu gravierenden Zugeständnissen bereiterklären, die mit dem Übergang zur .Reichsgemeinschaft'

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nen; s.Prot. der Sitzung des Verfassungsausschusses des CA v. 19.VII. 1933, ADW, CA 100 IV, 1. Bericht Wienkens an die Caritas-Zentrale in Freiburg v. 10.V.1933; ADCV, 460,1. Das geht aus einem Vermerk Harnisens v. 15.V. 1933 für den geschäftsführenden CADirektor Pastor Jeep hervor, in dem u. a. das ursprüngliche Festhalten Vöhringers an Lerchenfeld als Präsident und sein dann nicht aufrechterhaltenes Junktim zwischen einer Weiterführung seines Amtes und dem Verbleiben des Grafen kritisiert wurde. Es sei ohnehin ein Wunder, wenn die Liga angesichts der politischen Verhältnisse nicht aufgelöst werde; man müsse deshalb dem Staat entgegenkommen und der NS-Führung gegenüber eine Ergebenheitsadresse formulieren. Wenn die Caritas diese nicht mitunterschreiben wolle, solle sich der CA aus der Liga zurückziehen, die den Katholiken mehr bedeute als ihm: „Die Liga in der bisherigen Form und Besetzung ist dann eine Angelegenheit des abgewirtschafteten politischen Systems. Wenn sie die erforderlichen Konsequenzen nicht zieht und sich nicht umstellt, kann der Centrai-Ausschuß an ihr kein Interesse mehr haben." Der Entwurf des vermutlich von Harmsen verfaßten Treuebekenntnisses lautete: „Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege ist bereit, sich für ihre zukünftige Arbeit freudig und vorbehaltlos in die neue nationale und staatliche Ordnung einzugliedern." ADW, CA 1195X1/1.

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nicht allein einen Namenswechsel, sondern weit mehr einen qualitativen Wandel der bisherigen Arbeitsinhalte signalisierten. So beanspruchte die NSV neben der Besetzung des Präsidentenamtes durch einen Vertrauensmann auch die alleinverantwortliche Durchführung des Winterhilfswerks,272 von der Zwangsauflösung bzw. Zwangseingliederung dreier bestehender Ligaverbände ganz zu schweigen. Daß sich die Ligaverbände dennoch den Wünschen der NSV fügten, hatte mehrere Ursachen: Zum einen wiegte man sich in der Illusion, der gerade bekanntgewordene Erlaß des preußischen Innenministers Göring über das Zusammenwirken von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege' werde mit seiner eindeutigen Bevorzugung der freien Träger unter ausdrücklicher Betonung der christlichen Liebestätigkeit weiteren Machtansprüchen der NSV schon die Spitze nehmen; 273 andererseits hoffte man darauf, Hilgenfeldt und seine Organisation nach Anschluß an die Reichsgemeinschaft gleichberechtigter Spitzenverbände gewissermaßen in die Pflicht der fürsorgerischen Alltagsarbeit einzubinden, wo die Altverbände ihre ungleich größere Erfahrung ausspielen konnten. Auf diesen Tenor war auch die Eröffnungsrede des scheidenden Liga-Präsidenten anläßlich der förmlichen Konstituierung der neuen Reichsgemeinschaft am 27. Juli abgestellt. Er identifizierte ohne Einschränkung Republik und Sozialismus miteinander, die der freien Wohlfahrtspflege stets Schwierigkeiten gemacht hätten, und feierte den neuen Staat als ihren „Hüter", der nun seinen „schützenden Mantel über sie breite". Die Namensänderung sei sekundärer Natur: „Was

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Bis A n f a n g Juli herrschte über die Person des neuen Präsidenten noch Unklarheit; man glaubte, d a ß Hilgenfeldt selbst Ambitionen auf das Amt habe, mußte d a n n aber zur Kenntnis nehmen, d a ß die Partei den langjährigen Präsidenten der Landwirtschaftskammer von Berlin-Brandenburg, Joachim von Oppen-Dannenwalde, f ü r diesen Posten nominiert hatte. Der Großagrarier u n d Parteigenosse seit 1932 war im November desselben Jahres mit seiner Unterschrift unter jene bekannte Eingabe an den Reichspräsidenten hervorgetreten, die eine sofortige Betrauung der N S D A P mit der Regierungsverantwortung forderte; cf. Dok. NI-3901, I M G , Bd. X X X I I I , 531-533.Zur Präsidentenfrage s.a. den Brief Wienkens an die Caritas-Zentrale V.8.VII.1933; ADCV, 460, 1.- Am 24.VII. teilte Hilgenfeldt der Liga offiziell mit, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda habe ihn mit der D u r c h f ü h r u n g der Winterhilfsaktion beauftragt. Schon einen Monat zuvor hatten sich die Verbände bereiterklärt, unter Führung der NSV an der Winterhilfe mitzuarbeiten. Vgl. das Prot, der Liga-Sitzung V.24.VII.1933 u n d V.26.VI.1933; ADW, C A 1195 VIII.

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Kommunalisierung u n d Verstaatlichung der Wohlfahrtspflege seien ein Irrweg gewesen, da sie die Fürsorge bürokratisiert u n d politisiert u n d damit letztlich den Menschen entfremdet hätten. „Dabei kann gerade in der Wohlfahrtspflege wirksame Hilfe am besten von Mensch zu Mensch geleistet werden. Wohlfahrt u n d Jugendwohlfahrt können niemals der Kräfte entbehren, die sich freiwillig aus christlicher Nächstenliebe und aus Verantwortungsgefühl für die Volksgemeinschaft zur Verfügung stellen. Die Heranziehung aller nationalen und religiösen Persönlichkeiten zur tätigen Hilfe und Opferbereitschaft für die Volksgemeinschaft m u ß Ziel der Volkswohlfahrt im neuen Staat sein." Erlaß v. l.VI. 1933, Min.-BI. f.d. preuß. Innere Verw. 1933 1,633 ff.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

wir wollen, bleibt das Gleiche." CA-Direktor Pfarrer D. Jeep als ,Reichsbeauftragter der Inneren Mission' bezog sich auf die von seinem Vorgänger Steinweg beschworene und jetzt Wirklichkeit gewordene ,Zeitenwende', erinnerte aber auch an den Preis der Veränderungen, der mit dem Abschied von vielen bewährten Freunden der Vergangenheit erkauft worden sei; wer jedoch ja zum Neuen sage, müsse auch dafür Verständnis aufbringen. Hilgenfeldt schließlich lobte die neue Rechtsform der Zusammenarbeit und verbreitete sich über die Idee der Gesundheitsführung, womit er freilich implizit wieder an die von Anfang an intendierte Zurückdrängung der anderen Verbände zugunsten ,seiner' NSV anknüpfte, nicht ohne ihnen doppelsinnig zu versichern: „Wir wollen Ihnen den Rang nicht streitig machen auf dem Gebiete der Krankenfürsorge, der Fürsorge für die Gebrechlichen, Alten und Schwachen. Wir wollen dem gesunden Volksteil dienen. Wir sehen das als neue Aufgabe, unsere Volksgenossen zu erziehen zu dem Gedanken, ,daß das Recht des einzelnen niemals größer ist als die Pflicht gegen die Gemeinschaft'." 274 Ganz den Erwartungen der traditionellen freien Wohlfahrtsverbände entsprechend, es werde ,schon nicht so schlimm kommen', d.h. die Praxis werde die verbalradikalen Forderungen der NSV auf ein für alle erträgliches Maß zurückschrauben, ließ sich auch die weitere Entwicklung vorerst an. Hilgenfeldt und seine engsten Mitarbeiter, hier vor allem der Leiter der Wohlfahrtsabteilung, Hermann Althaus, einziger akademisch gebildeter Fachmann für Sozialarbeit seines Hauses, der von der Berliner Stadtmission zur NSV gestoßen war,275 schienen um sachliche Zusammenarbeit bemüht und hielten sich gegenüber den anderen Mitgliedern der Reichsgemeinschaft - Innere Mission, Caritas und Rotes Kreuz - mit Mißtrauen erweckenden Machtansprüchen einstweilen zurück. Das fiel ihnen um so leichter, als die Straffung und Neuverteilung der ursprünglichen Arbeitsfelder der Wohlfahrtspflege in den Händen bewährter Parteigenossen im Reichsministerium des Innern lag,276 das noch im Frühjahr 274 275

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Prot, der Präs.-Sitzung v.27.VII. 1933; ADCV, 460.040,1. Althaus, ein Vetter des bekannten Erlanger Theologen Paul A., hatte nach Abitur und Kriegsdienst Land- und Volkswirtschaft in Leipzig studiert und arbeitete dann zeitweise als Erzieherund Lehrerin Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge, bis er 1928 Landesjugendpfleger in Neustrelitz wurde. Ein Jahr später wechselte er zur Wohlfahrtsschule des Berliner Polizeipräsidenten, bevor er 1929 die Leitung der ,Sozialen Hilfe' der Berliner Stadtmission übernahm. Seit April 1932 Mitglied der NSDAP, wurde er 1933 Mitarbeiter der NSV, ab Juli 1933 Abteilungsleiter und im Februar 1934 Amtsleiter im Hauptamt für Volkswohlfahrt; BDC, Parteiakten Althaus. Zur Tätigkeit in der Berliner Stadtmission vgl. seinen Art. „Die .Soziale Hilfe' der Berliner Stadtmission", in: Die Rundschau. Mitteilungsblatt der Inneren Mission 4.1933,33 f. Es handelte sich um die neu ins Ministerium berufenen Mediziner Kreisarzt Dr. Arthur Gütt aus Wandsbek und den bisherigen Leiter des städt. Gesundheitsamtes Eisenach, Friedrich Bartels. Während Gütt für Bevölkerungspolitik, Erbgesundheit und Rassenpflege, Hebammenwesen, Sexualwissenschaft, Eheberatung und allgemeine Hygiene

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1933 damit begann, die gesetzgeberischen und verwaltungstechnischen Kompetenzen der ,Volkswohlfahrt', wie man den Sachbereich Wohlfahrtspflege jetzt zunehmend nannte, 277 an sich zu ziehen. Kurzfristig tauchte das Bild einer,Dreisäulenkonstruktion' auf, auf der das ganze Wohlfahrtswesen in Zukunft ruhen würde: Unter Federführung des Reichsfinanzministers sollten öffentliche und freie Wohlfahrtspflege zusammenarbeiten, verbunden durch den inzwischen gleichgeschalteten Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, an den man die Fach- und Querschnittsverbände anschließen wollte.278 - Außerdem waren vor einer weltanschaulichen Neuorientierung der Wohlfahrtspflege und ihrer konsequenten Durchsetzung auch gegen die Interessen der bisherigen freien Träger die auf Grund anhaltender Massenarbeitslosigkeit drängenden Versorgungs- bzw. Existenzprobleme weiter Bevölkerungskreise zu beheben. Deshalb benötigte man die Reichsgemeinschaft und die Hilfe ihres erfahrenen Geschäftsführers zur Übernahme des Winterhilfswerks in eigene Regie. In diesem Zusammenhang entstand für die seit jeher an der Winterhilfe beteiligten Organisationen die Gefahr der Benachteiligung, die ihre Bereitschaft zur Mitarbeit gefährden konnte: Wenn die nunmehr straff zentralisierte Sammelaktion den anvisierten außerordentlichen Erfolg aufweisen sollte, mußten die parallellaufenden Eigensammlungen anderer Organisationen zurückstehen, d.h. neben dem halbstaatlichen Winterhilfswerk durften - jedenfalls aus der Sicht von Partei und RFM - andere Sammlungen nicht mehr zugelassen werden. Damit die beteiligten Gruppierungen ihren durch die Ergebnisse der früheren Aktionen gedeckten Verpflichtungen nachkommen konnten, waren aber Ausgleichszahlungen aus dem ,Winterhilfswerkstopf' erforderlich, um deren grundsätzliche Berechtigung und Höhe bis in den Krieg hinein auf den verschiedenen Ebenen von Ministerien, Partei und RG-Verbänden heftig gerungen wurde.

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zuständig sein sollte, übernahm Bartels das Referat Gesundheitsfürsorge unter Einschluß der sozialhygienischen Reichsfachverbände und war damit der eigentliche Ansprechpartner der freien Wohlfahrtspflege. Vgl. das Manuskript Hans Harmsens über „die neue Organisation des Wohlfahrtsstaates unter besonderer Berücksichtigung der Gesundheitsfürsorge", das er am 28.V1I.1933 an Bartels sandte, der den geplanten Abdruck in der Zeitschr. .Gesundheitsfürsorge' am 4.VIII. 1933 jedoch untersagte: Einmal seien die Umbildungen noch nicht ganz abgeschlossen, zum andern handele es sich um interne Vorgänge im Ministerium, deren Veröffentlichung der Erlaubnis des Ministers bedürfe; Briefwechsel Harmsen-Bartels in ADW, CA 1195 Z 5. Vom Begriff .Wohlfahrtspflege' rückte man wegen seiner engen Bindung an das Weimarer ,System' immer stärker ab; die NSV verwarf aber den dafür häufig gebrauchten Terminus ,Volkspflege' und benutzte statt dessen den Ausdruck,'Volkswohlfahrt', weil man es, wie Hilgenfeldt in einem Brief an Reichsminister Rust v. 19.11.1935 betonte, für richtiger halte, „einen alten Begriff mit neuem Inhalt zu füllen, als ihn durch einen ungeeigneten zu ersetzen". Vgl. das Prot, der Sitzung der Steuerkommission der RG v. 8.XII. 1933; ADCV, 460.040,2. Der Brief an Rust ist abgedruckt bei Wollasch, a.a.O., 255-258. Prot, der RG-Präs.-sitzungv.2.XI. 1933; ADW, CA 1195 IX.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Bevor auf diesen Komplex näher eingegangen wird, muß die fortschreitende Demontage der doch eben erst gegründeten Reichsgemeinschaft durch die NSV skizziert werden. Schon seit der Machtübernahme war es regional und örtlich zu zahlreichen Konflikten zwischen Amtswaltern der NSV und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege gekommen,279 die nicht nur wegen der tatsächlichen Geschehnisse die freien Träger beunruhigten, sondern auch Gerüchte nährten, das gesamte freie Wohlfahrtswesen stehe kurz vor der Übernahme durch die Partei 280 - Vermutungen, die von der NSV-Spitze stets als Falschmeldungen heruntergespielt wurden, wobei davon auszugehen ist, daß die dadurch bedingte zunehmende Verunsicherung der allein betroffenen konfessionellen Verbände sehr wohl in das taktische Konzept von Hilgenfeldt paßte. Eine im ganzen sachlich verlaufende Kooperation der Spitzengliederungen vor allem in der Anfangsphase des Dritten Reiches und ihre Konterkarierung durch permanente Konfrontation auf unterer Ebene darf freilich nicht allein als bewußt verfolgte Doppelstrategie der Reichsleitung interpretiert werden, deren Einflußmöglichkeiten so weit gar nicht reichten und die sich häufig selbst der nicht in ihrem Sinne liegenden Übergriffe machtbewußter Gau- und Kreisleiter der NSDAP und der von ihnen ernannten NSV-Beauftragten erwehren mußte. - Wer genauer hinsah, bemerkte bald, daß die Berliner NSV-Zentrale ihre anfängliche Zurückhaltung hinsichtlich der Betonung ihres Führungsanspruches schon im Herbst 1933 aufgab und bei Gelegenheit öffentlicher Kundgebungen oder im Schrifttum ihre Prärogative deutlich machte. Beunruhigung löste auch der schon genannte einleitende Artikel Hilgenfeldts in der ab Oktober des Jahres erscheinenden neuen Zeitschrift Nationalsozialistischer Volksdienst' aus, in dem er die Führung der freien Wohlfahrtspflege durch die NSV als Faktum behauptete und als Fernziel in seiner Organisation den einzigen Träger der Volkswohlfahrt im NS-Staat sah.281 Gestützt wurde diese Auffassung durch einen Erlaß des Stabs-

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Vgl. hierzu Kap. III. Vgl. Deutsche Allgemeine Zeitung V.6.VII.1933 (Morgenausg.), Art. „Die N S D A P übernimmt die Führung sämtlicher Wohlfahrtseinrichtungen". Danach hatte am 5.V1I. im Braunen Haus eine Besprechung über die zukünftigen Aufgaben der NSV stattgefunden, in der die Notwendigkeit betont wurde, alle Gebiete der Wohlfahrtspflege mit nationalsozialistischem Geist zu durchdringen. „Einmütigkeit herrschte darüber, daß es zu diesem Zwecke unerläßlich ist, daß die N S D A P die Führung sämtlicher Wohlfahrtseinrichtungen übernimmt." - Selbst wenn die Meldung zutraf, so war das Ergebnis der Konferenz auslegungsfähig, weil,Führung' genauso eine - an sich unstrittige - Richtlinienkompetenz der NSV für den Bereich der freien Wohlfahrtspflege bedeuten konnte wie auch die Einverleibung sämtlicher Organisationen durch die NSV als einzig verbleibenden Spitzenverband. „Aufgaben der NS.-Volkswohlfahrt", 4. In einem Memorandum bezeichnete der Freiburger Caritas-Schulleiter Walter Baumeister diese Aussage als „unerträglich" und forderte eine genaue Bestimmung des Begriffs,Führung', um eine loyale Zusammenarbeit mit der NSV zu ermöglichen. Memorandum v. 31.X. 1933; ADCV, 460,1.

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leiters der Parteiorganisation, Dr. Ley, der anläßlich der Bildung des (Haupt-) Amtes für Volkswohlfahrt Anfang Januar die NSV als „die große Wohlfahrtsorganisation des Deutschen Volkes" qualifizierte.282 Wenige Tage später kam es über die Führungsfrage zu einem offenen Disput in einer Präsidiumssitzung der Reichsgemeinschaft, weshalb man die Einsetzung eines Ausschusses zur Klärung des Konflikts beschloß. 283 Die Diskussion in der Gemeinschaft komplizierte sich zusätzlich durch die unterschiedliche Haltung von Innerer Mission und Caritas gegenüber der NSV. Denn inzwischen hatte auch der Centraiausschuß den Ernst der Lage erkannt und forderte eine schnelle Lösung, wobei er seiner Bereitschaft Ausdruck gab, der NSV entgegenzukommen, selbst wenn es den Bestand der Spitzengliederung kosten sollte, von der die Caritas, wie er meinte, ohnehin mehr profitiere als er. Da diese mit ihrer ehemals engen Zentrumsbindung als politisch nicht zuverlässig im Sinne des Dritten Reiches galt, fürchtete die Innere Mission, durch hartnäckige Ablehnung der NSV-Vorstellungen auch sich mit dem Odium der Regimegegnerschaft zu belasten, was dem Bestand ihrer Anstalten und sonstigen Einrichtungen gefährlich werden könnte. 284 Im Januar 1934 begann die NSV damit, ihre Forderungen gegenüber den Verbänden zu präzisieren. In einem Referat zum Thema der Zusammenarbeit zwischen NSV und Reichsgemeinschaft hob Hermann Althaus unter Berufung auf 282

Erlaß v. 6.1.1934; hierzit. nach A D W , CA 1195 X I I / 2 . - Während die NSV als e.V. und Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege relativ unabhängig von der Partei blieb, entstand mit dem ,Amt' - seit Ende 1934,Hauptamt' - ,für Volkswohlfahrt' eine Untergliederung der Partei, deren Führungspersonal jedoch mit dem .freien' Verband NSV identisch war. Damit hatte sich die Partei ein janusgesichtiges Instrument geschaffen, das wahlweise als von ihr unabhängig in der Öffentlichkeit agieren oder sich auf den ,RechtstiteP der Parteiorganisation zurückziehen konnte, was auch deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung war, weil die Dienststellenleiter der NSV zugleich auch politische Leiter im Sinne der N S D A P wurden; vgl. Buchheim, a. a. O., 126.

283

Prot, der Präs.-sitzung v. 11.1.1934, ADW, CA 1195 VIII. Hier m u ß nachgetragen werden, d a ß mit den Pfarrern Themel u n d Schirmacher sowie dem Rechtsanwalt Dr. Heinrich inzwischen drei überzeugte Parteigenossen als Präsident, Direktor und Schatzmeister an der Spitze des CA standen, die nicht nur aus taktischen Erwägungen, sondern aus leidenschaftlicher politischer Überzeugung heraus auch nur den Anschein einer Gegnerschaft zum Regime vermeiden wollten. Vgl. dazu das Sehr. Heinrichs an Themel v. 12.1.1934, in dem der Schatzmeister äußerst scharfe Beschuldigungen gegen die Caritas erhob, der er vorwarf, die Innere Mission in ihren politischen K a m p f gegen den Nationalsozialismus und das Dritte Reich einspannen zu wollen: „Wir werden damit in eine Front gedrängt, in die wir nicht gehören u n d in der wir in einen unüberbrückbaren Gegensatz, nicht nur zur N. S. V., sondern zum Staate geraten müssen, den wir, soweit wir den Staat bejahen, nicht verantworten können." ADW, a.a.O. Anders als die genannten Vertreter des C A votierte die Geschäftsführerkonferenz der IM gegen ein zu enges Zusammengehen mit der Caritas allein aus dem Grunde, um den Erhalt der IM-Einrichtungen zu gewährleisten. S.das Prot, der Geschäftsführerkonf. v. 16.1.1934; ADW, CA 761 XVI. - Zum Gesamtkomplex s. nochmals das Kap. III.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

den Ley-Erlaß die neue Stellung und Wertigkeit seiner Organisation im Konzert der freien Wohlfahrtspflege hervor und nannte „Überordnung" und „Führung" als selbstverständliche Konsequenz dieser Entwicklung. Von ,Gleichberechtigung' der Verbände zu sprechen, sei nicht mehr zeitgemäß; Führung bedeute die „Zusammenfassung aller Kräfte und [den] restlose[n] Einsatz in ihrer besonderen Eigenart zum Dienst am Volk". Die NSV verstehe sich als Mittler zwischen den freien Trägern und dem Staat, deshalb habe sich die Form einer Reichsgemeinschaft überlebt, man werde statt dessen unter dem Vorsitz Hilgenfeldts eine Arbeitsgemeinschaft' bilden, in die jede Organisation ein bis zwei Vertreter entsenden könne, und zusätzlich ,Richtlinien' für die künftige Kooperation vorlegen.285 Zwar fordere die NSV die Gesundheitsfürsorge für sich, fühle sich dessenungeachtet aber auch für die der christlichen Liebestätigkeit verbleibenden Arbeitsfelder verantwortlich, ohne daß damit eine „Degradierung oder Unterordnung der anderen selbständigen Verbände", die ihren Freiraum behalten sollten, verbunden sei.286 - Über Form und Inhalt der von Althaus angekündigten Richtlinien entspann sich in den folgenden beiden Monaten eine langanhaltende Auseinandersetzung. An ihr beteiligte sich auch Vöhringer, der hier ein letztes Mal in einer kritischen Phase der freien Wohlfahrtspflege das ganze Gewicht seiner auf Ausgleich angelegten Verhandlungsführung in die Waagschale werfen konnte, bevor er am Vorabend der Bildung der Arbeitsgemeinschaft unter unwürdigen Umständen zum Rücktritt gezwungen werden sollte. Bei grundsätzlicher Anerkennung des Primats der NSV suchte er doch nach Wegen, ihre Allmacht einzuschränken, wenn er in seinem Richtlinienentwurf formulierte: „Das Führerrecht hat seine Grenze da, wo eine Beeinträchtigung des kirchlichen Charakters einer Einrichtung zu befürchten ist. Hier muß die Kirche eine Eingriffsmöglichkeit haben." Auch müsse das stillschweigende Recht der Verbände gewahrt werden, sich ihrerseits ohne Einschaltung der NSV mit Behörden und Ministerien in Verbindung zu setzen.287 Wenn Althaus

285

Ein Prot, der Sitzung v. 18.1.1934, in der Althaus seine Ausführungen machte, scheint nicht erhalten; vgl. jedoch die Aktennotiz P.Engelmanns v.gleichen Tage; ADW, CA 1195 XII/2. Zwei Tage später berichtete Vöhringer Engelmann von einer Unterredung mit Frau v. Schröder, die ihm ebenfalls erklärt habe, „daß die Partei nicht davon abgehen könne, die Befehlsgewalt [sie] über die Verbände zu haben". Außerdem setzte Vöhringer Engelmann von einem Gespräch zwischen Reichsarbeitsminister Seldte, Vizekanzler v. Papen, Dir. Schirmacher und Prälat Kreutz in Kenntnis, in dem Seldte dem Caritaspräsidenten den Eindruck vermittelt habe, es sei alles in Ordnung, er solle nur fest bleiben; Aktennotiz Engelmanns v.20.1.1934, ebd.

286

S. den Bericht Wienkens über das Referat v. Althaus an die Zentrale in Freiburg v. 22.1.1934. Der Berliner Caritas-Direktor hielt die Lage „für sehr gespannt". Jetzt komme es darauf an, ob Hilgenfeldt sich mit Althaus identifiziere oder von ihm abrücke ; ADCV, 460,1. Mitteilung Schirmachers über Vöhringers Vorschläge in der Dienstbesprechung des CA v.24.1.1934; ADW, CA 1195 XII/2.

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11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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behaupte, der Staat betrachte die NSV inzwischen als die Repräsentantin der freien Wohlfahrtspflege, sei dies doch nur gültig, wenn die anderen Organisationen dagegen keinen Einspruch erhöben und abweichende Vorstellungen geltend machten. Gegen den Totalitätsanspruch des Dritten Reiches lasse sich einwenden, daß es sich um Spitzenverbände handele: „Solange Staat und Partei die Reichsspitzenverbände als solche anerkennen und insbesondere das Bestehen der christlichen Kirchen innerhalb des Staates nicht nur garantieren, sondern nach eindeutigen Äußerungen wünschen, solange wird man die christliche (konfessionell ausgeprägte) Liebestätigkeit als eine notwendige Lebensäußerung dieser Kirchen auch in ihrer Eigenständigkeit, Selbständigkeit und in letzter Linie Abhängigkeit von den christlichen Kirchen anerkennen müssen." Auf diesem Hintergrund könne die Absolutheitsforderung nur die Verpflichtung zur Ausübung der Wohlfahrtspflege im Geiste des Nationalsozialismus, nicht aber die Identifizierung mit der Arbeit eines Verbandes, der jener Weltanschauung besonders nahestehe, bedeuten. 288 - Damit hatte der ,gelernte Theologe' Vöhringer zwar kenntlich gemacht, daß er den Doppelcharakter des NS-Regimes im Sinne der gegenseitigen Durchdringung von Staat und Partei nicht durchschaute und der Rechtsstaatlichkeit als schützendem Prinzip weiterhin vertraute, zugleich aber auf einen später immer wieder diskutierten Ausweg für den Fall hingewiesen, daß sich diese Hoffnung als trügerisch erweisen sollte: die Aufgabe der Verbandsfreiheit und den Rückzug unter das schützende Dach der Kirchen.289 Ende Januar 1934 legte die NSV schließlich den Entwurf einer Vereinbarung zwischen den Spitzenverbänden vor, die Grundlage der neuen, an die Stelle der Reichsgemeinschaft tretenden Arbeitsgemeinschaft' sein sollte. § 1 bestimmte ausdrücklich den Zusammenschluß unter „Führung und Leitung der N. S.-Volkswohlfahrt". Hilgenfeldt beanspruchte den Vorsitz, während die Geschäfte der Reichsgemeinschaft einschließlich des vorhandenen Aktenmaterials und der Zeitschrift,Freie Wohlfahrtspflege' von entsprechenden NSV-Abteilungen übernommen werden sollten. Einziges Zugeständnis war die Regelung der Vermögensverhältnisse allein durch die Altverbände, wie es schon die LigaSatzung bestimmt hatte, d. h. die NSV verzichtete auf einen Anteil an diesen jetzt zur Auszahlung gelangenden Geldern, von denen sie indirekt durch den Anschluß des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes dennoch profitierte. 290 - Ein288

289

290

Sehr realistisch merkte Vöhringer schließlich noch an, die Behauptung von Althaus, eine Unterstellung der Verbände heiße nicht Aufgabe ihrer Eigenständigkeit, sei entweder eine ,begriffliche Unklarheit' oder die bewußte ,Verschleierung' der Tatsachen; Memorandum Vöhringers v. 26.1.1934 „Anmerkungen zum Vorschlag von Herrn Althaus betreffend Zusammenarbeit der Reichsspitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege"; a. a. O. Zu dem Aspekt der .Verkirchlichung' des Verbandsprotestantismus als letztem Notanker vordem Zugriff des NS-Staates vgl. Kap. III.4. Entwurfv.31.1.1934; ADW, CA 1195 XI/1.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

deutigen Widerspruch erhob zunächst nur die Caritas gegen diese Vorstellungen. Bis zuletzt scheint man sich in ihrer Berliner Hauptvertretung an die H o f f n u n g geklammert zu haben, der Vorstoß von Althaus werde von Hilgenfeldt nicht gedeckt, wofür es Anzeichen gab, obschon die weitere Entwicklung zeigt, d a ß m a n innerhalb des Hauptamtes die Vertreter der freien Verbände bewußt im Unklaren ließ, um dort die Unsicherheit zu schüren. Der Caritas-Gegenentwurf verwarf den uneingeschränkten Führungsanspruch der NSV, den er nur dort anerkennen wollte, wo es um ,plan wirtschaftliche' Aufgaben ging; daneben verlangte er die Erhaltung jener Arbeitsgebiete, die „seelsorgerlich-caritativen, religiös-erzieherischen und missionarischen Aufgaben" dienten, worunter freilich alles zu fassen war. Die alte Forderung Hilgenfeldts, „die gesunden u n d reparablen Kräfte voll zu übernehmen [...], während die anderen Spitzenverbände die kranken Fälle bearbeiten sollen", lehnte man entschieden ab. Selbst einem neuen Vorschlag Vöhringers, die Arbeitsbereiche in Krisenfürsorge (WHW), Gesundheitsführung (NSV) und Krankenfürsorge ( I M / D C V / D R K ) zu dritteln, um so der NSV entgegenzukommen, wollte die Caritas nicht beitreten, die sich in dieser Situation von einem zaudernden Centraiausschuß und einem weitgehend auf NSV-Kurs eingeschwenkten Roten Kreuz allein gelassen fühlte. 291 - In der Tat war die Haltung der Inneren Mission diesen Herausforderungen gegenüber alles andere als eindeutig. Das hatte mit Divergenzen innerhalb des Centraiausschusses zu tun, der ja kein autokratisches Führungsinstrument des Präsidenten darstellte, sondern auf die Wünsche der Landes- und Provinzialgeschäftsführer Rücksicht nehmen mußte. Als einer der einflußreichsten Männer unter ihnen schaltete sich Anfang Februar 1934 Pfarrer Otto Ohl/Langenberg in die interne Diskussion ein und markierte scharfsichtig die kritischen Punkte des NSV-Papiers, denen die Innere Mission nicht folgen könne. So fragte er nach dem Inhalt des Begriffs .Arbeitsgemeinschaft', der nur eine freundliche Umschreibung für den totalen Zugriff der parteinahen NSV auf die Arbeitsbereiche der übrigen Verbände sei. Ob die verlangten Vollmachten ihres Führers nicht so zu verstehen seien: „Hier kommandiert nur einer und haben die anderen zu schweigen [!] bezw. ihre Kräfte stillzulegen und brachliegen zu lassen, soweit nicht der eine, der kommandiert, ihnen noch einen mehr oder weniger verkleinerten Bezirk für ihr Wirken zugesteht"? Der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus habe zwei Seiten: den unbedingten Führerwillen des Staates auf allen Gebieten, mit dem jedoch die Verpflichtung korrespondiere, „die ganze Fülle der im Volkstum lebendigen, für seinen Aufbau aus inneren und äußeren Lebenskräften notwendigen und unentbehrlichen Werte zur vollen Entfaltung und Auswirkung kommen zu lassen". Solange die Innere Mission nur

291

Vgl. den undatierten Änderungsentwurf des DCV und das Schreiben Wienkens an Präs. Kreutz v.31.1.1934. Regierungsrat Grüneisen/DRK habe ihm erklärt, es gebe „von höherer Stelle Weisung, so zu handeln". ADCV, 460,1.

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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kirchenpolitisch argumentiere, sich also allein aus Gründen des Organisationspatriotismus den NSV-Wünschen widersetze, werde sie diesen Kampf nicht bestehen. Eine Rückbesinnung auf die geistlichen Wurzeln ihres Auftrags sei nötig, und von dieser Warte aus habe man die Verpflichtung gegenüber dem neuen Staat, die Motive sozialen Handelns aus christlicher Gesinnung immer wieder zur Geltung zu bringen; dieses sei man ihm unbeschadet der Wandelbarkeit von Organisationsformen schuldig. Abschließend unterschied Ohl Volksgemeinschaft und Christengemeinschaft auch in ihren Zielvorstellungen gegenüber dem Objekt der Wohlfahrtspflege: Christen ließen sich von anderen Maßstäben leiten als von denen der Gesundheit und Krankheit, Leistungsfähigkeit und Gebrechlichkeit, lebenswerter und lebensunwerter Existenz; christliche Nächstenliebe sei es, „die den Schuldigen nicht ausscheidet und mit Härte behandelt, sondern ihn mit doppelter Liebe umfaßt, weil sie etwas weiß von Gemeinschuld, weil sie sich weiß als Gemeinschaft von Sündern". 292 Der hier etwas ausführlicher wiedergegebene Argumentationsgang ist deshalb wichtig, weil Ohl als einziger in den Entschlußgremien der Inneren Mission auch theologische Motive für eine feste Haltung gegenüber der NSV einbrachte und eine ethische Fundierung des inzwischen auch in den Reihen der Inneren Mission praktizierten Führerprinzips zu formulieren versuchte. War das für das Selbstverständnis staatlichen Führerwillens de facto ohne Belang, so konnte er doch von der Warte Ohls dann in Frage gestellt werden, wenn er dieser - ihn kirchlicherseits erst legitimierenden - Verantwortlichkeit nicht Rechnung trug. Auf diese Weise wird deutlich, wie genuin protestantisches Denken im Vorfeld der Barmer Erklärung vom Mai des Jahres und in einer Zeit, die somit auf einen der Höhepunkte des Kirchenkampfes zusteuerte, auch politische Qualität gewinnen konnte. Wer nur politisch-pragmatische Überlegungen anstellte wie die 1934 freilich noch stark nationalsozialistisch orientierte - Spitze des Centraiausschusses, mußte sich in der Konsequenz den Machtansprüchen der NSV beugen. Auf dieser Linie bewegte sich auch das Votum des angesehenen Rektors der Neuendettelsauer Anstalten, Pfarrer Hans Lauerer, der dafür plädierte, den NSV-Entwurf ohne Abänderungen zu akzeptieren, was schließlich nur als logische Folge der Tatsache zu verstehen sei, daß sich die Innere Mission „auf den Boden des Nationalsozialismus und des Dritten Reiches" gestellt habe. Er halte die Gleichwertigkeit der Mitarbeiter von IM und NSV für gesichert und warne davor, Unmögliches zu verlangen. Positiv sei die Aufhebung der Reichsgemeinschaft schon deshalb, weil solche Gruppierungen privaten Charakters auf dem Boden des NS-Staates ohnehin jede Daseinsberechtigung verloren hätten und künftig nur noch belastend wirkten.293 Die Liquidierung der Reichsgemeinschaft

292 293

Undatierte Stellungnahme Otto Ohls zur NSV-Vorlage; ADW, CA 1195 XII/2. Lauerer an Pfarrer Graf v. Lüttichau, den Vorsitzenden des Kaiserswerther Verbandes, v. 13.11.1934 mit Durchschlag an CA-Präs. Themel; ADW, CA 1195 X I / 1 .

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II. Die Innere Mission in d e r Liga der freien Wohlfahrtspflege

als Relikt der ,Systemzeit' bestimmte ferner den Schatzmeister der Inneren Mission, Dr. Heinrich, zur Annahme der NSV-Richtlinien. Er begriff sie als willkommene Möglichkeit, um den letzten Einfluß des DCV auf die deutsche freie Wohlfahrtspflege auszuschalten. Von ihm aus gesehen war es wohl auch ein Stück .Emanzipation' der Inneren Mission von der Caritas, da erstere in der Republik vielfach im Windschatten der katholischen Schwesterorganisation mit ihren mächtigen politischen Verbündeten agiert hatte, die nun angesichts der behaupteten Regimefeindlichkeit des Katholizismus ihres Einflusses mit Hilfe der NSV beraubt werden konnte. Als Symbol für die vergangene Vorrangstellung der Caritas erschien Heinrich noch immer die Liga - auch nach ihrer Umwandlung in die Reichsgemeinschaft; deshalb mußte von seiner Warte aus alles verschwinden, was nur von fern an sie erinnerte.294 So gab es keinen Kompromiß, sondern die NSV konnte sich in fast allen Punkten durchsetzen, als ihre Richtlinien am 21. Februar in einer Sitzung der Reichsgemeinschaft zur Abstimmung gelangten. Nur dem zähen Verhandeln Vöhringers hatten es die konfessionellen Verbände zu verdanken, wenn ihnen wenigstens ein Mitspracherecht bei der Einberufung des ,Führerrates' der geplanten Arbeitsgemeinschaft zugestanden wurde, die einen Monat später zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat. 295 In ihrer letzten Nummer /eierte' die ,Freie Wohlfahrtspflege' das Ergebnis: Einst habe man für das „Lebensrecht der freien Liebestätigkeit" kämpfen müssen, „heute sind die Kräfte und Strömungen, gegen die unsere Zeitschrift Abwehr und Angriff richten mußte, überwunden. Die freie Wohlfahrtspflege steht anerkannt und gewürdigt da."296

294

Dr. Heinrich an Dr. Reiche, den Vertrauensmann der NSV in der Reichsgemeinschaft u n d stv. Vorstandsmitglied der HiKa, v. 26.11.1934. Immer sei die Liga „das Werkzeug der Unterdrückung der evangelischen Belange in der freien Wohlfahrtspflege durch die Caritas" gewesen. Diese habe „lediglich auf G r u n d der hemmungslos ausgeübten politischen Macht des Zentrums" die gleichen Mittel für ihre Arbeit erhalten wie die den weitaus größeren protestantischen Bevölkerungsteil repräsentierende IM. Stets sei die Liga-Politik „zu Lasten der Inneren Mission gegangen"; die Liga müsse deshalb weg: „Es darf keine Stelle bleiben, die entsprechend allen Grundsätzen des neuen Staates immer dazu neigen wird, je nach Konjunktur eine Sonderpolitik zu treiben, vielleicht sogar eine Aufnahmestellung für rückwärtsgerichtete Bestrebungen abzugeben", ebd.

295

Vgl. die Prot, v.21.11. und 23.111.1934, A D W , a.a.O. - Der Präsident der RG, von Oppen, war offenbar eine reine Galionsfigur, denn in den Sitzungen meldete er sich nach den Prot, nie zu Wort u n d spielte auch bei der Auflösung keine Rolle; er machte der NSV nur insofern Schwierigkeiten, als er nicht ohne weiteres bereit war, seinen Posten zur Verfügung zu stellen und die NSV ihm als verdientem Parteigenossen nicht einfach „den,Stuhl vor die Tür' zu setzen" wagte. Er wurde später auf internationaler Ebene mit Aufgaben der Agrarpolitik, seinem eigentlichen Metier, betraut. Vgl. das Sehr. Wienkens an Präs. Kreutz v.31.111.1934, ADCV,460, l , u n d eine Mitteilung Prof. Dietrich v . O p p e n s v. 13.11. 1984 an den Vf.

296

Freie Wohlfahrtspflege 8.1934, Nr. 12. Die bisherige Beilage zu steuerpolitischen Fragen erschien weiter als selbständiges Organ unter dem Titel .Rechts-, Steuer- u n d Wirtschafts-

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

203

Damit war mehr als ein Jahrzehnt fruchtbarer Zusammenarbeit der Spitzenverbände auf neutralem Verhandlungsboden zu Ende gegangen. Die Reichsgemeinschaft wurde zwar erst nach jahrelangen Querelen um die vermögensrechtlichen Ansprüche der Altverbände unter Vorsitz des NSV-Justitiars Dr. Ballarin liquidiert, doch irgendeine Bedeutung besaß sie neben der neuen Arbeitsgemeinschaft nicht mehr.297 Aber auch diese konnte als Folge der geschickten Führung Hilgenfeldts niemals auch nur annähernd die gleiche Wirksamkeit entfalten wie die Liga und - in bescheidenerem Rahmen - ihre Nachfolgerin. Zunehmend gerieten Innere Mission und Caritas in den folgenden Jahren unter jenen Druck, den die NSV bis Kriegsbeginn immer mehr verschärfte, um ihr von Hilgenfeldt bereits 1933 vage anvisiertes Endziel, die gesamte Wohlfahrtspflege des Dritten Reiches in einem Verband zu konzentrieren, durchzusetzen. Offenbar gehörte auch die Ablösung Vöhringers zu jenen Zugeständnissen, die Hilgenfeldt von den anderen Verbänden im Zusammenhang mit der Umwandlung der Reichsgemeinschaft in eine lose Arbeitsgemeinschaft erzwang - jedenfalls legen die Quellen diese Vermutung nahe. Den »Scharfmachern' des CAInterimsvorstandes unter Präsident Themel konnte das nur recht sein; das DRK hatte durch seine Öffnung gegenüber dem Nationalsozialismus ohnehin jedes eigene Profil verloren, und die Caritas nahm diese Tatsache schweigend zur Kenntnis. Der Rücktritt des integren langjährigen Liga-Geschäftsführers erfolgte nicht aus freien Stücken, obwohl Vöhringer schon seit Gründung der Reichsgemeinschaft mit dem Gedanken gespielt hatte, seinen Posten zur Verfügung zu stellen. Bemerkenswert ist auch weniger das Faktum seines Weggangs als das der Begleitumstände, da Innere Mission und vor allem NSV die komplizierten Abmachungen seines Pensionsvertrages mit der Liga zum Anlaß nahmen, Vöhringer auf Jahre hinzuhalten und immer wieder die Rechtmäßigkeit dieser Vereinbarungen in Zweifel zu ziehen. Aus nicht restlos zu klärendem Anlaß wurde er zum 1. September 1934 pensioniert. 298 Schon im Frühjahr hatte die NSV

297

298

fragen der freien Wohlfahrtspflege'. - Entgegen der Absprache gelangten die Liga-Akten zusammen mit denen der DZA und der CAH wahrscheinlich an das Reichsarchiv, wie aus einem Brief v. Harmsen an Vöhringer v. l.IX. 1934 hervorgeht; er, H., habe dies mit seinem Schwiegervater, dem damaligen Präsidenten des Reichsarchivs, v. Haeften, besprochen; ADCV, 460,1. Das Prot, der letzten RG-Sitzung datiert v.3.111.1936.Der Vermögensstand der RG betrug zu diesem Zeitpunkt nach Abzug der Verbindlichkeiten gegenüber der Pension Vöhringers rund 240.000 RM, die schlüsselmäßig auf die Verbände verteilt wurden, d.h. IM und Caritas erhielten je 40%, das DRK 10% und der in der NSV aufgegangene Paritätische Wohlfahrtsverband ebenfalls 10%. ADW, CA 1195, XI/2. Prot, der Arbeitsausschußsitzung der Arbeitsgemeinschaft v. 14.IX. 1934. Althaus schilderte die näheren Einzelheiten; danach ging es um einen im Sinne des Regimes politisch unklugen Schriftwechsel von Vöhringer, der das ehemals zur AWO gehörende Schwarzwaldheim ,Ludwig Frank' betraf. Mit einer fristlosen Entlassung, die Althaus vorschlug, konnte sich die NSV nicht durchsetzen. ADW, CA 1995 VIII.

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II. Die Innere Mission in d e r Liga der freien Wohlfahrtspflege

d u r c h e i g e n e R e c h n u n g s p r ü f e r e i n e sich fast a u f die g e s a m t e Zeit s e i n e r A m t s f ü h r u n g erstreckende Revision der L i g a - B u c h h a l t u n g durchgeführt, die allerd i n g s a u c h i m R a h m e n der R G - L i q u i d a t i o n z u r Feststellung d e s v o r h a n d e n e n V e r m ö g e n s v o n B e d e u t u n g war. D a b e i w u r d e n a n g e b l i c h e U n r e g e l m ä ß i g k e i t e n u n d a n d e r e M i ß s t ä n d e .aufgedeckt', 2 9 9 d i e sich später als nicht gerichtsverwertbar u n d nur b e i strenger R e c h n u n g s f ü h r u n g als kleinere U n k o r r e k t h e i t e n erwies e n , d i e V ö h r i n g e r - o h n e sich p e r s ö n l i c h zu b e r e i c h e r n - i m Interesse der Liga u n d mit Z u s t i m m u n g d e s Präsidenten b z w . V i z e p r ä s i d e n t e n G r a f L e r c h e n f e l d u n d Prof. L a n g s t e i n b e g a n g e n hatte. S c h l i e ß l i c h k a m e s zu einer Q u a s i - R e h a b i l i t i e r u n g u n d e i n e r e i n v e r n e h m l i c h e n P e n s i o n s r e g e l u n g , aber der R u f d e s verdient e n M a n n e s , d e r n a c h 1945 die I n n e r e M i s s i o n in Württemberg m i t a u f b a u t e , 3 0 0 h a t t e e r h e b l i c h e n S c h a d e n gelitten. S o ist d e n n a u c h s e i n Schicksal e i n Beispiel f ü r d e n S t i l w a n d e l i m U m g a n g mit m i ß l i e b i g e n Z e i t g e n o s s e n , d e r für d i e Technik n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e r M a c h t a u s ü b u n g charakteristisch w a r ; b e d e n k l i c h e r s t i m m t es, d a ß Innere M i s s i o n u n d Caritas ihre S t i m m e g e g e n s o l c h e Praktiken n i c h t o d e r w e n i g s t e n s nicht laut g e n u g e r h o b e n u n d k e i n e A n s t a l t e n m a c h t e n , d e m in U n g n a d e g e f a l l e n e n G e s c h ä f t s f ü h r e r , d e r d o c h aus ihren e i g e n e n R e i h e n k a m , z u s e i n e m R e c h t zu verhelfen. 3 0 1

299

D e n Revisionsbericht leitete sie u m g e h e n d an das R F M weiter. Aus dem Begleitschreiben geht hervor, d a ß es ihr keineswegs allein u m Personen, sondern um die Diskreditierung d e r ehemals in Liga und R G zusammengeschlossenen Altverbände zu tun war. Während Vöhringer u n d Sunder viel zu h o h e Gehälter (ihrer Einstufung nach als M R bzw. RR) bezogen u n d auch in verwaltungsmäßiger Hinsicht zu großen A u f w a n d betrieben hätten, sei die NSV ihren wesentlich umfangreicheren Aufgaben bisher aus eigener Kraft und o h n e Staatszuschüsse gerecht geworden - eine glatte Unwahrheit, wie sich dem Bericht des Rechnungshofes vom September des Jahres entnehmen läßt, nach dem die NSV allein 1933 550.000 RM erhielt (s.Anm.318). Als Konsequenz aus dieser angeblichen Mißwirtschaft schlug die NSV vor, künftig alle Mittel für die freie Wohlfahrtspflege zu streichen. D a d u r c h würden auch den Kirchen die Mittel genommen, „die N. S. V. mit Staatsgeldern zu bekämpfen". Wenn der R F M in den k o m m e n d e n Jahren dennoch an diesen Zahlungen festhalten wolle, möge er der NSV das Recht auf deren Vergabe einräumen. Sehr. V.4.VI.1934 mit zahlreichen Anlagen, die der R F M am 13.VII. d.J. an den Rechnungshof des Deutschen Reiches weiterleitete; BA, R 2/19197. Zur Richtigstellung d e r massiven Beschuldigungen u n d falschen Angaben vgl. das R A M - M e m o r a n d u m für d e n R F M v.2.11.1935, ebd.

300

Vgl. Antonie Kraut, D. Dr. Gotthilf Vöhringer - Ein Leben für die Wohlfahrtspflege. Auf ein Schreiben Graf Lerchenfelds hin wurde Vöhringer in der Sitzung v.3.III. 1936 freilich nur halbherzig - wieder rehabilitiert. - Zum ganzen Vorgang vgl. die zahlreichen Schriftstücke in A D W , C A 1195 X I / 2 . - In einem ausführlichen Brief Otto Ohls an Vöhringer v. 9.V. 1935 entschuldigte sich der rheinische Provinzialgeschäftsführer f ü r die Haltung des CA, für die Präsident Frick nicht verantwortlich sei, sondern d e r Schatzmeister Dr. Heinrich, der „in engstem Einvernehmen" mit dem Staatskommissar für die preußische Landeskirche, August Jäger, gestanden habe u n d auch nach dessen Sturz seine starke Stellung im C A wahren konnte: „Ich e m p f i n d e es besonders beschämend für uns, d a ß Sie, d e r Sie uns innerlich immer besonders nahestanden und unsere Interessen innerhalb der

301

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

11.4.3. Weitere Auseinandersetzungen

205

und die Auflösung der Arbeitsgemeinschaft

Arbeitsweise und Wirkungsmöglichkeiten der Reichsarbeitsgemeinschaft unterschieden sich grundlegend von ihren Vorgängern. Die NSV besaß nun ein Führungsinstrument, mit dem sie die einzig verbliebenen, noch weitgehend selbständigen Spitzenverbände Innere Mission und Caritas in allen politischen Angelegenheiten bevormunden konnte. Zwar vermochte sie nicht oder - wie im Falle des Centraiausschusses - nur sehr unvollkommen, die internen Diskussionen und Entscheidungsprozesse zu beeinflussen; die ursprüngliche Idee der Liga aber, Forum freier Aussprache zur inneren Meinungsbildung der freien Träger zu sein, bevor sich diese mit ihren Vorstellungen an die Öffentlichkeit wandten oder direkt versuchten, Behörden, Ministerien und den Gesetzgeber für ihre Ziele zu gewinnen, war somit hinfällig geworden. Regelmäßige Besprechungen zwischen den konfessionellen Organisationen gab es kaum: Anstatt solidarisch enger zusammenzurücken, bemühten sich Innere Mission und Caritas, das jeweils Beste aus der Situation zu machen. Das geschah in zahlreichen Kontakten über den Kopf der Arbeitsgemeinschaft hinweg direkt mit der NSV, die sich je länger je mehr zu der überall anerkannten und respektierten Wohlfahrtsorganisation entwickelte, an der kein Weg mehr vorbeiführte. Gewiß blieb ihre Reputation in Partei und Gesellschaft des Dritten Reiches begrenzt, und es gelang ihrem ehrgeizigen Vorsitzenden nie, bis zum Reichsleiter aufzusteigen und damit in die wirkliche Führungselite des Systems vorzustoßen. 302 Andererseits erkämpften sich Hilgenfeldt und seine Mitarbeiter auf dem schmalen Feld der Volkswohlfahrt genau jene Richtlinien- und Durchführungskompetenz, die

302

Liga-Aufgaben immer besonders warm mit uns erkannt und gewahrt haben, gerade von unseren Leuten am ersten verlassen wurden." ADWDü, BO, 1 0 / 5 , 1 b. Im Juni 1937 ernannte ihn Göring zum .Reichsbeauftragten für die Erfassung der Küchen- und Nahrungsmittelabfälle', was allein von der prosaischen Bezeichnung her sein Renommee nicht gerade gehoben haben dürfte; s.VB Nr.82 v. 1.VII. 1937, Art. „Beschleunigte Durchführung des Ernährungshilfs werks". Ende der 30 er Jahre erhielt er den klingenden Titel,Oberbefehlsleiter der N S D A P , mit dem sich aber kein Machtzuwachs verband. Kennzeichnend für die an Geringschätzigkeit grenzende Behandlung des NSV-Vorsitzenden durch die Spitzen der Partei ist ein Vorfall, der sich 1938 ereignete: Frau v. Schröder hatte sich in einer dienstlichen Angelegenheit an Bormann gewandt und als Absender die ,Reichsleitung der NS-Volkswohlfahrt' angegeben, eine Bezeichnung, die auch die meisten Parteidienststellen benutzten. Da die Führung der NSV jedoch noch immer als Hauptamt für Volks Wohlfahrt firmierte, stand ihr der Titel,Reichsleitung' nicht zu. Bormann schickte daraufhin den Umschlag des Briefes per Einschreiben und mit dem Vermerk .persönlich' Hilgenfeldt zu, worauf es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und Frau v. Schröder kam; cf. das Sehr. E. v. Schröders V.20.VII. 1938 an den Stabsleiter des Stv. des Führers und ihren Brief v. 6.VIII.1938 an Bormann, in dem sie sich über dessen ,Unkameradschaftlichkeit' beschwerte. Auch der Adjutant des Führers, Hauptmann a.D. Wiedemann, wurde von diesem Vorfall unterrichtet; APK-NS, 12400821-26.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

selbst die Liga nie besessen hatte und die nun zu Lasten der übriggebliebenen freien Verbände ging. Die NSV wurde künftig bei allen Gesetzgebungsvorhaben und einschlägigen Verordnungen gehört und konnte - oft gegen den beharrlichen Widerstand der konservativen Ministerialbürokratie - in den hauptsächlich betroffenen Ressorts für Inneres, Arbeit und Finanzen ihre Wünsche durchsetzen. Jedoch ging die gegenseitige Durchdringung von Partei und Staat auf dem hier behandelten Sektor nicht so weit wie etwa im Sicherheitsbereich, wo Himmler bis 1936 die Führung der gesamten deutschen Polizei an sich gezogen hatte. In Fragen der Volkswohlfahrt wußte der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick, seine neuen Rechte zum größten Teil zu behaupten, die ihm weniger von der NSV als vielmehr vom Stellvertreter des Führers und seinem Stabsleiter Martin Bormann ernsthaft beschnitten zu werden drohten. Als geeigneter Hebel zur Durchsetzung der Ziele Hilgenfeldts erwies sich die schon in der Republik häufig diskutierte Neufassung der Sammlungsgesetzgebung, deren Grundlage noch immer die Bundesratsverordnung von 1917 bildete. Mit Übernahme der Liga-Winterhilfe als Winterhilfswerk durch die NSV verstärkten sich die Bemühungen um eine Neuregelung: Wenn das WHW den angestrebten propagandistischen und materiellen Erfolg haben sollte, mußte zuvor so etwas wie eine „Planwirtschaft im Sammelwesen" eingeführt werden, damit sich die Aktionen nicht gegenseitig Konkurrenz machten. 303 Da die Verbände der freien Wohlfahrtspflege aber auf Spenden angewiesen blieben, konnten nicht alle Sammlungen außerhalb des WHW unterbunden werden, es sei denn, man schuf entsprechende Ausgleichsmöglichkeiten entweder aus dem Fonds des WHW selbst oder aus Steuermitteln. Erschwerend kam im April 1934 die Reduzierung der Wohlfahrtsrente hinzu, an der viele Anstalten und Einrichtungen seit 1926 partizipierten. Ihre Laufzeit wurde von 15 auf 11 Jahre verringert, was bei einer jährlichen Ausschüttung von 7,5 Mio. RM einen Ausfall von 30 Mio. RM für die freie Wohlfahrtspflege bedeutete. 304 Im Frühjahr 1934 traten die Verhandlungen auf ministerieller Ebene in ein entscheidendes Stadium. Der

303

Erstmals angesprochen wurde dieser Komplex auf der Präs.-sitzung der RG am 2.XI. 1933; ADW, CA 1195 IX. Auf einer weiteren Sitzung, die am 26.X I. stattfand, ventilierte man den Gedanken, den Spitzenverbänden jeweils einen besonderen Sammelsonntag zuzugestehen, der von anderen Sammlungen freigehalten werden solle; ADW, CA 1195 XII/1. Am 4.1.1934 beschloß man, diese Sammelsonntage in der Zeit zwischen dem Ende des WH W und dem Sommeranfang zu veranstalten, d. h. jeweils an einem Samstag/ Sonntag sollten Haus- und Straßensammlungen erlaubt sein. Dabei erhielt der CA Sonntag, den 15.1 V. zugewiesen; s. das Prot., ADW, a. a. O.

304

Zur Bedeutung der Wohlfahrtsrente s. nochmals Kap. II.3.4. Das Gesetz über die Kürzung der Geltungsfrist trat am 23.III. 1934 in Kraft; vgl. das .Gesetz zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete des Finanzwesens', RGBl. 19341, 232-234. - Am 5.IV. 1934 beschwerten sich die Verbände, daß die neue reichsgesetzliche Regelung ohne Kontaktaufnahme mit ihnen erfolgt sei; Prot, der RG-Sitzung v. gleichen Tag; ADCV, 460.040,2.

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bislang federführende Reichsminister der Finanzen legte dazu einen Entwurf vor, der sich in versteckter Form auch gegen die oft ohne Genehmigung durchgeführten Sammlungen von NSDAP-Untergliederungen wandte, wie überhaupt die ,wilden politischen Sammlungen' der Partei ein auslösender Faktor für den Erlaß einer umfassenden gesetzlichen Bestimmung gewesen sein dürften. 305 Um solchen Aktionen bis zur Fertigstellung der endgültigen Regelung ein Ende zu bereiten, unterband das Gesetz vom 3. Juli 1934 alle öffentlichen Sammlungen bis auf weiteres;306 Ausnahmen konnte Heß als Stellvertreter des Führers und Reichsminister ohne Geschäftsbereich zulassen. Als er dieses Recht an den Schatzmeister der NSDAP, Reichsleiter Xaver Schwarz, übertrug, kam es zu einer Kontroverse mit den zuständigen Referenten von RAM und RFM, die durch diese Delegierung die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit für gefährdet hielten, ihre Bedenken aber sogleich zurückstellten, als sich Heß mit Hinweis auf die öffentlich-rechtlichen Befugnisse von Hoheitsträgern der Partei, insbesondere von Reichsleitern, darüber souverän hinwegsetzte.307 Anläßlich einer interministeriellen Konferenz, die sich im Oktober mit dem Entwurf des neuen Sammlungsgesetzes beschäftigte, erhob der Beauftragte von Heß die Forderung, auch künftig alle Anträge beim Stellvertreter des Führers zu bearbeiten, da den parteieigenen Sammlungen ohnehin der Primat zukomme; ein Reichsministerium könne sich an dem Verfahren ja beteiligen. Kennzeichnenderweise verwandte er sich auch für die Einschränkung der genehmigungsfreien Spendenwerbung im Raum der Kirche, deren Stellung im vorliegenden Entwurf „viel zu stark ausgebaut" worden sei und auf Gottesdienstveranstaltungen innerhalb der Kirchenmauern eingegrenzt werden müsse.308 Es lag ganz auf dieser Linie, wenn

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Vgl. den Vermerk RR Krügers/RFM v. 12. V 1934 über eine Besprechung mit ORR Busch v.preuß. Mdl und die .Ergänzung zum Entwurf der ersten Verordnung zur Ergänzung und Durchführung des Spendengesetzes', APK-NS, 103 08878 ff Gesetz über das Verbot von öffentlichen Sammlungen, RGBl. 19341,531. Das Gesetz galt bis zum 31.X. d.J. Vgl. den Aktenvermerk des Sachbearbeiters im RFM v. 21 .VII. 1934 und den Entwurf seiner Schreiben an die NSDAP-Reichsleitung/Reichsschatzmeister Schwarz v. 19. und 23.VII. 1934. In einem Brief v. 25.VII. 1934 an den RFM stellte Heß in belehrend-anmaßender Form die Machtverhältnisse klar: Ob man im Finanzministerium glaube, daß er persönlich nichts anderes zu tun habe als Sammlungsgenehmigungen zu unterschreiben? Im übrigen stehe dem RFM ja die Befugnis gesetzlich zu, „sein Einvernehmen auszusprechen" APK-NS, 103 08938 ff - Daraufhin gab der RFM seine Zuständigkeit zur Vorbereitung der endgültigen gesetzlichen Sammelregelung an den Rdl ab, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß dieser anders als die Parteiorganisation über einen eingespielten Apparat zur Kontrolle der Einhaltung der zu erwartenden Bestimmungen verfüge; Sehr, v. 28. VI 1.1934; APK- NS, 103 08 965 f. Vermerk über die Besprechung v. 12.X. 1934 im Rdl. Seitens des Stv. d. Führers nahm Hauptamtsleiter MR Sommer an den Verhandlungen teil. Mit der von ihm vorgeschlagenen und dann später übernommenen Beschränkung der kirchlichen Sammlungsfreiheit auf Gottesdienste innerhalb von Sakralbauten wurden alle anderen Gottesdienste und

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das am 5. November erlassene Gesetz die Partei und ihre Untergliederungen von dessen Gültigkeit ausnahm und ihr damit praktisch einen rechtsfreien Raum schuf. Andere große Aktionen sollten in den Wintermonaten mit Rücksicht auf das WHW gar nicht mehr erlaubt und auch im Sommer nur noch dann gestattet werden, wenn sich die antragstellenden Organisationen langfristig vorher in einen ,Reichssammelkalender' eingetragen hätten. 309 Eine weitere Finanzierungsquelle der freien Wohlfahrtspflege bestand aus den regelmäßigen Zuschüssen des Reichsarbeitsministeriums, die - wie erinnerlich seit dem Bestehen der Republik gezahlt wurden, wenn auch in stets abnehmender Höhe. 310 Aufgeschreckt durch das bereits erwähnte, mit falschen Zahlen und unhaltbaren Vorwürfen an die Adresse der ehemaligen Liga- und RG-Verbände operierende NSV-Gutachten vom April des Jahres, das die unverzügliche Einstellung aller Mittelzuweisungen an diese gefordert hatte, beauftragte der Reichsfinanzminister den Rechnungshof mit der Überprüfung des Finanzgebarens von Liga und RG seit ihrer Gründung. Der am 26. September fertiggestellte umfangreiche Bericht, der sich auch eingehend mit den Verlusten der Hilfskasse und der Inneren Mission im Gefolge der Devaheim-Affäre beschäftigte, kam schließlich zu dem Ergebnis, daß die Reichsspitzenverbände durch schuldhaftes Handeln die Zielsetzung der von vornherein befristeten Zuwendungen des Reiches verfehlt hätten, „ihr weiteres Fortbestehen in finanzieller Selbständigkeit zu ermöglichen". Nach einer Übergangsfrist von 1 - 2 Jahren - so die Empfehlung könne dieser Haushaltstitel deshalb wegfallen. 311

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ähnliche Veranstaltungen wie Missionsfeste, die im Freien stattfanden, im Hinblick auf die erhobenen Kollekten genehmigungspflichtig. A P K - N S , 103 08927 ff. und Prot, der Sitzung des Ausschusses für Sammlungsfragen der Reichsarbeitsgemeinschaft v. 15.VI. 1936; A D W , CA 1195 X I / 2 . RGBl. 19341, 1086 ff. Die von Reichsschatzmeister Schwarz genehmigten Sammlungen der Partei waren lediglich noch an das Einvernehmen mit dem R d l g e b u n d e n ; auch die .Anregung' M R Sommers, Ausnahmen von der Genehmigungspflicht im kirchlichen Bereich an die Abhaltung der Sammlungen in kirchlichen Räumen zu binden, fand in § 15, Abs. 4 Eingang in das Gesetz. S.a. das Rundschreiben von R d l Wilhelm Frick v. 1 .XI. 1934, in dem erste Leitlinien über die A u s f ü h r u n g des Gesetzes mitgeteilt w u r d e n ; A P K - N S , 103 08981 ff. Zu Sommer, der im Braunen Haus Dienst tat u n d später M D in der Parteikanzlei bzw. zeitweise Präsident des Reichsverwaltungsgerichts wurde, vgl. Bernd Lösener, „Als Rassereferent im Reichsministerium des Innern", in: VfZ 9.1961,262 ff., 273 f. D a n a c h flössen der freien Wohlfahrtspflege zwischen 1923 und 1933 insgesamt 68.948.935,70 R M zu. Davon erhielt der C A für I M 13.909.457,96 R M und der D C V 13.937.941,16 RM, zu denen noch Mittel aus dem sogenannten Ausgleichsfonds und zur B e k ä m p f u n g der Tuberkulose unter dem Pflegepersonal hinzutraten. Vgl. den Bericht des Potsdamer Rechnungshofes für den R F M V.26.IX. 1934; BA, R 2/19197. " . . . es sei denn, d a ß zwingende Gründe, die im Z u s a m m e n h a n g mit den Auslandsanleihen der beiden konfessionellen Reichsspitzenverbände oder mit d e r vom Reiche beschlossenen und begonnenen Sanierung d e r Inneren Mission stehen, einem Wegfall der Reichsmittel entgegenstehen." Ebd.

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Noch in Unkenntnis des Gutachtens, das den Finanzminister erst Ende des Monats erreichte, fand ebenfalls am 26.IX. im Reichsarbeitsministerium eine Konferenz über den Etatansatz zugunsten der freien Wohlfahrtspflege für das Jahr 1935 statt. Darin sprachen sich die anwesenden Vertreter von RFM, RAM und Rechnungshof mit ähnlichen Argumenten wie oben skizziert für die Streichung des Titels aus. Die Verbände müßten, wie MR Ruppert/RFM ausführte, zur „Vorkriegsauffassung" zurückkehren und die Mittel für ihre Arbeit wieder selbst aufbringen. 312 Gegen diese Ansicht wandte sich allein ORR Dr. Schott namens des RAM und wies darauf hin, daß die in Frage stehenden Gelder nicht den Verbänden, sondern den von ihnen getragenen Anstalten und Einrichtungen zugute kommen sollten. Da das frühere Sammlungswesen praktisch zum Erliegen gekommen sei und auch die Laufzeit der Wohlfahrtsrente habe gekürzt werden müssen, könne von der angenommenen Fähigkeit der freien Organisationen, sich künftig wieder selbst zu finanzieren, nicht ausgegangen werden - ein Argument, dem die übrigen Teilnehmer nichts entgegenzusetzen hatten und den Entschluß herbeiführte, den Haushaltsansatz für 1935 nicht zu ändern. 313 - Das RAM, das für den Bereich der Wohlfahrtspflege seit seinem Bestehen zuständig war, sorgte im Rahmen des ihm Möglichen auch weiterhin dafür, daß die Altverbände nicht zugunsten der NSV benachteiligt wurden. Im Gegensatz zu den leitenden Beamten des Innen- und Finanzministeriums wurde von hier aus stets die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der freien Träger betont, die man aus Gründen ihrer Verdienste in Vergangenheit und Gegenwart nicht plötzlich finanziell ,austrocknen' lassen dürfe. Dabei leiteten den Arbeitsminister nicht allein Sach- oder Sympathiegesichtspunkte, sondern ebenso ein verständliches Ressortdenken, das sich durch den seit Beginn der 30 er Jahre einsetzenden, oben bereits beschriebenen Prozeß einer wohlfahrtspolitischen Kompetenzverlagerung vom RAM an Rdl und RFM herausgefordert fühlen mußte. Deutlich

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Diesen Vorschlag machte Ruppert gewiß nicht aus kirchenfeindlichen Motiven, wie sein Verhalten in den späteren Jahren und vor allem 1938/40 zeigt, in denen er geradezu zum Vertrauensmann der Inneren Mission und ihres Vizepräsidenten Paul-Gerhard Braune im Rdl wurde. S. dazu J-C. Kaiser, „Protestantismus, Diakonie und,Judenfrage'". Dafür sprichtauch, daß Ruppert aus Anlaß des 100 jährigen Bestehens der weiblichen Diakonie (Kaiserswerth) zusammen mit weiteren höheren Beamten und Politikern, darunter den Reichsministern Frick, Seldte und Graf Schwerin von Krosigk, am 13.X.1936 mit der Wichernplakette ausgezeichnet wurde. Er reagierte mit einem handschriftlichen zweiseitigen Schreiben an CA-Präsident Frick, das anders als die Antworten der anderen Empfänger mehr als nur einen förmlichen Dank enthielt; so hieß es bei Ruppert unter anderem, Nationalsozialismus und Christentum schöpften ihre Kraft aus den gleichen Quellen, ein echter Christ könne deshalb auch Nationalsozialist sein. Er freue sich im übrigen über die Verleihung ganz besonders, weil Wichern vor 80 Jahren Vortragender Rat im preuß. Mdl gewesen sei und diejenigen Gebiete dienstlich betreut habe, die heute zu seinem - Rupperts - Referat gehörten; A D W , C A 21201.

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Vgl. die Niederschrift über die Sitzung V.26.IX. 1934; ebd.

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kam dieses Anliegen in einer RAM-Denkschrift für das Finanzministerium vom Februar 1935 zum Ausdruck, in der Staatssekretär Rettig nicht nur an dem einseitig-parteilichen und falschen NSV-Revisionsbericht Kritik übte, sondern auch wesentliche Aussagen des Rechnungshof-Gutachtens vom September des Vorjahres zurückwies. Er kritisierte das Fehlen eines - für die freien Träger ohnehin positiv ausfallenden - Kosten-Nutzen-Vergleichs öffentlicher und privater Fürsorgeeinrichtungen und stellte fest, daß Reich, Länder und Kommunen etwa durch die Fixierung der Pflegekostensätze vielfaltige andere Möglichkeiten als die Direktbezuschussung besäßen, um auf die freien Verbände in ihrem Sinne einzuwirken. Diese seien und blieben von ihnen abhängig - was wohl heißen sollte, andere Finanzierungsvorschläge seien illusionär. Vor allem sprach sich das RAM gegen das vernichtende Verdikt des Rechnungshofes aus, nachdem der mit den Stützungsmaßnahmen des Reiches verfolgte Zweck einer Entschuldung und dauerhaften Konsolidierung der Finanzen fahrlässig verfehlt worden sei; im Gegenteil, durch die Finanzhilfen habe man verhindert, daß seit 1924 rund 600.000 Betten des gesamten Fürsorgebereichs aufgegeben wurden, die und das stand zwischen den Zeilen - der Staat niemals aus eigener Kraft hätte neu schaffen können. Der Arbeitsminister plädiere deshalb für die Beibehaltung des entsprechenden Haushaltstitels wenigstens in den nächsten Jahren. 314 Die durch Intervention des RAM ermöglichte Fortsetzung der Zahlungen wurde freilich seit 1935 von einschneidenden Bedingungen abhängig gemacht, wie aus einem erhaltenen Schriftwechsel des Ministers Seldte mit dem RFM und der Arbeitsgemeinschaft hervorgeht.315 Daran ist besonders bemerkenswert, daß sich Hilgenfeldt als Leiter des Hauptamtes für Volkswohlfahrt erfolgreich direkt in das Verteilverfahren einschaltete und mit Hilfe des Innenministeriums, das seine Wünsche ohne Einschränkung unterstützte, auch durchzusetzen wußte. So verwarf er eine pauschale Auszahlung der zur Verfügung stehenden Beträge an die Spitzenverbände, wie sie bisher geübt worden war, und drang darauf, daß die einzelnen Anstalten und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ihre Anträge und Verwendungsvorschläge unmittelbar an ihn richteten. Er werde diese Anträge dann „nach Prüfung der Bedeutung und Notwendigkeit" ablehnen oder befürworten und sie im letzteren Falle an das RAM weiterreichen. Die Überweisung der Gelder solle unter Umgehung der Verbände wiederum direkt an die betreffenden Einrichtungen erfolgen. Hintergrund dieses neuen diskriminierenden Verfahrens waren die unbefriedigenden Ergebnisse, die RFM und NSV bisher bei der Gleichschaltung' der konfessionellen Verbände erzielt hatten. Über

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RAM an RFM v.2.11.1935; ebd. Erstmals erwähnt wurde dieser,Sonderfonds'des RAM ineinerRG-Sitzungam9.1.1934; als sich die Verbände über die zu geringen Entschädigungen aus dem WHW beklagten, berichtete Althaus von entsprechenden Verhandlungen über diesen Fonds; Prot, in ADW, CA 1195 X I / 1 . Zum Schriftwechsel des RAM s. APK-NS, 10312494-504.

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den Umweg finanzieller Zuwendungen hoffte man verstärkten Einfluß auf die angestrebte .Planwirtschaft' der freien Wohlfahrtspflege zu gewinnen und vor allem „die Widerstände endlich auszuräumen, die gewisse konfessionelle Verbände der nationalsozialistischen Staatsführung noch auf manchen Gebieten entgegensetzten". Dabei dachte der Innenminister in erster Linie an Schwierigkeiten bei der Anwendung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das wegen der grundsätzlichen Ablehnung durch den deutschen Episkopat in katholischen Häusern nur schleppend oder gar nicht zur Durchführung gelangte.316 Reichsarbeitsminister Seldte beugte sich diesen ,Argumenten' und sagte zu, entsprechend zu verfahren. Es kann dennoch nicht übersehen werden, daß er in vorsichtiger Weise den absoluten Führungsanspruch Hilgenfeldts innerhalb der Arbeitsgemeinschaft relativierte und damit an die traditionelle Politik seines Hauses anknüpfte; zwar seien „die Gesamtinteressen des nationalsozialistischen Staates bei der Förderung der freien Wohlfahrtspflege allein maßgebend", die anerkannten Organisationen unterstünden aber nicht dem Hauptamt für Volkswohlfahrt und dürften auch als Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft in ihrer Eigenständigkeit nicht eingeschränkt werden. In diesem Sinne trage er auch keine Bedenken, „den Verbänden in einem bestimmten Rahmen die Einzelentscheidung und damit auch zugleich die eigene Verantwortung [zu] überlassen: [...] Bei der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse in der praktischen Verwaltung der freien Wohlfahrtspflege, die insoweit der natürlichen Mannigfaltigkeit des Lebens selbst entspricht, würde sich u.E. eine zu starke Zentralisierung aller Einzelentscheidungen, im ganzen gesehen, zum Nachteil der freien Wohlfahrtspflege auswirken." Freilich sei es Hauptaufgabe der Reichsmittel, „durch Behebung von Notständen und Förderung der gesunden Kräfte unseres Volkes zur inneren Erstarkung des neuen Reiches beizutragen". 317 Trotz der zurückhaltenden Kritik des Reichsarbeitsministers an den von Hilgenfeldt im Benehmen mit Frick ausgearbeiteten restriktiven Leitlinien für die Mittelverteilung an die freie Wohlfahrtspflege signalisiert der Vorgang die eindeu-

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Hilgenfeldt an das RAM v.20.111.1935 und der Rdl an den RAM v. 25.111.1935.- Zur Haltung der katholischen Kirche und der Caritas in dieser Frage vgl. H.-J. Wollasch, „Kirchliche Reaktionen auf das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' vom Jahre 1933", in: Beiträge, 195-207. Die ev. Anstalten standen dem Anliegen des Gesetzes wesentlich aufgeschlossener gegenüber; so tagte etwa das Erbgesundheitsgericht Bielefeld häufig in Räumlichkeiten der Anstalt Bethel und arbeitete mit deren Leitung und dem ärztlichen Personal eng zusammen. S.a. Kurt Nowak, ,Euthanasie und Sterilisierung', und Ernst Klee, .Euthanasie' im NS-Staat, sowie die fundierte Kritik von HansJosef Wollasch an Klee: .„Euthanasie' im NS-Staat: Was taten Kirche und Caritas?", und schließlich Kap. III.4.dieser Studie. Sehr, des RAM an den Rdl v. 4. IV. 1935 und an das Hauptamt für Volkswohlfahrt v. 28.IV. 1935; APK-NS, a. a. O.

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tige Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der NS-Wohlfahrtspolitik. Dies demonstriert auch die Höhe der jetzt an die NSV fließenden Gelder des RAM, die für die beiden Jahre 1934 und 1935 rund 50% der zur Verfügung stehenden Gesamtsumme von knapp 1,3 Mio. RM betrug.318 Auch in anderen Gremien drängte Hilgenfeldt auf eine bevorzugte Behandlung seiner Organisation, die er durch ein Gutachten seines Abteilungsleiters Althaus für den Deutschen Gemeindetag mit den neuen großen Aufgaben begründete, die qua ,Führung' der Arbeitsgemeinschaft an die NSV übergegangen seien.319 Doch nicht nur der finanzielle Vorrang der NSV gegenüber Innerer Mission und Caritas bleibt als Ergebnis dieser Regelung festzuhalten: Wichtiger noch erscheint die permanente Kontrolle, die Hilgenfeldt nun als bestellter .Richter' über Wert und Unwert der in den einzelnen Anstalten geleisteten Betreuungs- und Pflegearbeit ausüben konnte. Es läßt sich unschwer vorstellen, daß auf diese Weise in Zukunft gerade diejenigen Einrichtungen benachteiligt werden würden, deren Tätigkeit nicht den rassisch-biologischen Nützlichkeitskriterien der Ideologie im Hinblick auf die Volksgemeinschaft entsprachen: die Anstalten für unheilbar geistig Behinderte, deren Vernichtung wenige Jahre später unter den hier behandelten Gesichtspunkten auch eine - vom Regime immer wieder hervorgekehrte - ökonomische Dimension besaß. Von den getroffenen Abmachungen erhielten Innere Mission und Caritas nur schrittweise Kenntnis, weil Hilgenfeldt und seine Mitarbeiter in den Sitzungen der Arbeitsgemeinschaft bzw. ihres Führerrats derartige Informationen aus verständlichen Gründen nur unvollständig weitergaben.320 So blieb das Finanzie-

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1934 und 1935 entfielen mit Ausnahme der Mittel für Heilstättenkuren auf NSV 637.000 RM (ca. 50%), DRK 84.000 (ca. 6,6%), Innere Mission 280.600, ebenso Caritas (je ca. 21,7%). Von den 100.000 RM an Zuschüssen für Heilstättenkuren erhielten NSV und D R K nur je 10%, IM und DCV dagegen je 40%, vermutlich weil sie über die größere Zahl der entsprechenden Einrichtungen verfügten; ebd. Rundschreiben des Vorsitzenden des Deutschen Gemeindetages v. 4.V. 1935 mit Anlage Referat Althaus: „Stellung der NSV zu den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege". Bisher habe es noch Unklarheiten über die Stellung der Kommunen zur NSV gegeben, d. h. die NSV erhalte noch nicht überall die Förderung, „die ihre Arbeit für Volk und Staat verdient". Künftig solle sie „entsprechend ihrer für Volk und Staat gesteigerten Bedeutung und ihres vermehrten Aufgabenkreises angemessen bei der Verteilung von kommunalen Mitteln" berücksichtigt werden; ADCV, CA XX,62c. In der Führerratssitzung v. 5.VI. 1935 machte Althaus den .Vorschlag', die zu erwartenden Gelder an die Hika zu überweisen, die ihre weitere Verteilung vornehmen sollte. Als Kreutz auf einer Ausschüttung direkt an die Verbände bestand, forderte Althaus die vorherige Offenlegung der Finanzverhältnisse der einzelnen Anstalten. Solche Scheingefechte dienten offenbar der langsamen Gewöhnung der Verbände an die längst fixierten Realitäten. ADCV, 460.040,1. - Erst in der Führerratssitzung v. 15.X. d.J. wurde bekannt, daß die Auszahlung der RAM-Mittel von aufschlußgebenden Verwendungsunterlagen, die zuvor von der NSV geprüft würden, abhängig gemacht worden sei. Als Grund für die

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rungsproblem ein ,Dauerbrenner', da die Verbände nicht lockerließen und die NSV sie mit immer neuen Ausflüchten und vagen Erklärungen hinhalten mußte. Inzwischen hatte Hilgenfeldt seinen von der konfessionellen Wohlfahrtspflege wegen rigider Verhandlungsführung bald besonders gefürchteten juristischen Berater, Assessor Cordt, zum Sachbearbeiter für das Sammlungswesen ernannt. 321 In der gleichen Führerratssitzung, in der dies bekannt wurde, kritisierte Althaus unverblümt die ständigen Geld- und Kreditwünsche seiner .Partner' und warf ihnen vor, auch Einrichtungen der Heilfürsorge zu unterhalten, die eigentlich in den Bereich öffentlicher Trägerschaft gehörten. Zwar akzeptiere man seitens der NSV, daß den Kirchen neben der leiblichen Fürsorge die geistliche Betreuung der Patienten am Herzen liege, doch dürfe sich die freie Wohlfahrtspflege nicht länger mit ihren Zuständigkeitsbereich überschreitenden Aufgaben belasten. Dieser Vorstoß zielte wiederum in Richtung einer allmählichen Reduzierung der konfessionellen Tätigkeitsfelder; daß er nur vordergründig mit neuen Schwerpunktbildungen und Finanzfragen verknüpft wurde, steht angesichts der überlieferten Diskussion zwischen Parteidienststellen und Innenministerium über die Notwendigkeit weiterer Zuschüsse an Innere Mission und Caritas außer Zweifel. Nachdem schon seit 1937 öffentliche Sammlungen nicht allein der freien Wohlfahrtspflege, sondern auch anderer gemeinnütziger Organisationen mit Rücksicht auf das Winterhilfswerk kaum noch gestattet wurden,322 ging es in den folgenden Jahren nur mehr um die statt dessen gewährten Ausgleichszahlungen aus dem WHW-Fonds. Im Mai 1939 schaltete sich der Reichsführer SS in wohl schon seit längerem angestellte Überlegungen ein, der konfessionellen Wohlfahrtspflege auch diese letzte Möglichkeit öffentlicher

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Verzögerung der Überweisungen gab man den Übergang der Verantwortlichkeit für die Wohlfahrtspflege vom RAM an das Rdl an; Prot, in ADW, CA 1195 XI/2. Meist scheint Hilgenfeldt minder bedeutsame Besprechungsgegenstände dem sich nach außen hin etwas konzilianter gebenden Hermann Althaus überlassen zu haben, während „grundsätzliche, parteipolitisch wichtige Fragen" durch den unnachgiebigen Assessor Cordt erledigt wurden; s. das undatierte, um 1947 entstandene Memorandum Constantin Fricks über die Innere Mission im Dritten Reich, ADW, CA 837 III, und Gerhardt II, 369. - Zur Berufung von Cordt vgl. das Prot, der Führerratssitzung v.3.111.1936; ADW, a.a.O. Am 16.1.1937 lehnte der Reichs- und Preuß. Mdl alle kirchlichen Anträge auf Genehmigung von Haus- und Straßensammlungen unter Berufung auf entsprechende Wünsche des Führers kategorisch ab. Lediglich das DRK, der Reichs verband deutscher Jugendherbergen und das Deutsche Frauenwerk durften noch solche Sammlungen durchführen, dazu in den Seebädern die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Auch der NSDAP-Reichsschatzmeister wurde ermahnt, Parteisammlungen nur während der Sommermonate anläßlich größerer Veranstaltungen zu genehmigen. Zum Ausgleich sollten diejenigen Organisationen, die noch 1936 die beantragte Sammelerlaubnis erhalten hatten, nach dem Willen des Führers aus WHW-Mitteln abgefunden werden. Vgl. den Schnellbrief des Ministers; APK-NS, 10106813-06816.

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Finanzierung zu entziehen. 323 Anlaß war die partielle Verwendung verbandsinterner, d. h. nach wie vor genehmigungsfreier Kollekten von Caritas und Innerer Mission für die Betreuung nichtarischer Katholiken bzw. für volksmissionarische Aufgaben, die natürlich in den Augen des Regimes keinem förderungswürdigen wohlfahrtspflegerischen Zweck dienten. 324 Weil diese Gelder nun für Wohlfahrtsaufgaben im Sinne des Regimes fehlten - so die sophistische Argumentation Himmlers - , mußten die entstandenen Lücken durch zugewiesene Mittel aus der Winterhilfe gedeckt worden sein, was dieser Lesart zufolge eine mißbräuchliche Verwendung von Spenden der Volksgemeinschaft bedeutete. Namens des Stellvertreters des Führers schloß sich Reichsleiter Bormann Himmlers Auffassung an und drängte den Chef der Reichskanzlei, Minister Lammers, einen Führerentscheid über den Fortfall der Ausgleichszahlungen zu erbitten. Da die Erfahrung gezeigt habe, „daß die Kirchen mit den Beiträgen des Winterhilfswerkes ihre gesamte Wohlfahrtsarbeit finanzieren könn[t]en und neuerdings ihre Einnahmen aus Kollekten vollständig für andere Zwecke verwende[te]n" [sie], sei eine Unterstützung nicht länger zu verantworten. 325 Bevor Lammers die Angelegenheit Hitler vorlegte, holte er weitere Stellungnahmen der betroffenen Parteiuntergliederungen und Reichsministerien ein. Während Hilgenfeldt intransigent auf einer völligen Streichung beharrte und dies mit vagen Behauptungen begründete, die noch über die Gravamina des Reichsführers SS hinausgingen, 326 und sich auch Frick dafür aussprach, meldete Reichskirchenmi323

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Schreiben v.23.V. 1939 an den Stab des Stellvertreters des Führers. Eine Abschrift ging auch mit Begleitschreiben an Hauptamtsleiter Hilgenfeldt, der inzwischen zum SS-Brigadeführer (1942: SS-Gruppenführer) ernannt worden war. Möglicherweise ist aus diesem Sachverhalt zu schließen, daß Himmler auf Drängen Hilgenfeldts handelte, der ebenfalls mit Vehemenz dafür plädierte, die Zahlungen einzustellen; dazu s.w.u.; APK-NS, 101 06858 ff. Danach waren von der Caritas-Kirchenkollekte 1937 25.000 RM für die Betreuung nichtarischer Katholiken bereitgestellt worden; ebd. Schon in der Führerratssitzung V.15.VI. 1936 kam das Thema zur Sprache, als Kreutz erklärte, die Kirche könne sich nicht an rassischen, sondern allein an Kriterien der Religionszugehörigkeit orientieren, wenn es um Hilfe gehe. Auf seine Frage, ob die NSV gegen die Betreuung von Halbjuden etwas einzuwenden habe, wurde das Nichtarierproblem diskutiert, das CA-Präsident Frick „besonders wegen der kommenden Olympiade und dem durch sie zu erwartenden Fremdenzustrome unangenehm" fand und das Dr. Ballarin/NSV durch die Nürnberger Gesetze hinreichend gelöst erschien; Prot, in ADCV, 460.040,2. S.a. H.-J. Wollasch, „Zur Bedeutung von Caritassammlungen im Dritten Reich", in: ders., Beiträge, 179-194. Bormann an Lammers v. 20.VII. 1939; APK-NS, a. a. O. Aktenvermerk Lammers v. 19.IX.1939; ebd. Diesen Aufzeichnungen zufolge hatte Hilgenfeldt 6 Punkte aufgelistet, die gegen eine weitere Unterstützung der konfessionellen Verbände aus Mitteln der Winterhilfe sprachen: 1. Die erhöhten Anforderungen an das WH W schlössen die Förderung anderer Zwecke künftig aus. 2. Die Verbände hätten ihre Aufwendungen mutwillig erhöht, „nur um eine Zuschußbedürftigkeit nachweisen zu können". Dadurch seien Überschüsse erzielt worden. 3. Die Gelder seien nicht der „praktischen Fürsorge" zugeflossen, sondern zur Schuldentilgung und zur Errichtung von

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nister Kerrl Bedenken an: Ohne vorherige Prüfung, ob die Streichungen nicht die Existenz der „im Interesse der Allgemeinheit" erforderlichen Anstaltseinrichtungen und Schwesternschaften gefährdeten, scheine ihm ein entsprechender Beschluß nicht durchführbar; auch aus kirchenpolitischen Gründen halte er eine solche Entscheidung in der gegenwärtigen Lage - inzwischen herrschte Krieg - für inopportun. Er befürworte deshalb die Unterstützung der konfessionellen Verbände in gleicher Höhe wie in den Vorjahren. Diesem Votum schloß sich auch der Chef der Reichskanzlei an. Mit Hinweis auf die zu erwartenden Leistungen von Caritas und Innerer Mission bei der Landesverteidigung plädierte er für die Beibehaltung der WHW-Zuschüsse und erwirkte am 24. September einen entsprechenden Führererlaß, der diese Vorentscheidung sanktionierte. 327 Auch wenn die Position der Reichskanzlei und Hitlers selbst in dieser Frage auf dem Hintergrund der bekannten Weisung zur Einschränkung des Kirchenkampfs für die Kriegszeit zu beurteilen sein dürfte, 328 bedeutete sie doch eine

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Neubauten verwandt worden. 4. Auf der anderen Seite habe man die Zuweisungen aus kirchlichen Mitteln vermindert „in der Absicht, die Ausfälle aus den Ablösungsbeträgen des WHW. zu decken". 5. Die nichtöffentlichen Sammlungen von IM und Caritas seien für volksmissionarische Zwecke und zur Betreuung nichtarischer Katholiken genutzt worden. 6. Die Verbände hätten „unter Umgehung des Sammlungsverbots durch getarnte Sammlungen erhebliche Einnahmen erzielt". - An der Zielrichtung der geplanten Mittelstreichung zugunsten der Zurückdrängung der freien Wohlfahrtspflege überhaupt kann angesichts der konstruierten und unhaltbaren Vorwürfe kein Zweifel bestehen. Damit wurden folgende Beträge für die Kriegsjahre fortgeschrieben: IM: jährlich 424.541 RM, Caritas: 184.796 RM, kirchliche Bahnhofsmission: 27.957 RM. Lediglich die Heilsarmee ging leer aus; ebd. S.a. Wollasch, a.a.O., 189.- Man beachte die disparitätische Aufteilung der Gelder, von denen die IM, die mehr als doppelt soviel erhalten sollte als die Caritas, am meisten profitierte, obschon die absoluten Zahlen gemessen an den zu bewältigenden Aufgaben der freien Wohlfahrtspflege niedrig genug waren. - Mitteilung über die Führerentscheidung in APK-NS, 101 06865/2. Bei Zahlung der Zuschüsse sei darauf zu achten, „daß Auswüchse, wie sie bei Verwendung dieser Abfindungen durch die fraglichen Verbände in der Vergangenheit in Erscheinung getreten sind, verhütet werden". - Im übrigen stellten diese Zahlen nur Rahmendaten dar, die von der NSV nach eigenem Ermessen auch unterschritten werden konnten, wie eine Aufstellung vom Oktober 1942 erhellt: Danach erhielt die Innere Mission 1937 von beantragten RM 1.865.891,28 nur RM 1.332.003,84; 1938 von RM 2.912.829,03 nur RM 402.741; 1939 von RM 1.118.064,96 nur RM 139.370; 1940von RM352.138,83 nurRM 86.005; 1941 von RM 141.637,20 nur RM 43.155. S. den Bericht Dr. Schuberts auf der Vorstandssitzung des CA v. 20.X.1942; ADWDü, BO, 10/1-1,4. Dazu Meier III, 108 f., 136 und passim. Auch wird zu berücksichtigen sein, daß mit Martin Bormann noch nicht jener Exponent einer radikalen Kirchen- und Religionsfeindschaft an den Schalthebeln der Macht saß, der nach dem Englandflug von Heß zum Chef der Parteikanzlei und Reichsminister aufrückte und später die Auseinandersetzungen mit den Kirchen vor allem an der Peripherie des deutschen Einflußgebietes wieder forcierte. S. Paul Gürtler, Nationalsozialismus und evangelische Kirchen im Warthegau, und Meier III, 114 ff.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

spürbare Beschneidung der Ambitionen Hilgenfeldts und seiner Verbündeten, die offensichtlich mit einer bevorstehenden Unterstellung respektive Eingliederung der konfessionellen Spitzenverbände in die NSV gerechnet hatten. 329 Auf Teilgebieten kündigte sich eine solche Entwicklung seit 1937 an. Im Brennpunkt der Auseinandersetzungen stand die Forderung nach Überführung der von Diakonissen und Ordensfrauen geleiteten konfessionellen Gemeindepflegestationen und der Kindergärten bzw. -tagesstätten in die NSV.330 Bemerkenswert an diesem sich bis Kriegsbeginn verschärfenden Prozeß ist die zunehmende Umgehung der Reichsarbeitsgemeinschaft und ihres Führerrats. Beide Gremien berief Hilgenfeldt als Vorsitzender bis zu ihrer endgültigen Auflösung 1940 kaum mehr ein und bemühte sich statt dessen, seine Ziele durch Pressionen und Verhandlungen mit den Verbandsspitzen von Caritas und Innerer Mission direkt zu erreichen.331 Da die NSV-Schwestern zum Ressort von Althaus gehörten, versuchte dieser zunächst, durch die begriffliche Unterscheidung von konfessionellen Schwesternstationen und denen der politischen Gemeinde eine Einigung in dem Sinne herbeizuführen, daß letztere allein der NSV vorbehalten bleiben sollten. Allerdings wollten er und Hilgenfeldt den Bestand der kirchlichen Schwesternarbeit nur dann garantieren, wenn von dieser keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen würden. Angesichts der hohen Zahl evangelischer und katholischer Einrichtungen, denen die NSV nur wenig entgegenzusetzen hatte, werden die Bemühungen um eine Übernahme durch die Volkswohlfahrt verständlich: So unterhielt die Caritas Ende 1935 5.228 Stationen mit 10.956 Schwestern, die Innere Mission 4.496 kirchliche und 1.991 überkonfessionelle Stationen mit zusammen etwa 8.000 Schwestern, während die NSV lediglich 1.064 gemeindli-

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Vgl. dazu nochmals das Begleitschreiben des Reichsführers SS an das Hauptamt für Volkswohlfahrtv 23.V. 1939;a.a.O. Auf die schon 1934 einsetzenden Kämpfe um die kirchlichen Kindergärten wird in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen; vgl. den instruktiven Aufsatz von Manfred Heinemann, „Evangelische Kindergärten im Nationalsozialismus", den weniger ergiebigen Kurzaufriß von Rainer Bookhagen, ,„Das Kind bilden wir!'" und die gerade fertiggestellte Diss. dess. Vf. „Auftrag und Verpflichtung". Das DRK kann hier ausgeklammert werden, da es bereits in so große Abhängigkeit von der NSV geraten war, daß Widerstände von hier aus nicht mehr befürchtet werden mußten. Der katholische Beobachter der NSV-Tagung im Rahmen des Nürnberger Reichsparteitages von 1937 urteilte treffend angesichts des Fehlens von DRK-Gästen, die im Gegensatz zu DCV und IM nicht vertreten waren; „Es scheint, daß es [sc. das DRK] ganz in der braunen Uniform Unterkunft gefunden hat." Bericht über die NSV-Tagung am 13.IX. 1937; ADCV, CA XX, 62 a. - Überlegungen im Rdl, das DRK den Gliederungen der N S D A P gleichzustellen und es damit zu einer Unterorganisation der Partei zu machen, werden in einem Brief Leys an Bormann v. 5.XI. 1940 erwähnt, in dem der Reichsorganisationsleiter diese Vorschläge jedoch ablehnte; APK-NS, 117 05279 ff.

11.4. Gleichschaltung u n d Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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che Stützpunkte mit etwa ebensovielen eigenen Kräften betreute.332 Dank dem hinhaltenden und hartnäckigen Widerstand der kirchlichen Wohlfahrtspflege konnten sich Althaus und Hilgenfeldt zunächst nicht durchsetzen; im Juni 1936 wurde auf Vorschlag von CA-Direktor Schirmacher ein vorläufiger ,Waffenstillstand' in dieser Frage vereinbart, bis man nach weiteren Verhandlungen zu einer klaren Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche komme. Daß eine Regelung notwendig sei, gestand auch Präsident Frick zu: Nicht alle anstehenden Aufgaben könnten von christlichen Schwestern bewältigt werden; das gelte vor allem für ,nationalpolitische Aufgaben' wie Erbgesundheitspflege und Sterilisation.333 Die Zeit arbeitete indessen für die NSV, die nun damit begann, die inzwischen angelaufene offizielle Kampagne zur ,Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens' für eine ,Lösung' in ihrem Sinne zu nutzen. 334 Unter dem Vorwand, politische Oppositionsbildungen in der Maske religiösen Protestes zu bekämpfen, sollte damit der kirchliche Einfluß in der Öffentlichkeit zurückgedrängt werden. Nach einer Unterredung im Reichserziehungsministerium, in der es vorrangig um die Zukunft der evangelischen und katholischen Kindergärten gegangen war, zog Prälat Wienken resignierend das Fazit, daß die Entkonfessionalisierungs-Propaganda von zentralen Parteidienststellen gedeckt werde und auf einen Schutz seitens der Ministerien und oberen Parteiinstanzen nicht mehr zu rechnen sei.335 - Ein weiterer Frontalangriff auf die kirchlichen Schwestern-

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So ein Aktenvermerk des C A zur Sitzung des Führerrats v. 15.X. 1935; A D W , C A 1195 X I / 2 . N a c h einer NSV-Broschüre von 1942 lauten die weiteren Z a h l e n : 1.729 :1.910 f ü r 1936; 2.401 : 2.431 f ü r 1937; 4.929 : 5.354 f ü r 1938; 5.210 : 5.419 f ü r 1939; 5.529 : 5.768 f ü r 1940 u n d 5.592 : 5.698 Stationen bzw. Schwestern f ü r 1941. Auffällig d a r a n ist d a s starke Ansteigen 1938, d a s mit dem ,Anschluß' Österreichs und d e r gewaltsamen Übern a h m e der gesamten freien Wohlfahrtspflege in d e r , O s t m a r k ' z u s a m m e n h ä n g e n d ü r f t e ; s. dazu Kap. III. 5.1.1. Trotz aller Bedrängnisse blieben also bis 1941 m e h r als doppelt so viele konfessionelle wie NSV-Schwesternstationen bestehen - eine Entwicklung, an d e r sich bis Kriegsende nicht m e h r viel geändert h a b e n wird. Vgl. Deine Arbeit - Deine Welt, o h n e Pag., Bl. 10.

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Prot, der Führerratssitzung V.25.VI. 1936; A D C V , 460.040, 2. - Als der G e s c h ä f t s f ü h r e r des schlesischen Provinzialvereins f ü r IM d i e s e n , Waffenstillstand' angesichts der weiterg e h e n d e n Auseinandersetzungen kritisierte, setzte sich der CA-Präsident mit Hinweis auf den totalitären Anspruch des Staates, dem sich niemand entziehen könne, zur Wehr u n d fügte hinzu, die Regelung der Schwesternfrage werde s. E. noch J a h r e auf sich warten lassen. D e r C A habe in dieser Sache viel u n t e r n o m m e n : „Glauben Sie nicht, d a ß wir wie Planlose in der Welt herumirren." Er wolle sich aber nicht an den Führer selbst wenden, dieser h a b e mit Deutschland genug zu t u n ; Prot, der G e s c h ä f t s f ü h r e r k o n f e r e n z v. 30. VI. 1936, A D W , C A 761 XVIII.

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Vgl. Kurt Meier, a . a . O . , Bd. II, 12 ff. S.a. H a n s - G ü n t e r Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige u n d Priester 1936/37. Aktennotiz der Leiterin des Sonderreferats des C A f ü r die Frauenverbände, N o r a Hartwich, v.4.11.1937 über einen Anruf des D C V ; in Z u k u n f t werde es auch keine evangelischen u n d katholischen Kindergärten m e h r geben, sondern nur noch deutsche [!], h a b e m a n Wienken bedeutet. A D W , CA 100100/1".

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Schäften erfolgte anläßlich der großen NSV-Tagung im Rahmen des Nürnberger Reichsparteitages im September 1937. In einer programmatischen Rede reklamierte Hilgenfeldt alle Schwesternstationen für seine Organisation mit der Begründung, die göttliche Vorsehung habe den Führer zur Lösung der sozialen Frage gesandt; heute entscheide nicht länger das Fachwissen des Wohlfahrtspersonals, sondern seine ideologische Zuverlässigkeit: „Die Schwester ist der weibliche Soldat des Führers in dieser Station, Trägerin der nationalsozialistischen Weltanschauung und erfüllt eine der wichtigsten Aufgaben." Ohne auf Detailfragen einzugehen, lieferte Propagandaminister Goebbels, der anschließend sprach, auch die Begründung für die Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf die Wohlfahrtspflege. Mit Seitenhieben auf die unfruchtbaren „theologischen Haarspaltereien" des Kirchenkampfes kritisierte er die christliche Liebestätigkeit als praxisfern und verstieg sich zu der abstrusen Behauptung, die NSDAP habe mit ihrer Sozialarbeit mehr im Sinne Jesu für die Armen geleistet als die Kirchen: „Was sie versäumten, haben wir übernommen. Was die Kirche an Achtung verlor, hat darum die Partei an Achtung gewonnen. Wir waren die wahren Christen, wir haben dem Nächsten geholfen, wir haben die Missionäre [!] unserer Partei nicht nach Ostasien geschickt, sondern mitten ins Volk hinein. Die Pfarrer haben gehetzt gegen den Staat, daß wir nicht christlich seien, und wir haben inzwischen die Hungrigen gespeist und die Durstigen getränkt, und das Volk hat uns gedankt .. ."336 - Mit diesen pseudoreligiösen Tiraden, die in Anlehnung an die Sprache des Neuen Testaments mit abgewandelten Bibelzitaten die soziale Arbeit der Kirchen demagogisch verunglimpften, 337 sollte der Weg für die Ausschaltung der im Bewußtsein breiter Bevölkerungsschichten noch immer fest verankerten und bejahten religiösen Liebestätigkeit vorbereitet werden. Die NS-Ideologie als,Überreligion' der neuen deutschen Volksgemeinschaft trat an die Stelle überkommener christlicher Vorstellungsinhalte, wobei der intendierte Abschied vom Wesensgehalt christlicher Ethik geschickt mit dem Hinweis auf den unfriedlichen und gemeinschaftsschädlichen Kirchenkampf sowie durch eine biblisch klingende Phraseologie kaschiert wurde. Eine unmittelbare Folge des verschärften Kurses zeigte sich in der vollständigen Kapitulation des Roten Kreuzes vor den Forderungen der NSV: Am 18. Dezember 1937 schlössen DRK und Hauptamt für Volkswohlfahrt ein Abkommen, das sämtliche nicht unmittelbar mit den Kriegsaufgaben des DRK in Verbindung

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S. die Nachschrift eines ungenannten Beauftragten der Caritas. Der DCV nahm ebenso wie der CA, der durch Präsident Frick und Dir. Schirmacher vertreten war, an der Tagung teil; ADCV, CA XX, 62a. Vgl. a.den tendenziösen Bericht „Soziale Besserung für alle", in: Der Angriff Nr. 215 v. 14.IX. 1937. Für weitere Belege zu ähnlichen Äußerungen Goebbels' über das von der Partei praktizierte ,Christentum der Tat' gegenüber einer sich in theologischen Richtungskämpfen verzettelnden (evangelischen) Kirche vgl. Kurt. Meier 11,15. Zu denken ist hier an Matth 25,35.

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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stehenden Einrichtungen der NSV überließ. Zum 1. April 1938 sollten alle Gemeindepflegestationen und Kindertagesstätten mit Gebäuden und Grundstücken gegen eine finanzielle Entschädigung des Altträgers übernommen werden, jedoch die Rotkreuzschwestern dort weiterhin ihren Dienst tun - ein Hinweis auf die unzureichende personelle Ausstattung der NS-Schwesternschaft, die auch bis Kriegsende trotz großer Anstrengungen Hilgenfeldts nicht die Zahl der in kirchlichem Dienst arbeitenden Diakonissen und Ordensfrauen erreichte.338 Ein weiteres Indiz für diese Tatsache ist die Anfang 1939 unterzeichnete Vereinbarung zwischen NSV und Centraiausschuß über die mögliche Besetzung von NSV-Einrichtungen mit evangelischen Mutterhausschwestern, die für drei Jahre gelten sollte und auch die Kindergärten einbezog. Die NSV erklärte sich darin bereit, die Versorgung und finanzielle Vergütung dieser ,Leihschwestern' mit den Mutterhäusern zu regeln; ferner wurden gegen ihre kirchliche Betätigung - freilich nur außerhalb des Dienstes - keine Bedenken erhoben. 339 - Dieser Vorgang demonstriert die Grenzen der NSV-Wirkungsmöglichkeiten ebenso wie die pragmatische Reaktion der freien Wohlfahrtspflege. Auch wenn es eigentümlich erscheint, daß mit dem Hauptgegner mitten in existenzbedrohenden Auseinandersetzungen noch Verträge dieser Art geschlossen wurden, zeugt es von den beharrlichen Bemühungen der christlichen Liebestätigkeit, keinen Meter Boden aufzugeben und sofort dort wieder rechtsverbindliche Verhältnisse zu schaffen, wo sich Schwachpunkte nationalsozialistischer Wohlfahrtspolitik bemerkbar machten. Ein anderer Weg des Widerstandes gegen die Monopolansprüche des Hauptamtes für Volkswohlfahrt lag in dem Versuch, durch Eingaben an staatspolitische Instanzen drohenden Entwicklungen vorzubeugen. Als sich im Sommer 1939 Gerüchte immer mehr verdichteten, die freie Wohlfahrtspflege stehe unmittelbar vor der Gleichschaltung bzw. Unterstellung unter die NSV, wandte sich Präsident Frick mit einer ausführlichen Petition an die Reichskanzlei, in der er die vielfältigen Leistungen der konfessionellen Schwesternschaften für die Volksgemeinschaft hervorhob und für den Fall einer Zerschlagung der Mutterhäuser irreparable Konsequenzen ankündigte. Konkret handelte es sich um die Befürchtung der Inneren Mission, das Reich werde in Kürze ein Gesetz heraus-

338 339

Text der Vereinbarung in: ADW, C A / G 100100 2/ 1 . Zu den Zahlen s. w. u. Vertrag v.25.1.1939; ADW, CA 1195/2". - Am 27.VIII.1943 folgte eine ähnliche Vereinbarung zwischen NSV und Caritasverband, der ebenfalls Schwestern, hier zwecks Betreuung älterer evakuierter Volksgenossen, zur Verfügung stellen wollte. Besonders aufschlußreich erscheint Punkt 4, nach dem in allen Personalangelegenheiten das Mutterhaus Visitationsrechte besaß. Außerdem stehe es den Schwestern frei, „nach dem Geiste und den Vorschriften ihres Ordens zu leben und zu arbeiten. Sie werden in ihrer religiösen Betätigung nicht gehindert oder beschränkt. Hinsichtlich ihrer religiösen Betätigung gegenüber den Betreuten ist jedoch deren Wunsch maßgebend." ADCV, CA XX, 62 c.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

bringen, das die Berufung eines ,Reichsbeauftragten für die freie Wohlfahrtspflege' vorsehe. Sollte dieser das Vertrauensverhältnis zwischen den Schwestern und ihren Mutterhäusern durch Übernahme solcher ,Pflanzstätten diakonischer Arbeit' zerstören, so der Appell Fricks, könne er für die Einsatzbereitschaft des Personals nicht mehr garantieren. Auf 50.000 Schwestern der Inneren Mission und 60.000 Schwestern der Caritas entfielen rund zwei Drittel der 70 Mio. Pflegetage in öffentlichen und freien Krankenhäusern. Wenn ein Reichsbeauftragter in diese Arbeit von außen gewaltsam eingreife und damit Arbeitsfreude und Motivation der Pflegekräfte beeinträchtige, werde die Gesundheitsfürsorge im Reich in Gefahr geraten. Mit diplomatischem Geschick wies Frick schließlich am 13. Juni 1939! - auf einen möglichen Krieg hin, in dem man die freie Wohlfahrtspflege noch brauchen werde, was einer versteckten Drohung gleichkam: Für den Mobilmachungsfall seien 50.000 Krankenschwestern angefordert worden; er müsse es außerordentlich bedauern, „wenn die in allen Kriegen von 1864 an bewiesene und allgemein anerkannte Einsatzbereitschaft unserer Mutterhäuser, ihrer Anstalten und ihrer Schwestern auch nur auf das geringste gefährdet würde". 340 Das geplante Gesetz kam nicht zustande. Ob und inwieweit die Vorstellungen Fricks darauf Einfluß hatten, wird im nachhinein kaum mehr zu klären sein. Daß sie aber bestehende Besorgnisse des Staatsapparats und der Parteiführung gerade angesichts des bevorstehenden Krieges verstärkten, dürfte feststehen, auch wenn - wie im Zusammenhang mit den Ausgleichszahlungen aus dem Winterhilfsfonds deutlich wurde - andere Gliederungen der Partei trotz der gespannten Zeitlage eine radikale Lösung der wohlfahrtspflegerischen Probleme favorisierten. Daß sie sich nicht oder nur in Teilbereichen und auf regionaler Ebene durchsetzen konnten, macht das Dilemma nationalsozialistischer Fürsorge-Konzeptionen erneut sichtbar: Man blieb auf die vorhandenen Einrichtungen und ihren Personalbestand angewiesen und hatte die konkurrierenden Interessenlagen seitens der für die Gesundheitsvorsorge zuständigen Ministerialbürokratie und des um ausreichende Sanitätsleistungen für den Kriegsfall m

Schreiben Fricks an Reichsminister Lammers V.13.VI.1939; ADW, CA 837 III Nr.50. S.a. die dem Brief vermutlich beigefügte .Denkschrift des Centrai-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche vom 13. Juni 1939 im Hinblick auf eine geplante gesetzliche Neuregelung der freien Wohlfahrtspflege'; ebd. Zu den weiteren Punkten, die Frick gegen einen Reichsbeauftragten geltend machte, gehörten die dann unausweichliche Erhöhung der Pflegegeldsätze, eine Beunruhigung der Gesamtbevölkerung, deren Angehörige aller Klassen in konfessionellen Einrichtungen versorgt würden, die Leistungen der Schwestern für das Deutschtum im Ausland etc. Er gestand zu, daß es gelegentlich Spannungen in der Zusammenarbeit mit den Behörden gegeben habe, wollte darin aber kein Grundsatzproblem, „sondern das Kennzeichen gesunden Lebens und organischen Wachsens" sehen. - Einen Tag später wandte sich auch der hannoversche Landesbischof und einst designierte CA-Präsident Marahrens mit einem - vermutlich vorher abgesprochenen - imTenorganz ähnlichen Schreiben an Lammers;ebd.

11.4. Gleichschaltung u n d Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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besorgten Militärs zu berücksichtigen. Konservatives Traditionsdenken der Eliten von Beamtenschaft und Wehrmacht erschwerte und verzögerte zusätzlich die Realisierung der angestrebten totalen Kontrolle des Wohlfahrtswesens durch den Nationalsozialismus, auf dessen Angriffe sich die freien Verbände ihrerseits in wachsendem Maße einzustellen und mit guten Argumenten zu kontern wußten.341 Das wird in den Nachkriegsdarstellungen zur Geschichte der Inneren Mission nicht immer klar genug herausgearbeitet. Hier dominiert häufig der leidvolle Erfahrungshorizont der Zeitgenossen, die den Bedrückungen durch NSV und Partei in konkreter Weise ausgesetzt waren, verbunden mit einer gewissen Heroisierung der führenden Persönlichkeiten von Innerer Mission und Caritas, die in den schwierigen, zuweilen auch demütigenden Verhandlungen mit NSV und Behörden ja in der Tat Mut zeigten und Außerordentliches leisteten. Doch trübt eine solche Sicht der Dinge gelegentlich den Blick des nach 1945 schreibenden Verbandshistorikers für die begrenzten und doch erfolgreich ausgenutzten Spielräume vieler Institutionen auch im totalen Staat des Dritten Reiches, in dessen miteinander konkurrierenden Machtzentren mehr als eine gesellschaftliche ,Nische' entstand, von der aus eigenständiges Wirken wenigstens auf Teilgebieten - wenn auch nie mit der Garantie der Dauerhaftigkeit - möglich war.342 Nur eine andere Form dieser Fehleinschätzung ist der Pauschalvorwurf an die Adresse der konfessionellen Verbände, sie hätten, statt sich zu widersetzen, durch ihre anhaltende Verhandlungsbereitschaft faktisch gemeinsame Sache mit dem Nationalsozialismus gemacht. 343 Was bei Verweigerung aller Kompro-

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Zu einem ähnlichen Urteil - bezogen auf den Deutschen Caritasverband - gelangt Reinhold A. Ihorst, Zur Situation der katholischen Kirche und ihrer caritativen Tätigkeit in den ersten Jahren des Dritten Reiches, 116 f. Die bald nach dem Kriege entstandene .klassische' und noch immer unentbehrliche Arbeit von Martin Gerhardt hebt zwar die Verhandlungserfolge und erzielten Kompromisse hervor, betont aber im Hinblick auf die Zielvorstellungen von NSV und N S zu stark Einheitlichkeit und Systematik ihres Wollens und Vorgehens. Bereits differenzierter dagegen der Überblick von Bodo Heyne, „Die Innere Mission 1933 -1952". Die Zufälligkeiten u n d Zwänge des jeweiligen Entscheidungsablaufs werden von beiden unterschätzt, wobei zu berücksichtigen ist, d a ß in dieser frühen Phase der Geschichtsschreibung zum Dritten Reich noch die Vorstellung von der monolithischen Struktur des Führerstaates verbreitet war, während wir heute das Kompetenz- und Herrschaftschaos unterhalb der Führerebene besser kennen. Statt der konsequenten Verfolgung einmal gefaßter Grundsatzbeschlüsse, die man verbalradikal immer wieder herausstrich, wurden, wie auch das Beispiel NSV zeigt, immer wieder Kompromisse geschlossen und höchstens Teilziele realisiert. Als besonders irritierend und im Sinne des Regimes ineffizient erwies sich endlich die mangelnde Durchsetzungskraft des Berliner Hauptamtes, dessen Weisungen von jedem Gauleiter und den häufig von diesem berufenen NSV-Gauwaltern konterkariert werden konnten. - Zur Interpretation der älteren (Kirchenkampf-)Forschung s. a. Carsten Nicolaisen , „Zur kirchlichen Zeitgeschichte in Deutschland", bes. 29. Dies suggerieren vor allem neuere Studien zur Geschichte des Fürsorgewesens im Dritten

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

misse aus den Einrichtungen von Innerer Mission und Caritas und vor allem aus den hier betreuten Menschen geworden wäre, vermittelt gerade eine solche Deutung der Entwicklung nicht. Die auch die kirchlichen Anstalten nicht aussparende ,Euthanasie'-Aktion 344 gab einen Vorgeschmack darauf, was geschehen wäre, wenn Innere Mission und Caritas entgegen ihrem geistlichen Auftrag Verhandlungen um ihre Arbeitsfelder und Pflegebefohlenen entweder ganz rigoros geführt oder gar ihre Aufnahme verweigert hätten, was einer kampflosen Kapitulation vor den Forderungen der NSV gleichgekommen wäre. Diese letztlich unhistorische Alternative verkennt zentrale Existenzbedingungen christlicher Wohlfahrtspflege unter nationalsozialistischer Herrschaft. Sie impliziert einen Vorwurf ex post, der zwar moralisch berechtigt scheint, zur Aufarbeitung von Geschichte im Sinne der Aufklärung des Geschehenen jedoch keinen Beitrag zu leisten vermag. Die Auflösung der Reichsarbeitsgemeinschaft, auf die am Schluß dieses Kapitels eingegangen werden soll, korrespondierte mit den oben geschilderten Bestrebungen der NSV und konnte die betroffenen konfessionellen Verbände eigentlich nicht mehr überraschen. Seit dem 25. Juni 1936 hatte Hilgenfeldt als Vorsitzender weder die Arbeitsgemeinschaft selbst noch ihren Führerrat einberufen und es statt dessen vorgezogen, mit den Spitzenverbänden direkt zu verhandeln, wenn auch der Erfolg dieser ,divide et impera'-Strategie im ganzen nicht den erhofften Erwartungen entsprochen haben dürfte. Bevorzugter Partner blieb die Innere Mission, die ja seit 1933 auch innerhalb der Liga und ihrer Umbildungen stark in den Vordergrund getreten war, während die Kontakte zum Deutschen Caritasverband der Quellenlage nach zu urteilen zurückgingen. Der Rollentausch zwischen den kirchlich gebundenen Organisationen wirkte sich nach Berufung des neuen CA-Präsidenten Pastor Frick im Dezember 1934 und der vorsichtigen Distanzierung von einer allzu engen nationalsozialistischen Orientierung der IM-Politik in der Weise aus, daß Frick zunehmend auch für die Caritas sprach und die gemeinsamen Interessen gegenüber der NSV verteidigte. Man rückte unter dem wachsenden Druck des Hauptamtes zusammen, und die Innere Mission revidierte nach dem Ende des Zwischenspiels Themel in bedingter Überwindung ihrer antikatholischen Ressentiments die ursprünglich eher negative Einschätzung der Einwirkungsmöglichkeiten des Diskussionsforums Arbeitsgemeinschaft. Nachdem diese seit 1936 sozusagen suspendiert worden war, ergriff Frick noch im September 1939 eine Initiative zu ihrer Wiederbelebung. In Anlehnung an seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg mit der damals schon von ihm angeregten Gründung der ,Freien Vereinigung für Kriegsfürsorge' schlug er Hilgenfeldt vor, nun seinerseits eine Stelle zu schaffen, wo maß-

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Reich, die sich in erster Linie der Psychiatriegeschichte verpflichtet wissen; vgl. dazu etwa die Arbeiten von Aly und Klee. S. dazu noch einmal die Studien von Nowak, Wollasch und Klee.

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

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gebliche Persönlichkeiten und Fachleute regelmäßig ihre Sorgen und Probleme austauschen und die Reichsregierung mit sachverständigem Rat in allen Belangen der Wohlfahrtspflege unterstützen könnten. 345 Darauf ließ sich Hilgenfeldt jedoch nicht ein; er wollte nicht Teilung der Verantwortlichkeit, sondern bedingungslose Eingliederung und Unterstellung der Verbände: „Ich bin [...] der Auffassung, daß sich die heutigen Verhältnisse von denen von 1914 grundlegend unterscheiden und daß in einem Staat, der auch in seiner Organisationsform das autoritäre Prinzip konsequent vertritt, der von Ihnen vorgeschlagene Weg der Bildung eines Kriegsausschusses der Reichsspitzenverbände nicht gangbar ist." Er wolle sich jedoch in Einzelfällen gern des Rates und der Erfahrungen Fricks bedienen, versicherte der Hauptamtsleiter in seinem außergewöhnlich freundlich gehaltenen Schreiben. Daß dies nur Tarnung war, bewies der Schlußabsatz, in dem er seine alte, angesichts der aktuellen Situation nun aber als dringlich angemeldete Forderung wiederholte, jetzt endlich alle Kindergärten, Krippen etc. den zuständigen Gauamtsleitern der NSV zu unterstellen, was Frick sogleich zurückwies.346 Am 12. Oktober trafen die Spitzenvertreter von Innerer Mission und NSV im Domizil des Hauptamtes am Maybachufer zusammen. Dort kam der Vorschlag Fricks nochmals zur Sprache, den Hilgenfeldt mit dem Hinweis auf seinen geringen Einfluß auf die Gestaltung staatlicher Maßnahmen im Kriege wiederum ablehnte. Schon die Arbeitsgemeinschaft habe die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt; man brauche keinen neuen ,Debattierklub', sondern die praktische Inangriffnahme der anstehenden Aufgaben.347 Der Centraiausschuß für Innere Mission lehnte sich daraufhin stärker an die Deutsche Evangelische Kirche an, die seine Stellung gegenüber der NSV festigen und einen verstärkten Schutz seiner Arbeitsfelder gewährleisten sollte. Schon seit längerem liefen Verhandlungen mit der Kirchenkanzlei der DEK, die eine engere Einbindung der Inneren Mission in die Reichskirche zum Ziel hat-

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Frick an Hilgenfeldt V.6.IX. 1939; A D W , CA 1195/2". D e m Vorschlag ging eine Treueerklärung der Inneren Mission zur Staatsführung im Kriege voran. Anschließend entwikkelte Frick detaillierte Vorstellungen zur Organisation dieser der Arbeitsgemeinschaft ähnlichen neuen Spitzengliederung. Die Antwort Hilgenfeldts datiert v. 8./11.IX.1939; ebd. - Am 20.IX. wandte sich Frick noch einmal an den Hauptamtsleiter; er betonte die Einsatzbereitschaft der IM und erklärte sich auch bereit, die Untergliederungen zu bitten, mit den Gauamtsleitern der N S V „im Sinne der Arbeitsgemeinschaft" zu kooperieren: „Weitergehende Anweisungen bedauere ich nicht geben zu können, weil die Einsatzfahigkeit der Anstalten der christlichen Liebestätigkeit wesentlich durch ihre geistliche Leitung bedingt ist." Ebd. Prot, der Besprechung v. 12.X. 1939; ebd. Hilgenfeldt spielte in der Sitzung seine Einwirkungsmöglichkeiten bewußt herunter, da die IM eine Reihe von Beschwerden gegen Eingriffe von NSV-Untergliederungen in den Bestand von IM-Einrichtungen vorgebracht hatte.

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II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

ten. Vorgeschichte und Probleme dieser Annäherung werden an anderer Stelle nachgezeichnet. 348 Hier ist lediglich von Bedeutung, daß gute Kontakte zur Reichskirche eine immer existentiellere Bedeutung für den Centraiausschuß gewannen, der sich aus Sorge vor den Machinationen der NSV jetzt auch zu Zugeständnissen gegenüber der Kirche bereit fand, die er bisher aus Gründen der Wahrung seiner Eigenständigkeit nicht akzeptieren wollte. Obschon die gesellschaftliche und politische Position der Kirchen in den Jahren nach 1933 schwächer geworden war, versprach sich der Verbandsprotestantismus und mit ihm die Innere Mission von deren Einwirkungsmöglichkeiten nicht zu Unrecht Hilfe und Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Behörden, Ministerien und Parteidienststellen. Wie zahllose, oft erfolgreiche Interventionen der kirchlichen Spitzenbürokratie belegen, konnten ,verkirchlichte' Organisationen eher auf solche Rückendeckung rechnen als Verbände, die ihre Integrität und Unabhängigkeit auch gegenüber der DEK bis zuletzt zäh verteidigten. Im Sommer 1940 führten die intensiven Eingliederungsbemühungen des Centraiausschusses zu einem Erlaß der Kirchenkanzlei, der die stärkere juristische Bindung der Inneren Mission an die Weisungskompetenzen der Kirchenkanzlei und des Geistlichen Vertrauensrates festschrieb.349 - Hilgenfeldt hatte von diesen Verhandlungen erfahren, die er anscheinend für so wichtig hielt, daß er auf Gegenmaßnahmen sann. Durch die Eingliederung der Inneren Mission in die DEK drohte sein ,Endziel', diese wie die Caritas mit allen Einrichtungen für seine Organisation zu vereinnahmen, nach dem vorläufigen Scheitern der oben erwähnten gesetzlichen Regelung wiederum in weite Ferne zu rücken. Wohl von ihm mitveranlaßt, besetzte am 27. Februar 1940 ein 40 Personen starkes Aufgebot der Gestapo die Räume des CA am Reichensteiner Weg in Dahlem und verhörte die leitenden Angestellten intensiv. Aus den sachkundigen Fragen der Beamten, die sich unter anderem eingehend nach den Beziehungen der Inneren Mission zur Reichskirche und nach der Stellungnahme des CA zum ursprünglich geplanten Übernahmegesetz erkundigten, muß auf sorgfältige Vorbereitung der Aktion und Präparierung der beteiligten Vernehmer durch der NSV zumindest eng verbundene Kreise geschlossen werden. 350 Belastendes Material, das 348 349

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Vgl. Kap. III.4. „Erlaß des Leiters der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei betreffend die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" v. 12.VII. 1940; GBl. d. DEK 1940, 39 f. Besonders wichtig war Punkt 8 der Vereinbarung, der festlegte, daß die leitenden Persönlichkeiten der IM-Einrichtungen „die kirchliche Eigenart des von ihnen vertretenen Werkes zu wahren" hätten. Damit war die freiwillige Auslieferung dieser Werke an von der NSV bestellte .Führer' unmöglich geworden. Bericht Pastor Fricks an den Präsidenten der Kirchenkanzlei, Dr. Werner, über die Durchsuchung des CA-Gebäudes und das Verhör der Mitarbeiter durch Gestapo-Beamte v. 2.1 II. 1940; ADW, a. a. O. Ausführlich beschäftigte man sich danach mit Direktor Schirmacher, der zwar Mitglied der N S D A P war und als Vertrauensmann der Partei im CA galt, dessenungeachtet aber zum Polizeipräsidium mitgenommen und dort einige Tage

11.4. Gleichschaltung und Auflösung. Die Entwicklung bis 1940

225

einen sofortigen radikalen Staatseingriff gerechtfertigt hätte, ließ sich jedoch nicht ermitteln. Die bevorstehende ,Verkirchlichung' der Inneren Mission und die Erfolglosigkeit der auch Einschüchterungszwecken dienenden Hausdurchsuchung durch die politische Polizei gaben Hilgenfeldt vermutlich den letzten Anlaß, um zu handeln: Im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers löste er am 16. März die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege auf. 351 Proteste des Centraiausschusses, der noch einmal die Leistungen der Arbeitsgemeinschaft für die gesamte freie Fürsorge hervorhob und an Hilgenfeldt appellierte, seine Entscheidung zu überdenken, blieben ohne Ergebnis. Freilich erklärte sich die Innere Mission in Weiterführung ihrer erprobten Taktik, ,zu retten, was zu retten war', weiterhin zur Zusammenarbeit mit der NSV bereit.352 Diese tat denn auch so, als sei nichts geschehen und die Aufhebung der Arbeitsgemeinschaft „kein unfreundlicher Akt gegen die Innere Mission" gewesen. Im Gegenteil, versuchten Hilgenfeldt und Althaus zu suggerieren, man habe ihr entgegenkommen wollen, wisse man doch von den alten Spannungen zwischen Centraiausschuß und Liga bzw. Reichsgemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft wegen des starken Einflusses der Caritas auf den Dachverband während der ,Systemzeit'. Althaus warf sogar seine Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche in die Waagschale, um für die These zu werben, daß fruchtbare Arbeit an der Volksgemeinschaft auch von Christen gewisse Opfer, sprich Verzicht auf kirchliche Schwesternstationen und Kindergärten fordere. Die Innere Mission habe in der Vergangenheit Großes geleistet, oft auch im Widerspruch zu den Vorstellungen von Staat und Parteien vor 1933. Jetzt aber „müßten Kirche und Innere Mission wissen, daß sie, nachdem das Volk unter dem Führer die großen Aufgaben erkannt und von volkswegen in Angriff genommen habe, auch auf bisher liebgewonnene Aufgaben verzichten müßten". 353

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352

353

festgehalten wurde. Als er am 1 .III. in seine Wohnung zurückkehrte, stellte man ihn unter Hausarrest; jegliche Kontaktaufnahme mit dem CA wurde auf Wochen hinaus untersagt. Vgl. dazu auch Gerhardt II, 379 f. Ob dies „aus Wut über das Mißlingen seines Lieblingsplanes" geschah, wie Gerhardt, a.a.O., angibt, sei dahingestellt, könnte aber zutreffen. In seinem Schreiben an den CA v. 16.111.1940 teilte Hilgenfeldt nur lapidar mit: „Die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege ist von mir gegründet worden in der Erwartung, durch sie die planwirtschaftliche Gestaltung der freien Wohlfahrtspflege zu ermöglichen. Ich muß zu meinem Bedauern feststellen, daß die Arbeitsgemeinschaft einen entscheidenden Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe nicht geleistet hat. Ich sehe mich daher im Einvernehmen mit dem Stellvertreter des Führers veranlaßt, die Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege mit sofortiger Wirkung aufzulösen." ADW, a. a. O. Das Protestschreiben v. 16.IV. 1940 liegt in drei Fassungen vor; enthalten die beiden ersten Entwürfe noch deutlich kritische Untertöne, so verzichtet die abgeschickte Fassung auf die Betonung der Eigenständigkeit der IM aus religiösen Motiven und enthält nur unvermindert das Angebot, weiter zusammenzuarbeiten. Eine Durchschrift des Briefes ging an den Rdl. Ebd. Prot, der Besprechung im Hauptamt für Volkswohlfahrt v.7.V. 1940; ebd. - Der Partei-

226

II. Die Innere Mission in der Liga der freien Wohlfahrtspflege

Die Einwendungen der CA-Spitze gegen den für die NSV typischen Versuch, mit Hilfe der Taktik von Zuckerbrot und Peitsche die Verbände der freien Wohlfahrtspflege zu zermürben und womöglich die anvisierten Endziele des Nationalsozialismus auf diesem Sektor ohne offenen Kampf durchzusetzen, blieben naturgemäß ohne Resonanz. Gleichzeitig ist es aber auch ein Indiz für die Schwäche des Hauptamtes und seiner führenden Vertreter, wenn sich diese solcher - ebenfalls nur von spärlichen Erfolgen gekrönten - Methoden bedienen mußten, um ihr wohlfahrtspolitisches Programm ein Stück weit zu verwirklichen. Aus heutiger Perspektive wird man konstatieren können, daß trotz aller Erfolge im einzelnen, d. h. auf bestimmten Teilgebieten des Fürsorgewesens, die NSV sich letztlich mit ihren Vorstellungen nicht durchsetzen konnte. Auch wenn zahlreiche Kindergärten, Gemeindepflegestationen und Diakonissenmutterhäuser von Reichsstatthaltern und NSV-Gauwaltern beschlagnahmt wurden, 354 wagte die Berliner Führung den entscheidenden Schritt der völligen Einverleibung weder gegenüber Innerer Mission noch Caritas. Die Verbände wußten sich besser zu behaupten und ihre Möglichkeiten auszuspielen, als Hilgenfeldt und seine Mitarbeiter wähnten. Was freilich geschehen wäre, wenn das Regime den Krieg siegreich beendet hätte, scheint nach dem hier Dargelegten und nach den Erträgen der neueren Kirchengeschichtsforschung zum Dritten Reich ebenfalls kaum zweifelhaft: Weder den Kirchen noch ihren Verbänden wäre eine dauerhafte Überlebenschance angesichts des totalen Zugriffs der Partei auf alle Bereiche der Gesellschaft geblieben.

354

akte von Althaus im B D C ist allerdings zu entnehmen, daß er sich seit 1939 als,gottgläubig' bezeichnete - in der Regel eine Umschreibung für den erfolgten Kirchenaustritt von Parteigenossen. Es handelte sich um Mutterhäuser in Posen und Darmstadt, die in harte Bedrängnis geraten waren. S. zum Darmstädter Elisabethenstift die Skizze von Helmut Talazko v. 8.XI. 1978, ADW, o. Sign., sowie Gerhardt II, 380, und Paul Gürtler, a.a.O., 118 ff.

Es bedarf keiner langen Erörterung und erst recht keiner Begründung, daß wir den Umbruch, der sich durch den Nationalsozialismus in unserem Volk vollzog und vollzieht, mit heißem Herzen miterlebt und bejaht haben. Bejaht den Durchbruch durch müde Resignation zu einem neuen Wollen; durch Gleichgültigkeit und Uninteressiertheit der breiten Schichten unseres Volkes zu lebhafter Anteilnahme an dem Geschick des Volkes; den Durchbruch durch tausend Programme einzelner Interessengemeinschaften zu dem einheitlichen Programm Volksgemeinschaft, den Durchbruch durch die dumpfe Fron, die an verhaßte Arbeit kettete, zum Bewußtsein vom Adel der Arbeit. Daß wir mit heißem Heizen den Grundsatz begrüßt und bejaht haben: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Bejaht den Kampf gegen die Gottlosigkeit. Bejaht das Bekenntnis des Programms, daß der Nationalsozialismus auf dem Boden des positiven Christentums steht. Wie die evangelische Diakonie auf deutschem Boden immer ihr deutsches Gepräge gehabt hat, wie in dem Wichern'schen Kampf um die Volkskirche zum erstenmal das Wort von der deutschen evangelischen Kirche geprägt worden ist, so haben Diakonie und Innere Mission immer sich aufs innigste verbunden gewußt mit dem deutschen Volk, mit seiner Ehre und seiner Schmach, haben gekämpft gegen seinen Niedergang und um seinen Aufstieg. Es konnte darum keine Frage sein, daß man allem großen und reinen Wollen in der Bewegung mit Freude und Vertrauen entgegenkam, daß man in der Auflockerung aller verhärteten und erstarrten Verhältnisse die Möglichkeit erhoffte und begrüßte, auch für die Botschaft des Evangeliums und für seinen Dienst am Volk neue offene Türen, für seinen Samen neues gelockertes Erdreich zu finden.1

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft Die Geschichte der Inneren Mission u n d ihres Centraiausschusses im Dritten Reich kreist im wesentlichen um zwei große, in direktem Kausalzusammenhang stehende Problembereiche: die Auseinandersetzung mit Partei, Staat und N S V und den daraus resultierenden Zwang zur Annäherung an die Reichskirche. Alle anderen Aspekte sind diesen beiden Komplexen untergeordnet bzw. von ihnen abhängig. Die meisten Pfarrer der IM - hier im allgemeinen .theologische 1

Otto Ohl, „Evangelische Diakonie im nationalsozialistischen Staat. Grundsätzliches und Praktisches", Vortrag vor der Evangelischen Frauenhilfe des Rheinlands im Februar 1935; ADWDü, BO, 91/1,3.

228

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Berufsarbeiter' genannt - begrüßten das Dritte Reich und seine Politik 1933 ohne Einschränkungen. Ihre deutschnationale und antidemokratische Grundüberzeugung, die erst spät in einen vorsichtigen Vernunftrepublikanismus eingemündet war, vollzog den Übergang vom Rechtsstaat von Weimar zum nationalsozialistischen ,Maßnahmestaat' (Ernst Fraenkel) ohne Schwierigkeiten. Bei genauerem Hinsehen werden freilich auch Vorbehalte deutlich: Sie lagen bei der Mehrheit der Theologen der Inneren Mission dort, wo der Totalitätsanspruch der Partei und des 1933 von ihr errichteten Regimes mit dem Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens kollidierte. Vereinzelt machten Geistliche schon vor 1933 auf solche Konfliktmöglichkeiten aufmerksam; vielen kam dieser Antagonismus aber erst im Verlauf des Kirchenkampfes zum Bewußtsein. Der Unterschied zwischen den engagierten Parteimitgliedern in der Führungsspitze der Inneren Mission, die häufig auch die Linie der Deutschen Christen vertraten, und jenen, die aus traditionell konservativer Gesinnung und Abneigung gegen die Weimarer ,Systemzeit' zum Nationalsozialismus ja sagten, ist dort festzumachen, wo die genannten Vorbehalte gegen den totalen Zugriff des neuen Staates auf alle Lebensbereiche von der emphatischen Zustimmung zur NS-Politik überlagert wurden. In Kirche und Gesellschaft nach 1933 konnte dieser ohnehin erst im nachhinein genauer zu bestimmende Differenzierungsprozeß nur schwer nachvollzogen werden, was dann zu zahlreichen Mißverständnissen' über 1945 hinaus Anlaß geben sollte. Die Exponenten des radikalen ,linken' Flügels der Bekennenden Kirche wie andererseits die Deutschen Christen und die Ideologen in Partei und Staat vermißten in dem ständigen ,Ja-aber' der Mehrheitsfraktion des Centraiausschusses das klare Bekenntnis zum jeweils eigenen Standpunkt und ordneten dessen Vertreter damit häufig genug in das aus ihrer Sicht feindliche Lager ein. Das heißt, man hielt die Innere Mission entweder für deutschchristlich durchsetzt oder rechnete sie zu den oppositionellen und regimefeindlichen Gruppierungen, die es seitens des Nationalsozialismus zu bekämpfen und letztlich zu eliminieren galt. Ein weiteres Moment muß berücksichtigt werden: Die Repräsentanten der Inneren Mission äußerten sich öffentlich in der Regel sehr zurückhaltend und in Einzelfällen sogar im Widerspruch zu dem, was sie in den vertraulichen Sitzungen der Geschäftsführer und der anderen CA-Gremien vortrugen. Gewiß, auch hier fehlte das Bekenntnis zum Dritten Reich und seinem Führer nicht, aber die Absetzbewegungen gegenüber zahlreichen, die Arbeit der IM berührenden Initiativen der Partei- und Staatsführung, ja gelegentlich offene Kritik, sind in den Akten häufiger zu finden als im Schrifttum, auch wenn solche Kritik meist als das Bemühen um die Korrektur an sich systemwidriger Abirrungen vom vermeintlich ,rechten Wege' nationalsozialistischer Weltanschauung und Politik erscheint. Weil sich Innere Mission seit jeher als ,Innere Mission für das deutsche Volk' verstand, die mit Hilfe der (Re-)Christianierung der Massen - seit Anfang der

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

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30er Jahre sprach man zunehmend von der organisch aufzubauenden Volksgemeinschaft' - erst ,Volkwerdung' im Sinne eines altkonservativem protestantischen Denken entstammenden christlichen Staates ermöglichen würde, fühlte sie sich legitimiert, auch vermeintliche Fehlentwicklungen der NS-Politik beim Namen zu nennen. Dem lag der fundamentale und in seinen Auswirkungen fatale Irrtum zugrunde, Nationalsozialismus und Christentum, besonders jenes protestantischer Provenienz, zögen an einem Strang, § 24 des Parteiprogramms sei mehr als eine unverbindliche Formel und deute substantiell auf die Orientierung aller NS-Politik an den Maßstäben christlicher Ethik hin. Die Erkenntnis, daß dieses keineswegs der Fall war, stand für die Innere Mission erst am Ende eines schmerzlichen Lernprozesses, der ungeachtet dessen nicht zur offenen Distanzierung von der (Wohlfahrts-)Politik des Dritten Reiches führte, sondern ein Bewußtsein förderte, das nach der Devise ,zu retten, was zu retten ist' die Politik pragmatischer Auseinandersetzung bzw. Kooperation nun erst recht fortsetzte und sich ängstlich bemühte, nur keinen Anlaß für gewaltsame Eingriffe von Administration und Parteiapparat in die praktische Arbeit der Anstalten und Einrichtungen der Inneren Mission zu geben. Nach außen hin wirkte dies wie eine ungebrochene Kontinuität der Zusammenarbeit von 1933 bis Kriegsende. Vor allem der von der Dialektischen Theologie geprägte ,linke' Flügel der Bekennenden Kirche, der nach 1945 zunächst an die Schaltstellen protestantischer Kirchenpolitik rückte, hat das so gesehen und neben personellen Veränderungen an der CA-Spitze darauf gedrängt, die künftigen Aufgaben der Inneren Mission zu begrenzen und vor allem durch stärkere Anbindung an die verfaßte Kirche deren Kontrolle zu unterwerfen. Der einleitend abgedruckte Text des rheinischen Provinzialgeschäftsführers Pfarrer D. Otto Ohl bietet, obgleich von 1935 stammend, ein treffendes Beispiel für die Einstellung vieler führender Persönlichkeiten der Inneren Mission zum Dritten Reich. Er enthält die nach 1933 stets aufs neue wiederholten, im folgenden ausführlicher nachzuzeichnenden Motive für das anfangs uneingeschränkte Ja, ganz so, als bahne der Nationalsozialismus Kirche und Innerer Mission endlich den Weg zur erfolgreichen und ungehinderten Arbeit im Dienst am deutschen Menschen'. Diese Ergebenheitsadresse wird in hymnisch-liturgischer Sprache und auf der Negativfolie der republikanischen Epoche präsentiert und historisch mit dem Wollen Wicherns und seinem Versuch, über die Innere Mission den Weg zur kirchlichen Einheit des deutschen Protestantismus zu weisen, verbunden. Das Beispiel erscheint als Zeugnis eines vorbehaltlos zum Nationalsozialismus stehenden christlich geprägten Zeitgenossen; lediglich die Vergangenheitsform der letzten Absätze könnte auf vorsichtige Distanzierung nach Jahren bedingungslosen Vertrauens zum neuen Reich hindeuten. Unabhängig von dieser möglichen Einschränkung muß allerdings betont werden, daß gerade Ohl zu den wenigen Vereinsgeistlichen gehörte, die schon im Vorfeld der Machtergreifung' Bedenken gegenüber dem Nationalsozialismus anmeldeten und im

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Laufe seiner Herrschaft immer erkennbarer von ihm abrückten. Freilich machte auch er seine Kritik niemals öffentlich, weil er fürchtete, den Einrichtungen der Inneren Mission und den in ihnen betreuten Menschen gravierend zu schaden; dennoch hat eine solche Zurückhaltung später die schreckliche Realität einer ausufernden Sterilisationsgesetzgebung bis hin zur .Euthanasie' nicht zu verhindern vermocht. Im nachhinein stellt sich von daher die - notgedrungen hypothetisch bleibende - Frage, ob diese bei den führenden Männern der Inneren Mission allgemein zu beobachtende Strategie ,richtig' war oder ob nicht mutiger öffentlicher Protest bereits in der Anfangsphase des Dritten Reiches mehr ausgerichtet hätte. - In der Tat sind Ohls Ausführungen nicht als bloße taktische Reverenz an den Nationalsozialismus zu verstehen; lange bewahrten er und seine Kollegen einen Restbestand an Vertrauen in die Staats- und Parteiführung in Anlehnung an die 1933 geweckten Hoffnungen. So zählen Nähe und Distanz, Kooperation und Dissens, Vertrauen und Enttäuschung zu den charakteristischen Kennzeichen einer Ortsbestimmung der Inneren Mission im Dritten Reich, ein Verhältnis, dessen Dialektik es schwermacht, zwischen überzeugtem Mitvollzug, notgedrungener Anpassung und punktuellem Widerstand zu unterscheiden, obschon alle drei Phänomene immer wieder nachzuweisen sind.

III.l. Das Jahr 1933 III.1.1. Die Ausgangslage Die Innere Mission und ihr Centraiausschuß waren Anfang 1933 schlecht gerüstet, um den Anforderungen, die mit der .Machtergreifung' des Nationalsozialismus auch auf sie zukamen, von sicherem Boden aus zu begegnen. Ein tiefes Krisenbewußtsein hatte sich der führenden Geistlichen der Zentrale und ihrer Untergliederungen bemächtigt, dessen Ursache in der allgemeinen Notsituation der Zeit, vor allem aber in den längst noch nicht überwundenen Folgen des Devaheim-Skandals lag. Dazu gehörten auch personelle Veränderungen, die zum Ausscheiden aller Direktoren des Centraiausschusses führten und neue Männer in diese Ämter brachten, während ihre Vorgänger entweder pensioniert wurden oder Pfarrstellen in der Provinz übernahmen. Dieser Personalaustausch, dem sich nur der greise Präsident Reinhold Seeberg lange widersetzte, bis auch er im Januar 1933 schließlich sein Amt zur Verfügung stellte,2 blieb nicht ohne Rückwirkungen auf Ansehen und Arbeitsmöglichkeiten der neuen Verbandsspitze. Das hierdurch noch verstärkte Krisenbewußtsein innerhalb der CA-Führung löste aber einen Reflexionsprozeß aus, der nach dem Selbstverständnis und nach der Verantwortung der Inneren Mission für die Geschehnisse des Jahres 2

Zum Personalaustausch vgl. Anm. 39.

III.l. Das Jahr 1933

231

1931 fragte, wobei man zugleich nach externen Faktoren suchte, die den Zusammenbruch mit herbeigeführt hatten. Von dort war es nicht weit zu politischen Schuldzuweisungen an die Adresse der Weimarer Gesellschaft, ihre Wertvorstellungen und ihre Wohlfahrtspolitik. Auffällig in diesem Kontext ist für den Historiker die Vermengung von theologischen und ideologischen Momenten; beide sind nicht ohne weiteres voneinander zu trennen und gesondert aufzuschlüsseln und bestätigen den Verdacht, daß seit der Revolution eingefahrene gesellschaftskritische (Vor-)Urteile eher theologisch überhöht und damit legitimiert wurden, als daß von genuin geistlicher Besinnung aus neue Impulse zur Formierung eines realistischeren Gesellschaftsbildes ausgegangen wären. Ähnlich wie sein Vorgänger Johannes Steinweg, der schon im Frühjahr 1932 davon gesprochen hatte, man stehe an einer,Zeitenwende', die politisch-ökonomische Krise wurzele in den Ideen von 1789, deren Versagen nunmehr offenkundig sei,3 arbeitete auch der neue CA-Direktor Walter Jeep in einem Ende des Jahres verfaßten Leitartikel heraus, wie sehr die Innere Mission in der Vergangenheit von diesen Ideen beeinflußt worden sei und die geistlichen Motive ihres Handelns in den Hintergrund gedrängt habe. Auch sie sei teilweise der Anziehungskraft jener Ethik erlegen, die in Erfüllung der Pflicht für den Nächsten, für die Gesellschaft, für die Klasse, für die Volksgemeinschaft die höchste Bestimmung des Menschen sehen wollte. Die sozialistische Zauberformel ,Evolution und Fortschritt', die Prävalenz ökonomischer Kategorien, ja selbst der Begriff Wohlfahrtspflege' wiesen auf die materialistische, rein innerweltliche Basis solchen Denkens hin. Demgegenüber bedeute der Dienstgedanke des Nationalsozialismus schon eine qualitative Verbesserung: „,Gemeinnutz geht vor Eigennutz' heißt hier das Dienstideal, zu dem wir aufgerufen werden. Kein Wunder, daß dieser Programmsatz zwingende Kraft hat, wenn er, wie es der Fall ist, seinen Lebenssaft nimmt aus dem Urboden der Gemeinschaft des Volkstums, der Nation, der Rasse, zumal in einer Zeit, wo alle gesunden und artrecht empfindenden Menschen erkennen, daß Deutschlands Zusammenbruch aus der Überfremdung mit volkswidrigem Geist und aus gemeinschaftszerstörendem Individualismus hergekommen ist." Doch könnten - so Jeep weiter - weder Klassensolidarität noch das Ziel der Volksgemeinschaft die Arbeit der Inneren Mission begründen, die sich allein vom Auftrag Christi herleite, seine Botschaft zu verkünden und dem Nächsten zu dienen. Wenn man das in der Vergangenheit nicht immer klar genug erkannt habe, sei das ein Hinweis auf das Versagen der Kirche, die im Gewände der Staatskirche oftmals aufgehört habe, „Gemeinde zu sein und der Welt die Gemeinde Jesu als erfahrbare Wirklichkeit zugänglich zu machen". Im Kampf der Weltanschauungen hätten deshalb auch viele Christen kritik- und arglos „Nation und Konfession, Volkstum und Kirche, Politik und Evangelium" miteinander verwechselt und das Wissen darum verlo3

S. nochmals Kap. II. 3.6.3., Anm.252.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

ren, „daß evangelischer Dienst nicht allerlei und recht viel Gutes zu tun sich bemühen soll, sondern den einen Auftrag von Gott hat, Menschen in die Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi einzufügen und ihnen damit die Freistatt des Friedens, die Quelle des Lebens und die Liebe Gottes zugänglich zu machen". 4 Richtete sich dieses vor der Machtergreifung' verfaßte und gedruckte Statement noch gegen Sozialisten und Nationalsozialisten und sparte die Innere Mission selbst nicht aus, wenn es selbstkritische Überlegungen zu den religiösen Grundlagen der Arbeit anstellte, so setzte ein weiterer Artikel Jeeps für die Aprilnummer der ,Inneren Mission' die Akzente völlig anders: 5 Seine Analyse des zur Macht gelangten Nationalsozialismus und seines gesellschaftspolitischen ,Programms' begann mit einer Absage an das ,überwundene liberaldemokratische System', das schon in der Revolution von 1918/19 seine Unfähigkeit bewiesen habe, die deutsche Gesellschaft zu reorganisieren und ihre Probleme dauerhaft zu lösen. Fehlende schöpferische Produktivität, d.h. fehlende Orientierung an den (völkischen) Quellen der Nation und ihrer Geschichte, die Propagierung einer falschen Freiheitsidee und die Überordnung des Ideals der Gesellschaft über die Autorität des Staates hätten schon das Kaiserreich zerstört und erst recht die Republik in den Konkurs getrieben. Nicht vom einzelnen Bürger oder von der Volkssouveränität erhalte der Staat diese Autorität, „sondern von einer anderen Instanz [...], die ihre Wurzel im Metaphysischen" habe. Dies signalisiere die entscheidende Wendung der deutschen Geschichte am 30. Januar 1933: als Entwicklung ,weg vom „Ich zum Ganzen'", vom individuellen Glück zu den Lebensinteressen der Nation, von bloßer Diesseitigkeit hin zur religiösen Vertiefung des Volkstums, für die beide christliche Konfessionen die Garanten seien.6 4

5 6

Walter Jeep, „Unseres Volkes Not und unser Dienst", in: IM 28.1933, 1-9, Zitate ebd., 5.9. - Der Satz des NSDAP-Parteiprogramms,Gemeinnutz geht vor Eigennutz' übte deshalb im Raum der Kirche eine solche Faszination aus, weil er Bestandteil des berühmten Paragraphen 24 war, der das Bekenntnis der Partei zum ,positiven Christentum' enthielt. Zum Text vgl. Gottfried Feder, Das Programm der N. S. D. A. P. und seine weltanschaulichen Grundgedanken, 20. „Wir evangelischen Christen im neuen Deutschland", in: IM 28.1933,73-77. „Die Kräfte aus einer anderen, höheren Welt werden nicht mehr als Werte, über die auch der Mensch letztlich allein zu befinden hat, angesehen und bestenfalls zu einem schmükkenden Beiwerk des Lebens herabgewürdigt, sondern als maßgebend für die Zukunft unseres Volkes bejaht"; ebd., 74 f. Mit dem Satz, die Konfessionen seien die Garanten für eine hoffnungsvollere Entwicklung, spielt Jeep auf die Regierungserklärung Hitlers anläßlich der Vorlage des Ermächtigungsgesetzes am 23.III. 1933 an; vgl. Max Domarus, Hitler. Reden 1932-1945, Bd. 1,229-237,232.236, und Sten. Ber. RT, VIII. WP1932/33, Bd.457, 28.30.- Jeep stand mit diesen Ausführungen innerhalb des protestantischen Verbandsspektrums nicht allein; entsprechend argumentierte z. B. Annerose Fröhlich, Dozentin an der Sozialen Frauenschule des Deutsch-Ev. Frauenbundes: „Der Ruf an die evangelische Frau im nationalen Staat", in: Evangelische Frauenzeitung 34.1932/33, 148-150, wieder abgedruckt bei J-C. Kaiser, Frauen in der Kirche, 170-172.

III.1. Das Jahr 1933

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Darum sage die Innere Mission ohne Vorbehalte ja zum neuen Deutschland und seinem Führer. Sie werde nicht abseits stehen, sondern auf ihre Weise tatkräftig am Wiederaufbau Deutschlands mitwirken. - Ähnlich äußerten sich andere führende Vertreter der Inneren Mission im Frühjahr 1933; so betonte der Leiter der Wohlfahrtsabteilung des CA, Hermann Koller, man werde nun mit ganz anderer Motivation mitarbeiten können als während der,Systemzeit', wo es der Staat der Inneren Mission oftmals sehr schwer gemacht habe, dem deutschen Volk zu dienen. 7 Adolf Stahl, inzwischen Landesgeschäftsführer in Hessen-Nassau, rechnete im gleichen Blatt mit der Weimarer Fürsorgegesetzgebung ab, der er im Zusammenhang mit der Durchführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes mangelndes Verständnis für die Kategorien Blut und Rasse vorwarf; weiterhin monierte er, das gleichberechtigte Nebeneinander von „Marxismus, Christentum, Freidenkertum, Humanitätsreligion, Pazifismus, Bolschewismus" habe jede wirkliche Erziehung unmöglich gemacht, denn „der neutrale Staat tolerierte alles", anstatt ein einheitliches Erziehungsideal vorzugeben, wie es der Nationalsozialismus heute tue. 8 Was aber erhoffte die Innere Mission vom Nationalsozialismus? Es klang im zweiten Beitrag Walter Jeeps schon an: den starken autoritären Staat als Schutzmacht und Garanten für das ungehinderte Wirken der Kirchen und ihrer Verbände. ,Dem Bösen wehren, Recht und Ordnung wahren, die Lebensinteressen der Nation verantworten', so sahen mit Jeep viele evangelische Theologen Programm und Aufgaben des Nationalsozialismus bezogen auf den kirchlichen Bereich.9 Gerade die Innere Mission verband mit diesen Erwartungen sehr konkrete Inhalte; dachte man doch in diesem Zusammenhang vor allem an die sogenannte Freidenker- und Gottlosenbewegung, die, seit der Revolution aus den Reihen der sozialistischen Parteien kommend und dann besonders von der KPD gefördert, nicht nur für die strikte Trennung von Staat und Kirche, sondern darüber hinaus für den Kampf gegen jede Form von Religion überhaupt geworben hatte. Den zuständigen Behörden und Ministerien der Republik warf man - übrigens zu Unrecht - vor, daß sie diese Auseinandersetzung, die sich freilich kaum auf intellektueller Ebene, sondern oftmals in rohesten Formen linkssozialistischer Agitation und Propaganda vollzog, nicht mit allen ihr zur Verfügung stehenden politischen und polizeilichen Mitteln stärker eingeschränkt - am besten freilich ganz unterbunden hätten. In frischer und schmerzlicher Erinnerung waren noch die polemischen, oft auch mit höhnisch-triumphierenden Untertönen versehenen Kommentare mancher Blätter der sozialistischen und linksliberalen Presse zum Devaheim-Skandal, der diesen laizistisch orien-

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8 9

„Totale Kirche. Bemerkungen zur Lage der Inneren Mission in der Gegenwart", in: IM 28.1933,97-100, bes. 99. „Öffentliche und freie Jugendpflege im neuen Staat", ebd., 128-138,134. Jeep, a. a. O., 74.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

tierten Blättern alle seit langem gepflegten Vorurteile gegenüber Religion und Kirchen bestätigte.10 - Bereits 1922 hatte der Centraiausschuß die Apologetische Centrale (Apo) gegründet, um solchem Gegenentwurf zum Idealbild einer christlichen Gesellschaft mit den ,Waffen' von Theologie und Kirche entgegenzutreten. Obschon sich die Apo etwas darauf zugute hielt, die organisierte sozialistische Religionskritik in erster Linie mit geistigen und religiösen Mitteln zurückzudrängen, hätte sie wirksamere flankierende Maßnahmen des Staates nur begrüßt. Sie und mit ihr Landeskirchen und die Innere Mission in ihrer Gesamtheit übersahen dabei jedoch den paritätischen Charakter des Staates, der getreu seinem Verfassungsauftrag in Weltanschauungsfragen Neutralität, zumindest aber Zurückhaltung üben mußte und deshalb nicht einseitig für das Anliegen der Kirche Partei ergreifen durfte. 11 Den zweiten Aspekt, die Wahrnehmung der,Lebensinteressen der Nation' durch den neuen Staat, identifizierte man ohne Abstriche mit den Zielvorstellungen von Kirche und Innerer Mission. Diesem Verständnis zufolge schuf der Nationalsozialismus die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen die Verkündigung des Evangeliums wieder ungehindert alle ,Volksgenossen' erreichen konnte, um so die Wiedergeburt der Nation durch die Christianisierung der Massen religiös zu überhöhen und damit erst zur Vollendung zu führen. Deshalb wäre die Beschränkung der NS-Revolution auf ihr rein innerweltliches Ziel - die Neuformung der Volksgemeinschaft auf erbgesunder Grundlage - ein Stehenbleiben auf halbem Wege: „Erst wenn zu der politischen Bekehrung diese innere religiöse Umwandlung der Massen kommt, ist der neue Staat wirklich fest gegründet." 12 Hier lagen für Jeep und seine Gesinnungsfreunde die großen Aufgaben der Inneren Mission im Dritten Reich: Gott hatte ihr die einmalige und unwiederholbare Chance gegeben, „die Durchdringung des ganzen Volkes mit christlichem Geist" zu vollziehen. Werde diese geschichtlich letzte Möglichkeit nicht genutzt, bleibe nach menschlichem Urteil nur das Chaos; dann aber würde das Schicksal des deutschen Volkes besiegelt sein.13 - Die politische Revolution sollte mithin auch zu einer religiösen werden. Als Innere Mission wollte man an der allgemeinen »geistigen Mobilmachung' teilhaben und die Dynamik der Zeit-

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Vgl. etwa „Der Millionenbetrug der Kirchengewaltigen. Der Mammutbetrugsprozeß gegen Devaheim-Pastoren", in: Rote Fahne Nr. 107 v. 19.V. 1932; „Pastoren-Paradies Heiligendamm", ebd., Nr. 112 v. 25.V. 1932; „Der Devaheim-Skandal vor Gericht", in: Leipziger Volkszeitung v. 19.V. 1932,1. Beilage; schließlich das Flugblatt einer syndikalistischen Freidenkerorganisation: H. W. Gerhard, Der Devaheim-Skandal - ein Bankrott der christlichen Moral, o.O. u. o.J. [1932], das im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam aufbewahrt wird. S. dazu J-C. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, Kap. C und passim. Walter Jeep, „Zur Neugestaltung der Inneren Mission", in: IM 28.1933,195-201,199. Ebd., 200 f.

III.l. Das Jahr 1933

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läge, d. h. vor allem die alle erfassende Hoffnung auf eine grundstürzende Besserung in politischer, ökonomischer, sozialer und geistiger Hinsicht zur Missionierung und Wiedergewinnung der kirchlich längst entfremdeten Bevölkerungsteile in Anspruch nehmen. Schon im November 1932 hob Adolf Stahl in einem Vortrag hervor, die Kirche habe seit langem den Mut und die Glaubenskraft „zu einer die Gemeinde tragenden und belebenden transzendenten Hoffnung" verloren. Jetzt komme der Nationalsozialismus und ziehe „die Gemeinden in den faszinierenden Bann einer starken innerweltlichen Hoffnung", was beschämend sei, jedoch auch Ansporn für die Kirche sein könne, wenn sie sich auf die Kraft der Christushoffnung neu besinne. 14 An den Berührungspunkten christlicher und säkularer Eschatologie aber konnten sich die Geister scheiden. Hier trafen der Totalitätsanspruch des NS-Staates und jener andere der Kirche, die in der staatlichen Form nur das äußere Gehäuse zur Verkündigung ihrer ebenfalls auf den ganzen Menschen zielenden Botschaft sehen wollte, unvermittelt aufeinander. Trotz weitgesteckter Erwartungen an das ,Dritte Reich' wies Jeep als Direktor des Centraiausschusses der Inneren Mission doch auf diese Grenzen unüberhörbar hin. Bei allem politischen Tun bleibe der Mensch Geschöpf Gottes und verdanke sich diesem Schöpfer. Auch im Zeichen eines glücklichen völkischen Neubeginns müsse der Mensch demütig das Wissen um die Schuldhaftigkeit seiner Existenz bewahren. Es sei die besondere Verantwortung der Christen, dies dem Nationalsozialismus immer wieder in Erinnerung zu rufen. 15 Vor den Geschäftsführern der Provinzial- und Landesverbände verlas D. Jeep am 20. März eine 8-Punkte-Erklärung, in der er die Abgrenzung zwischen völkischer Weltanschauung und christlicher Glaubensüberzeugung noch weit deutlicher zum Ausdruck brachte. Nachdem er einleitend die Leistungen des Nationalsozialismus gewürdigt hatte, warnte er vor einer Übersteigerung des Machtdenkens, durch das die werdende Volksgemeinschaft wieder zerstört werden könne; Macht dürfe nicht mit Wahrheit verwechselt werden, weil es Lebensbereiche wie den Glauben und die aus ihm fließende religiöse Sittlichkeit gebe, die allein Gott unterstellt seien und auf die der Staat kein Zugriffsrecht habe. Der Nationalsozialismus zeige die Tendenz, zum „Religionsersatz" zu werden, bei dem Werte wie „Rasse, Volk, Nationalität" an die Stelle des Glaubens und Gehorsams gegenüber dem Schöpfer träten. 16 Das waren klare und kritische Worte des führenden Mannes der Inneren Mission, die man bei jener Minderheit unter den Vereinsgeistlichen und sonst hier tätigen Theologen vergeblich sucht, die der NSDAP und den Deutschen Chri-

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15 16

„Ehrenamtliche und berufliche Mitarbeit der freien Liebestätigkeit im Wandel der Zeit", gehalten auf einer Tagung für die Schulung ehrenamtlicher Mitarbeiter der Inneren Mission v.21. bis 24.XI. 1932; ADWDü, BO, 10/2-3,2. Jeep, „Wir evangelischen Christen", a. a. O., 75 f. Prot, der GK. v. 20.111.1933; ADW, CA 761 XV.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

sten zuneigten. Diese scheint in den ersten Monaten nach der Machtergreifung' allein die Sorge umgetrieben zu haben, die Innere Mission könne die Gunst der Stunde verpassen und den Anschluß an die gesellschaftliche und kirchliche Entwicklung verlieren. Angesichts der Ungewißheit, ob und in welchem Rahmen die konfessionelle Liebestätigkeit weiterbestehen würde, und Gerüchten von einer bevorstehenden .Gleichschaltung' auch der christlichen Verbände besaßen derartige Befürchtungen zwar einen realistischen Hintergrund. Aber es ist doch festzuhalten, daß die dezidierten Nationalsozialisten unter den IM-Mitarbeitern in der Regel blind blieben für die Totalität des Weltanschauungsanspruchs ihrer Partei, der sie damit, ohne es vielleicht in jedem Fall zu wollen, Kirche und Innere Mission auszuliefern bereit waren. 17 Die Mehrheit der Geschäftsführer stützte indessen den Kurs Jeeps, weil sie darauf vertraute, daß er die Politisierungstendenzen, denen die Deutschen Christen Innere Mission und Kirche aussetzten, abwehren würde. Ja, einzelne unter ihnen betonten sogar, man sei als Innere Mission nicht nur für den staatsbejahenden Teil des Volkes da, sondern trüge auch Verantwortung für beiseite stehende Minderheiten wie die Kommunisten, selbst wenn man ihre politischen Ansichten nicht billige. Auch unter den Bedingungen der Republik habe die freie Wohlfahrtspflege Großes geleistet was wohl heißen sollte, es sei ein Unding, nun die ganze Arbeit dieser vergangenen Epoche pauschal zu diskreditieren.18 Die ersten Stellungnahmen führender Vertreter der Inneren Mission zur politischen Lage nach der Machtergreifung' zeigen somit bei überwiegender Zustimmung eine gewisse Zwiespältigkeit in bezug auf die Frage nach der weiteren (kirchen-)politischen Entwicklung und der Durchsetzung des Weltanschauungsmonopols der Partei. Eine letzte innere Reserve und das Gefühl, trotz großer Sympathien für die .Bewegung' als Kirche und Innere Mission noch immer jenem Dogma der .Überparteilichkeit' im Sinne der politischen Vergangenheit verpflichtet zu sein, bewahrte man sich auch weiterhin. So erwies sich das konservative Beharrungsvermögen des Centraiausschusses als Hemmnis gegenüber einer zu raschen und bedenkenlosen Angleichung an die neuen Verhältnisse. Und damit spiegelt seine ,Politik' in der Anfangsphase nur die Grundhaltung der deutschen evangelischen Kirche insgesamt wieder, in der die verschiedenen Gruppen um ihre Einstellung zum Nationalsozialismus und seinen kirchlichen Zielen miteinander rangen; ein Übergreifen des Kirchenkampfes auch auf die Innere Mission schien damit vorprogrammiert. Daß dies - abgesehen von den

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Dieses gilt etwa für die Pastoren Stahl/Wiesbaden, Wendelin/Dresden und ganz besonders für Schirmacher und Themel, beide Berlin. Vgl. etwa den in Anm. 8 genannten Aufsatz Stahls, die Ausführungen Wendelins auf der GK v.20.111.1933, a.a.O., und den Vortrag Themeis anläßlich der Hundertjahrfeier des Rauhen Hauses: „Die Innere Mission im Aufbruch der Nation", in: IM 28.1933,212-221. So ungenannte Diskussionsteilnehmer in der erwähnten GK.

III.l. Das Jahr 1933

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Jahren 1933/34 - nicht oder nur in abgeschwächter Form erfolgte und die gesellschaftliche Außenwirkung evangelischer Liebestätigkeit kaum beeinträchtigte, zählt zu den Besonderheiten einer Entwicklung, die grosso modo für den Verbandsprotestantismus insgesamt zutrifft. Die Integrität der Organisation besaß Priorität vor der öffentlichen Parteinahme für die eine oder andere Richtung, was freilich nicht heißt, daß auch hinter den Kulissen Einigkeit herrschte. Die Kontrahenten wußten sich jedoch - soviel sei hier schon vorweggenommen - in der gemeinsamen Verantwortung verbunden und stellten ihre jeweiligen kirchenpolitischen Optionen dann zurück, wenn die Geschlossenheit der Verbandsarbeit und die Einheit des Werkes auf dem Spiel standen. III.1.2. Satzungsdiskussionen

und Reichskirchenverfassung

Angesichts der in jüngster Zeit vorgelegten großen Darstellungen zur Geschichte des Kirchenkampfes müssen die Ereignisse, die im Juli 1933 zur Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche führten, an dieser Stelle nur insofern noch einmal nachgezeichnet werden, 19 als sie auf den Verbandsprotestantismus zurückwirkten. Ähnlich wie beim Verfassungsneubau der Landeskirchen nach der Revolution von 1918 versuchte dieser seit dem Frühjahr 1933, auf die Entwicklung Einfluß zu nehmen, um die eigene Position zu sichern. Wenn eingangs von äußeren Zwängen die Rede war, die zu einer Annäherung der Verbände und vor allem der Inneren Mission an die Reichskirche drängten, so gilt diese Feststellung für das. Jahr 1933 nur in abgeschwächter Form. Zwar spielten hier auch Momente einer generellen Verunsicherung durch die nationalsozialistische Gleichschaltungsdynamik eine Rolle, sie traten jedoch gegenüber dem Bemühen zurück, den ausstehenden Neubau der Kirche im Organisationsinteresse aktiv mitzugestalten. Vor allem hoffte man auf eine Besserung des seit jeher von einer gewissen Distanz geprägten Verhältnisses zu den verfaßten Kirchen, indem man sie stärker in die Verantwortung für die Innere Mission einband, ohne doch in direkte Abhängigkeit von ihnen zu geraten. Die Freiheit der Verbandsarbeit behielt Vorrang vor einer zu engen Integration in die kirchliche Hierarchie, von der man eine ,Verbehördlichung' und damit eine innovationsfeindliche Erstarrung der evangelischen Wohlfahrtspflege befürchtete. Die Kirche sollte diesen Freiraum garantieren, aber gleichzeitig die verschiedenen Werke als ihr zugehörig anerkennen, um diesen in ungewisser Zeit ein Mindestmaß an Schutz zu sichern. Natürlich glich dies in manchem der versuchten Quadratur des Kreises, da es historisch gewachsene Gegensätze zu vereinen galt, die nicht ohne weiteres von den Beteiligten ignoriert werden konnten. Es kam deshalb darauf an, welche äußeren Faktoren die eine oder andere Seite zu größerer Nachgiebigkeit und Kompromißbereitschaft bewegen würden.

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Vgl. nochmals die großen Arbeiten von Kurt Meier und Klaus Scholder.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

III.1.2.1. Devaheim, Kirche und Satzungsfragen 1930-1933 Die Klärung des Verhältnisses von Innerer Mission und Kirche muß weiterhin im Kontext der seit Kriegsende anhaltenden Satzungsdiskussion gesehen werden, von der bereits an anderer Stelle dieser Arbeit die Rede war.20 Wie erinnerlich, ging es 1920/21 und 1928/29 vor allem darum, aus dem Centraiausschuß als locker gefügter Honoratiorenversammlung ein schlagkräftiges Instrument zur Außenvertretung der Inneren Mission zu machen. Die Beteiligung der Provinzial- und Landesverbände zusammen mit den Fachverbänden sollte der Interessenwahrung aller Mitglieder dienen und verhindern, daß der Centraiausschuß sich behördenähnlich verselbständigte und den Kontakt zu seinen Werken und Einrichtungen verlor. Ganz glücklich war man über die letzte Satzungsänderung von 1928/29 jedoch nicht, die den Dualismus zwischen Central verband und Centraiausschuß beseitigte und den Hauptausschuß als geschäftsführendes Organ des 1920/21 geschaffenen Centraiverbandes konstituierte, der dann wiederum den Namen ,Centraiausschuß' erhielt: Die hohen Mitgliederzahlen des neuen CA, die weitgehende Beschränkung seines Hauptausschusses auf mehr technische Fragen, überhaupt die vielfach kritisierte Schwerfälligkeit des Apparats sollten zugunsten neuer, .schlankerer' Lösungen abgebaut werden. 21 Wieder einmal gab die Devaheim-Affäre den Anstoß zu derartigen Überlegungen, denn ganz offenkundig hatten sich in diesem Fall die Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten des CA nach der alten Satzung als ungenügend erwiesen und sollten einer effizienteren Organisationsstruktur Platz machen. Das war leichter gesagt als getan; hatten doch die Aufgaben der Inneren Mission seit dem Kriege in einem Maße zugenommen, daß mit der Geschäftsführung des CA durch einen ,Sekretär', wie man den leitenden Vereinsgeistlichen bis 1920 nannte, und wenige Mitarbeiter die Herausforderungen der Nachkriegsära nicht mehr bewältigt werden konnten. Auch lagen die Ursachen des Beinahe-Zusammenbruchs der Inneren Mission nicht so sehr in einem aufgeblähten Verwaltungsapparat, sondern im Fehlen klarer Kompetenzen der Kontrollinstanzen und in der Schwäche des geschäftsführenden Direktors Gerhard Füllkrug, der von seiner Persönlichkeit und seiner Stellung als Leiter der Volksmission her die divergierenden Interessen der übrigen Abteilungen nicht hinrei-

20 21

Vgl. Kap. 1.2.3. Diese Forderung erhoben zahlreiche Geschäftsführer und die Vorsteher einzelner Einrichtungen; vgl. das Schreiben P. Walter Zieglers/Karlsruhe an P. Dr. Wenzel/Berlin v. 10.X. 1931, das Referat P.D. Studemunds/Schwerin auf der Delegiertenkonferenz der luth. Landesvereine für IM am 6.XI.1931 in Hannover, P.Constantin Frick/Bremen in „Änderungsvorschlägen" zur Satzung v. 10.XI.1931, in besonders scharfer Form P.Fritz v. Bodelschwingh/Bethel in „Bemerkungen" zu den Vorschlägen Fricks v. 1 .XII. 1931 und Landesbischof Kortheuer/Wiesbaden für die Südwestdeutsche Konf. f. IM in einem Schreiben an P. D. Jeep v. 1 l.XII. 1931; alle Schriftstücke in ADW, CA 100 III.

III.l. Das Jahr 1933

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chend miteinander zu verbinden wußte. Während nach 1918 das Gebiet der reinen Wohlfahrtspflege innerhalb der IM wachsende Aufmerksamkeit beanspruchte, rückte der volksmissionarische Sektor zunehmend in den Hintergrund. Die Direktoren der Wohlfahrts- und der wissenschaftlichen Abteilung, Johannes Steinweg und Adolf Stahl, die alle wichtigen Verhandlungen mit Ministerien und Behörden sowie mit den übrigen Spitzenverbänden führten, gewannen dadurch in und außerhalb der Inneren Mission an Popularität und Einfluß, wohingegen Gerhard Füllkrug und sein Arbeitsfeld mehr im Schatten dieser Entwicklung standen, was sich auch auf Füllkrugs Position an der Verwaltungsspitze des C A negativ auswirkte. 22 Hinzu traten persönliche Spannungen zwischen den Direktoren, die einen hohen Energieaufwand beanspruchten, die Führungsarbeit oftmals lähmten und die Verantwortlichen darin hemmten, ihren Kontroll- und Koordinierungsverpflichtungen besser nachzukommen. 2 3 Wie später noch einmal aus der Rückschau des Jahres 1933 24 lastete man die Ursachen dieser ,Verbürokratisierung' evangelischer Wohlfahrtspflege nach der Devaheim-Katastrophe immer wieder der Republik und ihrer Ausweitung und 22

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„Leider zeigte der verantwortliche Leiter des CA, D. Füllkrug, dem die Innerlichkeit der Arbeit ernstes Anliegen war, nicht die Kraft und noch weniger die Fähigkeit, die missionarische Seite stärker zur Geltung zu bringen, so daß der Eindruck entstehen konnte, als ob sich die Arbeit des CA überhaupt nur in äußerer Arbeit erschöpfte." Freilich habe das auch in der Natur der Sache gelegen, „denn rein religiös-missionarisch bestimmte Arbeit fallt nie in demselben Maße in die Augen, wie die wohlfahrtspflegerisch bestimmte". So der Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses und spätere CA-Präsident P. Frick in einem ausführlichen Schreiben an den ehemaligen Vertreter des EOK im Hauptausschuß des CA, OKonsR Lic. Dick v. 16.1X. 1931; EZA, EOK Gen X1I-12-10. Diese Unzuträglichkeiten entzündeten sich immer wieder an persönlichen und sachlichen Gegensätzen zwischen Füllkrug und den übrigen Direktoren und kulminierten im Frühjahr 1930 in einem gemeinsamen förmlichen Mißtrauensvotum der Pastoren Beutel, Steinweg, Dr. Schweitzer und Stahl gegen den geschäftsführenden Direktor, dessen Rücktritt Stahl gegenüber dem CA-Präsidenten Prof. Seeberg als notwendiges „Opfer" bezeichnete, das „für die Arbeit des CA segensreich sein würde". BA, NL Reinhold Seeberg, Nr. 43. Schon am 21.1.1928 hatte ein von 12 Landes- und Provinzialverbands-Geschäftsführern im Vorfeld der Satzungsänderung an den Finanzausschuß des Centraiverbandes gerichtetes Schreiben in überaus deutlicher Form Füllkrugs Abberufung gefordert: Der neu vorgesehene Posten des Ersten Direktors habe mit dem des geschäftsführenden inhaltlich nichts mehr zu tun; deshalb sei es auch nicht möglich, daß der bisherige Amtsinhaber „ohne weiteres in das neu zu schaffende Amt einrückt"; ADW, PAflM, lfd. Nr. 55. - Da der als Nachfolger Füllkrugs in Aussicht genommene Kandidat, D. Ohl/Langenberg, seine Berufung nach Berlin ablehnte, blieb Füllkrug solange, allerdings nicht als leitender Direktor, da in der Sitzung des Hauptausschusses am 5.XI. 1930 Johannes Steinweg in das im Zuge der Satzungsrevision von 1929 neugeschaffene Amt des nunmehrigen .Ersten Direktors' berufen wurde. Steinweg konnte seine Vorstellungen aber nicht mehr in vollem Maße durchsetzen, da er zusammen mit den anderen Direktoren unter Einschluß Füllkrugs im September 1931 infolge des Devaheim-Zusammenbruchs ausscheiden mußte; vgl. das Prot, der Hauptausschuß-Sitzung; ADWDü, BO, 10/1-1,1-11. Vgl. die Anm.6,7,8 dieses Kap.

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Reglementierung der Fürsorge an, - meist ohne zu begreifen, daß die erklärte wohlfahrtsstaatliche Orientierung der Weimarer Koalitionsparteien eine legislative Ordnung mit zahlreichen Ausführungsbestimmungen notwendig machte, um durch den Zufluß öffentlicher Mittel und seine Kontrolle die Wirksamkeit dieser Politik zu sichern und das fragile Gleichgewicht zwischen öffentlichen und freien Trägern zu gewährleisten. Andererseits ist zuzugeben, daß damit gerade die freie Wohlfahrtspflege vielfältigen Auflagen unterworfen wurde, die von gesundheitspolizeilichen Vorschriften bei Einrichtung von Kindergärten bis hin zu den gesetzlich fixierten Qualifizierungsmerkmalen ihrer hauptamtlichen Mitarbeiter in Krankenhäusern, Anstalten und sonstigen Institutionen reichten.25 Angesichts dieser Entwicklung sehnten sich viele Vereinsgeistliche nach den überschaubaren und kaum plötzlichen Wechseln unterliegenden Verhältnissen der Vorkriegszeit zurück. Wenn diese schon nicht wiederherstellbar waren, sollte wenigstens durch Straffung des Verwaltungsapparates des CA, d. h. durch eine abermalige Änderung der Satzung die Gewähr dafür gegeben werden, daß sich Vorkommnisse wie der Devaheim-Skandal nicht wiederholen konnten. Auf solchen Überlegungen basierte die seit Mitte 1931 erneut intensiv geführte Satzungsdiskussion innerhalb des Centraiausschusses. Sie kreiste um mehrere Fragenkomplexe: Wie sollte die neue Organisationsstruktur des CA aussehen? Welche Aufgaben sollten Vorstand, Hauptausschuß und Mitgliederversammlung erhalten, wenn Finanz- und Verwaltungsausschuß, in denen bislang die ausschlaggebenden (Vor-)Entscheidungen gefallen waren und die deshalb als Träger zentraler Verantwortlichkeiten an Autorität verloren hatten, wegfallen würden? Wie konnten die verstärkt auf Mitsprache drängenden Fachverbände angemessen berücksichtigt werden, und wie schließlich waren die angespannten Beziehungen zu den Landeskirchen, zum Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß und zum preußischen Evangelischen Oberkirchenrat auf eine neue, bessere Grundlage zu stellen? - Die Beantwortung gerade dieser letzten Frage erhielt im Laufe der Diskussion durch die - wenn auch widerwillig erfolgten finanziellen Stützungsaktionen im Gefolge der Devaheim-Angelegenheit immer größere Bedeutung; auf sie soll deshalb näher eingegangen werden.

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Frick sprach in seinem erwähnten Schreiben an Dick v. 16.IX.1931 von „zeitgemäßem Luxus", mit dem die sonst so kostengünstig arbeitenden Einrichtungen der IM auf Weisung der staatlichen Wohlfahrtspolitiker hätten ausgestattet werden müssen, und kritisierte den „Examensfimmel", den die Professionalisierung der Fürsorge hervorgebracht habe, ohne daß die beruflichen Qualitäten der Mitarbeiter dadurch verbessert worden seien; geradezu das Gegenteil sei eingetreten [!], wovon natürlich keine Rede sein konnte. - In ein ähnliches Horn stieß auch P. Paul-Gerhard Braune, der Leiter der Betheler Zweiganstalt Lobetal, als er wenige Monate später „auf die Schwierigkeiten [verwies], die sich aus der Demokratisierung und Einführung des parlamentarischen Betriebes für die Führung der Geschäfte ergeben" hätten; vgl. den Prot.-auszug der Sitzung des Elferausschusses v. 5.II. 1932; ADW, CA 100 III.

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Schon rasch nach dem Inkrafttreten der revidierten Satzung von 1928/29, die im Juni 1929 die Zustimmung des preußischen Staatsministeriums erhielt,26 wurde kirchlicherseits Kritik an den neuen Statuten laut. So monierte das Kirchenbundesamt, daß sein Vertreter nur zu den vierteljährlich stattfindenden Hauptausschußsitzungen zugelassen war, an den monatlichen Konferenzen des wichtigen Verwaltungsausschusses, der alle Entscheidungen vorberiet, jedoch nicht teilnehmen konnte. Weil ferner nur die in den CA gewählten Mitglieder von EOK und DEKA das Vertretungsrecht besaßen, war es den Sachbearbeitern dieser Behörden verwehrt, innerhalb des Centraiausschusses Einfluß zu nehmen - eine Regelung, die als Rückschritt empfunden wurde und nicht als „Festigung des gegenseitigen Verhältnisses".27 Auch die angedeuteten personellen Querelen beeinträchtigten das Ansehen des CA innerhalb der Kirchenleitungen. Burghart sprach als Beauftragter des Kirchenausschusses Präsident Seeberg gegenüber von einer „nicht unbedenkliche[n] Animosität", die in weiten kirchlichen Kreisen hinsichtlich der Inneren Mission bestehe; der Centraiausschuß müsse Maßnahmen ergreifen, um das zerrüttete Vertrauen wieder neu zu gründen, das sei eine „Lebensfrage" der evangelischen Liebestätigkeit.28 So ist verständlich, daß in dieser Situation das heraufziehende Devaheim-Unheil die bestehenden Spannungen noch verschärfte. Sie rührten ja nicht allein von den beschriebenen aktuellen Konflikten her, sondern waren däs Ergebnis eines seit langen Jahren so empfundenen unfruchtbaren Nebeneinanders der Arbeit von freien Verbänden und verfaßter Kirche. Diese hätte auf erstere gern stärkeren Einfluß genommen, nicht zuletzt weil es auf manchen Tätigkeitsfeldern zu Überschneidungen kam.29 Aus dem Blickwinkel der Inneren Mission ergab sich ein anderes Bild: Solange

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Die Satzung ist abgedruckt in: Aus der Arbeit der Liebe. 65. Bericht des Central-Ausschusses, 67-73. Vermerk des KBA v. 16.IX. 1929; EZA, E K D A 2/203. - Wegen der zahlreichen personellen Verflechtungen zwischen DEKA, EOK und CA traf diese Kritik nur zum Teil zu. So hatte der Vertreter des DEKA, der geistliche Vizepräsident des EOK, D. Burghart, schon als ehemaliger Berliner Generalsuperintendent dem CA angehört. Der frühere OKonsR Karow, der lange als EOK-Vertreter im CA fungierte, war 1929 zum Vizepräsidenten des CA gewählt und damit gleichzeitig Vorstandsmitglied geworden. Vgl. die Mitgliederlisten des CA in dem Rechenschaftsbericht für 1924: Wort und Tat, 35 ff., und: Aus der Arbeit der Liebe, 81 ff. Burghart schlug vor, den Posten des geschäftsführenden Direktors turnusmäßig wechseln zu lassen; so könne Füllkrug ohne Gesichtsverlust abgelöst werden. Überhaupt sei er der Meinung, der Geschäftsführer dürfe keine Vorgesetztenfunktion gegenüber seinen Kollegen haben, er sei nur Primus inter pares. Vielleicht müsse zur Führung des übrigen Personals ein Verwaltungsdirektor angestellt werden; Burghart an Seeberg v. 18.1.1930; BA, N L Seeberg, Nr. 43. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den Verständigungsausschuß, d. h. an ein Gremium, das strittige Fragen zwischen CA und DEKA bereinigen sollte. Seine Einsetzung wurde schon 1924 erwogen, zur ersten Sitzung traten die Vertreter von CA und D E K A aber erst am 7.III. 1927 zusammen; EZA, E K D A 2/202.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

die Verbände erfolgreich' arbeiteten, schien man seitens der Kirche deren Eigenständigkeit zu tolerieren und nahm sie als Ausweis kirchlicher Leistungen auch für sich in Anspruch. Erst in dem Augenblick, in dem Erfolge ausblieben oder schlimmer noch Mißwirtschaft und skandalöse Vorgänge die betroffenen Organisationen öffentlich diskreditierten, distanzierte sich die Kirche von ihnen und ließ sie fallen.30 Diesen Eindruck mußte jedenfalls die Innere Mission gewinnen, als sie vor dem Zusammenbruch stand. Wie anders konnte die Geste aufgefaßt werden, daß EOK- und DEKA-Präsident Kapler die Kirchenvertreter im Centraiausschuß ,auf eigenen Wunsch' von ihren dortigen Aufgaben entpflichtete, so daß dort nur noch Generalsuperintendent Karow und für kurze Zeit sein inzwischen pensionierter Kollege Zoellner die Interessen von Kirche und Innerer Mission miteinander in Einklang zu bringen suchten. 31 Wesentliches Motiv dieses abrupten Rückzugs der verfaßten Kirche aus der Leitung der Inneren Mission war die nicht unberechtigte Sorge, die Kirche selbst könne für die Verfehlungen einzelner Mitarbeiter und das Negativimage der Inneren Mission in der Öffentlichkeit 1931/32 verantwortlich gemacht werden. Es ging Präsident Kapler und seinen Räten nicht allein um den beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden - an Sanierungsplänen wollte man sich ja zusammen mit dem Reich beteiligen 32 -, sondern um den kaum wiedergutzumachenden Vertrauensschwund beim Kirchenvolk und in den bürgerlichen Medien, von der Linkspresse ganz zu schweigen. Der Rückzug der DEKA- und EOK-Beauftragten und die Verknüpfung ihres Wiedereintretens in den CA mit gewissen Bedingungen erschien von daher als wirkungsvoller Hebel, um Änderungen der Satzung und der Personalstruktur zu erzwingen, die der ,Amtskirche' künftig einen größeren Einfluß auf Arbeit und Geschäftsführung des Centraiausschusses garantieren sollten.33 Im Herbst hatte sich der Hauptausschuß auf Antrag seines Verwaltungsausschusses gleichsam selbst suspendiert und war durch den sogenannten Elferausschuß ersetzt worden, der als Interimsvorstand fungierte und dem bis auf Vizepräsident D. Karow kein früheres Vorstandsmitglied mehr angehörte. Dem 30

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So klagte Jahre später Schirmacher im Rückblick auf Devaheim; vgl. sein undatiertes, von 1936 stammendes Memorandum: „Das neue Verhältnis der amtlichen Kirche zur Inneren Mission." ADW, CA 8 7 6 I V / 2 . Rundschreiben Kaplers an die obersten Kirchenbehörden v. 11.IX. 1931; EZA, E K D A 2/203. Zur Erwartung der Kirche, auf Drängen des Reiches zur Entschuldung der IM beitragen zu müssen, vgl. den „Bericht über die Lage beim Centraiausschuß" für die Sitzung des Kirchensenats am 28.IV.1932 von OKonsR Gustavus; EZA, EOK, Gen XI1-12-11. Sehr. Kaplers an den CA V.4.IX.1931; die Kirche wolle ein Mitspracherecht auch darin, „wie für die Zukunft Vorsorge getroffen werden kann, daß den Landeskirchen bei den selbständigen Unternehmungen freier evangelischer Organisationen auch kein immaterieller Schaden geschieht". Nach Beratung im Rechtsausschuß erklärte sich derCA-Vorstand am 16.IX.1931 mit dieser Forderung einverstanden; A D W , C A 100 III.

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Elferausschuß übertrugen Vorstand, Hauptausschuß, Verwaltungs- und Finanzausschuß bis auf wenige Ausnahmen ihre gesamten satzungsmäßigen Befugnisse. Er sollte den Skandal bereinigen und mit unbelasteten Persönlichkeiten einen Neuanfang der Inneren Mission in die Wege leiten. Letztere Aufgabe war der eigentliche Sinn der Einrichtung des Elferausschusses, denn inzwischen mehrten sich die Stimmen aus den Fach- bzw. Landes- und Provinzialverbänden, die nach personellen Konsequenzen verlangten. Obwohl Präsident Seeberg solche Vorwürfe an die Adresse der Direktoren und implizit auch gegenüber sich selbst als ungerechtfertigte Kränkung zurückwies, beugten er und die übrigen Vorstandsmitglieder sich dem Konzept des Elferausschusses, da mit Übernahme einer kollektiven Leitungsverantwortung durch bewährte Mitglieder des Hauptausschusses der Rücktritt der Direktoren nicht als persönliches Schuldeingeständnis aufgefaßt werden mußte. 34 Er selbst lehnte es freilich ab, gemeinsam mit den leitenden Berufsarbeitern des CA sein Amt zur Verfügung zu stellen.35 Die Etablierung des Elferausschusses, der in der Satzung nicht vorgesehen war und nun die Rechte von Vorstand und Hauptausschuß übernahm, stieß bei einigen juristisch vorgebildeten Mitgliedern des Centraiausschusses auf harte Kritik. Vor allem der ehemalige Ministerialdirektor im preußischen Wohlfahrtsministerium und Präsident des Evangelischen Bundes, D.Friedrich Conze, rügte die Übertragung der Geschäfte auf das neue Gremium und zweifelte dessen Rechtswirksamkeit an. Insonderheit hob er die Gefahr einer persönlichen Haftbarmachung seiner Mitglieder und des neuen Direktors, D.Walter Jeep, hervor und forderte baldmöglichst eine Satzungsänderung, um das Handeln des Elferausschusses auf eine juristisch tragfähige Grundlage zu stellen.36 Es dürfte mit auf

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Auf einen Rücktritt der gesamten C A-Spitze drängten vor allem der pommersche Provinzialverband für IM und D.Stange/Kassel für den Reichsverband der Evangelischen Jungmännerbünde Deutschlands. Zur Einsetzung des Elferausschusses am 22.IX.1931 vgl. die Prot, der HA-Sitzungen V.7.VII. und 22.IX. 1931; ADWDü, BO, 1 0 / 1 - 1 . - Starke Bedenken gegen eine solche Maßnahme erhob jedoch P.Constantin Frick/Bremen in dem erwähnten Schreiben an OKonsR Lic. Dick (s. Anm.22). Er lastete es dem Druck der Kirche an, wenn jetzt das Personal ausgetauscht werden solle: Er könne nicht einsehen, „warum ehrenwerte Männer aus allen Ständen und allen Teilen Deutschlands, die in ihrem Vertrauen durch einzelne Persönlichkeiten getäuscht worden sind, und die alsbald, als sie von Unstimmigkeiten hörten, alle Gegenmaßnahmen ergriffen haben, [ . . . ] jetzt, wo die Krisis in vollem Umfang hereingebrochen ist, und wo das Werk gerettet werden muß, zurücktreten sollen".

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Schon im Vorfeld der entscheidenden Sitzung am 22.IX. wies Seeberg daraufhin, daß er keinerlei ,pekuniäre Beziehungen' zum C A unterhalte. Er klebe nicht an seinem Amt, fürchte aber, daß sein Rücktritt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nur als Schuldeingeständnis, sondern darüber hinaus auch so gedeutet werden könne, daß er in der Stunde der Not den CA und die IM im Stich lasse. Seeberg an Pfeiffer V.31.VI11.1931; BA, N L Seeberg, Nr. 46. D. Conze, „Bemerkungen zur Frage: Satzungsänderung des C. A. für IM" v. 10.111.1932; A D W , C A 100 III. Conze hatte seine Bedenken gegen den Elferausschuß bereits in der

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

seine M o n i t a zurückzuführen sein, w e n n der E l f e r a u s s c h u ß n a c h B e e n d i g u n g der d r i n g e n d s t e n Vorarbeiten zur Sanierung der C A - F i n a n z e n die ihm erteilten V o l l m a c h t e n a m 22. April 1932 wieder in d i e H ä n d e d e s

Hauptausschusses

zurücklegte. 3 7 Vermutlich h a b e n D E K A und E O K auf d i e p e r s o n e l l e n Veränderungen a n der Spitze d e s C A z u n ä c h s t keinen a u s s c h l a g g e b e n d e n E i n f l u ß g e n o m m e n . F o r m a l g e s e h e n k o n n t e n sie das a u c h nicht, d a ihre Vertreter in d e n e n t s c h e i d e n d e n Sitz u n g e n d e s E l f e r a u s s c h u s s e s gar nicht a n w e s e n d w a r e n u n d sich erst a b E n d e O k t o b e r 1931 mit d e n Oberkonsistorialräten G u s t a v u s u n d Lic. D i c k r e g e l m ä ß i g an d e s s e n Z u s a m m e n k ü n f t e n beteiligten. 3 8 D o c h scheint gerade der A u s t a u s c h der l e i t e n d e n Persönlichkeiten ganz im S i n n e der Kirche g e w e s e n z u sein. A n d e r s ist es nicht z u erklären, d a ß Kapler, der in P e r s o n a l u n i o n die Präsidentenämter v o n E O K u n d D E K A verwaltete, a m 2. M a i eine E n t s c h l i e ß u n g d e s K i r c h e n s e n a t s der p r e u ß i s c h e n Landeskirche a n d e n C e n t r a i a u s s c h u ß übermittelte, die in ultimativer u n d u n g e w ö h n l i c h scharfer F o r m d e n sofortigen R ü c k tritt aller Vorstandsmitglieder d e s C A verlangte. D a die Direktoren j e d o c h s c h o n a u s g e s c h i e d e n bzw. bereit waren, diesen Schritt in n a h e r Z u k u n f t z u tun, m u ß t e sich die F o r d e r u n g allein auf Prof. S e e b e r g b e z i e h e n , w a s der Präsident d a n n a u c h n o t g e d r u n g e n u n d mit Bitterkeit akzeptierte, sein A m t i n d e s s e n a b e r erst A n f a n g 1933 zur Verfügung stellte. 3 9

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HA-Sitzung am 22.IX. 1931, a.a.O., erhoben u n d war deshalb nicht in diesem Gremium vertreten. Er fühlte sich als Mitglied des alten H A bei den weitreichenden Entscheidungen des Elferausschusses übergangen, war aber bereit, bei Vorlage eines Rechenschaftsberichtes und Wiedereinsetzung des HA dem Elferausschuß „Indemnität" für sein Handeln zu erteilen. Vgl. das Prot, des H A vom gleichen Tage; a. a. O. Am 28.X. 1931 nahmen Gustavus, Dick und Wahl vom Kirchenbundesamt erstmalig an einer Tagung des Elferausschusses teil; s. das Prot, der Sitzung v. 28.-3 l.X. 1931, A D W , C A 1957. D E K A / K a p l e r an C A V.2.V.1932; BA, NL Seeberg, Nr. 46, und Antwort Jeeps an das KBA v. 14.11.1932; A D W , CA 100 III. Seeberg wehrte sich lange dagegen, die DevaheimKrise, an der er persönlich keinen Anteil hatte, durch seinen Rücktritt mitzuverantworten; er sah damit wohl einen Teil seines Lebenswerkes zerstört, das auch in wissenschaftlicher Hinsicht durch die G r ü n d u n g und Leitung des ,Instituts für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission' an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität eng mit der christlichen Liebestätigkeit verbunden war. - Sein Nachfolger wurde im Januar 1933 der Generalsuperintendent des Sprengeis Berlin-Stadt, D. Emil Karow, der schon seit Ausbruch der Krise die Vorstandssitzungen in seiner Eigenschaft als Vizepräsident faktisch geleitet hatte; vgl. das Prot, der HA-Sitzung v. 27.1.1933, a. a. O. - Der Leiter der Apologetischen Centrale, Dr. Schweitzer, wurde Superintendent des Kirchenkreises Potsdam II in Wusterhausen, Direktor Beutel übernahm hauptamtlich die Leitung des Evangelischen Reichserziehungsverbandes, Direktor Gerhard Füllkrug ließ sich pensionieren, Johannes Steinweg ging nach einer Übergangszeit, während der er sein altes Amt kommissarisch weiterverwaltete, als Kreispfarrer nach Rotenburg/Fulda, und Dr. Stahl wurde zum Landesgeschäftsführer der Inneren Mission in Hessen-Nassau ernannt, bevor man ihn wenig später zum Vorsteher des Diakonissenmutterhauses Hamburg-Altona berief. N u r K a u f m a n n

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Parallel zu den Sanierungsbemühungen des Elferausschusses setzte innerhalb der obersten Kirchenbehörden eine Diskussion über das Verhältnis von Innerer Mission und Kirche ein, die im Frühjahr 1932 ihren Höhepunkt erreichte, aber im Ergebnis nur zu einem Minimalkonsens führte. Während die Altpreußische Union als weitaus größter kirchlicher Zusammenschluß und der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß als bevollmächtigter Sprecher aller Landeskirchen im Reich die Beziehungen zur Inneren Mission und ihrem Centraiausschuß für grundsätzlich revisionsbedürftig hielten und mit scharfer Kritik nicht sparten, lagen die Verhältnisse in den einzelnen Landeskirchen anders, wo Innere Mission und Landeskirchen oft seit Jahren harmonisch zusammengearbeitet hatten. Kern des Problems war der mit der Erweiterung staatlicher und kommunaler Wohlfahrtspflege seit 1918 erfolgte Ausbau des Centraiausschusses zu einer quasi-kirchlichen ,Reichsinstanz', die in der Außenvertretung evangelischer Wohlfahrtsbelange autonom handelte und damit aus DEKA-Sicht die verfassungsmäßige Sprecherrolle des Kirchenausschusses ignorierte. Dies etwa gestand der württembergische Kirchenpräsident D. Theophil Wurm auf der Südwestdeutschen Konferenz für Innere Mission im Februar 1932 zu. Er trat auch für ein „Oberaufsichtsrecht" des Kirchenausschusses über den CA ein, verwarf jedoch wegen der positiven Erfahrungen in seiner Landeskirche den Vorschlag, die Eigenständigkeit der Inneren Mission radikal zu beschneiden oder gar die Extremlösung einer vollständigen Verkirchlichung anzuvisieren. Dazu habe die Kirche weder das Geld noch könne sie in gleichem Maße wie die Innere Mission das von dieser einbezogene Laienelement wirksam fördern. 40 Auf stärkere ,Verkirchlichung' der Inneren Mission zielte dagegen die Argumentation einer DEKA-Denkschrift vom März 1932. Der Verfasser beklagte die geringen Einflußmöglichkeiten der Kirche, die innerhalb des CA „auf ein Minimum herabgedrückt" worden seien, und kritisierte die „Aufblähung des Apparates" und die damit verbundene „Überheblichkeit" der Direktoren gegenüber den Kirchenbehörden. Da viele Arbeitsfelder ohnehin schon ,verkirchlicht' seien, gebe es keine Rechtfertigung mehr für den Grad an Unabhängigkeit, den der CA noch immer für sich beanspruche. Das Memorandum schlug deshalb eine stärkere Dezentralisierung der Inneren Mission im Sinne einer Reduzierung der Aufgaben des CA vor, wie sie bis 1920 in der Satzung festgeschrieben waren.41 Walter Schlunk blieb Direktor der Wirtschaftsabteilung. Zum fortan einzigen neuen theologischen Direktor wurde am 14. November 1931 der bisherige Leiter des Landesvereins für Innere Mission in Braunschweig, D. Walter Jeep, bestimmt, was der Hauptausschuß im April 1932 bestätigte und gleichzeitig den Gemeindepfarrer Hermann Koller aus Böblingen für die Leitung der Wohlfahrtsabteilung vorsah. Vgl. die Prot, der Elferausschußsitzung v. 13./14.XI. 1931, ADW, CA 1957 und der HA-Sitzung V.22.IV. 1932; A D W D ü , BO, 10/1. 40

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Vgl. das Referat „Kirche und Innere Mission" mit 10 Thesen v. 10.11.1932; LKASt, N L Wurm, Nr. 20. Vf. war der Hilfsarbeiter im EOK, Dr. Hans Böhm; EZA, E O K G e n XII-12-11.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Diese ,Lösung' hätte freilich die Zerschlagung jener Konstruktion bedeutet, die sich angesichts der wachsenden Verpflichtungen des CA im großen und ganzen als effektiv erwiesen und bewährt hatte, und wurde seitens der Mehrheit der Vereinsgeistlichen der Inneren Mission heftig bekämpft. 42 Sie setzte sich denn auch nicht durch, weil die Kirchenführer anders als die mehr an gouvernemental-hierarchischen Vorgaben orientierten Beamten ihrer leitenden Behörden aus den von Wurm genannten Motiven grundsätzlich die Unabhängigkeit der Inneren Mission erhalten wollten. Allerdings machten auch sie bestimmte, in der Satzung zu verankernde Auflagen, die künftig ein geordnetes Verhältnis von Innerer Mission und Kirche sicherstellen und vor allem die Wiederholung solcher Fehlentwicklungen, die zu Devaheim geführt hatten, verhindern sollten. 43 Dazu gehörten der Verzicht des Centraiausschusses auf selbständige Vertretung seiner Belange gegenüber Reichs- und Länderbehörden ohne Abstimmung mit EOK und DEKA 4 4 und die Entsendung je eines Bevollmächtigten dieser obersten Kirchenbehörden in den Vorstand; damit erklärte sich der Elferausschuß einverstanden. Darüber hinausgehende Forderungen wie die nach einem Vetorecht der Kirche bei Beschlüssen, denen ihre Vertreter nicht zustimmen konnten, 45 fanden 42

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So von Otto Ohl, der im Zusammenhang mit der auch von EOK und DEKA geforderten Verkleinerung der Entscheidungsgremien „die große Gefahr eines Auseinanderfallens des geschlossenen Organismus der Inneren Mission" sah, da dann die Verhältnisse von vor 1918 wieder eintreten würden, als die verschiedensten Unterorganisationen unkoordiniert nebeneinander gearbeitet hätten. Auf diese Weise könne die IM anders als die Caritas nicht mehr den Willen der ev. Kirche auf dem Wohlfahrtssektor geschlossen zum Ausdruck bringen. So Ohl an Jeep am 16.111.1932; ADW, CA 100 III. Am 24./25./26.V. behandelte der DEKA in seiner Wittenberger Tagung ausführlich sein Verhältnis zum CA; als Referent fungierte wieder Kirchenpräsident Wurm, der im wesentlichen seine genannten Thesen wiederholte. Zwar verzichteten die Teilnehmer schließlich auf einschneidende Auflagen für die neue CA-Satzung, empfahlen jedoch den Landeskirchen, den Anschluß der jeweiligen Vereinsgeistlichen an ihre Versorgungskassen von einer Berufung dieser Pfarrer im Einvernehmen zwischen CA, Landes- und Provinzialverbänden und den betreffenden Landeskirchen abhängig zu machen. Die offizielle Einführung der theologischen Berufsarbeiter in ihr Amt durch die Kirche als Rechtsakt lehnte der DEKA jedoch aus der Sorge ab, dann auch die disziplinare Aufsicht über diese Pfarrer ausüben zu müssen; dieses wollte man wegen der damit möglicherweise verbundenen Verantwortlichkeit der Kirche für ihr Wirken nicht übernehmen. Vgl. das DEKA-Prot., EZA, EKD M/22. Der entsprechende Passus in § 1 Abs.5 des Satzungsentwurfs vom 16.bzw.30.XII.1932 lautete: „Der Centrai-Ausschuß vertritt die Innere Mission in der Öffentlichkeit und bei den Behörden. Er beachtet dabei die Zuständigkeit des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses und der verfassungsmäßigen Aufgaben der in ihm zusammengeschlossenen Kirchen"; a. a. O. Dies hatte OKonsR Gustavus in seinem „Bericht über die Lage beim Centraiausschuß" für die Sitzung des Kirchensenats der APU am 28.IV. 1932 verlangt. Es sei eine „schriftliche Vereinbarung erforderlich, die sicherstellt, daß auf Einspruch der kirchlichen Vertreter ein Beschluß zunächst ausgesetzt bleibt, bis ein Benehmen mit der zuständigen Kirchenbehörde erfolgt ist. Führt dieses Benehmen nicht zu einer Verständigung, so würde der Kon-

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dagegen keine Aufnahme in den Satzungsentwurf, wie umgekehrt auch der Wunsch des Centraiausschusses nach einer förmlichen Anerkennung als Spitzenorganisation aller IM-Bestrebungen analog zur Anerkennung als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege durch das Reich 46 erst nach Abschluß der finanziellen Sanierung und Konsolidierung des CA erfüllt werden sollte. 47 Heftige Auseinandersetzungen gab es jedoch um den Status der kirchlichen Vertreter im Vorstand. Waren diese bisher stimmberechtigte Mitglieder dieses Gremiums gewesen, so sollten sie nunmehr nach einem Beschluß von E O K und D E K A nur noch als austauschbare kommissarische Beauftragte fungieren - ein ,Sieg' des Behördenprinzips über das von der Inneren Mission bevorzugte persönliche Verantwortungsprinzip, das ihr bisher an der Administration vorbei die Mitarbeit prominenter Kirchenführer gesichert hatte. Die Neuregelung interpretierte der Elferausschuß als „Distanzierung und Ausdruck des Mißtrauens" gegenüber dem CA, was man im Lande nicht verstehen werde. 48 Jeep zeigte aber ein gewisses Verständnis für diese Entscheidung, die aus der Sorge heraus geboren worden sei, die Kirchenvertreter könnten als Minderheit im Vorstand immer überstimmt werden, müßten dann aber die Verantwortung für die getroffenen Beschlüsse mittragen. Er verwies zudem auf die Bereitschaft des CA zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Kirche, die nun von dieser wieder in Frage gestellt werde. 49 Auch Richter Dr. Carstens aus Bremen, Vorstandsmitglied des dortigen IM-Landesverbandes, betonte in einem Kurzgutachten zum Satzungsentwurf von Ende Dezember 1932, die Formulierung des betreffenden Absatzes klinge „stark nach einem Kommissar, einem Aufsichtsbeamten, der an

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fliktsfall [!] gegeben sein, den aber beide Teile regelmäßig zu vermeiden bestrebt sein werden"; s. Anm.32. - Gegen ein Vetorecht wandte sich Kirchenpräsident Wurm, weil damit die Kirche für bestimmte Entwicklungen eine Verantwortung übernehme, die sie nicht tragen könne; ders., a. a. O. Zur Anerkennung der Inneren Mission als Reichsspitzenverband vgl. nochmals Kap. II.3.4., Anm. 170. Diese Einschränkung machte der D E K A in einem Schreiben an den CA v. 17.VI.1932; ADW, CA 100 III. - Auf der genannten DEKA-Konferenz im Mai hatte bereits Präs. Kapler zur Aufgabe der Kommissare angemerkt, diese hätten im rechtlichen Sinne kein Vetorecht, sondern sollten nur „aufmerken, ob durch Beschlüsse des Centraiausschusses die Interessen der Kirche berührt" würden und gegebenenfalls ihre Bedenken zum Ausdruck bringen. In solchen Fällen sollte die Ausführung dieser Beschlüsse zunächst ausgesetzt und der DEKA konsultiert werden können; s. o., Anm. 44. Prot.-Auszug der Sitzung des Elferausschusses v. 18.III. 1932; a.a.O. Bei einer kurz zuvor erfolgten Zusammenkunft Karows mit Kapier und Burghart waren die wichtigsten Gravamina der IM gegenüber der verfaßten Kirche zur Sprache gekommen. Dazu gehörte vor allem das lange Zögern der Kirche, den CA mit einer finanziellen Hilfsaktion zu unterstützen, und der Eindruck, als versuche sie, die Vereinsgeistlichen der IM disziplinarisch zu maßregeln; s. den Bericht Karows über dieses Gespräch im Prot, der Sitzung des Elferausschusses v. 13./14.XI. 1931, ADW, CA 1957. So in einem Votum „Bemerkungen zur Änderung der Satzung" v. 20.IV. 1932; a. a. O.

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den Beschlüssen des Vorstands nicht beteiligt" sei. Das widerspreche dem „Geiste brüderlicher Zusammenarbeit" ; im übrigen bleibe der Kirche im Falle eines Dissens nur übrig, ihren ,Kommissar' zurückzurufen und zu protestieren, das gleiche könne sie auch mit ordentlichen Mitgliedern tun. In der Öffentlichkeit mache es ohnehin keinen Unterschied, ob die Kirchenvertreter als Mitglieder oder Kommissare aufträten. 50 - Trotz dieser Vorstellungen wurde die bloß kommissarische Entsendung kirchlicher Vertreter in den Vorstand nicht rückgängig gemacht. EOK und DEKA bestritten einmütig den diskriminierenden Charakter dieser Regelung und unterstrichen ihre Ansicht, daß gerade „die unmittelbare Beteiligung der kirchlichen Behörde als solcher eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen verfaßter Kirche und CA ermöglichen werde"; sie kündigten allerdings ihre Bereitschaft für den Fall einer künftig reibungslosen Zusammenarbeit an, die Bevollmächtigten demnächst zu ordentlichen Mitgliedern zu ernennen. 51 Diese Argumentation bewegte sich freilich auf schwankendem Boden, wie schon Kirchenpräsident Wurm in seinem erwähnten Referat feststellte, als er davon sprach, das Kommissariat habe zwar „den Vorteil, daß die Kirchenleitung von allem unterrichtet ist und für nichts die Verantwortung trägt, aber den Nachteil, daß ein wirkliches Vertrauensverhältnis schwer aufkommen kann, und dieses ist auch bei allen Rechtssicherungen auf kirchlichem Gebiet etwas Unentbehrliches". 52 III.1.2.2. Kirche und Innere Mission im Sog nationalsozialistischer Gleichschaltungspolitik Die auf mehreren Ebenen geführte kontroverse Diskussion um eine Satzungsänderung zugunsten stärkerer kirchlicher Mitbestimmungsrechte innerhalb des Centraiausschusses kam bis Anfang 1933 nicht zum Abschluß und wurde dann von den politischen Ereignissen überrollt. Nicht in dem Sinne, als seien die Satzungskonflikte nun angesichts der nationalsozialistischen ,Machtergreifung' und damit zusammenhängender wesentlich drängenderer Probleme in den Hintergrund getreten, sondern die Akzente verschoben sich in einer Weise, die nicht vorauszusehen war. Plötzlich stand auch die Kirche mit ihrer Organisationsform zur Disposition, und es ging nicht mehr allein um die Fragen von Über- und Unterordnung mit Blick auf den Verbandsprotestantismus und die Innere Mission. Die Gleichschaltungsbestrebungen drohten auf den kirchlichen Bereich überzugreifen und Verbände wie Kirchen gleichermaßen in den gesellschaftlichen Veränderungsprozeß einzubeziehen. Die Unsicherheit der Situation und die disparaten Erwartungen an das, was die Zukunft bringen würde, sorgten

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Vgl. ders., „Anträge zum Satzungsentwurf v. 16.XII. 1932", o.D.; a.a.O. D E K A an CA v. 17.VI. 1932; a. a. O. Wurm, wie Anm. 40.

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ungeachtet der geschilderten grundsätzlichen Bejahung des NS-Staates für ein Zusammenrücken des kirchlichen Organisationsspektrums. Denn daß dieser staatliche Neubeginn deutlich revolutionäre Züge trug und manche liebgewordene Vorstellungen und traditionelle Arbeitsfelder mit Wucht hinwegfegen würde, sahen die Verantwortlichen in Kirche und Verbänden bald. Man lebte nicht außerhalb dieser nationalen ,Erweckungsbewegung\ wollte das auch gar nicht, sondern fühlte sich genauso von ihr erfaßt wie die Mehrheit der deutschen Gesellschaft des Jahres 1933. Wer das noch nicht begriffen hatte, wurde bald von der ,Partei des Nationalsozialismus in der Kirche', den Deutschen Christen, daran erinnert, daß es keinen unpolitischen Reservatraum mehr geben, daß der völkische Aufbruch auch hier seine Ziele unerbittlich verfolgen und den kirchlichen Bereich seinen Wünschen dienstbar machen würde. Für den Centraiausschuß stellte sich im Frühjahr 1933 die Frage nach der künftigen Orientierung seiner Arbeit. Sollte die Innere Mission wie bisher die doppelte Strategie verfolgen, in lockerer Anbindung an die Kirche zugleich die bewährte Kooperation mit den übrigen Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege fortzusetzen, oder wäre es für ihre weitere Entwicklung zuträglicher, wenn sie sich von den ohnehin bald auf Caritas, Rotes Kreuz und die neu dazutretende NSV beschränkten früheren Partnern zugunsten einer engeren Anlehnung an die verfaßte Kirche löste? Pastor Koller vertrat als Leiter der Wohlfahrtsabteilung diese Linie gegen starken Widerstand aus den Reihen der Geschäftsführer in den Provinzial- und Landesverbänden. Angesichts der schwindenden Bedeutung von DRK und Paritätischem Wohlfahrtsverband und der damit korrespondierenden Ausweitung des NSV-Aufgabenbereichs auf Kosten der bisherigen freien Träger sei es für die Innere Mission entscheidend, daß sie ihre Arbeit als Liebestätigkeit der Kirche herausstelle, um von der Freiheit der Kirche zu profitieren und für sich selbst alte Freiheitsräume zu bewahren und neue zu erschließen. Ein solcher Weg führe über die Integration in den bevorstehenden Verfassungsneubau der Kirche; von einer Fortsetzung der früheren Liga-Politik sei in Anbetracht ihrer schwindenden öffentlichen Bedeutung nichts mehr zu erwarten. 53 Dieser Auffassung widersprach der rheinische Geschäftsführer Otto Ohl entschieden: Die traditionelle Zweigleisigkeit habe sich seit 1918 bewährt; vor allem durch den Zusammenschluß der freien Verbände sei der Monopolanspruch der öffentlichen Träger erfolgreich zurückgewiesen worden. Er warne ausdrücklich vor dem Einbau der Inneren Mission in die Behördenorganisation der kommenden Reichskirche, die trotz aller gegenteiligen Versicherungen die „Bewegungsfreiheit" des Centraiausschusses ungebührlich beschneiden und den für seine Arbeit unerläßlichen lebendigen Kontakt zu den Gemeinden abreißen lassen werde: „Innere Mission ist Gottes Auftrag, der nicht an die kirchliche Behörde und die kirchliche Führerpersön53

Hermann Koller an Otto Ohl v. 12.IV. 1933; ADW, CA 2042/1.

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lichkeit gegeben und gebunden ist, sondern anknüpft an die Verantwortung des allgemeinen Priestertums." Auf der anderen Seite sei die Liga keineswegs tot, solange die ungebrochene Macht der katholischen Kirche hinter der Caritas stehe und diese im Verein mit der Inneren Mission das Anliegen der freien Verbände auch im neuen Deutschland zur Geltung bringen könne. 54 Wie schon im Abschnitt über die Liga-Entwicklung im Dritten Reich angedeutet, konnte sich Ohl mit seiner Ansicht nicht durchsetzen. Innerhalb des Centraiausschusses gewannen diejenigen zunehmend an Boden, die sich von einer stärkeren Anlehnung an die Kirche mehr versprachen oder nun die Gelegenheit gekommen sahen, den Einfluß der Inneren Mission auf Kosten der im Sinne des Systems als politisch nicht zuverlässig geltenden Caritas im Sachbereich Wohlfahrtspflege auszuweiten. 55 Eine wichtige Station der Auseinandersetzung über die Frage einer intensiveren Kooperation mit der Kirche bildete die Geschäftsführer-Konferenz am 5. Mai 1933. Hier ging es nicht mehr um die doppelte Orientierung an Liga und Kirche, sondern um den Ort der Inneren Mission zwischen Kirche und Volk. Von entscheidender Bedeutung, so argumentierte wiederum Pastor Koller in seinem Lagebericht, werde die Lösung der Kirchenfrage sein. Hier komme es vor allem auf die Haltung der Deutschen Christen an, die bisher undurchsichtig sei. Aber auch Koller machte nun seiner Generallinie zum Trotz Vorbehalte gegenüber einer uneingeschränkten Verkirchlichung geltend: Die Staatsführung werde nicht zulassen, „daß die I.M. so in den Bezirk der freien Kirche hineinmarschiert, daß der Staat für sein kulturelles Wollen kein Recht an der I. M. mehr hat". Er sei aber zuversichtlich, daß der Nationalsozialismus die freie kirchliche Wohlfahrtspflege weiterhin fördern werde; dies habe er auch mit der Gründung der konfessionell neutralen, letztlich aber christlich bestimmten NSV [sie] zum Ausdruck gebracht. 56 Die Teilnehmer stimmten diesen Ausführungen grundsätzlich zu. Oberkirchenrat Wendelin, der als Parteigenosse über Beziehungen zum Braunen Haus verfügte und dort gerade einen Besuch gemacht hatte, erklärte ausdrücklich, man habe ihm bedeutet, die Partei wolle nicht Gleichschaltung', sondern höchstens ,Einschaltung' der Inneren Mission in die gemeinsame Aufbauarbeit an der Volksgemeinschaft. Wichtiges Ergebnis der Sitzung war am Ende die Zustimmung der Anwesenden zur Einsetzung einer Reichsleitung des Centraiausschusses mit Jeep an der Spitze, unter-

54 55 56

Antwort Ohls an Koller V.15.IV. 1933; ADWDü, BO, 10/2-3,3. Vgl. etwa Kap. II.4.2., Anm.284und passim. Prot, in A D W , CA 1261 XV. - Die Beurteilung der Deutschen Christen seitens der Geschäftsführer war durchweg kritisch; vor allem glaubte man, „daß die führenden Persönlichkeiten der D C ihrer Aufgabe geistig in keiner Weise gewachsen seien". P. Studemund/Schwerin merkte zusätzlich an, auch die derzeit gültigen Glaubenssätze der D C könne die IM nicht unterschreiben. Zu jenen Richtlinien der Glaubensbewegung Deutsche Christen V.26.V.1932 vgl. KJb 1933-1944,14-17.

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stützt von V.Bodelschwingh, Stahl und Wendelin.57 Diese satzungsmäßig nicht vorgesehene und vorerst auch nur informelle Berufung der Genannten zu allein Bevollmächtigten der Inneren Mission hatte eine zweifache Bedeutung: Einmal nahm der Centraiausschuß damit das Führerprinzip im Grundsatz auch für sich in Anspruch und kam so einer herrschenden Zeitströmung entgegen; zweitens schuf er damit eine flexible Zentralinstanz für die bevorstehenden Verhandlungen mit Staat und Kirche über die Zukunft der Inneren Mission im Dritten Reich. Einen Moment hoffte man wohl auch, die Kirche würde den Centraiausschuß mit der Alleinvertretung wenigstens jener evangelischen Verbände beauftragen, die wie Frauen-, Männer- und Jugendorganisationen ihm direkt angeschlossen waren. In diesem Sinne wandte sich D. Jeep am 8. Mai an den Kirchenausschuß, teilte seine Ernennung zum „Generalbevollmächtigten der Inneren Mission für alle Verhandlungen mit Kirche und Staat" mit und bat darum, ihn nun auch seitens des DEKA zum verantwortlichen Reichsbeauftragten der Inneren Mission zu berufen. Ziel sei, „daß die gesamte Innere Mission in stoßkräftiger Geschlossenheit erhalten bleibt und in dieser Geschlossenheit sowohl dem Staat sich zur Verfügung stellen als auch in die sich neubildende kirchliche Organisation eingebaut werden kann". Ausdrücklich setzte er sich dafür ein, daß der Ausschuß daneben nicht noch weitere zusätzliche Reichsbeauftragte für die angeschlossenen Verbände ernennen sollte; dies erübrige sich schon deshalb, weil die Fachreferate des CA seit Jahren in enger Arbeitsgemeinschaft mit den fraglichen Organisationen stünden.58 Doch zu letzterem konnte sich der Kirchenausschuß nicht bereit finden; zwar erteilte er die erbetene Anerkennung, wenn auch mit der charakteristischen Einschränkung, daß dadurch „weder die innere Ordnung des Centraiausschusses noch auch sein Verhältnis zu den einzelnen Verbänden und Arbeitsorganisationen der Inneren Mission irgendwie berührt werden soll[e]", wies aber jeden Alleinvertretungsanspruch ab und gab seine Absicht zu erkennen, auch anderen Gruppierungen des Verbandsprotestantismus auf Wunsch ähnliche Bestätigungen auszustellen.59 Mit dieser Anerkennung hatte der Centraiausschuß wesentliche Ziele nicht erreicht; die unverbindliche Form der Bestallung Jeeps zum .Generalbevollmächtigten' der Inneren Mission und die Verweigerung einer umfassenden Vertretungsvollmacht für große Bereiche des Verbandsprotestantismus stärkten die

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Prot.,a.a.O. Jeep an Präsident Kapler v. 8.V. 1933; ADW, CA 1367/3. Kirchenbundesamt/OKonsR Hosemann an CA-Dir. Jeep v.ll.V.1933; ebd. Vor Veröffentlichung einer Pressenotiz über diese Anerkennung möge sich der CA mit dem KBA ins Benehmen setzen. - Schon im April des Jahres hatte der Geschäftsführer der Reichsfrauenhilfe, P. Lic. Hans Hermenau, um eine ähnliche Anerkennung seiner Organisation und seine persönliche Beauftragung zum Verbindungsmann zwischen Kirche und Frauenverbänden gebeten, die durch das KBA am 6.V. auch ausgesprochen wurde; vgl. dazu J-C. Kaiser, „Das Frauenwerk der Deutschen Evangelischen Kirche", 486 f.

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Position der CA-Führung nicht in dem erhofften Maße und enthielten nicht einmal jene in den Satzungsverhandlungen angestrebte förmliche Bestätigung des CA als verantwortliche Spitzenorganisation kirchlicher Liebestätigkeit. So blieb alles in der Schwebe, was in Anbetracht der noch nicht abgeschlossenen kirchlichen Neuordnung auch verständlich erscheint. Innerhalb des Centraiausschusses sah man darin jedoch ein erneutes Indiz für die Distanz zwischen Kirche und Innerer Mission, die sich nur nach einer grundsätzlichen Umorientierung der verfaßten Kirche würde überwinden lassen. Deshalb richtete man alle Erwartungen auf den Verfassungsneubau und seine Auswirkungen auf das Verhältnis der Kirche zu ihren Verbänden, eine Hoffnung, die inmitten des kirchenpolitischen und theologischen Ringens um die reichskirchliche Einigung trügerisch blieb, weil nicht abzusehen war, welche Fraktion sich schließlich durchsetzen würde. 60 III.1.2.2.1. Machtergreifung' im Centraiausschuß: Die Episode des Staatskommissariats Die Idee einer Reichskirche war schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts innerhalb des deutschen Protestantismus lebendig und hatte - wie dargestellt - in den ersten Jahren des Weltkriegs neuen Auftrieb erhalten, ohne daß solche Konzeptionen in die Wirklichkeit umgesetzt werden konnten. Im Zusammenhang mit der Endkrise der Weimarer Republik kam das Thema wieder auf die Tagesordnung: Reichsreformbestrebungen und das Erstarken der völkisch-deutschen Bewegung gehörten zu jenen äußeren, die Diskussion anregenden Momenten, die neben Einheitsforderungen etwa des Evangelischen Bundes auf seiner Magdeburger Tagung 1931 Landeskirchen und DEKA zu Überlegungen über einen reichskirchlich festeren Zusammenschluß nötigten. - An dieser Stelle müssen die innerkirchlich-unitarischen Reformbemühungen kurz skizziert werden. 61 Vor allem die lutherischen Kirchen Nordwestdeutschlands fühlten sich aus Gründen der ungeteilten Wahrung ihres Bekenntnisstandes durch solche Kundgebungen in der protestantischen Öffentlichkeit verunsichert und drängten auf die eingehende Beratung des Themas innerhalb des DEKA, um den Status quo zu erhalten. In diesem Klima entstanden auch die Richtlinien der Deutschen Christen 60

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In einem CA-Rundschreiben V.13.V.1933 stellte Jeep die DEKA-Anerkennung dennoch als Erfolg für die IM dar und begründete seine Berufung zum Generalbevollmächtigten mit der gegenwärtigen Lage, die rasche Beschlüsse notwendig machen könne. Diese beträfen aber nur die Außenvertretung der IM, deren Verbände und Einrichtungen weiterhin frei wirken sollten. Lediglich Direktverhandlungen mit staatlichen Zentralbehörden dürfe es ohne Abstimmung mit dem CA nicht mehr geben. Man habe gute Kontakte zum Dreierausschuß (Kapler, Marahrens, Hesse), der die Reichskirchenverfassung vorbereite, und hoffe, „die Innere Mission unter Wahrung ihrer Selbständigkeit in das neue Verfassungswerk der Kirche ihrer Bedeutung entsprechend einzubauen"; ADW, CA 2042/1. Das folgende nach Klaus Scholder, a.a.O., 355 ff.

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vom Mai/Juni 1932, die im zweiten Abschnitt den Satz enthielten: „Wir kämpfen für einen Zusammenschluß der im ,Deutschen Evangelischen .Kirchenbund' zusammengefaßten 29 Kirchen zu einer einheitlichen Reichskirche [.. J." 62 Die Deutschen Christen reklamierten später lautstark das Erstgeburtsrecht einer reichskirchlichen Neuformierung des Protestantismus für sich, wirkten aber höchstens beschleunigend auf die Entwicklung zur Reichskirche ein, die 1932/33 noch von ganz anderen Ereignissen bestimmt werden sollte.63 Hier ist vor allem auf den Abschluß des Reichskonkordats hinzuweisen, das den Kirchenbund einen Moment lang mit dem Trauma eines katholisch geprägten nationalsozialistischen Reiches konfrontierte, dem man evangelischerseits nichts entgegenzusetzen hatte. Als Reaktion darauf begannen der DEKA und besonders sein Präsident, D. Kapler, über eine Stärkung des Kirchenbundes nachzudenken, um sich dem Staat gegenüber als ebenso geschlossener und gleichgewichtiger Partner empfehlen zu können, wie es die katholische Kirche vermeintlich war. Diese Initiative mündete über zahlreiche Zwischenstationen und ungeahnte Schwierigkeiten, die sich wiederum an dem Bekenntnisproblem entzündeten, aber auch durch kirchenpolitische Vorstöße der Deutschen Christen hervorgerufen wurden, in die Bildung eines Drei-Männer-Kollegiums ein, das konfessionell paritätisch mit je einem Lutheraner, Reformierten und Unierten beschickt - die Reichskirchenverfassung entwerfen sollte. Auf dem Wege dorthin traten im Frühjahr 1933 neue gravierende Probleme auf, die insofern eine ungemein politische Akzentuierung erhielten, als die Deutschen Christen - nun gestützt auf die an der Macht befindliche NSDAP erfolgreich versuchten, ihre kirchen- und personalpolitischen Forderungen gegen die Mehrheit der Landeskirchen und den Kirchenausschuß zu verwirklichen. Sie stießen sich vor allem daran, daß nicht ihr Kandidat, der Wehrkreispfarrer und Berater Hitlers in evangelischen Kirchenfragen, Ludwig Müller, zum Reichsbischof designiert worden war, sondern Friedrich von Bodelschwingh/Bethel, dessen Berufung sie nach Bekanntwerden der überraschenden Nominierung skrupellos bekämpften. Zermürbt von diesen hart geführten Auseinandersetzungen, zu denen solche mit den lutherischen Landeskirchen - außer Hannover - über das Bekenntnis der werdenden Reichskirche hinzutraten, reichte der 66jährige DEKA- und EO K-Präsident Hermann Kapler am 6. Juni sein Rücktrittsgesuch ein, das am 8. Juni vom preußischen Kirchensenat angenommen wurde. Dieser Schritt erwies sich im nachhinein als ungewöhnlich verhängnisvoll für die evangelische Kirche, da das Nachfolgeproblem nicht geklärt war. Aufgrund der sogenannten politischen Klausel des preußischen Kirchenvertrages von 1931 mußte vor der Wahl des EOK-Präsidenten nämlich mit der Staatsregierung Rücksprache genommen werden, und es war vorauszusehen, 62 63

Wie Anm.56. SoScholder,a.a.O.,357.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

daß diese versuchen würde, einen ihr geeignet erscheinenden - deutschchristlichen - Kandidaten auf den Präsidentenstuhl zu lancieren. Der Kirchensenat verfiel deshalb auf den Gedanken, die Stelle vorläufig lediglich kommissarisch zu besetzen, und benannte dafür den rheinischen Generalsuperintendenten Stoltenhoff. Das nahm der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Bernhard Rust, zum Anlaß, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Zunächst löste er den langjährigen bewährten Leiter der Kirchenabteilung seines Hauses, Ministerialdirektor Trendelenburg, der über beste Beziehungen zu DEKA und EOK verfügte, unter dem Vorwand ab, er habe den Minister von diesem Schritt nicht rechtzeitig informiert, und ersetzte ihn durch den bis dahin unbekannten Landgerichtsrat August Jäger aus Wiesbaden. Nur einen Tag später, am 24. Juni 1933, erließ Rust eine Verfügung, mit der er Jäger zum Staatskommissar für alle Landeskirchen Preußens ernannte und ihm die Vollmacht übertrug, die kirchlichen Belange neu, d. h. im Sinne des nationalsozialistischen Regimes und der Deutschen Christen, zu ordnen. Daraufhin trat Bodelschwingh, dem ein Verzicht wegen des starken Drucks seitens der DC und des Staates schon vorher von der Mehrheit der am gleichen Tage in Eisenach versammelten Vertreter des Kirchenbundes nahegelegt worden war, von seiner Kandidatur zurück. Damit war der Weg für Ludwig Müller an die Spitze der Reichskirche frei. 64 Wir kehren zur Inneren Mission und ihrem Centraiausschuß zurück. Als größte Einzelorganisation des deutschen Verbandsprotestantismus mit vielfältigen Querverbindungen zu anderen evangelischen Vereinsgruppierungen und einem großen, gut funktionierenden Büroapparat, mit dessen Hilfe Informationen und ,Weisungen' von Berlin aus innerhalb kürzester Zeit weitergegeben werden konnten, scheint sie schon seit Beginn des Kampfes um die Reichskirche in das Visier der deutschchristlichen ,Reformer' und ihrer politischen Hintermänner geraten zu sein. Man wußte in diesem Lager, daß die führenden Vertreter des CA - unter ihnen auch der Erste Direktor - nicht gerade zu den Parteigängern einer durch Staatseingriffe von außen erzwungenen kirchlichen Neuordnung gehörten. Ferner galt Präsident Karow in seiner Eigenschaft als Berliner Generalsuperintendent als Anhänger der behutsamen Reformkonzeption Kaplers und repräsentierte für die Deutschen Christen zusammen mit Jeep, Walter Künneth, dem Leiter der Apologetischen Centrale, und wohl auch Koller jene Kräfte an der Spitze der Inneren Mission, mit denen an einen Neubeginn im Sinne nationalsozialistischer Kirchenpolitik nicht zu denken war.65 In der Kirchenabteilung 64

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Zu den Vorgängen im einzelnen, die wesentlich komplizierter verliefen als hier darstellbar, vgl. nochmals Klaus Scholder, a. a. O., 422 ff., und Kurt Meier, a. a. O., Bd. 1,90 ff. Priv.-Doz. Lic. Dr. Künneth war Leiter der Jungreformatorischen Bewegung, deren Konstituierung am 9.V. 1933 erfolgte. Auch die Jungreformatoren traten ähnlich wie die Deutschen Christen für eine radikale Umstrukturierung der Kirche ein, sahen dies aber als rein innerkirchliche Aufgabe und lehnten jeden von außen kommenden politischen Druck ab;

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des preußischen Volksbildungsministeriums dachten Jäger und seine Mitarbeiter aus den Reihen der Deutschen Christen deshalb sofort daran, die Gunst der Stunde, d.h. die Möglichkeiten des Staatskommissariats zu nutzen, um im Benehmen mit dem nun an die Stelle Bodelschwinghs getretenen Ludwig Müller auch innerhalb des Centraiausschusses ,reinen Tisch' zu machen. 66 Es ist gut möglich, daß Anstöße zu der geplanten Aktion noch von einer anderen Seite kamen: der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, mit der Centraiausschuß und Innere Mission seit dem Frühjahr gelegentlich aneinandergeraten waren. Vorausschauende Beobachter wie Adolf Stahl hatten zwar schon Ende 1932 künftige Auseinandersetzungen zwischen der konfessionellen und einer nationalsozialistisch inspirierten neuen „nationalhumanitären Liebestätigkeit" prognostiziert, aber grundsätzlich sagte der CA zur fairen Kooperation mit der NSV ja. 67 Dennoch herrschte über deren Absichten große Unsicherheit, und es verwundert nicht, daß auch Zusammenstöße kleinerer Art in Berlin mit Beunruhigung registriert wurden. Bei den Konflikten zwischen IM und NSV handelte

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außerdem wandten sie sich anders als die DC gegen die Einführung des Arierparagraphen in die Kirche. Zu dieser Gruppe gehörte auch Walter Jeep, der in ihrem Namen am 16.V. 1933 dem hannoverschen Landesbischof Marahrens die Reichsbischofskandidatur angetragen und für den Fall, daß dieser sich verweigern würde, bereits den Namen Bodelschwingh ins Spiel gebracht hatte. D. Karow schließlich hatte zusammen mit den anderen altpreußischen Generalsuperintendenten am 25.VI.1933 in einem Aufruf gegen die Einsetzung des Staatskommissars protestiert und die Anerkennung des kommissarischen neuen Geistlichen Vizepräsidenten des EOK, des jungen Pfarrers Hossenfelder, abgelehnt. Als die Generalsuperintendenten für den 2.VII. zu einem Büß- und Betgottesdienst in allen Gemeinden aufriefen, wurde ihr Sprecher Karow von Jäger als Leiter des Sprengels Berlin beurlaubt. Vgl. Meier, a.a.O., 92.95.102. Für den Ev. Preßverband für Deutschland und für den Reichsverband ev. Arbeiter wurden ebenfalls Unterkommissare eingesetzt, die - wie im Fall des Preßverbandes - noch am 24.VI. unter Hinzuziehung von SA und Schutzpolizei das Gebäude dieses privaten Vereins besetzten und auf Proteste antworteten, es liege ein revolutionärer Akt vor; vgl. Dokumente I, 70, Anm. 11, und Scholder, a.a.O., 454f. In der ersten Dienstbesprechung des Staatskommissars mit seinen Unterkommissaren fehlten Schirmacher und Themel; über die Gleichschaltung der Inneren Mission wurde dem Prot, zufolge kein Wort verloren, obwohl die Beauftragung der Genannten bereits am 24.VI. erfolgt war; das Prot, ist abgedruckt bei Baier/Wright, „Ein neues Dokument zum Staatseingriff in Preußen (1933)". So in seinem Referat „Ehrenamtliche und berufliche Mitarbeit der freien Liebestätigkeit im Wandel der Wohlfahrtspflege"; wie Anm 14. Andererseits betonte der Leiter der Abt. Gesundheitsfürsorge, Hans Harmsen, am 7.XII.1932 in einem Schreiben an die Hauptabt. III der Reichsgeschäftsstelle der NSDAP (Volksgesundheit), er sei im Rahmen einer von dieser vorgeschlagenen losen Arbeitsgemeinschaft zur Kooperation bereit; ADW, C / G 100150/1. - Daß sich damit ein Wandel der Arbeitsfelder ergeben würde, war den Verantwortlichen im CA bewußt; man verfolgte aber die Linie, die notwendige Reorganisation über den Weg des Einbaus der IM in die kommende Reichskirchenverfassung zu beschreiten. So Stahl an Koller v.8.IV. 1932; ADW, CA2042/1. Am 13.V. 1933 berichtete Jeep optimistisch, die angeknüpften Beziehungen zur NSV versprächen eine gute Zusammenarbeit; wie Anm. 60.

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I I I . D i e Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

es sich meist um lokale Vorkommnisse, die sich in der Regel an öffentlichen Mittelzuweisungen für die freien Träger entzündeten, bei denen Caritas und Innere Mission von Stadtverwaltungen und Provinzialfürsorgeverbänden offenkundig benachteiligt wurden.68 A m 18. Mai sah sich der C A deshalb genötigt, in einem Rundschreiben vor Übergriffen zu warnen und weitere Forderungen wie die, in die Vorstände der Anstalten wenigstens 51% Parteigenossen aufzunehmen und die restlichen Sitze nur mit unbedingt politisch vertrauenswürdigen Persönlichkeiten zu besetzen, abzuweisen. Die Einrichtungen der Inneren Mission trügen kirchlichen Charakter, eine Gleichschaltung widerspreche ihrem inneren Wesen: „Bei aller Bejahung der neuen Verhältnisse müssen wir es aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ablehnen, derartigen Wünschen zu entsprechen." 69 - Auch die Mitglieder der Glaubensbewegung Deutsche Christen versuchten sich vereinzelt als Handlanger der NSV-Vormachtbestrebungen. Nicht untypisch dürfte dafür der Fall des Ev. Wohlfahrtsdienstes in Guben/Brandenburg sein. Hier hatte keineswegs die örtliche N S V selbst Gleichschaltungswünsche geäußert, sondern die dortige Gruppe der DC, die nicht als Parteigenossen, sondern als stärkste Fraktion im Kirchenvorstand die Mehrheit in den Selbstverwaltungsgremien der Inneren Mission in Guben für sich beanspruchte.70 - Nun wäre es wahrscheinlich überzogen, im Kontext des Kommissariats von einem konzertierten Angriff auf den Centraiausschuß im Zusammenspiel von Deutschen Christen, N S V und Staatsapparat zu sprechen; dazu waren die Verhältnisse im Juni/Juli 1933 für alle Beteiligten noch zu wenig überschaubar. Der Eindruck ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, daß solche Motive wenigstens unterschwellig beteiligt waren, vielleicht den D C auch als Argumentationshilfe dienten, um die Politiker von der Notwendigkeit einer Gleichschaltung der Inneren Mission zu überzeugen.71

68

Vgl. das Schreiben Otto Ohls an Jeep v. 17.V. 1933 mit d e m Vermerk „persönlich und vertraulich", das über eine Beschwerde des Ev. Wohlfahrtsdienstes der Stadt und Synode Essen berichtet. Dort verlange die in der NS-Sozialarbeit noch federführende Nationalsozialistische Frauenschaft - eine Untergliederung der N S V - 60% aller G e l d e r für sich, während I M und D C V mit einem weit größeren A u f g a b e n b e r e i c h sich den Rest teilen sollten; A D W , C A 2042/1.

69

Rundschreiben R . 7 ; A D W D ü , B O , 10/3-3,3.

7(1

Brief von Pfarrer N e h m / G u b e n an den Ev. Wohlfahrtsdienst f ü r die M a r k Brandenburg v. 2.VI. 1933; A D W , C A 2042/2.

71

Ein Indiz f ü r bestehende Verbindungen zwischen D C und N S V ist auch das überaus freundlich gehaltene Schreiben Themeis, des vorgesehenen C A - K o m m i s s a r s , v . 5 . V I I . 1933 an den Leiter der N S V , den ,sehr geehrten Herrn Pg.' Hilgenfeldt. Er teilte darin seine Ernennung zum Staatskommissar mit und seine Bereitschaft, „ i n engstem Einvernehmen mit der N S - V o l k s w o h l f a h r t zum Heil unseres Volks arbeiten [zu] w o l l e n " , und fügte hinzu: „ I n der Arbeitsverbundenheit im Sinne eines nationalen und christlichen Sozialismus werden sich die Arbeitsprobleme, in Sonderheit die Abgrenzung der Gebiete, gut lösen lassen." A D W , C A 2049/1.

III.l. Das Jahr 1933

257

Zur Durchführung des geplanten Unternehmens griff Jäger auf zwei Männer zurück, die sich seit ihrem Parteieintritt 1932 als zuverlässige Nationalsozialisten und Deutsche Christen erwiesen hatten und in den folgenden Jahren den Kurs des Centraiausschusses maßgeblich mitbestimmen sollten: die Pfarrer Karl Themel und Horst Schirmacher. Schirmacher, Jahrgang 1892, konnte auf eine wechselvolle Theologenlaufbahn zurückblicken, die ihn von Gemeindepfarrämtern in Ostpreußen und Westfalen in Provinzialpfarrstellen für Volksmission und Männerdienst in Schleswig-Holstein und dann wiederum Westfalen bzw. Ostpreußen geführt hatte, bis er Anfang der 30 er Jahre in Königsberg mit Wehrkreispfarrer Müller bekannt wurde und ihm als ,Adjutant' 1933 nach Berlin folgte. Ursprünglich der Theologie Karl Barths verbunden, wandte er sich später den Deutschen Christen zu, vermochte aber an der Seite Müllers keine kirchliche Karriere zu machen, als sich dieser, um Reichsbischof werden zu können, der Richtung des jungen DC-Reichsleiters und Pfarrers Hossenfelder annäherte. Vielleicht wollte man ihn mit der Gleichschaltung der Inneren Mission auf einen Posten abschieben, auf dem er seinen Ehrgeiz befriedigen, der Glaubensbewegung gute Dienste leisten, nicht aber dem inneren Führungskreis der Deutschen Christen beim Marsch durch die kirchlichen Institutionen bis an die Schaltstellen der Konsistorialbürokratie Konkurrenz machen konnte. 72 - Während Schirmacher das Amt des Ersten Direktors übernehmen sollte, war der 1890 geborene Berliner Sozialpfarrer Karl Themel in der Nachfolge Karows zum Präsidenten des Centraiausschusses ausersehen. Themel führte als Mitglied der Reichsleitung der Deutschen Christen dort das Sozialreferat und schien deshalb besonders geeignet, die Innere Mission im DC-Sinne gleichzuschalten'. Außerdem ging er davon aus, nach der Machtergreifung' der Deutschen Christen in der werdenden Deutschen Evangelischen Kirche diese Position zu einem reichskirchlichen Sozialreferat ausbauen zu können, wodurch sich seine Machtstellung noch gefestigt haben würde. 73 Schirmacher und der seit Veröffentlichung seiner Broschüre ,Lenin anti Christus' als ,Antibolschewismus-Fachmann' der Volksmission geltende Themel kannten sich bereits von früheren gemeinsamen Aktionen in Berlin her. So hatten sie Pate gestanden bei der Gründung einer dann rasch wieder von der Bildfläche verschwundenen ,Reichszentrale zur Bekämpfung des Gottlosentums', die sich ausgerechnet im ehemaligen Freidenkerhaus in Neukölln konstituierte,74 72

73

74

Zur Vita Schirmachers cf. Friedrich Wilhelm Bauks, Die evangelischen Pfarrer in Westfalen, Nr.5415. S.a. seine Pers.-Akte im BDC und seine v.I.V. 1947 datierende Rechtfertigungsschrift „Mein Dienst in der Inneren Mission der Deutschen Evangelischen Kirche"; ADW, CA-West R 20, abgedruckt bei J-C. Kaiser, „Politische Diakonie in Republik und Diktatur". Vgl. Themeis Pers.-Akte im BDC und Meier, a.a.O., 62f. Zu seinem Memorandum „Vorschlag für ein reichskirchliches Sozialreferat" s. w.u. mit Anm.77. Dazu s. J-C. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik, 333.

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111. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

und dürften auch auf anderen Gebieten innerhalb der Glaubensbewegung zusammengearbeitet haben, bevor sie am 24. Juni mit der kommissarischen Leitung des Centraiausschusses betraut wurden. Kurz darauf, am 26. bzw. 27. Juni erschienen sie - unterstützt von einem Trupp SA, der nicht mit in das Gebäude hineinging - ohne Vorankündigung am Sitz des Centraiausschusses in Dahlem und präsentierten ihre Vollmachten.75 Diese waren sehr vage gehalten und zielten unbeschadet der recht präzisen Vorstellungen von einer Neuordnung des Centraiausschusses, die zumindest Themel mitbrachte, zunächst auf die Anerkennung des Führungsanspruchs der Kommissare durch die angeschlossenen Untergliederungen der Inneren Mission. Um den völlig überraschten Vorstandsmitgliedern des CA keine Gelegenheit zur Abwehr des offensichtlich sorgfaltig vorbereiteten Coups zu geben und jede Verbindungsaufnahme mit einflußreichen Geschäftsführern und Einzelpersönlichkeiten der Inneren Mission außerhalb Berlins zu verhindern, brachten die beiden Pfarrer gleich die Verfügung Jägers zur sofortigen Beurlaubung Jeeps, Kollers, Künneths und Harmsens mit. Die Genannten durften ihre Diensträume nicht mehr betreten und konnten auf die weitere Entwicklung vorerst keinen Einfluß mehr nehmen. - Man staunt, daß dieser an sich unerhörte Vorgang nicht sogleich einen Sturm des Protestes entfesselte, schließlich handelte es sich um ein freies Werk der Kirche ohne juristische Abhängigkeit von ihr und um ordentlich gewählte und um die Innere Mission hochverdiente Männer, die nun mit einem Federstrich faktisch entlassen wurden. Man wird jedoch die bis zum Zerreißen gespannte kirchliche Lage berücksichtigen müssen, die ständig sich überstürzende und häufig sich widersprechende neue Informationen und Weisungen hervorbrachte und dadurch Kirchenvolk wie Amtsträger in Gemeinden und Verbänden so verunsicherte, daß in diesen Tagen alles möglich schien. Problematisch mutet freilich an, daß nach dem ersten Rechtsbruch durch die Beauftragung Jägers nun ein weiterer -

75

Gerhardt II, 351, nennt den 24.VI., also den Tag, an dem Jäger von Rust eingesetzt wurde; das CA-Rundschreiben an die Landes- und Provinzialverbände der IM, das diesen von der Einrichtung des Kommissariats auch im Bereich des CA Kenntnis gab, datiert jedoch v. 27.VI.; ADW, CA 131/1 III. Da der 24. ein Samstag war, ist kaum anzunehmen, daß sich die leitenden CA-Angestellten im Dienstgebäude aufhielten; vermutlich erschienen Themel und Schirmacher also erst am Montag oder Dienstag, den 26./27., am Reichensteiner Weg, weil Gerhardt, ebd., überliefert, daß sie sofort den Direktoren und Abteilungsleitern Jeep, Koller, Künneth und Harmsen das Betreten ihrer Arbeitsräume verboten. S.dazu auch Themeis Ausführungen a u f d e r G K V.4.VII.1933; ADW, CA 761 XV. - Die Anwesenheit der SA-Männer spielte nach 1945 in dem Themel betr. Verfahren der brandenburgischen ,Landeskirchlichen Spruchstelle zur Wiederherstellung eines an Schrift und Bekenntnis gebundenen Pfarrerstandes' eine wichtige Rolle. Selbst wenn die SA das Haus nicht betrat, habe ihre Anwesenheit doch genügt, „um jeden Widerstand zu unterdrükken"; Verfahren v. 29.VI. 1949, EZA, EKD Cl/55. Schon bei der .Gleichschaltung' des Ev. Preßverbandes am 24.VI. hatte die SA eine wichtige Rolle gespielt; cf. Scholder, a.a.O., 455.

III.l. Das Jahr 1933

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wenn auch weniger prominenter - folgte, ohne daß die Betroffenen ihn als solchen öffentlich kenntlich gemacht hätten; in den Akten hat sich davon jedenfalls nichts erhalten. Themel besaß, wie gesagt, sehr klare Vorstellungen von dem, was er und Schirmacher als selbsternannte „Treuhänder unseres Herrn Jesu Christi" - wie sie sich in ihrer Grußadresse an alle Einrichtungen der Inneren Mission mit jenem den Deutschen Christen eigenen hohlen Pathos bezeichneten 76 - innerhalb des Centraiausschusses zu tun gedachten. Ein undatiertes, wenngleich vor Einführung des Staatskommissariats angefertigtes Schriftstück des deutschchristlichen Sozialreferenten gibt darüber Aufschluß. Danach sollte die Innere Mission „als Kirche in und neben der Kirche" ungeachtet weiterbestehender innerer Freiräume der Kirchenleitung direkt unterstellt werden. Frauen-, Männer-, Jugendund Sozialarbeit sowie die Volksmission wollte Themel ausgliedern und die Arbeit des CA auf männliche und weibliche Diakonie, Gesundheits-, Jugend-, Wanderer-, Gefährdeten- und Abnormenfürsorge sowie auf die Sittlichkeitsfrage beschränken. Die Arbeit an den Gesunden sollte der NSV überlassen werden, die - so die unbestimmte Hoffnung Themeis - dafür die Erholungsheime der Inneren Mission mit der von ihr betreuten Klientel belegen und auslasten würde. Kernpunkt war für ihn die Beseitigung der schädlichen Konkurrenz zwischen kirchlichem und sozialem Handeln: „Das Nebeneinander von freien kirchlichen Sozialverbänden und amtlicher Sozialarbeit der Kirche muß aufhören, letztere war vom Leben isoliert, erstere waren kirchlich einflußlos. Ziel der kirchlichen Sozialarbeit ist die Wegräumung der sozialen Hindernisse für die Verkündigung des Wortes Gottes und die Mithilfe bei der Reinigung der Gottesordnung des Volkstums."77 - Damit hatte Themel eine neue radikale Verkirchlichungstendenz markiert, an deren Umsetzung in CA-Satzung und Kirchenverfassung allerdings vor Abschluß des reichskirchlichen Neubaus nicht gedacht werden konnte. Auch blieb an dieser Konstruktion noch manches undeutlich, so der ausdrücklich erklärte Unterschied zwischen kirchlicher Sozialarbeit und den Fürsorgeaufgaben der Inneren Mission. Es scheint, als habe Themel auf eine 76 77

Vgl. das erwähnte Rundschreiben V.27.VI. S. den schon genannten „Vorschlag für ein reichskirchliches Sozialreferat", A D W , CA 876 IV/1. Interessant daran sind die in Aussicht genommenen Personalbesetzungen: Für das Referat bei der Reichskirche bzw. den Direktorenposten beim C A hatte Themel an den Leiter des Ev. Hauptwohlfahrtsamtes der Stadt Berlin und Honorarprof. an der Universität mit Lehrauftrag für das Gebiet der Wohlfahrtspflege, Prof. Ulrich, und an den Vorsteher des Spandauer Johannesstiftes, Pastor Philipps, gedacht, freilich nur, sofern sich letzterer bereit erklären würde, der Glaubensbewegung D C beizutreten. Referent für die kirchliche Sozial arbeit sollte der bisherige Geschäftsführer des Kirchlich-Sozialen Bundes, Dr. Jagow, werden. Ob Themel zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Papiers schon vorhatte, für sich den Posten des CA-Präsidenten zu reklamieren, oder ob er das Dezernat für IM und kirchliche Sozialarbeit innerhalb der neuen Reichskirche anvisierte, geht daraus nicht hervor.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Differenzierung von sozialpolitischen und sozialfürsorgerischen Tätigkeiten abheben wollen, wenn schon im traditionellen Selbstverständnis der Inneren Mission - nicht in der zeitgenössischen Definition von Sozialpolitik! - bisher beide Bereiche unter ihrem Dach vereint waren. Bevor Themel und Schirmacher aber an die organisatorische Umgestaltung herangehen konnten, mußten sie das Kommissariat und ihren Führungsanspruch gegenüber den selbstbewußten und einflußreichen Vereinsgeistlichen der Inneren Mission in den Landes- und Provinzialverbänden durchsetzen, ein Vorhaben, das sich schon deswegen schwierig genug anließ, weil viele von ihnen als Anhänger der sich formierenden Bekennenden Kirche oder als Verfechter eines neutralen ,Mittelkurses' Distanz zu den Deutschen Christen und ihrer Kirchenpolitik hielten.78 Doch der erwartete Widerstand blieb begrenzt. Einmal wohl, weil Vorstand und Geschäftsführerkonferenz des CA die weitere Entwicklung, die täglich neue Konstellationen bringen konnte, abwarten wollten; vor allem aber, weil die Kommissare ihre Stellung noch nicht konsolidiert sahen und taktisch sehr geschickt und behutsam vorgingen. Eine große Rolle spielte dabei naturgemäß die Beurlaubung der Direktoren. Als der CA-Vorstand am 30. Juni erstmals unter Themeis Führung zusammentrat, gab dieser bekannt, die Kündigung der leitenden Angestellten sei auf höhere Weisung, d.h. auf Veranlassung Jägers erfolgt; sie solle aber „in der besten Form und ohne Härte erfolgen" und werde erst zum 31. März 1934 wirksam. Der Vorstand beschloß daraufhin ein Schreiben an die Betroffenen, in dem ihre persönliche Integrität festgestellt und ihr Ausscheiden mit notwendigen Maßnahmen im Zusammenhang der Umgestaltung des CA in Anpassung an den Neubau der Kirche begründet wurde.79 Zu kommissarischen Leitern der Abteilungen Gesundheitsfürsorge und Wohlfahrtspflege berief man die Pfarrer Siegert und Prof. Ulrich; die Redaktion der Zeitschrift ,Innere Mission' übernahmen die Bevollmächtigten selbst. Zur bevorstehenden Neuorganisation führte Themel aus, der CA werde nun „gewissermaßen zu einer Behörde erhoben", der die Provinzial- und Landesverbände mit allen Einrichtungen unterstellt seien. Er bleibe aber Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, um die konfessionellen Belange gegenüber der NSV, von deren Arbeitsgebieten man sich klar abgrenzen werde, besser wahren zu können. Als Themel auch noch versicherte, außer den getroffenen Personalmaßnahmen

78

79

Viele verübelten den D C insbesondere den Kampf gegen den Leiter der Betheler Anstalten, Friedrich (Fritz) v. Bodelschwingh, der als herausragende Persönlichkeit der Inneren Mission selbst in manchen DC-Kreisen - so in Westfalen - hohe Achtung genoß und von dessen Amtsführung als Reichsbischof man sich für die IM viel versprochen haben dürfte. Vgl. das Prot. v. 30.VI. 1933; ADWDü, BO, 10/2-3,3. Jeep, Koller und Künneth sollten aus familiären Rücksichten bis zur Rechtswirksamkeit der Kündigung neben ihrem Gehalt auch noch die Aufwandsentschädigung erhalten - ein selten großzügiger Akt, der ein Indiz dafür zu sein scheint, wie sehr es den Kommissaren darauf ankam, jedem nur möglichen Protest von vornherein die Spitze zu nehmen.

III.l. Das Jahr 1933

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werde es keine weiteren Veränderungen geben, und die anwesenden Vorstandsmitglieder um ihre weitere Mitarbeit bat, sagte Präsident Karow diese namens der Anwesenden zu. Er tat dies, obwohl die Kommissare unzweideutig erklärten, den Vorstand zwar von allen Vorgängen unterrichten zu wollen, die ausschlaggebende Entscheidungsbefugnis in wesentlichen Angelegenheiten aber nicht aus der Hand geben zu können. Damit hatte der Vorstand faktisch seiner eigenen Entmachtung zugestimmt. Anderes blieb ihm in dieser Situation möglicherweise auch nicht übrig; immerhin verwundert der resignierende Rückzug selbst des Präsidenten, von dem mancher der Teilnehmer vielleicht ein offenes Wort des Protestes erwartet hatte. 80 Schwieriger wurde es für die Kommissare auf der Geschäftsführerkonferenz, die vier Tage später in Berlin stattfand. Als sich hier der Leiter des Kaiserswerther Diakonissenmutterhauses, Pfarrer Graf v. Lüttichau, über Staatseingriffe in seine Einrichtung beklagte,81 suchten Schirmacher und Themel die Ereignisse der vergangenen Wochen zu rechtfertigen. Sie führten aus, dem totalen Staat müsse heute die totale Kirche gegenüberstehen, Zwangsmaßnahmen seien dabei augenblicklich unvermeidlich; unter Umgehung von Verhandlungen habe man schnell reagieren und auch mit Verfügungen in die Entwicklung eingreifen müssen. Daraufhin erwiderte Pfarrer Eduard Fritsch, der Geschäftsführer von Kurhessen-Waldeck, gegen die reichskirchliche Einigung wende man seitens der Inneren Mission, die hier schon immer eine Vorreiterfunktion besessen habe, nichts ein; es sei aber falsch, übereilt Tatsachen zu schaffen, ohne die Probleme der sachlichen und territorialen Eingliederung der angeschlossenen Verbände zu berücksichtigen. Man dürfe weder die Fachverbände ausschließen noch die Landes- und Provinzialverbände zu bloßen Arbeitsgemeinschaften degradieren. Auch Otto Ohl lehnte sich an diese Kritik an, wenn er betonte, gegen eine Verkirchlichung der Inneren Mission sei er nicht, solange die Reform nicht eine ,Verbehördlichung' der Kirche und damit auch der Inneren Mission bedeute. Bedenklich finde er es, wenn CA und Verbände bereit seien, von sich aus das Führerprinzip in ihre Satzungen aufzunehmen, und dann der Staat mit Zwangsmaßnahmen solche Entwicklungen beschleunigen wolle. Damit war ein Thema angesprochen, das im Kampf der streitenden Kirchenparteien zentralen Stellenwert besaß und einen Hauptstreitpunkt zwischen den Deutschen Christen und ihren Gegnern bildete. Zum Schluß der Tagung beeilten sich Schirmacher und 80

81

Ebd. Allerdings handelt es sich um ein offizielles Prot, des CA, bei dessen Anfertigung Schirmacher darauf geachtet haben dürfte, daß für die Bevollmächtigten unliebsame Passagen nicht aufgenommen wurden. Vgl. das GK-Prot. v. 4.VI 1.1933; ADW, CA 761 XV. Es ging um die Zwangseingliederung der Schwestern in die Deutsche Arbeitsfront und um Forderungen des Rdl, den Vorstand des Kaiserswerther Verbandes - ein Zusammenschluß aller deutschen Diakonissenmutterhäuser - zu bestätigen bzw. einzelne Mitglieder abzuberufen und einen Vertreter des Ministeriums dorthin entsenden zu können.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Themel deshalb, den Teilnehmern zu versichern, sie betrachteten als ihr oberstes Ziel, die Innere Mission aus dem Kirchenkampf herauszuhalten; sie müsse im Gegenteil eine integrierende Funktion erfüllen und die auseinanderdriftenden Richtungen wieder zusammenbringen. - Waren es diese versöhnlichen Klänge oder taktische Gesichtspunkte des Abwartens, wenn selbst die Kritiker am Ende die Bevollmächtigten akzeptierten? Sie anerkannten sogar den behutsamen Stil der - wie es Ohl formulierte - „wohl unvermeidlichen Eingriffe in den CentraiAusschuß", ein Votum, dem sich Pastor Frick/Bremen anschloß, wenn er den Kommissaren für ihr verständnisvolles Handeln' dankte, freilich um gleich hinzuzufügen, er bitte aber um die Wiedereinstellung der beurlaubten Direktoren, deren weitere Mitarbeit aus sachlichen Gründen nicht zu entbehren sei.82 Die Kritik entzündete sich also in erster Linie an der Gewaltsamkeit der staatlichen Eingriffe und ihren Auswirkungen auf Personalfragen, wobei bemerkenswert ist, daß der förmliche Verfassungsbruch selbst nicht im Sinne einer Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit thematisiert wurde. Zu warnen wäre aber vor einer Interpretation, die in simplifizierender Manier das fehlende Bewußtsein von den Grenzen des Staates ausschließlich dem antirepublikanischen und vordemokratischen Denken der Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer anlasten wollte. Die meisten von ihnen waren noch im Kaiserreich mit seiner individuelle Freiheitsrechte wahrenden und einen hohen Grad von Rechtsstaatlichkeit sichernden Verfassung aufgewachsen und hatten damals wie in der Republik ihren Protest angemeldet, wenn diese freiheitlichen Gestaltungsmöglichkeiten bezogen auf Innere Mission und Kirche gefährdet schienen. Die eigenartige Lähmung jeden konkreten Widerstandes gegen die Übergriffe des Staates in den ersten Monaten des Jahres 1933 muß noch andere Ursachen haben und ist mit den gewiß nicht unzutreffenden - alten Erklärungsmustern von konservativer Befangenheit oder gar lutherischer Autoritätsgläubigkeit allein nicht zu deuten. Denn dann hätten Kirche und Innere Mission weiterhin schweigen und den Wünschen' des Regimes in kirchenpolitischer Hinsicht nachkommen müssen. Daß sie dies, wie der Kirchenkampf und die noch zu schildernde Entwicklung der Inneren Mission zeigen, jedoch nicht taten, sondern Widerspruch erhoben, weist auf die notwendige Ergänzung des erwähnten Interpretationsmodells hin: Wenn trotz des aufrichtigen Bekenntnisses zur neuen, qualitativ völlig veränderten Staatlichkeit dennoch auf Integrität und Autonomie von Kirche und Verbänden im jeweiligen Binnenbereich keinesfalls verzichtet wurde, gibt dies einen Hinweis auf die Irritation, die in jenen Tagen die Reaktion der Verantwortlichen bis zur Unfähigkeit zu handeln beeinträchtigte. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens scheint in den Gemeinsamkeiten' zu liegen, in vielfältigen Zielen, die man zusammen mit dem Nationalsozialismus zu verfolgen wähnte und die es ganz undenkbar erscheinen ließen, daß sich die ,Bewegung' auch 82

Ebd. Natürlich ließen sich Schirmacher und Themel darauf nicht ein.

III.l. Das Jahr 1933

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gegen ihre Anhänger und Verbündeten im kirchlichen Lager richten könnte. Der Schock dieser Erfahrung, nach dessen Überwindung das vorbehaltlose Zutrauen langsam einer realistischeren Betrachtung Platz machte, führte zu dieser Verwirrung und Erstarrung und ermöglichte den Deutschen Christen und ihrer Partei, die das Überraschungsmoment auf ihrer Seite wußten, ihren kaum anders zu erklärenden Durchbruch jenseits von Gesetz und Recht im Raum der Kirche. Und dies zernierte noch lange jede wirksame Opposition, weil das, was man tatsächlich oder nur vermeintlich an gemeinsamen Zielen besaß, bestehenblieb oder von Staat und Partei taktisch instrumentalisiert wurde, um nationalsozialistische Langzeitvorstellungen auf Kosten der düpierten ,Partner' zu realisieren. Um welche .Gemeinsamkeiten' aber ging es? Beiläufig wurde ein wichtiges Anliegen der Inneren Mission schon genannt: die Installation des Führerprinzips in den Vorständen. Neben dem Umbau des Centraiausschusses und seiner Einfügung in die Reichskirche gehörte dies zu den zentralen Zielen der Kommissare, weil sie darin die unerläßliche Voraussetzung für die Gleichschaltung des freien Protestantismus und seine Anpassung an die Politik des NS-Regimes erblickten. Bei dieser ,Reform' durften sie auf die Unterstützung der meisten Vereinsgeistlichen rechnen, von denen viele hofften, sich endlich der vielen Leitungsgremien und Vorstände, die schnelle Entscheidungen verzögerten, wenn nicht unmöglich machten, entledigen zu können. Über das in diesem Zusammenhang schon Gesagte hinaus verdient ein Antrag des Vorstehers des hannoverschen Friederikenstifts, P. Hustert, Beachtung, der die Motive zur Einrichtung des Führerpinzips in einer Eingabe an den CA noch einmal veranschaulichte: Für ihn drängten weniger ideologische Momente und die Anpassung der Organisationsstrukturen an die neue Zeit zu dessen Einführung. Auch ginge es nicht allein um die angeblich höhere Effizienz autoritärer Beschlußfassung, sondern die Anstaltsleiter trügen an dem Dilemma, daß die Verantwortung nur nominell bei ihren Verwaltungsorganen liege, realiter jedoch sie selbst vor der Öffentlichkeit für ihre Einrichtungen geradezustehen hätten. Nicht selten gelte es - so Hustert - „unter dem Druck der Verhältnisse [...] satzungswidrig zu handeln", und wenn sich im nachhinein ein getaner Schritt als falsch erweise, erfahre man peinliche und unfruchtbare Kritik seitens der gewählten Vorstände. Die Übernahme des Führerprinzips sei mithin nur die Legalisierung einer bislang schon geübten Praxis und bedeute die rechtliche Absicherung der die Verantwortung tragenden Vorsteher.83 - Wenngleich also dieser Punkt zu den gemeinsamen 83

P. Hustert an die Bevollmächtigten des CA v. 14.VII. 1933; ADW, CA 876 IV/2. - Ähnlich argumentierte ein Jahr später Bodo Heyne/Bremen. Allerdings dürfe man das Führerprinzip nicht mit einer Führerdiktatur verwechseln, welche die Geführten von jeder Verantwortung befreie: „Der Führer will verantwortungsbewußte Mitarbeiter, die in der Gemeinschaft das Werk mittragen und deren vielleicht manchmal widerstrebende Meinungen durch die Kunst der Führung in eine höhere Einheit hinaufgehoben werden. Das eben

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Anliegen gehörte, die Kommissare und leitende Männer der Inneren Mission miteinander verbanden, gab es darüber keinen inhaltlichen Konsens, wie sich mehr und mehr herausstellte. So sollte die reibungslose Übernahme des Führerprinzips während der kurzen ,Alleinherrschaft* Themeis und Schirmachers auch nicht gelingen. Dem standen aber nicht,guter Wille', sondern vor allem Probleme des Satzungsrechts entgegen, von denen weiter unten noch die Rede sein wird. Solange der Centraiausschuß sich selbst noch keine neue Satzung mit Änderungen in diesem Sinne gegeben hatte, war an eine Verwirklichung des Führerprinzips draußen im Lande nicht zu denken. Außerdem lief die Zeit des preußischen Staatskommissariats bereits Mitte Juli ab, und auch Themel und Schirmacher mußten früher, als sie erwartet hatten, ihre Vollmachten zurückgeben. III.1.2.2.2. Der Einbau der Inneren Mission in die Reichskirche Staatskommissar August Jäger war nicht so erfolgreich gewesen, wie er und seine Anhänger gehofft hatten. Sein ungeschicktes Vorgehen, d.h. der starke Druck, den er innerhalb der altpreußischen Landeskirche ausübte, führte hier zu anhaltenden Protesten, die von den Generalsuperintendenten und den suspendierten Mitgliedern des Evangelischen Oberkirchenrats getragen wurden. Durch seine Erlasse, mit denen er bis in die Gemeinden hineinzuregieren suchte, versteifte sich der Widerstand der Pfarrerschaft, so daß viele der eingesetzten Regional- und Ortsbevollmächtigten des Kommissars wie Offiziere ohne Truppe agierten. Inzwischen schritten die Arbeiten an der Reichskirchenverfassung voran. Obwohl von den geschilderten gravierenden Ereignissen begleitet, gelang es durch Einwirkung des sich nun einschaltenden Reichsinnenministers Frick, das Verfassungswerk zu Ende zu bringen. Am 14. Juli verabschiedete das Reichskabinett den Entwurf zusammen mit dem Reichskonkordat; er wurde am folgenden Tag im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. 84 Gleichzeitig zog der preußische Kultusminister Rust den Staatskommissar mit allen Unterbeauftragten zurück. 85 Damit war auch das Ende der Bevollmächtigung Themeis und Schirmachers gekommen; sie blieben zwar entgegen den Abmachungen noch bis zum 18. Juli in ihren Ämtern, mußten diese dann aber auf ausdrückliche Weisung des Reichsinnenministers, der darüber hinaus die Wiedereinsetzung der beurlaubten Direktoren verlangte, ebenfalls zur Verfügung stellen.86 Am 18. Juli erklärten

M

85 86

macht die Führung aus, daß sie innerlich überwindet und überzeugt." Vgl. ders., „Lebensund Arbeitsformen der Inneren Mission", in IM 29.1934,95-99,99. „Gesetz über die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche. Vom 14.Juli 1933"; RGBl. 19331,471-478. Die Verfügung ist abgedruckt in Dokumente 1,89. Rdl an preuß. Kultusminister v 15.VII. 1933 • Er habe erfahren, daß die kommissarischen Leiter für den CA und für den Ev. Preßverband noch immer ihr Amt ausübten; es könne aber kein Zweifel daran bestehen, daß auch ihre Bestallung mit dem Ende des preuß. Staatskommissariats hinfällig geworden sei. Ebd., 93.

III.l. Das Jahr 1933

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beide gegenüber dem CA-Vorstand ihren Rücktritt, merkten aber an, daß der Innenminister auch nach Aufhebung der Bevollmächtigung auf ihre weitere Mitarbeit im Centraiausschuß Wert lege. Eine negative Reaktion der Vorstandsmitglieder auf dieses Ansinnen ist nicht überliefert. Ob sie es nun als Zeichen ihres guten Willens gegenüber dem NS-Regime verstanden wissen wollten, wenn sie dem zustimmten, oder ob Themel und Schirmacher handfeste Argumente für den Fall einer Weigerung beibringen konnten, bleibt unklar. Möglicherweise betrachtete man es auch als nützlich, nicht jeden Kontakt zu den Deutschen Christen abreißen zu lassen, die innerhalb des CA mit Ausnahme Wendelins sonst nur durch Nichttheologen vertreten gewesen wären. Außerdem schrieb das Gesetz vom 14. Juli für den 23. des Monats allgemeine Kirchenwahlen vor, in deren Folge man mit einer ganz wesentlichen Stärkung - wenn nicht Mehrheit der DC-Fraktion rechnen mußte. Jedenfalls einigte man sich auf einen Formelkompromiß, der die Gleichordnung der Direktoren mit den ehemaligen Bevollmächtigten sicherstellte. Deren Aufgabe sollte es vor allem sein, die Verhandlungen über den „Neuaufbau der Inneren Mission und ihren Einbau in das Verfassungswerk der Kirche gemeinschaftlich mit dem [Ersten] Direktor zu führen", während diesem die gesamte innere Verwaltung des CA überlassen blieb.87 Damit besaßen Themel und Schirmacher weiterhin entscheidenden Einfluß auf die Neugestaltung der Inneren Mission, den sie in den folgenden Monaten auch nutzten. Die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche enthielt in Artikel 4, Satz 3 eine Bestimmung, die sich auf die Verbände bezog: „Die freie kirchliche Arbeit von gesamtkirchlicher Bedeutung, insbesondere auf dem Gebiete der inneren und äußeren Mission, nimmt sie [sc. die DEK] unter ihre fördernde Obhut." Diesen Passus galt es nun, in Verhandlungen mit dem neuen Kirchenregiment auszugestalten. Vorarbeiten dazu waren ja bereits im Zuge der Bewältigung des Devaheim-Skandals von dem seinerzeit eingesetzten Satzungsausschuß geleistet worden, der sein Werk wegen der sich überstürzenden Ereignisse des Frühjahrs nicht vollenden konnte. Der Ausschuß schwenkte nun ganz auf den von den Kommissaren vorgegebenen Kurs ein und stellte am 24. Juli ein Satzungspapier zur Diskussion, das bereits wesentliche Momente der im Spätherbst verabschiedeten Fassung vorwegnahm. 88 An der Spitze der Inneren Mission sollte danach künftig ein Reichsführer stehen, der gleichzeitig Geschäftsführer und Leiter

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Vgl. das Prot.; ADW, CA 876 I V / l . I m übrigen sollte das Prinzip der Einstimmigkeit gelten. Während Themel für seine künftige ehrenamtliche Mitarbeit eine Aufwandsentschädigung von 150 RM mtl. zugesprochen wurde, sollte Schirmacher 500 RM mtl. für seine noch in Ostpreußen lebende Familie und 500 RM mtl. zur Deckung der Kosten seines Zweithaushalts in Berlin bekommen. Schon am 17.VII. sprach sich der Ausschuß für die Übernahme des Führerprinzips aus; vgl. das Sitzungs-Prot.; ADW, CA 1001V/1. - Zum Prot. v. 24.VII. s. ADW, CA 876IV/1.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

eines ,Reichsamtes für die Innere Mission der DEK' sein würde. Das Reichsamt war als Rechtsnachfolger des Centraiausschusses vorgesehen; sein Leiter sollte auf Vorschlag eines neu zu konstituierenden, höchstens neunköpfigen Reichsführerrats vom Reichsbischof ernannt werden. Der Führerrat hatte aus seiner Mitte Präsident und Vizepräsident zu wählen und auch die Anstellungsverhältnisse des Reichsführers zu regeln, dem gegenüber die Landes- und Provinzialverbände weisungsgebunden waren. Dafür forderte der Ausschuß im Gegenzug die Aufhebung bisheriger Unterschiede zwischen Trägerschaften der Kirche und der freien Vereine: Alles solle künftig als Arbeit der Inneren Mission gelten, die in sich frei und beweglich bleiben und ein eigenes Existenzrecht behalten müsse, schon um die Zusammenarbeit mit den anderen Wohlfahrtseinrichtungen zu gewährleisten, weil dies die Kirche selbst nicht könne. 89 Die Befürworter einer derartigen ,Verkirchlichung' der Inneren Mission versprachen sich davon auch eine Aktivierung der Gemeinden. Da es bisher keine organische Verbindung der Arbeit mit der kirchlichen Verwaltung und der gemeindlichen ,Basis' gegeben habe, werde nun durch die Einordnung der Inneren Mission in die Kirche die Chance zur Überwindung der „langsame[n] Entfremdung weiter Volksmassen von der Kirche" genutzt. 90 Zu diesem Zweck sollte in der neuen Satzung auch ein ,Reichskongreß' verankert werden, der neben dem CA, jedoch in enger Anlehnung an ihn, für das Gesamtanliegen der Inneren Mission in der Öffentlichkeit zu werben und Freundeskreise zu sammeln hätte. Präsident und Reichsführer beriefen ihn gemeinsam ein, um die Aufgaben der Inneren Mission „nach der weltanschaulichen, sozialen, völkischen und allgemein wissenschaftlichen Seite hin zu vertiefen". 91 Es fehlte nicht an Kritikern der Satzungsreformvorschläge, die sich um den Erhalt von Selbständigkeit und Verbandscharakter der Inneren Mission bei dem bevorstehenden Einbau in die Reichskirche sorgten. Sie fragten nach der Stellung der Landes- und Provinzialverbände und der dort zu berufenden Landesführer, deren Verhältnis zu den Landesbischöfen einerseits und dem Centraiausschuß andererseits einer Klärung bedürfe, und wollten eine genaue Festlegung der Position des Reichsführers innerhalb der DEK erreichen. 92 Auch das Führerprinzip, mit dem sich alle im Grundsatz abgefunden hatten, bildete noch immer einen Stein des Anstoßes. So befürchtete Jeep, es könne eine Einschrän89

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In der Diskussion dieses Satzungsvorschlags wurde angeregt, auch Vertreter von Rdl und NSV in den Reichsführerrat zu berufen; ebd. Undatiertes Memorandum o. Vf.-angabe über die Aktivierung der Laienwelt für die IM; ebd. Ebenfalls undatierte Stellungnahme o. Vf.-angabe; ebd. Es ging darum, ob er dem Geistlichen Ministerium als Mitglied angehören oder nur in einem loseren Verhältnis zur Kirchenleitung stehen sollte, was auf die Interaktion von DEK und IM ja bedeutenden Einfluß haben mußte. Vgl. das Prot, der Vorstandssitzung v. 10. VIII. 1933; ADW, CA 876IV/1.

III.l. Das Jahr 1933

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kung der Kreativität und der vorhandenen geistigen Gaben verursachen, und Präsident Karow forderte die Trennung von Führer- und Verantwortungsprinzip; zwar müsse die Entscheidungsvollmacht in einer Hand liegen, dem Träger aber auch die alleinige Verantwortung für die gesamte Arbeit zuzumuten, ginge zu weit. Vor einer zu engen Auslegung der Vollmachten warnte der münstersche Oberkonsistorialrat Hymmen, weil das nur zu einer störenden Einmischung in gewachsene Strukturen, wie sie etwa in Westfalen vorhanden seien, führen müsse - eine Befürchtung, die Schirmacher mit dem simplen Kommentar abtat, bürokratische Hemmnisse werde es in der Reichskirche nicht mehr geben, am besten übertrage man alle Befugnisse auf den Reichsbischof, dann lösten sich die Probleme von selbst. 93 - Überhaupt kam es trotz der Vereinbarung zwischen dem CA-Vorstand und den ehemaligen Bevollmächtigten wiederholt zu Spannungen, wenn sich letztere von den zurückgekehrten Direktoren übergangen fühlten. 94 Auch merkten sie immer deutlicher, daß ihnen der deutschchristliche Rückhalt im Centraiausschuß fehlte, und drangen darauf, hier und in den angeschlossenen Einrichtungen Mitgliedern der Glaubensbewegung einen stärkeren Einfluß einzuräumen. 95 Andere Konfliktherde brachen auch an inhaltlichen Fra93

Vgl. das GK-Prot. v. 11 .IX. 1933 ; ADW, CA 761 XV. - Am 23.IX.1933 legte Dr. Albert Dinger, juristischer Mitarbeiter des C A ein Exposé zur „Übertragung des nationalsozialistischen Führerprinzips auf die Vereine etc. des bürgerlichen Rechts" vor. Dieses stelle nach geltender Rechtslage nur ein Problem bei mehrköpfigen Vorständen dar, die durch Satzungsänderung auf eine Person reduziert werden müßten. Die ehemaligen Vorstandsmitglieder könnten dann als „eine Art fakultativer Aufsichtsrat, genannt Beirat" fungieren, der jedoch nur beratende Stimme besäße. Ordentliche Mitgliederversammlungen könne man in Zukunft ebenfalls auf diese Weise ausschließen, nicht jedoch außerordentliche, die nach § 36 BGB bis zu einer Gesetzesänderung weiterhin erforderlich seien. ADW, CA 8761V/2. 94 Vgl. die Beschwerde Themeis und Schirmachers bei Karow in einer Besprechung v. 10.VIII. 1933.Sie kritisierten den ungenügenden Informationsfluß innerhalb des CA, ferner daß Jeep Rundschreiben ohne Gegenzeichnung durch sie habe herausgehen lassen, daß Jeep statt Karow seine Unterschrift unter die Vereinbarung mit der Liga vom 27.VII. 1933 (cf. Kap. II.4.2.) gesetzt habe, und schließlich monierten sie die Genehmigung eines Stadturlaubs für Koller, die „in dieser Zeit wichtigster Aufgaben" nicht hätte gewährt werden dürfen. ADW, CA 876IV/1. 95 Wenigstens zu verbalen Zugeständnissen in dieser Frage hatte sich der Vorstand noch während des Kommissariats durchgerungen, als er am 10.VIII. auf Anregung des Präsidenten ein Rundschreiben beschloß, in dem es hieß, „daß es dem Vorstand des Central-Ausschusses angezeigt erscheint, in den Vorständen der Landes- und Provinzialvereine Angehörigen der Glaubensbewegung Deutsche Christen durch Aufnahme in die Vorstände Gelegenheit zur Mitarbeit zu verschaffen"; vgl. das Prot, der betr. Vorstandssitzung, a.a.O. Erst am 18.IX. gab der CA diese Anregung an die Verbände weiter; ADW, CA 876 V/1. - Am 22.VIII. machte Themel auf der GK einen weiteren Vorstoß; diesmal argumentierte er, unter den DC gebe es eine weitverbreitete Mißstimmung gegen die IM, so daß man dort lieber in der NSV mitarbeite. Deshalb müßten die Vorstände in Richtung einer vermehrten Berücksichtigung von Deutschen Christen,umgestellt' werden ; Prot, in ADW, CA 761 XV. - Am 11 .IX. griff Karow das Thema erneut auf und wollte die stärkere Beteiligung von DCGeistlichen an der Leitungsverantwortung als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

gen auf, so, als Jeep und Künneth eigenständige Verlautbarungen zur Kirchenpolitik ohne Kenntnis der Bevollmächtigten publizierten, 96 die das als Abweichung von der vielbeschworenen Neutralität des Centraiausschusses im Kirchenstreit werteten, in dem sie selbst freilich längst Position bezogen hatten. - Es mag überraschen, daß sich Themel und Schirmacher auch Positionen des Vorstands zu eigen machten, die sie früher nicht vertreten hatten. Das geschah etwa, als man mit Blick auf die Satzung über die Zukunft der Volksmission als eigenständiger Aufgabe der Inneren Mission oder als Teil der der Kirche vorbehaltenen Verkündigung diskutierte. Während Themel vormals für eine Abgabe dieser Arbeit votiert hatte, forderten er und der Leiter der Hamburger Wichernvereinigung, der DC-Pfarrer Birnbaum, nun im Vorfeld der Integration der Inneren Mission in die Kirche die unbedingte Beibehaltung des volksmissionarischen Dienstes, weil sonst der bewährte Wichernsche Dualismus von Evangelisation und Sozialarbeit wegfalle. Gegen Ohl, der deswegen nicht an einen Zusammenbruch der Arbeit glaubte, wandte Themel ein, dann unterscheide man sich in nichts mehr von der NSV: „Die Volksmission gibt der I.M. ihr eigengesetzliches Gepräge und uns die Möglichkeit, daß wir der N. S.-Volkswohlfahrt sagen können, wir sind nicht nur ein Wohlfahrtsverband, sondern ein eigenes Gebiet und eine eigene Größe [...]. Wir würden den Charakter der I.M. bis aufs tiefste verletzen, wenn wir die Verkündigung aus der Wohlfahrtsarbeit herausnehmen würden." 97 - Die besondere Herausstellung des volksmissionarischen Anliegens gehörte zu den wichtigsten Zielen der Deutschen Christen, und die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich viele Geistliche und Prediger, die im Rahmen der Inneren Mission volksmissionarisch wirkten, sich gerade auch aus diesen Gründen der Glaubensbewegung DC angeschlossen hatten. In Anbetracht der bevorstehenden Vollendung des Einbaus der Inneren Mission in die Reichskirche wird man annehmen dürfen, daß Themel, der für sich längst das

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der NSV verstanden wissen, weil ein gutes Verhältnis der IM zur NSV von hoher Bedeutung sei; GK-Prot., a.a.O. Es handelte sich um den von Jeep und Künneth gemeinsam unterzeichneten Leitartikel des Augustheftes 1933 von ,Wort und Tat', in dem die beiden Direktoren mitteilten, daß die Zeitschrift nach Beendigung des Kommissariats nun wieder von ihren „rechtmäßigen Herausgebern" geleitet und in ihrem „ursprünglichen Geiste weitergeführt" werde; ebd., 227. Den Unwillen Themeis zog auch der Beitrag Künneths „Um die Kirche!" in der gleichen Ausgabe auf sich. Darin wurde die reichskirchliche Einigung zwar begrüßt, zugleich aber die von den D C ausgehenden gewaltsamen Begleiterscheinungen und die dadurch hervorgerufene Politisierung kirchlicher Entscheidungen kritisiert. Als besonderen Affront dürften die Kommissare eine Bemerkung über den von der kirchenpolitischen Konjunktur beeinflußten Zustrom zu den DC, der die „Preisgabe jeder kritischen Besinnung" bedeute, aufgefaßt haben; ebd., 228-230, Zit. 229. Auf der GK v. 22.VIII. wandte sich Themel scharf gegen diese beiden Veröffentlichungen; a. a. O. So auf derGKv.22.VIII. 1933; ebd.

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Präsidentenamt ansteuerte, nun keine Arbeitsfelder mehr preisgeben wollte. Außerdem würde er auch in dieser Funktion auf die Kooperationsbereitschaft des Vorstandes der Geschäftsführer angewiesen sein und wollte sich nicht gegen den Vorwurf zur Wehr setzen müssen, er vertrete nicht die Interessen seiner Organisation. - Der Aufruf zur vermehrten Berufung deutschchristlicher Vorstandsmitglieder blieb im ganzen ohne das gewünschte Echo, so daß für ihn abzusehen war, daß sich diese Tatsache auch nach seiner erhofften Berufung zum Präsidenten nicht so schnell ändern würde. Inzwischen hatte sich die kirchenpolitische Szenerie seit dem Rückzug des preußischen Staatskommissars von Woche zu Woche aufs neue gewandelt. Nach dem Triumph der Deutschen Christen bei den Kirchenwahlen am 23. Juli, in denen sie in allen Landeskirchen mit Ausnahme Westfalens die absolute Mehrheit erringen konnten, war Ludwig Müller Anfang August auf Beschluß des Kirchensenats vorübergehend zum Präsidenten des EOK mit dem Titel ,Landesbischof' ernannt worden, was die preußische Generalsynode am 5. September insofern bestätigte, als sie Müller durch Kirchengesetz zum Landesbischof in Preußen machte, während das Amt des EOK-Präsidenten wieder für einen Volljuristen reserviert blieb und später mit Rechtsanwalt Dr. Werner besetzt wurde. Am 27. September fand dann in Wittenberg die Nationalsynode der Deutschen Evangelischen Kirche statt, die Müller ohne Gegenstimme zum Reichsbischof wählte und ein Geistliches Ministerium, bestehend aus einem Juristen und drei Theologen, zur Führung der Reichskirche einsetzte. Die .Machtergreifung' der Deutschen Christen schien abgeschlossen, und Müller proklamierte vor der Synode das Ende des kirchenpolitischen Kampfes. 98 Nun war dies keineswegs der Fall, wie kundigen Beobachtern angesichts der verworrenen und hier nicht weiter zu skizzierenden Geschehnisse bis zur Wittenberger Nationalsynode klar sein mußte. Zahlreiche Fragen wie die nach der Integration der außerpreußischen Landeskirchen und der Verbindlichkeit des von der preußischen Landessynode Anfang September eingeführten sogenannten Arierparagraphen für die DEK blieben offen, und es kam nun darauf an, ob es Müller gelingen würde, Lösungen in seinem Sinne voranzutreiben. Auch das Verhältnis von DEK und Innerer Mission harrte noch einer definitiven Klärung, obwohl der Centraiausschuß manchen Forderungen der Deutschen Christen, wie jener nach der Übertragung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf die Kirche für seinen Bereich, in der Zwischenzeit eher beiläufig nachgekommen war." Keinesfalls wollte man seitens der neuen preußischen 98 99

Vorstehendes nach Scholder, a. a. O., 560 ff. Das beschloß der Vorstand am 10.VIII. 1933 mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß der Arierparagraph auch für seine Mitglieder gelte. Da die meisten von ihnen ev. Pfarrer waren, hatte er damit eine Entscheidung vorweggenommen, die noch in keiner Landeskirche Gesetz war und von der preußischen Landessysnode als Vorreiter erst Anfang September beschlossen wurde, was dann bekanntlich mit zur Gründung des Pfarrernotbundes

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Kirchenführung den Status quo einer doppelten Führung des CA durch DCBevollmächtigte und gewählte Direktoren erhalten, sondern verfolgte unvermindert das Ziel einer völligen Gleichschaltung der Inneren Mission, wie ein auf Drängen Jägers am 6. September zustande gekommener Beschluß des preußischen Kirchensenats ausweist.100 In den Wochen danach scheinen Themel, Schirmacher und der Kreis um Müller den Entwurf für ein Rahmenabkommen mit der Inneren Mission ausgearbeitet zu haben, das ihnen die alleinige Führung des Centraiausschusses sichern sollte. Er knüpfte in der Tendenz an die früheren Vorstellungen Themeis und des Satzungsausschusses an,101 war jedoch wesentlich konkreter gefaßt und hatte die Aufgabe, Leitlinien für die noch immer nicht zum Abschluß gelangte Satzungsreform des CA vorzugeben. Danach wollte man innerhalb der DEK ein ,Reichsamt für die Innere Mission' schaffen, das einem Mitglied des Geistlichen Ministeriums unterstand. Alle Einrichtungen der Inneren Mission würden gegenüber diesem Reichsamt weisungsgebunden sein und ihm ihre bestehenden Vollmachten übertragen. Zur Bedingung für die „kirchliche Förderung und Anerkennung" machte der Entwurf die Einsicht in die Geschäfts- und Wirtschaftsführung der Anstalten, Mitwirkung kirchlicher Vertreter bei allen Personalentscheidungen und ihre Zustimmung bei der Aufnahme neuer Arbeitsfelder und wichtiger sonstiger Veränderungen. Von ausschlaggebender Bedeutung aber war die Gründung zweier Abteilungen innerhalb der DEK, einmal für die Bereiche Männer, Frauen, Eltern und Jugend und dann für Diakonie in engerem Sinne. Die Leiter dieser Abteilungen sollten den Titel ,Propst' tragen und einem vom Reichsbischof zu berufenden Bischof als ,Reichsführer der Inneren Mission' unterstehen, der wiederum selbst einem Mitglied des Geistlichen Ministeriums direkt zugeordnet wäre.102 In allen Punkten ließ sich dieser Entwurf, dessen Urheber Themel gewesen sein dürfte, jedoch nicht durchsetzen. Es kennzeichnet seinen persönlichen Ehrgeiz,

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führte. Man lehnte sich dabei freilich an die bereits übliche Praxis in den ehemaligen Ligaverbänden an und nahm keineswegs Bezug auf einschlägige Forderungen der DC. So mochte bei deren Gegnern im Vorstand der Eindruck entstehen, der nun auch im CA eingeführte Arierparagraph sei in erster Linie auf die nichttheologischen Mitarbeiter anzuwenden - jedenfalls erhob dem Protokoll zufolge niemand Einspruch dagegen; ADW, CA 876 IV/1. „Der Kirchensenat wünscht, daß der Vorstand des Zentralausschusses für Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche entsprechend dem Beschluß der altpreußischen Generalsynode vom 5. September gleichgeschaltet wird und daß die Pfarrer Themel-Berlin und Schirmacher-Königsberg [!] die Leitung des Zentralausschusses und damit die Führung der Inneren Mission unverzüglich übernehmen." Diese Entschließung sollte dem CA-Präsidenten Karow zugeleitet werden; Prot.-Auszug der 55.Tagung des Kirchensenats v. 6.IX. 1933; EZA, EOK Gen XII-12-11. S. a. Scholder, a. a. O., 602. S. Anm.77und87. Undat. Entwurf o. Vf.-angabe einer „Verordnung über die Errichtung eines Reichsamtes für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche"; ADW, CA 876 IV/1.

III.1. Das Jahr 1933

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aber auch seine überzogenen Vorstellungen von der kirchlichen Qualität der CA-Führungsämter, wenn er den Reichsführer, als den er sich schon sah, mit dem Bischofstitel ausstatten wollte. Dazu reichten weder sein Einfluß auf den Reichsbischof noch sein persönliches Format aus. Auch die bis ins Detail gehenden Ideen von einer lückenlosen Kontrolle aller Einrichtungen übernahm die endgültige Fassung nicht, die auf einer feierlichen Sitzung des Hauptausschusses am 18. Oktober in Gegenwart Müllers und des für die Innere Mission zuständigen reformierten Kirchenministers Otto Weber ohne Gegenstimme angenommen wurde. 103 In fünf Punkten regelte das Abkommen die künftigen Beziehungen zwischen DEK und CA in Ausführung des erwähnten Satzes der Kirchenverfassung, daß die D E K bereit sei, die Innere Mission ,ihrer fördernden Obhut' zu unterstellen. Danach blieb diese mit dem CA als selbständige Organisation bestehen; zu ihrer „Förderung" richtete die Reichskirchenregierung die schon bekannten beiden Abteilungen für allgemeine und spezielle Diakonie ein, an deren Spitze je ein Referent im Geistlichen Ministerium stand. Den Referenten der ersten Abteilung sollte der Centraiausschuß gleichzeitig zu seinem Präsidenten und zum Reichsführer der Inneren Mission und seinen Kollegen zum Direktor des CA bestellen. Der Reichsführer würde der D E K für seine Tätigkeit verantwortlich sein, der Direktor jedoch lediglich dem Centraiausschuß ; die engere Bindung des Reichsführers an die Kirche zeigte sich auch darin, daß diese sein Gehalt tragen wollte. Im Vorfeld der Abstimmung über die dann akzeptierte Regelung hatten einige Teilnehmer noch Bedenken geäußert. Ihnen leuchtete offensichtlich deren eigentliche Zielsetzung nicht ein, und außerdem vermißten sie eine Passage über den Modus der Bestellung der Referenten - eine Mitwirkung des CA schien jedenfalls nicht beabsichtigt. Daraufhin übermittelte Weber dem CA-Präsidenten noch am gleichen Tage kurz vor der Zusammenkunft zwei Schreiben, mit denen er diese Vorbehalte auszuräumen hoffte. Zunächst betonte er, der Vertragsentwurf habe eigentlich nur die beiden Schwerpunkte: Die Wahrung der Eigenständigkeit der Inneren Mission, aber auch derjenigen Verbände, die wie das Frauenwerk ihr bisher nicht angeschlossen seien, und eine Stärkung des geistlichen Einflusses [sie] der D E K ; ansonsten wolle man die von Karow eingeschlagene Politik sparsamer Wirtschaftsführung und Entbürokratisierung fortsetzen, könne freilich aber nicht für den CA finanziell haften. Der zweite, wesentlich kürzer gehaltene Brief versprach ausdrücklich, sich vor Ernennung der Referenten mit dem CA-Vorstand ins Benehmen zu setzen - das sei eine „Selbstverständlichkeit" und daher nicht in den Wortlaut des Abkommens eingefügt worden. 104 - Natürlich war dies reine Schönfärberei, denn die Reichskir103 104

Das folgende nach dem HA-Prot. v. 18.X. 1933; A D W D ü , BO, 10/1-1. Ebd. - Der Beschluß der 4. Sitzung des Reichskirchenkabinetts v. 17.X.1933, das Abkommen mit der IM betreffend, enthielt als letzten, dem CA nicht übermittelten Satz, daß

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

chenregierung dachte gar nicht daran, auf Gegenvorschläge des Centraiausschusses einzugehen. Ohnehin mußte allen Anwesenden klar sein, wie die Kandidaten hießen; Karow aber glaubte wohl, wenigstens sein Gesicht gewahrt zu haben. Da in der gleichen Sitzung auch die Personalentscheidungen fallen sollten, konnten für die neuen Ämter eigentlich nur Themel und Schirmacher in Frage kommen. Und so war es denn auch: Als Karow den Rücktritt des alten Vorstands bekanntgab und die Wahl der ehemaligen Kommissare durch Zuruf vorschlug, erhob sich kein Widerspruch. Er selbst wurde auf Anregung Wendelins zum Ehrenpräsidenten ernannt, die Pfarrer Braune/Lobetal, Halbach/ Nürnberg und auch Wendelin/Dresden zu Vizepräsidenten.105 Dann ergriff Müller das Wort zu einer weitschweifigen und in der,Sprache Kanaans', d.h. in seiner bekannten frömmelnden Diktion gehaltenen Grußadresse. Er bezog sich auf die zurückliegenden und noch ausstehenden Kämpfe mit den „erbitterten Feind[en] des Kreuzes Christi", womit er das ,christusfremde Judentum' und die katholische Kirche meinte, und warb dann um Verständnis für die revolutionäre Umgestaltung der Kirche. Zwar hätten diejenigen, die den neuen Staat aufbauten, oft kein persönliches Verhältnis zur Kirche, woran diese Mitschuld trage, sie glaubten aber an Gott. Auf die Innere Mission ging er bezeichnenderweise gar nicht ein und verschwand unmittelbar nach dieser Ansprache wieder. Nach einer abschließenden Rede Themeis, in der dieser nochmals auf die christlichen Grundlagen des NS-Staates verwies, sandte der Hauptausschuß ein Ergebenheitstelegramm an Reichspräsident und Reichskanzler, das in den Worten gipfelte, die Vertreter der gesamten Inneren Mission „stehen fürbittend hinter Ihnen und geloben Ihnen Treue".106 Einen Tag nach dieser denkwürdigen Sitzung, mit der fürs erste das Ende jener Inneren Missions-Arbeit besiegelt schien, wie sie seit Wiehern fast 100 Jahre lang durchgeführt worden war, traten die Geschäftsführer zu einer Tagung in der Kirchenkanzlei der DEK zusammen. Schon der Ort sollte die neue Verbundenheit mit dem Kirchenregiment symbolisieren, und gleich zu Beginn beschwo-

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„Einverständnis" darüber herrsche, „daß als Präsident des Centrai-Ausschusses Pfarrer Themel, als Direktor Pfarrer Schirmacher in Betracht komme"; vgl. den Prot.-Auszug in EZA, EKD, B3/52. Als der Reichsbischof im Sitzungssaal, dem ev. Gemeindehaus in Dahlem, erschien, ging Karow ihm entgegen und gelobte in einem Grußwort „treue Mitarbeit in der frohen und festen Erwartung, daß auch die Neuordnung der Dinge der Inneren Mission das nicht nehmen wird und kann, woraus sie gelebt hat seit den Tagen Wicherns bis heute, nämlich die Freiwilligkeit und Selbständigkeit der Liebesarbeit in unserer Evangelischen Kirche". Dann nahm er auf die ausscheidenden Vorstandsmitglieder Bezug und rühmte vor allem die Verdienste Jeeps: „Von dem Vertrauen, daß Herr D. Jeep bei seinem Antritt vorgefunden hat, ist auch nicht ein Atom abgebrochen." Wie Anm. 103. - Wenn dies kritisch gegenüber den neuen Herren des CA gemeint sein sollte, so war es auch schon das äußerste, was sich der bisherige Präsident an Kritik an diesem Rahmenabkommen leistete. Ebd.

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ren Themel und Schirmacher den ,Geist der Kameradschaft', der jetzt in Kirche und Innerer Mission einziehen müsse. Darunter verstanden sie vor allem die enge Kooperation mit den Deutschen Christen, die nun endlich beginnen sollte. Man brauche Leute mit guten Kontakten zur Partei, um so Gleichschaltungsversuche von außen erfolgreich abwehren zu können. Außerdem schütze die Zusammenarbeit die Innere Mission vor dem Verdacht, „ein Lager der Reaktion zu sein"; viele Klagen über Zusammenstöße mit der NSV hätten ihre Ursache darin, daß man dem berechtigten staatlichen Verlangen noch nicht nachgegeben habe, „50% jeden Vorstandes aus Nationalsozialisten oder Deutschen Christen" zu bilden. Am besten berate man sich vor Personalentscheidungen mit den Sozialreferenten der jeweiligen Gauführung der DC. In der anschließenden Diskussion unterstützte Pastor Frick die Argumentation Themeis und Schirmachers, wenn er es als eine „Gewissenspflicht" bezeichnete, aktive Mitglieder der Glaubensbewegung in die Vorstände zu berufen. Kritik wurde in der Versammlung jedenfalls nicht geäußert; dabei hätte man diese gerade von den selbstbewußten Geschäftsführern und Vorstehern erwarten können, die sich anders als viele Vorstandsmitglieder des CA auf das Vertrauen bedeutender Landesverbände und großer Einrichtungen stützen konnten und in ihrer Mehrheit bekanntlich keine Anhänger des neuen Kirchenregiments waren.107 Wiederum scheint die Parole ,abwarten' gelautet zu haben, d. h. man wollte beobachten, wie sich die klingenden Absichtserklärungen 108 in der Praxis auswirken würden. Erst als dann in den kommenden Wochen Ereignisse eintraten, die das Reichskirchenregiment und die Glaubensbewegung um jeden Kredit zu bringen drohten, erhoben einige dieser Männer ihre Stimme. Wer nun gedacht hatte, mit dem Rahmenabkommen zwischen Centraiausschuß und Reichskirche sei trotz vielfältiger Zugeständnisse ein tragfähiger Grund für die Zukunft der Inneren Mission im Dritten Reich gelegt worden, 109 mußte sich bald eines Besseren belehren lassen. Das rührte nicht von der Qualität des Vertrages und zunächst auch nicht von den Problemen seiner praktischen Umsetzung innerhalb der Organisation evangelischer Liebestätigkeit her, sondern hatte seine Ursache fürs erste allein in der Zuspitzung der kirchenpolitischen Lage bis 107

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Vgl. das GK-Prot. v. 19.X. 1933; ADW, CA 761 XV. Statt über das Abkommen vom Vortage miteinander zu sprechen, erörterten die Teilnehmer die Gründung eines ,Volksvereins', um den Gedanken der ev. Liebestätigkeit im Kirchenvolk zu fördern; darauf wird weiter unten eingegangen. S. neben den genannten Belegen auch das Rundschreiben des CA v. 1.XI.1933; ADW, CA 138/1 III. Der seit November für die Zeitschrift ,IM' zuständige Schriftleiter, P. Gerhard Schröder, rühmte den Vertrag als „Anfang einer ganz großen Aufgabe für die I. M." Für die weitere Entwicklung gelte das Wort .„Männer machen die Geschichte', Männer, die von innerster Liebe zu dem großen Dienst und Werk der I. M. und ihrem Herrn erfüllt sind". Daß er in erster Linie in Themel und Schirmacher diese ,Männer' sah, ist anzunehmen. Vgl. ders., „Der Weg der Inneren Mission im Jahre 1933", in: IM 29.1934,12-22,16.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Weihnachten 1933. Die eben erst gegründete Reichskirche und die sie tragenden Deutschen Christen sollten binnen weniger Wochen erfahren, auf welch schwankendem Boden sie sich bewegten und daß ihre Machtstellung noch keineswegs konsolidiert war. Die Rückwirkungen der dramatischen Ereignisse des November und Dezember 1933 auf den Neubau der Inneren Mission bewiesen nur zu deutlich, wie sehr man hier in Abhängigkeit von außen gehandelt hatte und d a ß die in dem Vertrag vom 18. Oktober kulminierende Entwicklung noch längst nicht zum Abschluß gekommen war, vor allem aber keine ,endgültigen' Markierungen hatte setzen können. Auf eine Anregung des Reichsinnenministeriums hin erließ der neue Reichsbischof am 11. Oktober eine „Kundgebung für den gesamten Pfarrstand", die noch einmal das Ende des Kirchenstreits proklamierte und - der wesentliche Punkt - allen Geistlichen zusicherte, niemandem entstünde ein Nachteil, der nicht Mitglied der Deutschen Christen sei.110 Damit wollte Müller einen Beitrag zur Befriedung der innerkirchlichen Situation leisten, löste aber andererseits auch dort ein Echo aus, wo er es gewiß nicht erwartete: bei den deutschgläubigen Gruppierungen innerhalb der NSDAP, denen die exklusive Unterstützung der Partei für die DC schon lange ein Dorn im Auge war und die deshalb auf die Erneuerung des Bekenntnisses zur religionspolitischen Neutralität des Nationalsozialismus drängten. Das kam starken Kräften innerhalb der Parteiorganisation entgegen, und schon zwei Tage später, am 13. Oktober, verfügte Rudolf Heß als Stellvertreter des Führers unter ausdrücklichem Bezug auf Müllers Erklärung, daß kein Nationalsozialist wegen seiner Konfession oder auch Konfessionslosigkeit in irgendeiner Weise benachteiligt werden dürfe, da die Glaubensbindung zu seinen Privatangelegenheiten gehöre." 1 Auf diese Weise war der Anspruch der Glaubensbewegung, das Christentum, so wie sie es verstand, innerhalb des Dritten Reiches als Quasi-Staatsreligion dauerhaft zu etablieren, abgewiesen - ein Signal, das man im Lager der D C sogleich richtig interpretierte. Ihr radikaler deutsch-völkischer Flügel, dessen Wortführer den Gau Berlin beherrschten, griff nun den Reichsbischof und seine Kundgebung an und warf ihm vor, mit seiner .Revolution in der Kirche' auf halbem Wege stehengeblieben zu sein: Statt eine neue, wahrhafte Volksküche zu bauen, sei man dabei, die alte Pastorenkirche wieder zu restaurieren. Der ganze Unmut dieser Fraktion entlud sich am 13. November auf der berüchtigten Sportpalast-Kundgebung des Gaues Groß-Berlin. 112 Gauobmann Dr. Reinhold Krause, von Beruf Studienassessor, forderte die über 20.000 Teilnehmer in der überfüllten Halle auf, endlich mit der neuen Volkskirche Ernst zu machen, und beschrieb diese dann in Anlehnung an die aus Rosenbergs ,Mythus' bekannte Gedankenwelt:

110 111 1,2

Das Folgende wieder nach Scholder, a. a. O., 666 ff. Text abgedruckt in Dokumente 1,145. Dazus.Scholder,a.a.O.,702ff.

III.l. Das Jahr 1933

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Alles Undeutsche müsse aus Gottesdienst und Bekenntnis verschwinden, vor allem das Alte Testament mit seiner „jüdischen Lohnmoral", seinen „Viehhändler- und Zuhältergeschichten" habe in der deutschen Kirche keinen Platz mehr; auch das Neue Testament müsse von der „Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus" gereinigt werden, um die „reine Jesuslehre" wieder zur Grundlage der Kirche zu machen. 113 Die Folgen dieser Kundgebung waren für die Deutschen Christen verheerend. Die Glaubensbewegung wurde trotz eiliger Distanzierung von ihrem Berliner Gauobmann mit dessen Thesen identifiziert, und auch das deutschchristliche Kirchenregiment, die Stellung des Reichsbischofs und seines Geistlichen Ministeriums gerieten ins Wanken. Als Hitler seinem persönlichen Beauftragten' in einer Unterredung am 29. November bedeutete, er müsse mit seinen Schwierigkeiten selber fertigwerden und dürfe nicht mehr auf Rückendeckung durch die Partei hoffen, riß diese Entscheidung seinem Kirchenregiment den Boden unter den Füßen hinweg. Das gerade erst acht Wochen arbeitende Geistliche Ministerium, dem die Bekenntnisfront seit dem Sportpalast-Skandal unablässig zugesetzt hatte, reichte seine Demission ein. - Dieser Niedergang von Deutschen Christen und Reichskirchenregierung wirkte natürlich auf die der DEK angeschlossenen protestantischen Vereinsgruppierungen zurück; auch innerhalb der Inneren Mission ließ der Druck langsam nach, der bisher jede grundsätzlichere Kritik und damit auch die entschiedene Abwehr des deutschchristlichen Einflusses gehemmt hatte. Im Zusammenhang mit den Personalveränderungen in der Reichskirche schien führenden Mitgliedern des Centraiausschusses nun die Zeit gekommen, auch hier über personelle Konsequenzen nachzudenken. So wandte sich Vizepräsident Braune an zwei Vertrauensleute unter den Geschäftsführern, die Pfarrer Otto Ohl/Langenberg und Eduard Fritsch/Kassel, und fragte sie, ob sie nicht auch glaubten, daß Themel jetzt zurücktreten müsse; er selbst sei dieser festen Überzeugung: „sowohl wegen der Art und Gewalt, mit der er dem C.-A. vorgesetzt ist, als auch wegen seiner persönlichen Haltung, die nicht gerade dem inneren Wesen der auf dem Evangelium ruhenden Inneren Mission entspricht". Er finde es bedauerlich, wenn die Arbeit schon wieder durch neue Gesichter an der Spitze beeinträchtigt werde, glaube aber, dies sei besser als die „schleichende Vertrauenskrise" weiter zu ertragen. Im übrigen könne es sein, daß er selbst zu Gesprächen über die Zukunft des Centraiausschusses herangezogen werde, und er lege deshalb Wert auf die Ansicht anderer Vorstandsmitglieder.114 Während eine Antwort Ohls nicht überliefert scheint, reagierte Fritsch umgehend. Er stoße sich weniger an der Person Themeis „als an der Art, wie er uns aufoktroyiert wurde". Schirmacher solle man aus taktischen Gründen halten, um damit zu demonstrieren, daß man keine „Gegenrevolution" inszeniere, sondern weiterhin 113 114

Zit. ebd., 704 f. Braune an Otto Ohl v. l.XII. 1933; ADWDü, BO, 10/2-3,3.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

die Verbindung mit der DEK suche. Wahrscheinlich müsse man über das ganze Abkommen mit der DEK neu verhandeln mit dem Ziel, daß der CA seine Präsidenten wieder selbst wählen könne. Dazu bedürfe es aber konkreter Vorschläge: Karow komme wegen seiner Zustimmung zu diesem Oktroi nicht in Frage, v. Bodelschwingh sei derzeit noch eine „zu starke kirchenpolitische Belastung", übrig bleibe nur P. Constantin Frick/Bremen. Mit der Ausgliederung der Frauenverbände aus der Inneren Mission habe die Reichskirche den Vertrag vom 18. Oktober gebrochen. Wenn es so weitergehe, laufe der CA Gefahr, neben der Jugend auch noch die Männerarbeit und schließlich gar die Volksmission zu verlieren.115 Ob Themel über diese eher privaten Sondierungen einzelner, die gleichwohl zu den führenden Persönlichkeiten der Inneren Mission zählten, Bescheid wußte, geht aus den Akten nicht hervor. Daß sich aber seine Stellung zunehmend verschlechterte, wird ihm spätestens nach einem Ereignis klar gewesen sein, mit dem das an Aufregungen kirchenpolitischer Natur nicht arme Jahr 1933 abschloß: mit einem „Schurkenstreich" des Reichsbischofs, wie Wurm es später nannte, nämlich der Überführung der evangelischen Jugendverbände in die Hitlerjugend, die Müller am 19. Dezember sozusagen im Alleingang in einem Vertrag mit dem Reichsjugendführer Baidur von Schirach vollzog - ein letzter, wenngleich fehlschlagender Versuch, sich Vertrauen und Unterstützung des Kanzlers und seiner Partei nach all den Debakeln der vergangenen Monate erneut zu sichern.116 Die ungeheure Erregung, die sich daraufhin der protestantischen Öffentlichkeit bemächtigte, veranlaßte CA-Präsident Themel, sich noch zwischen den Jahren in einem Rundschreiben an die Geschäftsführer zu wenden. Denn da die meisten Organisationen der weiblichen und männlichen Jugendarbeit dem Centraiausschuß assoziiert waren, ging dieser Vertrag auch die Innere Mission etwas an. In einer neun Punkte umfassenden Erklärung wies Themel jede Mitverantwortung an diesem Fait accompli Müllers zurück, suchte aber zugleich ein gewisses Verständnis für die Haltung der Reichskirchenregierung und des Staates zu wecken: Die Stellung der evangelischen Jugendverbände sei seit der .Machtergreifung' problematisch gewesen, denn wie das Beispiel Italien zeige, könne der NS-Staat auf eine einheitliche Jugenderziehung nicht verzichten; offenbar sei der „Wille des Staates zur Einigung der Jugend" nicht ernst genug genommen worden. Zwar habe er - Themel - noch versucht, sich in die laufenden Verhandlungen einzuschalten, jedoch vergeblich. Im Abkommen fehle vor allem ein Passus über die künftige volksmissionarische Arbeit in der Hitlerjugend. Es komme jetzt darauf an, dieses Anliegen nachträglich durchzusetzen und alle Kräfte zu mobilisieren, um den Erhalt der Gruppen

1.5

1.6

Brief V.4.XII.1933; ebd. Zur Ausgliederung des Ev. Frauenwerkes vgl. nochmals J-C. Kaiser, „Das Frauen werk der Deutschen Evangelischen Kirche". Dazu Scholder, a. a. O., 730 ff.

III.1. Das Jahr 1933

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für die über 18 jährigen zu sichern. Die Innere Mission, Männer- und Frauenbünde würden von dem Vertrag nicht tangiert; ihre Eigenständigkeit sei vom Reich gewährleistet. Niemand dürfe jetzt resignieren, alle müßten zusammenstehen, um in neuer Form den alten Auftrag zu erfüllen. 117 Im Rückblick auf das Jahr 1933 und seine Bedeutung für die Innere Mission heben sich zwei Schwerpunkte heraus: die Position zu Programm und ersten Maßnahmen des nationalsozialistischen Staates sowie der Versuch einer Klärung des Verhältnisses zur verfaßten Kirche. Beide Themen sind ineinander verschränkt und nicht isoliert zu betrachten. Abgesehen von den auf soziale Praxis bezogenen Tätigkeitsfeldern der Inneren Mission, deren langsame Umgestaltung durch die wohlfahrtspflegerischen Intentionen des Dritten Reiches die Kirche selbst nur indirekt tangierte, verlief die kirchenpolitische Entwicklung in Centraiausschuß und werdender Reichskirche bis zu einem gewissen Grade parallel. Die gleichen evangelischen Gruppierungen, die im Kampf um Verfassungswerk, Reichsbischofsamt und Bekenntnis schließlich zu kirchenpolitischen Fraktionen wurden, bestimmten in ihrem Ringen um ausschlaggebenden Einfluß in Kirche wie Centraiausschuß die Geschehnisse dieses Jahres in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen. Eine Einschränkung ist allerdings sofort zu machen: Der Kampf auf landeskirchlicher und DEKA-Ebene spiegelte sich im Spektrum des Verbandsprotestantismus und hier vor allem in der Inneren Mission trotz Staatskommissariat und Gleichschaltungsinitiativen wesentlich verhaltener wider, weil die kirchenpolitische Auseinandersetzung für die Deutschen Christen und ihre Gegner Priorität besaß. Auch dämpfte der praktische Vereinszweck mit seinem Netz bestehender Verantwortlichkeiten für Krankenhäuser, Ausbildungsstätten der weiblichen und männlichen Diakonie, Anstalten und sonstige Einrichtungen das Echo des Kirchenstreits in diesen Institutionen. Diejenigen der Vorsteher, Geschäftsführer und CA-Direktoren, die offen Partei ergriffen, taten das nicht namens der von ihnen verwalteten Ämter, sondern als Theologen, die sich von den Vorgängen in ihrem geistlichen Selbstverständnis persönlich betroffen fühlten. Sie wußten dennoch um die zu wahrende Differenz zwischen Leitungsverantwortung und,privatem' kirchlichen Engagement, das sie um ihrer beruflichen Aufgaben willen nur in sehr vorsichtiger Form in erstere einbrachten. Sie hatten fast ohne Ausnahme die Machtergreifung' begeistert begrüßt; viele standen anfangs auch den Deutschen Christen nahe, ohne sich mit deren theologischen und kirchenpolitischen Intentionen in jedem Fall zu identifizieren. Für eine Distanzierung von der Glaubensbewegung sahen sie 1933 wenig Grund, dafür schien die Gemeinsamkeit der Ziele doch zu offenkundig: Der angekündigte Aufschwung der Volksmission, die Überwindung der laizistisch orientierten Wohlfahrtskonkurrenz der ,Systemzeit' durch staatliche Machtmittel, die angenommene christliche Grundlegung der NS-Politik und der von ihr zu schaffen117

Rundschreiben V.28.XII.1933; ADWDü, BO, 10/2-3,3.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

den Volksgemeinschaft gehörten zu den Hoffnungen, in denen man sich mit den Deutschen Christen einig war. Daß es daneben Unstimmigkeiten gab, etwa bei der Bewertung des Alten Testaments, der Frage der Person des Reichsbischofs oder im Hinblick auf den Arierparagraphen, hielten viele für sekundär und im Laufe der Entwicklung überwindbar. Die Trennung von organisations- und kirchenpolitischem Bereich ging so weit, daß selbst das Staatskommissariat Themeis und Schirmachers nicht zum Anlaß genommen wurde, seitens des Centraiausschusses und der gesamten Inneren Mission energisch zu protestieren, den Rechtsbruch öffentlich als solchen zu brandmarken und die angeschlossenen Verbände zur Abwehr zu mobilisieren. Die Gründe dafür wurden dargelegt. Daß aber selbst CA-Präsident Karow, der in seiner Eigenschaft als preußischer Generalsuperintendent unbestritten mutig hervorgetreten war und den Eingriff in die altpreußische Landeskirche in aller Öffentlichkeit verurteilt hatte, innerhalb des CA-Vorstands schwieg, ist ein weiteres Indiz für den hoch angesetzten Wert der Verbandsintegrität und der Kontinuität, die unter keinen Umständen durch die Vorkommnisse an der Spitze von Kirche und Verbänden beeinträchtigt werden sollte. Vielleicht rechneten die Deutschen Christen und ihre Kommissare auch mit dieser Einstellung, die ihre Aktion erleichterte, sich freilich auf Dauer auch als Störfaktor erweisen konnte. Selbst die Beurlaubung respektive Entlassung der führenden Persönlichkeiten des CA vermochte diese Zurückhaltung nicht aufzuheben. Es rächte sich, daß man infolge der Devaheim-Katastrophe bereits einen Austausch der Führungsspitze mit Ausnahme des Präsidenten vorgenommen hatte, der die Innere Mission schwächte und ihr in personeller Hinsicht einen denkbar .schlechten Start' in das ,Dritte Reich' hinein bereitete. Daß man im Juni 1933 auch die neuen Männer einfach gehen ließ, mag an einem bewußtseinsmäßigen Gewöhnungseffekt gelegen haben: daß man nämlich in schwierigen Situationen durch solche Opfer und einen personellen Neubeginn die Institution retten bzw. irgendwie' vor dem Fiasko bewahren könne. Was von den ausbleibenden Reaktionen auf das Kommissariat gesagt wurde, gilt mit leichter Akzentverschiebung auch für das Abkommen mit der DEK. Nur hatte man dieses - wenn auch in anderer Form schon seit 1932 angestrebt, und die stürmische staatliche und gesellschaftliche Entwicklung des Jahres 1933 trug das ihre dazu bei, weiterhin auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Der Vertrag zählt deshalb wieder zu den Gemeinsamkeiten, an denen die Innere Mission unbeschadet der sich versteifenden kirchlichen Fronten unbeirrt festhielt - wohl auch im Vertrauen darauf, daß der gewünschte Schutz ihrer Einrichtungen gegen Eingriffe von außen nicht jenen Preis kosten würde, der bei restriktiver Auslegung der Vereinbarung durchaus denkbar erschien: die Aufhebung der inneren Organisationsfreiheit und die Unterwerfung unter die Reichskirchenbürokratie. Weil diese nach den unvorhergesehenen und teilweise beschämenden Ereignissen der wenigen Monate bis Weihnachten zunehmende Schwächetendenzen zeigte,

Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf

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änderte sich innerhalb des Centraiausschusses vorerst wenig. Doch der Eindruck, man könne den Status quo auch unter der Führung Schirmachers und Themeis erhalten, deren Stellung sich in Analogie zur Entwicklung in der Reichskirche verschlechtert hatte, während sie gleichzeitig Schutz vor Übergriffen der Deutschen Christen boten, sollte sich als trügerisch erweisen: Die großen Kämpfe standen noch bevor. Aber sie verlagerten sich im Laufe des folgenden Jahres weg von reichskirchlichen Machtansprüchen zur Auseinandersetzung mit einem wesentlich gefahrlicheren Gegner: der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Deren Versuche, das Gebiet der gesamten Wohlfahrtspflege zu majorisieren, zwangen auch den neuen Präsidenten und seinen Ersten Direktor zu Kompromissen, vor allem aber zu einer stärkeren Identifikation mit der Arbeit der Inneren Mission, deren Fortführung es nun gegen äußere Eingriffe zu verteidigen galt. Wenn sie in diesem Zusammenhang immer wieder auf das Führerprinzip rekurrierten und ihre Herrschaft auf die Verbände auszudehnen suchten, taten sie das jetzt mit besseren Argumenten als zuvor. Es ist indessen bezeichnend für die Beharrungskraft der regionalen Untergliederungen, daß sie sich auch angesichts der Bedrohungen durch Partei, NSV und Staatsapparat nicht dazu verstanden, die Führungsansprüche der Zentrale ohne Einschränkung anzuerkennen, und sie auf ihre Weise umgingen.

III.2. Die neue Herausforderung: Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf III.2.1. Innere Mission und NSV Das Verhältnis zwischen Innerer Mission und NSV hat im Rahmen des bisher Gesagten nur eine untergeordnete Rolle gespielt und soll nun eingehender dargestellt werden. 118 Da von einer auf ausgearbeiteten Konzeptionen beruhenden Entwicklung nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege 1933 noch nicht die Rede sein konnte, entziehen sich auch erste Kontakte und Konflikte der NSV mit den konfessionellen Verbänden in der Frühzeit des Dritten Reiches einer systematisierenden Deutung. Bis Ende 1934 schälten sich jedoch die Konturen nationalsozialistischer Fürsorgepolitik für die betroffenen freien Träger klarer heraus, die nun langsam begannen, die Bedrohung zu erkennen, die von hier für sie ausging. 119 Wie die Beurteilung des Nationalsozialismus insgesamt war auch die 118

119

Zur allgemeinen Entwicklung der freien Wohlfahrtspflege im Dritten Reich und zur Geschichte der NSV vgl. nochmals die einschlägigen Passagen des Liga-Kapitels, Kap. II. 4.1. ff. In diesem Abschnitt werden Vorgeschichte und Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und ihre Rückwirkungen auf die Debatten innerhalb der

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Einschätzung der NSV durch die Innere Mission lange von dem fundamentalen Mißverständnis geprägt, man habe es mit einer wenigstens tendenziell von den Grundlagen christlicher Ethik aus operierenden Organisation zu tun. Abgrenzungsprobleme der jeweiligen Tätigkeitsfelder sowie Monopolansprüche in bestimmten Bereichen schienen sich einvernehmlich lösen zu lassen, solange beide Seiten guten Willen zeigten und sich zu vernünftigen Kompromissen bereit fanden. Dieser Eindruck wurde durch das Verhalten führender NSVRepräsentanten wie Erich Hilgenfeldt und Hermann Althaus zunächst verstärkt, die in direkten Verhandlungen mit dem Centraiausschuß immer wieder ihre Kooperationsabsichten bekundeten und auf die gemeinsame Verpflichtung gegenüber Volk, Nation und Rasse hinwiesen. Die anfangs freundlichen Beziehungen zum NSV-Hauptamt wurden ferner von zahlreichen personellen Querverbindungen gefördert, die durch die Parteimitgliedschaft einiger CA-Referenten bedingt waren oder daraus resultierten, daß bei der zwangsweisen Verkleinerung des Centraiausschusses 1931/32 vorsorglich entlassene Angestellte mit ausdrücklicher Billigung der Inneren Mission bei der NSV einen neuen Arbeitsplatz gefunden hatten. 120 Diese eher privaten Beziehungen ermöglichten auch direkte Kontakte außerhalb des Dienstwegs, die bei Konflikten die Suche nach einer unbürokratischen Lösung erleichtern konnten. Bei den Verantwortlichen der Inneren Mission dürfte so die Auffassung entstanden sein, besondere, Caritas und DRK nicht zur Verfügung stehende Einwirkungsmöglichkeiten auf die NSV zu besitzen, eine Illusion zwar, die aber das Hauptamt entsprechend für seine Ziele zu nutzen wußte. Auch Themel und Schirmacher rühmten sich gelegentlich ihres .heißen Drahts' zu Partei und NSV; über sie und andere Parteigenossen im CA-Vorstand - vor allem Schatzmeister Dr. Heinrich - flössen manche vertraulichen Informationen der NSDAP und ihren Untergliederungen zu und ermöglichten diesen oftmals, auf die Vorstöße des Centraiausschusses entsprechend zu reagieren.121 Als die ersten Konflikte mit regionalen NSV-Beauftragten bekannt wurden, 122

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Inneren Mission ausgeklammert, da diesem Komplex ein eigenes Unterkapitel gewidmet ist; vgl. IV.3. Zu den bekanntesten unter ihnen gehörten Bertha Finck, nachmals Referentin des Hilfswerkes ,Mutter und Kind', und der Volkswirt Dr. Werner Betcke, der zunächst als Assistent an Seebergs ,Institut für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission' an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität und später beim Ev. Siedlungsdienst gearbeitet hatte. Von der Berliner Stadtmission kam - wie erwähnt - auch der Stellvertreter Hilgenfeldts, Hermann Althaus. Zu den Spitzeldiensten für den SD, die zumindest Dr. Heinrich nach 1933 leistete, s.die Aufzeichnung Fricks über die Geschichte der Inneren Mission im Dritten Reich [1947]; ADW, CA 838 III. Auch in das Gebiet der Gefährdetenfürsorge griff die NSV örtlich bereits im Sommer 1933 ein, so in den Düsseltaler Anstalten bei Aprath. S. dazu den Bericht Prof. D. Erfurths v. 8.VII. 1933; ADW, CA 2049/1. - Handelte es sich 1933 noch um verhältnismäßig unbe-

Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf

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entschloß sich der Centraiausschuß zur Abfassung eines Papiers über die Zielsetzungen seiner karitativen Arbeit, das den Regierungen im Reich und in Preußen überreicht werden sollte.123 Unter Hinweis auf den geistlichen Hintergrund seiner Tätigkeit, die er gleichzeitig als „Glied der Kirche und Glied der deutschen Volksgemeinschaft" verfolge, rückte die kurze Selbstdarstellung geschickt jene Aufgaben in den Mittelpunkt, die auch die NSV für sich beanspruchte, weil sie in den Bereich der ,Gesundheitsführung' fielen:'24 Gemeindepflegestationen, 125 Kindergärten, Jugenderholungsfürsorge. Damit gab der Centraiausschuß zu verstehen, für wie wichtig er diese Aufgaben hielt, und dies um so mehr, als er seine Anstalten für geistig und körperlich Behinderte darin nicht einmal erwähnte. Gleichzeitig war so unausgesprochen betont, daß man in Zukunft auf die Betreuung der gesunden Volksgenossen nicht verzichten wollte. Sehr entgegen kam diesem Kurs der Göring-Erlaß über das Zusammenwirken von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege' vom 1. Juni,126 auf den sich Jeep nach den ersten Kollisionen mit NSV-Untergliederungen in der Hoffnung bezog, ein Verweis auf diese Verfügung werde den Tatendrang der ,übereifrigen' NSV-Gauund Ortsbeauftragten bremsen, wenn sie sich versucht fühlten, ihre Kompetenzen gegenüber den konfessionellen Verbänden zu überschreiten. 127 Flankierend zu der Berufung auf geltendes Recht erwog man im Frühjahr und Sommer 1933 weitere Schritte, die vertrauensbildend wirken und zur gedeihlichen Zusammenarbeit mit der NSV beitragen sollten. Dazu gehörte der ex post naiv anmutende Vorschlag des Verfassungsausschusses der Inneren Mission, zwischen NSV und

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deutende Vorstöße der NSV, so nahmen diese im folgenden Jahr an Intensität und Bedrohlichkeit für die Innere Mission zu. Dazu s. w. u. Undatierter Entwurf [April/Mai 1933]; ADW, CA 2042/1. Vgl. a. die vermutlich gleichen Zwecken dienende Stellungnahme von Generalsuperintendent Karow, „Der CentraiAusschuß der Inneren Mission im neuen Deutschland", die neben einer Kurzcharakteristik der IM-Aufgaben ein Treuebekenntnis zu Kirche und (NS-)Staat enthielt; ebenfalls undat., ebd. Zum Begriff der .Gesundheitsführung' s. nochmals M. Kater, „Die,Gesundheitsführung' des Deutschen Volkes". Am 12.VI.1933 beklagte sich der Leiter des Berliner Ev. Hauptwohlfahrtsamtes Prof. Ulrich über den starken Druck der NSV, auf deren Betreiben die Zwangsauflösung des Vereins ,Hauspflege' und die Übernahme seiner Arbeit durch sie selbst erfolgt war. Das war der Grund für erste Zusammenstöße der NSV mit bestehenden ev. Gemeindepflegestationen, um deren Trägerschaft bis in den Krieg hinein überall im Reich noch hart gerungen werden sollte; ADW, C A / G 100150/1. Vgl. Kap. 11.4.2, Anm. 273. Rundschreiben R. 13 v. 17.VI.1933 wegen „Anfragen und Beschwerden in Einzelfällen". Noch sei alles im Fluß: „Da bisher bestehende Verordnungen und eingebürgertes Herkommen nicht mehr gültig sind, sondern eine völlige Neugestaltung des staatlichen und sozialen Lebens eintritt, so wird ein Ausgleich der Interessen und eine befriedigende Einordnung der bisherigen freien Wohlfahrtspflege in die neuen Formen des staatlichen Lebens erst nach und und nach gefunden werden." ADW, CA 786 V/1.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

CA Vorstandsmitglieder auszutauschen, um zu gewährleisten, „daß die N. S.-Volkswohlfahrt nicht ein selbständig humanitärer Verband wird, sondern daß die Einrichtungen der N. S.-Volkswohlfahrt als christliche Einrichtungen [sie] gelten". Auch wollte man darum bitten, daß die NSV nicht dort neue eigene Initiativen entwickelte, wo die Innere Mission bereits auf den gleichen Gebieten arbeitete.128 Pastor Koller teilte die Überzeugung von dem zwar konfessionell neutralen, letztlich aber christlichen Charakter der NSV und begrüßte die Schaffung einer selbständigen Wohlfahrtsorganisation durch die NSDAP; das sei für die deutsche Wohlfahrtspflege jedenfalls günstiger, als wenn Hitlerjugend oder NS-Frauenschaft eine parteinahe Fürsorge in eigene Regie übernähmen. 129 Demgegenüber wies der hessische Pfarrer Eduard Fritsch/Kassel auf einen Aspekt hin, der den Realitäten näher kam: Zwar sei die NSV kein Gegner einer bekenntnisgebundenen christlichen Liebestätigkeit, sie befürchte jedoch, „daß durch das konfessionelle Element die Einheitlichkeit völkischen Bewußtseins und der Volksverbundenheit gefährdet werden könnte". Hier sah Fritsch Parallelen zur philanthropisch orientierten Wohlfahrtspflege des liberalen Bürgertums. Da die völkische Gemeinsamkeit nicht in der Lage sei, den Graben zwischen den Konfessionen zu überbrücken, müsse das Teilungsprinzip evangelisch-katholisch und nicht christlich-nationalsozialistisch lauten. Wenn es gelinge, die NSV in die protestantische Liebestätigkeit zu integrieren, sei dies der politisch beste Weg zur gewünschten Durchdringung der ganzen Arbeit mit dem Geist des Nationalsozialismus. 130 Ende des Jahres 1933 zeichnete sich dann ab, daß die NSV nun in der Lage war, ihren Anspruch auf Führung der gesamten freien Wohlfahrtspflege auch gegen die noch bestehenden Organisationen Innere Mission, Caritas und Deutsches Rotes Kreuz in die Tat umzusetzen. Im Vorfeld jenes Abkommens der vier Spitzenverbände vom 21. Februar 1934, das die ,Arbeitsgemeinschaft' als Nachfolgerin von Liga und Reichsgemeinschaft begründete und die Vorherrschaft der NSV im Sachbereich Wohlfahrtspflege besiegelte,131 kam es zu harten Verhandlungen zwischen CA- und NSV-Beauftragten. Die Haltung der Inneren Mission blieb jedoch zwiespältig, was nicht allein aus den beschriebenen politischen und konfessionellen Gegensätzen zum Deutschen Caritasverband zu erklären ist, sondern neben unangebrachtem Vertrauen in mündliche Zusagen prominenter NSV-Vertreter auch mit der unsicheren kirchlichen Lage zu tun hatte.132 Als 128 129

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131 132

Prot, der Sitzung des Verfassungsausschusses v. 17.VII. 1933; ADW, CA 100IV/1. GK-Prot. v. 5.V. 1933; ADW, CA 761 XV. - Vor Konsolidierung der NSV hatte es 1933 noch so ausgesehen, als würden N S F u n d HJ eigene Wohlfahrtsorganisationen unabhängig von der NSV aufbauen und dieser damit Konkurrenz machen können. Vorlage Fritschs zur Sitzung des Verfassungsausschusses am 17.VII.1933 (s.o.); ADW, CA 876 IV/1. Vgl. Kap. II.4.2. So berichtete Dr. Ina Hundinger, eine Mitarbeiterin des CA, am 12.XII.1933 in einem

Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf

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Hermann Althaus am 18. Januar 1934 in einer Sitzung der Reichsgemeinschaft den Entwurf des Abkommens und Richtlinien dazu präsentierte, 133 schienen sich allerdings die schlimmsten Befürchtungen nicht zu bestätigen, die zwei Tage zuvor auf der Geschäftsführerkonferenz geäußert worden waren. Selbst der stets zu Optimismus neigende Schirmacher zweifelte dort nämlich einen Augenblick lang an der Möglichkeit eines Weiterbestehens der Inneren Mission. Nach dem, was die NSV in der letzten Vorstandssitzung der Reichsgemeinschaft gefordert habe, 134 gebe es nur noch zwei Wege: Entweder man gehe auf ihre .Wünsche' nicht ein und lasse sich die Aufgaben Stück für Stück aus der Hand nehmen, oder man unterstelle sich der NSV und bezahle dafür mit der Preisgabe jenes großen Teils der Arbeit (an Gesunden).' 3 5 Hier helfe nur Rückbesinnung auf die geistlichen Voraussetzungen der Inneren Mission und die Gründung von Freundeskreisen überall im Land. Keinesfalls dürfe man sich mit der Caritas verbünden, dann werde die Situation noch aussichtsloser - ein Standpunkt, den die meisten Anwesenden aus politischen Motiven teilten. 136 Bei dieser Gelegenheit

Schreiben an Otto Ohl von einer Unterredung mit Althaus, mit dem sie als Parteigenossin die Lage durchgesprochen habe. A. schwebe für die Zukunft eine Organisation vor, „die mit der Zeit auch die öffentliche Fürsorge übernimmt und die sich auf der anderen Seite der privaten karitativen Kräfte bedient" - eine Entwicklung, die Frau Dr. H. meinte begrüßen zu können, weil die Betreuung fürsorgerischer Einzelfalle der freien Wohlfahrtspflege verbleibe. Sie habe A. allerdings auch erklärt, daß man evangelischerseits „auf die Durchführung der Liebestätigkeit an sämtlichen Glaubensgenossen nicht verzichten" werde. Bei Übergriffen der NSV auf Provinz- und Länderebene solle man - so ihr Rat an Ohl - umgehend den CA verständigen, der dann veranlassen könne, daß die NSV-Spitze in den eigenen Reihen für Ordnung sorge. ADWDü, BO, 105,1 a. - Ein CARundschreiben v. 19.XII.1933 an die Mitglieder der GK betonte, daß Gerüchte über eine Einverleibung der IM durch die NSV jeder Grundlage entbehrten; bei den Verhandlungen über die künftige Form der freien Wohlfahrtspflege hätten sich aber die Verteilung der Zuständigkeiten auf zwei Ministerien (Rdl u. RAM) und die „Verwirrung innerhalb der evangelischen Kirche" als schwerwiegende Hemmnisse erwiesen. In einer Unterredung mit Hilgenfeldt vom gleichen Tage, an der auch Ohl teilnahm, sei folgende Vorvereinbarung getroffen worden: Die IM bleibe als Teil der Kirche eigenständig erhalten; die NSV sei nicht daran interessiert, „ihre Selbständigkeit und ihre Arbeitsaufgaben" zu gefährden. Verschiedentlich getroffene Anordnungen, keine Jugendlichen mehr an ev. Fürsorgeeinrichtungen zu überweisen, seien örtlicher Natur und würden in Verhandlungen zwischen Reichsbischof und Rdl bis zur Neuregelung des RJWG ausgesetzt; ADW, CA 761 XV. 133 134 135

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Vgl. Kap. II.4.2., Anm.285. Gemeint ist die Präsidiumssitzung v. 11.1.; ADW, CA 1195 VIII. Am schlimmsten sei der Anspruch der NSV auf die Gefährdetenfürsorge: „Gerade das ist aber unmöglich, denn ein gefährdeter Mensch ist ohne die Kräfte des Evangeliums verloren." Vgl. das Prot, der Besprechung einiger Geschäftsführer v. 16.1.1934; ADW, CA 761 XVI. Zur Aversion gegen die Caritas, die man wie die katholische Kirche insgesamt in kompromißloser Gegnerschaft zum NS sah, s. nochmals Kap. II. 4.2., Anm. 284u. passim.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

kritisierte Anstaltsleiter Braune/Lobetal die mangelnde Unterstützung der Inneren Mission durch viele Pfarrer, die glaubten, die Wohlfahrtsarbeit könne man ruhig der NSV überlassen, solange die Innere Mission die Anstalten behalte und die Wahrnehmung seelsorgerlicher Aufgaben gesichert sei. Themel schloß sich ihm mit der bedauernden Feststellung an, zahlreiche Deutsche Christen seien ebenso wie ihre kirchenpolitischen Gegner aus dem Lager der Dialektischen Theologie der Ansicht, praktische Wohlfahrtsarbeit gehe die Kirche nichts an. Deshalb könne man den Kampf gegen die Herausforderungen des Tages kirchlicherseits nicht in geschlossener Abwehrfront führen. 137 Mit dem Abkommen vom 21. Februar waren die Gefahren für eine wenn auch beschränkte Eigenständigkeit der Inneren Mission vorerst gebannt; wenigstens schien das Risiko, auf das man sich mit dem Vertrag eingelassen hatte, kalkulierbar, und der wechselnden persönlichen Stimmungen unterliegende Schirmacher 138 meinte wieder Anzeichen für eine hoffnungsvolle Entwicklung ausmachen zu können. Der Vertrag mit der NSV wahre die bisher verfolgte Linie der Inneren Mission in kirchlicher, bekenntnismäßiger und nationalsozialistischer Hinsicht. Gestützt darauf werde der Centraiausschuß nun an die Ausarbeitung seiner neuen Verfassung herangehen.' 39 Manche Geistlichen der Inneren Mission, typischerweise meist solche, die der NSDAP bzw. den Deutschen Christen besonders nahestanden, teilten diesen vorsichtigen Optimismus, wohl auch deshalb, weil sich die DC-Fraktion innerhalb des Centraiausschusses nach dem 21. Februar wieder fester im Sattel fühlte. 140 Zur politischen Formierung von Mitarbeitern, Patienten und anderen von der Inneren Mission betreuten Personen im nationalsozialistischen Sinne ordnete Präsident Themel in einem Rundschreiben von Anfang April die Einführung des Hitlergrußes an, um der „Verbundenheit der Inneren Mission mit unserem deutschen Volk Ausdruck" zu geben. An Staatsfeiertagen sollte künftig die Hakenkreuzfahne neben der Reichsflagge und den Fahnen von Kirche und Innerer Mission gehißt werden, und bei Hitler-Reden im Rundfunk wollte er Radiogeräte für Mitarbeiter und Pfleglinge der Anstalten bereitstellen lassen. Zur Bekräftigung des neuen Ver137

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Der noch von Jäger amtsenthobene Landesbischof von Hessen-Nassau, August Kortheuer, schlug dagegen vor, man müsse auch um des NS selbst willen durchhalten: Werde die IM zerschlagen, verlören viele ev. Volksgenossen das Vertrauen in die Bewegung. Dieses Argument solle immer wieder vorgebracht werden. Prot. v. 16.1.1934, a.a.O. So seine Charakterisierung auch durch Otto Ohl in einem Brief an Frick v.l.IX. 1947; ADW, CA-West, R 93, teilweise wiedergegeben bei Kaiser, „Politische Diakonie in Republik und Diktatur". GK-Prot.v.l.III. 1934;ADW,CA761 XVI. Auf derGK v.22.111.1934 dankte Prof. Ulrich Themel und Schirmacher für ihre erfolgreiche [!] Verhandlungsführung. Schirmacher kündigte in diesem Zusammenhang an, als nächsten Schritt werde man die Landesverbände mit der geographischen Gaueinteilung der NSV in Übereinstimmung bringen. Nach Ostern sollten 20 Gaustellen eingerichtet werden. Ebd.

Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf

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trauensverhältnisses zur NSV sollten alle Mitarbeiter die persönliche Mitgliedschaft in der NSV erwerben und im Sommer des Jahres einen weltanschaulichen Schulungskurs der Partei absolvieren.' 41 Schon mit diesen Forderungen zur weltanschaulichen Gleichschaltung von Personal und Einrichtungen der Inneren Mission hatte Themel in Überschätzung seiner Einwirkungsmöglichkeiten den Bogen überspannt. Als er aber nun daranging, auch die Landes- und Provinzialverbände per Dekret nach seinen Vorstellungen umzustrukturieren, zeigten sich die Grenzen seiner ,Befehlsgewalt'. Das in pseudomilitärischer Diktion gehaltene Rundschreiben des Präsidenten vom 1. Mai 1934 verlangte nämlich ultimativ, d.h. binnen 14 Tagen, die Unterstellung der regionalen Gliederungen und aller Fachgruppen unter den Reichsführer und die schriftliche Bestätigung einer Bürgschaftserklärung, seinen Anordnungen in ihrem jeweiligen Bereich folgen zu wollen. Außerdem sollten Personalvorschläge für die Posten der Landes- und Fachverbandsführer gemacht werden, die für den Reichsführer jedoch keineswegs verbindlich sein könnten, da er Ernennungen erst nach Fühlungnahme mit den zuständigen Landeskirchen bzw. der Reichskirche aussprechen werde; auch das Vertrauen der politischen Instanzen der Gaue, insonderheit der dortigen NSV-Beauftragten, spiele dabei eine gewichtige Rolle. Die von ihm neu zu berufenden Landesführer, die an die Stelle der bisherigen Geschäftsführer treten sollten, hätten sich dann ihrerseits alle Einrichtungen ihres Verbandes unterzuordnen, eine Regelung, die nur auf Zeit gültig sei; denn die Genehmigung zur Fortführung der einzelnen Arbeitszweige hänge davon ab, ob nach eingehender Prüfung „unter den Gesichtspunkten des inneren Wesens von Kirche und Innerer Mission, der organisatorischen Zweckmäßigkeit und der Wirtschaftlichkeit" ihre „Daseinsberechtigung" überhaupt erwiesen sei. Daher dürften keine Personalentscheidungen ohne Wissen des Reichsführers getroffen werden, der auch Einsicht in die Geschäfts- und Wirtschaftsführung nehmen könne. Nur so sei die einheitliche Führung der Inneren Mission zu bewerkstelligen.142 Wie zu erwarten, dachten die Verbände gar nicht daran, sich diesen ,Befehlen' des CA-Präsidenten widerspruchslos zu fügen. Erneut wurde die Geschäftsführerkonferenz zum Forum der Kritik, vor dem Themel und Schirmacher ihren Alleingang - um einen solchen handelte es sich eindeutig - rechtfertigen mußten. Obgleich Themel hier am 8. Mai noch einmal ausführlich begründete, warum das Rundschreiben hinausgegangen war, wohl um seinen Kritikern im 141 142

Rundschreiben des Präsidenten V.9.IV. 1934; ADW, C A 876IV/1. CA-Rundschreiben Nr.6v.l.V.1934 mit dem Muster einer Unterstellungserklärung; ADW, CA 876 IV/1; abgedruckt in: IM 29.1934,120 f. Themel schloß den Rundbrief mit der kennzeichnenden Formel, die Durchführung der Neuordnung erfolge mit „Demut, aber auch mit Zuversicht. Die Irrwege der Inneren Mission in der überwundenen Systemzeit, die in der Devaheimaffäre und in noch manchen anderen großen Affären gipfelten, sollen endgültig überwunden sein."

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Vorfeld peinlicher Fragen den Wind aus den Segeln zu nehmen, drang er damit kaum durch. Während er die Verantwortung für seine ,Anordnung' der NSV zuschob, die angesichts noch fehlender gesetzlicher Bestimmungen auf die Vereinheitlichung der Inneren Mission gedrängt habe, betonte Schirmacher mit Blick auf sich mehrende Reibungsflächen mit der NSV, daß der Centraiausschuß durch Straffung seiner Arbeit eher in der Lage sei, die Forderungen der parteinahen Wohlfahrtspflege abzuwehren. Wenn die Spitze der Inneren Mission einen gleich hohen Zentralisierungsgrad aufweise wie die NSV, könne bei Beschwerden wirksamer reagiert werden. Aber die Vereinsgeistlichen gaben sich damit nicht zufrieden. Wieder machte sich Pastor Braune zu ihrem Sprecher und warnte davor, in die Einrichtungen von Berlin aus hineinzuregieren; sonst sinke „die Verantwortungsfreudigkeit immer mehr ab". Der CA könne letztlich regreßpflichtig gemacht werden, wenn sich seine Eingriffe vor allem in die Wirtschaftsführung der Anstalten später als Fehlentscheidungen entpuppten. Besonders problematisch sei schließlich auch die verlangte doppelte Loyalität gegenüber dem Reichsführer der Inneren Mission und den jeweiligen NSV-Gauamtsleitungen, was eigenverantwortliches Handeln der Anstaltsleiter und Vereinsgeistlichen ungemein erschwere. Als in der Diskussion zusätzlich angedeutet wurde, daß Themel und Schirmacher in Verhandlungen um das Abkommen vom 21. Februar die Belange der Inneren Mission „nicht allein aus kirchlichen Interessen vertreten" hätten, gab sich Schirmacher beleidigt und ,drohte' mit der Niederlegung seines Amtes, und Themel - nun offenbar in Rage - rief den Versammelten warnend zu, wenn sich ein Verband „aus Bockigkeit" [!] nicht fügen wolle, werde er die Folgen tragen müssen. 143 Sehr geschickt lenkte Schirmacher dann von dem brisanten Thema ab und kam auf neuerliche Zusammenstöße mit der NSV zu sprechen. Es ging um das von der Reichsfrauenhilfe - der wichtigsten Untergliederung des Ev. Frauenwerks begründete .Hilfswerk Mutter und Kind', das die NSV im Rahmen ihres Anspruchs auf alle Institutionen der Gesundheitsführung und Erziehungsfürsorge übernehmen wollte. Eine Zeitlang existierten beide Einrichtungen nebeneinander; da die notwendigen Mittel aus Spenden aufgebracht wurden, ergab sich wegen der restriktiven Sammlungsvorschriften der Zwang zur Kooperation zwischen Frauenhilfe und NSV.144 Nun hatte lediglich letztere die Erlaubnis für Haussammlungen erhalten, die Termine der Straßensammlungen waren aufgeteilt worden, und zwar so ungünstig für das ev. Hilfswerk, daß mit angemessenen Ergebnissen nicht gerechnet werden konnte. Hier hakte Schirmacher ein und griff die NSV überraschend heftig an. Wahrscheinlich meinte er es ernst, wenn er über die große Verbitterung klagte, die sich der Sammlerinnen und Unterstützungsempfänger bemächtigt habe, aber er konnte so auch demonstrie143 144

GK-Prot. v. 8.V. 1934; ADW, CA 761 XVI. Zu den Sammlungsfragen vgl. Kap. 11.4.3.

Der Centraiausschuß im Spannungsfeld von NSV und Kirchenkampf

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ren, daß er tatsächlich für die Interessen der Inneren Mission kämpfte. Unter Hinweis auf die gefährliche Einheitsfront' mit der Caritas, in die man damit contre coeur hineingedrängt werde, sah er den Geist des Abkommens vom 21.11. verletzt und stellte den entschiedenen Protest des Centraiausschusses in Aussicht. Themel seinerseits benutzte den Vorfall, um die Anwesenden zur Geschlossenheit zu ermahnen: Wenn man jetzt zusammenstehe und vereint protestiere, werde das „Diktat" sicherlich zurückgenommen. 145 Es ist nicht belegt, ob dieser zumindest verbal kämpferische Einsatz auf die Geschäftsführer Eindruck machte; man darf aber davon ausgehen, das dies nicht der Fall war. Denn auch das andere wichtige Selbstverwaltungsgremium der Inneren Mission, der inzwischen aus CA-Vorstand und bekannten, vom Präsidenten berufenen Persönlichkeiten aus den Landes- und Fachverbänden gebildete ,Große Reichsführerrat', 146 sparte nicht mit Kritik. Der Rat bemängelte besonders, daß er vor Abfassung eines Rundschreibens von solcher Tragweite nicht gehört worden sei, und verwarf die angekündigte Einmischung des Reichsführers in Wirtschafts- und Personalangelegenheiten als unzumutbar. Starke Beunruhigung im Lande habe auch die Publikation des Briefes in der Zeitschrift ,Innere Mission' ausgelöst, 147 und vollends unverständlich sei, warum nicht die seinerzeit dazu bestimmten Männer der Praxis an den Verhandlungen mit der NSV teilgenommen hätten. Schließlich lehnte der Rat auch die Übertragung des ,Berliner Modells', d.h. die dort schon durchgeführte kirchliche ,GIeichschal-

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Direktor Johannes Kunze/Bethel, der Schatzmeister des Ev. Frauenwerks, fügte hinzu, er befürchte beim,Hilfswerk Mutter und Kind' eine ähnliche Entwicklung wie beim WHW, nämlich ungerechtfertigte Kritik an der Leistungsfähigkeit der Kirchen durch die Partei und die schließliche Übernahme des Hilfswerks in eigene Regie der NSV. Unbeschadet gegensätzlicher Auffassungen zwischen CA und Ev. Frauenwerk - die Frauenorganisationen hatten sich als einzige Gruppierung des Verbandsprotestantismus inzwischen unzweideutig auf die Seite der Bekenntnisfront geschlagen - werde man künftig eng zusammenarbeiten müssen; ebd. Kunze bezog sich auf den am 18.11.1934 im Reichstag feierlich konstituierten ,Reichsarbeitsausschuß für das Hilfswerk Mutter und Kind', in dem die NSV federführend war, gleichwohl aber noch die Kräfte der freien Wohlfahrtspflege mitarbeiten lassen wollte, die sie dann jedoch Schritt für Schritt aus dem Hilfswerk herausdrängte. Vgl. Nora Hartwich, „Hilfswerk ,Mutter und Kind'", in: IM 29.1934, 69-73, H. Schirmacher, „Innere Mission und Mütterwerk", ebd., 114 f., und J-C. Kaiser, Frauen in der Kirche, 194 ff.

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Auf die Entstehung des Rates ging Schirmacher in einer seiner Sitzungen am 19.XI. 1934 ein: Er sei das „Instrument des Reichsführers der Inneren Mission", der seit der Einsetzung unwidersprochen personelle Ergänzungen vorgenommen habe; ADW, CA 876IV/ 1. An der Sitzung des Großen Führerrats, in der diese Beschwerden geäußert wurden, nahmen die Pastoren v. Bodelschwingh, Engelmann, Frick, Fritz, Lauerer, Graf v. Lüttichau, Ohl und WolfT, RA Dr. Heinrich, Dir. Kunze, OKonsR Wendelin, KonsR Christiansen und Schwester Auguste Mohrmann teil. ADW, CA 8761V/1.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

tung' des Ev. Hauptwohlfahrtsamtes nach den Themelschen Direktiven, 148 für die anderen Landes- und Provinzialverbände ab. Über diese Voten konnten Präsident und geschäftsführender Direktor nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Themel verschickte denn auch ein Ergänzungsrundschreiben, in dem die angeschnittenen kritischen Punkte näher erläutert wurden. Es war im Ton wesentlich moderater gehalten und versprach, bei der geplanten Umstrukturierung die Fachverbände „maßgeblich" heranzuziehen. Themel behielt sich zwar weiterhin die Verhandlungen mit der NSV-Führung selbst vor, gestand aber den einzelnen Landesführern das Mandat zu, mit den NSV-Gaubeauftragten in eigener Verantwortung strittige Fragen zu klären.149 Damit zeichneten sich die von den Verbänden gezogenen Grenzen des Präsidenten ab, dessen vermeintliche Machtfülle in den folgenden Monaten noch wesentlich gravierendere Einbußen erleiden sollte. Inzwischen waren in den meisten Landes- und Provinzialverbänden - ohne Mitwirkung des Präsidenten! - die amtierenden geschäftsführenden Geistlichen zu ,Landesführern' der Inneren Mission ernannt worden. 150 Damit hatte Themel sein Ziel weitgehend verfehlt, über das von ihm beanspruchte Bestätigungsrecht und die Besetzung dieser Schlüsselpositionen mit eigenen Vertrauensleuten stärkeren Einfluß auf die Regionalgliederungen der Inneren Mission zu erhalten. Seine schärfsten Kritiker blieben in ihren Ämtern, zumal keiner der bedeutenden Anstaltsleiter wie Fritz v. Bodelschwingh oder Paul-Gerhard Braune seinen Posten verlor. Eine schwerwiegende Ausnahme gab es freilich: Der Geschäftsführer von Kurhessen-Waldeck, Pastor Eduard Fritsch, wurde unter nicht ganz zu klärenden Umständen im Frühjahr 1934 als einziger Vereinsgeistlicher gezwungen, seinen Dienst zu quittieren. Das geschah offenbar auf Druck der Ortsgruppe Kassel der NSV, mit der Fritsch hart aneinandergeraten war. Es ging - den spärlichen Quellen nach zu urteilen - in erster Linie um seine in Zweifel gezogene politische Loyalität zum NS-Regime.151 Da Fritsch nicht zur Glaubensbewegung Deutsche Christen gehörte, sah der Centraiausschuß unter Themeis Leitung offenbar keine Veranlassung, sich besonders für ihn einzusetzen,

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In Berlin hatte die IM bereits im März ihre Eigenständigkeit aufgegeben, sie besaß keine Selbstverwaltungskörperschaften mehr und war Teil der Kirchenbehörde des Bistums Berlin geworden. Es ist bezeichnend, daß dies unter der Leitung des Themel-Vertrauten Prof. Ulrich geschehen konnte; vgl. das Schreiben Dr. Heinrichs an Themel v. 27.III. 1934; A D W , C A 100 IV/1.

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Rundschreiben Nr. 10 des Reichsführers der IM v. 1.VI. 1934; A D W , C A 138. Mitteilung Themeis auf der GK, die am 13./14.IX. 1934 in Hannover tagte; A D W , C A 761 XVI. Nur dort, w o man die kirchenpolitische Lage noch nicht überblicken könne, seien diese Ernennungen nicht erfolgt. D a s ist aus einem Schreiben Dr. Heinrichs an den NSV-Ortsbeauftragten von Kassel, Dr. Benzing, v. 2.V.1934 zu erschließen. Heinrich fungierte als Mittelsmann des C A in dieser Angelegenheit. A D W , CA 613 II.

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was Amtsbrüder wie Heyne/Bremen, Ziegler/Karlsruhe und Happich/Treysa als Bruch des kirchenpolitischen Neutralitätsversprechens brandmarkten und im übrigen danach fragten, was der CA künftig in ähnlich gelagerten Fällen zu tun gedenke, „um einen Geschäftsführer, der mutig und tapfer für das ihm anvertraute Gut eintritt, zu unterstützen". Darauf erhielten sie von Schirmacher die nichtssagende Antwort, Themel habe sich gerade deshalb, weil er für die Mitarbeiter der Inneren Mission schon oft genug eingetreten sei, bereits bei der NSV unbeliebt gemacht. 152 - Fritsch wurde jedenfalls abgelöst und übernahm nach einigen Jahren als Zuchthauspfarrer in Kassel 1937 die Leitung der Stiftung Tannenhof bei Remscheid. Sein ,Fall' gewinnt besondere Bedeutung durch die Tatsache, daß erstmals ein bekannter Gegner der Deutschen Christen und des Oktrois vom 18. Oktober, der zudem als Leiter des Referats Strafrechtsfragen und Gefährdetenfürsorge im Centraiausschuß seit Dezember 1933 auf den Rücktritt Themeis hingewirkt hatte,153 auf Geheiß der NSV gehen mußte, ohne daß sich die CA-Führung hinreichend bemühte, ihn zu halten. Bedrohliche Wolken überschatteten seit dem Frühjahr 1934 noch andere Arbeitsfelder der Inneren Mission. In Verfolgung seines Fernzieles, die gesamte öffentliche und freie Wohlfahrtspflege für die NSV zu vereinnahmen, hatte sich Hilgenfeldt durch eine Verfügung des Stellvertreters des Führers vom 5. Januar mit der „Bildung einer einheitlichen Schwesternschaft" beauftragen lassen. Bereits bestehende NS-Schwesternverbände wie die Rote Hakenkreuz-Schwesternschaft sollten sich auflösen und in dieser neuen ,Braunen Schwesternschaft' aufgehen. Schon brachte die Presse nach bewährtem NSV-Muster die (Falsch-) Meldung, in Zukunft dürften in allen Einrichtungen der Krankenpflege nur noch ,braune Schwestern' beschäftigt werden - ein frontaler Angriff auf das hier zahlenmäßig vorherrschende konfessionelle Schwesternwesen. Wenn das Amt für Volkswohlfahrt nach energischen Protesten des Centraiausschusses diese Behauptung auch sogleich wieder dementierte, fühlten sich die zahlreichen Diakonissenmutterhäuser der Inneren Mission doch nicht ohne Grund in ihrer Existenz gefährdet und in ihrem Wirken beeinträchtigt. Da die NS-Schwesternschaft noch nicht auf selbst ausgebildetes Personal zurückgreifen konnte, wurden Angehörige bestehender freier Schwesternorganisationen und sogar Diakonissen intensiv umworben, dem ,braunen' Verband beizutreten, was in den Mutterhäusern naturgemäß Beunruhigung hervorrief.154 Dies um so mehr, als die meisten Diakonissen gesinnungsmäßig zum Nationalsozialismus standen

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Vgl. GK-Prot. v. 16.VI. 1934; ADW, CA 761 XVI. S. Anm. 115 und Gerhardt II, 354. Daß Fritsch mitnichten ein dezidierter Gegener des NS war, jedoch gegenüber dessen Machtansprüchen das Proprium protestantischer Liebestätigkeit zu wahren suchte, hatte er schon früher unter Beweis gestellt; cf. Anm. 130. Nach einem Aktenvermerk Dr. Harmsens über „Braune Schwesternschaft, Schwesternschaft der NSV" ; ADW, C A / G 100150/1.

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und in ihren Reihen bereits jene ,Konzentration der Kräfte' vorgenommen hatten, die nach 1933 von allen Verbänden gefordert wurde. 155 Die NSV begnügte sich aber nicht mit Werbekampagnen, sondern suchte kommunale Krankenhäuser, die mutterhausgebundenes Pflegepersonal beschäftigten, dahin zu bewegen, dessen Verträge zu kündigen und dafür Angehörige der neuen NS-Schwesternschaft einzustellen.156 Diese Vorfalle beschränkten sich nicht allein auf Kliniken, sondern betrafen auch Gemeindepflegestationen. Nach früheren Versuchen der NSV in Berlin, dort die Trägerschaft dieser Einrichtungen an sich zu ziehen,157 berichtete der Leiter der CA-Abteilung Gesundheitsfürsorge', Dr. Harmsen, in einem Beschwerdebrief an Hilgenfeldt ein Jahr später von ähnlichen Attacken des schlesischen Gauleiters, der evangelische Schwestern, soweit sie zur Partei gehörten, drängte, in den ,braunen Verband' überzuwechseln, und außerdem angeordnet hatte, den evangelischen Kräften kommunaler Pflegestationen zu kündigen, um sie durch braune Schwestern zu ersetzen.158 Im Herbst des Jahres häuften sich solche Klagen, auf die man seitens des Hauptamtes kaum reagierte, so daß der Centraiausschuß beschloß, sich fortan auf die Stationen in ev. Trägerschaft zu konzentrieren, um wenigstens diese vor dem Zugriff der NSV zu schützen.159 Auch der Druck auf die öffentlichen Krankenanstalten verstärkte sich Ende des Jahres in der Weise, daß man Ärzten und Verwaltungen bedeutete, wer sich gegen den Austausch der Schwestern wende, stelle sich damit „gegen den Willen des Staates und der Behörde". Das war ein erprobtes Rezept, um mit der Drohung, Widerstände als mangelndes Vertrauen in den NS-Staat zu klassifizieren, organisationspolitische Forderungen durchzusetzen. 160 Ebenso ,bewährt'

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Auf der GK v. 5.V. 1933 berichtete P. Frick - selbst Vorsteher eines Diakonissenmutterhauses 90% aller Schwestern gehörten „gesinnungsmäßig" zur NSDAP; eine offene Mitgliedschaft in der Partei sei aber problematisch; ADW, CA 761 XV. - Schon vor der Machtergreifung' erhielt die N S D A P im Wahlbezirk ,Diakonissenanstalt' in Kaiserswerth in der Regel so viele Stimmen, daß das Mutterhaus deswegen wiederholt in das Kreuzfeuer politischer Kritik geriet; so Gerhard Schröder, „Der Weg der Inneren Mission im Jahre 1933", in: IM 29.1934, 12-22, 13.- Im Oktober 1933 schlössen sich alle ev. Schwesternschaften zur ,Diakoniegemeinschaft' zusammen, die ca. 50.000 Mitglieder umfaßte und von dem Vorsteher des Kaiserswerther Verbandes, P. Graf v. Lüttichau, und Schwester Auguste Mohrmann geleitet wurde; s. Gerhardt II, 355.

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So geschehen in Hannover, wo man Schwestern des ev. Henriettenstiftes kündigte, um sie durch NSV-Schwestern zu ersetzen. Ähnliches wurde auch aus Wollin/Pommern berichtet ; Aktenvermerk Harmsens, a. a. O. Vgl.Anm.125. Schreiben v.24.VIII. 1934; ADW, C A / G 100150/1. Eine Reaktion Hilgenfeldts ist nicht überliefert. Mitteilung Harmsens an die Provinzial- u. Landesverbände v. l.XI. 1934; ADW, C A / G 100150/1. Weiteres Schreiben Harmsens an Hilgenfeldt, in dem er sich diesmal auf das Kinderkrankenhaus Hamburg-Rotenburgort bezog, das aufgefordert worden war, den dort tätigen Tabea-Mutterhausschwestern zu kündigen und braune Schwestern einzustellen. Harm-

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war die Art, in der Hilgenfeldt sich schließlich in einer Antwort auf diese Beschwerden äußerte: einiges zurücknehmen, scheinbar Vernünftiges bekräftigen, in der Grundtendenz die Angelegenheit aber dilatorisch behandeln. Danach sollten der Inneren Mission und ihren Schwestern diejenigen Arbeitsfelder bleiben, die bisher von ihnen betreut wurden, und bei beabsichtigten Änderungen wollte er „ein gütliches Einvernehmen" darüber herbeiführen, in welcher Weise in Zukunft die Aufgaben neu verteilt würden. Nur in einer Sache blieb er hart: Bei der Einrichtung neuer Schwesternstationen in Krankenhäusern usf. sollten grundsätzlich' nur NS-Schwestern Verwendung finden.161 Damit war alles und nichts gesagt, wieder schienen Kompromisse durchaus möglich; selbst die Formel grundsätzlich' konnte weit oder eng ausgelegt werden und ließ für Ausnahmen noch immer Raum. Was aber zurückblieb, war eine auf die Zukunft projizierte Drohung, die Verunsicherung schuf und so genau der Langzeitstrategie der NSV entsprach. Vor diesem Hintergrund müssen die anhaltenden Diskussionen über das Verhältnis der Inneren Mission zur NSV im Centraiausschuß und seinen Gremien beurteilt werden. Trotz der starken Worte des Präsidenten und seines geschäftsführenden Direktors, die sich ihrer guten Beziehungen zum (Haupt-)Amt für Volkswohlfahrt rühmten und von der Möglichkeit einer gedeihlichen Kooperation nach wie vor überzeugt blieben, wuchs die Unruhe bei den Mitarbeitern über die künftige Entwicklung. Ein wesentliches Hindernis für einigermaßen realistische Prognosen über die Zukunft der Arbeit bildete die ungeklärte Finanzierungsfrage. Die einengenden Sammlungsvorschriften und die Ungewißheit über Höhe und Berechenbarkeit öffentlicher Zuwendungen .erledigte' manche selbstgestellten Aufgaben von selbst, z.B. die eigenständige Durchführung der Mütterarbeit, die das inzwischen an die NSV übergegangene ,Hilfswerk Mutter und Kind' nun faktisch allein betrieb.162 Ein weiteres, grundsätzlicheres Problem war das Ausmaß des an sich anerkannten NSV-Führungsanspruchs, auf dessen

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sen warf in diesem Zusammenhang auch „die Frage einer Alleinberechtigung" der NSV auf, die dem sonst stets versicherten Willen zur harmonischen Kooperation mit den übrigen freien Verbänden entgegenstehe; Hilgenfeldt möge entsprechend auf seine Untergliederungen einwirken. Brief V.8.XI.1934; ebd. In seinem Schreiben V.26.XI. 1934 versicherte Hilgenfeldt dem CA, die NS-Schwestern würden nicht mit kirchlichen Schwestern in einen Wettbewerb treten; ADW, C A 761 XVI. - Das konnten sie auch (noch) gar nicht, weil ihre Personaldecke so kurz war, daß sie „mangels geeigneter Kräfte" selbst die vorrangig beanspruchten Gemeindepflegestationen bisher nur zu einem geringen Teil übernommen hatten. Vgl. GK-Prot. v. 13./ 14.IX. 1934, ebd., und Kap. II. 4.3. Auf die Sammlungsgesetzgebung und ihre politische Funktion wird in diesem Kapitel nicht mehr zusammenhängend eingegangen; vgl. dazu II.4.3.- Vereinzelt kündigten Landesverbände bereits im Frühsommer 1934 die Mitarbeit im ,Reichsarbeitsausschuß Mutter und Kind' auf, so in Baden, w o man beschloß, das Hilfswerk nicht mehr zu unterstützen. GK-Prot. v. 16.VI. 1934; A D W , CA 761 XVI.

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Unspezifik Otto Ohl schon im Vorfeld des Abkommens vom 22. Februar hingewiesen hatte; 163 auch Monate nach diesem Vertrag ließ eine fest umrissene Eingrenzung auf sich warten.164 Viele Beobachter im Lager der Inneren Mission durchschauten inzwischen die ,Dominotaktik' Hilgenfeldts und seiner Amtswalter. Was in den Gauen an Übergriffen geschah, erhielt in Berlin oft keine Bestätigung und konnte leicht als,wilde Einzelaktion' desavouiert werden. Ein Stück weit entsprachen die Dementis aus der NSV-Zentrale ja auch der Wahrheit, weil deren Einfluß in den Gauen bekanntermaßen auf deutliche Grenzen stieß. Was aber war ein Führerprinzip wert, das sich nicht einmal in einer Parteiunterorganisation durchsetzen ließ? Findige Geschäftsführer wie Pastor Niemann aus Münster leiteten aus der relativen Autonomie der NSV-Gauabteilungen darum auch die Forderung nach unverminderter Selbständigkeit der IM-Landesverbände gegenüber dem Centraiausschuß ab; und manch einer seiner Amtsbrüder baute mit Recht darauf, daß angesichts des Kompetenzgerangeis bei der nationalsozialistischen Konkurrenz schon ein mannhaftes Auftreten Eindruck machen und Verhandlungserfolge für die Innere Mission ermöglichen werde.165 Diese blieben im Einzelfall nicht aus, aber niemand der Verantwortlichen verkannte den Ernst der Situation. Skeptiker und ,Optimisten' unterschieden sich nicht so sehr in ihrer Zugehörigkeit zu einer der beiden CA-,Fraktionen', sondern in ihrer Einschätzung, ob und wie es mit der Inneren Mission weitergehen würde; die letzteren hofften noch immer auf eine friedliche Einigung, während erstere sich innerlich bereits auf die qualitative und quantitative Veränderung ihrer Arbeit einstellten. Das Protokoll der Geschäftsführerkonferenz, die am 16. Juni in Eisenach stattfand, vermittelt davon einen signifikanten Eindruck: Am Ende der Kurzreferate über die aktuelle Lage in den einzelnen Landesver163 164

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S. nochmals II.4.2.U.Anm.292. Vgl. das Papier des Bremer IM-Geschäftsführers Bodo Heyne über die Aufgabe der IM im neuen Staat v. 15.IV. 1934; A D W , C A 876 IV/1. Heyne betonte noch einmal, die IM erhebe keinen Monopolanspruch auf bestimmte Gebiete der freien Wohlfahrtspflege; sie sei durchaus bereit, dort zurückzutreten, wo der Staat ihre Aufgaben übernehmen wolle, freilich nur, wenn er die bestehende Not „in ihrem ganzen Umfang" erkenne und beseitige. Die Frage laute, ob eine Klärung dezentral oder direkt von Berlin aus erfolgen werde. Auch eine bloße Delegierung von Arbeiten an die IM bringe ihre Schwierigkeiten mit sich, da sie den Handlungsspielraum der ehemals freien Spitzenverbände beeinträchtige. Prot, der Eisenacher G K v. 16.VI. 1934; a.a.O. Ein ungenannter Teilnehmer - vielleicht auch Themel selbst - führte in diesem Zusammenhang aus: „In unserem kleinen Grabenkrieg wegen der Absteckung der Grenzen zwischen NSV und I. M. kommt alles auf die persönliche Tapferkeit des Vertreters der I. M. an. Wenn unter dem leisen Druck eines Gauleiters ein Mann der I. M. sofort die Segel streckt, dann glaubt man uns nicht, daß unsere Arbeit nötig ist. Die NSV und die Partei haben eine ungeheure Ehrfurcht vor dem, was Religion ist [sie]. Wenn es Ihnen mit den Einrichtungen der I. M. eine Gewissenssache ist, ein Befehl Christi, diese Sache zu halten, werden Sie Ihre Arbeit tun können. Wenn Ihnen dieser Glaube fehlt und wenn Sie nicht die höchste Autorität des Herrn hinter sich wissen, werden Sie Ihre Sache nie verteidigen können."

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b ä n d e n mit zahlreichen K l a g e n über K o n f l i k t e mit der N S V s c h l ö s s e n die meisten Berichterstatter - fast so, als w o l l t e n sie sich selbst M u t z u s p r e c h e n - mit d e m Bekenntnis, d a s Verhältnis zur N S V sei i m K e r n gut, m a n w o l l e e i n z e l n e Z u s a m m e n s t ö ß e nicht dramatisieren, vor a l l e m aber die N S V nicht als G e g n e r der Inneren

Mission

Abgrenzungskämpfe

abstempeln; zwischen

es h a n d e l e

befreundeten

sich e b e n u m

Organisationen. 1 6 6

verständliche Nur

wenige

unterließen diese v e r s ö h n l i c h e n H i n w e i s e , für die bei nüchterner Betrachtung der E n t w i c k l u n g a u c h kein A n l a ß bestand. 1 6 7 Z u i h n e n gehörte n e b e n Ohl a u c h Pastor Vietor, der Leiter der K r ü p p e l a n s t a l t e n in Volmarstein. Er kritisierte d e n A n s c h l u ß d e s R e i c h s b u n d e s für K ö r p e r b e h i n d e r t e an die N S V , 1 6 8 d i e d a m i t ihren Grundsatz, nur für die G e s u n d e n tätig sein zu w o l l e n , d u r c h b r o c h e n h a b e , u n d äußerte die Befürchtung, d a ß e i n partielles Eindringen in die Anstaltsdiakonie T a t s a c h e n schaffe, die unter U m s t ä n d e n später z u A n s p r ü c h e n der N S V auf d a s G e s a m t g e b i e t d i e s e s A r b e i t s z w e i g e s f ü h r e n könnten. Ohl ergänzte d i e s e n H i n w e i s mit der erstmals im R a h m e n einer G e s c h ä f t s f ü h r e r k o n f e r e n z getroffen e n Feststellung, viele N a t i o n a l s o z i a l i s t e n s t ä n d e n gar nicht auf d e m B o d e n d e s positiven Christentums; er w e r d e n a c h allen Erfahrungen der letzten Zeit nie-

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Als Schirmacher die Anwesenden warnte, in der NSV einen Feind der I M zu sehen, pflichtete ihm der Leiter des ,Amts f ü r IM' in Hamburg, P. Donndorf, bei: „Wenn man mit einem Kameraden zusammensteht u n d der Kamerad einem dann eins hinter die Ohren schlägt, kann man trotzdem Kameradschaft halten, aber man muß sich dagegen wehren." Donndorf fügte allerdings mit Blick auf seine deutschchristliche Kirchenleitung hinzu: „Es ist uns gesagt, wir sollen tapfer sein; das will ich auch, was nützt mir aber, wenn ich in der Front tapfer bin und ich habe keine tapfere Kirchenregierung hinter mir?" Damit sprach er ein Dilemma an, das besonders in den,zerstörten' Landeskirchen, in denen die D C herrschten, der Inneren Mission zu schaffen machte. Ebd. Für Schikanen, die das Klima zusätzlich verschlechterten, hier einige Bespiele: In Naumburg/S. brachte die NSV an Häusern, in denen sie bereits gesammelt hatte, Plaketten an, auf denen dieses vermerkt war und mit denen die Bewohner vor weiteren Sammlungen [sc. der konfessionellen Verbände] .geschützt' werden sollten. Ähnliches ereignete sich in Schleswig-Holstein, in der Pfalz, in Hannover, Württemberg und Lippe. Andere Konflikte entstanden aus der Doppelmitgliedschaft bei IM u n d NSV, die neuerdings in einigen G a u e n nicht mehr zulässig sein sollte. In Schleswig-Holstein tauchten plötzlich Plakate mit der Aufschrift auf: „Wir geben nur noch f ü r die NSV". Als die IM sich beschwerte, bedeutete man ihr, an sie habe keiner gedacht [!]. P. Schwander/Speyer berichtete von einer Unterredung mit Althaus, der betont habe, so wie bisher könne es mit den Spitzenverbänden nicht weitergehen; auch die Form der Arbeitsgemeinschaft sei unbefriedigend und werde „unter keinen Umständen" von Dauer sein; die I M solle sich enger an die NSV anschließen. Ebd. In einem Schreiben an die Vorstände der ev. Anstalten für Körperbehinderte v. 16.11.1934 gab der C A folgende Richtlinie für die engere Zusammenfassung der Selbsthilfeorganisationen unter NSV-Führung aus: „Wir bewahren streng den kirchlichen Charakter unserer Arbeit, aber wir halten ebenso streng an der nationalsozialistischen Linie der Formung unserer Arbeit fest. Das bedingt vertrauensvolles Zusammenarbeiten mit den N. S. Organisationen." ADW, C A / G 100150/1.

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mandem mehr dazu raten, in die NSV hineinzugehen. Auch hätten prominente Persönlichkeiten ihrer Führung gerüchtweise schon verlauten lassen, die Gründung der Arbeitsgemeinschaft sei nur „eine Geste nach außen" gewesen, eine Bemerkung, die von Schirmacher heftig bestritten wurde, obwohl sie mitten ins Schwarze traf. 169 Noch einmal schienen alle Probleme einer Lösung nahe, als Hilgenfeldt und Althaus anläßlich einer zweitägigen Geschäftsführerkonferenz in Spandau der Inneren Mission persönlich ihre Aufwartung machten und Hilgenfeldt eine programmatische Rede hielt.170 Die beiden prominenten NSV-Abgesandten wurden von Themel mit einem feierlichen Bekenntnis zum Nationalsozialismus empfangen: Da der Staat Gottes Ordnung repräsentiere, befinde sich die Innere Mission vorbehaltlos auf seiner Seite. Man beanspruche keine Reservatrechte und brauche deshalb kein Konkordat, bemerkte er mit einem Seitenhieb auf den Caritasverband. Solch ein bloß äußerer Vertrag sei schon deshalb nicht nötig, „weil wir mit ganzem Herzen und von ganzer Seele hinter unserem Führer stehen und ihm helfen möchten bei seinem schweren Werk". Deshalb werde der Centraiausschuß von Nationalsozialisten geführt, und auch unter seinen Helfern befänden sich viele Parteigenossen. Bevor Hilgenfeldt das Wort ergriff, wurde er vom Präsidenten als ,Reichsleiter' [!] und Führer der gesamten Wohlfahrtspflege begrüßt, dessen „Wohlwollen", „Verständnis" und „Gerechtigkeit" die Innere Mission immer wieder kennengelernt habe. Das war keine höfliche Floskel, sondern vielmehr eine in devoter Form vorgebrachte Ergebenheits-, fast eine Unterwerfungsadresse. Und Hilgenfeldt wußte das - vielleicht in Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse innerhalb des CA - zu nutzen. Nach einigen allgemein gehaltenen freundlichen Worten an „meine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen", die er so bezeichnen wolle, weil NSV und Innere Mission auf gleichem Felde wirkten, kam er überraschend zum Thema der Sterilisationsgesetzgebung, die ihrer Form nach, nicht ihrer grundsätzlichen Berechtigung wegen in der Inneren Mission umstritten war. Er berührte damit einen höchst brisanten Komplex, von dem noch zusammenhängend die Rede sein wird,171 beging aber dann die Reinlichkeit', 169

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Auch wenn die tatsächliche Bedeutungslosigkeit der Arbeitsgemeinschaft im Juni 1934 noch nicht jedem einsichtig sein mußte, war die Behauptung Schirmachers grotesk, das Verhältnis der Reichsspitzenverbände untereinander sei ausgezeichnet; die NSV habe ihn noch nie getäuscht. Wendelin sprang ihm mit dem Argument bei, die vereinzelten Zusammenstöße hätten episodischen Charakter; wenn erst das ganze Volk nationalsozialistisch ausgerichtet sein werde, fielen auch die zahlreichen Spannungen fort; GK-Prot. v. 16.VI.; a.a.O. Zum folgenden vgl. das GK-Prot. v. 13./14.IX. 1934, wie Anm. 161. Dazu s. Abschnitt III. 3. - Schon im Februar d. J. hatten sich Hilgenfeldt und der Berliner NSV-Gauamtsleiter Spiewok anläßlich eines Amtswalterappells in den Berliner Tennishallen in radikaler Weise zur Erbgesundheitsgesetzgebung geäußert; so führte Spiewok aus, es sei „ein Irrsinn, wenn man Idioten oder Erbkranke jeder Art möglichst lange am

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auch die sogenannte Tötung,lebensunwerten Lebens' miteinzubeziehen, obwohl ihm bekannt sein mußte, daß die einschlägigen Fachkonferenzen des Centraiausschusses die .Euthanasie' in jeder Art immer wieder ausdrücklich verworfen hatten. Möglicherweise wollte er die Versammlung auch mit seinen Thesen provozieren und unter Beweis stellen, daß er auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen brauchte, wenn er - in Anmaßung theologischer Kompetenz - ausführte, geistig tote Menschen am Leben zu erhalten, widerspreche der Schöpfungsordnung Gottes und stehe „im Gegensatz zur christlichen Ethik und Weltanschauung". Ganz ähnlich verhalte es sich auch mit den katholischen Ordensleuten, die wegen ihrer zölibatären Verpflichtungen für die Volksgemeinschaft verloren seien. Themel, der darauf etwas erwidern mußte, sah sich nicht in der Lage, dies durch klare Zurückweisung des Gehörten zu tun, sondern versuchte selbst in dieser Situation noch eine Brücke zu bauen. Er erinnerte an die Heilungswunder der Bibel, die ein Beweis dafür seien, daß auch Gott Krankheit nicht gewollt habe, die aber zu dieser [sc. gefallenen] Welt gehöre. Als Prof. Ulrich danach fragte, inwieweit Hilgenfeldts Ausführungen für die Ansicht der Partei stünden, zog sich der NSV-Vorsitzende darauf zurück, er habe nur seine private Auffassung wiedergegeben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Auftritt Hilgenfeldts und seines Stellvertreters in Berlin-Spandau keinen die Lage entspannenden, günstigen Eindruck hinterließ. Der Hauptamtsleiter hatte einmal mehr deutlich gemacht, daß er entweder zu schwach war, um seine Ansichten auch in der Partei durchzusetzen, oder aber das Spiel meisterhaft beherrschte, die Vertreter der Inneren Mission zu täuschen und damit einen nachhaltigen Verunsicherungseffekt auszulösen. Selbst der ,getreue Paladin' Themeis, Horst Schirmacher, ging nach den Erfahrungen der letzten Monate nun auf vorsichtige Distanz zur NSV, jedenfalls vor den Delegierten. Er konstatierte ein kühler gewordenes Klima zwischen Centraiausschuß und Parteidienststellen, das leicht zu .Spannungen' führen könne, und äußerte die Befürchtung, möglicherweise stehe ein „Generalangriff" auf die Einrichtungen der Inneren Mission bevor.172 Auch wenn letzteres auf das Konto seiner gewohnten Übertreibungen gehen dürfte, ist doch bemerkenswert, wie realistisch selbst Männer wie er gelegentlich die Lage beurteilen konnten.

Leben hält und dabei den gesunden Teil des Volkes verkommen läßt", und Hilgenfeldt sekundierte, der N S „lehnt alles ab, was krank und schwach ist. [...] Wir müssen aus der Bejahung zum Leben den Gesundheitszustand unseres Volkes bessern." Wenn man in Deutschland 600.000 Schwachsinnige habe [in Wirklichkeit gab es 1934 nur etwa 300.000 unter das Gesetz Fallende! Vgl. Anm.224], und berücksichtige, daß die Erbkranken 300 Mio. RM jährlich kosteten, sei es unabdingbar, ein Gesetz zu erlassen, „durch das die Zahl der Schwachsinnigen in den nächsten Jahrzehnten auf 150 bis 200.000 heruntergeht" ; er glaube, „daß dieses Gesetz barmherziger ist, als die falsche Barmherzigkeit, die einzelne Personen pflegt". Vgl. die Nachschrift v. 14.11.1934; ADW, C A / G 1 0 0 1 5 0 / 1 . 172

Andere Prot.-Fassung der GK v. 14.IX.; a. a. O.

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Nur daraus richtige Konsequenzen zu ziehen, überstieg seine Möglichkeiten, solange er andererseits davon überzeugt blieb, daß Nationalsozialismus und Protestantismus natürliche Bündnispartner beim Aufbau der Volksgemeinschaft seien. Die meisten der Themen, die uns in diesem Abschnitt beschäftigten, werden an anderer Stelle wiederbegegnen; dennoch scheint es gerechtfertigt, hier vorerst abzubrechen, um ein vorläufiges Resümee zu ziehen. So viel wurde bisher deutlich: Die Auseinandersetzungen zwischen NSV und Innerer Mission sind nicht angemessen ohne die Begleitumstände, nämlich die Herausforderungen der nationalsozialistischen Gesellschafts- und Kirchenpolitik darzustellen. In der Beurteilung des Charakters und der Ansprüche nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege durch die Innere Mission fallen die Parallelen zur Einschätzung des Dritten Reiches und seiner Zielsetzungen insgesamt auf. Die Innere Mission rechnete hier wie dort auf die christliche, wenn auch nicht konfessionell gebundene Fundierung allen politischen Handelns - ein Standpunkt, der von zahlreichen einschlägigen Äußerungen der Staatspartei und ihrer Subsysteme anfangs auch gestützt wurde. Er verfestigte sich zusätzlich durch die loyal-konservative Grundhaltung der meisten theologischen Berufsarbeiter und dann durch die unkritische Parteinahme einer deutschchristlichen Minderheit, der es in Ausnutzung der kirchenpolitischen Konstellation gleichwohl gelang, führende Positionen innerhalb des Centraiausschusses zu besetzen. Die frühzeitige Ausschaltung jener Geistlichen, die sich von der Dynamik des völkischen Aufbruchs nicht völlig blenden ließen und ihre geistige Unabhängigkeit bewahrt hatten, erschwerte den notwendigen Prozeß des Umdenkens, der sich nach den Konfrontationserfahrungen mit der NSV als unumgänglich erwies. Communis opinio wurde diese Erkenntnis freilich bis zum Herbst 1934 nicht. Langsam begann sich dagegen im Zuge des sich verschärfenden NSV-Herrschaftsanspruchs der Eindruck zu verstärken, man müsse zwischen der Partei und ihrem auf den Aufbau der ersehnten neuen deutschen Volksgemeinschaft zielenden Wollen und jenen Konflikten unterscheiden, die aus der natürlichen Konkurrenz zweier auf gleichem Felde und auf gleicher Basis arbeitender Gruppierungen entstanden seien. Hatte der Centraiausschuß unter Jeep noch auf rechtsstaatliche Korrektur- und Abwehrmechanismen gesetzt, so vertrauten Themel, Schirmacher und ihre Gesinnungsfreunde auf die Parteisolidarität, die den stets nur isoliert gesehenen Übergriffen regionaler NSV-Verbände schon ein Ende bereiten werde. Diese wiederholt in den Belegen zum Ausdruck kommende ,Kameradschaftsideologie' verkannte jedoch das Eigeninteresse der NSV, deren Politik nicht auf Kooperation angelegt war, sondern letztlich die alleinige Verfügungsgewalt über die freie Wohlfahrtspflege erstrebte; dabei kamen ihr Parteigenossen in den bestehenden Organisationen nur recht, die sie gleichsam als ihre ,Agenten' betrachtete, ohne ernsthaft daran zu denken, ein Eigenleben der von diesen vertretenen Institutionen zu respektieren.

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Während viele Vereinsgeistliche der von Themel vorgegebenen Marschrichtung aus einer neutralen ,Haltung der Mitte' heraus folgten, blieben seine wenigen sich offen zu erkennen gebenden Gegner lange auf sich gestellt. Sie behielten aber bedeutsamen Einfluß, der sich seit den kirchenpolitischen Ereignissen Ende 1933 auszuweiten begann. Ihre Opposition beschränkte sich ausdrücklich auf Fragen der inneren Organisation, indem sie die am Führerprinzip orientierten Zentralisationsanstrengungen des Präsidenten durch eine geschickte Kombination von Zustimmung dort, wo es ihre eigene Stellung stärkte, und Ablehnung dann, wenn ihre Autonomie gefährdet schien, zu umgehen wußten. Sie rangen mit der DC-Fraktion in den Gremien des Centraiausschusses um Sachprobleme und wiesen beharrlich auf den geistlichen Untergrund aller Inneren MissionsArbeit hin, auf den es sich zurückzubesinnen gelte. Das kämpferische Christentum der Tat' der Deutschen Christen mit seiner ständigen Identifikation von Drittem Reich und Gottes Handeln an ,seinen Deutschen' entbehrte dagegen einer wirklichen Substanz, die tragfähig genug gewesen wäre, in den Stürmen der Zeit der Inneren Mission neue gangbare Wege vorzuzeichnen. Auch die Vorliebe Themeis für kirchliche Führerschaft' und sein forscher Kasinoton, der sich selbst in seinen Rundschreiben niederschlug, vermochten diese innere Schwäche nicht zu kompensieren. Die vermeintliche Stärke der von außen eingesetzten CA-Spitze war zugleich ihre Achillesferse; denn die vielzitierten ,Sonderbeziehungen' zur NSV wurden nur zu bald als schwerwiegende ,Handikaps' enttarnt, wenn es in den harten Verhandlungen mit Hilgenfeldt und anderen um die Abwägung der Interessen von Innerer Mission und Parteiwohlfahrtspflege ging. Die Anfälligkeit für die Illusion einer gutnachbarlichen Zusammenarbeit und das Festhalten daran gegen alle anderslautenden Signale gehörten zu den Hypotheken, die Schirmacher, Themel und ihre Gefolgschaft in die Innere Mission und den Centraiausschuß einbrachten. Im Unterschied zur späteren Entwicklung spielten 1933/34 nur taktische Überlegungen im Umgang mit der NSV noch eine untergeordnete Rolle. Protest und Zurückweichen, der Abschluß von Kompromissen, die keine waren, und die erstaunliche Bereitschaft, sich immer wieder hinhalten und beruhigen zu lassen, waren nicht nur im deutschchristlichen Lager zu finden. Sie entsprangen der Überzeugung, sich letztlich auf die getroffenen Abmachungen verlassen zu können. Erst die Feststellung von Ohl, viele Nationalsozialisten stünden gar nicht wie bisher angenommen - auf dem Boden des positiven Christentums und könnten deshalb auch keine wirklichen ,Partner' der Inneren Mission sein, deutete auf einen langsamen Stimmungsumschwung und ein sich ausbreitendes Mißtrauen gegen die Versprechungen der NSV hin. Praktische Folgen nach außen zeitigte dieses neue Bewußtsein aber in der Regel nicht. Um der Volkswohlfahrt keinen Anlaß zu geben, ihre Machtbasis noch stärker auf Kosten der Inneren Mission zu erweitern, etwa weil sich der Centraiausschuß oppositionell' gebärde und damit staatsfeindlicher Umtriebe verdächtig mache, hielt die Innere

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Mission an ihrem mittlerweile zum ,taktischen Dogma' geronnenen Pragmatismus auch in den kommenden Jahren fest. Intern mußte sich vorher aber vieles verändern, um die ,Illusionisten' bzw. jene, die auf beiden Schultern trugen, abzulösen oder auf andere Weise aus der Alleinverantwortung herauszunehmen. III.2.2. Der Kampf um das Präsidentenamt Nachdem die Deutschen Christen im November 1933 eine Niederlage erlitten hatten, von der sie sich nicht mehr erholen sollten, strebte der Kampf um die Reichskirche 1934 einem weiteren Höhepunkt zu. Müller und seine Anhänger gaben sich trotz aller Mißerfolge bis hin zum Scheitern auch des zweiten Reichskirchenkabinetts keineswegs geschlagen und suchten nach neuen Wegen, um ihr Regiment auszuweiten und zu konsolidieren. Neben der Auseinandersetzung mit der ,Bekenntnisfront' 173 stand nun die Integration der Landeskirchen in die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) an, die der Reichsbischof mit dem am 12. April zum juristischen Mitglied seines Kabinetts berufenen ehemaligen Staatskommissar August Jäger rücksichtslos in Angriff nahm. 174 Das Eingliederungswerk, welches im September und Oktober in dem Bemühen kulminierte, die lutherischen Landeskirchen Bayerns und Württembergs mit Gewalt der Reichskirche einzuverleiben, war schon vorher von zahlreichen Rechtsbrüchen begleitet worden, so daß sich das kirchenpolitische Klima zunehmend verschlechterte. Dies konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Innere Mission bleiben, wenngleich der andernorts mit Erbitterung ausgetragene Konflikt zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche innerhalb des Centraiausschusses - getreu dem von ihm verfolgten Neutralitätskurs - nicht zum alles beherrschenden Gegenstand der internen Debatten und Kämpfe geriet.175 Das Rahmenabkommen zwischen Innerer Mission und Reichskirche vom 18. Oktober hatte auch in den Augen seiner Befürworter bestenfalls „einen ver173

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Zur „Sammlung der Bekenntniskräfte" und zur Vorgeschichte und Breitenwirkung der Barmer Erklärung von Ende Mai 1934, die im Rahmen der IM-Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle spielt, vgl. Meier 1,165 ff., und Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Daneben blieb Jäger MD im preuß. Kultusministerium und „Amtswalter für evangelische Angelegenheiten in der Reichsparteileitung der NSDAP"; Meier 1,204. In einem Rückblick auf das Jahr 1934 lehnte es der Redakteur der .Inneren Mission' ab, mit dem Wort „Kirchenpolitik!" schon das Schlüsselwort für die Geschichte der IM in diesem Zeitabschnitt gefunden zu haben, was weniger abwegig erscheint als seine in Form eines Rechtfertigungsversuches ex post gekleidete Behauptung, es sei im CA nicht um die Vorherrschaft einer bestimmten kirchenpolitischen Richtung gegangen. Er sah die Ursache der Spannungen vornehmlich in der gewiß problematischen Verkopplung des Präsidentenamtes mit einer reichskirchlichen Referentenstelle. Mit Abstrichen ist seiner These zuzustimmen, daß sich der CA um Neutralität in diesen Auseinandersetzungen bemüht habe. Vgl. Gerhard Schröder, „Der Weg der Inneren Mission im Jahre 1934", in: IM 30.1935,5-16,6.

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heißungsvollen Anfang" markiert und mußte nun durch eine neue Verfassung des Centraiausschusses ergänzt werden, sollte es je praktische Bedeutung erlangen.176 Diese so schnell wie möglich zu schaffen, war zwar der erklärte Wille Themeis und der Reichskirche, das Unternehmen sah sich nach den Vorkommnissen des Winters nun aber wachsenden Schwierigkeiten ausgesetzt. Denn wie sollte man auf die Wünsche eines Kirchenregiments eingehen, das zunehmendem Mißtrauen begegnete und dessen geistliche und kanonische' Legitimation gerade auch im Hinblick auf die Entwicklung in Sommer und Herbst immer fragwürdiger wurde? Wenn Oberkonsistorialrat D.Hymmen aus Münster in seinem Leitartikel für die Januarausgabe der,Inneren Mission' schrieb: „Die Mauern wanken, die Fundamente selber sind erschüttert", und damit auf die Kirche zielte, die sich im Gegensatz zum gefestigt dastehenden Staatsaufbau in einer tiefen, fast ausweglosen Krise befinde, sprach er vielen kirchlich und diakonisch interessierten Zeitgenossen aus dem Herzen. 177 Doch der Reichsbischof tat, als sei nichts geschehen. Am 1. Februar beauftragte er ,seinen' Präsidenten Themel, eine neue Verfassung auszuarbeiten, „die den engen Zusammenschluß aller Verbände, Anstalten und Einrichtungen der Inneren Mission unter die mit Vollmacht ausgestattete Führung des Centrai-Ausschusses verbürgt". Tatsächlich ging Themel unverzüglich ans Werk und konnte schon drei Wochen später einen Satzungsentwurf vorlegen, der ganz auf das Führerprinzip und damit auf seine Person zugeschnitten war. Alle anderen neu zu bildenden Gremien wie der Engere und Weitere (Größere) Reichsführerrat besaßen neben dem Präsidenten, der ihre Mitglieder jederzeit abberufen konnte, nur beratende Funktion. Der Präsident und der (geschäftsführende) Direktor sollten lediglich nach „Anhörung", nicht auf Vorschlag des Weiteren Rates vom Reichsbischof ernannt werden. Einschneidend waren auch die beabsichtigten Regelungen für die Landesbzw. Provinzialverbände, deren Führer Themel im Einvernehmen mit den jeweiligen Landesbischöfen und dem CA-Präsidenten bestellen lassen wollte. Ausdrücklich sah der Entwurf ferner die Möglichkeit der fristlosen Abberufung dieser Landesführer durch den Reichsführer und die Bischöfe vor - ein stets in Bereitschaft stehendes Disziplinierungsmittel, das wie ein Damoklesschwert über den Köpfen unbotmäßiger Vereinsgeistlicher schweben würde, die sich den Weisungen dieser .Autoritäten' nicht fügten. 178 Als dieser Entwurf den übrigen Mitgliedern des Verfassungsausschusses und 176

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So wiederum Schröder, der mit Recht darauf hinwies, daß solche Verträge ohne inhaltliche Ausgestaltung Makulatur blieben; ders., „Der Weg der Inneren Mission im Jahre 1933", in: IM 29.1934,16. Johannes Hymmen, „Zum Geleit fürs neue Jahr", ebd., 1-5. Zu Hymmen, der zwischen Deutschen Christen und BK eine mittlere Position einnahm und bald darauf vom westfälischen DC-Bischof Adler seines Postens enthoben wurde, vgl. Bernd Hey, Die Kirchenprovinz Westfalen 1933-1945,190 ff. Entwurf v.24.11.1934; ADW, CA 876 IV/1.

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anderen CA-Vorstandsmitgliedern zugeleitet wurde, kam es verständlicherweise erneut zu Protesten aus den Reihen der Geschäftsführer und Vorsteher, die besonders den starren Schematismus der Themelschen Satzung bemängelten und statt festgeschriebener Einzelbestimmungen lieber ,Richtlinien' ausgeben wollten. Otto Ohl erinnerte an die anhaltende Rechtsunsicherheit in vielen Landeskirchen und an das ungeklärte Verhältnis zur NSV, beides Barrieren, die erst überwunden werden müßten, bevor die Satzung in Kraft treten könne. Anstoß nahm Ohl auch an der einseitigen Berufung von Reichsführer und Erstem Direktor durch den Reichsbischof; eine bloße Fühlungnahme mit der DEK genüge seines Erachtens. Auch dürften die Landesführer nur in Ausrichtung an den sachlichen Erfordernissen der Inneren Mission berufen werden, um ein Hineintragen des Kirchenstreits in die Arbeit zu verhindern. 179 Ein Gegenentwurf Pastor Fricks änderte die Berufungsbestimmungen stillschweigend dahingehend ab, daß vor Klärung dieser Personalfragen dem Reichsführerrat das Vorschlagsrecht zugestanden werden solle, womit er die nahezu diktatorischen Vollmachten, die Themel sich selbst hatte sichern wollen, wieder einschränkte. 180 - Den Präsidenten kümmerte solche Kritik vorerst wenig. Obwohl das Abkommen vom 18. Oktober weder die Erstellung einer neuen CA-Satzung verlangte noch die alte Verfassung von 1928 ausdrücklich aufgehoben hatte, ging er daran, auch ohne förmliche Ermächtigung durch die zuständigen Gremien seine Pläne zu verwirklichen. Solange die bisher gültige Satzung aber nicht suspendiert war, hätte deren einschlägiger Artikel 19 an sich berücksichtigt werden müssen: Er machte für eine Änderung die Zustimmung des Hauptausschusses und der Mitgliederversammlung mit 2/3-Stimmenmehrheit zur Bedingung.181 Weil aber der Kirchenvertrag vom 18. Oktober mit seinen Abschnitten über die Bestellung des Präsidenten und des Geschäftsführers bei ausdrücklicher Zusage der inneren Selbständigkeit der Inneren Mission das alte Statut wenigstens in diesen Punkten de facto abgelöst hatte,182 glaubte Themel wohl, auch bei Inkraftsetzung einer gänzlich neuen Verfassung von seinen - umstrittenen - Führungskompetenzen Gebrauch machen zu können. Zwar gelang es ihm nicht, seinem Entwurf mit Hilfe des Reichsbischofs Rechtswirksamkeit zu verleihen, aber er suchte nach anderen Wegen, die praktisch zum gleichen Ziel führten. Der Vertragsabschluß mit der NSV vom 21. Februar schien ihm genügend Rückendeckung zu

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Das Recht des jeweiligen Landesbischofs, einen Landesführer „jederzeit" abzuberufen, müsse dahin modifiziert werden, in solchen Fällen die Versorgungsansprüche der Betroffenen etwa durch Übernahme eines Pfarramtes zu gewährleisten. Vgl. die kritischen Kommentare Ohls und Engelmanns zum Verfassungsentwurf o. Dat.; ebd. Constantin Frick, „Gedanken zur Verfassung der Inneren Mission" v. 25.V. 1934; ebd. Die Satzung vom 29.111.1928/23.IV. 1929 ist abgedruckt in: Aus der Arbeit der Liebe, 67-73. Vgl. Anm. 103. - Schon am 18.X. 1933 war die Mitgliederversammlung nicht hinzugezogen worden.

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bieten, um jenes berüchtigte Rundschreiben Nr. 9 vom 1. Mai an die Verbände hinausgehen zu lassen, von dem schon die Rede war.183 Wenig später erließ er dazu ,Richtlinien' im gleichen Tenor, nur jetzt vor allem auf die innere Organisation der Landesverbände und ihrer Einrichtungen bezogen; 184 dies stets unter Rekurs auf die erwähnte Vereinbarung der Reichsspitzenverbände mit der NSV, ein Vertrag, der überhaupt keinen Passus über die innere Neugestaltung der beteiligten Wohlfahrtsorganisationen enthielt [!],185 was die geschilderten Proteste der betroffenen Einrichtungen und Geschäftsführer noch gerechtfertigter erscheinen läßt. Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die führenden Männer der Inneren Mission den am 18. Oktober eingeleiteten und nun von Themel weiter forcierten »schleichenden Verfassungswandel' bis zu einer gewissen Grenze mittrugen. Auch sie waren ja nicht grundsätzlich gegen das Führerprinzip eingestellt und leisteten Widerstand höchstens dort, wo es um die Binnenautonomie ihrer Einrichtungen ging. Größere Schlagkraft durch Zentralisierung, Abkürzung der früher langwierigen Entscheidungsprozesse, planwirtschaftliche Orientierung und mehr Verantwortlichkeiten und Befugnisse für die Vorsitzenden der Verbände und Anstalten - diese damals häufig vorgebrachten Desiderate fanden weitgehend Zustimmung. Zum einen handelte es sich um Anpassung an die gesellschaftlichen Normierungen des Nationalsozialismus, zum andern hoffte man so den von dort kommenden Ansprüchen und Eingriffen in die Arbeit besser begegnen zu können. ,Führertum' wurde also auch in der Inneren Mission allgemein akzeptiert, nur diesen Reichsführer hatte man nicht gewollt, auch wenn man ihm in vielfacher Hinsicht stets entgegengekommen war und sich bisher mehr oder weniger freiwillig seinen Direktiven gefügt hatte.186 Nach Themeis rigiden Eingriffen in die Organisationsstruktur der Regionalverbände formierte sich im Sommer 1934 der Widerstand gegen sein Regiment, dem man jetzt zunehmend die Verletzung der kirchenpolitischen Neutralität anlastete, weil man endlich erkannte, daß seine Anordnungen in enger Anlehnung an den Kurs des Reichsbischofs erfolgten. Da Themel in jenem seine wichtigste Stütze besaß,

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Vgl.Anm.142. Der Reichsführer der IM, Rundschreiben Nr. 9, undat.; ADW, CA 876 I V / l . D a das Rundschreiben Nr. 10 v.l.VI. 1934 stammt, müssen die Richtlinien Ende Mai versandt worden sein. Zum Text des NSV-Abkommens vgl. Kap. II. 4.2., Anm. 295. Am 15.111.1934 teilte der CA den angeschlossenen Verbänden den Wortlaut der Vereinbarung mit; ADW, CA 100IV/ 1. Von den bekannten Beispielen abgesehen, erstreckte sich die Anpassungsbereitschaft 1934 auch auf Teile der noch gar nicht verabschiedeten Satzung: So nannte sich der erweiterte Hauptausschuß Mitte des Jahres ,Großer Führerrat', und auch die Ernennung von Landesführern in den Verbänden ist ein Beispiel dafür, daß man nichts gegen die organisatorische Straffung der Arbeit einzuwenden hatte.

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schien die Aufkündigung der gerade erst geschlossenen Vereinbarung zwischen Innerer Mission und Kirche der geeignete Schritt, um den Centraiausschuß dem Einflußbereich Müllers zu entziehen und - unbeschadet persönlicher Sympathien vieler seiner Mitglieder für die Bekennende Kirche auf der anderen Seite aus dem Kirchenstreit herauszuhalten. 187 So brachte der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser im Juli in einer Sitzung des Großen Reichsführerrats einen Antrag ein, der die Änderung des Rahmenabkommens vom 18. Oktober zum Inhalt hatte und wohl auch schon die Ablösung Themeis anvisierte.188 Der Schwesternverband drang damit aber noch nicht durch, im Gegenteil, die Mehrheit des Führerrats erklärte ausdrücklich, daß die Spitze des CA trotz ihrer Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen „die Kirchenpolitik aus der Inneren Mission ferngehalten" habe. Man stehe nach wie vor fest zur DEK, ohne damit im gegenwärtigen Streit Stellung zu beziehen. Von dieser Basis aus wolle man sich bemühen, in weiteren Verhandlungen mit der Reichskirche die beide berührenden Fragen zu klären, um die Innere Mission „der kirchenpolitischen Sphäre zu entziehen und ihre Arbeit in der deutschen evangelischen Kirche geschlossen zu erhalten". 189 - Aber das Problem ließ sich auf diese Weise nicht mehr aus der Welt schaffen. Inzwischen interessierten sich nämlich auch Kreise der Bekennenden Kirche für die Entwicklung der Inneren Mission und suchten darauf in ihrem Sinne einzuwirken. Am 4. August brachte die Junge Kirche' eine Notiz, die von bevorstehenden personellen Veränderungen im Präsidium des Centraiausschusses berichtete, was dort eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten der bekenntniskirchlichen Gruppierungen zur Folge

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Vgl. das Prot, der Vorstandssitzung des Rheinischen Provinzialausschusses für Innere Mission v. 19.VII. 1934. Der Vorstand verabschiedete - wohl in Anknüpfung an die Barmer Thesen - folgende Erklärung: „Die Innere Mission steht auf dem Boden des Bekenntnisses zum Christus als dem alleinigen Helfer und Heiland in all der Not des Leibes und der Seele, der die Innere Mission begegnen will. Sie ist sich bewußt und bekennt, daß sie ihre Aufgabe nur erfüllen kann aus der Bindung und aus den Kräften des vollen unverkürzten Evangeliums und der vollgültigen Offenbarung von Gottes Liebe und von Gottes Gerechtigkeit, wie sie uns in Jesus Christus, seinem Leben und seinem Sterben und in der durch ihn geschehenen Erlösung und Versöhnung gegeben ist." Solange dieses Bekenntnis gewahrt bleibe, könne jeder mitarbeiten, ungeachtet seiner kirchenpolitischen sonstigen Bindung; denn eine „kirchenpolitisch aufgespaltene Innere Mission" besitze nur einen eingeschränkten Wirkungsgrad, auch müsse die IM als Grundlage für die dereinstige Wiedervereinigung der „getrennten Brüder" bestehenbleiben. ADWDü, BO, 8/1,4. Dies ist ein nahezu klassischer Beleg für die These, daß die bekenntniskirchlichen Kräfte in der IM im Gegensatz zu den Deutschen Christen nicht daran dachten, CA und IM auf ihre kirchenpolitische Position hin festzulegen.

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S. das Prot. v. 5.VII. 1934; ADW, CA 876IV/1. Der Kaiserswerther Antrag selbst ist darin nicht enthalten, wollte aber die ,Entkirchlichung' der IM im Sinne ihrer Lösung von dieser Reichskirche. Aus der Reaktion der übrigen Teilnehmer, die forderten, persönliche und kirchenpolitische Standpunkte zu trennen, geht das hervor. Ebd.

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haben werde.190 In einem eigens in dieser Sache verfaßten Rundschreiben dementierten Schirmacher und Themel diese „Falschmeldung", die sie als einen „Störungsversuch von außenstehender Seite" qualifizierten; man sei sich im Centraiausschuß völlig darüber einig, „Kirchenpolitik aus der Inneren Mission herauszuhalten". 191 Nun war diese ,Richtigstellung' genauso falsch wie der Bericht der,Jungen Kirche', und die Behauptung des Gegenteils vermochte jenes Terrain für die DCRepräsentanten im Centraiausschuß auch nicht zurückzugewinnen, das sie durch ihre einseitige Parteinahme bisher verloren hatten. Es bedurfte nur noch eines geringfügigen Anlasses, um der Gruppe endgültig zum Durchbruch zu verhelfen, die das Abkommen und damit Themeis Präsidentschaft unmißverständlich ablehnte. Die Gelegenheit kam, als vom 21. bis 23. September die 2. Reichstagung der Deutschen Christen in Berlin stattfand. In ihrem Rahmen war die festliche Einführung des Reichsbischofs vorgesehen, die in einer machtvollen Demonstration die Lebensfähigkeit des reichskirchlichen Gedankens unter deutschchristlichem Vorzeichen einer breiteren Öffentlichkeit gegenüber unter Beweis stellen sollte.192 Im Anschluß an den Einführungsakt im Dom hatte man eine Feierstunde unter Hinzuziehung der Verbände geplant, um damit manifest zu machen, auf welch breite Basis sich der Reichsbischof im Kirchenvolk stützen konnte. Auch die Innere Mission war geladen und sollte als größte Gruppierung des protestantischen Organisationsspektrums eine Grußadresse an Müller richten. Im Vorfeld dieses nun wirklich richtungspolitisch eindeutig fixierten Ereignisses, bei dem - wie abzusehen war - die Deutschen Christen unter sich bleiben würden, versuchten einflußreiche Kräfte der Inneren Mission, Themel von seiner angekündigten Teilnahme abzubringen. Nachdem die Eisenacher Geschäftsführerkonferenz bereits im Juni beschlossen hatte, „die organisatorische Lösung der Spitze des C.A. von der Reichskirchenleitung herbeizuführen mit der Motivierung, daß die I. M. aus der Kirchenpolitik herausgenommen werden soll",193 wurde diese Entscheidung in zwei zentralen Beiträgen der September-Nummer der,Inneren Mission' noch einmal begründet. Zwar sei die Verbin-

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„Dieses [sc. das Präsidium] wird nunmehr von den Mitgliedern des Reichsverbandes an Persönlichkeiten übertragen werden, die in der Arbeit der Inneren Mission Erfahrung haben und den hinter ihr stehenden Kreisen die Sicherheit einer Führung im Geist der Bekenntnissynode geben. Damit ergibt sich eine gewisse Lösung der organisatorischen Verbindung vom Kirchenregiment von selbst, während die Zusammenarbeit mit der N. S. V. im Sinne gegenseitiger Förderung nicht nur voll gewahrt bleibt, sondern auch vertieft wird." Junge Kirche 2.1934,637 f. CA-Rundschreiben Nr. 123 v.7.VIII. 1934; ADW, CA 876 IV/1. Zur 2. Reichstagung vgl. Meier 1,218 ff. Das Eisenacher GK-Prot. v. 16.VI. 1934 ist im ersten Teil (S. 1 -40) nicht erhalten; vgl. aber die Mitteilung D. Lauerers nach dem GK-Prot. von Hannover v. 13./14.IX. 1934; ADW, CA 761 XVI.

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dung von Centraiausschuß und DEK für die Innere Mission eine „Lebensnotwendigkeit", führte Hans Lauerer/Neuendettelsau darin aus, doch könne der CA inmitten des tobenden Kirchenstreites nicht einfach als „Exponent" der Reichskirche dastehen. Und Bodo Heyne/Bremen bekräftigte dieses Urteil mit der Erklärung, die Innere Mission trage „ihren kirchlichen Charakter in sich selber" und bedürfe dazu „keiner amtlichen Bestätigung". Gerade ihre Freiheit von behördlicher Unterordnung sei der „Nährboden", auf dem sie allein „zum Segen der Kirche" wirken könne. 194 Auf der Zusammenkunft der Geschäftsführer in Hannover wurde Themel noch einmal vor der Teilnahme an der Einführung Müllers gewarnt. Selbst ansonsten zurückhaltend agierende Vereinsgeistliche und Vorsteher wie Niemann/Münster oder Bodelschwingh strichen den kirchenpoliiischen Charakter der Veranstaltung heraus, an der man sich deshalb nicht beteiligen dürfe. Pastor Frick, der Ende des Jahres Themeis Amt übernehmen sollte, wies auf den wachsenden Protest aus den Gemeinden hin, für die eine Anwesenheit der Spitzenrepräsentanten der Inneren Mission an Verrat grenzen werde, und bestürmte Themel, wenn er sich schon von seinem Vorhaben nicht abbringen lasse, doch wenigstens in seiner Ansprache zu betonen, daß seine Teilnahme nichts mit Kirchenpolitik zu tun habe.195 Themel ließ sich aber nicht umstimmen. Wieder einmal beschwor er den geschichtlichen Augenblick, wenn er seinen Kritikern antwortete, man stehe „an einem entscheidenden Wendepunkt der evangelischen Kirche". Die Innere Mission sei gefordert, ein Wort an die Kirche zu richten, das habe mit Politik nichts zu tun. Wenn die führenden Repräsentanten des Staates sich an dem Festakt beteiligten,196 dürfe die Innere Mission nicht fehlen. Er sei sicher, daß Führer und Partei gerade jetzt nach dem Nürnberger Parteitag fest hinter der Kirchenregierung stünden, 197 und werde deshalb als Nationalsozialist der hier vorgegebenen Linie gehorchen; wenn ihm niemand folgen wolle, trage er die Verantwortung allein. Themel und Schirmacher nahmen also am 23. September ohne Rücksicht auf die vorgebrachten ernsten Bedenken an der Einführung des Reichsbischofs und

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Hans Lauerer, „Die ewigen Grundlagen der Inneren Mission", in: IM 29.1934,180-189, 188, und Bodo Heyne, „Bemerkungen zur Entwicklung der Inneren Mission", ebd., 189-193,192f. GK-Prot. Hannover, a.a.O. Nur eine Minderheit stimmte Themel zu, so der Breslauer DC-Propst Konrad Jenetzky und der ostpreuß. Geschäftsführer P. Kaufmann. Schirmacher bekundete, er sei froh, daß Themel den Führerrat nicht vorher konsultiert, sondern die Entscheidung „auf eigene Kappe" genommen habe. Eine Führung, die einer solchen Entscheidung ausweiche, sei keine. Das traf in Wirklichkeit dann gar nicht zu; lediglich Rdl Frick und StS Meißner/Reichspräsidialkanzlei nahmen an der Feier im D o m teil. Andere Regierungsvertreter, vor allem Beamte des RAM, deren Erscheinen Themel ausdrücklich angekündigt hatte, fehlten. S.Meier 1,220. Zum Eintreten Hitlers für das Einigungs werk in einer Rede auf dem Nürnberger Parteitag 1934 V.4.IX. vgl. Meier 1,502.

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der anschließenden Feierstunde teil. Man wird aber nicht sagen können, daß sie in ihren Wortbeiträgen dezidiert deutschchristliche Positionen vertreten hätten. Vielmehr nutzte der Präsident die Gelegenheit, Müller um den Versuch zu bitten, „über die tiefen Gräben, die sich im [sc. kirchlichen] Bruderkampf aufgetan haben, eine Brücke zu schlagen zu denen, die abseits stehen und die guten Willens sind". Auch um des Führers und seines Werkes willen - der Einigung aller Deutschen - sei das notwendig. 198 Es war jedoch die Frage, wer denn nun abseits stand: die inzwischen mehr und mehr erstarkende Bekennende Kirche, die einen Monat später auf ihrer Dahlemer Synode das kirchliche Notrecht proklamieren und Müllers Kirchenleitung jede Legitimation absprechen sollte, oder der Reichsbischof und sein Kirchenregiment. Auch Schirmacher richtete nicht nur freundliche Worte an den Reichsbischof, dem er allerdings für „unvergeßliche Dienste" dankte, die jener schon als Bevollmächtigter des Führers der Inneren Mission geleistet habe, sondern griff gezielt brisante Themen auf wie die umstrittenen Arbeitsfelder ,Kindergärten* und „Fürsorge für sog. minderwertiges und erbgesundes Leben", die es für die Innere Mission aus ihrem religiösen Auftrag heraus zu sichern gelte.199 Beiden Ansprachen war deutlich die Absicht der Redner anzumerken, auf gefahrlichem Boden nur keinen Anstoß zu erregen, der ihre abwesenden Kritiker bestätigt und eine Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse in Reichsführerrat und Geschäftsführerversammlung zu Lasten des CA-Duumvirats noch mehr gefördert hätte. Es sollte noch zwei Monate dauern, bis die Entscheidung fiel, die - wenn auch in vorsichtig-hinhaltender Form - faktisch die Lösung von der Reichskirche bedeutete und Themel sein Amt kostete. Wie stets seit dem Frühjahr 1933 spielte dabei wieder die kirchenpolitische Entwicklung eine zentrale, wenn nicht ausschlaggebende Rolle. Im Zuge des Eingliederungswerkes wendeten Jäger und Müller in Württemberg und Bayern Gewaltmaßnahmen an, die bis hin zur kurzzeitigen Sistierung der Landesbischöfe Meiser und Wurm aller Welt vor Augen führten, wie skrupellos allein an den Bedürfnissen des Regimes ausgerichtet diese Kirchenpolitik ihren Lauf nahm. 200 Die 2. Bekenntnissynode der DEK, die vom 19. bis 20. Oktober in Dahlem tagte und als ,Entlastungsoffensive' für die bedrängten süddeutschen Landeskirchen gedacht war, brachte dann mit der Proklamation des kirchlichen Notrechts neue Akzente in die Auseinandersetzung ein. Sie wandte sich gegen das „unmöglichef.] Papsttum" des Reichsbischofs und seines Rechtswalters und verwarf die Übertragung des Führerprinzips und seiner Gehorsamsforderungen als falsche Bindung der Amtsträger der

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„Aus der Feierstunde der Inneren Mission am 23. September 1934". Begrüßungsansprache Themeis, in: IM 29.1934,225-227,226. Horst Schirmacher, „Der Dienst der Inneren Mission", ebd., 227 -232. Zu den Amtsenthebungen Wurms und Meisers am 14.IX. bzw. l l . X . vgl. Meier I, 453-455.464-467.

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Kirche „an das Kirchenregiment statt an Christus", was gegen die Heilige Schrift und die Bekenntnisse verstoße. Die Verkündigung des Notrechts war mit der Feststellung verknüpft, die Verfassung der DEK vom Juli 1933 sei durch das Kirchenregiment selbst zerschlagen; eine neue Leitung der DEK werde geschaffen, die Gemeinden, Pfarrer und Kirchenältesten aber sollten künftig von der unrechtmäßig amtierenden bisherigen Kirchenregierung und ihren Behörden keine Weisungen mehr entgegennehmen. 201 Dieses Verdikt traf nicht nur diejenigen, die am Regiment Müllers in DEK und Landeskirchen teilhatten, sondern grundsätzlich auch alle, die „dieser ,häretischen' Kirchenleitung weiterhin gehorsam sein wollten". Die Probleme der Unbedingtheit dieser Forderung, die zusammen mit denen der Errichtung eines bekenntnisverpflichteten BK-Kirchenregiments anstelle der ja weiter existierenden alten DEK-Leitung zu scharfen Kontroversen im Lager der Bekennenden Kirche selbst führte, können hier nicht weiter verfolgt werden.202 Sie berührten aber aus verständlichen Gründen die Situation der Inneren Mission unmittelbar, obschon diese - auch mit ihrem BK-nahen Flügel - weit davon entfernt war, die radikalen Beschlüsse von Dahlem und ihre Ausführungsbestimmungen sowie die endliche Unterstellung der DEK unter die Leitung des Reichsbruderrats ohne Einschränkungen anzuerkennen. Die Innere Mission fühlte sich mit Recht nicht nur als Teil der Kirche, sondern verantwortete mit ihren Einrichtungen einen sozialpolitisch relevanten Arbeitsbereich, dessen Sicherung vor Staats- und NSV-Zugriffen bei aller Kritik an Person und Maßnahmen des Reichsbischofs nur behutsames Taktieren und keine rigoristischen Ideallösungen zuließ. Noch vor der feierlichen Einführung Müllers am 23. September hatten sich Gruppierungen der Äußeren und Inneren Mission, die der Bekennenden Kirche nahestanden, ohne organisatorisch mit ihr verbunden zu sein, entschlossen, in einem abschriftlich auch Hitler zugesandten Appell an den Reichsbischof diesen zur Zurücknahme seiner Zwangsmaßnahmen in Süddeutschland zu bewegen. Die Arbeit der kirchlichen Verbände sei unter diesen Umständen aufs schwerste bedroht; geschehe seitens des Reichsbischofs nichts, müsse man mit einer Kirchenspaltung rechnen. Neben den Vorsitzenden des Deutschen Ev. Missionsrates, des Gnadauer Verbandes, des Ev. Reichsverbands weiblicher Jugend, des Reichsverbandes ev. Jungmännerbünde und des Ev. Frauenwerks war die Eingabe auch von drei bekannten Vertretern der Inneren Mission unterzeichnet worden, nämlich von Fritz von Bodelschwingh, Johannes Wolff, dem Führer der Deutschen Diakonenschaft, und von Hans Lauerer für den Kaiserswerther Ver-

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Vgl. die „Botschaft der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche", in: KJb 1933-1944,82 f. S. a. die „Erste Verordnung zur Ausführung der Beschlüsse der Dahlemer Bekenntnissynode" v. 29.X.1934, ebd., 83-86.Zur historischen Einordnung dieser Synode vgl. Meier 1,221 ff. S. ebd., 223 und den Exkurs 241 ff.

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band Ev. Diakonissenmutterhäuser. 203 Damit hatten sich drei prominente Persönlichkeiten der Inneren Mission mit den anderen Genannten in einer Konstellation zusammengefunden, die nicht von ungefähr an die fast 20 Jahre zuvor gegründete Konferenz deutscher ev. Arbeitsorganisationen erinnert. Anders als damals wollten sie aber das Anliegen ihrer Verbände im Kirchenstreit zu Gehör zu bringen, ohne als offizielle Vertreter der Inneren Mission und ihres Centraiausschusses zu fungieren. Abgesehen davon, daß dies unter der Präsidentschaft Themeis auch nicht möglich war, konnte es als ,Kunstgriff' verstanden werden, um nach außen zu dokumentieren, daß die Innere Mission nach wie vor zu ihrer kirchenpolitischen Neutralität stand. Als der Reichsbischof auf den Aufruf nicht reagierte und die Entwicklung in den kommenden Wochen immer unheilvollere Formen annahm, entschlossen sich die Unterzeichner des Briefes anläßlich einer Tagung am 24./25. Oktober in Hannover zur Gründung der .Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände'. In ihren dort gleichfalls verabschiedeten Richtlinien hieß es unter anderem, es sei „bei der gegenwärtigen Lage der Kirche geboten, daß die mit uns auf gleicher Glaubensgrundlage stehenden Verbände und Werke der Inneren und Äußeren Mission in feste Fühlung miteinander treten und sooft es not tut, in Wort und Tat gemeinsam handeln. Wir wollen darum ringen, daß wir den missionarischen und diakonischen Auftrag an unserm Volke und an der Völkerwelt inmitten des Kirchenstreites im Geist unseres Herrn mit ganzer Hingabe zum Segen für Kirche und Volk fortsetzen können. [...] Zweck der Arbeitsgemeinschaft ist die Wahrung der lebensnotwendigen Grundlage und der ebenso lebensnotwendigen Freiheit der zu ihr gehörenden Verbände und Werke."204 Das Echo auf die Gründung der Arbeitsgemeinschaft innerhalb der protestantischen Öffentlichkeit war groß. Bis Ende des Jahres schlössen sich ihr 25 Verbände, 107 sonstige Organisationen und 81 Einzelmitglieder an,205 darunter auch weitere Vereinsgeistliche der Inneren Mission wie Pastor Constantin Frick. Sie alle stießen sich, wie es Fritz v. Bodelschwingh später mit Blick auf die Anfange ausdrückte, an der „Unterstellung" der Werke ev. Liebestätigkeit „unter eine kleine, von Schrift und Bekenntnis her in ihrer Theologie und ihrem kirchlichen

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Schreiben v. 15.IX. 1934; ADW, CA 2240 (Handakten Johannes Kunze). Abgedruckt bei Fritz Mybes, Geschichte der Evangelischen Frauenhilfe in Quellen, 77f. S.a. ders., „Die Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Werke und Verbände", in: Ders./Günther van Norden, Evangelische Frauen im Dritten Reich, 31-45. Ebd., 79 f. Text der Richtlinien auch bei Gerhard Schröder, „Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Kräfte", in: IM 29.1934, 266-268, 267.- Eine Sizze zur Gründungs- und Frühgeschichte der Arbeitsgemeinschaft bei J-C. Kaiser, „Die Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände 1934/35". Mitteilung des aus v. Bodelschwingh, Missionsdirektor Knak und Graf Lüttichau bestehenden Bruderrats an die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft v. 12.1.1935; ADW, CA 2240, und Mybes, a.a.O., 82f.

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Handeln nicht legitimierte Gruppe". Die Trennung sei freilich nicht aus kirchenpolitischen Motiven erfolgt, sondern aus „innersten Notwendigkeiten", um derentwillen man es sogar in Kauf genommen habe, vom Reichskirchenregiment „politisch diffamiert" und in ähnlicher Weise wie die ev. Jugendverbände im Dezember 1933 unter Umständen außerkirchlichen Instanzen ausgeliefert zu werden. 206 Auf drohende Gefahren für das Weiterbestehen der gesamten Inneren Mission im Zusammenhang mit der zwangsweisen Eingliederung der Landeskirchen in die Reichskirche wies Pastor Frick zur Rechtfertigung der Arbeitsgemeinschaft hin; 207 noch wichtiger als dieser Anlaß sei aber die Absicht gewesen, „die Innere Mission durch Besinnung auf die biblischen Grundlagen wieder auf das Niveau zu bringen, daß uns I. M.-Leuten allen von jeher wünschenswert gewesen ist". Aus der Kirchenpolitik habe man sich durch Ablehnung eines Anschlusses an den Reichsbruderrat herausgehalten, um die Voraussetzung für die weitere Kooperation mit jenen deutschchristlich orientierten Brüdern zu bewahren, die sich von ihrer Organisation getrennt hätten. Dies sei ein unabdingbares „Opfer" im Dienste der Arbeit gewesen. Der Berufung auf den geistlichen Auftrag der Kirche und ihrer Verbände, in deren Namen es jetzt zu handeln gelte, kam natürlich wiederum kirchenpoft'iische Qualität zu. Das wurde deutlich, als der Bruderrat am 6. November den Reichsbischof aufforderte, zur Überwindung der Krise sein Amt zur Verfügung zu stellen, um den Weg für einen Neuanfang freizumachen. Die Verbände fühlten sich durch den Kurs des gegenwärtigen Kirchenregiments gelähmt, die Zeit dränge, wenn die Werke nicht Schaden leiden sollten. Rücksichtnahme auf die „Lebensnotwendigkeiten der Kirche" und auf „das Heil von Volk und Staat" müßten stärker als persönliche Belange Müller zu diesem Schritt bestimmen. Aber der Reichsbischof dachte nicht daran, sich dem Votum zu beugen. Immerhin würdigte er die Arbeitsgemeinschaft einer abschlägigen Antwort, in der er behauptete, sein Rücktritt schaffe nur neue Unruhe und sei angesichts einer kirchlichen Opposition, die (in Dahlem) sektiererische Züge gezeigt habe, vollends undenkbar. 208 Nun war die Wahrscheinlichkeit, daß Müller auf ein solches Ersuchen eingehen würde, von vornherein äußerst gering gewesen. Die Forderung der von der Arbeitsgemeinschaft repräsentierten Verbände hatte aber demonstriert, daß er auch hier auf Entgegenkommen und Kooperationsbereitschaft nicht mehr rechnen konnte. Wahrscheinlich klammerte er sich an die

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F. v. Bodelschwingh, „Aufgabe und Ziel der Arbeitsgemeinschaft. (Bericht erstattet auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft in Salzuflen am 13. März 1935)"; ADW, CA 2240. Frick an P. Langkutsch, den noch wegen eines Beitritts zur Arbeitsgemeinschaft unschlüssigen pommerschen IM-Geschäftsführer in Stettin, v. 8.II. 1935; ebd. Jäger habe geplant, „die Innere und Äußere Mission einzuschlachten [!] und in einer uns völlig unmöglich erscheinenden Form mit den Reichs- und Landeskirchen zu verkoppeln". Vgl. das Schreiben der Arbeitsgemeinschaft an den Reichsbischof v. 6.XI. 1934 und dessen Antwort v. 7.XI., ebd., und Mybes, a. a. O., 81.

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Hoffnung, daß nach dem Ende Oktober erfolgten Sturz Jägers und der überraschenden Wendung der NS-Kirchenpolitik, die - vor allem aus außenpolitischen Rücksichten - das von vehementen ökumenischen Protesten begleitete gewaltsame Eingliederungswerk fallen ließ,209 sich die Lage wieder zu seinen Gunsten beruhigen werde. Hinzu traten die Auseinandersetzungen innerhalb der Bekennenden Kirche selbst über die Frage, wie und ob die drei ,intakten' lutherischen Landeskirchen von Hannover, Württemberg und Bayern in das bruderrätliche Notkirchenregiment von Dahlem eingefügt werden konnten. - Für die Verbände enthielt noch ein weiteres Problem genügend Brisanz: der genannte Punkt III.3. der Dahlemer Entschließung, der die Aufkündigung der Gehorsamspflicht gegenüber Müllers Kirchenregiment vorsah. Zahlreiche Anfragen erreichten dazu die Arbeitsgemeinschaft, die sich außerstande sah, darauf eine verbindliche Antwort zu geben, auch und gerade, weil sie anders als die in diesem Punkt unerbittlichen ,Dahlemiten' 210 eine autoritative Führerrolle in geistlicher und organisationspolitischer Hinsicht für sich ablehnte; die Entscheidung wurde den Mitgliedern deshalb freigestellt. 2 ' 1 Das hieß aber nicht, daß man den Dingen ihren Lauf ließ und nur zuwartete. In Sachen Innere Mission ergriff die Arbeitsgemeinschaft vielmehr die Initiative und nahm Verhandlungen mit Themel und Schirmacher auf mit dem Ziel, den Präsidenten abzulösen. Die Überlieferung schweigt sich darüber aus, welche Rolle dem geschäftsführenden Direktor zugedacht war; sein Verbleiben im Centraiausschuß bis zu seiner Einberufung 1941 lag aber im Interesse der Arbeitsgemeinschaft, die ausdrücklich für die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit den Deutschen Christen in den Verbänden plädierte, sofern diese ihre Bindungen zum Kirchenregiment Müllers lösten und auf der Grundlage von Bibel und Bekenntnis zur weiteren Mitarbeit bereit waren. Das scheint im Falle Schirmachers geschehen zu sein.212 Außerdem vermied man so den ohnehin unzutreffenden Eindruck, als wolle man in einem quasi-gegenrevolutionären Akt die überzeugten Verfechter nationalsozialistischen Ideenguts aus den Leitungsgremien der Inneren Mission entfernen. Der Rücktritt Themeis gestaltete sich jedoch schwieriger, als man zunächst annehmen durfte: Hatte er in ersten Unterredungen Anfang November noch in seine Demission eingewilligt, so widerrief er die-

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S. Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1933-39,112 ff., und Meier 1, 503 ff. Zum Problem der Installation des Führerprinzips unter umgekehrten, d. h. unter BK-Vorzeichen nach Dahlem vgl. Meier 1,223 ff. „Wir möchten uns von jeder äußeren Nötigung freihalten und niemand ein Joch auferlegen. Nur ein organischer Zusammenhang des Glaubensgehorsams und der Gemeinschaft am Evangelium kann unseren Arbeitskreis zu einem lebendigen Glied an dem Leibe machen, dessen Haupt Christus ist." So Bodelschwingh und Lüttichau in einem Rundschreiben an die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft v. 10.XI. 1934, ADW, CA 2240, und Mybes, a.a.O., 80. Vgl. Bodelschwingh, „Aufgabe und Ziel der Arbeitsgemeinschaft", a. a. O.

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sen Entschluß am 10. des Monats telegraphisch wieder.213 Am 19. November trat der Große Führerrat der Inneren Mission letztmals unter dieser Bezeichnung in Hannover zusammen. Wichtigstes Thema bildeten die Beziehungen zum alten Kirchenregiment und das Rahmenabkommen vom 18. Oktober des Vorjahres. Ohne Gegenstimmen kristallisierte sich in der Diskussion heraus, daß man den Vertrag zwar nicht als ungültig betrachtete, ihn jedoch für unbestimmte Zeit „ruhen lassen" wolle. Selbst Oberkirchenrat Wendelin erhob als Parteigenosse keine Einwände, als Braune erklärte, die Vereinbarung habe für die Innere Mission „effektive Bedeutung" nie gehabt. Während Ohl der Reichskirchenregierung vorwarf, sie habe, was die beiden Referentenposten angehe, das Abkommen nicht erfüllt, verwies Schirmacher auf das mangelnde Interesse von dieser Seite, nachdem der Centraiausschuß seinen Teil für die Realisierung erbracht habe. Man entschied sich schließlich dafür, der Reichskirche mitzuteilen, die Innere Mission betrachte den Vertrag unter den gegenwärtigen Umständen als praktisch nicht existent und setze das reichskirchliche Einverständnis dabei voraus. Als die Präsidentenfrage als nächstes auf die Tagesordnung kam, versicherte Schirmacher den Anwesenden, er habe die telefonische Zusage des abwesenden Themel, zurücktreten zu wollen, wenn der Führerrat noch in der gleichen Sitzung einen neuen Präsidenten wähle. Von einer sofortigen Wahl sah man jedoch auf Anraten Bodelschwinghs ab. Außerdem stellte sich heraus, daß ein allgemein akzeptierter Kandidat noch gar nicht zur Verfügung stand. Graf Lüttichau und Bodelschwingh setzten sich dafür ein, das Amt einem prominenten Laien zu übertragen, woraufhin Ziegler den Namen des Reichsfinanzministers Graf v.Schwerin-Krosigk in die Debatte warf, der bekanntermaßen der bekenntniskirchlichen Richtung wohlgesonnen war, wie er sich auch später in den harten Kämpfen um eine reichseinheitliche Sammlungsgesetzgebung für die Innere Mission verwandte. 214 Als man den Vorschlag aus Sorge, der Graf werde aus politischen Gründen diese Kandidatur nicht akzeptieren, wieder verwarf, einigten sich die Teilnehmer endlich auf den hannoverschen Landesbischof Marahrens.215 Was der Führerrat nicht wissen konnte, war, daß Marahrens drei Tage später den Vorsitz der Ersten Vorläufigen Kirchenleitung (l.VKL) der DEKBekenntnissynode übernehmen sollte und damit für das Präsidentenamt des

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So das Postskriptum des Rundschr. v. 10.X1.1934, a.a.O. Schon am 16. VI.1933 hatte Pfr. Dr. v. Krosigk/Profen Kr. Zeitz dem späteren Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft, Missionsdirektor Siegfried Knak, die Vermittlung seines Vetters in der Reichsbischofsfrage angeboten. Die Frau des Reichsministers sei eine geborene v.Bodelschwingh-Plettenberg, deshalb trete Schwerin-Krosigk selbstverständlich für Bodelschwingh ein; BMG, Briefwechsel Knak. S.a. Gerhardt II, 386f. Vorstehendes nach dem Prot, der Sitzung des Großen Führerrates am 19.XI. 1934 in Hannover; ADW, CA 876 IV/1.

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Centraiausschusses ausfiel. 216 Als sich der Hauptausschuß in seiner ersten Sitzung seit langem am 18. Dezember 1934 wieder neu konstituierte und die Einrichtung der Reichsführerräte wieder aufhob, stand der einzige Kandidat unbestritten fest: Es war Pastor Constantin Frick, der Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses, der schon seit dem Ersten Weltkrieg eine führende Rolle innerhalb des Centraiausschusses gespielt hatte und nun mit 77 Stimmen bei 7 Enthaltungen zum Präsidenten gewählt wurde. Die Wahl erfolgte ohne Rücksicht auf den ständig schwankenden Themel, der noch zwei Tage zuvor Bedenken gegen das Protokoll der Führerratssitzung von Hannover angemeldet hatte und insonderheit die Stichhaltigkeit der Gründe für sein gewünschtes Ausscheiden bestritt. Er sei jedoch aus zwei Erwägungen zum Rücktritt bereit: einmal, weil auch er inzwischen daran zweifle, ob die Kopplung der Referentenstelle in der Reichskirche mit dem Präsidentenamt der Inneren Mission zweckmäßig sei, und weil ihm zweitens die NSV bedeutet habe, sie halte nicht an einem Nationalsozialisten an der Spitze des CA fest, wenn nur die Einheit der Inneren Mission gewahrt werde. Er bleibe freilich dabei, nur mit Zustimmung des Reichsbischofs zu demissionieren. 217 Trotz dieses letzten Störungsver216

Vgl. die „Vereinbarung über die Bestellung eines vorläufigen Kirchenregimentes der deutschen evangelischen Kirche vom 22. November 1934", in: KJb 1933-1944,87f., und Meier I, 518.- Zunächst hatte es allerdings den Anschein, als ließen sich beide Ämter doch miteinander vereinbaren. Noch in der CA-Vorstandssitzung V.27.XI. 1934, die Marahrens als designierter Präsident leitete, wies dieser auf seine langjährige Doppelfunktion als Bischof und Leiferdes hannoverschen Landesvereins für Innere Mission hin, in der es ihm gelungen sei, die Diakonie aus allem kirchenpolitischen Streit herauszuhalten; dies hoffe er jetzt auch in bezug auf Centraiausschuß und VKLtun zu können. Falls sich jedoch herausstellen werde, daß seine Präsidentschaft eine politische Belastung für die Innere Mission darstelle, wolle er das Amt gern wieder zur Verfügung stellen. Auf Drängen der DC-Vorstandsmitglieder Schirmacher und Dr. Heinrich, die sich trotz ihrer Präferenz für Themel bereit erklärten, für Marahrens zu votieren, beschloß das Gremium, vorsorglich abzuwarten, ob die neue - wie Heinrich sie kennzeichnenderweise nannte „Kirchengegenregierung" staatlicherseits anerkannt werde oder ob die Regierung an der Reichskirchenleitung unter Müller festhalte; sonst „bestehe die Gefahr, daß diese Gegenkirche in eine gewisse Frontstellung zum Staate gerate. Wenn kirchlich dieser Weg gegangen werden müsse, so würde es für die Innere Mission, die viel mehr als die Kirche selbst noch unmittelbar im Raum des Staates steht, nicht ertragbar sein, in einen solchen Kampf miteinbezogen zu werden." - Die Reichsregierung dachte gar nicht daran, die 1. VKL als neues verfassungsmäßiges Leitungsorgan der DEK förmlich anzuerkennen. Dies dürfte der Grund dafür gewesen sein, daß sich der Centraiausschuß in den drei Wochen bis zur Einberufung seines Hauptausschusses am 18. Dezember dafür entschied, doch auf Marahrens zu verzichten, und an dessen Stelle Constantin Frick zum Präsidenten wählte. Vgl. die beiden Prot.-versionen der Sitzung V.27.XI.1934; ADW, CA 67 B (1934) und Meier 1,524.

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Prot, der HA-Sitzung V.18.XII.1934; ADWDü, BO, 10/1-1. Der Brief Themeis vom 17.XII. an Dr. Heinrich ist Bestandteil des Prot. - Themel hatte sich dem Prot, zufolge Hoffnungen gemacht, noch Vizepräsident des CA werden zu können; auch dieser von Schirmacher unterstützte Plan scheiterte. Aber der ehemalige Sozialpfarrer gab nicht auf:

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s u c h s b e z o g Frick in s e i n e n D a n k an die V e r s a m m l u n g für das e r w i e s e n e Vertrauen a u c h s e i n e n Vorgänger ein. Er h a b e in s c h w e r e r Zeit ein schwieriges A m t ü b e r n o m m e n u n d n a c h besten Kräften verwaltet; vielleicht w e r d e sich erst n a c h Jahren e r w e i s e n , „ w i e treu" T h e m e l der Inneren M i s s i o n in d i e s e n anderthalb Jahren gedient h a b e - eine v o n späterer Warte a u s d o p p e l d e u t i g z u n e n n e n d e B e m e r k u n g , die Frick g e w i ß nicht in d i e s e m S i n n e a u f g e f a ß t w i s s e n wollte. 2 1 8 M i t C o n s t a n t i n Frick b e g a n n ein n e u e r Abschnitt in der G e s c h i c h t e der Inneren M i s s i o n im Dritten Reich. Der anerkannt erfahrene F a c h m a n n für alle Fragen der freien W o h l f a h r t s p f l e g e stammte a u s einer T h e o l o g e n f a m i l i e 2 ' 9 u n d gehörte mit Fritz v o n B o d e l s c h w i n g h u n d A d o l f W e n d e l i n - alle A n g e h ö r i g e d e s Jahrg a n g s 1877 - z u j e n e r älteren G e n e r a t i o n der G e i s t l i c h e n im C e n t r a i a u s s c h u ß ,

Am 6.II.1935 wandte er sich an EOK-Präsident Dr. Werner mit der Bitte, von der Reichskirchenregierung als nebenamtlicher Oberkirchenrat angestellt zu werden. Der Verlust seines Amtes im CA sei „Ausfluß kirchenpolitischen Machtbewußtseins der anderen Seite", sachliche G r ü n d e hätten nicht vorgelegen. Man habe ihm sogar versichert, wenn er sich von Müller und seinem Regiment trenne, könne er CA-Präsident bleiben, was er „aus Treue zur Deutschen Evangelischen Kirche und zum Reichsbischof und als Nationalsozialist [!] abgelehnt" habe. Als eine Antwort ausblieb, ersuchte er am 14.11. den Reichsbischof, seinen Rücktritt zu genehmigen, wies aber gleichzeitig auf die dringend erforderliche Neuregelung des Verhältnisses Kirche-IM hin, die vorläufig durch die definitive Besetzung der Referentenstelle f ü r Innere Mission in der Kirchenregierung erfolgen könne. Dieser Referent - er dachte natürlich an sich - müsse dann Vorstandsmitglied des C A werden, worauf sowohl die Partei als auch die verbliebenen Nationalsozialisten im C A großen Wert legten. Weil er als Parteigenosse und Müller-Anhänger das Präsidentenamt habe aufgeben müssen, sei der Reichsbischof dazu verpflichtet, über seine nebenamtliche Verwendung in der Kirchenkanzlei eine positive Entscheidung herbeizuführen. Zur Bekräftigung dieser Ausführungen war dem Schreiben ein Brief der NSDAP-Reichsleitung, Abteilung für den kulturellen Frieden, v. 14.1.1935 beigefügt. Darin bestätigte deren Leiter Hermann von Detten, daß die Partei Themeis Motive billige, aus denen heraus er weiterhin Präsident des CA bleiben wolle. - Auch Müller reagierte indessen nicht; den Entwurf eines Schreibens an den C A v. 21.11. - von Themeis eigener H a n d ! - ließ er nicht abschicken. D a ß die darin ausgedrückte Erwartung, Themel zum Vorstandsmitglied des C A zu ernennen, wenn er auf das Präsidentenamt verzichte, innerhalb der D E K geteilt wurde, bestätigte jedoch ein Aktenvermerk von O K o n s R Gustavus v. 25.11., in dem es hieß, das Problem einer Entsendung Themeis in den CA, nicht als Vorstandsmitglied, aber als Vertreter der Reichskirche, werde spätestens dann im Sinne der D E K gelöst, wenn demnächst anstehende Zahlungen an die Innere Mission - es handelte sich um 80.000 RM - fällig würden [!]; EZA, E K D C l / 5 5 . - Themeis Erwartungen erfüllten sich indessen nicht; er ging deshalb noch im gleichen Jahr in den kirchlichen Archivdienst und gründete die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin, mit deren Leitung er 1936 als Berliner „Stadtsynodalpfarrer f ü r Kirchenbuch- und Archivwesen" betraut wurde. 1938 ernannte ihn das Konsistorium von Berlin-Brandenburg zu seinem Mitglied im Nebenamt, was mit der Verleihung des Titels KonsR verbunden war. Vgl. den Nekrolog von Volkmar Drese in: Der Archivar 17.1974,431 -433. 218 219

Vgl. das Prot., a . a . O . Z u r Biographie Fricks vgl. die Erinnerungsschrift v. Georg Bessell, Pastor Constantin Frick. Ein Lebensbild.

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die schon den Ersten Weltkrieg und den Umbruch der Wohlfahrtspflege nicht nur miterlebt, sondern den Neubeginn auch aktiv mitgestaltet hatten. Erinnert sei nochmals an seine entscheidende Beteiligung an der Gründung der ,Freien Vereinigung für Kriegswohlfahrtspflege', an seine Anregungen für ein stärkeres Zusammenrücken der evangelischen Verbände im Kriege, woraus dann die ,Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen' entstand, u n d an seine Mitarbeit im ,Deutschen Evangelischen Krankenhausverband' sowie schließlich im , Reichs verband der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands' - zwei Interessenorganisationen der freien Wohlfahrtspflege, deren Vorsitzender er Ende 1933 geworden war. 220 Man kann ihn deshalb mit Fug und Recht als ,Multifunktionär' evangelischer Liebestätigkeit bezeichnen, der sich durch seine Verdienste, durch diplomatisches Geschick und ein damit zusammenhängendes ausgleichendes Wesen mehr als nur einen guten Namen innerhalb der deutschen Wohlfahrtspflege erworben hatte. Seine altkonservative Gesinnung bewahrte ihn vor der unkritischen Annäherung an den Nationalsozialismus, dem er gleichwohl in Teilbereichen viele Sympathien entgegenbrachte, wenn auch manche Schritte, die er als CA-Präsident auf die Partei hin machte, eher der Sorge um das Werk der Inneren Mission als persönlicher Neigung entsprochen haben dürften. 221 Dennoch gingen seine Vermittlungsbereitschaft und sein Entgegenkommen aus der Furcht heraus, nicht politisch anzuecken, um dem Regime keinen Vorwand für Eingriffe oder gar Übernahme der Inneren Mission zu liefern, anderen theologischen Berufsarbeitern zu weit. Ständige Klagen über das Zaudern ,Bruder Fricks' in der Arbeitsgemeinschaft missionarischer und diakonischer Werke und Verbände oder die trotz aller Fehlschläge unermüdlich fortgesetzten Verhandlungen mit der NSV forderten

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Gerhardt II, 212.377. - Schon 1915 schlug der hochbetagte Vizepräsident des CA, Prof. Bernhard Weiß, Frick zum Nachfolger des geschäftsführenden Sekretärs Wilhelm Scheffen vor - ein Plan, der sich jedoch nicht realisieren ließ. Vgl. sein Sehr, an Präs. Spiecker v. 24.X. 1915; ADW, CA 1651. Nach 1945 mußte er sich gegen Vorwürfe der englischen Besatzungsmacht rechtfertigen, die daraus resultierten, daß er förderndes Mitglied der SS, wenn auch nicht der Partei gewesen war. Den Nachfolger Schirmachers als geschäftsführenden Direktor, P. Hagen, bat er am 27.X.1945 um eine Bescheinigung darüber, daß er „auf allerverschiedensten Gebieten gegen die Partei, gegen die Reichsministerien, gegen die Parteikanzlei" gearbeitet habe; ADW, CA 837 a. Auch den Präsidenten des DCV, Prälat Kreutz, ersuchte er am 26.X.1945 um ein ähnliches Leumundszeugnis: „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir aus Ihrer Kenntnis meiner Person, meiner Handlungen und meiner Reden bescheinigen würden, daß Sie an den verschiedenen Stellen, an denen ich in amtliche und persönliche Berührung mit Ihnen gekommen bin, den Eindruck erhalten haben, daß ich dem Nationalsocialismus [!] nicht nur mit sachlicher Kritik gegenübergestanden, sondern auch manchen Kampf gegen Rechtsübergriffe, Wegnahme von Eigentum, persönliche Verunglimpfung, falsche Gesetze und nicht zuletzt auch gegen die Schande der Tötung des,unwerten Lebens' geführt habe." Dieser Bitte entsprach Kreutz am 14.XI. des Jahres; ADCV, R290I.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

bei außenstehenden, der Bekennenden Kirche verbundenen Pfarrern Kritik heraus, so daß seine rasche Ablösung als Präsident des Centraiausschusses 1946 nicht nur mit der Erreichung der Altersgrenze erklärt werden kann. Es fragt sich aber, ob es für die Führung der Inneren Mission bis Kriegsende personelle und sachliche Alternativen gab, die das allen gemeinsame Ziel - die substantielle Erhaltung evangelischer Liebestätigkeit, ihrer Pflegebefohlenen und Einrichtungen - besser gesichert hätten, als dies Frick und seinen Mitarbeitern möglich gewesen ist. Frick begann 1935 nicht allein; so wählte der Hauptausschuß neben anderen Fritz von Bodelschwingh und Graf Lüttichau, die Geschäftsführer Dr. Wenzel/ Brandenburg, Ohl/Rheinland und Ziegler/Baden sowie den ehemaligen Präsidenten des Evangelischen Bundes, Geh. Ministerialdirektor D.Conze, zu Vizepräsidenten des Centraiausschusses. 222 Damit standen jetzt Männer in der Verantwortung, die zu den schärfsten Gegnern Themeis und Schirmachers gehört hatten. Letzterer vertrat zusammen mit dem Schatzmeister Dr. Heinrich den ursprünglichen Kurs der .Bevollmächtigten', wurde aber in wachsendem Maße aus dem Zentrum des Geschehens herausgedrängt, weil Frick sein Amt nicht als lediglich repräsentative Einrichtung verstand, sondern persönlich führte und nur wenige Aufgaben delegierte. Das war ein völlig neuer Stil, den die alten Präsidenten Spiecker und Seeberg, selbst Karow nicht gepflegt hatten und der erst durch Themel im Centraiausschuß eingezogen war. Die Ära kirchenpolitischer Richtungskämpfe um die Gleichschaltung der Inneren Mission durch die Reichskirche ging mit dem Amtsantritt Fricks zu Ende; von Müller und seinem Regiment drohte keine Gefahr mehr. Damit war das Kapitel einer Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Centraiausschuß aber nicht abgeschlossen, wie die Entwicklung der folgenden Jahre immer wieder ausweist. Die Innere Mission vermied fortan, was ein Großteil ihrer weiterblickenden führenden Männer schon lange als gefährlich erkannt hatte: sich öffentlich bedingungslos auf eine Seite zu schlagen. Das galt auch für die Bekennende Kirche, der man sich im Einklang mit den meisten anderen Gruppierungen des Verbandsprotestantismus ausdrücklich nicht unterstellte, sondern es bei freundlicher Distanz und punktueller Kooperation beließ. Erst jetzt machte man wirklich Ernst mit dem Postulat kirchenpolitischer Neutralität, von dem bei Themel und seinen Gegnern so viel die Rede gewesen war, ohne daß sie sich daran gehalten hatten. Insofern besaßen die Auseinandersetzungen der Jahre 1933/34 ungeachtet der Dementis beider Seiten sehr wohl kirchenpolitische Qualität, auch wenn dem bekenntniskirchlichen Flügel der Inneren Mission zugute gehalten werden muß, daß seinem Handeln primär religiös-kirchliche und nicht ideo-

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Außerdem wurden ORR a. D. Dr. Kemper als Finanzsachverständiger und Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bau- und Bodenbank und OKR Greifenstein/München dazu berufen. Vgl. das Prot, der HA-Sitzung v. 18.XII. 1934; a.a.O.

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logische Motive in Anlehnung an die NS-Weltanschauung zugrunde lagen. Aber auch er focht um seine Interessen nicht allein im Namen des Bekenntnisses, sondern ebenso, um die verbandspolitischen Belange zu wahren, etwa im Zusammenhang mit der Ablehnung des von Berlin geforderten unumschränkten Führerprinzips, das die Eigenständigkeit der Provinzial- und Landesverbände mit ihren Einrichtungen empfindlich tangiert hätte. So wird die eingangs dieses Hauptabschnitts schon angedeutete Gemengelage religiöser und politischer Optionen erneut kenntlich, eine Mischung, die nicht auflösbar scheint und die Wirklichkeit christlicher Existenz in jeder Gesellschaft charakterisiert.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft „Auf dem Gebiet der Fürsorge für Minderwertige und Asoziale tritt immer bedrohlicher das Problem des Ansteigens bzw. der stärkeren Vermehrung des minderwertigen Bevölkerungsteils gegenüber dem gesunden in Erscheinung und erfordert eine grundsätzliche Besinnung und Stellungnahme von unserer Seite. Wir brauchen nicht nur eine bevölkerungspolitische Neuorientierung unserer gesundheitsfürsorgerischen Maßnahmen [...], sondern eine eugenische Neuorientierung unserer W[ohlfahrts-] P[flege], Die übertriebenen Schutzmaßnahmen für Asoziale und Minderwertige, aus einer falsch gerichteten Humanität entstanden, führen zu einer immer stärkeren Vermehrung der asozialen Bevölkerungsgruppen. Dabei wird die bisherige eugenische Wirkung unserer asylierenden Anstaltsunterbringung durch die zunehmende Auflockerung - frühzeitige Entlassung Haltloser und Minderwertiger, offene Geisteskrankenfürsorge - praktisch aufgehoben. Die überspannten Forderungen hinsichtlich des Lebensstandards für die Anstalten haben andererseits zu einem rapiden Ansteigen der Aufwendungen für sozial Minderwertige geführt, so daß mehr und mehr die Frage nach der Tragbarkeit dieser Lasten entstehen muß. Je stärker die wirtschaftliche Verelendung in Erscheinung tritt, um so eher gewinnen die radikalen Forderungen auf Beseitigung allen krankhaften Lebens an Bedeutung."223

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938 In den letzten Jahren der Weimarer Republik wurde von den an Wohlfahrtsund Anstaltsfragen interessierten Fachleuten kaum ein Thema so intensiv und kontrovers diskutiert wie das Problem der Sterilisation von geistig und körperlich behinderten Pfleglingen in den öffentlichen und privaten Fürsorgeeinrichtungen. Zwei Argumentationsstränge flössen hier zusammen: Erkenntnisse der jungen Wissenschaft ,Erbgesundheitslehre' und der zunehmende Zwang, Finanzmittel im Zeichen der großen Wirtschaftskrise einzusparen. In rund 60 Anstalten und Heimen mit 16.469 Betten für Schwachsinnige, Epileptiker und andere geistig Behinderte versorgte, beschäftigte und bewahrte die Innere Mission 1931 solche Patienten. Angesichts derartiger Zahlen und der damit in Zusammenhang stehenden Kosten sah sie sich immer wieder mit Fragen nach den therapeutischen, sozialen und eugenischen Zukunftsperspektiven für diese Arbeit konfrontiert. 224 Ärzte, Pfarrer, Wirtschaftsdirektoren der evangelischen 223 224

Aus der von Harmsen unterzeichneten Einladung v. 29.1V.1931 zur ersten Arbeitstagung der Fachkonferenz für Eugenik am 18.-20.V. 1931 in Treysa; ADW, C A / G 1800/1. Diese Angaben sind wie alle Statistiken im konfessionellen Wohlfahrtspflegebereich aus den 1920er und 1930 er Jahren unvollständig und zum Teil in sich widersprüchlich, da sie Körperbehinderte und Pfleglinge, die an sonstigen unheilbaren Geisteskrankheiten litten, nicht erfassen und im übrigen der unterschiedlich hohen Fluktuation der Patienten keine Rechnung tragen; vgl. GF5.1931,32. Die Vergleichszahlen nachdem Stand vom September 1933 und von 1938/39, diesmal unter Einschluß aller Krankheitsformen, die den dauernden Aufenthalt in einer Anstalt erforderlich machten: 178 Einrichtungen mit 28.461

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Anstalten sowie medizinische und theologische Experten von außen, die man als Gutachter hinzuzog, kamen seit 1931 regelmäßig zusammen, um darüber zu beraten. Vor allem wollten sie in Aussicht stehenden gesetzlichen Initiativen zuvorkommen oder doch auf diese Einfluß nehmen. Erst um 1930 erlangte das Thema ,Eugenik' jene Bedeutung innerhalb des Centraiausschusses, die dann die Einrichtung der Fachkonferenzen für Eugenik, später des .Ständigen Ausschusses für eugenetische [!] Fragen' beförderte, der 1933 in den ,Ständigen Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege' umbenannt wurde. Doch hatten sich schon in den Jahren zuvor wiederholt bekannte Pfarrer und andere im Anstaltsbereich tätige Theologen und Mediziner mit Diskussionsbeiträgen über die ,evangelische' Erbpflege und das ,Euthanasie'-Problem zu Wort gemeldet. Auslösender Faktor dieser Stellungnahmen war die hier nicht näher zu erörternde Schrift von Binding/Hoche über ,die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens' von 1920.225 Das radikale Votum für die Tötung unheilbar geistig Kranker unter gewissen Bedingungen stieß wie kaum anders zu erwarten auf heftige Kritik der meisten ,Praktiker', hatte andererseits aber eine intensivere Beschäftigung mit Fragen der modernen Wissenschaft ,Eugenik' zur Folge, zu der sich die gleichen Verfasser, die jeder ,Euthanasie' ablehnend gegenüberstanden, offen und bejahend äußerten. Freilich faßten Männer wie der Vorsteher der Pfeifferschen Anstalten in Magdeburg-Cracau, Martin Uibrich, oder der Erste Direktor des Centraiausschusses, Gerhard Füllkrug, unter Erbgesundheitspflege nur die vorbeugenden Maßnahmen der positiven Eugenik: Sie wollten durch Eheberatung und Stärkung der

Patienten und 190zu 30.000; cf. „Statistik der Inneren Mission", in: IM 30.1935,292-294, und Unser Werk, 294. Die katholischen Parallelangaben für 1934, wieder unter Berücksichtigung des gesamten Behindertenspektrums lauten: für 1934 166 Einrichtungen mit 38.037 Betten, unter Einbeziehung der Körperbehinderten sogar 213 zu 48.926. Vgl. Carl Beker, „Aus der Jahresarbeit der Caritas", in: Caritas 40.1935, 52-56. Das bedeutet, daß sich in katholischen Häusern etwa 50% mehr Angehörige des von den rassenhygienischen .Maßnahmen' des NS-Regimes betroffenen Personenkreises befanden als in vergleichbaren evangelischen Einrichtungen. Rund ein Fünftel von schätzungsweise insgesamt 300.000 derartigen Patienten im Reich wurden in konfessionellen bzw. privaten Anstalten betreut; frdl. Mitteilung von Dr. H.-J. Wollasch/Freiburg V.23.IV. 1985 an den Vf. 225

Hierzu und zum folgenden, sofern nicht ausdrücklich anders angemerkt, s.Nowak, ,Euthanasie' und Sterilisierung im Dritten Reich, 48 ff. Zu Binding/Hoche auch K.D. Erdmann, „,Lebensunwertes Leben'. Totalitäre Lebensvernichtung und das Problem der Euthanasie", in: G W U 26.1975, 2 1 5 - 2 2 5 . - Schon 1919 war Paul Erfurth anläßlich des 75 jährigen Bestehens des bergischen Diakonissenmutterhauses Elberfeld in der von ihm herausgegebenen Festschrift,Beiträge zur Geschichte der weiblichen nachgehenden Fürsorge im Wuppertal 1844-1919' für die gesetzliche „Zeugungshinderung" Erbkranker eingetreten. Vgl. den Wiederabdruck dieser Passage 1934 [!] durch Harmsen: „Zeugungshinderung durch Bewahrung aller offenkundig körperlich, seelisch, geistig Defekten", in: G F 8 . 1 9 3 4 , 6 5 - 6 7 . - S.a. den Überblick von J-C. Kaiser, „Innere Mission und Rassenhygiene".

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HI- Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Verantwortlichkeit beider Partner in der christlichen Ehe die Geburtenrate in gesunden Verbindungen erhöhen und gleichzeitig bei vorliegenden Erbkrankheiten für den bewußten Verzicht auf Nachkommenschaft werben. 226 Für die beiden Theologen standen die (vermuteten) erbbiologischen Schädigungen durch unsittlichen und ausschweifenden Lebenswandel, d. h. durch Geschlechtskrankheiten, Alkohol- und Nikotinmißbrauch im Vordergrund ihrer Betrachtungen; in einer verstärkten volksmissionarischen Beeinflussung des betroffenen Personenkreises und in flankierenden gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Familie sahen sie vorerst noch den alleinigen Ausweg aus der Krise. Nur vereinzelt sprachen sich Geistliche in den 20 er Jahren bereits für den operativen Eingriff als einen mit der Schöpfungsordnung in Einklang stehenden Akt negativer Eugenik aus: So ein Pfarrer Hünlich aus Stangengrün bei Zwickau, der die Sterilisation ,Minderwertiger' als barmherziges Handeln des Arztes gegenüber einer krankhaften Entartung der Fortpflanzungsfähigkeit bezeichnete. Der „Krieg gegen die Entarteten" sei bitteres Erfordernis und helfe, den „Schlammstrom der großen Not", dem die Innere Mission mit ihren Mitteln nicht mehr beikommen könne, „an der Quelle ab[zu]graben". Hünlich reagierte damit positiv auf Anregungen der sächsischen Medizinalräte Boeters/Zwickau und Meitzer/Großhennersdorf, des Leiters der 1934 an die Innere Mission übergehenden Anstalt Katharinenhof, 227 die in mehreren Schriften für die Unfruchtbarmachung eingetreten waren. 228 Auch der Bielefelder Arzt Heinrich Wichern, ein Enkel des Begründers der Inneren Mission und ihr nahestehend, trat 1927 für die - freiwil-

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Martin Ulbrich, Die Gefahren der Vererbung und deren Abwehr, und seine sich gegen Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, wendende Schrift ,Dürfen wir minderwertiges Leben vernichten?'. Zu Ulbrichs Haltung vgl. die ungedruckte Diss. von Johannes Kiefner, Theologie und Werk Martin Ulbrichs. S.a. Gerhard Füllkrug, Vererbung und Verantwortung, und sein Büchlein .Vorfahren und Nachkommen', in dem er sich [1934!] für ein rückhaltloses Ja der Inneren Mission zur NS-Erbgesundheitsgesetzgebung einsetzt. Großhennersdorf b. Herrnhut gehörte zu den ganz wenigen Anstalten, die - wohl auf Betreiben der NSV - nach 1933 aus staatlicher Verwaltung von einem konfessionellen Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege übernommen wurden. Dies geschah getreu der NSV-Maxime, die Einrichtungen für Rehabilitationsfähige für sich zu beanspruchen und die anderen den freien Trägern zu überlassen; vgl. dazu das August-Heft der GF 8.1934,161 ff. Dr. Meitzer blieb auch nach der .Privatisierung' Leiter der Anstalt. Vgl. Hünlich, „Die Unfruchtbarmachung der geistig Minderwertigen", in: Zwickauer Zeitung Nr.69 v.21.III. 1924 und die Artikel-Serie „Die Sterilisierung im Dienste der Inneren Mission", in der sich Hünlich, Meitzer und Boeters dafür aussprachen, während ein Gerichtsrat Dr. Anselmo Müller/Weinböhla starke juristischeBedenken dagegen geltend machte, in: Bausteine 56.1924,126-130, und 57.1925,4-8. Boeters hatte dem Reichstag im Oktober 1925 eine Petition vorgelegt, die sogenannte Lex Zwickau, in der er vorschlug, Patienten, die an detailliert bezeichneten Erbkrankheiten litten, zwangszusterilisieren; die Eingabe blieb ohne legislative Folgen. Vgl. H. Harmsen, „Die Unfruchtbarmachung Minderwertiger", in: GF 5.1931,171-175,172.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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lige - Sterilisation neben der Asylierung erbkranker Patienten ein, um ,minderwertigen' Nachwuchs rechtzeitig zu verhüten, und sprach sich für die parallele Förderung erbgesunder Familien aus.229 Selbst der bekannte Betheler Anstaltsleiter Fritz von Bodelschwingh äußerte sich 1929 in einem Lübecker Vortrag zu diesem Problem, das er ganz auf die Frage der ,Euthanasie' sogenannter Minderwertiger zuspitzte. Auch er übernahm die fraglos verbreitete Formel: Hoher Geburtenüberschuß gleich Rückgang der ,Minderwertigen' und umgekehrt, obwohl - wie weiter unten deutlich werden wird - diese Rechnung kaum auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhte. Während er die Eugenik als neue Wissenschaft begrüßte und ausdrücklich keiner Kritik unterziehen wollte, weil sie zu großen Erwartungen berechtige,230 monierte er doch ihre praktischen Anwendungsvorschläge, die stets auf die „Ausmerzung der Minderwertigen" - sei es durch (Zwangs-)Sterilisation oder ,Sterbehilfe' - zielten. Eine wie auch immer geartete .Euthanasie' sei aus praktischen und theologischen Gründen jedoch bedingungslos zu verwerfen. Im tiefsten Grund gebe es kein ,minderwertiges', sondern nur lebenswertes Leben; dieses „mobil [zu] machen für das Königreich Christi", betrachte Bethel als seine Aufgabe. 231 Es ist charakteristisch für die Zeitlage, daß selbst der allgemein als ,Pastor Fritz' apostrophierte Bodelschwingh, großer Sohn eines großen Vaters und für viele Protestanten Inbegriff von Anstaltsdiakonie und Innerer Mission, wenigstens partiell der Faszination der neuen Disziplin Eugenik erlag, ohne daß ihn sein theologischer Sachverstand eindeutig auf die darin angelegten Gefahren einer Verletzung der körperlichen Integrität des Menschen verwiesen hätte. Das schmälert den Respekt vor seinem Handeln als Kirchenpolitiker und Anstaltsvorsteher zwischen 1933 und 1946 nicht, ist aber ein Indiz für die Anfälligkeit für den ,Zeitgeist' und die von ihm ausgehenden Irritationen, denen auch er sich nicht zu entziehen vermochte. Alles in allem sind die Zeugnisse zugunsten der möglichen und auch wünschbaren Sterilisation der in den evangelischen Heil- und Pflegeanstalten betreuten geistig und körperlich unheilbaren Patienten von protestantischer Seite bis 1930 jedoch selten. Obwohl in ihnen viele Argumente der dann einsetzenden Diskussion vorweggenommen werden, scheint das Problem von der Mehrzahl der betroffenen Anstaltsleiter und -ärzte nicht für so akut gehalten worden zu sein, um dazu in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen. Das änderte sich erst, als die 229 230

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S. seine Schrift: Sexualethik und Bevölkerungspolitik. „Immer wieder wird die Hoffnung in uns geweckt, es könnte daraus einmal ein neuer Aufschwung der Menschheit, ein Aufwachen aus dem Versinken und Vergehen uns geschenkt werden, und es würde schließlich das in Erfüllung gehen, was Nietzsche gesagt hat: Heraufzüchtung des Menschengeschlechts." Vgl. die stenographische Nachschrift des Lübecker Vortrags zum Thema „Lebensunwertes Leben?"; HAvBA 2/91-16,22, abgedruckt in: Lese-Texte, Nr. 2,57-68, Zit. 60. Ebd., 68.

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III. D i e Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

wirtschaftliche Komponente immer stärker in den Vordergrund rückte und Vereinsgeistliche wie Mediziner zum Nachdenken über die Zukunftsaussichten ihrer Arbeit zwang. Die Haltung der Inneren Mission - und der damit häufig identifizierten evangelischen Kirche, die sich anders als die katholische ,Amtskirche' dezidiert zu eugenischen Fragen nicht äußerte 232 - gewinnt angesichts der Flut von Neuerscheinungen der letzten Jahre zum ,Euthanasie'-Problem mehr und mehr an Bedeutung. Noch besitzt die Sterilisierungsdiskussion in der Literatur häufig nur eine Prolegomena-Funktion im Kontext der ,Tötung lebensunwerten Lebens' seit Kriegsbeginn; Meinungsbildung und -wandel in den 20er und 30er Jahren innerhalb des deutschen Protestantismus scheinen trotz einer Reihe wichtiger Pilotstudien nur unzureichend erhellt.233 Das liegt zunächst an dem meist ohne empirische Belege als sicher angenommenen notwendigen Zusammenhang zwischen Unfruchtbarmachung und Tötung sogenannter Minderwertiger im Dritten Reich, eine Sichtweise, die der differenzierter zu sehenden Entwicklung protestantischer Positionen in diesen Fragen nicht gerecht wird. Zum anderen schenkte man der bis zur .Machtergreifung' verhältnismäßig unspektakulär verlaufenden Sterilisationsdebatte auch auf Grund fehlender archivalischer Quellen bislang wenig Aufmerksamkeit. Die reichhaltigen Bestände der Gesundheitsabteilung des Centraiausschusses ermöglichen jedoch wichtige neue Aufschlüsse; denn die erhaltenen Wortprotokolle der einschlägig mit diesem Thema befaßten Gremien lassen die Einstellung der betroffenen Mediziner und Theologen in anderem Licht erscheinen als die publizierten knappen Zusammenfassungen jener Konferenzen. Da die Beteiligten sicher sein konnten, daß ihre Ausführungen vertraulich blieben, wurde in der Regel äußerst freimütig diskutiert; Tabus gab es so gut wie nicht, und die verabschiedeten (und gedruckten) Resolutionen spiegeln so nur in Grenzen die jeweilige Standortbestimmung wider. Das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' von 1933 und die es in den darauffolgenden Jahren kontinuierlich verschärfenden Ausführungsbestimmungen zwangen die Fachtagungen der Inneren Mission zu permanenter Reaktion bzw. Neuorientierung und warfen schließlich die Grundsatzfrage auf, wie weit man - bei grundsätzlicher Bejahung der Sterilisation - den rassebiologischen Kurs der Nationalsozialisten nachzuvollziehen bereit war.234 232

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Die einzige Ausnahme bildete die Entschließung der 33. Westf. Provinzialsynode v. Dezember 1933; s. dazu Anm.315. Zentraler Stellenwert kommt hier der schon genannten Arbeit von Kurt N o w a k zu. D e m Vf. waren die ungedruckten Prot, der CA-Fachtagungen für Eugenik n o c h nicht zugänglich. Zum Forschungsstand im Sterilisations- und ,Euthanasie'-Bereich s. a. das Interview, das der Pressesprecher Bethels, Manfred Hellmann, Ende 1984 mit K . N o w a k führte: „,.. . v o n der Schuldfrage über die Ursachenfrage zur Strukturfrage'", in: Der Ring. Informationsblattin den v. Bodelschwinghschen Anstalten Nr. 4 / 1 9 8 5 , 1 0 - 1 5 . Gisela Bock war es im Rahmen ihres Projekts über die Frauensterilisation im Dritten Reich erstmals möglich, diese Akten einzusehen. Vgl. ihre jüngst erschienene Arbeit:

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Der folgende Abschnitt beabsichtigt nicht den Verlauf der eugenischen Gesamtdebatte seit ihrem Aufkommen Ende des 19. Jahrhunderts akribisch nachzuzeichnen, sondern beschränkt sich auf die Haltung der Inneren Mission und des Centraiausschusses seit Ende der 20 er Jahre. Auch die katholische Kirche mit ihrer kompromißlosen Verwerfung des Eingriffs als einer gegen das Naturrecht gerichteten Verletzung der körperlichen Integrität der Pflegebefohlenen bleibt außer Betracht.235 Desgleichen sollen Planung und Durchführung der ,Euthanasie'-Aktion in den evangelischen Anstalten nicht behandelt werden, da hierzu inzwischen umfangreiche Darstellungen vorliegen und mit weiteren zu rechnen ist. Die Quellenbasis solcher Untersuchungen beruht fast ausschließlich auf Aufzeichnungen, die sich in den jeweiligen Einrichtungen selbst erhalten haben; der Centraiausschuß besitzt unbeschadet der bekannten Interventionsversuche der Pastoren Braune und Frick dazu so gut wie kein Material.236 III.3.1. Die eugenischen Fachtagungen der Inneren Mission im Vorfeld des ,Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' Treibende Kraft bei Entstehung und Durchführung der eugenischen Konferenzen des Centraiausschusses war der Leiter der dort 1926 eingerichteten Abteilung Gesundheitsfürsorge, Dr. med. Dr. phil. Hans Harmsen. Der-junge Mediziner und Nationalökonom, Jahrgang 1899, beschäftigte sich als Schüler von Alfred Grotjahn schon während seines Studiums mit bevölkerungspolitischen Fragen.237 Als Mitinitiator und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung, einer Gruppierung, der zahlreiche Organisationen, darunter auch viele evangelische, angeschlossen waren, 238 warb er für gesellschaftspoliti-

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Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. - Im Auftrag der Münchener .Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Zeitgeschichte' bereitet der Vf. eine Edition dieser Wortprotokolle vor. Vgl. dazu die einschlägigen Passagen bei Nowak, .Euthanasie', 7 ff., 106 ff. u. passim; ferner jetzt ders., „Die Kirche und das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' vom 14. Juli 1933", in: Johannes Tuchel (Hg.), ,Kein Recht auf Leben', 101-119, und Hans-Josef Wollasch, „ Kirchliche Reaktionen auf das,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' vom Jahre 1933", in: Ders., Beiträge, 208-224. Einen guten Überblick bis zur Entstehung des Gesetzes bietet neuerdings auch Jeremy Noakes, „Nazism and Eugenics. The Background of the Nazi Sterilization Law of 14th July 1933"; s.a. Hans Walter Schmuhl, Euthanasie im Nationalsozialismus. Vorüberlegungen zu einem Erklärungsansatz für die Massenmorde hinter Anstaltsmauern im Dritten Reich, und ders., Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Dazu s.w.u., Abschnitt III.3.5. Vgl. die Nachweise im Literaturverzeichnis und die - allerdings polemische und zahlreiche sachliche Fehler enthaltende - biographische Skizze von Heidrun Kaupen-Haas, „Eine deutsche Biographie - der Bevölkerungspolitiker Hans Harmsen". Insgesamt gehörten der Arbeitsgemeinschaft rund 350 Wohlfahrts-, Jugend- und Frauenverbände sowie eine Reihe von Behörden und Einzelmitgliedern an. Ihre Aufgabe sah sie

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

sehe Maßnahmen gegen den sogenannten Geburtensturz und propagierte mit anderen die Einführung eines deutschen Muttertages in der Öffentlichkeit, um auch durch die symbolische Würdigung von Mutterschaft und Kinderreichtum den Geburtenrückgang zu bekämpfen. 239 Ein waches wissenschaftliches Interesse, von dem zahlreiche Publikationen sowie Zeitschriftengründungen, schließlich seine medizinische Habilitationsschrift zeugen, 240 führte ihn auch zur Beschäftigung mit der Erbgesundheitslehre, deren Bedeutung er mit vielen anderen Ärzten und Theologen in den Anstalten der Inneren Mission außerordentlich hoch einschätzte. Positive und negative Eugenik schienen ihm in besonderer Weise geeignet, die Volksgesundheit zu stärken, der Geburt erbkranker,Minderwertiger' entgegenzuwirken und auf Dauer die Zahlen der Anstaltsinsassen zu reduzieren, womit für ihn die erstrebte und bei knapper werdenden öffentlichen Zuschüssen zweifellos auch erforderliche Kostensenkung im Gesundheitswesen erreicht werden konnte. Im August 1930 hatte in Uppsala eine Tagung des ,Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie' stattgefunden, 241 auf der die Bildung eines Ausschusses für Familien- und Bevölkerungsfragen' beschlossen worden war. Der holländische Staatsminister und Theologe J. R. Slotemaker de Brui'ne übernahm den Vorsitz, zu Geschäftsführern wurden Dr. Harmsen und Pfarrer Müller/Zürich bestimmt. Die Aufgaben des neuen Gremiums lagen in der „Gestaltung eines einheitlichen Programms sozialethischer und sozialpolitisch-ökonomischer Forderungen zum Schutze der Familie".242 Diese Gründung nahm der

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„in d e r Bearbeitung solcher sozialethischer u n d sozialhygienischer Fragen, die für das Gemeinwohl von grundsätzlicher Wichtigkeit sind". Vgl. „Fachkonferenzen f ü r Geburtenregelung", in: A f B S F 1.1931,72 ff., A n m . 1. Vgl. ders., „Denkschrift zur Einführung eines deutschen Muttertages" [1926], abgedruckt bei J-C. Kaiser, Frauen in der Kirche, Qu 54,132 f. Er gründete die IM-Zeitschrift , G F , betreute als Redakteur die periodisch erscheinenden ,Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft f ü r Volksgesundung' u n d rief 1931 das,Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde' ins Leben. Seine Habil.-schrift erschien 1939 unter dem Titel,Gesundheitssicherung und Gesundheitsfürsorge f ü r die weiblichen Krankenpflegekräfte'. Vgl. das Aktenprot. der Vertreterversammlung des Internationalen Verbandes V.25.VIII. 1930, A D W , C A 1019 B/V, u n d den Bericht G e r h a r d Füllkrugs, „ U p s a l a " [!], in: I M 25.1930,301-312. Prof. D. R u n s t a m / U p p s a l a und Harmsen referierten über das Thema „Unsere theoretischen und praktischen Aufgaben gegenüber der sexuellen Not der Zeit"; aus diesen Vorträgen und sich daran anschließenden Leitsätzen des Präsidenten Reinhold Seeberg entstand eine Resolution, die von der Vollversammlung verabschiedet wurde und im wesentlichen Forderungen zum Schutz der christlichen Familie enthielt. Am 26.VIII. 1930 trat der Ausschuß in Stockholm erstmals zusammen, weitere Tagungen folgten im September 1930 bzw. im Januar 1931 in Bern u n d Berlin; vgl. den Bericht „Ausschuß für Familien- und Bevölkerungsfragen des i n t e r n a t i o n a l e n Verbandes für Innere Mission u n d Diakonie'", in: A f B S F 1.1931,70-72.

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Centraiausschuß zum Anlaß, am 31. Januar 1931 einen Arbeitskreis für Sexualethik und eine Fachkonferenz für Eugenik ins Leben zu rufen. Doch war die Anregung des Internationalen Verbandes gewiß nicht ausschlaggebend für die neue Initiative. Eugenische Reflexionen lagen im Zug der Zeit, und Harmsen tat als Leiter der Gesundheitsfürsorge alles, um das Thema innerhalb der Inneren Mission und ihrer Heil- und Pflegeanstalten immer wieder zur Sprache zu bringen. In zahllosen Beiträgen seiner Zeitschriften ,Gesundheitsfürsorge' und ,Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde' versuchte er wirkungsvoll, eugenische Erkenntnisse und ihre Bedeutung für die Innere Mission zu propagieren. Er selbst beschränkte sich auf Warnungen vor einer überproportionalen Vermehrung ,Minderwertiger', die als Folge des Nation und Gesellschaft bedrohenden Geburtenrückgangs seit Anfang des Jahrhunderts auf lange Sicht die erbgesunden Familien in ihrem Bestand gefährdeten, was er mit eindrucksvollen Zahlen zu untermauern wußte, 243 gab aber auch radikaleren Stimmen Raum, die für eine Verbindung von eugenischer und sozialer Indikation eintraten und die Sozialschädlichkeit der Erbkranken betonten, deren auch medizinisch-operative Ausschaltung' um des Volkswohls willen in Kauf genommen werden müsse.244 Harmsens Betonung einer Verquickung von Eugenik, Geburtensturz und notwendiger Kostenreduzierung, verbunden mit dem Hinweis auf vielleicht bevorstehende politische Entscheidungen und eine mögliche Radikalisierung der öffentlichen Meinung - Tendenzen, denen gegenüber die Innere Mission sich gewappnet zeigen müsse, um extreme ,Lösungsversuche' für das Problem abwehren zu können -, überzeugten die Mitglieder des CA-Hauptausschusses derart, daß sie den Beschluß zur eingehenden Beratung des Themas auf besonderen Fachkonferenzen faßten. 245 Der hohe Grad an ideologischer Befrachtung der beginnenden Debatte fällt sofort ins Auge, was auch die Teilnehmer der beiden großen Tagungen 1931 und 1932 in Treysa und Berlin so empfanden. Viele Fachleute wie Harmsen und andere waren fasziniert von dem Gedanken, mit neuesten, freilich noch ungesi243

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S. seine Beiträge „Bevölkerungspolitische Neuorientierung unserer Wohlfahrtspflege", in:GF5.1931,1-6, und „Eugenetische Neuorientierung unserer Wohlfahrtspflege", ebd., 127-131. So ein mit B. gezeichneter Art. „Forderungen der Eugenik, vom sozialhygienischen Standpunkt betrachtet", ebd., 6-8. Vermutlich stammte dieser Beitrag von Medizinalrat Dr. Boeters/Zwickau. Die Eugenik fordere, gestützt auf wissenschaftliche Forschungen, die „Nichtzeugung der Minder- bis Unterwertigen, nötigenfalls sogar deren Vernichtung". Für das „Gedeihen des Staates" sei nicht die Menge der Bevölkerung, sondern deren Qualität maßgebend. Vgl. a. die Sitzung des HA v. 11.11.1931, in der Harmsen ein beifällig aufgenommenes Referat über die Eugenik in ihrem Verhältnis zur Inneren Mission hielt. Auch die christliche Nächstenliebe, führte er darin aus, müsse sich vorwerfen lassen, eine „aus falscher Humanität erfolgende künstliche außerordentliche Verbesserung der Lebensverhältnisse der Minderwertigen" mit herbeigeführt zu haben; ADWDü, BO, 10/1-1,1.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

cherten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden tatsächlich jene Umorientierung der Arbeit in den Heil- und Pflegeanstalten bewirken zu können, die sie in den Überschriften ihrer Zeitschriftenbeiträge forderten. Bei allen auch von ihnen gesehenen Unzulänglichkeiten schien die Erbbiologie doch einen Weg zu weisen, um die Zahl der geistig und körperlich Behinderten künftig in Grenzen zu halten, wenn nicht zu verringern. Bei begleitenden gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Familie und Förderung der Geburtenquote in erbgesunden Ehen hofften sie, das Trauma des durch sinkende Fertilitätsraten verursachten Bevölkerungsrückganges zu überwinden und damit der Nation schließlich wieder die Voraussetzungen für jene Weltgeltung zu verschaffen, die Deutschland 1918 eingebüßt hatte. Solche Ideen waren innerhalb des deutschen Protestantismus seit Anfang des Weltkrieges virulent und trugen unter anderem auch zum Aufbau der Müttererholungsfürsorge der Evangelischen Frauenhilfe bei,246 die 1934 nahtlos in das ,Hilfswerk Mutter und Kind' der NSV überging. Dennoch hätte das bloße Vorhandensein des Mixtum compositum aus weltanschaulich-ideologischen und medizinisch-biologischen Komponenten in den Einrichtungen der Inneren Mission kaum jenes nachhaltige Echo ausgelöst, das 1931 zur Gründung der eugenischen Fachkonferenzen führte. Auch wenn es im Wissen um die NS-Propaganda, die jede Anstaltspflege an unheilbar Kranken als Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen qualifizierte, makaber anmutet: Die drohende einschneidende Kürzung öffentlicher Zuschüsse gerade für diese Anstalten entsprang nicht einzig einem sich aus übersteigerten rassenbiologischen Wurzeln speisenden gnadenlosen Unverständnis gegenüber dem volkswirtschaftlichen ,Ballast' der .Ärmsten der Armen', sondern hing sehr real mit der allgemeinen Not der Jahre 1931/32 zusammen. Sie berührte die gesamte Wohlfahrtspflege, die in manchen ihrer Ausformungen angesichts von Depression und Massenarbeitslosigkeit vielen plötzlich als überflüssiger Luxus erschien, den der .sozialistische' Wohlfahrtsstaat von Weimar zu verantworten hatte. Wie zu zeigen sein wird, waren die Verfechter solch rigoroser Mittelstreichungen keineswegs nur völkisch denkende Eiferer aus dem nationalsozialistischen Lager, sondern ebenso protestantisch-altkonservative Politiker, unter denen der spätere deutschnationale Reichsinnenminister im Kabinett Papen, Wilhelm Freiherr von Gayl, hervorzuheben ist. II 1.3.1.1. Die Treysaer Konferenz Die Anstaltspfarrer und Ärzte, die unter der Leitung Harmsens jene erste Fachtagung der Inneren Mission für Eugenik im Frühjahr 1931 vorbereiteten, waren

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Zum Kontext von Frauenbild, Mutterschaft und Geburtenrate auf dem Hintergrund imperialer und völkischer Zielsetzungen im deutschen Protestantismus zwischen 1915 und 1934 vgl. nochmals J-C. Kaiser, Frauen in der Kirche, 75 ff., 129 ff., 194 ff.

II 1.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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sich bewußt, damit ein ,heißes Eisen' anzufassen. Auf Drängen Fritz von Bodelschwinghs, der von einem Tagungsort Berlin zu viel und schädliche Publizität befürchtete, 247 traf sich ein ausgewählter kleiner Kreis von Experten deshalb vom 18. bis 20. Mai in der evangelischen Heil- und Pflegeanstalt Hephata bei Treysa. Viele der Eingeladenen hatten nicht kommen können, darunter so bekannte Theologen wie Helmut Schreiner/Rostock und Paul Althaus/Erlangen, die durch ihre Schriften auf sozialethischem und eugenischem Gebiet ausgewiesen waren,248 sowie Adolf Schlatter/Tübingen und Friedrich Mahling/ Berlin, letzterer der Inneren Mission als CA-Vorstandsmitglied besonders verbunden. Auf die Anwesenheit von Universitätstheologen wurde gerade deshalb so großer Wert gelegt, weil es innerhalb des Protestantismus an einvernehmlichen akademischen Positionsbestimmungen zu den Komplexen .Euthanasie' und Sterilisation fehlte und ,autoritative' Erklärungen der verfaßten Kirche angesichts der föderalistischen und bekenntnispluralistischen Struktur von DEKA und Kirchenbund nicht zu erwarten standen. Die eingangs des Kapitels abgedruckte Einladung Harmsens umriß die zur Verhandlung stehenden Gegenstände präzise: Bei starker Betonung der Kritik an .übertriebenen' Pflege- und Bewahrungsmaßnahmen hob er deren zweifach schädliche Folgen für die Wohlfahrtspflege hervor: Vermehrung des erbkranken Bevölkerungsteils und Anstieg der Kosten über das tragbare Maß hinaus, was zu einer eugenischen Neuorientierung dieser Arbeit zwinge. Mit einer solchen Zuspitzung des Problems setzte Harmsen schon im Vorfeld der Konferenz klare Akzente, die bei Licht betrachtet die Grundsatzdiskussion eigentlich überflüssig machten; denn nicht medizinisch-theologisch-ethische Ausführungen über Sinn, Zweck und Zulässigkeit eugenischer Eingriffe schienen gefragt, sondern die Erbbiologie und die auf ihr basierenden praktischen Folgerungen sollten als Nothelfer die angespannte Lage der zur Inneren Mission gehörenden Heil- und Pflegeanstalten entlasten. Doch die in Treysa versammelten 23 Ärzte, Pfarrer und Wirtschaftsdirektoren, dazu je ein Pädagoge und ein Jurist machten sich diese verengte Zielsetzung der Tagung nicht in gleichem Maße zu eigen.249 Da ein theologischer Referent für 247

248

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Eine Vorbesprechung fand am 27.IV. 1931 in Bethel statt, wo Harmsen den Vorsitzenden der .Konferenz der Vorsteher evangelischer Anstalten für Geistesschwache und Epileptiker', P. Wolf, traf und zusammen mit Bodelschwingh und anderen die Themen, Referenten und Wahl des Tagungsortes beriet. Schreiben Harmsens an P. Happich/Treysa v. gleichen Tage; ADW, C A / G 1800/1. Vgl. Schreiner, Vom Recht zur Verhütung unterwertigen Menschenlebens, und Althaus, Der Kampf um die Ehe. - Auch der als Vertreter des Preuß. Ministeriums für Volks wohlfahrt eingeladene ORR Dr. A. Ostermann, im Nebenamt zweiter Vorsitzender des Bundes für Volksaufartung und Erbkunde, einer gemäßigten Absplitterung der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, sagte ab; s. sein Schreiben an Harmsen V.9.V.1931; ADW, C A / G 1800/3. Zu Ostermann s. a. Jeremy Noakes, „Nazism and Eugenics", 82 f. Zahlen nach dem Konferenzbericht von Harmsen: „Gegenwartsfragen der Eugenik", in: IM 26.1931,336-339. Das 52seitige Wortprot. enthält keine Teilnehmerliste; an der Dis-

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

das ,Euthanasie'-Thema aufgrund der erwähnten Absagen nicht zur Stelle war, debattierten die Teilnehmer das Thema unter Einbringung ihrer täglichen Erfahrungen in der Praxis. Eine aktive Sterbehilfe wurde aus christlichen und volkserzieherischen Motiven zwar rundweg abgelehnt, dennoch schnitt Harmsen die Frage an, ob dem Staat, der doch Soldaten und Verbrecher töte oder ihren Tod billigend in Kauf nehme, nicht auch das Recht „zur Vernichtung der lästigsten Existenzen" zustehe. Pastor Todt/Scheuern wies auf häufige Bemerkungen von Besuchern über den Sinn der Versorgung nur noch apathisch dahinsiechender Patienten hin und bezog sich dabei auch auf ein Beispiel aus den letzten Kriegstagen, als ihn sozialdemokratische [!] Politiker mit Hinweis auf die Kriegsopfer gefragt hatten, ob denn seine Betreuungsarbeit für das Volksganze in Anbetracht der allgemeinen Versorgungskrise überhaupt noch zu rechtfertigen sei. 250 Ausgerechnet der leitende Arzt von Bethel, Dr. Carl Schneider, der nach 1933 eine völlige Kehrtwendung vollzog,251 sah in der Konsequenz einer Sterbehilfe von Staats wegen die Schaffung eines ärztlichen ,,Henkerstand[es]" und damit die Pervertierung seines Berufes.252 Man könne nicht die Kindersterblichkeit bekämpfen und die Herangewachsenen dann wieder umbringen. - Nach dieser Grundsatzabsage an die ,Euthanasie' kristallisierte sich bald das Problem der Grenzfälle heraus: Wie weit, so wollten mehrere Teilnehmer wissen, dürfe der Aufwand zur Lebenserhaltung schwerstbehinderter Patienten getrieben werden? Bedeute die Verwerfung der aktiven Sterbehilfe medizinische Versorgung um

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kussion beteiligten sich danach nur 16 der Anwesenden, davon 8 Theologen und 7 Ärzte; Hauptredner waren Harmsen selbst und Pastor Lensch/Alsterdorfer Anstalten; A D W , C A / G 1800/1. D a ß eine Untersuchung über die Einstellung der sozialistischen Parteien zum .Euthanasie'- u n d Sterilisationskomplex ein dringendes Desiderat der Forschung darstellt, hat erst kürzlich Kurt Nowak in einer Gastvorlesung im Historischen Seminar der Westf. Wilhelms-Universität Münster angemerkt;' vgl. die in den Lutherischen Monatsheften H.4/1985, 171-174, erschienene gekürzte Fassung: „Protestantischer Widerstand im Dritten Reich. Bericht über den Stand der historischen Forschung". S. a. seinen Vortrag vor den drei Wandererfürsorgeverbänden am 13.X. 1933, wo er entgegen seinen Ausführungen in Treysa ein nahezu uneingeschränktes Ja zur Sterilisierung f a n d ; mit Blick auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses meinte er, es habe „als verantwortungsvoller Versuch vor Gott, eine neue Zeit mit neuen Menschen zu verseh e n " , im Dritten Reich anders als in der Republik, die keine flankierenden positiv-eugenischen Bestimmungen kannte, seine Berechtigung. Vgl. ders., „Die Auswirkungen der bevölkerungspolitischen und erbbiologischen M a ß n a h m e n auf die Wandererfürsorge", in: Der Wanderer 50.1933, 233-240, 234, wieder abgedruckt in: Lese-Texte, 83-90. Schneiderging 1933 als Ordinarius nach Heidelberg, wurde später der Leiter des dortigen rassepolitischen Amtes und arbeitete als Obergutachter in Euthanasiefragen; vgl. Benno Müller-Hill, Tödliche Wissenschaft, 186 u. passim. Diese Befürchtung hatte 1922 schon der Psychiater E. Wauschkuhn ausgesprochen, worauf sich Schneider möglicherweise hier bezog: vgl. ders., „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 24.1922, 215 ff., 217.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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jeden Preis? Hier fielen die Antworten schon differenzierter aus: So meinte der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, P. Lensch, es sei gegen Gottes Willen, „ein Leben künstlich fortzuschleppen", und Dr. med. Gmelin aus Stetten berichtete, vor kostspieligen Operationen prüfe man dort sehr genau die subjektive Erfahrbarkeit der Lebensqualität der Betroffenen, ehe man sich für oder gegen den Eingriff entscheide.253 Als Harmsen zu bedenken gab, ob man nicht ganz auf intensive ärztliche Betreuung verzichten und sich auf die reine Pflege der Kranken beschränken solle, stellte Bodelschwingh fest, eine generelle Lösung dieser Probleme könne es nicht geben; er sei aber bei Beachtung der „Grenze der zur Verfügung stehenden Mittel" gegen eine „Taxierung von wert oder unwert". Gott selbst habe die Schranken vorgezeichnet, über die auch die Anstaltspsychiatrie nicht hinausgehen dürfe. Wenn man jenen Teil der schließlich verabschiedeten Treysaer Erklärung, der auf die ,Euthanasie' eingeht,254 mit diesen Voten vergleicht, fallt bei ersterer die starke ethische Fundierung der Ablehnung jeglicher Tötung bei weitgehender Ausklammerung der ökonomischen Motive auf. Statt dessen wurden die von Pfarrer Sommerer/Bruckberg als einzigem ausführlich begründeten Zweifel an der Gleichsetzung von ,erbbiologisch gesund' und ,hochwertig' und umgekehrt pointiert herausgestellt: Sommerer kritisierte nämlich, die Diskussion habe den „seelischefn] Wert der Lebensunwerten" unberücksichtigt gelassen.255 Ihre Vernichtung sei letztlich eine „Weltanschauungsfrage", bei deren Beantwortung im Sinne der christlichen Botschaft der Volksmission eine wichtige Rolle zukomme. Wenn das ärztliche Ethos in den Anstalten uneingeschränkt aufrechterhalten werden solle, müsse man „helfen bis zur letzten ärztlichen Konsequenz". Bei der historischen Wertung und Einordnung dieser und der folgenden Debatten muß der Versuchung widerstanden werden, die unterschiedlichen Standpunkte gegeneinander auszuspielen und von einer Position ex post aus zu würdigen. Das ethische Problem der Grenzen ärztlicher Hilfeleistung ist auch heute noch virulent, wenn man etwa an die moderne Intensiv- und Apparatemedizin denkt, und es war gerade die Aufgabe dieser ersten Konferenz, die unterschiedlichsten Gesichtspunkte zur Sprache zu bringen, was vor allem bei den Beiträgen Harmsens deutlich wird. Hier stritten nicht ,Euthanasie'-Gegner und -Befürworter miteinander, sondern die damit befaßten Mediziner und Theologen reagierten auf Forderungen, die bereits öffentlich erhoben wurden und auf dem besten 253

254 255

So auch P. Richter/Neinstedt. Er kenne einen Fall, wo die Kosten der notwendigen Operation durch die Fürsorgebehörden übernommen worden seien; wäre das nicht der Fall gewesen, etwa bei einem geistig behinderten Patienten, hätte die Anstalt selbst zahlen müssen, „und ich würde mir die Überweisung sehr überlegt haben". „Gegenwartsfragen der Eugenik", a. a. O., 137 f. Ausdrückliche Kritik an den Kategorien ,hoch-' und .minderwertig' äußerte erst Mitte 1932 die 2. eugenische Fachkonferenz im Zusammenhang mit den Vorschlägen des preußischen Staatsrats für ein Sterilisierungsgesetz. S. dazu weiter unten, Abschnitt III. 3.1.2.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Wege waren, populär zu werden. Um eine angemessene evangelische Antwort zu finden, hatten sie alle Aspekte sorgfältig auszuloten und keine Patentrezepte zu formulieren, die den medizinischen, wirtschaftlichen und religiös-sinnstiftenden Arbeitsvoraussetzungen in ihren Einrichtungen nicht gerecht geworden wären. Das zweite große Thema der Treysaer Tagung bildete der Sterilisationskomplex. Harmsen hatte mit Dr. Otmar Frhr. v. Verschuer einen Abteilungsleiter vom Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie als Hauptreferenten gewinnen können, 256 der sich jedoch - wohl entgegen den in ihn gesetzten Erwartungen mit großer Zurückhaltung über die Leistungsfähigkeit sterilisierender Eingriffe äußerte. Er sprach über „die gegenwärtigen erbbiologischen Grundlagen für die Beurteilung der Unfruchtbarmachung" und wies auf zahlreiche noch bestehende Erkenntnisunsicherheiten hin. Jeder Schematismus sei zu verwerfen; es komme jeweils auf die Prüfung des Einzelfalles an. Verschuer wandte sich aus diesen Gründen auch entschieden gegen die Anwendung von Zwang und wollte nur die freiwillige Sterilisierung gelten lassen, zu der Christen aus Verantwortung für die kommenden Geschlechter jedoch bereit sein müßten. Die Nächstenliebe erstrecke sich auch auf die Nachfahren, und es sei ein geringeres Opfer, auf Kinder zu verzichten, als (erbkrankes) Leben zu beseitigen. Die Anstalten könnten jedoch das ihre dazu tun, um der Forschung neue Erkenntnisse zu ermöglichen: Durch Anlage und sorgsame Führung einer Kartei über jeden Patienten mit ausführlichen Befragungen von Angehörigen und Daten, die für die Ermittlung einer vorliegenden Erbkrankheit relevant seien, erhalte die Wissenschaft die Möglichkeit, zu genaueren Ergebnissen zu kommen. - Noch deutlicher wurde der schon erwähnte Chefarzt Carl Schneider, der das Korreferat hielt. Das Reden über Sterilisation aus eugenischen Gründen werde langsam zur „Mode", die man in rassenhygienischen Versammlungen und besonders unter National-

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Auch v. Verschuer machte im Dritten Reich Karriere: 1933 wurde er a.o. Professor am KWI, 1935 Ordinarius in Frankfurt a. M., bevor er 1942 als Direktor an das KWI für Anthropologie nach Berlin zurückkehrte. Dort war er Chef des SS-Arztes Dr. Dr. Mengele, dessen Lieferungen von Leichenteilen ermordeter Häftlinge aus dem KZ Auschwitz er in seinem Institut wissenschaftlich untersuchen ließ. Andererseits gehörte er der Bekennenden Kirche als aktives Mitglied an und verkehrte zeitweilig im Hause Martin Niemöllers. Im Frühjahr 1951 erhielt er den Lehrstuhl für Humangenetik an der Westf. Wilhelms-Universität Münster. Dazu nochmals Benno Müller-Hill, a.a.O., 127 ff. 187, der irrtümlich das Jahr 1953 nennt, und den polemischen Artikel von Klaus-Dieter Thomann, „Rassenhygiene und Anthropologie: Die zwei Karrieren des Prof. Verschuer", in: Frankfurter Rundschau Nr. 115 V.20.V.1985, in dem der Autor ohne Kenntnis des hier verarbeiteten Materials eine ungebrochene Kontinuität der Anschauungen v. Verschuers von den 20 er Jahren bis in die Nachkriegszeit behauptet. Vgl. a.ders., „Otmar Freiherr von Verschuer - ein Hauptvertreter der faschistischen Rassenhygiene", in: Medizin im Faschismus, 5 7 - 6 7 . - Die bewußt protestantische Grundeinstellung v. Verschuers geht auch aus seinen Diskussionsbeiträgen in Treysa hervor.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Sozialisten mit hier deutlich sozialpolitischer Z i e l s e t z u n g p r o p a g i e r e . D e m g e g e n -

über gab Schneider zu bedenken: „Wir erfassen niemals eine Rasse als solche, sondern ein historisch gewordenes Volk, das aus vielen Rassen zusammengesetzt ist. Wir können also keine Rassenhygiene treiben, sondern [nur] Erbgesundheitspflege in Angriff nehmen." Er ging noch weiter und verwarf die Sterilisation selbst für den Fall, daß die Erblichkeit einer geistigen Erkrankung einwandfrei erwiesen sei; die moderne Eugenik richte sich einseitig auf „Ausmerzung", sie sei stets nur auf die ungünstigen Vererbungsmerkmale fixiert und übersehe die positiven, die ebenfalls übertragen würden. Wenn man schon von Kosten spreche, müsse man auch jene mitbedenken, die durch eine umfassende Sterilisierungskampagne entstünden. Erst nach Generationen werde sich, wenn überhaupt, ein Erfolg zeigen, und dies auch nur bei dominantem Erbgang, nicht bei dem wesentlich schwerer zu erfassenden rezessiven.257 Was die These des überproportionalen Anwachsens ,Minderwertiger' bei dem zu beobachtenden Geburtenrückgang angehe, so stehe bisher allein die zahlenmäßige Reduzierung solcher ,Minderwertiger' bei steigender Fertilität wissenschaftlich fest; der Umkehrschluß sei nicht zulässig. Er rate nicht zu Tatenlosigkeit, aber die Unfruchtbarmachung komme nur im Einzelfall in Frage; wesentlich wichtiger sei „die Erziehung des Volkes in seiner Geistes- und Glaubenshaltung", d. h. zu einem verantwortlichen Umgang mit der Zeugung im Wissen um erbbiologische Gesetzmäßigkeiten. Damit hatten v.Verschuer und Schneider an den Prämissen gerüttelt, unter denen die erste Fachkonferenz überhaupt einberufen worden war. Wenn die Erfolge der Sterilisierung gar nicht berechenbar waren, wenn auch sie überdies Geld kostete, wo man doch hoffte, dadurch auf Dauer Mittel einzusparen, und wenn die These Harmsens vom umgekehrt proportionalen Wachstum der erbkranken Bevölkerung bei Rückgang der Geburtenrate so nicht stimmte, 258 hätte man das Thema eigentlich zu den Akten legen können. Schon in der folgenden Diskussion erwies sich indessen, daß es den meisten Anwesenden nicht in erster Linie um die exakte Umsetzung respektive Anwendung medizinisch-anthropologischer Erkenntnisse ging, sondern daß sie nach praktikablen Lösungsmöglichkeiten für ihre gegenwärtigen Selbstverständnis- und Finanzprobleme suchten. Harmsen räumte im Anschluß an die Ausführungen von Verschuers und Schneiders denn auch ein, selbst er glaube nicht an eine „völlige Erbbereinigung"; den ,,absolute[n] Idealzustand" werde man nicht erreichen. Man habe jedoch die Gefahr auszuschließen, daß die Anstalten auf finanziellen Druck der Kommunen hin eigentlich asylierungsbedürftige Patienten entlassen müßten, die sich dann fortpflanzten. - Es waren also vornehmlich weltanschaulich motivierte 257

258

Diesen Gesichtspunkt hob auch v. Verschuer in der anschließenden Diskussion noch einmal ausdrücklich hervor. S. das Einladungsschreiben Harmsens; wie Anm. 223.

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III. D i e Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Ängste im Zeichen der Krise oder ,Zeitenwende' und wirtschaftliche Zwänge, von denen sich die Konferenzteilnehmer bestimmen ließen, ein Handeln zu bejahen, dessen Unwägbarkeiten in Kauf genommen wurden, wenn nur überhaupt etwas geschah. So wird bereits an dieser internen Debatte deutlich, was auch die späteren Ereignisse entscheidend beeinflußte, nämlich äußere, d.h. politisch-ideologische und ökonomische Faktoren, mit denen ohne Rücksicht auf den Stand der Forschung die Sterilisationsgesetzgebung in Gang gebracht und nach 1933 auch durchgesetzt wurde. Im letzten Teil der Konferenz behandelte man Fragen der Rechtslage, in die Harmsen mit einem Referat einführte. 259 Sehr bald konzentrierte sich die Diskussion auf Verbindungslinien zwischen Sterilisierung und Schwangerschaftsabbruch, weil die medizinische, eugenische und soziale Indikationsstellung von letzterer her schon bekannt war und sich auf die Unfruchtbarmachung übertragen ließ. Während ein Teil der Anwesenden für den unauflöslichen Zusammenhang dieser drei Indikationsmöglichkeiten plädierte, deren Anwendbarkeit allein dem Ermessen des Arztes überlassen bleiben müsse,260 wandte sich Verschuer gegen eine Sterilisation aus lediglich eugenischen oder sozialen Motiven. Hier sei ein Mißbrauch nicht ausgeschlossen, und am Ende beziehe man auch Gesunde mit ein. Nur wenn dieses gesetzlich verhindert werde, könne man auch die notwendige Zustimmung des Zentrums für eine entsprechende Vorlage erhalten. Einige Theologen äußerten ferner Bedenken gegenüber den sittlichen Folgen der Sterilisation: Der Eingriff komme wahrscheinlich nur für Männer in Frage, da Frauen nach Operation und anschließender Entlassung oft der Prostitution anheimfielen, was Harmsen als einseitig moralisierende Sicht kritisierte, da beispielsweise in Berlin auch Männer ihre neu gewonnene Zeugungsunfähigkeit kommerziell zu nutzen wüßten. Andere Anstaltsleiter warnten davor, mit den Mitteln der Medizin die Folgen der ,Sünde', also des außerehelichen Geschlechtsverkehrs ungeschehen zu machen; die Gesellschaft bedürfe eines Spiegels in Gestalt der Konsequenzen solchen Tuns, um ihr Fehlverhalten stets aufs neue zu erkennen. 261 Als P. Happich/Treysa zusammen mit v.Verschuer und Harmsen den Konnex von Schuld und Vererbung mit Blick auf den in 259

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Im Prot, nicht enthalten, aber später in der , G F abgedruckt; vgl. Harmsen, „ D i e Unfruchtbarmachung Minderwertiger. Das geltende Recht und die für dieses geforderten Abänderungsvorschläge", in: ebd. 5.1931,171 - 1 7 5 . So besonders ein Dr. Baehr, der durch eine Hineinnahme der sozialen u n d eugenischen Indikation in die medizinische hoffte, die juristische Zulassung des Eingriffs allein aus medizinischen Gründen umgehen zu können; s. das Wortprot., a. a. O. Anders Fritz von Bodelschwingh, der auch aus theologischen Motiven o f f e n für die Sterilisierung eintrat: Er sei dafür, daß, wenn die Funktionen des Leibes „zum Bösen führen und zur Zerstörung des Königreichs Gottes in diesem oder jenem Glied, daß dann die Möglichkeit oder Pflicht besteht, daß eine Eliminierung stattfindet". Wenn er - als Anstaltsleiter - für einen Leib Verantwortung trage, sei er auch bereit, unter Berücksichtigung aller Schranken diese Eliminierung vorzunehmen.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Frage stehenden Personenkreis ausklammerte und auf die bestehenbleibende Verantwortung für die kommenden Geschlechter hinwies, ergab sich als weiterer Gesichtspunkt das Problem der Schwangerschaftsunterbrechung bei Anstaltspfleglingen. Obwohl Harmsen und andere dem ein kompromißloses Nein entgegensetzten, weil man damit eine neue Dimension ärztlichen Handelns erreiche, das als Tötung zu qualifizieren und deshalb auszuscheiden sei,262 erklärte sich eine Minderheit der Anwesenden für die Abtreibung in bestimmten Fällen wie etwa bei Vergewaltigungen, aber auch aus eugenischen Überlegungen. Ein Pfarrer aus dem Harz berichtete offen über die Praxis seines Anstaltsarztes, der bei zurückkehrenden Urlauberinnen generell ,Maßnahmen' ergreife, die eine Schwangerschaft ausschlössen, bat aber, die Vertraulichkeit dieser Mitteilung zu wahren. 263 Am Ende der Tagung verabschiedete die Konferenz ein Papier, das als .Erklärung von Treysa' in die Geschichte der Inneren Mission eingegangen ist. 264 Freilich war diese Resolution für die Öffentlichkeit bestimmt und enthielt all jene brisanten Passagen nicht, die oben auszugsweise wiedergegeben wurden. Sie ist deshalb erst in Kenntnis des Wortprotokolls angemessen historisch zu verorten; denn auf dieser Grundlage werden vorsichtige Differenzierungen sichtbar, die über das knapp zusammenfaßbare Ergebnis - ein absolutes Nein zu E u t h a n a sie' und Schwangerschaftsabbruch, bei letzterem bei eugenischer u n d sozialer Indikation, und die eingeschränkte Bejahung der Sterilisation, sofern der betroffene Patient keinen Einspruch erhob - doch weit hinausgehen. 265 Bemerkenswert erscheint insonderheit, daß sich Harmsen mit seiner genannten Konzeption

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Harmsen: „Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob wir entstandenes Leben vernichten, oder ob wir Vorsorge treffen, daß derartiges Leben nicht entsteht." Wo Leben vorhanden sei, gelte es „die Achtung vor diesem Leben [zu] wahren und unter Umständen die dadurch gegebene Not zu tragen [...], eine Last, die der Gemeinschaft auferlegt ist." Ähnlich auch P. Lensch: „Wir müssen alle Konsequenzen der mangelhaften Fürsorge tragen und nicht nachher das Kind bestrafen [...]. Wir dürfen nicht das Opfer büßen lassen für die Taten anderer." Dazu der kritische Kommentar Harmsens: „Daß Sie einfach in jedem Fall die Auskratzung vornehmen, erscheint doch sehr bedenklich." Er sei aber dankbar, daß die Offenheit der Beratungen auch solche Informationen möglich mache. Zum Text s. das Wortprot. S.a. Gerhardt II, 394 f., und Nowak, .Euthanasie'und Sterilisierung, 91 ff. So erscheint ein Satz wie dieser, daß „erhebliche Aufwendungen" künftig nur noch Rehabilitationsfahigen zukommen dürften, während die Leistungen für die anderen auf „menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen" seien, nun in einem anderen Licht. Das gilt auch für die Bemerkung, daß „die künstliche Fortschleppung erlöschenden Lebens [...] ebenso ein Eingriff in den göttlichen Schöpferwillen sein [könne] wie die Euthanasie", oder den Hinweis im Rahmen der Verwerfung der Schwangerschaftsunterbrechung aus lediglich eugenischer Indikation, daß auch eine Verbindung von medizinischen „mit andern Gesichtspunkten" vorstellbar sei, die einen Abort notwendig machen könnte; s. nochmals Anm.249.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

durchsetzen konnte, obschon sein Doppelargument, erbbiologische und ökonomische Zwänge erforderten eine Umorientierung der Arbeit, von den Fachleuten nicht bestätigt wurde, ja implizit auf deutliche Kritik gestoßen war. Aber die ,Praktiker', denen die wirtschaftlichen Engpässe der Anstalten auf den Nägeln brannten, setzten sich mit Harmsen über diese Einwände hinweg; eine Reihe von ihnen leistete bereits gelegentlich passive Sterbehilfe und führte die Unfruchtbarmachung wie auch den Schwangerschaftsabbruch aus einem verschlungenen Motivgeflecht von medizinischen, eugenischen und sozialen Gründen durch. Verallgemeinern wird man solche Bekenntnisse' nicht dürfen; sie sind jedoch ein Indiz dafür, daß Ärzte und Vereinsgeistliche der Inneren Mission nicht ,in geschlossener Front' zu diesen sie seit Ende der 20 er Jahren besonders bedrängenden Problemen standen. Damit verhielten sie sich ähnlich wie andere, im nichtkonfessionellen Anstaltsbereich tätige Mediziner, wobei die Unmöglichkeit einer autoritativen Festlegung der evangelischen Kirche in diesen Fragen hinzukommt. In Anbetracht der extremen Herausforderungen nach 1933 zeigt sich damit ein wesentlicher ,Verunsicherungsfaktor', der die Entwicklung denkbarer wirksamer(er) Abwehrstrategien hier wie auch auf anderen Arbeitsfeldern der Inneren Mission erschwerte und so die bis heute kontroverse Beurteilung protestantischer Wohlfahrtspflege im Dritten Reich im Zusammenhang von Sterilisation und ,Euthanasie' verständlich macht. - Das ist aber nur ein wesentlicher Aspekt für die Beurteilung dieser Tagung; ein weiterer bezieht sich darauf, daß nahezu all jene das Thema berührenden Fragen und Befürchtungen schon in Treysa diskutiert wurden, die dann durch die Initiativen des preußischen Landesgesundheitsamtes und des Staatsrats konkrete Gestalt annehmen sollten. Treysa steht deshalb nicht für eine isolierte Betrachtung von Anstaltsproblemen dieser Art, sondern erscheint im nachhinein eingebettet in eine Gesamtdebatte, zu der die Innere Mission mit Harmsen als Protagonisten einen wichtigen Beitrag zu leisten vermochte. Den genannten Unwägbarkeiten zum Trotz gelang es dem Centraiausschuß durch die Schaffung der eugenischen Fachkonferenzen, sich in der folgenden politischen Auseinandersetzung Gehör zu verschaffen und einen Einfluß zu nehmen, der über das Ende der Republik hinausreichte und den CA noch in den Anfangsjahren des Dritten Reiches zu einem Gesprächspartner von Partei und Ministerien machte, dem man gelegentlich entgegenkam, wenn dies ohne prinzipielle Abweichung von der eingeschlagenen neuen rassenbiologischen Generallinie möglich erschien.

III.3.1.2. Sterilisation als politische Forderung: Der preußische Vorstoß und die Innere Mission Wenige Monate nach Treysa wurden die dort laut gewordenen - positiv und negativ gewichteten - Äußerungen, die Sterilisationsproblematik werde bald Gegenstand der politischen Diskussion werden, von der Wirklichkeit eingeholt:

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Am 26. Oktober 1931 brachte Dr. Struve/Kiel als Berichterstatter des Gemeindeausschusses einen „Initiativantrag über eugenetische Maßnahmen" in den preußischen Staatsrat ein, der darauf abzielte, die Regierung zu veranlassen, Eugenik und Erblehre als obligatorisches Prüfungsfach in die Medizinerausbildung einzuführen sowie in Schulen und der Öffentlichkeit Kenntnisse über die Ergebnisse der modernen Erbpflege zu verbreiten. 266 In seiner eingehenden Begründung nannte Struve auch den Zweck des Antrags: „Verminderung der Minderwertigen, Vermehrung, wenigstens Erhaltung der Erbgesunden". Ähnlich wie zuvor auch schon Harmsen stellte er Zahlenmaterial über den bedrohlichen Geburtenrückgang seit Ende des 19. Jahrhunderts den steigenden Kosten für die Unterbringung Bewahrungsbedürftiger gegenüber, die er schließlich mit jenen immer geringer werdenden Mitteln verglich, die zur Unterstützung gesunder kinderreicher Familien bereitstanden. Die Fürsorge habe gelernt, „gut zu hegen und zu pflegen", jetzt müsse sie angesichts des Geburtenrückgangs und der wirtschaftlichen Notzeit „auch das Jäten und Roden lernen". Besaß dieser Vorstoß noch den Charakter einer eugenischen Absichtserklärung, so rückte ein weiterer Antrag von 23 Staatsratsmitgliedern unter Führung Frhr. v. Gayls Anfang Dezember 1931 die Frage der Finanzierung der Fürsorge für ,Minderwertige' in den Vordergrund, d.h. man erstrebte eine Kostensenkung auf dasjenige Maß hinab, „das auch von einem völlig ausgesogenen und verarmten Volke noch getragen werden" könne. Ohne eingehende Aussprache - nur die kommunistische Fraktion begründete ihre Ablehnung, weil der ursprüngliche Entwurf durch kirchliche Einflüsse verwässert worden sei267 - billigte der Staatsrat mit großer Mehrheit diesen modifizierten Antrag, der freilich bis 1933 keine Rechtsverbindlichkeit erlangte. Obwohl die Intentionen der Initiative Struve/von Gayl hinter den Ergebnissen von Treysa zurückblieben und nur in der Diskussion des Antrags, nicht in diesem selbst von negativen eugenischen Maßnahmen wie der Sterilisierung die Rede war, meldete die Innere Mission bei grundsätzlicher Bejahung doch Bedenken gegen die geplante Kostenreduzierung im Anstaltsbereich an. So kritisierte Harmsen die beabsichtigte „schematische Herabsetzung der Aufwendungen" und betonte die Aufgabe der freien Wohlfahrtspflege, „mit allen Mitteln für die Sicherung einer menschenwürdigen Versorgung und Pflege" der Erbbelasteten einzutreten, falls sich der Staat dieser Verpflichtung entziehen sollte.268 266

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Das Folgende nach Hans Harmsen, „Verminderung der Kosten für die geistig und körperlich Minderwertigen. Wichtige Beschlüsse des Preußischen Staatsrates zu eugenetischen Forderungen", in: G F 6.1932,41 -49. So habe man auf Druck von dieser Seite die Forderung nach Sexualaufklärung in den Schulen gestrichen. Den ersten Antrag Struves hätte auch die KPD ohne Bedenken mitgetragen; ebd., 48. Ebd., 49. - Eine am 4.VI. 1932 tagende Sonderkonferenz der .Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge' bestritt weitgehend die Anwendbarkeit der Staatsratsvorstellungen auf

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Auch die zweite eugenische Fachkonferenz der Inneren Mission beschäftigte sich im Juni 1932 ausführlich mit der nun geschaffenen neuen Lage.269 Fraglos stellte man hier in Rechnung, daß der Antrag von Gayl, ohne es ausdrücklich zu formulieren, in Wirklichkeit auf ein Sterilisierungsgesetz hinauslief. Obwohl ihm Teilnehmer wie Pastor Dietrich aus Bethel-Eckardtsheim bescheinigten, der Entwurf sei wirklichkeitsnah' und spiegele die finanzielle Notsituation der öffentlichen Hand wider, bemängelten andere Teilnehmer die ,laienhafte Ausgestaltung', die von der abwegigen Voraussetzung ausginge, daß durch die gesetzliche Sanktionierung der Unfruchtbarmachung eine Leerung der Anstalten und in deren Folge eine Kostensenkung erreicht werden könne, was ein „geistiger und praktischer Kurzschluß sei". Harte Kritik übte man an der Formulierung .geistig und körperlich minderwertig', die zu streichen sei und am besten durch den Terminus „Anormalenfürsorge" ersetzt werde. Harmsen brachte die Bedenken auf den Punkt, wenn er die „aufklärerische Tendenz" einer mit dem Antrag zum Vorschein kommenden „rein utilitaristischen Ethik" anprangerte, die „in popularistischer Form und ohne weltanschauliche Bindung" verkündet werde: „Alle Maßnahmen der Eugenik werden [erst] gereinigt durch die Hilfe, die bei den Elendesten nicht Halt macht. Dieses Doppelte bildet eine unlösbare Einheit." Kontrovers blieb die Frage, ob die Innere Mission durch die Fachkonferenz mit einer Entschließung an die Öffentlichkeit gehen sollte, um den Versuch zu machen, die politische Meinungsbildung zu beeinflussen. Direktor Steinweg wies auf die Möglichkeiten der Regierung hin, per Notverordnung ohne parlamentarischen Vorlauf in kürzester Zeit Gesetze zu verabschieden; darauf müsse man vorbereitet sein. Ähnlich äußerte sich Superintendent Klaer/MagdeburgCracau; die öffentliche Debatte werde sonst von jenen übereifrigen Verfechtern eugenischer Eingriffe wie den Hilfsschullehrern majorisiert, die schon heute die gesetzliche Freigabe der Sterilisierung ohne Einschränkung propagierten. Einigen konnte man sich auch nicht darüber, ob der Pflegekostenaufwand in den Anstalten der Inneren Mission tatsächlich zu groß sei und wie man zu Einsparungen gelangen könne, ließ aber die Anregung Dietrichs gelten, Betreuung nur in der lebensnotwendigsten Form zu gewähren. Keinesfalls hätten Behinderte ein Recht auf den gleichen Lebensstandard wie Gesunde, weil diese den Unterhalt für sich und ihre Angehörigen selbst bestreiten müßten. Die luxuriöse Aufblähung der Einrichtungen sei die Folge überspannter Fürsorge in den staatlichen Anstalten und letztlich in der sozialistischen Auffassung von Wohlfahrts-

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ihre Klientel. Vgl. „Stellungnahme zu den Forderungen des Preußischen Staatsrates vom 20. Januar 1932", in: G F 6.1932,97-99. Vgl. das Wortprotokoll der vom 2. bis 4.VI. 1932 in Berlin abgehaltenen Konferenz, ADW, C A / G 1800/2, und den Bericht Harmsens, „Die 2. Evangelische Fachkonferenz für Eugenik und ihre Ergebnisse", in: GF6.1932,157-161. Das folgende, wenn nicht anders vermerkt, nach dem Wortprotokoll.

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pflege begründet [!]. - Einmütig beschloß die Konferenz dagegen die Verstärkung der erbbiologischen Forschung durch die Aufstellung möglichst umfassender Stammbäume für jeden Patienten, was nach einheitlichen Richtlinien in Anlehnung an ein Kooperationsmodell des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie mit den Alsterdorfer Anstalten erfolgen sollte. 270 Eine systematische Auswertung der zu erwartenden Daten könne aus den der Inneren Mission verbundenen Anstalten „Zentren der biologischen Sanierung" machen, ,schwärmte' Harmsen, der auch d a f ü r sorgte, daß dieser Beschluß in Form einer detaillierten Empfehlung an alle Einrichtungen versandt wurde. 271 Diese ambivalente Einstellung - einerseits Verwerfung von gesellschaftlichen Nützlichkeitskriterien als Grundlage eugenischer Reflexion und Praxis, andererseits Faszination durch die Fortschritte medizinischer Forschung - kennzeichneten nicht allein die Position Harmsens, sondern auch das Denken vieler in den Anstalten tätiger Theologen. Sie wollten am diakonischen Auftrag im Geiste Wicherns festhalten, sich zugleich aber neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht verschließen. Und auch das pragmatische Argument einer Verbindung von eugenischen Maßnahmen zugunsten ökonomischer Einsparungen verfehlte seine Anziehungskraft nicht. Die Berliner Tagung hatte mit ihrer Einschätzung des Antrags Struve/v. Gayl richtig erkannt, daß es sich im G r u n d e um die Vorbereitung eines Sterilisierungsgesetzes handelte. Dies zeigte sich, als schon einen Monat später der Präsident des preußischen Landesgesundheitsrates nach einer Konferenz im Ministerium für Volkswohlfahrt, auf der führende Experten noch einmal zum Problem Stellung genommen hatten, einen Ausschuß zur Beratung eines derartigen Gesetzentwurfes berief. 272 Dieser legte kurz darauf das Ergebnis seiner Arbeit zusammen mit einer ausführlichen Begründung und Leitsätzen über „die Eugenik im Dienste der Volkswohlfahrt" vor. 273 Das Papier sah die Möglichkeit zur freiwilligen Sterilisation bei „erblicher Geisteskrankheit, erblicher Geistesschwäche, erblicher Epilepsie" oder einer sonstigen Erbkrankheit vor, sofern ein aus zwei Ärzten und einem Vormundschaftsrichter bestehendes, von der obersten Landesbehörde einzusetzendes Gremium dem Antrag stattgebe. Zur Begrün270

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S. dazu auch das Referat, das der Alsterdorfer Chefarzt Gerhard Kreyenberg auf dieser Tagung hielt: „Die Bedeutung der Anstalten für Sinn- und Körpergebrechliche für die Eugenik", in: GF6.1932,161-164. Sie waren auch Bestandteil des gedruckten Tagungsberichtes; a. a. O., 160 f. Es referierten die Professoren Muckermann SJ und Kohlrausch/Berlin sowie Lange/ Breslau. Diese Fachleute traten für eugenische Erziehung und Eheberatung ein und plädierten für die freiwillige Sterilisierung schwer Erbbelasteter unter Ablehnung jeder .Euthanasie'. Großen Stellenwert räumten sie der positiven Eugenik ein (Familienschutz, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Siedlungsförderung). Vgl. die Niederschrift der Verhandlungen : ,Die Eugenik im Dienst der Volkswohlfahrt', und die gleichbetitelte knappe Zusammenfassung in: G F 6 . 1 9 3 2 , 1 6 4 . - Zum Gesamtkomplex s.a. Gisela Bock, 51 ff. Abgedruckt in G F 6.1932,213-218, und AfBSF 3.1933,68-74.

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dung trug der Ausschuß wiederum die gleichen Argumente zusammen, die schon Struve vorgebracht hatte, und erwähnte zusätzlich die bisher positiven Erfahrungen mit der Unfruchtbarmachung im Ausland, vor allem in den USA. Harmsens alte, wenngleich von Fachleuten bestrittene These von einem beunruhigenden Geburtenrückgang in erbgesunden Familien bei gleichzeitigem zahlenmäßigem Anstieg bzw. unverminderter Fertilität Erbkranker galt als unumstößlich wissenschaftlich gesichert und gab den Rahmen für die drastischen Pflegekostenberechnungen ab, die auch hier nicht fehlten. Die folgenden Leitsätze schließlich waren für die weitere Öffentlichkeit bestimmt und warben in vorsichtiger Form um Verständnis für das geplante Gesetz, wobei parallel einzuleitenden Maßnahmen positiver Eugenik besondere Bedeutung eingeräumt wurde. Wahrscheinlich sollten die Empfehlungen durch die ausdrückliche Absage an jede ,Euthanasie' und die Hervorhebung des Freiwilligkeitscharakters des Eingriffs dem betroffenen Personenkreis und seinen Angehörigen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, andererseits aber auch die Befürworter radikalerer Lösungen durch den Appell an die humanitäre Verantwortlichkeit der Gesellschaft zur Zurückhaltung mahnen. Das Übergreifen der Diskussion um ein Sterilisierungsgesetz auf die politische Ebene bestätigte nachträglich, wie nützlich die Einrichtung der eugenischen Fachkonferenzen als meinungsbildendes Forum der Inneren Mission gewesen war. Wohl unter dem Eindruck der Anträge Struves und v. Gayls wurde noch auf der Berliner Tagung im Juni 1932 die Gründung eines ,Ständigen Ausschusses für eugenetische Fragen' beschlossen, der die Probleme weiter verfolgen, Material sammeln und den Centraiausschuß in allen damit zusammenhängenden Fällen beraten sollte.274 Eine erste Bewährungsprobe erlebte der in regelmäßigen Abständen tagende neue Ausschuß durch die Publikation des Sterilisationsgesetzentwurfes, den er auf seiner konstituierenden Sitzung am 24. November 1932 intensiv diskutierte.275 Im Grußwort des neuen CA-Direktors Walter Jeep an die Teilnehmer276 war wieder von der vielzitierten Umorientierung der Wohlfahrtspflege die Rede, allerdings in einem ganz anderen, eher pessimistischen und - wenngleich wohl unbeabsichtigt - gegen die Auffassung Harmsens gerichteten Sinne. Der mit den vorangegangenen eugenischen Debatten nicht vertraute Jeep beklagte nämlich die Folgen der Wirtschaftskrise für das Wohlfahrtsbewußtsein der Gesellschaft und nahm damit hellsichtig eine Wertung vorweg, die auf die fürsorgerischen Intentionen des Dritten Reiches zutreffen sollte: 274

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Das geht aus der Niederschrift der ersten Verhandlung des Ständigen Ausschusses am 24.XI. 1932 hervor; ADW, C A / G 1600/1. In gekürzter Form ist das Prot, in dem Konferenzbericht Harmsens enthalten: „Zum Entwurf eines neuen Sterilisierungsgesetzes", in: G F 7.1933,1 -7. Erschienen waren außer Harmsen und der Referentin des CA für Gefährdetenfürsorge, Hermine Bäcker, nur Theologen, darunter mit Lic. Dr. Söhngen ein Vertreter des EOK; vgl. die Anwesenheitsliste der Niederschrift, a. a. O.

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„Die Einstellung der Liebe und Barmherzigkeit gegenüber dem, was lebensunwert und verloren ist, gilt heute als grundsätzlich verkehrt. Als einzig richtiges Ziel wird gefordert, das Gesunde zu stärken und keine Mittel mehr zur Pflege des Unterwertigen aufzubringen." Die Innere Mission müsse sich fragen lassen, was sie falsch gemacht habe, daß sich eine solche Einstellung entwickeln konnte. Es gehe nicht allein um Sterilisierung und § 218, sondern darum, ob es vom evangelischen Standpunkt aus auf derartige Herausforderungen überhaupt hinreichende Antworten gebe. Harmsen, der eingangs der Tagung eine 17-Punkte-Erklärung zur Diskussion stellte, die auf der Grundlage von Treysa den Stand der Debatte noch einmal umriß, ging darin auch auf die zentrale Anfrage Jeeps ein, verfehlte aber völlig deren seelsorgerlich-theologische Dimension: Eine überspannte christliche Nächstenliebe, die geradezu alles Gesunde und Natürliche ablehne, Nationalbewußtsein und Selbstbehauptungswillen der Deutschen durch Pazifismus und Kriegsdienstverweigerung zerstöre und allein in der hingebungsvollen Pflege „der Kranken, Elenden und Lebensunwerten" seine Erfüllung finde, trage die Verantwortung für die durch eine Art Gegenreaktion bedingte Ablehnung herkömmlicher Wohlfahrtspflege in weiten Kreisen der Bevölkerung. Deshalb hätten die Kirchen der Reformation gerade heute die Aufgabe, wegweisende Impulse christlicher Nächstenliebe zu vermitteln, weil sonst bald eine an Nützlichkeitskriterien orientierte rein innerweltliche Fürsorge das Feld beherrschen werde. 277 Ob die Konferenz über solche Auslassungen zur Tagesordnung überging oder eine Aussprache darüber herbeiführte, wird nicht überliefert; Widerspruch scheint sich jedenfalls nicht erhoben zu haben, wenngleich Harmsens ausführlich zitierte 4. These dazu eigentlich hätte herausfordern müssen: Wo gab es denn diese an Nietzsches Mitleidsmoral erinnernde Karikatur christlicher Liebestätigkeit, die auf Kosten von Nation und Vaterland mit politischen Vorstellungen, die man sonst eher im linksliberal-sozialistischen Lager vermutete, zu Lasten der Gesunden ganz im Dienst an den ,Unproduktiven' aufging? Doch wohl nirgends; aber die Öffentlichkeit der Weimarer Republik war für denunziatorische Parolen dieser Art empfänglich geworden, vor allem seit die Depression immer verheerendere Folgen zeigte und vielen das Wasser buchstäblich bis zum Hals stand. Der utilitaristische Aspekt wohlfahrtspflegerischer Maßnahmen entfaltete eine angesichts der Krise verständliche, wenn auch befremdliche Faszination, die in ihrer Wirkung nicht auf die Notzeit beschränkt blieb, sondern nach 1933 unter veränderten, einigermaßen konsolidierten Sozialverhältnissen unvermindert anhielt und im NS-Propagandaarsenal ihren Platz erfolgreich behauptete. Daß Harmsen bei ansonsten moderaten und wenig Neues bringenden weiteren Thesen nicht auf die Wiederholung dieser ebenso falschen wie 277

Es handelt sich um die Punkte 4 und 5. Die übrigen Abschnitte wiederholten im wesentlichen das schon in Treysa Gesagte; ebd.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

demagogischen Formel verzichtete, sie sogar vor einem mehrheitlich aus Theologen zusammengesetzten Gremium präsentierte, läßt eigentlich nur den einen Schluß zu: Falls es noch Widerstände gegen den in Treysa vorgezeichneten Kurs gab, sollten diejenigen, die noch immer der von Harmsen und anderen für wünschbar und erforderlich gehaltenen eugenischen Neuorientierung der Inneren Mission mißtrauten, dem diskriminierenden Verdacht ausgesetzt werden, sie seien unzuverlässige Zeitgenossen und am Wohl der Volksgemeinschaft und deren Zukunft nicht interessiert. Die 17 Punkte Harmsens bildeten nur ein Thema der Konferenz; das andere, damit in engem Zusammenhang stehende, war eine zu erarbeitende Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Preußischen Landesgesundheitsamtes. In Kenntnis der Erklärung von Treysa möchte man meinen, der ausgewogen erscheinende und mit entsprechenden Mißbrauchsklauseln versehene Entwurf sei von der Inneren Mission einhellig begrüßt worden, was insgesamt gesehen auch der Fall war. Überraschenderweise gingen die Abänderungsvorschläge aber nicht in Richtung einer stärkeren Beschränkung der Kompetenzen des Gesetzes, sondern sie versuchten umgekehrt, durch gewisse Zusätze eine Verschärfung des Entwurfs herbeizuführen. So wollte man den ganz auf die Sterilisierung bezogenen Text auf die Weise ergänzen, daß auch eine Kastration, die aus medizinischen Gründen ebenfalls in Frage komme, nicht ausgeschlossen werden dürfe. 278 Ursprünglich um den betroffenen erbkranken Personenkreis einzuschränken, sollte in § 1 des Entwurfs eingefügt werden, nur solche Erbkrankheitsträger zu sterilisieren, „die zur Verwahrlosung oder zu asozialem Verhalten" neigten. Man erreichte damit indessen eine Ausweitung, da zu dem eugenischen nun der soziale Befund trat, der angesichts andauernder erbbiologischer Unsicherheitsfaktoren den Umkehrschluß vom a-sozialen Verhalten auf ein vermeintlich oder tatsächlich bestehendes Erbleiden ermöglichte. Denn es war leichter, eine Generationenfolge Obdachloser empirisch zu beschreiben, als bei den gleichen Menschen nachzuweisen, daß ihre unstete Lebensführung auf den Folgen einer Erbkrankheit beruhte - ein Punkt, der innerhalb der sogenannten Wandererfürsorge nach 1933 eine wichtige Rolle spielen sollte.279 Als ein drittes Indiz schließlich für die Hypothese, der Ständige Ausschuß habe mit seinen Änderungsvorschlägen den Entwurf nicht abmildern, sondern verschärfen wollen, erscheint der Antrag, in der Klausel des Entwurfs, die ,auch' die Zustimmung des Pflegers 278

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Man dachte dabei in erster Linie an die Gruppe der Schwachbegabten und schwer belasteten Psychopathen mit ausgeprägtem geschlechtlichen Triebleben, das durch eine bloße Sterilisation ja nicht beeinträchtigt werde. Wegen der persönlichkeitsverändernden Folgen einer Kastration warnte eine Minderheit vor der zu engen Verbindung des Sterilisierungsgesetzes mit der Kastration, konnte sich aber, wie die Abänderungsvorschläge (s. w. u.) zeigen, damit nicht durchsetzen; ebd. Vgl. dazu zusammenfassend Wolfgang Ayaß, „Die Verfolgung der Nichtseßhaften im Dritten Reich", in: Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien, 87-101.

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und Vormunds bei entmündigten Patienten vorsah, auf das Wörtchen ,auch' zu verzichten, was doch nichts anderes bedeutete als an der betroffenen Patientengruppe vorbei den Eingriff vorzubereiten. 280 Dies war der Stand der Meinungsbildung zu erbbiologischen Fragen in der Inneren Mission am Ende der Weimarer Republik. Der Staat hatte eugenische Gesetzesinitiativen nur einbringen, nicht aber ihnen Rechtskraft verleihen können, was in Verbindung mit den drohenden Mittelkürzungen jedoch schon genügte, um die innerprotestantische Diskussion auszulösen. Hier wie im Bereich des Politischen vertraute man nicht allein unsicheren erbbiologischen Erkenntnissen, sondern ließ sich von freilich ebenso vagen, hier aber als gesichert geltenden ,rassenhygienischen Erkenntnissen' leiten, die einen pseudologischen Zusammenhang von allgemeinem Geburtensturz, überproportionaler Vermehrung ,Minderwertiger' und dadurch steigenden und unbezahlbar werdenden Kosten der Behindertenwohlfahrtspflege konstruierten. Die sozialdarwinistisch inspirierten Rassenhygieniker aller Richtungen hielten die soziale Utopie für ,machbar', langfristig durch medizinische Eingriffe im Sinne eines alle Vorstellungskraft sprengenden nationalen Züchtungsprogramms das Mißverhältnis von erbgesunden und erbkranken Geburten zu korrigieren, damit der Volksgesundheit zu dienen und Deutschlands Zukunft und Stellung in der Welt im Hinblick auf die Ermöglichung imperialer, wenigstens aber revisionistischer Machtpolitik zu sichern. Hans Walter Schmuhl hat darauf hingewiesen, daß diese gewissermaßen eschatologische Zielsetzung niemals von der Realität einholbar war und deshalb eine Tendenz zu immer weiter ausufernder Radikalisierung besaß, die mit der ,Euthanasie'-Aktion ihren Höhepunkt erreichte.281 Nicht von ungefähr hatten in Treysa v.Verschuer und besonders Schneider vor der unreflektierten Adaption negativ-eugenischer Programme durch die Innere Mission gewarnt, weil sie die Expansionsqualität eugenischer Überlegungen erkannten und voraussahen, daß sich der für eine Unfruchtbarmachung in Frage kommende Personenkreis unüberschaubar erweitern würde. Insofern bestand zwischen Sterilisation und Tötung eine objektive Verbindung, die den beteiligten Medizinern und Theologen subjektiv freilich lange unbewußt blieb und deshalb für eine

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Die verbleibenden Anregungen waren demgegenüber mehr technischer Art und berührten Fragen wie die mögliche Schaffung einer zweiten Beschlußinstanz oder die Anfechtbarkeit der Ausschuß-Entscheidungen bei Vorlage neuer Erkenntnisse. Vgl. sein Papier,Euthanasie im Nationalsozialismus', 8. - Anders dagegen Gisela Bock, die - einer feministischen Perspektive verpflichtet - in der Eugenik primär eine sozialpolitische und keine ideengeschichtliche Bewegung sieht, in der es allerdings auch nicht um den .ökonomisch-sozialen Kampf ums Dasein', sondern vor allem um „den geschlechtlich-sozialen ,Kampf ' um die,Fortpflanzung'" gegangen sei. Sie schlägt deshalb vor, „die Rassenhygiene bzw. Eugenik nicht als Sozialdarwinismus, als mehr oder weniger auf Darwin reduzierbares Denken und Handeln zu bestimmen, sondern als eigenständiges Novum" ; dies., a. a. O., 35 f.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

historische Wertung ihres persönlichen Handelns auch nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden darf. Dennoch ist festzuhalten, daß die grundsätzlich bejahende Haltung der Inneren Mission zur Sterilisation und die Identität mit den im politischen Raum formulierten eugenischen Zielen, die man an Einzelpunkten gern noch weiter gesteckt hätte, die Abwehr des Protestantismus gegen die .Euthanasie' schwächten und ihm nicht jene Glaubwürdigkeit in gleichem Maße zugestanden, die das kompromißlose Nein der katholischen Kirche zu jeglichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit kranker Menschen seit der Enzyklika ,Casti connubii' auszeichnete. 282 II 1.3.2. Das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' So einhellig zustimmend, wie man nach der Lektüre von Harmsens Zeitschriftenbeiträgen und den veröffentlichten Berichten der eugenischen Fachkonferenzen und Ausschußsitzungen meinen sollte, war die Haltung der Inneren Mission zur freiwilligen Unfruchtbarmachung Erbkranker nicht. Die Einrichtungen der offenen und geschlossenen Fürsorge fühlten sich - bis 1933 - in sehr unterschiedlicher Weise von eugenischen Fragen betroffen, und auch in letzteren gab es viele Ärzte und Theologen, die das Thema bezogen auf ihre eigene Arbeit für weniger dringlich hielten. Tatsächlich waren der CA und seine Gesundheitsabteilung unter Harmsen diejenigen Kräfte, von denen die eugenische Diskussion immer wieder forciert wurde; ihre publizistischen Wirkungsmöglichkeiten lassen leicht den Sachverhalt übersehen, daß von hier aus - freilich nicht in bewußt manipulativer Absicht - eine bestimmte Richtung für die gesamte Innere Mission zu sprechen vorgab. Ferner wird man noch einmal berücksichtigen müssen, daß sich darin auch ein gewisser Trend zugunsten negativ-eugenischer Maßnahmen spiegelte. Jene, die sich ihnen entgegenstellten, brachten sich damit bald in den Verdacht völkischer Unzuverlässigkeit, zumal nach der Machtergreifung', so daß kritische und ablehnende Voten überwiegend intern abgegeben wurden. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die kontroverse Diskussion auf der Geschäftsführerkonferenz vom 20. März 1933 über das Sterilisierungsthema. Harmsen hielt wieder einen seiner bekannten Einführungsvorträge, da die Versammlung der Vereinsgeistlichen den Gegenstand bis 1933 kaum behandelt hatte und nur wenige von ihnen als Anstaltsleiter in den eugenischen Fachgremien mitarbeiteten. Zur „Verhütung der ungehemmten Vermehrung asozialer Elemente" gebe es - so Harmsen - die beiden Möglichkeiten Asylierung und Sterilisation, die sich nach Auffassung der Inneren Mission nicht ausschlössen, sondern ergänzten, da auch nach dem Eingriff bei gewissen Patientengruppen eine Bewahrung erfolgen müsse. Er kündigte die baldige Verabschiedung eines

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S. nochmals die genannten Arbeiten von Nowak u. Wollasch und die von Ernst Klee herausgegebene Quellensammlung,Dokumente zur .Euthanasie''.

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Reichsgesetzes zur Unfruchtbarmachung unter Einschluß der Zwangssterilisierung [sie] an,283 was wegen der „Arbeitsunfähigkeit des parlamentarischen Apparates" bisher nicht möglich gewesen sei, und stellte den Schutz des einzelnen (fürsorgerischer Aspekt) und den Schutz der Gesellschaft (Sicherheitsaspekt) in den Vordergrund der Intentionen des Gesetzgebers. In der anschließenden Debatte verwahrten sich jedoch mit dem Leiter der Hoffnungstaler Anstalten, Paul-Gerhard Braune, und dem rheinischen Geschäftsführer Otto Ohl zwei bekannte Persönlichkeiten der Inneren Mission ganz entschieden gegen die Befürwortung der Unfruchtbarmachung durch den Centraiausschuß; sie sahen darin „eine Bankrotterklärung unserer pädagogischen Fähigkeiten und ein Ausweichen vor einer der schwersten Aufgaben, die uns gestellt sind, der Nächstenliebe". Den in Treysa und Berlin verschiedentlich geäußerten Warnungen, die Zustimmung der leitenden Pfarrer zur Sterilisation werde jede Seelsorge an den Betroffenen in den evangelischen Einrichtungen nahezu unmöglich machen, schlössen sie sich vorbehaltlos an, hoben aber auch das wirtschaftliche Moment hervor: Was man denn jenen Politikern entgegnen solle, die zwar Geld für die Unfruchtbarmachung, nicht aber für anschließend notwendige Bewahrungsmaßnahmen bewilligen würden? Während Harmsen auf diese Vorhaltungen hin abwiegelte und von einem nur kleinen Kreis betroffener Patienten sprach, wandte sich der deutschchristliche Pfarrer Peter284 gegen die Ablehnung des bevorstehenden Gesetzes durch die Innere Mission: Sie sei für die Volksgesundheit mitverantwortlich: „Gerade aus unserem christlichen Glauben heraus sind wir daran interessiert, daß die Gesunden in unserem Volke überwiegen." Gehe die Innere Mission auf Distanz, setze sie sich dem Vorwurf aus, aufgrund eigensüchtiger Motive so zu handeln, d.h. nur um die Auslastung ihrer Anstalten besorgt zu sein - womit er zum Ausdruck brachte, daß er die differenzierte Argumentation der Befürworter um Harmsen nicht begriffen hatte, die wegen der in den meisten Fällen fortzusetzenden Asylierung gar keine Entleerung ihrer Einrichtungen erwarteten. 285 Am 14. Juli 1933 verabschiedete das Reichskabinett jenes ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses', das Fachleute schon lange erwartet hatten. 286 Es war im Reichsministerium des Innern unter maßgeblicher Beteiligung des Ministers 283

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Auf Grund seiner guten Kontakte zu den Referenten des Rdl, besonders zu dem späteren M D Dr. Arthur Gütt, dürfte Harmsen schon im März von jenem entscheidenden Punkt gewußt haben, der über die Vorstellungen der IM hinausging und an sich nach den Beschlüssen von Treysa und Berlin für sie kaum tolerierbar schien. Es handelte sich um Friedrich Peter, den Vorsitzenden des Ostdeutschen Jungmännerbundes und späteren DC-Bischof der preußischen Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg. Vorstehendes nach dem GK-Prot. v. 20.111.1933; ADW, CA 761 XV. RGBl. 19331, 529-531 V.25.VII. 1933. Die Veröffentlichung erst 11 Tage nach der Kabinettsentscheidung geschah mit Rücksicht auf den Abschluß des Reichskonkordats.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Frick selbst entstanden und führte detailliert acht Erbkrankheiten sowie schweren Alkoholismus als Sterilisationsgründe auf. Eher versteckt sah es in § 12 auch die Möglichkeit zur zwangsweisen Unfruchtbarmachung vor, sofern die neu einzurichtenden Erbgesundheitsgerichte (EGG) diese beschließen sollten, während der Ständige Ausschuß auf seiner ersten Sitzung im November 1932 jeden Zwang noch ausdrücklich verworfen hatte. Ein Antrags recht, noch keine flintragspflicht hatten neben den Betroffenen selbst beamtete Ärzte und die Anstaltsleiter. Dies war aber auch die einzige Abänderung gegenüber den präzisen Vorstellungen der Inneren Mission, die sich mit einigem Recht zugute halten konnte, daß ihre den Entwurf des preußischen Landesgesundheitsrates ergänzenden Vorschläge im Gesetzestext nun berücksichtigt worden waren. 287 Als der Ständige Ausschuß im August wieder zusammenkam, bildeten das neue Gesetz und seine möglichen Auswirkungen, die sich erst nach dem Inkrafttreten am 1. Januar 1934 zeigen sollten, den wichtigsten Beratungsgegenstand. 288 In Kenntnis des Ergebnis- und des wesentlich ausführlicheren Verlaufsprotokolls der Tagung erscheint die Würdigung des Gesetzes durch die Innere Mission in einem anderen Licht, als die Forschung bisher vermutete. Es bleibt unbestritten, daß der Wortlaut des Gesetzes zwar eine Anspielung auf den rassenhygienischen Zweck nicht enthielt, daß aber aus Verlautbarungen parteiamtlicher Stellen im Vorfeld des Kabinettsbeschlusses auf rassenpolitische Zielsetzungen im Sinne des Regimes geschlossen werden mußte. 289 Die These, daß die Innere Mission in dem Gesetz die Erfüllung ihrer eigenen Vorstellungen er287

So Harmsen in seinem Artikel „Das Reichsgesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", in: G F 7.1933, 183-186, 184. Lediglich die Möglichkeit, statt der Sterilisation die Kastration aus therapeutischen G r ü n d e n vorzunehmen, hatte man nicht aufgenommen, was a m 24.XI.1933 mit dem .Gesetz gegen gefahrliche Gewohnheitsverbrecher und über M a ß n a h m e n zur Sicherung und Besserung' nachgeholt wurde; RGBl. 19331, 995. 1935 schuf das,Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' die Grundlage f ü r eine freiwillige Kastration bei entartetem Geschlechtstrieb; RGBl. 19351,773.

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Von dem Ergebnis berichtet der genannte Beitrag Harmsens; an einzelnen charakteristischen Punkten weicht das Verlaufsprotokoll von diesem Bericht jedoch a b ; ADW, C A / G 1600/1. Außerdem liegt noch ein umfangreiches Wortprotokoll vor, a n h a n d dessen sich die Diskussion über den strittigen Punkt des Gesetzes, die zwangsweise Unfruchtbarmachung, besonders plastisch nachzeichnen läßt; ebd. So trat am 8.VI.1933 ein ,Aufklärungsamt für Bevölkerungspolitik und Rassenpflege', später ,Rassepolitisches Amt der N S D A P ' , erstmals an die Öffentlichkeit und propagierte den Kampf gegen den Geburtenrückgang sowie die „Bekämpfung des Rassenniederganges durch Ausscheidung der Fremdrassigen und erblich Minderwertigen". Am 28. VI. 1933 hielt R d l Frick auf der ersten Sitzung des,Sachverständigen-Beirats f ü r Bevölkerungs- und Rassenfragen' seines Hauses eine programmatische Rede, die ebenfalls die „Fremdrassigen" berührte und als „ G r u n d für die geistige und seelische Entartung" benannte; vgl. „Eugenik und Bevölkerungspolitik", in: GF7.1933,161-164, und die auszugsweise Wiedergabe in: IM 28.1933,153-159, Art. „ M a ß n a h m e n der Reichsregierung auf dem Gebiet der Rassenpflege und Bevölkerungspolitik".

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111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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blickte, weil sie die dahinterstehenden qualitativ anderen und die Vorlage ganz wesentlich ausweitenden Intentionen nicht erkannte, 290 bedarf hingegen der Modifizierung: Denn den Teilnehmern der Konferenz war durchaus bewußt, daß man es hier mit ,,erste[n] Maßnahme[n] eines umfassenden Programms der Rassenfrage und Bevölkerungspolitik zu tun hatte", der weitere folgen würden. 291 Freilich dürfte man sich schwerlich vorgestellt haben, daß neben den Erbkranken dann auch Juden und Zigeuner, Mischlinge wie die sogenannten Rheinlandbastarde 2 9 2 und andere als unerwünscht und ,minderwertig' geltende Personen, die einer ,Höherzüchtung' des deutschen Volkes im Wege waren, unter das Gesetz fallen würden. - Zentraleres Gewicht als Reflexionen über nationalsozialistische Rassenhygiene besaß für den Ausschuß das Problem der zwangsweisen Unfruchtbarmachung; hier mußte man entweder energisch protestieren und das ganze Gesetz verwerfen oder nach Kompromissen suchen, die gerade noch im Einklang mit der bisherigen Festlegung erschienen. Wenn man sich für den zweiten Weg entschied, war das nicht in erster Linie prinzipienloses Zurückweichen vor einer politischen Herausforderung, sondern ebenso - vielleicht sogar mehr - die verspätete Realisation einer in verdeckter Form schon in Treysa offenbar gewordenen Haltung, die allerdings 1931 noch nicht mehrheitsfahig gewesen war: Dort hatte im Zusammenhang mit Harmsens Referat über die Rechtslage Pfarrer Behr/Arnstadt die Frage zur Diskussion gestellt, ob der behandelnde Arzt im Dienste der Allgemeinheit nicht auch ohne Rücksprache mit den - ohnehin selten geschäftsfähigen - Patienten den Eingriff vollziehen könne. Wenn sich diese Auffassung in der Anstaltspsychiatrie durchsetze, benötige man kein eigenes Sterilisationsgesetz, da schon allein ,durch die normative Kraft des Faktischen' eine Rechtslage geschaffen und sanktioniert werde, die sich dann auf gängige Praxis gründe. 293 Dieser Ansicht schloß sich in Treysa auch Harmsen an, der das Problem als rein theoretisches wertete: Zwar gehe es nicht an, mit Zwangsmaßnahmen gegen Anstaltsinsassen vorzugehen; es hänge aber lediglich von Überzeugungskraft und psychologischem Einfühlungsvermögen der Pfarrer und Mediziner ab, ob das Einverständnis erreicht werde oder nicht. 294 Auf dem Hintergrund dieser Äußerungen, die wohl auch aus taktischen Gründen nicht ins offizielle Protokoll gelangt waren - man wollte ohne Not

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So Kurt Nowak,,Euthanasie', 95 f. Vgl. das Verlaufsprot., a.a.O., und Harmsens Artikel „Bevölkerungspolitik und Rassenpflege des Nationalsozialismus", in: AfBSF 3.1933, 3-13.Dort umfangreiche einschlägige Zitate aus Hitlers ,Mein Kampf' und Martin Staemmler, Rassenpflege im völkischen Staat. Dazu s. Reiner Pommerin, Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Der Arzt müsse allein nach seinem Gewissen handeln können: „Wenn wir die Entscheidung ins Gewissen verschieben, können Rechtsfolgen nicht entstehen." Vgl. das Wortprot. v. Treysa; wie Anm. 249. Ebd.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

nicht das Vertrauen der Patienten und ihrer Angehörigen in die Anstaltsbetreuung erschüttern wird man die schließlich gefundene Kompromißformel anders und vorsichtiger beurteilen. Weitere Überlegungen traten indessen hinzu: Da zu dem Gesetz noch keine Ausführungsbestimmungen vorlagen, hoffte der Ausschuß auf die abermalige Berücksichtigung seiner - jetzt freilich einschränkenden - Anregungen, zumal er um die guten Beziehungen der CA-Gesundheitsabteilung und ihres Leiters zum Innenministerium wußte. Fünf Forderungen erhoben die Teilnehmer der August-Konferenz, die sie in die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes aufgenommen wissen wollten: Danach sollten die Anstaltsleiter nichtstaatlicher Einrichtungen sowohl von eingeleiteten Verfahren in Kenntnis gesetzt werden als auch die Möglichkeit erhalten, vor den Erbgesundheitsgerichten als Zeugen aufzutreten. Dieses Mitwirkungsrecht dürfe aber das Beichtgeheimnis der geistlichen Vorsteher nicht tangieren - ein vorhersehbarer Zielkonflikt, der bei Hinzuziehung dieser Pfarrer fast unausweichlich erschien, dem sie aber zu entgehen suchen mußten, wollten sie ihr Vertrauensverhältnis zu Patienten und Angehörigen nicht gefährden. 295 Obwohl man zuvor die Zwangssterilisierung abgelehnt hatte, erklärte sich der Ständige Ausschuß nun unter Begrenzung auf Fälle schwerer geistiger Erkrankung damit einverstanden, während der Eingriff bei lediglich Körperbehinderten weiterhin keine Billigung fand. 296 Auch komme die zwangsweise Unfruchtbarmachung in evangelischen Krankenhäusern nicht in Betracht. Schließlich drückte der Ausschuß seine Hoffnung aus, durch verstärkte erbbiologische Aufklärung und intensive Eheberatung 297 werde die Anwendung von Zwang überflüssig, und 295

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Dem widersprach nur Pastor Martin Lensch/Alsterdorfer Anstalten, der bei drohender Gefahr [sc. der Vermehrung Erbkranker] Geistliche nicht an das Beichtgeheimnis gebunden wissen wollte; s.das Wortprot. der Sitzung v. 10.VIII. 1933, a.a.O. Harmsen warb mit Blick auf die Caritas um Verständnis für die Zwangssterilisierung: „Wenn wir eine derartige Bestimmung nicht hätten, würde die Sterilisierung grundsätzlich von katholischer Seite sabotiert und nur im evangelischen Lager durchgeführt." A. a. O. Auf Anregung P. Dr. Stahls wurde allerdings die Möglichkeit offengelassen, auch Körperbehinderte unfruchtbar zu machen, sofern sie neben ihrem Gebrechen Merkmale ,schwerer sittlicher oder sozialer Minderwertigkeit' zeigten. - Aufschlußreich ist auch die abgemilderte Formulierung der Druckfassung, die den Zwangseingriff bei Körperbehinderten lediglich „untragbar" nennt, während das Verlaufsprot. diese als eine „so bedenkliche Vergewaltigung der Persönlichkeitsrechte" qualifiziert, „daß sie vom religiösen Standpunkt aus in keiner Weise zu rechtfertigen" sei. Auch Stahl sah in dem Gesetz den Anfang einer weiter ausgreifenden Politik und fragte nach dem Zusammenhang zwischen Sterilisierung und negativen Ehezeugnissen; andere Teilnehmer sprachen das Problem an, ob Sterilisierte künftig mit Gesunden eine Ehe eingehen dürften oder ob solche Heiraten auf Partner beschränkt bleiben müßten, die beide unfruchtbar gemacht worden seien, woraufhin Harmsen weitere gesetzliche Regelungen in diesem Sinne ankündigte; Wortprot. a.a.O. Wenn man berücksichtigt, daß bis zum Erlaß entsprechender Verfügungen noch mehr als zwei Jahre vergehen sollten, erscheint

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wies auf die in zahlreichen Fällen bestehende Notwendigkeit hin, auch Sterilisierte weiterhin in geschlossenen Anstalten zu bewahren. 298 In ähnlichem Tenor war ein zuvor beschlossenes Schreiben des Centraiausschusses an den Reichsinnenminister gehalten, das die genannten Punkte ausführlich darstellte.299 Hier wie auch in der publizierten Stellungnahme wurde das Gesetz noch einmal ausdrücklich begrüßt. Die Innere Mission sei „durch das tatkräftige Handeln der neuen Reichsregierung auf dem Gebiet der praktischen Bevölkerungspolitik [...] mit lebhafter Dankbarkeit und Freude erfüllt", und dies um so mehr, als die seinerzeit gegebenen Anregungen nahezu vollständig Eingang in das Gesetz gefunden hätten. Auch die Möglichkeit einer Kastration als Fürsorgemaßnahme erwähnte die Eingabe; sie sei aber für triebhafte und haltlose Personen ungeeignet, da sie deren Hang, sich gewerbsmäßig zu prostituieren, nicht Einhalt gebiete. 300 Insgesamt gesehen konnte die Innere Mission mit dem Wortlaut des Sterilisierungsgesetzes zufrieden sein; nahezu alle ihre Vorstellungen schienen verwirklicht, und nach den Aussagen Harmsens über seine mündlichen Verhandlungen mit Arthur Gütt stand zu erwarten, daß die im Dezember folgenden Ausführungsbestimmungen auf die vorgebrachten Bedenken Rücksicht nehmen würden. Überraschenderweise war dies nun keineswegs der Fall, im Gegenteil, die Verordnung vom 5.XII. verschärfte das Gesetz unzweideutig, indem es die Kannvorschrift über die Meldung solcher Personen, die an den in § 1, Abs. 2

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es bemerkenswert, wie deutlich der Konnex von Sterilisationsgesetz und erwarteten restriktiven Heiratsbestimmungen von den Teilnehmern der Tagung bereits erkannt wurde. Vgl. die Eheverbote im „Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes", RGBl. 1935 I, 1246, u n d das sich gegen die Verbindung von J u d e n u n d deutschen Staatsangehörigen richtende Nürnberger „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom September des gleichen Jahres; RGBl. 19351,146f. In diesem Z u s a m m e n h a n g berichtete Harmsen von einer Anregung des verantwortlichen Referenten im Rdl, M D Dr. Arthur Gütt, man könne möglicherweise von der Unfruchtb a r m a c h u n g überhaupt absehen, wenn die dauernde Asylierung des betroffenen Personenkreises gewährleistet sei; ebd. - Der Passus in den Ausführungsbestimmungen V.5.XII.1933, der alternativ zur Sterilisierung die Verwahrung in einer geschlossenen Anstalt vorsah, wurde mit Rücksicht auf die katholische Kirche und die in ihren Einrichtungen betreuten Patienten so gefaßt und kam ohne Beteiligung der IM zustande, die durch ihre Fachkonferenzen immer wieder die Asylierung allein für nicht ausreichend erklärt hatte. Vgl. Anm.303. S. den handschriftlich durchkorrigierten Entwurf des sechsseitigen Schreibens v. 11.VIII.1933; A D W , C A / G 1600/1. Befürchtungen dieser Art spielten bei den Verhandlungen des Ständigen Ausschusses eine große Rolle u n d dienten auch als Argument für eine Dauerbewahrung bereits Sterilisierter; vgl. das Schreiben P. Schlaichs/Stetten v. 5.VIII. 1933, in dem er auf den Schaden für die Volksgesundheit am Beispiel einer nach der Kastration zur „ H u r e " gewordenen ehemaligen Heiminsassin verweist: Die durch die Verbreitung u n d anschließende Krankenhausbehandlung von Geschlechtskrankheiten entstehenden Kosten seien wesentlich höher als eine dauerhafte Anstaltsverwahrung; A D W , C A / G 1600/1.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

bezeichneten Krankheiten litten, in eine Aiiaeigepflicht für Ärzte und darüber hinaus für alle, die mit diesem Patientenkreis beruflich zu tun hatten, umwandelte. 301 Vor allem die Bestimmung, daß in geschlossenen Einrichtungen der Anstaltsleiter für die Anzeige verantwortlich sei, löste neben den besonderen Urlaubs- und Entlassungsvorschriften - für beides galt nun die zuvor durchgeführte Unfruchtbarmachung als Voraussetzung - in der Inneren Mission Beunruhigung aus und zwang den Centraiausschuß, darauf zu reagieren. 302 So hatte man sich die gewünschte Einbeziehung der Vorsteher in das Verfahren nicht vorgestellt. Weder bot die Verordnung eine Sicherung des Beichtgeheimnisses, noch wurden Körperbehinderte wie Blinde, Taube oder mißgebildet Geborene von der (zwangsweisen) Sterilisierung ausgenommen. Der schon erwähnte mögliche Verzicht auf den Eingriff bei dauernder Asylierung konnte zwar als Zugeständnis aufgefaßt werden, ging indessen nicht auf Einwände der Inneren Mission zurück, die sich stets für Unfruchtbarmachung und Verwahrung ausgesprochen hatte, sondern allein auf die Vorstellungen von Caritas und katholischer Kirche im Reichsministerium des Innern. 303 Kritische Reaktionen auf die Verordnung seitens des im Oktober in .Ständiger Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege' umbenannten eugenischen Forums des Centraiausschusses blieben überhaupt weitgehend aus, 304 jedenfalls in den Veröffentlichun-

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„Verordnung zur Ausführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", RGBl. 19331,1021-1035. Vgl. Harmsen, „Zur Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", in: GF 8.1934,1. Am 2. November fand im Rdl eine Konferenz über eine Abmilderung der Ausführungsbestimmungen statt, an der MD Dr. Buttmann mit 10 Fachreferenten des Ministeriums und die Bischöfe Gröber/Freiburg und Berning/Osnabrück teilnahmen und deren „fast einzig günstiges Ergebnis" in der Zusage Buttmanns lag, Dauerpatienten geschlossener Anstalten und Pfleglinge im Kindesalter von der Sterilisierung auszunehmen; vgl. Bernhard Stasiewski, Akten Deutscher Bischöfe 1,434, und Hans-Josef Wollasch, „Kirchliche Reaktionen auf das,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses'". Vgl. das Einladungsrundschreiben des Referats Gesundheitsfürsorge an die Mitglieder des Ständigen Ausschusses V.30.X.1933; ADW, C A / G 1601/3. Daraus geht auch hervor, wie zuversichtlich man immer noch auf eine Berücksichtigung der IM-Forderungen im Zusammenhang mit der bevorstehenden Verordnung rechnete. - Mit der Umbenennung folgte der CA einem Zeittrend, der mit der .Machtergreifung' die Vorherrschaft des Terminus ,Eugenik' zugunsten des Begriffs .Rassenhygiene' beseitigte. Martin Staemmler definierte 1933 den Unterschied in der Weise, daß Eugenik nur danach frage, ob Menschen, Familien und Völker gesund seien und sich nicht um rassische Merkmale kümmere. Rassenhygiene bzw. -pflege solle dagegen „auch der Zusammensetzung des Volkes aus den verschiedenen Einzelrassen ihre Aufmerksamkeit schenken und, wo es nötig ist, versuchen, diese Zusammensetzung zu beeinflussen. Eugenik ist Rassenpflege der bastardisierten Völker. Reine Eugenik wird nur der treiben, der von der angeblichen Gleichheit der Rassen, von deren gleichmäßigem Wert überzeugt ist. Wer das nicht ist, muß sich folgerichtig zur Rassenpflege bekennen." Vgl. ders., Rassenpflege im völkischen Staat, 49, und Peter Weingart, „Eugenik - Eine angewandte Wissenschaft", 331.

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gen von Harmsens Abteilung und im zentralen Organ ,Innere Mission'. Das hatte mit einer Entwicklung zu tun, die das Thema ,Sterbehilfe' plötzlich wieder aktuell machte und deshalb zunächst Mutmaßungen über die kommende Durchführung des Gesetzes vom 14. Juli in den Hintergrund drängte. Daß die staatlichen Planungen zur Erbgesundheitspflege und Rassenhygiene bei dem Gesetz vom 14. Juli nicht stehenbleiben würden, war den Fachleuten der Inneren Mission nicht verborgen geblieben; sie verbanden damit aber keine Befürchtungen hinsichtlich der Zukunft ihrer Einrichtungen, sondern bauten darauf, daß es in erster Linie positiv-eugenische Maßnahmen sein würden, die als nächstes an der Reihe wären. Um so entsetzter müssen die Mitglieder des Ausschusses gewesen sein, als eine Denkschrift des kurzzeitigen preußischen Justizministers Kerrl über eine Strafrechtsreform in nationalsozialistischem Geiste auch Vorschläge zur Abänderung der bisher strafrechtlich verfolgten Tatbestände ,Sterbehilfe' und ,Vernichtung lebensunwerten Lebens' machte. 305 Danach war die Tötung auf Verlangen eines unheilbar Kranken oder seiner nächsten Angehörigen generell milder zu bestrafen als ein gewöhnliches Tötungsdelikt und konnte sogar straffrei bleiben, wenn ein „Unrechtsausschließungsgrund", d. h. ein die Tat bejahendes Gutachten zweier beamteter Ärzte vorlag und der die Tötung Ausführende selbst approbierter Mediziner war. Obwohl der Entwurf die aktive .Euthanasie' bei unheilbaren Geisteskranken nicht ausdrücklich erörterte, verwarf er für diesen Fall die „Schaffung eines Unrechtsausschließungsgrundes" und sprach dem Staat das Recht zu, auf gesetzlicher Grundlage die „Ausschaltung aus dem Leben" solcher Personen kraft staatlicher Machtvollkommenheit anzuordnen. Im Kontext der mit Spannung erwarteten Ausführungsbestimmungen gewann der Strafrechtsänderungsentwurf des preußischen Justizministeriums für die konfessionellen Träger eine Bedeutung, die er ohne das zum 1. Januar in Kraft tretende Sterilisierungsgesetz wohl kaum erhalten hätte. Hinzu kam als verschärfender Faktor eine im Sommer des Jahres entfachte massive Propagandakampagne in der parteinahen Presse, die in der Bevölkerung um Verständnis für die geplanten medizinischen Eingriffe warb und nicht zimperlich in der Wahl ihrer Mittel war. Phantasiesummen wurden als Pflegesätze genannt, die durch die .Minderwertigen'-Fürsorge der Allgemeinheit entgingen, und großer Wert auf drastische Schilderungen über die ,Gemeingefährlichkeit' und Sozialschädlichkeit von Geisteskranken und „lebensunwerten Gebrechlichen" gelegt. So konnte in den Heil- und Pflegeanstalten der sicherlich zutreffende und womöglich beabsichtigte Eindruck entstehen, als ob Denkschrift und Ausführungsbestimmungen in engem Zusammenhang stünden, ja, als ob der Justizminister auf letztere im Sinne der genannten Abschnitte zu Sterbehilfe und Tötung Einfluß neh-

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Nationalsozialistisches Strafrecht, 86f.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

men werde. Die Innere Mission sah sich deshalb genötigt, noch vor Erlaß der Durchführungsverordnung eine Konferenz ihres Ständigen Ausschusses einzuberufen, der nicht nur für sie, sondern zugleich im Namen der Reichskirche eine offizielle Stellungnahme vorbereiten sollte. Zu dieser nach Treysa zweiten großen Zusammenkunft, auf der das ,Euthanasie'-Thema eine beherrschende Rolle spielen würde, lud Harmsen bekannte Fachleute wie die Theologen Althaus und Schreiner sowie die Mediziner Schneider, jetzt Heidelberg, den Direktor der Charite-Nervenklinik, Bonhoeffer, und den Chefarzt von Großhennersdorf, Meitzer, ein. Insbesondere Paul Althaus zeigte sich von den der Einladung beiliegenden Informationen zur preußischen Denkschrift tief betroffen, mußte aber wie auch die drei Mediziner wegen dringender anderer Verpflichtungen absagen.306 Anläßlich der Eröffnung der Tagung, die am 6. November wiederum in Berlin stattfand, wies Schirmacher auf das ,Wächteramt' der Inneren Mission in der Frage einer Tötung ,unwerten Lebens' hin, das sie für die deutsche evangelische Kirche wahrzunehmen habe; man wolle in diesem Kreis die Grundlage für eine Intervention der verfaßten Kirche im preußischen Justizministerium erarbeiten. 307 Davon hielt der ebenfalls anwesende Vorsitzende des Evangelisch-Sozialen Kongresses und ehemalige Reichsgerichtspräsident Walter Simons allerdings nicht viel;308 der richtige Adressat für eine Eingabe sei vielmehr das Reichsjustizministerium, auf das der Vorstoß Kerrls in Wirklichkeit ziele. Er - Simons sei bereit, mit Hilfe seiner alten Beziehungen auf dieses Ressort im Sinne der Inneren Mission einzuwirken. - Anders als in Treysa unterblieben diesmal ausführliche erbbiologisch-rassenhygienische Erörterungen; man diskutierte vielmehr die Folgen der drohenden gesetzlichen Regelung für die Anstalten der Inneren Mission und beriet mögliche Abwehrmaßnahmen. Niemand der anwe-

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Althaus schrieb: „Ihr Brief hat mich sehr erschreckt und bewegt. Ich hatte zwar immer befürchtet, daß derartiges einmal käme, aber daß es so weitgehend Durchbrechung der evangelischen Haltung sein würde, ahnte ich nicht. Ich bin froh, daß Sie an die Vorarbeit für eine Stellungnahme der,deutschen evangelischen Kirche' gehen." Brief an Harmsen V.31.X.1933; Schneider an Harmsen V.5.XI.1933; Bonhoeffer an Harmsen V.6.XI.1933; ADW, C A / G 1601/3. Zum folgenden vgl. das Wortprotokoll; ADW, C A / G 1601/1. - Das Interesse der Reichskirchenregierung an der Konferenz wurde durch die Anwesenheit ihres Vertreters Dr. Erich Ruppel dokumentiert, der mitteilte, die Reichskirche habe sich wegen der Vorarbeiten zur Reform des Strafrechts ebenfalls an das Justizministerium gewandt und hoffe nach der eingetroffenen Antwort, auf das Verfahren Einfluß nehmen zu können. Sie sei dankbar, daß die IM sich ebenfalls mit den anstehenden Fragen beschäftige, und bitte um die Überlassung einschlägigen Materials. Zu Walter Simons vgl. die beiden Bände von Horst Gründer: Walter Simons, die Ökumene und der Evangelisch-Soziale Kongreß, und: Walter Simons als Staatsmann, Jurist und Kirchenpolitiker.

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senden Ärzte sprach sich für den Entwurf aus,309 obwohl einige von ihnen die Anwendung der passiven Sterbehilfe im Einzelfall nicht ablehnten, dies aber in die persönliche Gewissensentscheidung des Arztes gestellt sehen wollten und juristische Normsetzungen ausdrücklich verwarfen. 310 Den Grund dafür nannte Dr. Anthes/Scheuern, wenn er die Tötung von unheilbar Geisteskranken nicht mehr als ,Euthanasie' im ursprünglichen Sinne des Wortes, sondern als „Vernichtung lebensunwerten Lebens" qualifizierte und dafür plädierte, solche Pläne unverzüglich aufzugeben, bevor damit „Unheil" angerichtet werde. Nach seinen Berechnungen kämen höchstens 1% aller Patienten auf Grund der Kriterien von Binding/Hoche für die .Ausschaltung' in Frage, was rassenhygienisch ohne Belang sei. Die Motive, warum der Gesetzgeber dennoch daran festhalte, sahen zahlreiche andere Diskussionsteilnehmer in einem materialistisch-liberalistischen „Abgleiten" des Nationalsozialismus, dessen Anhänger noch immer fiskalischen Lösungen zur Bewältigung der Krise der Wohlfahrtspflege vertrauten. Wer den neuen Staat bejahe, müsse ihn von solchen überwundenen Irrwegen abzubringen suchen. - Ein anderer Punkt der Debatte zielte auf die schwerwiegende Vertrauenskrise, die sich in den Einrichtungen der Inneren Mission zwischen Medizinern und Pflegebefohlenen bemerkbar mache: Der Entwurf sorge schon jetzt für Unruhe; in früheren Reichstagswahlen - so Superintendent Klaer/Magdeburg-Cracau - hätten die Sozialdemokraten nämlich damit agitiert, daß nach Übernahme der Regierungsverantwortung durch die NSDAP die Geisteskranken umgebracht würden, und nun komme das Gesetz wie zur nachträglichen Bestätigung dieser seinerzeit als Parteipropaganda bewerteten Aussage. Auch die Behinderten blieben Volksgenossen, denen man „helfen" und nicht aus der Volksgemeinschaft „forthelfen" dürfe: „Es gilt, die Grundsätze unseres dritten Reiches reinzuhalten." 3 " - Schließlich kamen auch theologische 309

Anders dagegen der abwesende Dr. Ewald Meitzer, der in seiner Antwort an Harmsen vom 5.XI.1933 schrieb, er sei mit der ,Tötung auf Verlangen' und der Schaffung eines ,Unrechtsausschließungsgrundes' prinzipiell einverstanden, wende sich aber gegen die Berücksichtigung der entsprechenden Wünsche von Angehörigen, da man nicht sicher sein könne, ob hier nicht sittenwidrige Beweggründe' eine Rolle spielten. Allerdings verwarf auch Meitzer jede Möglichkeit einer staatlichen Anordnung zur Tötung von unheilbar Geisteskranken, weil man dann unvermeidlich „mit den christlichen Forderungen in Konflikt" gerate; wie Anm. 307. Zur Position Meitzers vgl. a. seine Aufsätze „Zur Frage der Euthanasie beim normalen Menschen", in: Ethik 10.1933/34, 34-40, und ders., „Euthanasie auch bei Geisteskranken?", ebd., 82-90. - S. ferner die Zulassungsarbeit von Almut Neumann, Leben und Werk des Psychiaters Ewald Meitzer, und S. 66 f. eines unveröffentlichten Manuskripts ,zur katholisch-caritativen Arbeit mit Geistigbehinderten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts' von Hans-Josef Wollasch, das dieser dem Vf. dankenswerterweise zugänglich machte.

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So Prof. Dr. Heyse/Landesheil- und Pflegeanstalt Bernburg/S., der für den anhaltischen Landesausschuß für IM an der Sitzung teilnahm. Pfr. Werner/Stiftung Tannenhof b. Remscheid berichtete von der bei ihm grassierenden Furcht unter den Patienten, die durch die antisemitischen Ausschreitungen und sogar

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Erwägungen nicht zu kurz,312 wenngleich außer der Ablehnung jeglicher Tötung ein darüber hinausgehender Konsens nicht gefunden werden konnte. Prof. Schreiner/Rostock hielt das gemeinsame Vorgehen für das wesentliche Problem, nämlich ob die Kirche von einem bekenntnismäßigen Apriori aus argumentieren oder sich auf die Diskussion darüber einlassen solle, warum die .Euthanasie' in christlicher Perspektive einem gesunden Volkstum, das auch seine Schwachen zu akzeptieren habe, schade. Der Leiter der Apologetischen Centrale, Lic. Walter Künneth, verwarf noch einmal grundsätzlich den Gedanken, durch die Tötung eugenische und ökonomische Vorteile erzielen zu können, als illusionär: „Man tut so, als ob die Volksordnung eine reine Schöpfung wäre, [als] ob es einen vom Leid freien Zustand geben könnte. Mit dieser Haltung flieht man vor der eigenen konkreten Volkswirklichkeit." Pfarrer Dr. Depuhl/Hannover schließlich wies auf den ,wunden Punkt' in den bisherigen Debatten des Ständigen Ausschusses hin, wenn er die Befürchtung äußerte, so wie man in der Frage der (Zwangs-)Sterilisation zurückgewichen sei, werde unter Umständen auch nach Inkrafttreten des umstrittenen Gesetzentwurfes eine theologische Begründung dafür kommen: Man brauche nur an außergewöhnliche Zeiten wie Krieg und Hungerkatastrophen zu denken, in denen die Versorgung des betroffenen Patientenkreises zugunsten der gesunden Bevölkerung eingeschränkt, wenn nicht gar aufgehoben werden könnte; so bereite man als Notstandsmaßnahme den Boden für die'Tötung per Gesetz.313 Ob die Theologie dann stark genug sei, um zu sagen: „Das Volk muß seine Alten und Schwachsinnigen ernähren, auch wenn es etwas früher dabei kaputtgeht"? Er wolle nicht erleben, daß man jetzt ein festes Nein proklamiere „und hinterher eine tadellose theologische Begründung" liefere, wenn die Vernichtung doch gesetzlich verankert werde. Schreiner merkte dazu kritisch an, die Innere Mission sei nicht ,umgefallen' und vertrete nach wie vor nur die freiwillige Sterilisierung; eine prophylaktische Stellungnahme zur Tötungsfrage in Notzeiten sei aber unmöglich, denn die Theologie

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durch das bloße Bekenntnis von Anstaltsärzten zum Nationalsozialismus ausgelöst worden sei. P. Staats/Braunschweig brachte diese Befürchtungen auf den gleichen deutlichen Nenner, als er ausführte: „Wir schaffen Verwirrung der Gefühle, wenn ein Kranker in die Anstalt eingeliefert wird und wir ihn als Leiche zurückgeben." Ähnlich drückte sich Pfr. Behr/Arnstadt aus: „Was sollen die Diakonissen machen, wenn der Patient denkt, er wird jeden Augenblick vergiftet. Solche Gedankengänge [sc. des Gesetzentwurfes] sind unwürdig." Vgl. das Wortprot., a.a.O. Den Vorschlag, bei den theologischen Fakultäten ein Gutachten über die ,Euthanasie'-Frage einzuholen, lehnte Schirmacher mit Blick auf die unterschiedlichen Aussagen der Marburger und Erlanger Fakultät zum Problem des Arierparagraphen ab. Vgl. zu diesem Komplex Meier 1,116 ff. Die Vorstellung eines Notstandes, in dem die Regierung gezwungen sein könnte, Geisteskranke mit Rücksicht auf die Versorgung der Gesunden zu töten, taucht schon bei Meitzer, „Euthanasie auch bei Geisteskranken?", a. a. O., 83 f., auf, der diese im Weltkrieg seinerzeit nicht durchgeführte Maßnahme im übrigen bejaht haben würde.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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laufe gesellschaftlichen Entwicklungen „ihrem Wesen nach" stets hinterher, deshalb wolle auch er seine Entscheidung erst treffen, wenn der angenommene Notfall da sei. Ganz anderer Auffassung war dagegen Harmsen: Gerade in Notsituationen dürfe man die Schwachen nicht als erste opfern, das hieße „das Zerbrechen jeder Solidarität"; aus diesem Grunde sei er wie Depuhl schon jetzt für eine pointierte Erklärung der Kirche zum Problem der,Euthanasie', die nur eine „entschiedene und klare Ablehnung" sein könne. Angesichts des Anspruchs der NSV auf die Arbeit an der Jugend, den Müttern und der Erholungsfürsorge, die von der Inneren Mission auf Dauer sicher nicht zu halten sei, habe sie die Pflicht, den ihr von der NSV zugestandenen Kernbereich ihrer Aufgaben an den Gebrechlichen zu bewahren und diesen Dienst auch für die Volksgemeinschaft zu leisten. Im Ergebnis erfüllte die Konferenz die in sie gesetzten Erwartungen nicht; denn das anvisierte Ziel, eine von der Reichskirche zu übernehmende Resolution vorzubereiten, wurde verfehlt, wie auch die DEK selbst in der Folgezeit eine solche Erklärung nicht abgab. Das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' mit seinen erbbiologischen und rassenhygienischen Komponenten hatte man nicht nur gebilligt, sondern auch erhofft, wie die Reaktionen auf den Vorstoß des preußischen Gesundheitsrates und auf die Verabschiedung des Gesetzes im Juli 1933 zeigen. Lediglich über die potentiellen Auswirkungen dieses Rahmengesetzes, das in den folgenden Jahren eine sukzessive Verschärfung durch zahlreiche Ausführungsbestimmungen und Erweiterungen erfuhr, war man sich zu Anfang offensichtlich nicht klar gewesen. Insofern erscheinen die Eingaben des Centraiausschusses zur Einschränkung des Anwendungsbereichs des Gesetzes von heutiger Warte vielleicht,blauäugig', ja streckenweise von politischem Dilettantismus getragen. Wie ein so heterogen strukturierter Großverband wie die Innere Mission, dessen Amtsträger fast durchweg auf den neuen nationalsozialistischen Staatsaufbau große Hoffnungen setzten und sich auf keine autoritative Entscheidung einer Weltkirche und ihres obersten Bischofs in der Frage der Unfruchtbarmachung stützen konnten, angesichts der beschriebenen Zeitlage zu anderen Optionen hätte kommen können, wird offenbleiben müssen. Abgesehen von den Voten Ohls und Braunes war die Notwendigkeit der Sterilisation schließlich unbestrittene Communis opinio, der man zustimmte, wenn auch mit Einschränkungen, die vor allem Krankheitsarten, zwangsweise Durchführung und die Aufrechterhaltung der Asylierung betrafen. Es kennzeichnet die kirchliche Situation im Herbst 1933,3,4 daß das Gesetz und seine künftige Durchfüh314

Das einzige kirchenleitende Gremium, das sich Ende 1933 mit der Sterilisation beschäftigte und sogar eine Resolution dazu verabschiedete, war die westf. Provinzialsynode auf ihrer Dezember-Tagung in Dortmund. Namens des Ausschusses für IM und Volksmission brachte der Vorsteher des Diakonissenmutterhauses Münster, P.Jungclaußen, eine Entschließung ein, die das Sterilisierungsgesetz als „Notmaßnahme des Staates gegenüber der wissenschaftlich nachgewiesenen [!], fortschreitenden Entartung des deutschen

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

rung an Interesse verloren, als rfian sich durch den Entwurf des preußischen Justizministeriums ganz anderen Herausforderungen gegenübersah. Daß Innere Mission und Kirche auch jetzt schwiegen, jedenfalls was die eigentlich beabsichtigte öffentliche Erklärung namens des deutschen Protestantismus anging, und überzeugt blieben, in internen Verhandlungen ,ihrer Sache' mehr nützen zu können, sollte sich allerdings bald als Fehler erweisen, der auch dann nicht geringer erscheint, wenn man die kirchenpolitischen Ereignisse und den Einfluß der weltanschauungskonformen Deutschen Christen in Centraiausschuß und DEK berücksichtigt. Doch ist dieses ein nur ex post anzuführendes Argument; denn an welche Öffentlichkeit hätten sich die Verantwortlichen angesichts eines von Staat und Partei beanspruchten und rigoros durchgesetzten Meinungsmonopols wenden sollen? - Rein juristisch betrachtet, erlangte die Denkschrift zwar bis 1945 keine Gesetzeskraft, aber die dahinterstehende Gesinnung führender Repräsentanten des Regimes war doch offenbar geworden. Die Aussicht, wohin die darin zum Ausdruck kommende Radikalisierung rassenhygienischer Vorstellungen führen konnte, hätte die Theologen und Ärzte des Ständigen Ausschusses - gemessen an ihrem eigenen Anspruch - jedenfalls skeptischer und vorsichtiger machen müssen, als es geschah. Dazu bedurfte es noch einer weiteren Eskalation, wie jener der Einbeziehung des Schwangerschaftsabbruchs aus eugenischen Gründen, die auf Grund eines Einzelfalles (,Hamburger Urteil') den Ständigen Ausschuß 1934 neben der praktischen Durchführung des Sterilisationsgesetzes im wesentlichen beschäftigen sollte.

Volkes" bezeichnete und Richtlinien f ü r die Haltung der ev. Kirche dazu enthielt. Die Betroffenen seien in ihrer schwierigen Situation auf die Kräfte des Evangeliums hinzuweisen, wie ihnen andererseits gesagt werden solle, vor Gott seien sie nicht „entwertet" u n d es blieben ihnen „große und wertvolle Aufgaben im Volk und in der Kirche". Die Kirche wolle außerdem über den Wortlaut des Gesetzes hinaus vor jeder Eheschließung „warnend auf die Verantwortung vor Gott u n d der eigenen Familie hin[..]weisen, falls nach ärztlichem Ermessen eine ernste G e f a h r der Folgen erblicher Belastung vorliegt". D e r schon genannte Bielefelder Arzt Dr. Wichern sowie die Theologen u n d Anstaltsleiter V.Bodelschwingh/Bethel und Vietor/Volmarstein setzten sich im Plenum für die A n n a h m e des Antrags ein; nur d e r Synodale Staatsanwaltschaftsrat Frowein erhob theologische [!] Bedenken vor allem gegen d e n ersten Passus: O b der Staat mit diesem Gesetz nicht in den göttlichen Schuldspruch eingreife ,„Ich will die Sünden der Väter rächen bis ins dritte und vierte Glied'"? Als Kirche müsse man nicht zu allem j a sagen und vor allem die innere Seite der Angelegenheit berücksichtigen. - Trotz dieses bemerkenswerten Einspruchs eines juristisch geschulten .Laien', der unbeschadet seiner Motive doch vor einer unkritischen Bejahung des Gesetzes warnte, wurde der Antrag bei einer Enthaltung angen o m m e n ; weitere Folgen hatte die Resolution nicht: Der Aktenlage und der zeitgenössischen Literatur nach zu urteilen, nahm man sie innerhalb der IM überhaupt nicht zur Kenntnis. Vgl. Verhandlungen d e r 33. Westfälischen Provinzialsynode, 46-53.

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111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938 III.3.3.

Die Durchfiihrung

der Erbgesundheitsgesetze

und die Innere

Mission

Unabhängig von der Diskussion um die Denkschrift des Preußischen Justizministeriums waren inzwischen die Vorbereitungen für die Anwendung des Erbgesundheitsgesetzes in den Heil- und Pflegeanstalten der Inneren Mission weitergegangen. Mit seiner Inkraftsetzung richtete der Centraiausschuß in Kenntnis der auf die Änderungswünsche kaum eingehenden Ausführungsbestimmungen eine „Auskunftsstelle" ein, die den Landes- und Provinzialverbänden sowie den betroffenen Einrichtungen in strittigen Fällen zur Seite stehen sollte.315 Außerdem wurde die .Anordnung' erlassen - noch galt im CA das von Themel und Schirmacher vertretene Führerprinzip -, daß vor etwaigen öffentlichen Äußerungen der regionalen Untergliederungen das Einverständnis der Auskunftsstelle einzuholen sei, „damit eine einheitliche Linie innerhalb der Inneren Mission gesichert bleibt und Schwierigkeiten mit außerkirchlichen Stellen vermieden werden". In gleichzeitig stattfindenden Verhandlungen mit Dr. Gütt vom Innenministerium konnte die mündliche Zusicherung erreicht werden, die Anstaltsleiter von der Anzeigepflicht zu entbinden und diese auf den behandelnden Arzt zu übertragen; daneben sollten die Vorsteher das Recht erhalten, Bedenken gegen den Eingriff im Interesse der Betroffenen schriftlich vorzubringen. Die im Gesetz festgeschriebene medizinische Schweigepflicht wollte Gütt so verstanden wissen, daß eine Benachrichtigung der für die Unterbringung und Betreuung Verantwortlichen durchaus möglich sei. Schließlich vereinbarte man den Erlaß von besonderen Richtlinien, die nach Erscheinen des angekündigten Kommentars, 316 an dem Gütt maßgeblich beteiligt war, im Benehmen mit seinem Hause ausgearbeitet werden sollten. Es war charakteristisch für die Taktik des Ministeriums, der Inneren Mission zwar intern Zugeständnisse zu machen, diese jedoch nicht schriftlich zu fixieren. Offensichtlich bemühten sich Gütt und sein Referat jedoch um die förmliche Wahrung einer rechtsstaatlichen Verfahrensweise und um ein gewisses Entgegenkommen, schon weil die Innere Mission anders als die Caritas das Gesetz ausdrücklich bejahte, dessen Ausführung in den evangelischen Krankenhäusern damit ohne .Reibungsverluste' erfolgen konnte. Man legte sich seitens des Rdl jedoch nicht eigentlich fest und konnte solche informellen Absprachen jederzeit rückgängig machen, wenn es die politischen Rahmenbedingungen und der erwartete Gewöhnungseffekt der (Zwangs-)Sterilisierung opportun erscheinen ließen. Die extensive Auslegbarkeit des Gesetzes vom 14. Juli 1933, die sich durch die Änderungsverordnungen und Ergänzungen der kommenden Jahre 315

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Die Einrichtung der Auskunftsstelle gab der CA am 28.XII. 1933 bekannt; vgl. das CARundschreiben an die Landes- u. Provinzialverbände v.25.1.1934; ADW, C A / G 1801/7, und GF 8.1934,1. Gemeint ist A.Gütt/E. Rüdin/F. Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

immer deutlicher herausschälte, demonstriert darüber hinaus, daß sich schon die ursprüngliche Fassung „vom Prinzip des Rechtes und Rechtsschutzes weit entfernt" hatte.317 Von daher besaßen die bloß mündlichen Vereinbarungen zur Entschärfung der Vorlage eine Konsequenz, die in ihrer fatalen Auswirkung von den konfessionellen Trägern indessen lange Zeit nicht durchschaut wurde; vielleicht auch deshalb nicht, weil maßgebliche Persönlichkeiten gerade der Inneren Mission das Sterilisierungsgesetz seit Anfang der 30 er Jahre immer wieder gefordert hatten und nun einfach nicht wahrhaben wollten, daß die dahinterstehenden Intentionen andere geworden waren, die mit den ursprünglichen und für vertretbar gehaltenen Zielen nicht mehr in Einklang standen. Zur Beratung der erwähnten ,Richtlinien' kam der Ständige Ausschuß am 13. Juli wieder zusammen. Nach einem Referat über Finanzierungsprobleme und Fragen der Abgrenzung gegenüber der NSV 318 fand ein eingehender Erfahrungsaustausch über die gerade angelaufene Sterilisierungspraxis in den einzelnen Anstalten statt. Auffällig viele Klagen wurden in diesem Zusammenhang vorgebracht, die sich vor allem auf die Kooperation mit den staatlich-medizinischen Instanzen, aber auch auf das nicht immer konforme Verhalten der Betroffenen bezogen. Mehr als aus den Schilderungen vieler Einzelschicksale wird in den knappen Berichten der Anstaltspsychiater die lebensgeschichtliche Dimension der (zwangsweisen) Unfruchtbarmachung kenntlich, die nicht allein einen körperlichen Eingriff bedeutete, sondern von zahlreichen Patienten mehr noch als Verletzung ihrer seelischen Integrität verstanden wurde. Anlaß dazu war in zahlreichen Fällen gegeben: So stellten manche Wohlfahrtsämter offensichtlich

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So Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 400. Harmsen und Schirmacher sprachen über die „Stellung der N. S. Volkswohlfahrt zur Gebrechlichenfürsorge und die Frage der Finanzierung dieser Arbeit durch die Innere Mission". Sie behandelten in erster Linie Schwierigkeiten, die sich durch den bekannten Anspruch der NSV auf die Betreuung der Rehabilitationsfähigen und die verstärkte Konzentration der konfessionellen Verbände auf die Arbeit an den unheilbar Kranken ergab e n ; auch die restriktive Sammlungsgesetzgebung wurde ausführlich thematisiert, wobei man den Vorschlag Schirmachers, durch die G r ü n d u n g von Freundeskreisen auf Dauer eine Selbstfinanzierung der freien Wohlfahrtspflege auf diesem Sektor zu sichern, als unrealistisch verwarf. Der Staat trage auch Verantwortung für jene, die innerhalb der Volksgemeinschaft zu den Unproduktiven' zählten; wenn er dies schon nicht aus ethischer Verpflichtung tue, dann wenigstens, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. - Der Grundtenor der Debatte war außerordentlich skeptisch; so prophezeite Schirmacher, der NS-Staat werde auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege mit immer neuen Überraschungen aufwarten, auf die sich die IM einstellen müsse. RAM und Rdl ließen die Tendenz erkennen, die Gebrechlichenfürsorge mehr und mehr den Kirchen zuzuschieben, und würden dabei von Hilgenfeldt unterstützt, eine Feststellung, die der neue Chefarzt von Bethel, Prof. Villinger, als in sich logisch bezeichnete, weil die NSV, die den in den Anstalten verwahrten Patientenkreis als lebensunwert betrachte, sich kaum in der Lage sehen könne, auch für diese Klientel zu sorgen. Vgl. das Wortprot. der Sitzung v. 13.VII.1934 mit der Anlage 3 ; A D W , C A / G 1601/1.

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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schon Sterilisierungsanträge [1934!], wenn von ihnen unterhaltene unverheiratete Mädchen mehrfach niederkamen, und konstruierten die Begründung ,leichter Schwachsinn', auch wenn das gar nicht zutraf, lediglich um Unterhaltsmehrkosten zu sparen.319 Manche Frauen ließen sich aus Protest gegen den geplanten Eingriff ganz bewußt auf eine Schwangerschaft ein, womit sie freilich riskierten, daß die zuständigen Fürsorgeämter lange vor Bekanntwerden des sogenannten Hamburger Urteils, das Sterilisierung und gleichzeitige Abtreibung bei schwangeren Erbkranken befürwortete, sie auch ohne gesetzliche Grundlage zum Abort zwangen; denn die legislative Sanktionierung der eugenischen Indikation im Zusammenhang mit dem Paragraphen 218 und dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses erfolgte erst im Oktober 193 5.320 Ein anderer Punkt betraf die mangelnde psychologische Begleitung des Verfahrens. Besonders das in medizinischer Fachterminologie gehaltene Merkblatt, dessen Kenntnisnahme durch den Patienten vorgeschrieben war und keine Rücksicht auf dessen innere Verfassung nahm, erregte Anstoß und vermittelte oftmals ein - emotionales, wenngleich verständliches - Gefühl sittlicher Diskriminierung, das einige der Betroffenen sogar zum Suizid getrieben hatte. Wie Gerda Lucas aus der Berliner Gefährdetenfürsorge darüber hinaus mitteilte, warteten dort gelegentlich Zuhälter die Entlassung der sterilisierten Mädchen aus den Kliniken ab, um sie dann ihrem Gewerbe zuzuführen, was sich groteskerweise auch stabilisierend auf das Selbstbewußtsein dieser jungen Frauen auswirken konnte, wohl weil sie sich der Illusion hingaben, doch nicht,unnütz' zu sein. Am bedrückendsten machte sich die qualitative Veränderung des Anstaltsklimas für die von der Unfruchtbarmachung bedrohten Insassen bemerkbar: Die geschlossenen Einrichtungen wandelten sich de facto und im Bewußtsein der von einem Eingriff bedrohten Pfleglinge zu Gefängnissen, weil nur strenge Verwahrung in staatlich anerkannten Häusern, die bestimmte Auflagen zu erfüllen hatten, vor einer Sterilisierung schützen konnte.321

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Scharfe Kritik übte Harmsen, der diese Information weitergab, auch an der Art der Intelligenzprüfung: „Wir stehen nun vor der Schwierigkeit, daß eine Gruppe von leicht Schwachsinnigen herausgegriffen wird, die überhaupt nicht schwachsinnig ist, sondern nur nicht intellektuell, wie das von der Schule als Durchschnitt angesehen wird. Es ist eine Menschengruppe, die sich im Leben sehr bewährt, sowohl manuell und handwerklich tüchtig ist, mit ausgesprochen mütterlichen Gefühlen, und die werden jetzt fortsterilisiert . . ,";ebd. Vgl. dazu Abschnitt III. 3.4. In der Regel mußten zusätzliche bauliche Maßnahmen wie die Einfriedung des Anstaltsgeländes, Verlegung öffentlicher Wege, die bisher durch die Einrichtungen führten, etc. vorgenommen werden, die auch den Pfleglingen katholischer Heime das Gefühl vermittelten, nun,eingesperrt' zu sein'; frdl. Mitteilung von Dr. H.-J. Wollasch v. 7.V. 1985. - Ein denkwürdiger Zwischenfall ereignete sich Mitte 1934 in Rickling/Schleswig-Holstein; dort gehörte das ganze Dorf zum Anstaltsbereich, dem gegenüber ein Konzentrationslager errichtet worden war. Als einer der Patienten („Epileptiker aus gutem Hause, ethisch

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

D i e L ö s u n g s v o r s c h l ä g e der v e r s a m m e l t e n M e d i z i n e r u n d T h e o l o g e n zur Überw i n d u n g der u n e r w ü n s c h t e n B e g l e i t u m s t ä n d e d e s G e s e t z e s enthielten im Kern v i e l f a c h den Rat zur U m g e h u n g der Durchführungsvorschriften. U m d a s Vertrauensverhältnis z w i s c h e n Arzt, A n g e h ö r i g e n u n d Patienten nicht zu belasten, w u r d e n letzteren m e i s t d i e staatlichen Merkblätter nicht vorgelegt, s o n d e r n nur a u s z u g s w e i s e v e r l e s e n ; auch d i e Urteile der Erbgesundheitsgerichte

bekamen

d i e P f l e g l i n g e nicht z u Gesicht, auf deren g e g e n s e i t i g e positive B e e i n f l u s s u n g m a n e t w a in Bethel mit Erfolg setzte. H i e r g a b e n z u d e m gute und freundschaftlic h e K o n t a k t e z w i s c h e n Amts- u n d Anstaltsärzten d e n A u s s c h l a g für e i n e b e s o n ders reibungslose A n w e n d u n g d e s G e s e t z e s , s o d a ß k a u m ein h a l b e s Jahr n a c h d e s s e n Inkrafttreten bereits 1.700 der rund 3 . 0 0 0 b e t r o f f e n e n P e r s o n e n g e m e l d e t waren. N u r e t w a 42 o d e r 2,5% v o n i h n e n hatten Kreisarzt, Vorsteher o d e r A n g e hörige zur A n z e i g e gebracht; d i e übergroße Mehrheit stellte a u f g r u n d der intens i v e n Ü b e r z e u g u n g s a r b e i t ' der Anstaltsleitung d e n Antrag aus freien Stücken. M a n hatte i h n e n w i e andernorts a u c h die freiwillige U n f r u c h t b a r m a c h u n g als .vaterländisches O p f e r ' nahegelegt, d a s es der G e m e i n s c h a f t zu bringen gelte, u m d i e Z u k u n f t d e s d e u t s c h e n Volkes zu sichern. 3 2 2 Villinger, der diese Z a h l e n

hochstehender Mensch, alter Pg.") die Mißhandlung eines Häftlings durch die Wachmannschaften miterlebte und lautstark dagegen protestierte, wurde er verprügelt und festgenommen, Ortspolizei und Anstaltsleitung aber dafür verantwortlich gemacht, daß der M a n n sich draußen frei bewegen konnte; vgl. das Wortprot., a . a . O . Z u m KZ RicklingKuhlen, das von Juli bis Oktober 1933 als Schutzhaftlager diente und auf dem zur Anstalt Rickling gehörenden Gut Kuhlen untergebracht war, cf. Bernd Eichmann, Versteinert Verharmlost Vergessen, 23-28, Peter Sutter, Der sinkende Petrus, und Harald Jenner, Konzentrationslager Kuhlen 1933. Auch nach Auflösung des eigentlichen K Z diente Kuhlen als Zwangsarbeitslager f ü r Nichtseßhafte und Sicherheitsverwahrte, die im dortigen Moor Rekultivierungsarbeiten verrichten mußten. - Im Einzelfall kam es zu abmildernden Vereinbarungen mit den zuständigen Kreisärzten, die zu einer Lockerung der Auflagen führen konnten: So wurden f ü r die Patienten von Scheuern/Nassau besondere Ausweise ausgegeben, deren Inhabern der Kreisarzt Urlaub gewährte, freilich auf alleinige Verantwortung der Anstalt, die f ü r den Fall einer trotz aller Vorsichtsmaßnahmen eintretenden Schwangerschaft einer Patientin mit Repressalien zu rechnen hatte. Ebd. S.a. den Art. „Nochmals: Geschlossene Anstalten", in: G F 9.1935, 96-98, der einen Runderlaß des Reichs- und Preuß. M d l v. 12.111.1935 wiedergibt. 322

Der Opfergedanke spielte auch in der theologischen Begründung der Sterilisation eine wichtige Rolle, womit die Verfechter dieser Deutung an den Opfertod Jesu anknüpften eine mehr als problematische Sichtweise vor allem im Hinblick auf die ungesicherten Erkenntnisse der Erblehre und den Synkretismus christlicher und ideologischer Inhalte der zeitgenössischen eugenischen Forderungen. Vgl. dazu besonders die Ausführungen von Pfarrer Ernst Kleßmann/Eckardtsheim und Gerda Lucas/Berlin, der späteren Geschäftsführerin des Ev. Frauen werks, die das Recht des Menschen auf seinen Körper als überholte liberalistische Forderung verwarfen und deren theologische' Argumentation nach einem kritischen Diktum Kurt Nowaks in der Rückschau nicht „wie Seelsorge, sondern wie eine theologisch getarnte Überredungstaktik" anmutet. Vgl. E. Kleßmann, „Auswirkungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses f ü r den seelsor-

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selber nahnte, lobte die zurückhaltende Rechtsprechung des Bielefelder Erbgesundheitsgerichtes, das sogar in einigen Fällen die Anträge abgelehnt habe, weshalb man mit der großen Zahl der Meldungen im Vertrauen auf sorgfältige Prüfung auch kein Risiko eingehe. Unbefriedigend blieb dagegen die Regelung der Kostenfrage, 323 da Selbstzahler, d.h. Privatpatienten, auch den Eingriff selber finanzieren mußten, was bei ihren dafür in die Pflicht genommenen Angehörigen, die im übrigen meist volles Verständnis für die Maßnahme zeigten, Empörung und Bitterkeit hervorrief. Allerdings hielt auch Villinger daran fest, daß die Unfruchtbarmachung ohne anschließende Bewahrungsmöglichkeit unvollständig bleibe; denn: „Das Sterilisierungsgesetz macht Kranke nicht gesund, Asoziale nicht sozial."324 Der Ertrag der Juli-Konferenz lag in der Verabschiedung eines 17 Punkte umfassenden Richtlinienpapiers, das die neu eingerichtete Auskunftsstelle des Centraiausschusses am 18. Juli verschickte.325 Darin wurde den angeschlossenen Einrichtungen die peinlich genaue Befolgung der gesetzlichen Vorschriften, die Schulung aller Mitarbeiter in eugenischen Fragen und die in geeigneter Form zu veranlassende Unterrichtung der betroffenen Pfleglinge zur Pflicht gemacht. Gegenüber letzteren sollte der Eingriff nunmehr generell mit dem „Gedanken des Opfers für die Volksgemeinschaft" begründet werden. Aus pädagogischseelsorgerlichen Motiven empfahl das Rundschreiben den Vorstehern, die Antragstellung an die Haus- und Anstaltsärzte zu delegieren, was auch im Interesse der Behörden geschah, die insbesondere bei der Unfruchtbarmachung von Fürsorgezöglingen eine Störung des erzieherischen Vertrauensverhältnisses befürchteten. 326 Ähnlichen Zielen diente auch die Verlegung der Verhandlungen der Erbgesundheitsgerichte in die Anstalten selbst, wo die gutachtenden Ärzte einmal die Patienten besser kennenlernen konnten und diese durch die gewohnte Umgebung nicht beunruhigt wurden. Zwangssterilisierungen sollten rechtzeitig an öffentliche Häuser abgegeben werden, weil in den Kliniken der Inneren Mission nur Eingriffe auf freiwilliger Basis vorzunehmen seien. „Ernste Bedenken" bestünden auch hinsichtlich der „Ausräumung und gleichzeitige^]

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gerlichen Dienst", G. Lucas, „Die seelsorgerische Betreuung Sterilisierter und zu Sterilisierender", in: G F 8.1934,253-260, und zu beiden Kurt Nowak, .Euthanasie', 104f. In Bethel kostete nach Villingers Angaben die Sterilisation für einen Mann bei einer stationären Verweildauer von 5 - 7 Tagen 25-28 RM, bei einer Frau mit 10-14 Tagen 50-60 RM; ebd. - Zu den Problemen der Kostenübernahme s.a. G F 9.1935, 4-7, Art. „Kosten des Verfahrens bei Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Mit einer Freudschen Fehlleistung Villingers, vielleicht aber auch durch ein immerhin charakteristisches Versehen des Protokollanten ist es zu erklären, wenn es in der Nachschrift heißt, der „Angriff" [sc. die Operation] werde in einer zum Betheler Diakonissenmutterhaus Sarepta gehörenden Klinik vorgenommen. ADW, C A / G 1 6 0 1 / 1 ; abgedruckt in G F 8.1934,173-177. So die in dem Rundschreiben auszugsweise wiedergegebenen Durchführungsrichtlinien des westf. Oberpräsidenten v. 7. II.1934; a. a.O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Sterilisierung von ,Trotz'-Schwangerschaften" in evangelischen Krankenhäusern - ein Indiz dafür, daß solche Praktiken bereits lange vor Bekanntwerden des Hamburger Urteils und erst recht vor der 1935 erfolgenden gesetzlichen Regelung üblich waren. Schließlich wurden die Heil- und Pflegeanstalten angehalten, sterilisierte und entlassene Patienten weiterhin zu beobachten und Erfahrungsberichte darüber der Auskunftsstelle zuzuleiten. - In Absprache mit Dr. Gütt ließ Harmsen im August ein Ergänzungsrundschreiben hinausgehen, das weitere Klarstellungen enthielt. Es verwarf die Zwangsverbindung von Anzeige und Antragstellung als ungesetzlich und befreite solche Pfleglinge, die sich mit dem Eingriff einverstanden erklärten, von der Ausfüllung derjenigen Rubriken des Fragebogens, die sich auf die in Frage stehende Erbkrankheit bezogen.327 Auch die geforderte Lockerung der Schweigepflicht zur rechtzeitigen Unterrichtung der Eltern und Verwandten wurde zugestanden, damit diese nicht von der Operation überrascht wurden und die Möglichkeit erhielten, stabilisierend auf ihre Angehörigen einzuwirken. Mit der ,Abgabe', d.h. Verlegung von Patienten, die sich weigerten, selbst den Antrag auf Unfruchtbarmachung zu stellen, in nichtkirchliche Kliniken legitimierte die Innere Mission auch diesen von ihr wiederholt grundsätzlich verworfenen Passus des Gesetzes. Sie ließ sich damit auf etwas ein, was einer problematischen Relativierung ihrer ursprünglichen Positionsbestimmung gleichkam, und dies ohne zwingende Notwendigkeit, da die Dauerbewahrung in geschlossenen Abteilungen den Eingriff ja überflüssig machen konnte. Schließlich spielte es für die Betroffenen auch keine Rolle, ob sie in evangelischen oder öffentlichen Einrichtungen zwangssterilisiert wurden; nur mußte ihnen die Auslieferung aus dem schützenden Mikrokosmos der kirchlichen Anstalten wie eine Preisgabe der zugesicherten Solidarität erscheinen, die oftmals langjährige vertrauensvolle Bindungen an Pfleger, Arzte und Pastoren zunichte machte. In der Öffentlichkeit dürfte diese Handhabung des Paragraphen 12 des Gesetzes der Inneren Mission einen Verlust an Glaubwürdigkeit beschert haben, den auch die treibenden Kräfte in Staat und Partei wahrnahmen, was das verbandskirchliche Resistenzpotential im Hinblick auf die Problemstellungen der kommenden Jahre weiter schwächte. 328 Fast könnte man den Eindruck gewinnen, daß sich der Ständige Ausschuß durch gewandte Anpassung an die Sterilisierungsgesetzgebung den Rücken freihalten wollte für den verstärkten Kampf gegen jene Form der .Euthanasie' im Sinne der ,Vernichtung lebensunwerten Lebens', von

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Es könne von niemandem verlangt werden, dort einzutragen, er leide etwa an angeborenem Schwachsinn. Das entscheidende Wort habe ohnehin der gutachtende Amtsarzt. Vgl. den Entwurf des Rundschreibens v.August 1934 und die Einverständniserklärung Dr. Gütts namens des Rdl v. 16.VIII. 1934; ADW, C A / G 1801/7. Das wurde 1935 am Beispiel der Zwangssterilisierung Taubstummer, gegen die man sich zuvor energisch ausgesprochen hatte, deutlich; vgl. dazu Kurt Nowak, .Euthanasie', 102.

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der in der NS-Publizistik immer wieder die Rede war. Ein Indiz dafür ist die Auseinandersetzung mit dem Leiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, Dr. Groß, die sich an dem Artikel Harmsens „Geistig Tote?" in der Septembernummer der Gesundheitsfürsorge' entzündete. 329 Darin hatte Harmsen davor gewarnt, die vermeintlich „wertlosen Existenzen" in den Heilanstalten vorzeitig abzuschreiben', und anhand zahlreicher Beispiele auf den oft erstaunlichen Lebenswillen Schwerstkranker hingewiesen, weshalb es keineswegs gerechtfertigt sei, vorschnell von einem Erlöschen aller Lebensfunktionen zu sprechen. Auch seien diese Patienten eine wesentliche Bereicherung für das „innere geistige und religiöse Leben" der Volksgemeinschaft, weil der Anblick dieser bedauernswerten Menschen stets aufs neue Verantwortung und Selbstbehauptungswillen der Nation herausfordere. 330 Seine abschließende Kritik an den rein ökonomischen Motiven solcher,Ausschaltungspropaganda' enthielt implizit den Vorwurf an die Adresse der Partei, sich nur mehr von liberalen und Nützlichkeitserwägungen leiten zu lassen, was Amtsleiter Groß zu einem heftigen Dementi veranlaßte: Niemals habe man den Begriff,geistig Tote' benutzt, weil damit „eine Herabsetzung der Erkrankten" verbunden sei; „Andeutungen über finanzielle Einsparungen [wirkten] besonders irreführend", da sie den falschen Eindruck vermittelten, als erfolge die ganze rassenpolitische Arbeit nur aus finanziellen, d.h. materialistischen Gründen - ein Vorwurf, den Harmsen unter geschickter Betonung seiner bisherigen eugenischen Aufklärungstätigkeit zurückwies.331 Diese in der Pose gekränkter Unschuld erhobenen Gegenvorstellungen von Groß dienten zur Zurückdrängung der einzigen .Opposition', mit der die Partei in der Frühphase des Dritten Reiches auf erbbiologischem Sektor rechnen mußte. Hatten sich Caritas und katholische Kirche als unbeugsame Gegner jeder Unfruchtbarmachung und erst recht einer Beteiligung daran für eine kriti-

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GF8.1934,189-192. „Das Schicksal dieser Elenden aber weckt unfaßbar reiche Ströme der Hilfsbereitschaft, Aufopferungskraft, Hingabe und Liebe und schafft und erhält damit geistige und seelische Kräfte und Werte, die für die Zukunft unseres Volkes entscheidender als die in Frage stehenden finanziellen Aufwendungen sind." Ebd., 192. Groß an Harmsen V.25.X.1934 und Harmsen an Groß V.30.X.1934; A D W , C A / G 1202/29. Wie maßgebliche Kreise der Partei über die .Ausschaltung Minderwertiger' wirklich dachten, belegt folgende Äußerung Hilgenfeldts auf einem rassenhygienischen Schulungskurs der N S D A P in Sachsen-Anhalt: „Völlig verfehlt ist es, Barmherzigkeit zu üben an einem Menschen, der Nation und Menschheit nichts mehr zu geben hat. Wir haben barmherzig zu sein mit dem starken, gesunden Menschen, denn wir richten uns in unserm Tun und Handeln nach dem Wohle der Gemeinschaft. Dabei wissen wir, daß das Recht des einzelnen niemals größer sein kann, als seine Pflichten gegenüber der Gesamtheit." S.VB Nr.294v.21.X.1934, zitiert nach einer Aktennotiz P. Engelmanns über eine Besprechung mit Althaus V.31.X.1934, in der letzterer zusagte, dafür sorgen zu wollen, „daß so etwas nicht wieder vorkommt" [sie]; ADW, C A / G 100150/2.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

sehe Mitarbeit an der Erbgesetzgebung in den Augen der NSDAP von vornherein disqualifiziert, so war es gerade das eugenische Engagement der Inneren Mission und der ihr nahestehenden kirchlichen Kreise, das Äußerungen wie jenen von Harmsen eine gewisse Bedeutung zukommen ließ. Der Apparat des Centraiausschusses mit seinen Fachgremien und einem gut funktionierenden, reichsweit operierenden Informationsnetz wurde immerhin so ernst genommen, daß man darüber nachdachte, wie dieser Störfaktor zu beseitigen sei. Besonders scheint den Rassenhygienikern der Partei eine Verselbständigung der einschlägigen Schulungskurse der Inneren Mission über erbgesundheitspolitische Themen ein Dorn im Auge gewesen zu sein, denn seit dem Herbst 1934 suchte man solche Veranstaltungen nach Möglichkeit zu unterbinden oder nur parteigenehme Redner dort auftreten zu lassen. Anfang Oktober 1934 hatte ein erster großer Lehrgang über die Anwendung des Sterilisationsgesetzes in den Einrichtungen der Inneren Mission in Berlin stattgefunden. 332 Obschon sich die mehrtägige Konferenz in erster Linie mit medizinisch-juristischen Fragen befaßte und sich die Aussprache der Teilnehmer vornehmlich mit diesem Themenkreis beschäftigte, 333 widmeten sich zwei Vorträge auch den psychologisch-seelsorgerlichen Problemen im Zusammenhang mit der Unfruchtbarmachung. Darin arbeiteten die Referenten die wachsende Bedeutung einer nachgehenden Fürsorge für Sterilisierte heraus, mit der auf die Innere Mission eine neue wichtige Aufgabe zukomme, zu deren Bewältigung die sorgsame Schulung der eingesetzten Kräfte unerläßlich sei.334 Bemerkenswert ist die Tatsache, daß sich unter den Anwesenden als Gast auch ein Vertreter der Caritas befand, der in der Diskussion überraschend das Wort ergriff und die bekannte Position der katholischen Kirche noch einmal erläuterte. 335 Bei aller Ablehnung 332

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Vgl. das Wortprot.; ADW, C A / G 1202/28. Insgesamt nahmen an der Tagung 169 Personen teil; s. d. Eingabe des CA an den Rdl V.5.XI. 1934; ADW, C A / G 1601/1. Dr. Behnsen/Rickling referierte über „Biologie und Pathologie der Sterilisierung bei Mann und Frau", Dr. Matzner sprach über „Inhalt und Ablauf des Verfahrens beim Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (s. a. G F 9.1935,53-60), und die wegen eines jüdischen Großelternteils 1933 aus dem Staatsdienst entlassene Ministerialrätin Dr. Anna Mayer, ehemals im Preuß. Ministerium für Volkswohlfahrt, dann im Mdl tätig, die inzwischen für die Gesundheitsabteilung des CA arbeitete, beschäftigte sich in ihrem im Prot, nicht enthaltenen Vortrag mit Vormundschaftsfragen; a.a.O. Aus psychiatrischer Sicht sprach wiederum Dr. Behnsen über „Erfahrungen über die Folgen des unfruchtbarmachenden Eingriffs in körperlicher und seelischer Hinsicht", während Gerda Lucas die „Seelsorgerliche Betreuung Sterilisierter und zu Sterilisierender" behandelte; a.a.O. Eine leicht veränderte Fassung der Ausführungen von G.Lucas druckte die , G F ab; wie Anm.322. Der namentlich nicht genannte Caritas-Beauftragte bat um Verständnis für die Ablehnung des Gesetzes durch die katholische Kirche, die aus der Auffassung resultiere, daß die Sterilisierung einen Eingriff in das Wesen des Menschen und damit in die Schöpfungsordnung bedeute. Die Kirche müsse deshalb nein sagen, sei aber nicht staatsfeindlich eingestellt, wie gelegentlich behauptet werde. Die einzige Möglichkeit zur Verhütung

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im Grundsatz zwang das Gesetz aber auch die Caritas zu Kompromissen, die mit ihrer Haltung an sich nicht vereinbar waren und sie in ein Dilemma brachten, aus dem argumentativ eigentlich kein Weg herausführte. Dies wurde besonders bei den Bestimmungen über die Anzeigepflicht sichtbar, denen sich die katholischen Einrichtungen nicht entziehen konnten. Weil sie sich aber strikt weigerten, Anträge auf Unfruchtbarmachung zu stellen, und dies den Ärzten der Gesundheitsämter überließen, sahen sie darin „keine direkte Mitwirkung" an der Ausführung des Gesetzes - eine Selbsttäuschung von nahezu ähnlicher Qualität wie die Überweisung zwangsweise zu sterilisierender Patienten aus evangelischen in öffentliche Krankenhäuser. 336 Es waren vor allem diejenigen Beiträge, die sich mit den Folgen des Eingriffs befaßten und Aufgaben der nachgehenden Fürsorge erörterten, die manchen Gaubeauftragten der NSV und des Rassepolitischen Amtes der NSDAP mißfielen; sie fürchteten wohl um das Monopol der Partei auf die von ihr beanspruchte weltanschauliche Interpretation des Gesetzes und suchten deshalb außerhalb ihrer Kontrolle stehende Großveranstaltungen wie jene OktoberSchulungskonferenz mit knapp 170 Teilnehmern künftig zu unterbinden. Regionale Schwierigkeiten hatte es diesbezüglich schon seit längerem gegeben, so in Sachsen, wo eine von Kirche und ev. Presseverband veranstaltete .bevölkerungspolitische Aufklärungswoche' kurzerhand polizeilich verboten worden war, weil nur von der Partei beauftragte Referenten über rassenpolitische Themen sprechen dürften. Weitere Veranstaltungen, auf denen bekannte und mit der Materie vertraute Pfarrer positiv zur Sterilisierung Stellung nehmen wollten,337 fielen ebenfalls unter das Verbot, so daß im Centraiausschuß der Entschluß reifte, in einer Besprechung zwischen Vertretern der Kirchenleitung, der Inneren Mission und dem Gaubeauftragten des Rassepolitischen Amtes eine grundsätzliche Klä-

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erbkranken Nachwuchses liege für die Caritas in der strengen Asylierung der Betroffenen. - Dieser These widersprach ein anderer Teilnehmer mit dem Argument, Gott habe die Schöpfung ,gut' geschaffen; erst durch die Sünde sei diese gute Schöpfung negativ verformt worden: „Wir stehen vor der Frage, nicht, greifen wir in die Schöpfung, sondern greifen wir in die Folgen der Sünde ein." In gewisser Hinsicht sei die vorbeugende Sterilisierung mit dem freiwilligen Zölibat von Ordensfrauen zu vergleichen - eine Behauptung, die der Caritas-Vertreter mit Recht zurückwies. Vgl. das Wortprot., a. a. O. Zum Unterschied von ,cooperatio materialis' und ,cooperatio formalis' s. a. Kurt Nowak, .Euthanasie', 117.- In der Diskussion wurde auf die Inkonsequenz des katholischen Standpunkts hingewiesen, woraufhin der Caritas-Gast darauf beharrte, es gehe lediglich darum, ob man „tätig mitwirke oder nicht". - Was für die IM und ihre Einrichtungen gilt, muß freilich auch bei dem Verhalten der Caritas in Rechnung gestellt werden: Ein totaler Boykott des Gesetzes hätte mit Sicherheit zur Aufhebung der katholischen Anstalten geführt und der konfessionellen Liebestätigkeit diese wie andere Arbeitsfelder ganz entzogen. Es handelte sich um die Pfarrer Knabe und Hünlich; zu letzterem, der ein alter Vorkämpfer der freiwilligen Sterilisierung war, s. nochmals Anm. 228 dieses Kap.

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rung herbeizuführen. Zu diesem Zweck reiste Harmsen Ende September nach Dresden, um in einer kircheninternen Vorbesprechung den Verhandlungskurs abzustecken. 338 Man legte fest, daß sich seitens kirchlicher Kreise nur Fachleute zu eugenischen Fragen äußern sollten, während die seelsorgerliche Behandlung dieses Fragenkomplexes „selbstverständlich jedem Geistlichen unbenommen" sein müsse. Die Kirche könne keinesfalls darauf verzichten, auch vor einem größeren Forum ihrer Mitarbeiter zum Sterilisierungsgesetz Stellung zu beziehen, und dies um so mehr, als sie die bevölkerungspolitischen Ziele des Staates grundsätzlich bejahe. Schließlich wünsche der Staat Mithilfe bei der Schulungsarbeit und müsse daher gewährleisten, daß die kirchlicherseits benannten Referenten ungehindert sprechen könnten. - Das Treffen mit dem Gauschulungsleiter und dem Gaubeauftragten des Rassepolitischen Amtes am 26. September ergab - fast überraschend - keinen Dissens in dieser zuvor fixierten Linie.339 Die Parteifunktionäre akzeptierten die Mitarbeit von Geistlichen in eugenischen Fragen „im Sinne der psychologischen Umstimmung" der Bevölkerung zugunsten der staatlichen Maßnahmen, während die Kirchenvertreter von sich aus auf eine Behandlung spezieller Rassenprobleme verzichteten. Man einigte sich ferner auf die Abhaltung eines achttägigen Lehrgangs für evangelische Geistliche und Laien, den das Rassepolitische Amt unter Einsatz seiner Dozenten gemeinsam mit der Kirchenleitung veranstalten wollte. Strittig blieb jedoch, daß nach Ansicht der Parteiobleute auch bei geschlossenen innerkirchlichen Tagungen über seelsorgerliche Folgeprobleme der Unfruchtbarmachung nur theologische Referenten sprechen sollten, die dazu parteiamtlich ermächtigt worden seien. In einem konkreten Einzelfall, auf den man sich kirchlicherseits hierbei bezog,340 verlangten die Beauftragten die vorherige Prüfung des Vortragsmanuskripts durch sie oder den Austausch des Redners durch eine ihnen genehme Persönlichkeit. Eine solche „Bevormundung" lehnte Harmsen mit Nachdruck unter Hinweis auf die „allerbedenklichsten Konsequenzen für jeden künftigen kirchlichen Dienst" ab und kündigte an, darüber nötigenfalls auf höherer politischer Ebene verhandeln zu wollen.341 Tatsächlich stellte sich bald heraus, daß die

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Daran nahmen OKR Dr. Grundmann, Pfarrer Vogel, Dr. Meitzer/Großhennersdorf und Harmsen teil. Vgl. die Aktennotiz Harmsens v. 24.IX.1934; ADW, C A / G 1202/29. Aktennotiz Harmsens v. 27.IX. 1934 und die undatierte Aufzeichnung OKR Grundmanns; ebd. Es ging darum, ob Pfr. Knabe auf einer internen Konferenz der sächsischen Taubstummen- und Irrenseelsorger zu Fragen Stellung nehmen dürfe, die sich auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bezogen. In einem Schreiben v. 27.IX. 1934 an Grundmann drückte Harmsen nochmals seine Bestürzung über das Ergebnis der Besprechung in diesem Punkt aus: Wenn man nicht jetzt energisch protestiere und das sächsische Beispiel reichsweit Schule mache, sei die gesamte nachgehende Fürsorge der Kirche „schlechthin in Frage gestellt"; ADW, C A / G 1202/29.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Schwierigkeiten nicht auf Sachsen beschränkt blieben, sondern - durch eine entsprechende Weisung der Berliner Zentrale des Rassepolitischen Amtes ausgelöst - auch andernorts zunahmen. So mußten Vorträge der CA-Referentin Hermine Bäcker über die Betreuung Sterilisierter und des zuständigen Kreisarztes über die Bedeutung der Vererbungslehre während einer Anfang November des Jahres stattfindenden Tagung der Inneren Mission in Schneidemühl auf telegraphisches Geheiß der Gauleitung Kurmark abgesagt werden, weil die Redner der Parteiführung „nicht genehm" seien.342 Als auch noch ein für Ende November geplanter weiterer Schulungskursus in Berlin aus ähnlichen Gründen nicht stattfinden konnte, protestierte der Centraiausschuß dagegen mit einer ausführlichen Eingabe an das Innenministerium. In einer Art Leistungsbilanz verwies er darin auf die bisher erfolgreiche Durchführung des Gesetzes in evangelischen Einrichtungen 343 und auf die Notwendigkeit weiterer Lehrgänge, die durch die Restriktionen seitens der Partei nun in Frage gestellt seien. Die Innere Mission müsse bei allem Verständnis für gewisse thematische Eingrenzungen und die zu bejahenden Qualifikationsanforderungen an ihre Redner vom Staat verlangen, „daß die ihr als geeignet erscheinenden Persönlichkeiten" ungehindert diese Schulungsarbeit tun könnten. 344 Am 7. November erhielt Harmsen Gelegenheit, im Reichsministerium des Innern Oberregierungsrat Dr. Linden die anstehenden Probleme noch einmal mündlich vorzutragen. 345 Dieser informierte ihn dahingehend, daß die örtlichen Behinderungen letztlich auf die fehlende Koordination zwischen seinem Hause, dem die Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes obliege, und der Parteiorganisation, in der Reichsärzteführer Dr. Wagner über das Rassepolitische Amt Einfluß ausübe, zurückzuführen seien; man erstrebe aber eine „generelle Lösung", um Friktionen dieser Art künftig auszuschließen. Einen Vorschlag zur Bereinigung der entstandenen Differenzen machte schließlich das Rassepolitische Amt selbst, dem eine Durchschrift der Eingabe an den Innenminister zugeleitet worden war. In konzilianter Form regte dessen Leiter an, sowohl auf Reichsebene als auch in den Gauen die Kontakte zwischen Innerer Mission und seiner Dienststelle enger zu gestalten, um mögliche Konflikte schon vor ihrer Entstehung zu verhindern. Ohne eine solche Verbindungsaufnahme seien seine Untergliederungen gehalten, sich nach den Berliner Weisun-

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Vgl. dazu den undatierten Bericht H. Bäckers über die Vorgänge in Schneidemühl; ebd. Es gebe Anstalten, in denen mehr als 1000 Eingriffe vorgenommen werden müßten, so daß die dortigen KJinikbereiche an zwei Tagen in der Woche durch Sterilisierungen völlig ausgelastet seien. In den ersten zehn Monaten des Jahres 1934 hätten die Referenten des CA insgesamt 47 Schulungsvorträge gehalten, die sich steigender Beliebtheit erfreuten. Eingabe v. 5.XI. 1934, wie Anm. 332. Die vom Rassepolitischen Amt in einigen Fällen zur Verfügung gestellten Gastredner hätten „nicht die wünschenswerte Fühlung zu unseren Hörerkreisen" gefunden; ebd. Aktennotiz Harmsens über das Gespräch v. 8.XI. 1934; ADW, C A / G 1 2 0 2 / 2 9 . - Dr. Herbert Linden sollte später als Koordinator der,Euthanasie'-Aktion im Rdl hervortreten.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

gen zu richten.346 Mitte Januar 1935 antwortete das Reichsinnenministerium auf die Proteste der Inneren Mission. Das Schreiben identifizierte sich inhaltlich ganz mit der Antwort von Groß. Gütt stellte namens des Ministers noch einmal klar, daß die Interpretation des Gesetzes in weltanschaulicher Beziehung nur in Anlehnung an die von der NSDAP erlassenen Richtlinien erfolgen könne und daß für die Überwachung der Schulungsarbeit das Rassepolitische Amt zuständig sei. Wenn der Centraiausschuß seine Referenten zuvor einen Lehrgang der Partei besuchen lasse, stünde diesen die Abhaltung eigener kirchlicher Aufklärungskurse frei. Ähnliches gelte für die Ausbildung des medizinisch-fürsorgerischen Personals. Das Amt werde solchen beruflichen Weiterbildungsveranstaltungen nichts in den Weg legen; es empfehle sich jedoch auch hier, jeweils vor Beginn dieser Lehrgänge Fühlung mit Groß und seinen Beauftragten zu nehmen. 347 Damit hatte das Ministerium in dieser wichtigen Frage zugunsten einer Parteiuntergliederung zurückstecken müssen; der ,Doppelcharakter' des NS-Staates, den Ernst Fraenkel als gegenseitiges Durchdringen von traditioneller Verwaltung und Partei zu Lasten der ersteren so eindrucksvoll beschreibt,348 wirkte sich auch hier aus. Beachtlich erscheint, daß die ursprünglich vom Reichsminister des Innern ausgehenden gesetzlichen Initiativen zur Erbgesundheitspflege nun allmählich von Parteiinstanzen .überholt' und radikalisiert wurden, eine Beobachtung, die sich im Zusammenhang mit der Einbeziehung der eugenischen Indikation bei der Schwangerschaftsunterbrechung nochmals bestätigen sollte. Auf der anderen Seite waren die Verantwortlichen des Rdl in gewissen Grenzen bereit, Anregungen der Inneren Mission aufzunehmen und bei Divergenzen mit dem Rassepolitischen Amt zu vermitteln. Wenn diese .Vermittlung' auch recht einseitig auf Kosten des Centraiausschusses ging, so läßt sich an der gefundenen ,Lösung', daß die vorgesehenen IM-Referenten nur den Nachweis einer parteiinternen Schulung erbringen mußten, 349 doch ablesen, daß man Anfang 1935 noch nicht daran dachte, erbbiologische Lehrgänge seitens kirchlicher Institutionen aus der Sorge um deren ideologische Zuverlässigkeit ganz zu unterbinden.

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Schreiben Groß' an Harmsen v. 19.XI. 1934; ebd. R d l / M D Dr. Gütt an den CA v. 14.1.1935; ebd. Daraufhin fanden 1935 überall wieder Schulungskurse der Inneren Mission statt, die außerordentlich gut besucht wurden. Einen Einblick in den Ablaufeines solchen Lehrgangs gibt der Bericht über die rassenhygienische Tagung in Hamburg, die das dortige Landeskirchliche Amt für Innere Mission veranstaltete; vgl. GF9.1935,133-135. The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, 1940. Probleme dieser von der Partei veranstalteten Lehrgänge behandelte auch die Tagung des Ständigen Ausschusses am 16.XI. 1934. In Einzelfallen wurde vom Rassepolitischen Amt auch ohne vorherige Teilnahme an einem Schulungskursus der Rednerausweis an erbbiologisch erfahrene Anstaltsärzte ausgegeben; vgl. das Wortprot. der Konferenz; ADW, C A / G 1601/1.

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Trotz aller Propaganda für das Erbgesundheitsgesetz und des öffentlich zur Schau gestellten Selbstbewußtseins, was die .erfolgreiche' Ausführung betraf, war man sich hinsichtlich seiner allgemeinen Akzeptanz in der Bevölkerung noch keineswegs sicher und nutzte die flankierende Unterstützung der wenigen noch intakten gesellschaftlichen Gruppierungen wie der Inneren Mission, um die eugenischen Zielvorstellungen der Partei durchzusetzen. 350 Wie gesagt, die Eingaben und mündlichen Einwendungen Harmsens, die - wahrscheinlich in Absprache mit ihm - von den Protesten mancher Provinzial- und Landesverbände begleitet wurden, 351 verfehlten ihre Wirkung nicht, wennschon der Spielraum, den es auszunutzen galt, sehr beschränkt blieb. Das war der Inneren Mission bewußt, die im Interesse ihrer Pfleglinge alles tun mußte, um eine Fortführung der Arbeit nach christlichen Prinzipien zu gewährleisten. Dazu gehörten Beginn und Intensivierung der nachgehenden Fürsorge bei Sterilisierten, die in den kommenden Jahren einen immer höheren Stellenwert erhalten sollte.352 Die atmosphärische Veränderung in den Einrichtungen der Inneren Mission, die, wollten sie den Auflagen für geschlossene Anstalten genügen, immer mehr für die so ,Verwahrten' zu Gefängnissen mit allen negativen Folgen wurden, bedeutete einen hohen Preis für die Bejahung des Gesetzes in grundsätzlicher und praktischer Hinsicht. Aber man befand sich auf einem einmal eingeschlagenen Weg, den man jetzt nicht mehr verlassen konnte, ohne Schlimmeres dafür einzutauschen. Es scheint in der Tat so, wie oben bereits angedeutet, als habe man sich zur Durchführung des Sterilisationsgesetzes auch deshalb so pointiert bekannt, um die schon Ende 1934 absehbare Eskalation auf eine mög-

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Dafür war das Ministerium auf minder wichtigen Gebieten auch zu Zugeständnissen bereit; so in Fragen der Sterilisierung erbkranker Mutterhausschwestern und Ordensfrauen, wo von den beamteten Ärzten zunächst der jeweilige Hausvorstand in Kenntnis gesetzt werden sollte, um eine Verlegung der Betreffenden in geschlossene Anstalten bzw. Abteilungen zu ermöglichen und so den Eingriff unnötig zu machen. Vgl. den Erlaß des Rdl an die Landesregierungen, Ober- u.Regierungspräsidien v.6.11.1935, abgedruckt im Rundschr. Nr.6 der ,Auskunftsstelle' des CA v. 13.11.1935; ADW, C A / G 1801/7. S. a. H.-J. Wollasch, „Kirchliche Reaktionen", in: ders., Beiträge, 200 f. Vgl. etwa die Eingaben des westf. und des rheinischen Provinzialverbandes für IM v. 16. U.17.XI. 1934 an den Rdl. Am 21.XII.1934 wandte sich der westf. Geschäftsführer P. Niemann/Münster an Harmsen mit der Frage, ob jetzt endlich wieder Schulungskurse stattfinden könnten: „Unsere Stellen im Lande bedrängen uns aufs schwerste und verlangen nach Aufklärung und Weisung. Es ist uns völlig unverständlich, daß wir diesem Verlangen nicht sollen Rechnung tragen dürfen. Es stehen doch die Männer zur Verfügung, die über diese Dinge reden können und nicht im Verdacht stehen, irgendeinen Schaden anzurichten. Warum gibt man uns den Weg nicht frei, während die Eingriffe auf Grund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vor sich gehen und auf das Tiefste nicht nur in das Leben des betreffenden einzelnen, sondern in das der Familien eingreifen?" ADW, C A / G 1212/29. S. dazu weiter unten den Abschnitt über die Nachgehende Fürsorge und die Heiratsvermittlung Sterilisierter.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

liehe Freigabe der ,Tötung lebensunwerten Lebens' hin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aufzuhalten. Ein erster, wenngleich entscheidender Schritt in diese Richtung war die seit dem Frühjahr 1934 von einzelnen Erbgesundheitsgerichten angeordnete Abtreibung im Zusammenhang mit der Sterilisation, die schon ein Jahr später gesetzlich sanktioniert werden sollte. III.3.4.

Schwangerschaftsabbruch

und

Sterilisierung

Im März 1934 erregte ein Urteil des Hamburger Erbgesundheitsgerichtes großes Aufsehen, das erstmals die Unfruchtbarmachung bei gleichzeitiger Unterbrechung der Schwangerschaft einer für erbkrank gehaltenen Patientin anordnete. Da der Fall exemplarische Bedeutung besitzt, sollen die Einzelheiten der Begründung knapp skizziert werden :353 Eine taubstumme Frau, die bereits von einem anderen Mann ein taubstummes Kind geboren hatte, war von ihrem derzeitigen, ebenfalls taubstummen Mann im 5. Monat schwanger. Da der Vater des Ehemannes mit 27 Jahren erblindet war, bestand nach Auffassung des Gerichtes die Gefahr, daß das erwartete Kind taubstumm und blind sein würde. Auf Antrag der Mutter und ihres behandelnden Arztes stimmte es deshalb der Sterilisierung und dem Schwangerschaftsabbruch zu. Zur Begründung zog es neben § 218, der nach geltender Auslegung nur die medizinische Indikation gestattete, § 54 StGB heran, der den gesetzlichen Notstand betraf und neben der Notwehr auch die Straffreiheit sonstiger, an sich rechtswidriger Handlungen des Täters oder seiner Angehörigen „zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben" in Betracht zog. Unter Berufung auf Reichsgerichtsurteile und Strafrechtskommentare aus den 20 er Jahren sprach das Hamburger Gericht sodann von einem ,übergesetzlichen Notstand', der sich durch den Gegensatz der Aussagen von § 54 und geltendem Recht ergeben könne und dessen Lösung nur „aus dem Ganzen der Rechtsordnung zu entnehmen" sei. Eine ausschlaggebende Rolle spiele dabei der „Rechtsgüternotstand", der die Unterscheidung zwischen höherwertigem und minderwertigem Rechtsgut erfordere. Zu ersterem zähle eindeutig „Bestand und Gesundheit des deutschen Volkes", die durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch keineswegs gesichert seien, weil der in Frage stehende Patientenkreis erst auf lange Sicht unfruchtbar gemacht werden könne. Der Kampf gegen die Existenzgefährdung des deutschen Volkes dulde jedoch keinen Aufschub; es bestehe deshalb kein „Zweifel, daß sogar das Leben eines hochwertigen Volksgenossen, z. B. im Felde oder im politischen Kampfe, ohne weiteres zur Erhaltung der Art eingesetzt werden darf. Erst recht darf das Leben eines ungeborenen Erbkranken eingesetzt werden." Die frühere Abweisung der

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Eine Abschrift des Urteils v. 16.111.1934 befindet sich in ADW, C A / G 1801/1. Ein Abdruck erschien in der Zeitschrift für Medizinalbeamte 47.1934,454-465.

II 1.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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eugenischen Indikation habe weltanschauliche Ursachen gehabt, die - auf liberalem Gedankengut fußend - den Wert des Individuums über den der Allgemeinheit gestellt hätten. Erst der nationalsozialistische Staat habe diesen falschen Maßstab überwunden und mit dem Erbgesundheitsgesetz das Lebensrecht des Volkes erstmals als „anerkanntes Rechtsgut" gewürdigt. Urteile dieser Art blieben 1934 nicht die Ausnahme und beunruhigten die Innere Mission und ihre eugenischen Fachgremien außerordentlich, vor allem, weil sich in den folgenden Monaten eine Verschärfung der Rechtsprechung abzeichnete, die ohne Einschränkung auf eine gleichsam automatische Verknüpfung von Sterilisation und Abtreibung hinauszulaufen schien.354 Daß dies nicht allein der Privatinitiative im NS-Sinne eugenisch interessierter Richter zuzuschreiben war, sondern daß die Partei mit dem Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner als treibende Kraft hinter einer solchen Auslegung stand, sollte nur zu bald deutlich werden. Schon Anfang Januar 1934 hatte Wagner im Innenministerium angeregt, den Schwangerschaftsabbruch in die Sterilisationsgesetzgebung einzubeziehen. Als das der Leiter der Gesundheitsabteilung, Ministerialdirektor Gütt, aus schwerwiegenden juristischen Bedenken heraus ablehnte, beschaffte sich Wagner auf dem Nürnberger Parteitag im September des Jahres eine Führerermächtigung, nach der kein Arzt künftig mehr bestraft werden sollte, der die Unfruchtbarmachung und gleichzeitig die Unterbrechung vornahm. Obwohl Frick und Gütt auf ihren Bedenken beharrten, ließ sich Hitler nicht umstimmen, ja verweigerte den beiden sogar eine Unterredung über diesen Gegenstand, während Wagner seinerseits in einem Rundschreiben die Untergliederungen des NS-Ärztebundes und über diesen Weg auch die Leiter der zur Sterilisation zugelassenen Krankenanstalten von der Entscheidung des Führers unterrichtete.355 Harmsen, der im Frühsommer 1934 von den Hamburger Vorgängen erfahren haben muß, ohne schon die ,ganze Wahrheit' zu kennen, d.h. wie sich die Forcierung der Ausschaltung' Erbbelasteter seitens der NSDAP im einzelnen gestaltete, sann zusammen mit dem Centraiausschuß darauf, mit Hilfe renommierter medizinischer und juristischer Gutachter und im Verein mit dem Reichs-

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Ein Urteil des EGG Hamburg v. 17.X. 1934 setzte ausdrücklich § 12 des Erbgesundheitsgesetzes außer Kraft, der bei Schwangeren einen Aufschub des Eingriffs bis nach der Niederkunft anordnete. Auch sei für die Unterbrechung kein weiteres Urteil erforderlich, wenn die Einwilligung der Frau vorliege und das Gericht rechtskräftig auf Unfruchtbarmachung erkannt habe. Ähnlich im Tenor das Urteil des EGG Bremen V.6.XI.1934, das § 12 als dem Sinn des Gesetzes widersprechend bezeichnete und die unverzügliche Sterilisation ohne Rücksicht auf den Fötus verlangte, sofern gutachterlich feststehe, daß damit keine gesundheitlichen Folgen für die Frau verbunden seien. Beide Urteile in Abschrift in A D W , C A / G 1801/1. Vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 356 f., Anm. Zur Weiterleitung des Rundschreibens an die Chefärzte ev. Einrichtungen s. den Brief Harmsens an ORR Dr. Linden v.8.XI.1934;ADW, a.a.O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Innenministerium die bedrohliche legislative Entwicklung aufzuhalten, bevor sie in Form von neuen Ausführungsbestimmungen oder gar eines Gesetzes allgemeine Verbindlichkeit erlangte. Selbst fest von der Unrechtmäßigkeit des Hamburger Urteils und seiner Begründung überzeugt, sah er in der ebenfalls 1934 erscheinenden Schrift der Akademie für Deutsches Recht,Grundzüge eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches', die wie schon die Denkschrift Kerrls die Möglichkeit der,Euthanasie' bei Berücksichtigung entsprechender Sicherungen erlauben wollte, eine zusätzliche Belastung des rechtspolitischen Klimas, der es nun öffentlich und in vertraulichen Verhandlungen entschieden entgegenzutreten gelte. Er wandte sich deshalb an den medizinischen Direktor des Bremer Diakonissenkrankenhauses, Prof. Hirstein, und an den ehemaligen Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons, die sich zu dem umstrittenen Hamburger Urteil auf einer für November geplanten Sitzung des Ständigen Ausschusses gutachterlich äußern sollten.356 Auf Bitten des zuständigen Referenten im Innenministerium, Herbert Linden, faßte Harmsen vor der Zusammenkunft die Bedenken der Inneren Mission gegenüber einer Verbindung von Unfruchtbarmachung und Abtreibung in einem Positionspapier zusammen: 357 Man bleibe bei den Beschlüssen von Treysa, wo man seinerzeit eine deutliche Grenze zwischen der Verhütung und der „Beseitigung von bereits entstandenem Leben" gezogen habe. Durch die „bedenkliche Ausweitung" des Gesetzes im Zuge der Rechtsprechung werde die sinnvolle Anwendung der staatlich verordneten Erbgesundheitsmaßnahmen „auf das Schwerste gefahrde[t]". Im Anschluß an die Konferenz wolle er den Minister von deren Ergebnissen in Kenntnis setzen. In der Ausschußsitzung am 16. November im Berliner ,Haus Tabea', der Schulungsstätte der Ev. Gesundheitsfürsorge, wurde das Hamburger Urteil von Prof. Kirstein heftig attackiert. Besonders kritisierte der Mediziner die Außerachtlassung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, da solche Operationen sehr riskant seien und nicht einfach auf richterlichen Beschluß hin angeordnet werden dürften; man degradiere den Arzt sonst zum ,reinen Techniker'. Nachdem das Gesetz nichts dergleichen bestimmt habe, erschienen jetzt „die kleinen Gesetzgeber", die meinten, darüber hinausgehen und die Erbpflege vorantreiben zu müssen. In Hamburg seien „nur politische und keine sachlichen Urteile" gefällt worden. Als „ganz unhaltbar" rügte Kirstein aus naturwissenschaftlicher Sicht die Schlußfolgerung, das erwartete Kind werde taubstumm und womöglich blind zur Welt kommen; und selbst wenn das der Fall sein sollte, werde der Bestand des deut-

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Harmsen an Kirstein v. 4.VIII. 1934, A D W , C A / G 1601/3, und Simons an Harmsen V.29.X. 1934, der seine Teilnahme an der Sitzung des Ständigen Ausschusses am 16.XI. wegen einer gleichzeitig stattfindenden Vollversammlung der Akademie für Deutsches Recht absagte; ebd. Wie Anm.355.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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sehen Volkes durch die Geburt solcher Kinder nicht gefährdet. 358 Schließlich schlug er die Einrichtung einer höchstrichterlichen Stelle vor, die beim Reichsgericht angesiedelt werden könne, um Fehlurteile dieser Art und ihre Rechtskraft in Zukunft zu verhindern, eine Anregung, der die meisten Teilnehmer zustimmten. 359 Auch der abwesende ehemalige Reichsgerichtspräsident Walter Simons hatte inzwischen ein Gutachten verfaßt, das auf der Konferenz verlesen wurde. 360 Es war nach Ton und Inhalt wesentlich moderater gehalten als die harte Kritik Kirsteins und zeigte ein Maß an Verständnis für den Hamburger Richter und seine Motive, das die Innere Mission für ihre Zwecke als unbefriedigend empfinden mußte. 361 Das Urteil sei „sorgfältig gearbeitet" und in sich schlüssig, sofern man seine Prämissen teile; der Spruch liege im Interesse nationalsozialistischer Rassenpolitik und sei deshalb als rechtlich zulässig anzusehen, wenn er - Simons auch die Konstruktion des,übergesetzlichen Notstandes' für fragwürdig halte. 362 Prinzipiell vermöge er keinen Unterschied zwischen Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch zu sehen, denn letzterer entspreche ja der Intention des Gesetzes. Allerdings führe die Logik, in dem erbkranken Nachwuchs ein Rechtsgut minderen Ranges gegenüber der Volksgesundheit zu sehen, „schließlich dazu, auch erwachsene Erbkranke, statt sie zu sterilisieren, aus dem Wege zu

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Kirstein fuhr fort: „Wer dieser Behauptung des Beschlusses widerspricht, kann deshalb doch ein 150%iger Nationalsozialist sein, das hat mit Weltanschauung nichts zu tun." Vgl. das Wortprot. der Sitzung v. 16.XI. 1934; ADW, C A / G 1601/1. Dies taten vor allem Prof. Villinger/Bethel und der Kreisarzt Dr. Buurmann/Leer,derdie oft schlechte Qualität der Urteile der E G G mit deren Überlastung erklärte: Sein EGG trete wöchentlich einmal zusammen und bearbeite dabei 10 bis 14 Anträge; oft sehe er die Patienten erst beim Termin; die Schaffung einer obersten Berufungsinstanz sei deshalb dringend erforderlich; ebd. Nach dem Wortprot. der Sitzung des Ständigen Ausschusses v. 14.IV.1937 nannte Prof. Villinger/Bethel die Zahl von 30-40 Fällen pro Nachmittagssitzung des EGG, d. h. für jeden Patienten wandte das Gericht etwa 3 Minuten auf; ADW, C A / G 1601/2. Die Originalfassung dieses Gutachtens vom 15.XI.1934 befindet sich in ADW, C A / G 1801/1; im Druck erschien es 1935 in der Zeitschrift,Evangelisch-Sozial'. Vgl.a. Horst Gründer, Walter Simons, die Ökumene und der Evangelisch-Soziale Kongreß, 110 ff. So Harmsen am 26.XI. 1934 an den Vorsitzenden des Erbgesundheitsobergerichtes Kassel, Oberlandesgerichtsrat Dr. Faber. Simons' Stellungnahme wäre sicherlich anders ausgefallen, wenn er an den Verhandlungen v. 16.XI. teilgenommen hätte; ADW, C A / G 1801/1. Diese gelte nur für Übergangszeiten, wenn eine bestehende Rechtsordnung nicht mehr die „wirklichen Lebensverhältnisse des Volkes" widerspiegele und eine neue Ordnung „im Begriff ist, sich in der Wirklichkeit durchzusetzen, aber ihre Formulierung im Gesetz vielfach noch nicht gefunden hat". Vgl. das Gutachten, a. a. O. - Genau das aber war nach nationalsozialistischer Auffassung in den Anfangsjahren des Dritten Reiches, in denen man noch die,Erblast' des,Systems' von Weimar zu tragen hatte, der Fall.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

r ä u m e n , w e n n sie ein Hindernis f ü r die Erhaltung der Art bedeute[te]n". 3 6 3 Das Christentum kenne ebenfalls eine Gemeinschaftsverpflichtung, j e d o c h nur auf freiwilliger Basis; j e d e r künstliche oder gewaltsame Eingriff zur Empfängnisverh ü t u n g sei streng g e n o m m e n von daher verwerflich. Die rigoristische Befolgung dieses Denkansatzes f ü h r e jedoch letztlich z u m Quietismus, zur Fügung in die göttliche „Schickung", was sich freilich keine Obrigkeit zu eigen m a c h e n könne, der die Sorge u m das Volksganze anvertraut sei. D e r Kirche bleibe also nichts übrig, als „eine mittlere Linie der Verständigung zu finden". D a m i t stehe sie im Einklang mit d e m „natürlich[en] G e f ü h l deutscher Menschen", f ü r die j e d e Frucht bereits ein Recht auf Leben besitze. F ü r höchst bedenklich halte er eine Freigabe der Abtreibung durch die Staatsgewalt, womit sich diese „in verhängnisvolle N ä h e mit höchst subversiven Elementen" bringe. Die Kirche müsse vor einer solchen Entwicklung warnen, habe dabei aber in Kauf zu n e h m e n , d a ß es im Falle einer Annullierung des H a m b u r g e r Urteils „unter d e n heutigen U m s t ä n d e n zu einer gesetzlichen Sanktionierung der Rechtsprechung" k o m m e n könne. Wer sich von d e m prominenten Juristen, der auch Präsident des EvangelischSozialen Kongresses war, eine klare Entscheidung in dieser alle tief b e r ü h r e n d e n Frage e r h o f f t hatte, sah sich darin getäuscht. Freilich beleuchtete das zurückhaltend a b w ä g e n d e Votum mehr, als dies ein scharfes Nein tun konnte, den ganzen Ernst der Lage in überaus realistischer Weise. D e n n genau das, was Simons befürchtete, sollte ein halbes J a h r später mit der Kodifizierung der eugenischen Indikation eintreten. Die Leistung dieses Gutachtens bestand zweifelsohne darin, d e n engen Z u s a m m e n h a n g zwischen Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch u n d der,Vernichtung lebensunwerten Lebens' aufgezeigt zu haben. In solcher Zuspitzung hatte die Intentionen nationalsozialistischer Rassenhygiene vor Simons n i e m a n d im Umfeld der Inneren Mission formuliert. Problematisch erscheint aus der Rückschau j e d o c h sein Plädoyer f ü r die einzuschlagende .mittlere Linie' der Kirche; denn was konnte das sonst heißen als die Verfolgung eines pragmatischen Kurses, der auf mutige u n d eindeutige Stellungnahmen verzichtete, u n d dies in der vagen H o f f n u n g , - anders als die Caritas - nicht jeden Einfluß auf die weitere Entwicklung einzubüßen. Wie Simons dachte auch eine Minderheit der in Tabea Versammelten; erstaunlicherweise waren es zwei Theologen, die in der Hereinnahme der eugenischen Indikation in die A u s f ü h r u n g des Gesetzes nicht die Grenze des für die Innere Mission Z u m u t b a r e n erblickten, w ä h r e n d die anwesenden Ärzte bis auf Dr. A n t h e s / S c h e u e r n an diesem Punkt eine ganz eindeutig ablehnende Position bezogen. Eigentlich bewegte sich die Diskussion in d e m von Simons abgesteckten R a h m e n : Wollte m a n den rigo-

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Das erinnere ihn an Joh 11,50: „Es ist uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn daß das ganze Volk verderbe." Er könne sich staatliche Notlagen vorstellen, für die dieses zutreffe.

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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ristischen Standpunkt beziehen, mußte man jede Erweiterung der Erbgesundheitsgesetzgebung verwerfen, wobei die Frage jedoch lautete, ob man sich mit dem evangelischen Ja zur Sterilisation und der notgedrungenen Akzeptierung auch des Zwangsvollzugs nicht bereits auf eine abschüssige Ebene begeben und damit zu weit vorgewagt hatte. Gerade die Mediziner, die so vehement gegen die eugenische Indikation auftraten, sahen diesen Konflikt sehr wohl und sprachen von einer problematischen ,Aufweichung' ihres Nein durch die partielle Duldung der Abtreibung. Ferner spielte immer wieder in die Debatte hinein, daß der 1931 begründete ,Sexualethische Arbeitskreis' der Inneren Mission Anfang 1932 - zwar umstrittene - Leitsätze herausgegeben hatte, in denen die soziale Indikation bei Blutschande und Vergewaltigung für zulässig erklärt worden war.364 Meitzer/Großhennersdorf sprach von „Schranken", die aufzustellen seien, um die negative Eugenik nicht ausufern zu lassen, und Prof. Villinger setzte sich noch einmal für die Schaffung eines Bewahrungsgesetzes ein, das die Freigabe des Abbruchs unnötig mache; andernfalls führe dies „auf bolschewistische Bahnen". Lediglich Dr. Anthes, der im übrigen die Begründung des Hamburger Urteils ebenfalls kritisierte,365 hielt dessen Rechtsprechung für die logische Konsequenz des Gesetzes, der sich die Innere Mission nicht verschließen dürfe: „Sonst werden wir hinter der Entwicklung herhinken, und man wird uns dann auch in anderen Dingen nicht mehr fragen." 366 In eine ähnliche Kerbe, wenn auch mit anderer Akzentsetzung, schlugen der Leiter der Stiftung Tannenhof bei Remscheid, P.Werner, und P.Dr. Wagner/Kötschau. Viel schlimmer als die eugenische Indikation bei einem Schwangerschaftsabbruch sei die Sterilisation als ein wesentlich weitergehender Eingriff in die körperliche Unverletzlichkeit des Menschen. Wenn man schon den rigorosen Standpunkt der katholischen Kirche nicht teile und der Unfruchtbarmachung zustimme, müsse man

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Vgl. die als Manuskript gedruckten vertraulichen „Leitsätze des ,Evangelischen Arbeitskreises für Sozialethik' zu den Fragen der Geburtenregelung", die als Ergebnis einer Tagung des Kreises am 9./10.1.1932 in Berlin verabschiedet wurden; ADW, C A / G 1900/4. So wies er das Argument des Hamburger EGG zurück, die frühere Höherbewertung des Individuums zu Lasten der Volksgemeinschaft habe auf liberalistischen Voraussetzungen beruht: Die Leipziger Ärztetagung von 1925, auf die das EGG anspiele, hätte sich im Gegenteil auf die Abtreibungspropaganda der Kommunisten bezogen, „die jede Hemmung beseitigen wollten. Jede Frau sollte Herrin sein über ihre Leibesfrucht." Dagegen hätten sich die national denkenden Ärzte damals gewandt. - Außerdem spielten noch immer Kostengesichtspunkte eine führende Rolle; er sei der Meinung, „der Gedanke an das Volk leitet die Fürsorgekräfte überhaupt nicht". Vgl. das Wortprot., a.a.O. „Wenn wir uns auf einen ablehnenden Standpunkt stellen und sagen, wir können aus Gewissensbedenken der Ster. und Schwang. Unterbr. nicht zustimmen, dann beschwören wir noch mehr die Gefahr, daß der Staat die I. M. sich selbst überläßt." Einflußreiche politische Kräfte warteten geradezu darauf, „der evangelischen Kirche und auch der I. M. eins auszuwischen". Ebd.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

auch den zweiten Schritt tun, gegen den theologische Bedenken aus ihrer Sicht nicht bestünden. Falls die Innere Mission plötzlich eine ,Zickzack-Politik' betreibe und frühere Zugeständnisse zurücknehme, dürfe sie sich über den Vorwurf, keine Grundsätze zu haben, nicht wundern. Jetzt seien Richter und Ärzte am Zuge und eine öffentliche Erklärung des Centraiausschusses unangebracht. 367 Auf einen anderen zentralen Aspekt machte P. Stein/Stetten aufmerksam: Das christliche Ethos lasse sich mit den Ideen von ,Blut, Boden, Rasse' zwar kaum vereinbaren; die Innere Mission habe aber noch die Möglichkeit, den NS-Staat auf die von ihm anerkannten Grundlagen des positiven Christentums hinzuweisen und damit seine rassischen Normierungen an die letzte Norm des Wortes Gottes zu binden. So bewegte sich der Ständige Ausschuß zwischen Scylla und Charybdis, zwischen an Opportunismus grenzender Anpassungsbereitschaft und mutigem Nein zur Ausweitung des Gesetzes, einem Nein, dessen politisch negative Folgen man absehen konnte, die eine Mehrheit der Konferenzteilnehmer jedoch in Kauf zu nehmen bereit war, um ein deutliches Signal zu setzen. Ex post erscheint diese Position vielleicht sympathischer, man muß indessen berücksichtigen, daß die Ausweglosigkeit der Situation nicht allen Befürwortern einer harten Linie in vollem Umfang bewußt war. Eine unbestimmte Hoffnung, doch noch auf Rechtsprechung und Gesetzgebung einwirken zu können, leitete Harmsen und seine Mitstreiter, die sich nicht geschlagen gaben, sondern in den kommenden Monaten weiterhin alles daransetzten, um der verhängnisvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Illusionen über die angebliche Christlichkeit des Staates, wie Pastor Stein sie hegte, gab sich freilich kaum jemand mehr hin. Wenn überhaupt noch etwas zu bewegen war, dann nur mit Hilfe der guten Beziehungen zum Reichsministerium des Innern oder im Vertrauen auf die Außenwirkung einer öffentlichen Protestresolution des Centraiausschusses, an der - wie man in Verkennung der eigenen Einflußmöglichkeiten dachte - Partei und Staat, denen man bisher so weit entgegengekommen war, nicht vorbeigehen könnten. Wenige Tage später wurde Harmsen erneut im Ministerium vorstellig, wo ihm Linden eröffnete, daß man die Urteilspraxis mancher Erbgesundheitsgerichte ebenfalls in rechtlicher Hinsicht höchst bedenklich finde und deshalb eine Neufassung des § 218 vorbereite, in der die Strafbarkeit einer Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischer Indikation bei Einwilligung der betroffenen Frau aufgehoben werden solle.368 Dennoch bemühten sich Harmsen und andere lei-

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Zwar halte er - so Dr. Wagner - den Versuch, durch die Bekämpfung Minderwertiger die Volksgesundheit zu heben, für „ein ganz böses Gefasel"; er glaube jedoch, daß man bei Bejahung des radikalen Sterilisationseingriffes „auch das mit großer Wahrscheinlichkeit als Belastung des Volkes zu erwartende Kind mitnehmen" dürfe. Ebd. Vgl. die Aktennotiz Harmsens über die auf Wunsch Prof. Villingers am 22.XI. 1934 erfolgte Unterredung im Rdl; ADW, C A / G 1801/1.

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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tende Persönlichkeiten der Inneren Mission weiterhin, den Erlaß des Gesetzes zu verhindern. Da sich das juristische Gutachten Walter Simons' als Grundlage eines massiven Protestes der Inneren Mission kaum eignete, wandte sich etwa Prof. Villinger an den Vorsitzenden des Erbgesundheitsobergerichtes in Kassel, Oberlandesgerichtsrat Dr. Faber, der als Freund der Inneren Mission bekannt war und sich bereit erklärte, eine pointierte Stellungnahme gegen das Hamburger Urteil in der Fachpresse zu veröffentlichen. 369 Am 5. Dezember erschienen Villinger und Faber selbst unangemeldet im Berliner Innenministerium, um ihre Bedenken zu erläutern. Nach stundenlangem Warten wurde Faber von Linden empfangen - Villinger war schon vorher gegangen -, erhielt aber nur die gleichen Auskünfte wie zuvor schon Harmsen, die er überdies noch streng vertraulich behandeln sollte. Linden gestand ein, daß der Gesetzentwurf auf Drängen der Partei in Arbeit sei und wahrscheinlich noch im Januar in Kraft treten solle; sein Haus werde aber der Forderung, die eugenische Indikation „in vollem Umfange freizugeben, nur in beschränkte[m] Umfange nachkommen", d.h. die Anordnung der Unterbrechung gegen den Willen der Mutter stehe nicht zur Diskussion. Auf Einwände und Warnungen Fabers ging er jedoch nicht ein.370 Damit hatten sich auch die Erwartungen zerschlagen, unter Ausnutzung des Gegensatzes von Staat und Partei mäßigend auf den Wortlaut des zu erwartenden Gesetzes einzuwirken. Der Inneren Mission blieb nur, selbst zu handeln und den ungewissen Versuch zu wagen, sich mit einer Protestresolution an die Öffentlichkeit zu wenden. Die Gelegenheit dazu ergab sich, als der Hauptausschuß des CA am 18. Dezember zusammentrat. Nach einem einleitenden Referat Harmsens, in dem er die von der NSDAP proklamierte Notwendigkeit einer Verkopplung von Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch mit eindrucksvollen Zahlen aus dem evangelischen Anstaltsbereich ad absurdum führte, 371 nahm

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In einem Schreiben an Harmsen V.24.XI. bezeichnete sich Faber als „Mitarbeiter der Inneren Mission" und stellte dieses Votum in Aussicht, das freilich nicht wie beabsichtigt in der .Deutschen Justiz' erscheinen konnte, sondern von Harmsen in der , G F publiziert wurde: „Schwangerschaftsunterbrechung bei unfruchtbar zu machenden Erbkranken", in: GF 9.1935,27-30. - Dem Sehr, lag die Durchschrift eines Briefes an Villinger v. 19.XI. 1934 bei, in dem Faber, ohne den Wortlaut des Hamburger Urteils schon zu kennen, den Spruch heftig angriff und äußerte, er halte es für völlig ausgeschlossen, „daß eine so radikale Rechtsänderung, wie sie die Zulassung der Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischen Gründen bedeuten würde, einfach stillschweigend durchgeführt worden wäre". Er glaube auch nicht, daß die Regierung derartiges plane. ADW, a. a.O.

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Villinger an Harmsen v. 5.XII. 1934 und Faber an Harmsen V.9.XII. mit einer Aktennotiz über das Gespräch in der Anlage. ADW, C A / G 1801 / I . Danach habe es in den Jahren zwischen 1924 und 1934 40 Fälle von Schwängerungen erbkranker Mädchen gegeben, bei über 115.000 Pfleglingen, die im gleichen Zeitraum durch die Einrichtungen der IM gegangen seien; oder anders gerechnet: Auf 1000 Betten entfielen 2,2 Schwangerschaften, „ein schlagender Beweis für die bewahrende Kraft unserer im allgemeinen nicht als ,geschlossen' anerkannten Anstalten". Auch zeige die Verfolgung

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

der Hauptausschuß nach kurzer Debatte eine von Harmsen ausgearbeitete Entschließung einstimmig an. Für die Abgabe dieser Erklärung mochte die Anwesenden auch Harmsens Argument eingenommen haben, das Reichsministerium des Innern habe wiederholt um eine solche Stellungnahme der evangelischen Kirche gebeten, während der Ablehnung der Katholiken keine politische Bedeutung mehr zugemessen werde. Da - wie Harmsen ausführte - die protestantische ,Amtskirche' aber schweige, müsse die Innere Mission jetzt für sie „in die Bresche springen". 372 Die Resolution bekräftigte nochmals die in Treysa eingenommene Position und warnte „dringlichst" vor einer Freigabe der eugenischen Indikation. Ihr Kernsatz lautete, daß bei einer entsprechenden Gesetzesänderung die gleiche Begründung, „die heute angeblich zur Unterbrechung der Schwangerschaft ausreicht, die Tötung des bereits geborenen, ja auch des erwachsenen und zeugungsfähig gewordenen Erbkranken rechtfertigen" würde. Diese letzte Sorge betonten auch die Begleitschreiben, mit denen die Erklärung Reichsjustizminister Gürtner, Innenminister Frick und dem Stellvertreter des ,Führers', Minister Heß, zugeleitet wurde.373 Gegenüber letzterem warnte der Präsident des Centraiausschusses, Pastor Constantin Frick, besonders eindrücklich vor einem Ausufern der Rassengesetzgebung durch maßgebliche Kräfte in der Partei und forderte indirekt die Zurücknahme der Anweisungen des Reichsärzteführers an die Untergliederungen des NS-Ärztebundes. Dessen Münchener Dienststelle reagierte als einzige prompt auf die Eingabe, ging aber mit keinem Wort auf die Vorstellungen der Inneren Mission ein. Statt dessen teilte sie mit, der Führer habe Reichsärzteführer Dr. Wagner ermächtigt, „die Genehmigung zur Unterbrechung von Schwangerschaften in allen den Fällen zu erteilen, in denen nach menschlichem Ermessen mit größter Wahrscheinlichkeit erbkranker Nachwuchs zu erwarten" sei. Jeder Einzelfall müsse Wagner gemeldet werden, der nach sorgfältiger Prüfung dann seine Entscheidung treffe; den Erbgesundheitsgerichten stehe ein verbindliches Votum darüber jedenfalls nicht zu.374 Obwohl die Würfel längst gefallen waren, scheint Harmsen auf Grund dieses Briefes doch wieder Hoffnung geschöpft zu haben. Denn daß sich der Reichsärzteführer anmaßte, sozusagen an der Legislative und ihren Ausführungsorganen vorbei aus eigener Machtvollkommenheit über Leben und Tod ungeborener

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der Lebensschicksale dieser Kinder, daß viele von ihnen keineswegs erbkrank, sondern .vollwertig' im Sinne des Gesetzes seien; ADW, C A / G 93. Aussprache und Resolution des HA in ADW, C A / G 1601/1. Die Resolution erschien auch in der Januarnummer der G F 9.1935, 2-4. Vgl. a. das Prot, der HA-Sitzung in ADWDü, BO, 10/1-1. Auch der,Führer und Reichskanzler' erhielt ein Exemplar mit einem allerdings moderater gehaltenen Anschreiben. Die Durchschrift der Briefe V.20.XII. 1934 in ADW, C A / G 1801/1. NSDAP-Reichsleitung, Hauptamt für Volksgesundheit/NS-Ärztebund an den CA v. 11.1.1935. Das Schreiben befindet sich als Abschrift in der Anlage eines Briefes von Harmsen an Villinger v. 25.1.1935; ebd.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Kinder zu verfügen, würde sich - so seine Rechnung - das federführende Innenministerium nicht bieten lassen. Kaum anders sind die bis Juni des Jahres, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, noch folgenden Anstrengungen des Centraiausschusses zu verstehen, seinen Einfluß geltend zu machen. 375 Welchen Sinn etwa hätte sonst die späte Veröffentlichung des Faber-Gutachtens in der Februarnummer der .Gesundheitsfürsorge' haben sollen? Auch eine Eingabe Präsident Fricks an Ministerialdirektor Buttmann/RdI, in der er sich darauf bezog, daß ein Gauamtsleiter des NS-Ärztebundes eine Schwangerschaftsunterbrechung gegen den Widerstand des Vormunds mit dem Argument angeordnet hatte, die Versagung der Unterbrechung aus christlichen Motiven, wie sie der gesetzliche Vertreter vorgebracht habe, verletze die Interessen des Mündels, wird so zu verstehen sein. 376 - Für April berief Harmsen noch einmal den Ständigen Ausschuß ein, um die Differenzen der Novembertagung zwischen Medizinern und Theologen über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs nach Möglichkeit auszuräumen; 377 er muß es als deprimierend empfunden haben, daß ausgerechnet einige Pfarrer den Kampf der Gesundheitsabteilung und der ihr verbundenen Anstaltsärzte in der oben beschriebenen Weise intern konterkarierten, ohne dies ausdrücklich als Parteigenossen bzw. Deutsche Christen zu tun. Aber auch die Apriltagung des Ständigen Ausschusses verlief ohne Ergebnisse im Sinne einer eindeutigen Festlegung gegen den Schwangerschaftsabbruch. 378 Sowohl der renommierte Biologe Bernhard Bavink/Bielefeld 375

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Am 25.1.1935 schrieb Harmsen an Villinger, die Entschließung des HA sei noch gerade rechtzeitig g e k o m m e n ; nun müsse man abwarten, wie die Kabinettsentscheidung ausfalle: „[...] o b man versucht, das Vorgehen des Reichsärzteführers zu legalisieren oder eine Zurückziehung der diesbezüglichen A n o r d n u n g für richtiger hält". Ebd. - Noch Ende März glaubte Harmsen, der Gesetzentwurf sei zurückgezogen worden, während die Ermächtigung für Wagner weiterhin gelte; vgl. seinen Brief an Prof. Josef M a i e r / P a d e r born v.29.111.1935; A D W , C A / G 1601/3. Ob denn das christliche Gewissen im Gegensatz zum NS-Staat stünde? Er fürchte, wenn es so weitergehe, „eine tiefe Erschütterung im Rechtsgefühl gerade unserer gläubigen christlichen Kreise". N e b e n den medizinischen Aspekten müsse a u c h den weltanschaulichen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt werden [sie], von denen sich - was Frick übersah - die Partei ja in erster Linie leiten ließ. Schreiben v. 25.1.1935; ebd. So ausdrücklich ein Brief an P.Walter Staats/Barum v. 11.11.1935, den er für einen Vortrag gewinnen wollte; A D W , C A / G 1601/3. Staats, Gemeindepfarrer in Barum und Cramme, hatte von 1928 bis 1933 das Ev. Jugend- u n d Wohlfahrtsamt in Braunschweig geleitet; s.a. seinen Beitrag „Im evangelischen Jugend- und Wohlfahrtsdienst für die Stadt Braunschweig 1928-1933", wo er nur eine Braunschweigische Gesellschaft für Eugenik erwähnt, deren Mitbegründer vor 1933 er auf Anregung eines Nervenarztes Dr. Löwenthal [sie] wurde u n d an der sich auch der noch weithin unbekannte spätere Leiter des Rassepolitischen Amtes der N S D A P , der damalige Assistenzarzt a m dortigen Landeskrankenhaus, Dr. Groß, beteiligte. Mitglied des Ständigen Ausschusses scheint Staats erst 1935 geworden zu sein. Vgl. das unvollständige Wortprot. der Tagung V.9.-11.IV. 1935, A D W , C A / G 1601/1, und die beiden Druckfassungen; G F 9 . 1 9 3 5 , 1 7 4 - 1 7 6 u.236-242.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

als auch der oben schon genannte Pastor Dr. Wagner sprachen sich für die Unterbrechung der Schwangerschaft in Not- und Ausnahmefällen aus; Prof. Bavink in der Erkenntnis, daß die Entstehung neuen Lebens als Prozeß mit vielen Zwischenstationen gesehen werden müsse und nicht punktuell einsetze, Wagner in deutlicher Kritik an dem Referat des Leipziger Universitätstheologen Alfred Dedo Müller, der zwar Eheverzicht, Enthaltsamkeit und Sterilisation als mögliche Weisung der Agape, d. h. einer ethischen Haltung, die der Liebe Gottes zu den Menschen entspreche, betrachtete, den Abbruch aber ausdrücklich verwarf. Wagner wollte dagegen keine Grenzen dieser Liebe anerkennen und hielt eine Situation für durchaus denkbar, in der vom Standpunkt der Agape aus die Abtreibung geboten sein könne.379 Für Harmsen wie andere Teilnehmer der Tagung mochte das wie kleinliches Gezänk ohne den Bezug einer wirklich eindeutigen Position klingen; jedenfalls wiederholte er abschließend noch einmal sein Bedauern, daß die praktische Theologie der Inneren Mission so wenig Hilfestellung in diesen Grundfragen ihres Selbstverständnisses zu leisten imstande sei.380 - Allerdings ist die Konzeptionslosigkeit der evangelischen Theologie und Kirche in diesen Fragen frappierend. Selbst wenn man berücksichtigt, daß der Protestantismus kein autoritatives Lehramt kennt, bedeutete der völlige Verzicht auf eine wissenschaftlich-gutachterliche oder kirchenoffizielle Verlautbarung schließlich doch nichts anderes, als die Innere Mission als ,Lebensäußerung der Kirche' mit diesen Problemen allein zu lassen und abzuwarten, wie sie aus eigener Kraft die Krise meisterte oder daran zugrunde ging. Kritische Bemerkungen gerade auch seitens der Bekennenden Kirche vor und nach 1945 zum ,Mittelkurs' des Centraiausschusses und seinem Pragmatismus in bekenntnismäßiger und verbandspolitischer Hinsicht sind von daher in ihrer 379

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Müller relativierte jedoch in gewissem Sinne die Ausführungen seines Referats, wenn er es als Problem bezeichnete, „daß wir hier eine absolutistische Theologie haben, die zur Wirklichkeit in keinem Verhältnis steht". Andererseits gebe es keine Tatsache, die der Christ nicht radikal ernst nehmen müsse; aber „jede Absolutsetzung irgendeiner Welttatsache bedeutet die Vernichtung dieser Welttatsache". Vgl. das Wortprot., a.a.O., und A. D. Müller, Ethik. Der evangelische Weg zur Verwirklichung des Guten. Diesem Thema war auf der Tagung ein eigenes Referat gewidmet, das P. Staats zum Thema „Wer darf im Namen der Kirche Urteile abgeben?" hielt. Auch er beklagte die komplizierte Willensbildung innerhalb der ev. Kirche, die kein Lehramt kenne, und trat für die Schaffung kirchlicher Sachverständigengremien ein, die in Fragen wie der Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischer Indikation kompetent Stellung nehmen könnten; den theologischen Fakultäten sprach er diese Qualifikation,für die heutige Zeit' ab. Bemerkenswert und wie auf die Situation des Ständigen Ausschusses gemünzt war seine Forderung unter Berufung auf Art. XIV der Confessio Augustana, die Kirche müsse von jenen, die sich einer Mehrheitsresolution nicht anschließen könnten, verlangen, in der Öffentlichkeit zu schweigen. Vgl. G F 9.1935,239. - CA XIV, De ordine ecclesiastico, nimmt allerdings nur auf die .Berufung' („rite vocatus") zu Lehre, Predigt und Sakramentsverwaltung in der Kirche Bezug; s. Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, 69.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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Erfassung der historischen Wirklichkeit nur bedingt zutreffend und berechtigt; hier drängt sich als Parallele das Versagen der BK gegenüber der ,Judenfrage' auf. 381 Obwohl Linden das Änderungsgesetz schon für Januar angekündigt hatte, dauerte es noch ein halbes Jahr, bis es erlassen werden konnte. 382 Daraus zu schließen, d a ß dies mit dem Einspruch der Inneren Mission zu tun hatte, dürfte abwegig sein, da der Wortlaut genau jene Bestimmungen enthielt, die Harmsen u n d Faber schon im Dezember 1934 mitgeteilt worden waren. Wahrscheinlicher ist die Annahme, daß in den Monaten bis zur Veröffentlichung des Textes noch harte Auseinandersetzungen zwischen Parteiorganisation und Reichsinnenministerium stattfanden, die um die von Linden so hervorgehobenen Einschränkungen der Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs gegenüber weitergehenden Forderungen der Partei und des Reichsärzteführers Dr. Wagner als treibender Kraft kreisten. Wagner muß, was das erwähnte Schreiben seiner Dienststelle an den Centraiausschuß angeht, wohl versucht haben, auf eigene Faust zu handeln, um gegenüber den Ministerien vollendete Tatsachen zu schaffen. D a ß es ihm nicht gelang, die alleinige Entscheidungsgewalt über den Schwangerschaftsabbruch im Reich an sich zu reißen, spricht neben der Zähigkeit der Administration und ihrem mit der Partei konkurrierenden Herrschaftsinteresse für ein noch vorhandenes, nicht zu unterschätzendes M a ß an rechtsstaatlicher Gesinnung bei den führenden Beamten des Reichsinnenministeriums. Andererseits waren sie von Wagner mit Hilfe seiner Führerermächtigung gezwungen worden, die gesetzliche Regelung trotz starker rechtlicher Bedenken in Angriff zu nehmen. Der weitere Ausbau nationalsozialistischer ,Erbgesundheitsmaßnahmen' durch Heiratsverbote und die Einbeziehung der sogenannten Fremdvölkischen sollte daher nicht lange auf sich warten lassen. Die Innere Mission hatte sich wohl oder übel mit dieser nicht überraschend eingetretenen neuen Lage abzufinden. Wie schon im Falle der Zwangssterilisierung hoffte sie, durch Überweisung der betroffenen Patientinnen in öffentliche Krankenanstalten einen Teil der Verantwortung von sich abwälzen zu können. D a ß jedoch anders als nach Bekanntwerden der ersten Ausführungsbestimmungen anderthalb Jahre zuvor diesmal ein an Resignation grenzendes tiefes Unbehagen, ja Ratlosigkeit und Verzweiflung zurückblieben, wird aus den Verhandlungen des Ständigen Ausschusses im September 1935 deutlich. Hier erregte man sich besonders über ein Merkblatt der Auskunftsstelle, das auf die neuen

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S.dazu Kurt Meier, Kirche und Judentum, R. Gutteridge, The German Evangelical Church and the Jews 1879-1950, Otto D.Kulka, „The Churches in the Third Reich", Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen, Kaiser/Greschat, Der Holocaust und die Protestanten, und Kaiser, „Protestantismus, Diakonie und,Judenfrage' 1933-1941". „Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" v. 26.VI. 1935; RGBl. 19351,773.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Bestimmungen einging, ohne sie weiter zu problematisieren, ja ausdrücklich „zur sorgfältigen Erfüllung aller staatlichen Anordnungen und Gebote" aufrief und bei Schwangerschaften die Abgabe der Frauen ,empfahl'. 383 Harmsen wehrte sich freilich nicht zu Unrecht gegen den Vorwurf der Verharmlosung des neuen Tatbestandes unter Hinweis darauf, daß staatliche Stellen das Flugblatt sofort verboten haben würden, wenn es sich gegen das Gesetz gewandt hätte. 384 Als mehrere Teilnehmer sich mit großer Skepsis über die weitere Entwicklung äußerten und den Punkt gekommen sahen, an dem sie sich an der Ausführung des Gesetzes nicht mehr beteiligten könnten, hielt P. Dr. Depuhl/Hannover nur den zweifelhaften Trost für sie bereit, daß in zwei bis drei Jahren das Problem von selbst gelöst sein werde, womit er darauf anspielte, daß dann alle in Frage kommenden Erbkranken längst sterilisiert sein würden. Das war ein sehr pragmatischer, aber kein christlicher Standpunkt, und Harmsen sah sich wieder einmal in seiner Ansicht bestätigt, das Übel, mit dem man es nun zu tun habe, rühre letztlich von dem Fehlen einer klaren evangelischen Aussage zu Erbgesundheitsfragen her. III.3.5.

Nachgehende

Fürsorge und Ehevermittlung

Sterilisierter

Die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wies einem besonderen Arbeitszweig der Inneren Mission neue Aufgaben zu: der ,Nachgehenden Fürsorge', die sich die Betreuung (sittlich) gefährdeter Mädchen zur Aufgabe machte. 385 Da viele von ihnen von dem neuen Gesetz betroffen waren, kamen auf die in dieser Arbeit stehenden Frauen und Männer Probleme zu, deren Lösung die Beschreitung ungewöhnlicher und neuer Wege verlangte. Neben Beratung und Aufklärung über das Gesetz, wobei man diese jungen Frauen, soweit sie erbkrank zu sein schienen, meistens ermutigte, den Antrag selbst zu stellen, trat nach erfolgtem Eingriff die dauerhafte soziale und seelsorgerliche Begleitung der Sterilisierten. Dies schien besonders dringlich, weil manche von ihnen, wie aus zahlreichen Berichten hervorgeht, der Prostitution nachgingen oder, sofern sich ihre Unfruchtbarmachung herumsprach, gerade auf dem Lande häufig sexuell ausgebeutet wurden, ohne sich dagegen wehren zu können. Stärker noch als die Sterilisation selbst belastete diese oft nur leicht schwachsinnigen Mädchen der Gedanke daran, jetzt keine Ehe mehr eingehen

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Rundschreiben Nr.9 v. 1.VII. 1935; ADW, C A / G 1801/7. Der Leiter des Ev. Reichserziehungsverbandes, P. Fritz/Teltow, hatte kritisch bemerkt, das Merkblatt suggeriere, als sei die IM mit allem einverstanden, was ja nicht zutreffe; Harmsen führte in seiner Erwiderung das Beispiel eines Art. für das ,Pfarrerblatt' über diesen Gegenstand an, dessen Druck von der Zensur verhindert worden war; s. das Wortprot. der Tagung V.9./10.IX. 1935, ADW, C A / G 1601/1, und den Bericht Dr. Anna Mayers in: GF9.1935,347-349. Vgl. zu diesem Arbeitsfeld Gerhardt II, 298 ff.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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zu können. Obwohl weder das Gesetz vom 14. Juli 1933 noch seine zahlreichen Ausführungsbestimmungen etwas über die Heirat von unfruchtbar Gemachten aussagten, 386 fühlte sich die Innere Mission verpflichtet, zu diesem Problem grundsätzlich Stellung zu beziehen. Wieder einmal nahm sie in Erwartung eines entsprechenden Gesetzes die Diskussion darüber intern vorweg, um für die bevorstehende staatliche Regelung gerüstet zu sein. Dabei stand die Eheschließung zweier sterilisierter Partner nicht in Frage, sondern nur der Fall, in dem einer von ihnen von Geburt an, durch Krankheit oder den Eingriff nicht zeugungs- oder gebärfähig war. Im April 1935 veranstaltete der Ständige Ausschuß zu diesem Thema eine Sonderkonferenz. 387 Ein einleitendes Referat von Dr. Anna Mayer über die „Ehefähigkeit Sterilisierter nach kanonischem, protestantischem und bürgerlichem Recht" 388 arbeitete heraus, daß seitens der evangelischen Kirche, die anders als die Katholiken ein Eherecht im engeren Sinne nicht kenne, keine Einwendungen gegen die Heirat Unfruchtbarer erhoben werden könnten. In der sich anschließenden Debatte einigte man sich darauf, bezüglich des kommenden Ehegesundheitsgesetzes keine Empfehlung der Inneren Mission an den Staat auszusprechen; man müsse aber den Heiratskandidaten klarmachen, daß eine Ehe, in der ein Partner sterilisiert wurde, „sowohl aus bevölkerungspolitischen wie aus persönlichen Gründen mit großen Gefahren belastet" sei. Auf den Einwurf von Pastor Lensch, ob der Gesetzgeber solche Ehen überhaupt zulassen werde, warb Prof. Bavink um Verständnis für ein voraussichtliches Verbot, weil der Staat „es eigentlich nicht geduldig mit ansehen [könne], wenn zu 300.000 Sterilisierten 300.000 Gesunde hinzukämen". Prof. Villinger endlich fand die Formel, die sich der Ausschuß zu eigen machte: Solche Verbindungen könne die Kirche aus ethischen Überlegungen zwar nicht verhindern, sie müsse aber erklären, daß sie diese für „nicht wünschenswert" halte.389

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Im Gegenteil: Noch 1935 wies ein maßgeblicher NS-Jurist, der Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Präsident der Akademie für Deutsches Recht, Hans Frank, auf die Wünschbarkeit der Eheschließung Sterilisierter hin. Vgl. ders., „Nationalsozialistisches Familienrecht", in: Deutsches Recht, Jg. 1935, H.4. Wortprot. der in Verbindung mit der Sitzung des Ständigen Ausschusses v.9.-11.IV. 1935 am 12. April zusammentretenden „geschlossenen Arbeitstagung über Fragen der Sterilisation und Schwangerschaftsunterbrechung, besonders Eheschließung Sterilisierter"; ADW, C A / G 1601/1. S.a. den Bericht Bodo Heynes, in: G F 9.1935, 174-176. Andere Referate beschäftigten sich mit Problemen der Ehescheidung, wenn ein Partner sterilisiert worden war, oder gingen auf den sogenannten Zeugungshelfer ein, den das altgermanische Recht und auch Luther noch kannten und billigten, sofern der Mann zur Zeugung eines Kindes nicht in der Lage war - ein Gedanke, der in der Aussprache allerdings mit Hinweis auf die andersartigen sozialen Bedingungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit für die Gegenwart verworfen wurde. Abgedruckt in GF9.1935,141-151. S.a. Walter Staats, „Die Eheschließung Sterilisierter vom evangelischen Standpunkt aus", in: GF9.1935,341 -346. Vgl. das Wortprot., a. a. O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Am 18. Oktober 1935 wurde das Ehegesundheitsgesetz verkündet, das die Eheschließung vom Austausch von Gesundheitszeugnissen abhängig machte und eine Heirat dann untersagte, wenn ein Partner unter das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses fiel, entmündigt war oder an einer geistigen Störung bzw. ansteckenden Krankheit litt.390 Die Innere Mission sagte zu den neuen Bestimmungen ohne Vorbehalte ja, weil sie darin „eine auch von evangelischkirchlicher Seite seit langem erhobene Forderung verwirklicht" sah.391 Freilich war das Gesetz in zeitlicher und geistiger Nähe zu den .Nürnberger Gesetzen' entstanden, was die Innere Mission nicht völlig ignorieren konnte. Und so offenbarte denn auch die Kommentierung von Staatsbürger- und Blutschutzgesetz durch den Ständigen Ausschuß die ganze Ratlosigkeit, die die Behandlung oder besser Nichtbehandlung der ,Judenfrage' hier schon immer charakterisiert hatte. Ausgerechnet die ,Vierteljüdin' Dr. Mayer sprach auf der nächsten Sitzung des Ausschusses über beide Gesetzeswerke und ihre Bedeutung für die Innere Mission, wobei es angesichts der Brisanz des Themas charakteristisch erscheint, daß ihr Vortrag weder in einer Druckfassung noch im Wortprotokoll überliefert ist.392 In der Diskussion regte P. Werner an, die rassenhygienischen Maßnahmen der Regierung seitens der Inneren Mission jetzt stärker zu popularisieren in Anbetracht der diesen gegenüber noch immer latent verbreiteten Abneigung im evangelischen Volksteil; es sei etwa auf das Beispiel der äußeren Mission zu verweisen, wo niemals ein Missionar ein schwarzes Mädchen geheiratet habe. Schwierigkeiten mache allerdings „der Übergang von schwarz und braun auf jüdisch" [sie]; man habe sich „an das Zusammenleben mit Juden und Judenabkömmlingen zu sehr gewöhnt". Die Frage laute heute, ob die Kirche noch Juden aufnehmen und taufen könne; der Entstehung und Förderung einer „Sonderkaste" im Sinne eigenständiger evangelischer Nichtariergemeinden dürfe man nicht das Wort reden.393 Harmsen, der im übrigen die Nürnberger Gesetze 390

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R G B l . 19351, 1246. Der Fall, in d e m ein Partner sterilisiert, der andere aber fortpflanzungsfähig war, wurde in dem Gesetz nicht ausdrücklich angeführt, war aber in der Bestimmung über Erbkrankheiten implizit enthalten. Erst die „Begründung zu d e m G e s e t z zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes" enthielt den Satz, d a ß „eine gesunde zeugungs- bzw. gebärfähige Person nicht an einen unfruchtbar g e m a c h t e n Partner gebunden werden" solle; cf. Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger Nr. 251 v. 26.X. 1935, abgedruckt in G F 9 . 1 9 3 5 , 3 6 4 - 3 6 6 . H. Harmsen, „Zum Ehegesundheitsgesetz", in: G F 9 . 1 9 3 5 , 3 3 9 f. Vgl. das Wortprot. der Tagung v o m 15./16.1.1936; A D W , C A / G 1 6 0 1 / 1 . Pfarrer Werner vertrat im Ausschuß w o h l eine Außenseiterposition, was auch aus seiner Amtsführung als Anstaltsleiter hervorgeht: Er war von 1930 bis 1936 Vorsteher der Stiftung Tannenhof in Lüttringhausen b. Remscheid und versuchte hier 1933 g e g e n den Widerstand des dortigen, ihm gleichgeordneten Chefarztes Dr. Philipps und der Oberin Hildegard v o n Bülow das Führerprinzip durchzusetzen. N a c h e n d l o s e n Querelen und „offensichtlich psychisch nicht ganz gesund", mußte er seinen Posten 1936 niederlegen; er starb 1941. Frdl. Mitteilung des derzeitigen geistlichen Vorstehers, P.Martin Wolf, V.24.V.1985 an den Vf.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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wegen ihrer klaren Definition des ,Deutschblütigen' lobte, die endlich wissenschaftlich vertretbar sei, w ä h r e n d der Begriff ,arisch' eigentlich ernsthaft habe k a u m verwendet werden können, 3 9 4 lehnte die Beantwortung dieser höchst kirchenpolitischen Frage d u r c h ' d i e Innere Mission ab. Allerdings sei es ihre Aufgabe, sich um die Mischlinge 2. G r a d e s zu k ü m m e r n u n d eine Entschließung des Reichskirchenausschusses [RKA] f ü r das Reichsministerium des Innern zu erwirken, um juristische Hemmnisse, die einer Integration dieser M e n s c h e n mit einem volljüdischen Großelternteil entgegenstünden, zu beseitigen. 395 - Das war aber auch schon alles, was die Konferenzteilnehmer zu diesem brisanten T h e m a zu sagen wußten. N i e m a n d trat f ü r die jüdischen Mitbürger ein, n i e m a n d schien ein Unrecht in ihrer entwürdigenden u n d diskriminierenden Behandlung, die auf Ausgrenzung zielte, zu sehen, u n d n i e m a n d fragte sich u n d die a n d e r e n nach dem, was Christen aus ihrer ethischen Verantwortung f ü r den verfolgten Nächsten dazu zu sagen hätten. 3 9 6 Die Sorge u m die eigene Klientel verschloß die Augen vor den Nöten derer, mit d e n e n man kaum unmittelbar zu tun hatte, und machte blind f ü r eine Radikalisierung des Umgangs mit diesen u n d anderen Minderheiten, zu d e n e n schließlich auch diejenigen Menschen gehören sollten, die den evangelischen Einrichtungen als Patienten anvertraut waren. In den Jahren 1936/37 n a h m die Frage, wie die Innere Mission den Sterilisierten wirkungsvoll und d a u e r h a f t helfen könne, in den Verhandlungen des Ständigen Ausschusses breiten R a u m ein. I m m e r wieder wurde erörtert, o b u n d wie man in Kooperation mit privaten Heiratsinstituten oder auch allein Stellen f ü r die Ehevermittlung Sterilisierter schaffen könne, wenngleich der Sinn solcher Verbindungen zwischen u n f r u c h t b a r gemachten Partnern umstritten blieb. 397 Das

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Ob er diese Bemerkung nur machte, um die Diskussion nicht auf gefährliches Terrain zu führen, oder ob er davon wirklich überzeugt war, bleibt zweifelhaft. Ein Blick auf die erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 14.XI. 1935 mit dem Rekurs in § 2 Abs. 2 auf die Religionszugehörigkeit als einzig wirklich faßbarem Kriterium für die jüdische Herkunft demonstriert jedenfalls, wie problematisch eine juristisch zutreffende Abgrenzung von ,Deutschblütigen' und .Juden' war. RGBl. 19351,1333 f. Zur Einteilung in Juden, Judenmischlinge und Deutschblütige im Geltungsbereich der komplizierten Eheregelungen vgl. die „Schautafel für Standesbeamte des Gaues Westfalen (1935)", in: Dieter Aschoff, Die Juden in Münster, B1.6; auch wiedergegeben in: Juden unterm Hakenkreuz, 102 f. Den ersten, insgesamt nicht recht geglückten Versuch zur Aufarbeitung des Verhältnisses von Innerer Mission und Judenfrage im Dritten Reich wagt die am Heidelberger Diakoniewissenschaftlichen Institut entstandene Diplomarbeit von Christine Karl, Diakonische Hilfe für den bedrängten Nächsten im Nationalsozialismus. Die Studie geht auf den hier behandelten speziellen Komplex nicht ein. S.a. den Beitrag des Vf., „Protestantismus, Diakonie und,Judenfrage'. Zur sozialen Dimension eines Konflikts". So warnte Otto Ohl in einem Brief an Harmsen v. 14.VII. 1936, in dem es in erster Linie um die von Ohl angeprangerte ,Geschäftstüchtigkeit' des Münchener Eheanbahnungsinstituts Burg-Union ging, vor einer kirchlichen Förderung der Eheschließung Sterilisierter.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Haupthindernis für die Anbahnung solcher Ehen bildete die zwar gelockerte, hier aber nach wie vor greifende ärztliche und behördliche Schweigepflicht, die nicht nur eine Kontaktaufnahme zwischen Heiratswilligen auf deren eigene Initiative hin nahezu unmöglich machte, sondern auch jede Vermittlung außerordentlich erschwerte. Bemühungen der Inneren Mission und des Reichskirchenausschusses, nach jedem Beschluß zur Unfruchtbarmachung evangelischer Gemeindeglieder eine vertraulich zu behandelnde Mitteilung der Erbgesundheitsgerichte an die zuständigen Pfarrämter zu erwirken, scheiterten endgültig im August 1936 am Veto des Reichsinnenministeriums - freilich nicht, weil die Schutzwürdigkeit der Einzelperson gegenüber dem seelsorgerlichen Auftrag der Kirche Vorrang genossen hätte, sondern weil man dort im Rahmen der sogenannten Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens jeden Anschein vermeiden wollte, als verlasse man - und sei es nur auf peripheren Gebieten - die in der Öffentlichkeit immer wieder proklamierte strikte staatliche Neutralität den Religionsgemeinschaften gegenüber.398 Allerdings sahen auch Behörden und kommunale Spitzengliederungen wie der Deutsche Gemeindetag in der Ehevermittlung Sterilisierter durchaus einen nützlichen Beitrag zum ,sozialen Frieden', vor allem im Hinblick auf den ständig wachsenden Personenkreis, der von den Erbgesundheits- und Ehegesetzen betroffen war.399 Besonders deutlich wird dieses Motiv in einer Anregung des Vizepräsidenten des Deutschen Gemeindetages, Dr. Zeitler, an den Wohlfahrtsausschuß seiner Organisation. Unter Bezug auf entsprechende Publikationen in der evangelischen Presse und die einschlägigen Bemühungen des Centraiausschusses für Innere Mission forderte Zeitler die unbedingte Anerkennung des Ehewunsches ,gemeinschaftsfähi-

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Nicht nur die Kinderlosigkeit werde solche Ehen belasten, auch der körperliche oder geistige Defekt, der jeweils zum Eingriff geführt habe, stehe einer dauerhaften Konsolidierung solcher Verbindungen im Wege; ADW, C A / G 201. Am 10.IX.1936 berichtete Harmsen in einem Brief an die Kirchenkanzlei der DEK über eine Besprechung über diesen Fragenkreis, an der er am 27.VIII.1936 im Rdl teilgenommen habe. Eine - offenbar geplante - Eingabe des RKA, die Aufgabe der Schweigepflicht gegenüber den Geistlichen betreffend, werde deshalb abschlägig beschieden werden. ADW, C A / G 80000/6. - Bereits am 25.VIII.1936 hatte der RKA in einem Rundschreiben an die Pfarrer zur Frage der Auskunftspflicht gegenüber den Gesundheitsämtern in den Fällen, in denen der Geistliche unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses die Anzeigepflicht des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses berührende Informationen erhalten hatte, Stellung genommen. Nur Tatsachen, die nicht unter die Amtsverschwiegenheit fielen, dürften weitergegeben werden, wobei es dem einzelnen Geistlichen überlassen bleibe, die Weiterleitung nach bestem Gewissen und mit persönlichem Takt ohne Gefährdung seines seelsorgerlichen Auftrags vorzunehmen. Vgl. G F 10.1936, 442, und Kurt Nowak, .Euthanasie', 104. Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg an den Deutschen Gemeindetag v. 2.IX. 1936; auch er sei für die Vermittlung der Heirat Sterilisierter, wisse aber davon, daß bei den meisten Oberpräsidenten „erhebliche allgemeine moralische und ethische Bedenken" gegen eine staatliche Ehevermittlung bestünden; BA, R 36/1382.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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ger' Sterilisierter, die oft wertvolle Volksgenossen seien und bei Ablehnung ihres Heiratsanliegens sich aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen und als Menschen zweiter Klasse diskriminiert fühlen müßten. Im Gegenteil verdiene ihr persönliches Opfer für die Volksgesundheit hohe Anerkennung. Um das Problem der Schweigepflicht zu lösen, schlug Zeitler vor, die Vermittlung bei den Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege zu konzentrieren; damit werde die Eheanbahnung Sterilisierter dem Zugriff unseriöser privater Geschäftemacher entzogen, und alle mit dem Eingriff befaßten Ärzte, Schwestern, Geistlichen und Fürsorgerinnen könnten die von ihnen betreuten Patienten auf diese Kontaktmöglichkeit aufmerksam machen, ohne das Gebot der Schweigepflicht zu verletzen. 400 Darüber, wo denn nun die Kontaktanbahnung angesiedelt werden solle, gab es im Ständigen Ausschuß unterschiedliche Auffassungen. Während etwa Prof. Villinger meinte, es böte sich an, d a ß sechs bis acht großstädtische Gesundheitsämter Hilfsstellen einrichteten, denen die ehewilligen Sterilisierten zu melden seien und die d a n n nach sorgfältiger Scheidung der Kandidaten in Ehefähige und Eheunfähige die freien Wohlfahrtsverbände um ihre Mitwirkung bitten sollten, 401 verwarf Pastor Fritz/Teltow die Einbeziehung der Gesundheitsämter aus psychologischen Gründen. Sie würden'von vielen Sterilisierten instinktiv abgelehnt, und da auch die NSV eine Übernahme dieser Arbeit verweigere, richte man die Eheanbahnung am besten gleich bei Innerer Mission u n d Caritas ein. Fritz betrachtete die staatlichen Heiratsverbote ähnlich wie Dr. Zeitler als Hindernis für eine wirkliche Integration der Betroffenen in die Gesellschaft, betonte aber in einer für die Innere Mission ganz typischen Weise vornehmlich die sittlichen Schäden, die durch eine aus Verbitterung hervorgerufene soziale und geschlechtliche Haltlosigkeit besonders weiblicher Sterilisierter der Volksgemeinschaft drohten. 402 Die seelische und moralische Stabilisierung dieser Personengruppe bedeutete also auch für die Innere Mission nicht Selbstzweck als Wiedergewinn eines Teils jener Lebensqualität, die den Sterilisierten durch den mehr oder weniger gewaltsamen Eingriff genommen worden war, sondern stand im Dienst damit nur zufällig harmonierender andersartiger politischer, sozialer und religiöser Interessen, um deren Wahrung willen man sich zu Zugeständnissen an den individuellen Glücks- und Geborgenheitsanspruch dieser gesetzlich

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Brief v. 21.XII. 1936; ADW, C A / G 1801/5. Zeitler erwähnte insbesondere einen Vortrag Dr. Buurmanns/Leer, der auch Mitglied des Ständigen Ausschusses war, vor evangelischen Pfarrern und den Aufsatz der Düsseldorfer Oberin Toni Keßler, „Die fürsorgerische Betreuung der Sterilisierten", in: GF10.1936,335-340. Vgl. das Wortprot. der 10.Tagung des Ständigen Ausschusses v. 10.IX.1936 in Bethel; ADW, C A / G 1601/2. Die freien Träger - Villinger dachte wohl nur an IM und Caritas könnten sich etwa durch die Veranstaltung geselliger Abende an der praktischen Durchführung der Vermittlung beteiligen. P. Fritz, „Gutachterliche Stellungnahme zur Ehevermittlung Sterilisierter" v.2.11.1937; ADW, C A / G 1801/5.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

zuvor aus der Solidargemeinschaft des deutschen Volkes ausgegrenzten Menschen bereit fand. Wir wissen nicht, in wie vielen Fällen die Innere Mission eine Eheschließung Sterilisierter vermitteln konnte und was aus der eugenischen Diskussion bis Kriegsende geworden ist; denn die Protokolle der Verhandlungen des Ständigen Ausschusses brechen 1938 unvermittelt ab. Dafür lassen sich mehrere Gründe denken: Zunächst einmal hatte mit Dr. Hans Harmsen der Anreger und Motor der eugenischen Fachkonferenzen Ende 1937 den Centraiausschuß verlassen und war leitender Arzt der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege geworden; sein Ausscheiden hatte mit Karriereaussichten oder sachlichen Divergenzen innerhalb des Centraiausschusses nichts zu tun, sondern erfolgte aus privaten Gründen. 403 Sein Nachfolger als Leiter der Abteilung Gesundheitsfürsorge wurde der Arzt und Theologe Dr. Dr. Fichtner, während Prof. Villinger/Bethel den Vorsitz des Ständigen Ausschusses Anfang 1938 übernahm. 404 Der bald darauf ausbrechende Krieg und die Überlagerung der Sterilisationsfragen durch die Massentötungen an Geisteskranken, über die seitens des Centraiausschusses so gut wie keine Archivalien überliefert sind, dürften das schwindende Interesse an der Aufrechterhaltung eines Gremiums erklären, dessen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Rassengesetzgebung des Regimes schon lange erschöpft waren. III.3.6.

Eine vorläufige

Bilanz

Als Ergebnis dieses Kapitels bleibt festzuhalten, daß sich die Innere Mission bereits in der Weimarer Republik mit ihrem Votum für die freiwillige Sterilisation auf ein Unternehmen einließ, das von verschiedensten Motiven gespeist wurde: Da verband sich eine darwinistisch inspirierte Sozialutopie, die auf die Herstellbarkeit der ,totalen' Volksgesundheit durch Einführung eines rigiden medizinischen Ausleseprinzips zielte, mit bevölkerungspolitischen Wachstumsvisionen; dies als Voraussetzung für die Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs in engem Zusammenhang mit neuen erbbiologischen und medizinischen Erkenntnissen, die Wissenschaftler und Ideologen gleichermaßen für ihre Zwecke nutzten. Von entscheidender Bedeutung für die Auslösung und Ent403

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So Harmsen in einem Gespräch mit dem Vf. am 3.XI. 1983 in Bendestorf. Obwohl er sich noch 1939 habilitierte, erhielt er erst nach Kriegsende eine Professur an der Universität Hamburg. Harmsen, der zahlreiche Ehrenämter bekleidete, darunter das des Präsidenten von Pro Familia und der Barlach-Gesellschaft, gilt heute als Nestor der Bevölkerungswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. die Einladung Villingers an die Mitglieder des Ständigen Ausschusses v. 10.1.1938 zu einer Tagung, die dann am 24.11.1938 in Tabea stattfand; ADW, C A / G 1202/26. S. a. das Wortprot. der Konferenz, ebd. - Das letzte Schriftstück dieser Aktengruppe ist ein Schreiben Fichtners an Bodelschwingh V.26.XI.1942, in dem Fichtner eine weitere Tagung des Ständigen Ausschusses in Vorschlag bringt; ADW, C A / G 1601/3.

III.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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wicklung der eugenischen Debatte war jedoch die Weltwirtschaftskrise, die den Wohlfahrtsstaat von Weimar auf vielen Gebieten zu Einsparungen zwang u n d die verantwortlichen Politiker jeder Couleur auf die abenteuerliche Idee brachte, mit Hilfe des Skalpells nicht nur zur Kostensenkung beizutragen, s o n d e r n auch die weltanschaulichen und erbbiologischen Ziele sozusagen in einem Durchgang erzwingen zu können. Eine neue szientistisch wie utilitaristisch fixierte Ethik u n d ein d e m Rechtspositivismus verpflichtetes juristisches D e n k e n leistete d e m ebenso Vorschub wie der Einbruch säkularer Vorstellungen in das traditionelle christliche Normengefüge, das längst brüchig geworden war u n d mit d e m von vielen als Katastrophe e m p f u n d e n e n Ausgang des Krieges eine weitere wesentliche Einschränkung seiner gesellschaftlichen Akzeptanz erfahren hatte. Die der eugenischen Bewußtseinsbildung inhärente Dynamik blieb nie auf einen konkreten E n d p u n k t fixiert, sondern erzeugte aus sich heraus immer neue Wirkungsfelder; mit a n d e r e n Worten: Sie zeigte die Tendenz einer a u s u f e r n d e n Erfassung immer größerer Bevölkerungsgruppen, deren ursprünglich eingeräumte Z u s t i m m u n g zu den geplanten erbbiologischen Manipulationen in dem M a ß e außer acht gelassen wurde, wie sich der eugenische Gesetzgebungsprozeß nach 1933 beschleunigte u n d radikalisierte u n d mit einer von Befürwortern wie Kritikern der Sterilisation gleichermaßen früh erkannten Folgerichtigkeit in der ,Euthanasie' endete. Damit soll nicht behauptet werden, d a ß die .Vernichtung lebensunwerten Lebens' von A n f a n g a n zu den realpolitischen Zielvorstellungen der M a c h t h a b e r des Dritten Reiches gehörte. A u c h wenn im Gegensatz zum Judengenozid für die Krankentötungen eine auf d e n 1. September rückdatierte Führerweisung vom Oktober 1939 vorliegt, ergibt sich aus den erst spät einsetzenden Planungen u n d ihrer keineswegs ,perfekten' D u r c h f ü h r u n g nicht der Schluß auf das notwendig mörderische Finale der NS-Erbgesundheits- u n d Rassentheorie. Erst der Krieg und der durch ihn bedingte wohlfahrtspolitische u n d ökonomische Ausnahmezustand schufen die Voraussetzungen d a f ü r . D e r Verzicht auf eine gesetzliche Grundlage f ü r die Tötungen, der - freilich erfolglose Versuch, die Aktion geheimzuhalten, u n d die schweren Konflikte zwischen den beteiligten Ministerien u n d bestimmten Parteigruppierungen im U m f e l d des NSÄrztebundes, denen a n diesen , M a ß n a h m e n ' besonders gelegen war, sind Hinweise auf die Uneinigkeit der N S - F ü h r u n g über diesen Punkt bis Kriegsbe-

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Zur damit in Parallele zu setzenden Auseinandersetzung in der neuesten Forschung zwischen ,Programmologen' und .Revisionisten', ob die Vernichtung der Juden zu den seit langem eindeutig fixierten Zielen nationalsozialistischer Rassenpolitik gehörte oder nicht, d. h. ob sie erst unter den Bedingungen des totalen Krieges und der sich abzeichnenden Niederlage endgültig beschlossen und in die Tat umgesetzt wurde, vgl. die Beiträge von Andreas Hillgruber, „Die .Endlösung' und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus", Martin Broszat, „Hitler und die Genesis der .Endlösung'", Christopher Browning, „Zur Genesis der .Endlö-

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Die Stufenförmigkeit des eugenischen Radikalisierungsprozesses von mehr oder weniger verbindlichen Diskussionen in der Republik bis zur Konkretisierung des Programms seit dem Frühjahr 1933 liegt nach dem Gesagten offen zutage. Waren gesetzgeberische Maßnahmen auf diesem Sektor in Anbetracht der politischen Machtkonstellationen in Weimar nicht durchsetzbar, sondern höchstens als Denkmodelle vorzustellen, gab das Dritte Reich jenen in Partei und Ministerien die Durchführungsmittel in die Hand, die von ihrem Bewußtsein her erbbiologisches respektive rassenhygienisches Handeln aus nunmehr offen eingestandenen primär weltanschaulichen Beweggründen schon lange für unverzichtbar gehalten hatten. Die geschilderten Differenzen zwischen Partei und Staat bezogen sich nicht auf die Grundsatzfrage nach dem Sinn negativ-eugenischer Eingriffe überhaupt - sie betrafen lediglich das Tempo entsprechender legislativer Anordnungen. Zweifellos spielten die Parteiorganisation und hier an erster Stelle der Reichsärzteführer eine ausschlaggebende Rolle, während es dem zuständigen Innenministerium um eine sorgfaltige juristische Absicherung der geplanten Erbgesundheitsgesetze, nicht aber - und das sei noch einmal ausdrücklich betont - um deren Verhinderung zu tun war. Ob es ihm vornehmlich darum ging, einem Mißbrauch vorzubeugen, oder ob man an die Stimmung in der Bevölkerung dachte, die sich bei ungezügelter Verwirklichung des Erbgesundheitsprogramms leicht gegen die ,Bewegung' richten konnte, wird nicht recht deutlich; vermutlich waren beide Motive ineinander verschränkt. Faktisch sorgten Minister Frick und seine Spitzenbeamten damit für eine Verzögerung der eskalierenden Entwicklung von der freiwilligen Unfruchtbarmachung über die Zwangsanwendung bis zum Gebot der Schwangerschaftsunterbrechung. Ungeachtet dieser in Etappen erfolgenden Verschärfung machte der Gesetzgeber vor dem letzten Schritt einer Freigabe der ,Tötung lebensunwerten Lebens' Halt. Daß dies nicht rechtsstaatlichem Denken, sondern der Furcht der politischen Führung und Hitlers selbst vor kaum überwindbaren Widerständen seitens der Bevölkerung zu verdanken war, hat die ,Euthanasie'-Forschung klar herausgearbeitet. 406 Um wieder auf die Innere Mission zurückzukommen: Die gleichen Motive, die hinter der eugenischen Diskussion in der Republik standen, waren auch hier für die Entstehung der erbbiologischen Fachkonferenzen verantwortlich. Der Centraiausschuß, der von seinem Abteilungsleiter Harmsen stark dazu gedrängt wurde, glaubte sich einer eingehenden Debatte über dieses Thema nicht entziehen zu sollen, und dies besonders, weil sich die Landeskirchen und der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß zu einer wegweisenden öffentichen Stel-

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sung'", Hans Mommsen, „Die Realisierung des Utopischen. Die,Endlösung' der Judenfrage im Dritten Reich". S. Kurt Nowak,,Euthanasie' und Sterilisierung, 78 ff., und ders., .„Euthanasie' im Dritten Reich".

II 1.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931-1938

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lungnahme nicht durchringen konnten. Dies fiel selbst den beteiligten Pfarrern, Ärzten und Wirtschaftsdirektoren der evangelischen Heil- und Pflegeanstalten nicht leicht, wie der nachgezeichnete Verlauf der eugenischen Tagungen erweist. Nur zweimal hat der Centraiausschuß im Zusammenhang von Erbgesundheitslehre und Rassenhygiene seine Stimme erhoben, um vor Entwicklungen zu warnen, die er als verhängnisvoll betrachtete: in Treysa 1931 und Berlin 1934. Sah es nach Treysa noch so aus, als hätte er auf die Gesetzgebung Einfluß ausüben können, so stieß er mit der Protestresolution vom Dezember 1934 ins Leere. Freilich mußte er nach Einführung des gesetzlichen Zwangs zur Unfruchtbarmachung an Mißerfolge dieser Art ,gewöhnt' sein, aber qualitativ besaß die Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischer Indikation doch eine wesentlich schwerer wiegende Bedeutung als die Sterilisation. Vielen Teilnehmern der Fachkonferenzen wurde das nicht bewußt, was den Stellenwert des Nein nach innen und nach außen wieder abschwächte. Der Ständige Ausschuß begab sich mit seinen aus theologischen und taktischen Motiven gespeisten Differenzierungsbemühungen auf eine schiefe Ebene, von der aus man jederzeit Gefahr lief, ins Uferlose abzugleiten, ohne daß der Rückzug auf eine kompromißlose Verweigerung gegenüber der eskalierenden staatlichen Gesetzesmaschinerie noch möglich erschien. Die wenigen, die dies durchschauten und offen aussprachen,407 dürften selbst erkannt haben, wie wenig sie noch ausrichten konnten. Die Alternative, die keine war, nämlich ,mitzumachen' oder sich den tief in die Arbeit einschneidenden gesetzlichen Vorgaben protestierend zu entziehen, führte zu einer fast tragisch zu nennenden Verstrickung in die rassenhygienische Praxis des Systems, aus der es kein Entrinnen gab. Die wenigen Zugeständnisse von Partei und Staat trugen nur kosmetischen, manchmal auch aufschiebenden Charakter, aber für eine Kurskorrektur gab es seit der Machtergreifung in Wirklichkeit nie eine Chance. Je stärker sich die NS-Herrschaft konsolidierte, desto ohnmächtiger mußten ehemals einflußreiche gesellschaftliche Kräfte wie die evangelische Kirche und ihre Innere Mission der zunehmenden Pervertierung ursprünglich begrüßter eugenischer Maßnahmen zusehen, die sich zugunsten rassistisch-ideologischer Prämissen von einem für Christen vertretbaren Menschenbild immer mehr entfernten. Die intensive Beschäftigung mit dem Schicksal der Sterilisierten, der Versuch, für sie Ehevermittlungseinrichtungen zu schaffen, und die wechselseitige Unterrichtung über praktische Erfahrungen in den Anstalten und Kliniken der Inneren Mission vermögen nicht über die faktische Handlungsunfähigkeit des Protestantismus gegenüber einer sich kontinuierlich verschärfenden Rassengesetzgebung hinwegzutäuschen. Gewiß verdient es Anerkennung, in welchem Ausmaß sich die Innere Mission insgesamt um ihre

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„Ich sehe mich auf einer Bahn abwärts gleiten, wo überhaupt kein Halten mehr ist", so Dr. Anna Mayer mit Blick auf das Hamburger Urteil auf der Sitzung des Ständigen Ausschusses v. 16.XI. 1934; ADW, CA/G1601/1.

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III- Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Klientel ,kümmerte' und an ihrem Schicksal teilnahm, um den Schaden - wo immer möglich - zu ,begrenzen'. In einem theologischen wie auch - inhaltlich anders zu bestimmenden - historischen Sinne bedeutet es jedoch Schuld, wenn diejenigen völlig aus dem Blick gerieten, denen die diskriminierenden Vorstöße des Nationalsozialismus neben den sogenannten Erbkranken auch und vor allem galten: denjenigen nämlich, die unter die Nürnberger Gesetze fielen, vom Wortlaut her die jüdischen Mitbürger, realiter aber alle ,Fremdrassigen', die so aus der deutschen Volksgemeinschaft entfernt wurden. Die spärlichen Hinweise in den Verhandlungsprotokollen auf jene vor dem Ehegesundheitsgesetz erlassenen ,Blutschutz'- und Staatsbürgerbestimmungen, die damit in engem geistigen Zusammenhang standen, sind dem darin bezeugten Unverständnis und ihrem törichten Gehalt nach ein Indiz dafür, d a ß Innere Mission und Kirche Juden, Zigeuner und Mischlinge kaum zu jenen rechneten, denen sie von ihrem Auftrag her verpflichtet zu sein glaubten. Der späte Protest gegen die seit Kriegsbeginn in großem Stil einsetzende ,Euthanasie'-Aktion erstreckte sich denn auch nicht oder nur in wesentlich abgeschwächter Form auf diese vom Genozid bedrohte G r u p p e deutscher Staatsbürger, die das Regime künstlich zu ,Fremden' erklärt und seit 1933 systematisch ausgegrenzt und diskriminiert hatte. 408 Vielleicht ist die stetige Anpassungsbereitschaft vieler Mitglieder des Ständigen Ausschusses gar nicht so erstaunlich, wie sie auf den ersten Blick anmutet. Es fanden hier Verdrängungsprozesse statt, die es - angesichts des schließlich erlassenen Abtreibungsgebotes - gar nicht erst zu jener .tödlichen Verlegenheit' kommen lassen sollten, von der Kurt Nowak in diesem Zusammenhang spricht. 409 Man scheint vielmehr auf das Schlimmste gefaßt gewesen zu sein, freilich stets in der trügerischen Hoffnung, es werde doch nicht eintreten. Selbst die ,Vernichtung lebensunwerten Lebens' wurde seit Treysa immer mitbedacht, und die Äußerungen über den denkbaren Staatsnotstand oder die Abwägung des medizinisch Möglichen bei s c h w e r b e h i n d e r t e n Patienten zwischen aktiver Versorgung oder passivem Geschehenlassen enthüllen unter der Perspektive des furchtbaren Endes eine Mentalität, die sich - in ,humanem Vollzug' zwar - an den Gedanken einer Ausschaltung Minderwertiger' zunehmend gewöhnte. Wie Kurt Nowak erstmals nachgewiesen hat, begann sich der Centraiausschuß 1940 bereits auf ein ,Euthanasie'-Gesetz einzustellen, das er, als ob die früheren Erfahrungen mit den ,mäßigenden' Gesprächen im Reichsinnenministerium allesamt vergessen worden wären, möglichst auf jene Patientenkategorie beschränkt wissen wollte, die keinerlei Reaktion auf ihre Umwelt mehr zeigte.

40S

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Eine Ausnahme bildet die Denkschrift Paul-Gerhard Braunes, die der Vizepräsident des C A am 7 XII 1938 an den Chef der Reichskanzlei, Minister Lammers, sandte, und mit der er gegen die Behandlung der Juden(-Christen) durch das NS-Regime protestierte. Vgl. dazu C Karl, a.a.O., 71 f., und nochmals Unterkapitel III. 5.2. Vgl. ders.,,Euthanasie', 103

111.3. (Zwangs-)Sterilisation und Innere Mission 1931 -1938

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W i e d e r u m in der u n g e w i s s e n u n d v e r f e h l t e n Ü b e r z e u g u n g , die M e h r z a h l d e r P f l e g e b e f o h l e n e n ,retten' zu k ö n n e n , w a r er o f f e n b a r kurz davor, d e r T ö t u n g d i e ser v e r h ä l t n i s m ä ß i g k l e i n e n G r u p p e k a u m m e h r L e b e n s f ä h i g e r s t i l l s c h w e i g e n d zuzustimmen.410 Was nachdenklich

macht, auch

wenn

das ,Euthanasie'-Gesetz

nie

erlassen

w u r d e , ist d a s bis 1 9 4 0 d u r c h g e h a l t e n e S c h e m a e v a n g e l i s c h - k i r c h l i c h e r R e a k t i o n e n a u f g e p l a n t e G e s e t z e s v o r h a b e n d e s N a t i o n a l s o z i a l i s m u s in d e n B e r e i c h e n E r b g e s u n d h e i t u n d R a s s e n h y g i e n e : Z u n ä c h s t e r f o l g t e e i n e klare S c h e i d u n g z w i s c h e n M a ß n a h m e n , d i e m a n zu b e j a h e n k ö n n e n g l a u b t e , u n d s o l c h e n , die e s a b z u l e h n e n galt. N o c h vor der V e r k ü n d u n g d e s G e s e t z e s u n d s e i n e r A u s f ü h rungsbestimmungen

wurden die zuständigen

M i n i s t e r i e n mit E i n g a b e n

und

U n t e r r e d u n g s g e s u c h e n ü b e r h ä u f t , bis m a n s i c h s c h l i e ß l i c h n a c h d e m Inkrafttret e n a u c h mit j e n e n A n o r d n u n g e n a b f a n d , d e r e n A u f n a h m e in d a s G e s e t z e i g e n t lich hatte verhindert w e r d e n sollen. I m R ü c k b l i c k a u f d i e l a n g j ä h r i g e n D e b a t t e n d e s S t ä n d i g e n A u s s c h u s s e s , die in d i e s e r Frage e i n e unbestreitbare A u f w e i c h u n g ' d e r k o n s e q u e n t e n V e r w e r f u n g j e d e r , E u t h a n a s i e ' e r w i e s e n h a b e n , k a n n m a n g e r a d e z u überrascht sein v o n d e m d e n n o c h v e r b l i e b e n e n W i d e r s t a n d s p o t e n t i a l in z a h l r e i c h e n A n s t a l t e n , d a s frei-

4,0

S. den Abschnitt „ D e r Widerstand in der evangelischen Kirche", ebd., 131 ff. Vertreter eines entgegenkommenden Kurses war offensichtlich CA-Präsident Frick selbst, der sich zum „ K u m m e r " Bodelschwinghs gegenüber Ministerialrat Linden zu der Zusage hatte bewegen lassen, sich unter bestimmten Bedingungen f ü r die Ausfüllung d e r berüchtigten Fragebögen einsetzen zu wollen, wenn d a f ü r die Tötungsmaßnahmen auf einen genau definierten Patientenkreis beschränkt würden, was die meisten ev Anstalten bisher abgelehnt h a t t e n , so F.v. Bodelschwingh an Landesbischof Wurm V.24.X. 1940; LKASt, D 1 ( N L Wurm), Nr. 113. S.a. das Schreiben des Reichsärzteführers und StSim Rdl, Conti, a n die Kirchenkanzlei der D E K v 9.X 1940, wo es mit Bezug auf Pastor Frick heißt: „ N a c h dem ihm eröffnet worden ist, d a ß die M a ß n a h m e n einer Rechtsgrundlage nicht entbehren, hat Präsident Frick zugesichert, d a ß er die bei der Inneren Mission bestehenden u n d auf der unbegründeten A n n a h m e einer illegalen und unsachgemäßen D u r c h f ü h r u n g der M a ß n a h m e n b e r u h e n d e n Widerstände beseitigen w e r d e . . "; ebd., abgedruckt bei G . S c h ä f e r / R . Fischer(Hg.), Landesbischof D. Wurm, 131 Im N L O t t o Ohls findet sich ein Schriftstück „Betr. .Anstaltsmaßnahmen'" v. 19.III. 1941 o h n e Vf.-angabe, in dem der Versuch gemacht wird, die in den ev Heil- u n d Pflegeanstalten betreuten Patienten je nach Krankheitsgrad in acht Kategorien einzuteilen. Das Papier diente eindeutig d e m Zweck, d e n unter die erwartete ,Euthanasie'-Gesetzgebung fallenden Personenkreis so klein wie möglich zu halten. Damit war in Erwartung der staatlichen Regelung wiederum ein Stück der Erklärung von Treysa u n d jetzt ihr Kern a u s pragmatischen Gesichtspunkten und d e m Zwang zum K o m p r o m i ß insgeheim modifiziert worden, u n d dies aufs neue in der verzweifelten H o f f n u n g , für das O p f e r der Preisgabe einer Minderheit der Kranken die Mehrheit vor der Vernichtung zu bewahren. A D W D ü , BO, o. Sign. - Eine ähnliche Liste erstellte E n d e 1940 der Nachfolger Villingers als Chefarzt von Bethel, Prof. Schorsch, sie u m f a ß t e lediglich sieben Patientengruppen u n d war n u r ihrer Intention nach, nicht in allen inhaltlichen Kriterien, dem Ohl-Schriftstück ähnlich. Die Betheler Aufstellung von Schorsch ist abgedruckt bei Ernst Klee,,Euthanasie' im NS-Staat, 322.

390

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

lieh nicht ausreichte, um die der Kirche anvertrauten Pflegebefohlenen insgesamt vor der physischen Vernichtung zu bewahren. Auch wenn die hier lebensgeschichtlich besonders eindrücklich erfahrbare Vollstreckungsgewalt des totalitären Staates der Opposition und Gegenwehr von Vorstehern, Centraiausschuß und einzelnen Kirchenführern kaum einen Spielraum ließ, so daß ihr mutiger Kampf gegen die Tötungen nur sehr beschränkt als erfolgreich zu werten ist, sind sie von der zumindest ideellen Mitverantwortung für die Ermöglichung einer zum Massenmord führenden Extrementwicklung nicht freizusprechen. Um der geschichtlichen Wahrheit willen muß das Faktum festgehalten werden, daß hier Menschen und zumal Christen das Undenkbare dachten und Ausnahmesituationen konstruierten, in denen ihnen das Unfaßbare vertretbar und somit machbar erschien.

II 1.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

391

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse Unter dem Blickwinkel ihrer seit 1929 gültigen Satzungen betrachtet, befand sich die Innere Mission im Dritten Reich organisationsrechtlich in einer merkwürdigen Schwebelage. Trotz aller Bekenntnisse zum Führerpinzip und der angeblichen Überwindung des ,liberalistischen' Parlamentarismus der ,Systemzeit'411 war die alte Verfassung nach wie vor in Kraft und wurde nur durch die Rechtsbrüche der Staatskommissare von Jägers Gnaden kurzfristig in ihrer Geltung unterbrochen. Es fehlte - wie erwähnt - seit 1933 nicht an Versuchen, einen Verfassungsneubau analog jenem, der im Juli 1933 für die evangelische Kirche verwirklicht worden war, auch hier zu schaffen. Doch entweder kamen solche Vereinbarungen gar nicht zustande oder andere, wie das Abkommen mit der Reichskirche vom 18. Oktober 1933, erlangten praktisch keine rechtliche Bedeutung. Von daher war es nur folgerichtig, wenn die mit dem fortschreitenden Machtverlust des Präsidenten Karl Themel einhergehende Zurückdrängung des von ihm und seinen Gesinnungsfreunden installierten Führerprinzips sich mit dem Amtsantritt Fricks erst recht fortsetzte.412 Es zeigte sich aber bald, daß nicht alle Verantwortlichen in Centraiausschuß und Innerer Mission das Führerprinzip aufgeben wollten. Die Mitte 1935 wiederaufgenommenen Beratungen einer neuformierten Satzungskommission boten Befürwortern wie Gegnern gleichermaßen Gelegenheit, für ihre Vorstellungen einzutreten. Die Verfechter einer straffen Zentralgewalt legten im August 1935 ein Papier vor, in dem sie für eine Neuordnung der Inneren Mission auch ohne vorherige Konsolidierung der kirchenpolitischen Verhältnisse plädierten. In den Verhandlungen mit der NSV fehle der Inneren Mission eine mit klaren Vollmachten ausgestattete Spitze. Bisher bilde der Centraiausschuß lediglich die Geschäftsstelle vieler unabhängiger Verbände, die „eifersüchtig" darüber wachten, „daß sie in ihrer rein liberalistisch aufgefaßten .Freiheit' nicht beschränkt werden". Wenigstens auf wirtschaftlichem Sektor müsse der CA Zuständigkeiten für eine wirksame Kontrolle der ihm angegliederten Einrichtungen erhalten. Auch die Ermächtigung zur Berufung und Entlassung aller Mitarbeiter gehöre zu seinen Aufgaben, die deshalb

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Vgl. Anm.413 dieses Abschnitts. 1935 publizierte der inzwischen zum Vorsteher des Diakonissenmutterhauses HamburgAltona berufene Dr. Adolf Stahl einen Beitrag zum,Führergedanken in der Inneren Mission', in dem er die Anwendung eines starr militärisch orientierten Führerprinzips in Kirche und IM in geschickt verschlüsselter Form einer theologischen Kritik unterzog. Recht verstandene christliche Führerschaft beziehe sich auf die Wegweisung zum Evangelium und zu Christus. Diese Interpretation, die ihm verbal ein Festhalten am Führerprinzip ermöglichte, hatte nun aber auch nichts mehr mit jener Auslegung zu tun, die Themel und Schirmacher 1933/34 im CA praktiziert wissen wollten.

392

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

nach dem Führerprinzip neu geregelt werden sollten.413 - Der CA-Vorstand wehrte dieses Ansinnen noch vor der Neubildung einer Satzungskommission mit dem Argument ab, auch auf der politischen Ebene trete ein rigoristisch aufgefaßtes Verständnis von Führerschaft mehr und mehr zurück. Durch die Mitgliedschaft der Inneren Mission in der Deutschen Arbeitsfront sei jedoch eine gewisse Aufsichtspflicht des Centraiausschusses über die angeschlossenen Anstalten in finanzieller und politischer Hinsicht künftig unerläßlich; man könne sonst der öffentlichen Verantwortung für die eigenen Werke nicht gerecht werden. 414 Der Verweis auf dieses Prüfungsrecht, das im Rahmen der später errichteten sogenannten Treuhandstellen zur Überwindung der Finanzengpässe aufgrund der Verringerung des Zuflusses öffentlicher Mittel tatsächlich zustande kam, 415 ging manchem Vereinsgeistlichen 1935 noch zu weit. So warnte der badische Geschäftsführer Wilhelm Ziegler davor, die historisch gewachsene und notwendige Eigenständigkeit der Untergliederungen leichtfertig zu beschneiden. Der Centraiausschuß sei keine „vorgesetzte Behörde", sondern nur für die Außenvertretung der ihm nahestehenden Verbände verantwortlich. Personelle Führungs- und Bestätigungsrechte seien deshalb überflüssig, über ein Anhörungs- und möglicherweise sogar über ein Vetorecht könne man dagegen reden. Grundsätzlich gelte aber, daß der Centraiausschuß mit vertrauensvoller Zusammenarbeit mehr erreiche als mit dem Pochen auf Kompetenzen. 416 - Schließlich legte auch der Präsident einen Satzungsentwurf vor, der in Analogie zur Reichskirche von einer Deutschen Inneren Mission sprach und sie der Schirmherr-

413

414

415 4,6

„Richtlinien für eine Neuordnung der Inneren Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" V.20.VIII. 1935 o. Vf.-angabe; ADW, C A 876 IV/1. - Das alte Argument, ohne Führerprinzip könne die IM mit der NSV nicht erfolgreich verhandeln, brachte Jahre später noch einmal der schleswig-holsteinische Landesgeschäftsführer Dr. Epha/Kiel vor; vgl. GK-Prot. v. 13.V. 1938; ADW, CA 761 XX. Prot.-auszug der CA-Vorstandssitzung v. 21.VIII. 1935; ADW, CA 100 IV/1. Zu Mitgliedern der Satzungskommission wurden berufen: Wendelin als Vorsitzender, Ziegler, Ohl, Wenzel, Schirmacher und Heinrich. - In der D A F gehörte die IM zur Reichsbetriebsgemeinschaft 13 (Freie Berufe). Am 12.X.1935 wurde innerhalb dieser Abteilung die Fachgruppe ,Freie Wohlfahrtspflege' errichtet, zu der alle Einrichtungen (,Betriebe') von Caritas, DRK, NSV und IM sowie die freiberuflich tätigen Volkspfleger(innen), Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen zählten. - Auf die arbeitsrechtlichen Probleme der Inneren Mission im Dritten Reich kann im Rahmen dieser Studie nicht eingegangen werden; vgl. dazu den Beitrag des hannoverschen Landesgeschäftsführers und Volkswirts P. Dr. Depuhl, „Innere Mission und deutsche Arbeitsfront", in: IM 31.1936, 14-22, und die knappen Angaben bei Gerhardt II, 361. Vgl.Anm.442. Rundschr. Zieglers an die Mitglieder der Satzungskommission v. 16.IX. 1935 ; A D W , CA 100 IV/1. Mit deutlichem Blick auf das Regiment Themel/Schirmacher und seine Ausgrenzungspraxis fügte Ziegler hinzu, der CA müsse sich auch für jene einsetzen, welche „die neue Zeit nicht ganz begriffen haben" - das erfordere sein christliches Selbstverständnis.

III .4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

393

schaft der DEK unterstellen wollte. Frick verzichtete auf eine Wiederbelebung des Führerprinzips, stattete den Präsidenten aber mit außerordentlichen Befugnissen aus, die nur durch einen neu vorgesehenen Centraivorstand und den erweiterten Centraiausschuß beschränkt werden sollten.417 III.4.1. Reichskirchenausschuß und Innere Mission Wie so oft, wenn man sich seit 1933 mit Verfassungsfragen beschäftigte, wurden die angestellten Überlegungen einmal mehr durch die kirchenpolitische Wirklichkeit eingeholt, was bedeutete, daß die seit dem Amtsantritt Fricks im Schatten der ungeklärten kirchlichen Lage entstandenen Entwürfe wieder in der Schublade verschwanden. 418 Denn im Herbst des Jahres 1935 unternahm die Reichsregierung einen weiteren Anlauf, die verworrene Situation innerhalb des deutschen Protestantismus in ihrem Sinne zu klären. Daß dieser Neubeginn mit dem abgewirtschafteten Regiment Ludwig Müllers und seiner Helfer ohne jede Chance bleiben würde, war dem erst seit kurzem mit kirchenpolitischen Fragen betrauten früheren Minister ohne Geschäftsbereich, dann für Raumordnung zuständigen NS-Politiker Hans Kerrl bewußt. 419 Das am 24. September erlassene ,Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche' sollte den Kirchenkampf beenden und unter Einschluß der gegensätzlichen Gruppierungen die Einheit der Reichskirche auf den verfassungsrechtlichen Grundlagen vom Juli 1933 wiederherstellen.420 Mit dieser Konzeption, die also Deutsche Christen und Bekennende Kirche gleichberechtigt an dem Befriedungswerk beteiligen wollte, war jedoch der Erfolg der - durch die erste Durchführungsverordnung vom 3. Oktober ins Leben gerufenen - Reichs- und Landeskirchenausschüsse bereits in Frage gestellt: Sogleich nahmen die BK-Gruppen Anstoß an dem Gesetz, weil

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418

419

420

Danach bestand der Centraivorstand aus dem Präsidenten, seinem Stellvertreter, 2 Vizepräsidenten, dem Schatzmeister, dem Direktor und je 2 von CA und Präsident zu berufenden Mitgliedern. Der neue CA würde sich aus dem Centraivorstand und 20 Mitgliedern der Landes- und Provinzialvereine, 10 Mitgliedern der Fachverbände und 10 vom Präsidenten zu bestimmenden Mitgliedern zusammensetzen, was diesem (auch ohne Führerprinzip) eine vorher unbekannte Machtfülle beschert hätte. S. den Entwurf v. 19.IX. 1935; ebd. Als die Satzungskommission am 23.IX.1935 am Kyffhäuser tagte, wurde der ursprüngliche Plan, eine völlig neue Verfassung auszuarbeiten, mit Rücksicht darauf verworfen, daß dies eine Neugründung des CA bedeute, für die man angesichts der gespannten Lage in der Wohlfahrtspflege nicht die erforderliche staatliche Genehmigung erhalten werde. Man verwarf auch die zunächst in Aussicht genommene Bestätigung des Präsidenten durch das Reich, wollte diese jedoch „in normalen Zeiten" auf die Kirchenregierung übertragen. Vgl. das Prot., ebd. Näheres zur Entstehung des RKM bei Leonore Wenschkewitz, „Zur Geschichte des Reichskirchenministeriums und seines Ministers", und Meier II, 66 ff. Kerrl übernahm in sein Haus die kirchlichen Zuständigkeiten des Innen- und Kultusministeriums. RGBl. 19351,1178, und GBl. d. DEK 1935,99.

394

III. D i e Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

sie wegen der Einbeziehung der Deutschen Christen und deshalb, weil die Aktion von außerkirchlichen Instanzen ihren Ausgang genommen hatte, die Grundlagen des Bekenntnisses aufs neue für verletzt hielten.421 Die Haltung dieses Flügels war in sich allerdings nicht einheitlich; so sagten die sogenannten intakten Landeskirchen Bayerns und Württembergs ebenso ein bedingtes Ja zu den Ausschüssen wie die Erste Vorläufige Kirchenleitung, während die Bruderräte auf ihrer Ablehnung beharrten und die Empfehlung an ihre Mitglieder herausgaben, sich nicht für diese Gremien zur Verfügung zu stellen. Im Rahmen des hier gestellten Themas ist entscheidend, daß personelle Besetzung und Politik des in erster Linie interessierenden Äeic/wkirchenausschusses (RKA), der die D E K zu leiten und nach außen zu vertreten hatte sowie kirchliche Verordnungen erlassen konnte, in den knapp anderthalb Jahren seiner Tätigkeit einen Kurs der Mitte signalisierten. Das kam dem Centraiausschuß entgegen, der sich sehr zum Unwillen der radikaleren Fraktionen des Kirchenstreites ja auf keine Richtung festgelegt hatte und häufig zwischen den Fronten taktierte. Besonders die Person des von Kerrl berufenen RKA-Vorsitzenden Wilhelm Zoellner, des langjährigen, inzwischen im Ruhestand lebenden westfälischen Generalsuperintendenten, 422 der in CA und Innerer Mission stets in hervorgehobener Position mitgearbeitet hatte, weckte dort Hoffnungen auf eine seit Gründung der DEK anstehende positive Klärung des Verhältnisses zur Reichskirche. Ende November legte Pastor Heyne/Bremen dem Centraiausschuß eine Denkschrift über „organisierte Innere Mission und verfaßte Kirche" vor, die wesentliche Forderungen an den RKA vorwegnahm und die wichtigsten Probleme zwischen Diakonie und Kirche auflistete. Heyne ging von der zentralen These aus, Innere Mission wolle weder „Ersatzkirche noch eine selbständige Größe außer ihr" darstellen, sondern verstehe sich „als die I. M. der Deutschen Evangelischen Kirche": Während die evangelische Liebestätigkeit oftmals die Besonderheiten des kirchlichen Lebens und seiner Verfassung nicht genügend beachte, schätze die Kirche ihrerseits die Aufgaben der Inneren Mission häufig als „zweitrangig" ein und beschränke sich auf die Wortverkündigung. Diese Konflikte rührten von der Unabhängigkeit der Diakonie von der verfaßten Kirche her, und es sei gewiß nicht einfach, einen „Ausgleich zwischen bischöflicher Führung und tätigem Handeln auf Grund des allgemeinen Priestertums'" zu finden. Wegen des finanziellen Risikos für die Kirche und der Verbürokratisierungsgefahren für die Innere Mission komme deren „Unterstellung" unter das Kirchenregiment jedoch nicht in Frage. Er rate statt dessen zu enger Fühlungnahme, auch im Per-

421 422

Zur Geschichte der Kirchenausschüsse s. wiederum Meier II, 78 ff. Leben und Werk Zoellners zeichnet die jüngst erschienene Biographie von Werner Philipps nach: Wilhelm Zoellner - M a n n der Kirche. Die in vielen Details reichlich knapp referierende Lebensskizze geht auch auf das Verhältnis Zoellners zu den Verbänden, insbesondere zur IM zwischen 1935 u n d 1937, nicht ein.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

395

sonalbereich. M a n k ö n n e der Kirche zugestehen, die Arbeitsgebiete der Inneren Mission u n d der anderen Verbände kraft eigener Autorität voneinander abzugrenzen; d a f ü r solle die Reichskirche die Belange der Inneren Mission ausdrücklich bejahen, d. h. sie als Vertretung kirchlicher Interessen auf ihrem Sektor anerkennen. 4 2 3 Damit hatte Heyne die Marschrichtung des Centraiausschusses f ü r die bevorstehenden Verhandlungen mit dem R K A abgesteckt. Auch Zoellner versprach sich offensichtlich von einer vertragsähnlichen Vereinbarung im Hinblick auf seine weiterreichenden Pläne mit dem Verbandsprotestantismus einiges ; 424 er schaltete sich im März 1936 persönlich in die Beratungen ein und hielt anläßlich der Sitzung des Hauptausschusses am 10.111. ein Grundsatzreferat über „Kirche u n d Innere Mission im U m b r u c h der Zeit". Wenige Tage zuvor hatte ihm Pastor Frick eine umfangreiche Ausarbeitung zugeleitet, in der er noch einmal die G r ü n d e aufzeigte, w a r u m die A n n ä h e r u n g an die Reichskirche immer dringlicher werde. Es gehe um Sein oder Nichtsein der Inneren Mission, die wegen vielfältiger Auseinandersetzungen mit NSV u n d staatlichen Stellen k a u m noch wisse, wie lange sie weiterwirken könne. Fast sei es wieder so wie nach 1918, als die sozialistische Regierung damit begonnen habe, die religiösen Freiheiten einzuschränken, den starken Widerstand seitens der konfessionellen Verbände im Wohlfahrtsbereich letztlich aber nicht brechen konnte. H e u t e lauteten die Bedrohungen ,Entkonfessionalisierung', Sammlungsgesetzgebung u n d Machtansprüche der NSV. N u r ein Schulterschluß mit der verfaßten Kirche werde das Fortbestehen evangelischer Liebestätigkeit sichern. 425 - Unmittelbar vor dem Erscheinen Zoellners im H a u p t a u s s c h u ß n a h m e n die Vereinsgeistlichen Heyne u n d Engelmann die Gespräche mit Vertretern des R K A auf, so d a ß der entscheid e n d e n Sitzung am 10. des Monats bereits ein Richtlinienentwurf über die abzuschließende Vereinbarung vorlag. Er sah die offizielle Anerkennung der Inneren Mission durch den R K A u n d ihre Beauftragung „mit der W a h r n e h m u n g kirchlicher Interessen auf ihren Arbeitsgebieten" vor. D a f ü r sollte die „Gesamtlinie" dieser Arbeit nur im Einverständnis mit d e m R K A festgelegt und diesem in wichtigen Personalfragen ein Mitentscheidungsrecht eingeräumt w e r d e n ; auch die Probleme der Abgrenzung zu anderen Verbänden - gedacht war etwa an die Frauen-, Männer- u n d Jugendarbeit, f ü r die der C A eigene Referate unterhielt wollte man im Sinne der Vorschläge Heynes lösen. 426

423 424 425

426

Prot, der CA-Vorstandssitzung V.27.XI.1935; A D W D ü , BO, 10/1-1. S.w.u. III.4.2. Frick unterbreitete daran anschließend eine Reihe von konkreten Vorschlägen, die darin gipfelten, alte Berufsarbeiter der IM in den kirchlichen Dienst zu übernehmen. Auch möge Zoellner erwägen, ob nicht einzelnen herausragenden Vertretern der I M kirchliche Titel verliehen werden könnten, um ihnen „eine gewisse Schutzfarbe" zu geben. Vgl. das 12seitige Sehr. Fricks an Zoellner v.2.111.1936; EZA, E K D C 3/161. Prot.-auszug der CA-Vorstandssitzung V.9.VI.1936; ADW, C A 100 IV/2.

396

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Zoellner wußte also um die gravierenden Probleme des Centraiausschusses und um dessen daraus resultierende Bereitschaft zu Kompromissen mit dem Kirchenregiment, als er sein Thema entfaltete. 427 Er begann mit einem Rückblick über die Geschichte der Inneren Mission im 19. Jahrhundert, während dessen ihr trotz unbestreitbarer Leistungen eines nicht gelungen sei: anerkannt von Staat und Kirche und mit ihnen gemeinsam für „Volk und Vaterland" zu wirken. Die Kirche beobachtete sie mit Skepsis und hielt auf Distanz, der Staat förderte sie nur insoweit, als sie ihm ungeliebte und teure Pflichten abnahm. Zwischen beiden ging sie ihren Weg und wurde dabei groß und einflußreich. In der „Systemzeit" traten die Parteien an die Stelle des Staates; ungeheure Mittel flössen der evangelischen Wohlfahrtspflege zu, die dadurch in ihr wesensfremde Arbeitsgebiete eindrang, ihrem Auftrag untreu wurde und endlich in der Devaheim-Affäre fast Bankrott machte. Doch dann kam der „Umbruch" des Dritten Reiches mit dem von Gott gesandten Führer und einem Staat neuer völkischer Einheit, der zahlreiche Aufgaben an sich zog, die früher von Sonderorganisationen wie der Inneren Mission bewältigt wurden. Natürlich habe das für die herkömmliche christliche Liebestätigkeit eine Zeit schwerer Krisen zur Folge gehabt: Die bittere Erkenntnis verschaffte sich nur langsam Bahn, daß zwischen Staat und Kirche nun kein Raum mehr war - Vereine und Vereinsrecht hatten sich überlebt. Als Führer des RKA kenne er - Zoellner - nur einen Ausweg: trotz vieler Mißverständnisse der Vergangenheit hinein in die Kirche! Die doppelte Parole laute heute: Innere Mission muß „missio ecclesiae", die Kirche „Subjekt der Inneren Mission" werden. 428 Zoellner hatte dem Centraiausschuß also den Preis für ein Entgegenkommen der Kirche genannt, diesen andererseits aber nicht so hoch angesetzt, daß seine Forderungen das historisch gewachsene Selbstverständnis der Inneren Mission tangiert hätten. Das konnte auch sein Interesse nicht sein, solange die von ihm verkörperte Politik der Kirchenausschüsse durch den radikalen Flügel der Bekennenden Kirche immer wieder in Frage gestellt wurde. Die Verbände und unter ihnen an vornehmstem Platz die Innere Mission schienen beim Neu- und Ausbau einer befriedeten Reichskirche willkommene Bundesgenossen, weil sie wegen der ihnen nachgeordneten Einrichtungen traditionell Extrempositionen scheuten und eine reichsweite Organisation besaßen, auf die eine einzelne Lan427

428

Die Rede ist abgedruckt in IM 31.1936,79 - 86, und in einer ungekürzten Fassung in Zoellners Broschüre: Von der Neuordnung der Kirche, 18 - 30. Die Wiedergabe der wichtigsten Gedanken stützt sich auf die zweite Fassung. Ebd., 24. - Im Anschluß an diese Ausführungen warb Zoellner vehement um Unterstützung für die Aufgabe der Kirchenausschüsse und wandte sich gegen die Vorwürfe der bruderrätlichen Richtung, er besitze keine geistliche Legitimation für seinen Leitungsanspruch und wolle auf eine Staatskirche hinaus. Davon könne keine Rede sein; aber Kirche, die nicht zur ,Frei- oder Winkelkirche' verkümmern wolle, müsse als Körperschaft des öffentlichen Rechts den Konsens mit dem Staat anstreben.

111.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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deskirche nur bedingt Einfluß ausüben konnte. In diesem Sinne war Zoellners Vortrag auch eine Werbeveranstaltung für den in jenem Frühjahr durch die Bekenntnissynode von Oeynhausen und ihre weitreichenden Beschlüsse in seiner Legitimität besonders angefochtenen RKA. 429 Seine Mitarbeiter brachten das noch pointierter zum Ausdruck, wenn sie - wie Dr. Paul Winckler - die gleichzeitig tagenden Geschäftsführer beschworen, sich geschlossen hinter die Ausschüsse zu stellen; nur dann könnten diese auch in der politischen Arena wirkungsvoll zugunsten der Inneren Mission agieren. 430 Die angestrebte Vereinbarung zwischen CA und RKA kam dennoch erst nach weiteren langwierigen Besprechungen zustande, an denen Zoellner wiederum selbst beteiligt war, wohl um mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit und dem ihm entgegengebrachten Vertrauensbonus die Befürchtungen all jener zu zerstreuen, die von einer engeren Anbindung an die Reichskirche nicht nur Schutz vor Übergriffen von Partei und Staat, sondern ebenso einschneidende Restriktionen und die Verbürokratisierung ihrer Arbeit erwarteten. Schließlich spielte auch das kirchenpolitische Moment der umstrittenen Legitimationsbasis des RKA eine nicht zu unterschätzende Rolle für die zögerliche Art, in der manche Vereinsgeistliche dem geplanten Abkommen begegneten. Diese sammelten sich in erster Linie in der schon früher erwähnten ,Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Werke und Verbände', einer BK-nahen Gruppierung, die Zoellners Initiativen freundlich, wenngleich distanziert verfolgte, sich andererseits aber auch der rigorosen Ablehnungsfront im bruderrätlichen Lager verweigerte. Ihr kam es vor allem darauf an, daß Zoellner nicht die geistliche Leitung des Kirchenregiments für sich reklamierte, die auch die .Arbeitsgemeinschaft' ausschließlich der inzwischen gebildeten Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung zuerkennen wollte. Ihre Mitglieder betrachteten die Annäherung an die verfaßte Kirche primär unter Rechtsschutzgesichtspunkten und lehnten substantielle Zugeständnisse, besonders aber jede förmliche Unterstellungserklärung

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Zwar vermochten sich die Synodalen nicht zu einem eindeutigen Votum gegen die Ausschüsse durchzuringen, sie ermächtigten aber den Reichsbruderrat, der Zoellners Politik ablehnend gegenüberstand, eine neue VKL zu wählen, die zwei Tage nach der Ansprache des Generalsuperintendenten vor dem CA-Hauptausschuß am 12.1 II. zustande kam. Ihr gehörten ausschließlich Männer an, die dem RKA nicht allein die geistliche Leitungskompetenz für die DEK absprachen - das hatte die 1. VKL schon getan -, sondern die Berechtigung seines Regiments auch in anderen Leitungsbereichen verwarfen. Näheres bei Meier II, 101 ff. „Nachdem durch den [Kirchen-]Streit zum guten Teil und durch die Strömung antichristlicher Art zum anderen Teil der Raum der öffentlichen Arbeit der Kirche so eingeschränkt ist, ist es eine zwingende Aufgabe des Kirchenausschusses, diesen Raum unter allen Umständen wieder zu öffnen." So Winckler lt. GK-Prot. v.9,/10.111.1936; ADW, CA 761 XVIII.

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

398

ab. 4 3 1 D i e s e W i d e r s t ä n d e sorgten dafür, d a ß die Ergebnisse einer Z u s a m m e n k u n f t in Düsseldorf-Kaiserswerth, a u f der d i e Führer v o n C A u n d R K A sich a u f e i n e Vier-Punkte-Verlautbarung bereits verständigt hatten, 4 3 2 n a c h o f f e n sichtlich harten D e b a t t e n in d e n n a c h f o l g e n d e n C A - V o r s t a n d s s i t z u n g e n w i e d e r zurückgenommen

werden

mußten.

Zwei

Tage

vor

dem

RKA-Erlaß,

der

d a s Verhältnis v o n Innerer M i s s i o n u n d R e i c h s k i r c h e eigentlich a u f e i n e zukunftweisende

neue

Grundlage

stellen

sollte,

verabschiedete

der

Centraiaus-

s c h u ß e n d l i c h ein Papier, 4 3 3 d a s Z o e l l n e r n a h e z u wörtlich in j e n e Erklärung ü b e r n a h m , d i e sein A u s s c h u ß a m 18. April der Öffentlichkeit ü b e r g a b ; sie lautete: Das oberste Organ der Selbstverwaltung der Inneren Mission ist der Central-Ausschuß für Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche. Er arbeitet in enger Verbindung mit der Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche und ist von ihr beauftragt, die Belange der Inneren Mission in der Öffentlichkeit, insbesondere auch bei den Staats- und Parteistellen zu vertreten." 434 Es k a m n u n alles darauf an, o b diese b e i d e n inhaltlich z u n ä c h s t n i c h t s s a g e n d e n Sätze mit L e b e n gefüllt werden k o n n t e n ; d e n n bei Licht betrachtet hatte nur d i e Innere M i s s i o n ihr Ziel eines verbesserten Schutzes durch die kirchliche , A p p r o -

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432

433

434

Vgl. die Aktennotiz von Superintendent Forck, der gleichzeitig Mitglied des Beirats der .Arbeitsgemeinschaft' und der 2. VKL war, v. 3.IV. 1936 über eine Beiratssitzung in Hannover am selben Tag; EZA, 50/199. In Kaiserswerth hatten Zoellner, Bodelschwingh, Frick, Greifenstein, Lüttichau, Ohl, Gustavus, Winckler, Heinrich u n d Engelmann auf der Grundlage der bereits vorliegenden Richtlinien beschlossen, 1. die Verbindung zwischen IM und Kirche nicht nur auf Reichs-, sondern auch auf Länder- bzw. Provinzialebene zu intensivieren. 2. sollte je nach Art der Arbeitsgebiete die Verbindung unterschiedlich eng sein, so etwa im Finanzbereich, wo man sich kirchlicherseits verpflichtete, nur in Fällen vermuteter Mißwirtschaft eine Überprüfung anzuregen. 3. wollte man Zoellner einen sachverständigen IM-Repräsentanten zur Seite stellen, der „als bevollmächtigter Vertreter des Vorsitzenden des RKA auftreten kann, und welcher die Möglichkeit hat, maßgebend im N a m e n der Kirche mit Staats- und Parteidienststellen zu verhandeln". Dazu wurde Otto Ohl ausersehen. Grundlage der geplanten Vereinbarung sollte schließlich 4. die Erklärung sein, d a ß die D E K die IM mit der Wahrung ihrer Interessen auf ihren Arbeitsfeldern beauftrage; man wollte regelmäßige Besprechungen abhalten und einen „Vertrauensausschuß f ü r personelle Fragen" einrichten. Auch sollten unter Beteiligung der Kirche Treuhänderausschüsse zur Überwachung des wirtschaftlichen Bestandes der IM geschaffen werden. Vgl. das Prot., EZA, E K D C 3/161. S. die Prot, der CA-Vorstandssitzungen v. 3. und 16.IV. 1936, in denen nochmals „ernste Bedenken" gegenüber dem Kaiserswerther 4-Punkte-Programm geäußert wurden. Auch gab es anscheinend Einwände gegen die Beauftragung Ohls, die jener jedoch mit der Erklärung entkräften konnte, er werde in völliger Unabhängigkeit diese Kontakte pflegen und sich die Arbeit für Zoellner keinesfalls finanziell vergüten lassen. A D W , BO, 10/1-1,1. A D W , CA 664/3. S. a. Beyreuther, Geschichte der Diakonie, 201.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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bation' erreicht, während der D E K lediglich die Hoffnung blieb, daß die ausdrücklich genannte ,enge Verbindung' des Centraiausschusses mit ihr auch Realität werden würde. Ob Zoellner selbst von vornherein skeptisch war oder sich anfänglich der Illusion hingab, sein Plan einer fruchtbaren Kooperation mit der größten Organisation des Verbandsprotestantismus werde auf Dauer tatsächlich zur Verkirchlichung der Inneren Mission und der übrigen Verbände führen, ist ungewiß. Viel Anlaß besaß er eigentlich nicht, sich falsche Vorstellungen zu machen: Auf seinen Vorschlag hin, man müsse nun eine gemeinsame „innere Verhandlungslinie" ausarbeiten, nichts dürfe überstürzt werden, bedeutete ihm wenige Tage später Präsident Frick, man solle im beiderseitigen Benehmen die neue Zusammenarbeit erst einmal ausprobieren'. 4 3 5 Der durch den Reichsbruderrat eingesetzten neuen sogenannten 2. VKL dagegen ging die vermutete Kompromißbereitschaft der Inneren Mission schon zu weit. Sie gab deshalb bei Missionsdirektor Knak/Berlin, einem Vorstandsmitglied der ,Arbeitsgemeinschaft', ein Gutachten über das Verhältnis von Centraiausschuß und RKA nach der April-Verfügung in Auftrag. Der zum Kreis der Gemäßigten innerhalb der BK zählende Knak strich darin den Schutzcharakter der Vereinbarung heraus und plädierte - sicherlich zur Überraschung der 2. VKL - dafür, diese Entwicklung als beispielhaft für die übrigen Verbände und selbst für die Äußere Mission anzusehen. Auch er glaube, daß sich im Nationalsozialismus das alte Vereinswesen nicht aufrechterhalten lasse; es widerspreche „überhaupt dem Stil des gegenwärtigen Staates". Wenn die Verbände aber zwischen Kirche und Staat wählen müßten, könne der Ausgang nicht zweifelhaft sein. Der Streitpunkt zwischen BK und RKA liege in dem Anspruch Zoellners auf ,Leitung' der Kirche. Das sei der Grund dafür, warum die Innere Mission ihren Konnex zur Reichskirche noch nicht institutionalisiert habe, sondern sich vorerst mit persönlicher Fühlungnahme zufriedengebe. Er - Knak - warne deshalb aus den dargelegten Gründen vor einem offenen Konflikt zwischen Innerer Mission und Bekennender Kirche. 436 Harte Kritik an dem Abkommen vom 18. April kam unerwartet noch von ganz anderer Seite: Die thüringische Kirchenbewegung Deutsche Christen, der

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Aktennotiz Fricks über sein Gespräch mit Zoellner am 21.IV. 1936; ADW, C A / G 80000/6. Auf Zoellners erneute Zusicherung, er werde Ohl wie verabredet „zum Verbindungsoffizier" bestellen, er habe jederzeit Zutritt zu ihm, ging Frick ebenfalls nicht weiter ein und breitete statt dessen seine Beschwerden über Sammlungs- und Schwesternfragen sowie die gefährdete Zukunft der ev. Frauenschulen vor Zoellner aus. - Anläßlich der CA-Vorstandsbesprechung v.6.V. 1936 berichtete Ohl von einer Unterredung mit Zoellner, in der man sich darauf geeinigt habe, „das Verhältnis von Kirche und Innere[r] Mission nicht durch nähere Formulierungen zu belasten, sondern durch enge persönliche Arbeitsverbindung in [ . . . ein] Vertrauensverhältnis zu kommen". Prot, in A D W D ü , BO,

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Knak an den Bruderrat der BK der APU v.29.V. 1936; EZA, 50/199.

10/1-1,6.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

extremste Flügel der,braunen' deutschen Protestanten, fühlte sich genötigt, Centraiausschuß und Innere Mission aufs schärfste dafür zu rügen, daß sie sich unter den Schutz der Reichskirche begeben hatten. 437 Die radikalen Deutschen Christen erkannten richtig, daß dieses in Abwehr gegen die Übergriffe von Staat, Partei und NSV geschehen war, und monierten nun, die Diakonie sei in der „Systemzeit hängen geblieben" und habe ihren Auftrag im Dritten Reich nicht erkannt: Da heute Dienst am Volk nur im Geist nationalsozialistischer Weltanschauung erfolgen könne, sei „das große Sterben der Inneren Mission vorauszusehen". Auch der neue Staat treibe christliche Nächstenliebe; es komme darauf an, zu helfen, und nicht auf den Verkündigungscharakter der rettenden Tat. Wenn sich die Innere Mission angesichts der desolaten Verhältnisse jetzt in einer DEK verkirchlichen lasse, die das Vertrauen des Staates noch nicht wiedergewonnen habe, bedeute das konkrete Parteinahme im Kirchenkampf. Das sei für den Staat untragbar; künftig dürften nur noch solche Kräfte in der Inneren Mission wirken, die neben Gesichtspunkten des Mitleids und der Barmherzigkeit auch völkische Positionen verträten.438 Diese letzte Bemerkung bezog sich auf die nicht unberechtigte Befürchtung, der Centraiausschuß werde sich in Zukunft all jener Mitarbeiter entledigen, die eher im Lager des Nationalsozialismus als in der Kirche zuhause waren.439 Damit waren der Centraiausschuß und mit ihm sein vorsichtig taktierender Präsident erneut,zwischen alle Stühle' geraten, wenn auch die Attacken der Nationalkirchler nicht in gleicher Weise ernst genommen wurden wie die Kritik aus dem BK-Lager. Im Unterschied zu den stürmischen ersten Monaten und Jahren des Kirchenkampfes hegte die Mehrheit der Inneren Mission jetzt deutliche Sympathien für eine Seite, nämlich die Kirchenausschüsse, denen sie ungeachtet 437

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Vgl. das undatierte Pamphlet .Grundsätzliche Erklärung zur Lage der Inneren Mission und sich daraus ergebende Forderungen nebst Begründung'. Abschließend machte sich das Papier die klischeehaften und teilweise abstrusen Vorwürfe mancher NSV-Kreise gegenüber der Diakonie zu eigen: So sei es von Beginn an „eine fromme Lüge" gewesen, wenn man Diakonissen eine leistungsgerechte Entlohnung mit dem Argument verweigert habe, sie arbeiteten doch allein aus Dank und Liebe zu ihrem Herrn. An der männlichen Diakonie sei zu beanstanden, daß sie stark feminine Züge aufweise; es gebe kaum noch .richtige Männer' in den Brüderhäusern; ebd. Tatsächlich teilte der CA am 19.XI.1936 unter Berufung auf die RKA-Verfügung v. 18.IV. einen derartigen Beschluß in einem Rundschr. mit: „Vorstandsmitglieder in einer Einrichtung der Inneren Mission der Deutschen Evangelischen Kirche können nur solche Persönlichkeiten werden, die bewußte Glieder der evangelischen Kirche sind, sich als solche betätigen und als Vorstandsmitglieder bereit sind, auf Grund der Heiligen Schrift und der Bekenntnisse der Kirche die christliche Eigenart der Einrichtung der Inneren Mission und ihres Dienstes (Erziehung, Pflege, usw.) zu wahren." EZA, EKD C 3/162. Damit sollten Versuche regionaler NSV-Beauftragter und Gauleiter abgewehrt werden, Personen ihres Vertrauens, die oft nicht einmal Mitglied der Kirche waren, gewaltsam in die Führungsgremien der Anstalten einzuschleusen.

. III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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bestimmter Vorbehalte in Kreisen der .Arbeitsgemeinschaft' realistische Chancen für eine Befriedung der Reichskirche einräumte. Mit unverbindlichen Loyalitätsbekundungen wollte Zoellner sich jedoch nicht zufriedengeben. Wenn es die Absicht des Centraiausschusses gewesen war, die Rechtsschutzmöglichkeiten der Kirche für sich auszuschöpfen und dabei eine Verkirchlichung im Sinne einer Unterstellung unter das Kirchenregiment mit aller Macht zu verhindern, so dachte Zoellner umgekehrt gar nicht daran, sich auf Dauer mit freundlichen Allgemeinplätzen seitens der Inneren Mission zu begnügen und dennoch die erwünschten Leistungen für sie zu erbringen. Seine Ziele waren weiter gesteckt; und wenn er im März davon gesprochen hatte, daß zwischen dem NS-Staat und der Kirche für den freien Protestantismus kein Platz mehr sei, war das für ihn keine Floskel oder bloßer Vorwand für kirchliche Herrschaftsinteressen, sondern tiefste Überzeugung. Er wollte zwar über die verschiedenen Etappen der unausweichlichen Verkirchlichung und auch das Tempo dieses Prozesses mit sich reden lassen, aber an dem Faktum selbst ging für ihn kein Weg mehr vorbei, zumal er die Verbände für sein Einigungswerk brauchte, wenn schon ein gewichtiger Teil der Bekennenden Kirche sich dagegen sperrte. So wie er die Leitungskompetenz der DEK in vollem Umfang für sich beanspruchte, dürfte er trotz gegenteiliger Versicherungen eine Annäherung von Kirche und Verbänden letztlich doch als deren Unterwerfung unter die Jurisdiktion der Reichskirche aufgefaßt haben. Die Befürchtungen maßgeblicher Männer der Inneren Mission waren deshalb nicht aus der Luft gegriffen, andererseits mußten sie sich aus ihrer Zwangslage heraus den Wünschen Zoellners bis zu einem gewissen Grade fügen. Beide Seiten verhielten sich, was ihre tatsächlichen Vorstellungen betraf, also in bestimmtem Sinne bedeckt; das erschwerte die offene und faire Kommunikation und sollte beide Partner - Zoellner mehr noch als den Centraiausschuß - schließlich um die erhofften Früchte ihrer Zusammenarbeit bringen. Der greise Generalsuperintendent sah die Widerstände wohl, auf die seine Verkirchlichungspolitik in den Reihen der Verbände stieß. Eine Zeitlang glaubte er daran, mit Ermahnungen und unter Hinweis auf die kirchenleitende Funktion der Ausschüsse, so wie er sie sah, diese Opposition überwinden zu können. In einem ausführlichen Rundschreiben an Landeskirchen und Verbände kritisierte er Ende Juni, viele Organisationen flüchteten sich seit der Verfügung vom 18. April gern unter das schützende Dach der Reichskirche, weigerten sich aber, „die notwendigen Folgerungen daraus zu ziehen" und den RKA „auch als die verantwortliche Leitung der DEK anzuerkennen". Den Gemeinden werde suggeriert, sein Führungsanspruch sei ungerechtfertigt, „ja als kirchenpolitische Kampfmaßnahme" zu verstehen. Er - Zoellner - fungiere aber nicht als Handlanger des Staates, sondern arbeite mit Männern der Kirche zusammen; um Volk und Kirche willen könne er „nicht länger dulden, daß unsere Gemeinden irregeführt werden". Wer sich in die Reichskirche einordnen wolle, müsse auch

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

ihre Leitung akzeptieren. 440 - Vermutlich einer der wenigen, die sich von diesen starken Worten beeindrucken ließen, war CA-Präsident Frick,441 der aber gegenüber vielen seiner Landes- und Provinzialgeschäftsführer, die Zoellners Absichten mißtrauten oder der Arbeitsgemeinschaft' angehörten, einen schweren Stand hatte und im Grunde nur von Schirmacher gestützt wurde, den freilich darüber hinaus auch eigennützige Motive bewegten. Im August des Jahres ermächtigte der RKA nämlich den Centraiausschuß, alle „in der Inneren Mission der Deutschen Evangelischen Kirche zusammengeschlossenen Anstalten und Einrichtungen der evangelischen Liebestätigkeit in ihrer Verwaltung und Wirtschaftsführung zu betreuen"; der CA seinerseits sollte in Ausübung dieser Rechte dem RKA verantwortlich sein. 442 Diese Verfügung stärkte natürlich Bedeutung und Einfluß des Centraiausschusses und damit auch die Stellung des Ersten Direktors; sie berührte andererseits das Verhältnis zu Zoellners Kirchenregiment nur am Rande und konnte daher auch von jenen mitgetragen werden, die gegen eine engere Bindung an die DEK Bedenken trugen.443 Daß sich der CA in seinen Kontrollrechten letztlich vor den Kirchenausschüssen verantworten sollte, schien angesichts der Bedrohungen durch NSV, Steuer- und Sammlungsgesetzgebung, die eine Beratungs- und Prüfungskompetenz von Berlin aus erforderlich machten, von peripherer Bedeutung. Schirmacher wertete die Ent-

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Rundschr. v. 19.VI. 1936; EZA, E K D , C 3/161. Auf der G K V.30.VI.1936 ging Frick auf Schwierigkeiten der IM durch den Kirchenkampf ein: „Jetzt, wo wir den Kirchenausschuß haben und D.Zoellner, zu dem ich persönlich uneingeschränktes Vertrauen habe, sabotieren wir diesen M a n n und wundern uns, wenn die Stimme der Kirche nicht genügend beachtet wird." Im „Totalstaat" des Dritten Reiches sei f ü r die IM nur die kirchliche Linie gangbar. GK-Prot., A D W , C A 761 XVIII. Vgl. die RKA-Verfügung V.6.VIII.1936, die unter Bezugnahme auf Art. 4 der DEK-Verfassung von 1933 (Stichwort: .fördernde Obhut') u n d auf den Erlaß v. 18.IV. 1936 zustande kam ; A D W , C A 664/3. - Am 11 .VIII. 1937 erließ der C A dazu Ausführungsbestimmungen ; sie sahen die Einrichtung einer zentralen Treuhandstelle für den Gesamtbereich der IM in Berlin und entsprechende Büros auf Provinzial- bzw. Länderebene vor. Der Berliner Zentrale gehörten der Direktor, der Schatzmeister, ein Vorstandsmitglied u n d ein Sachverständiger für Wirtschaftsprüfungen an. Die CA-Treuhandstelle sollte „Richtlinien und Bestimmungen über Ziel, U m f a n g und D u r c h f ü h r u n g der Betreuung u n d der Prüfung der Anstalten u n d Einrichtungen der Inneren Mission" erlassen und das eingehende Prüfmaterial bearbeiten. Es war daran gedacht, jeweils am Jahresende eine Gewinn- und Verlustrechnung für die gesamte I M aufzustellen, wobei der CA für die Vertraulichkeit der Daten verantwortlich zeichnete. Analog sollten die angegliederten Stellen verfahren. Ebd. Wie auf der G K V.6.X.1936 mitgeteilt wurde, hatte die RKA-Verfügung im CA-Vorstand eindeutige Zustimmung gefunden. Man argumentierte damit, der Erlaß sei notwendig geworden, um „uns vor Willkürlichkeiten zu schützen oder vor Eingriffen, die uns unerwünscht sind". Selbst Bodelschwingh als Exponent der .Arbeitsgemeinschaft' habe trotz mancher Bedenken zugestimmt. U m jederzeit Rechnung legen zu können, sei ein kontrolliertes Finanzgebaren der Anstalten unerläßlich. GK-Prot., A D W , C A 761 XVIII.

II 1.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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wicklung des Jahres 1936 aber doch als Anerkennung des kirchlichen Primats durch die Innere Mission, was ihr im Gegenzug „gewissermaßen kirchenrechtlichen Charakter" verliehen habe. Nach außen hin trete sie nun als ,Kirche' auf; als Selbstverwaltungskörperschaft bleibe sie - darin einer Synode ähnlich jedoch vom Kirchenregiment unabhängig. 444 Der geschäftsführende Direktor mochte darauf vertrauen, daß Zoellner dieser eigenwilligen Interpretation zustimmen würde; allerdings sind Zweifel daran angebracht. Als Schirmacher Ende des Jahres beim RKA darum bat, ihm in Erneuerung des Abkommens vom 18. Oktober 1933 für seine angeblich nie unterbrochene nebenamtliche Referententätigkeit in der Kirchenkanzlei den Titel eines Oberkonsistorialrats zu verleihen, was seine Position bei Verhandlungen mit Staats- und Parteidienststellen nur stärken könne, reagierte Zoellner nicht darauf. 445 II 1.4.2. Ein neuer Plan: Die Volkskirchliche

Arbeitsgemeinschaft

Der Generalsuperintendent verfolgte inzwischen einen anderen Kurs, um seine auf die freien Verbände bezogenen Ziele zu erreichen. Mit Hilfe eines jener Männer, die er nach Übernahme des RKA-Vorsitzes zu seiner Unterstützung nach Berlin geholt hatte, des bayerischen, später in Hessen-Nassau wirkenden Religionspädagogen Prof. Lic. Theodor Ellwein, förderte er das Projekt einer ,Volkskirchlichen Arbeitsgemeinschaft' (VAG), deren Aufgabe es sein sollte, „die Verbindung zwischen den Reichsstellen der kirchlichen Verbände und Vereinigungen und der Leitung der DEK herzustellen, um auf diese Weise die einheitliche Ausrichtung der kirchlichen Arbeit unter Wahrung der verfassungsmäßigen Selbständigkeit der Landeskirchen im Bekenntnis und Kultus zu sichern". 446 Am 30. Juni 1936 hielt Ellwein auf der Geschäftsführerkonferenz der Inneren Mission einen Vortrag, in dem er den versammelten Vereinsgeistlichen die bevorstehende Gründung der VAG mit gesellschaftspolitischen Argumenten .schmackhaft' zu machen suchte: Wenn die Reichskirche den Zusammenschluß aller Verbände unter ihrer Führung heute vorantreibe, so geschehe das, um dem Staat dadurch einen kompetenten, im Namen aller Werke handlungsfähigen Ansprechpartner zu präsentieren, dessen Vollmacht seiner kirchlichen Autorisierung entspringe. Die Innere Mission sei „Kirche in Bewegung" und keine Vereinssache - eine These, die Otto Ohl zustimmend aufgriff, indem er warnend

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Vgl. das undatierte Memorandum Schirmachers: „Das neue Verhältnis der amtlichen Kirche zur Inneren Mission", das in Kenntnis des Erlasses V.6.VIII. entstand; ADW, CA 876 IV/2. Schirmacher an RKA v. 16.XI1.1936; ADW, C A / G 80000/5. Nicht ungeschickt wies er darauf hin, daß auch OKR Wendelin/Dresden seinerzeit diesen Titel als Landesgeschäftsführer der IM in Sachsen aus derartigen Gründen erhalten habe. Am 1.X.1936 wurde Ell wein zum OKonsR ernannt. Zu ihm und zur Geschichte der VAG s. a. Meier 11,127 -129; Zit. 127.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

darauf hinwies, daß der Staat gerade heute dabei sei, mit Hilfe des Vereinsrechts die Bewegungsfreiheit nicht verkirchlichter evangelischer Gruppierungen mehr und mehr einzuengen; mit dem Angebot einer Zusammenfassung unter ihrem schützenden Dach komme die Kirche zum rechten Augenblick.447 Am 30. Juli 1936 wurde die VAG durch Beschluß des RKA offiziell begründet und Ellwein zu ihrem Geschäftsführer ernannt. Die Leitung übernahm ein Vorstand mit Zoellner als Vorsitzendem, dem kurzzeitigen CA-Präsidenten Karow und dem braunschweigischen Landesbischof Johnsen als Vertreter der Männerarbeit. 448 Wie der Kirchenausschuß in einem Rundschreiben an die Verbände ausdrücklich betonte, sei durch Konstituierung der VAG keine „besondere, mit Verwaltungsbefugnissen augestattete Amtsstelle" geschaffen worden; auch an einen künftigen Ausbau in dieser Richtung denke niemand, weil „die geordnete kirchliche Gemeindearbeit" nicht Sache der Reichskirche sei. Alle Versuche, auf solchem Wege zu einer straff zentralisierten Reichskirche zu kommen, lehne der RKA grundsätzlich ab, weil diese damit in Gefahr stehe, „einen unionistischen Charakter" anzunehmen. Die VAG trage nicht umsonst das Wort ,Arbeitsgemeinschaft' im Namen; sie werde mit den Verbänden lediglich Fühlung halten und sich um die Schulung der Mitarbeiter kümmern. 449 - Nun waren es aber weniger ,unionistische' Tendenzen, die den Centraiausschuß und andere Verbände wie das Evangelische Frauenwerk gegenüber der VAG in einer gewissen Reserve verharren ließen,450 sondern noch immer Vorbehalte hinsichtlich der kirchenleitenden Legitimation Zoellners und seiner Ausschüsse sowie die Sorge, daß VAG und Verkirchlichung jedes Eigenleben der bis dahin freien Verbände zunichte machen könnten. Das kam auch in einer Stellungnahme des CA-Vorstands zum Ausdruck, der dem Unternehmen an sich freundlich gegenüberstand und es begrüßte, daß mit der VAG eine Einrichtung ins Leben getreten sei, „die forscht, vermittelt und unterrichtet", die äußeren Umstände ihrer Entstehung jedoch als ,unglücklich' empfand. 451 Man kann vermuten, daß die Zurückhaltung des Vorstands mit der harten Kritik zu tun hatte, die er und vor allem Frick selbst anläßlich der Beiratssitzung der Arbeitsgemeinschaft der missionarischen

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GK-Prot. V.30.VI.1936; ADW, CA 761 XVIII. Lediglich die Pastoren Braune/Lobetal und Niemann/Münster warnten vor übereilten Festlegungen, da man zuvor mit allen Landes- und Provinzialgeschäftsstellen Rücksprache nehmen müsse. Vgl. das sich darauf beziehende RKA-Rundschr. v.lO.VIII.1936, E K D , A 4/539, und GBl. d. D E K , Ausg. B, Nr.23 v.22.VIII. 1936. S.a. Meier II, ebd. Von OK.R Dr. Mahrenholz gezeichnetes Rundschr. V.2.IX.1936; EZA, a.a.O. Wenn man berücksichtigt, daß die Großverbände IM, GAV, EB und zu großen Teilen auch das Männer-, Jugend- und Frauenwerk dezidiert konfessionalistische Positionen nach außen ohnehin nicht einnahmen und um ihres Zusammenhaltes willen bekenntnismäßige Profilierungsbestrebungen intern nivellierten, erscheint dieses Argument als abwegig und lediglich taktischen Zwecken dienend. Vgl. das Prot. V.6.X. 1936; ADW, CA 2123.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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und diakonischen Werke und Verbände' am 18. September 1936 in Bethel einstecken mußten. Der Präsident habe - so hieß es dort - mit seinem Ja zu einem Beitritt der Inneren Mission zur VAG ohne Information des Vorstands gehandelt und die angeschlossenen Vereine damit „in größte Schwierigkeiten gebracht". Es stehe überhaupt in Frage, ob der vielbeschäftigte Vorsteher eines Diakonissenmutterhauses daneben noch in der Lage sei, das Präsidentenamt des Centraiausschusses angemessen zu verwalten. Auch Schirmacher entging scharfen Vorwürfen an die Adresse seiner Amtsführung nicht; einige der in Bethel Versammelten hielten es für dringlich, an seiner Stelle oder wenigstens ihm gleichgeordnet einen neuen theologischen Direktor zu berufen, und schließlich wurden sogar Stimmen laut, die ein Ersetzen des alten Centraiausschusses durch die ,Arbeitsgemeinschaft' selbst vorschlugen. 452 Angesichts dieser Angriffe und konkreter Überlegungen, den Centraiausschuß mit tief einschneidenden, rigorosen Maßnahmen auf die Linie der BK-Opposition zu bringen, wird das vorsichtige Lavieren des Vorstandes und seines Präsidenten im Herbst 1936 verständlich.453 Auch wenn dies Drohungen blieben, die nicht realisiert wurden, wohl auch, weil der Einfluß der ,Arbeitsgemeinschaft' dazu nicht ausreichte, zeigten sie doch die bekenntniskirchliche Mißstimmung gegenüber dem Kurs von Centraiausschuß und Innerer Mission auf, die man dort nicht einfach ignorieren durfte, wollte man die vielfach berufene kirchenpolitische Neutralität nicht gefährden. Wie die Arbeit der Kirchenausschüsse seit Mitte des Jahres 1936 stagnierte auch das VAG-Projekt, obschon Zoellner immer wieder versuchte, seiner verbandspolitischen Lieblingsidee zum Durchbruch zu verhelfen. Entschieden trat er dem Verdacht seiner Gegner entgegen, die VAG solle „selbständige kirchliche Arbeit leisten", und bestritt, daß er mit der VAG jemals die Absicht verfolgt habe, „irgendwelche Befehlsgewalt über die Verbände in die Hand zu nehmen". Er wolle ihre Arbeit doch nicht,fesseln', sondern ,entfalten' und habe deshalb auch darauf verzichtet, der VAG die Rechtsform eines eingetragenen Vereins zu geben 454 Aber solche Versicherungen halfen wenig und brachten Ellwein und Zoellner ihren Zielen nicht näher. Auch wenn der Widerstand gegen die VAG langsam abflachte, so daß ihr bis Ende des folgenden Jahres elf Verbände beitra-

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Zur Sitzung in Bethel s. die Aktennotiz von Sup. Forck V.22.IX.1936; EZA, 5 0 / 1 9 9 . Schon am 9.IX. beschwerte sich P. Kloppenburg namens der Oldenburgischen BK-Synode bei der 2. VKL über die Annäherung von IM und VAG und forderte diese auf, den angeschlossenen Kirchenregierungen bald „eine möglichst ausführliche Darlegung der gegenwärtigen Lage auf dem Gebiet der Inneren Mission, des Frauenwerkes usw." zu geben; ebd. Am 6.XI. betonte der CA-Vorstand nochmals, er sei dagegen, daß aus der VAG „eine feste Organisation gemacht" werde. Vgl. das Prot. ; ADW, a. a. O. S. das Prot, der Besprechung zwischen Zoellner, Karow, Johnsen und Ellwein v. 16.X. 1936; EZA, E K D A 4/539.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

ten, darunter der CA, Frauen- und Männerwerk, Gustav-Adolf-Verein und Evangelischer Bund,455 behinderten Finanzierungsprobleme und eine zunehmende Konzentration auf religionspädagogische Fragestellungen - Ell weins ursprüngliches Arbeitsfeld! - die Verwirklichung der eigentlichen Intention, die VAG zu einem lebensfähigen und selber Initiativen ergreifenden Scharnier zwischen Kirche und freiem Protestantismus zu machen. - Als die Ära der Kirchenausschüsse im Frühjahr 1937 zu Ende ging und ihr Exponent Wilhelm Zoellner kurz darauf starb, versank auch die Volkskirchliche Arbeitsgemeinschaft in eine Schattenexistenz ohne Bedeutung für die weitere Entwicklung des Verbandsprotestantismus bis Kriegsende.456 So scheiterte der letzte Versuch seitens der Reichskirche, sich die evangelischen Vereine unter Wahrung ihrer inneren Selbständigkeit einzugliedern. Die Vision eines geschlossen dastehenden deutschen Protestantismus im Dritten Reich, der den Kirchenstreit überwunden und zu einer kraftvoll in Staat und Gesellschaft agierenden Volkskirchlichkeit zurückgefunden hatte, war damit hinfallig. III.4.3.

Die Reichstagung

der Inneren Mission

1937

Nach ihren Satzungen mußte die Innere Mission in regelmäßigen Abständen einen Kongreß veranstalten, der abwechselnd in verschiedenen Städten Deutschlands tagen sollte. Bedingt durch den Devaheim-Skandal und die kirchenpolitischen Wirren der ersten Jahre des Dritten Reiches hatte der Centraiausschuß seit Königsberg 1928 eine derartige Tagung nicht mehr durchgeführt. Im Spätherbst 1936 reifte jedoch der Entschluß, zu Beginn des neuen Jahres mit dem 43. Kongreß für Innere Mission die lange zurückreichende Tradition dieser Großkundgebungen christlicher Liebestätigkeit wieder aufzunehmen. Ob man glaubte, das auf eine neue Grundlage gestellte Verhältnis zur Reichskirche auch nach außen hin dokumentieren zu sollen, oder was sonst zu dieser von Frick persönlich mitbeeinflußten Entscheidung des Centraiausschusses führte, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Die relativ kurzfristig erfolgende, ja improvisiert erscheinende Organisation des zunächst für den 12.-14. Dezember 1936 geplanten, dann für den 23.-25. Januar 1937 einberufenen Kongresses, zu dem die Einladungen erst Anfang Januar verschickt wurden, deutet auf Meinungsverschiedenheiten und eine gewisse Unsicherheit der Verantwortlichen sowie auf Schwierigkeiten mit den genehmigenden Behörden im Vorfeld der Zusammenkunft hin. Die offiziell verbreitete Version begründete die Notwendigkeit der 455

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Auflistung im Sehr, der Kirchenkanzlei an die Finanzabteilung der DEK V.9.X1I.1937; ebd. Zur Finanzmisere der VAG cf. den Brief des inzwischen in der VAG-Geschäftsstelle tätigen Prof. Hermann Schafft an OKonsR Gustavus v. 18.1.1937 und das Prot, einer CAVorstandssitzung mit Vertretern der Kirchenkanzlei v.ö.IX. 1937; ADW, CA 2123. Zum Niedergang der VAG bis 1939 s. nochmals Meier II, 127-129.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

407

Tagung mit der geistlichen Zurüstung aller Mitarbeiter der Inneren Mission in ihrer „Verpflichtung für den Dienst der Liebe".457 Daß diese eher seelsorgerliche, auf die innere Antriebsstruktur evangelischer Wohlfahrtspflege zielende Motivation ein bewußtes Understatement beinhaltete und daß den CA-Vorstand sehr wahrscheinlich darüber hinausgehende Absichten bewegten, kann als sicher gelten; der nicht publizierte Entwurf eines Aufrufs des Präsidenten zum Kongreß und sein ungeschminkter Lagebericht für den internen Dienstgebrauch, beide von Anfang Dezember, sind dafür Indizien.458 Fricks Resolutionsentwurf enthielt kein Wort ,pastoralen' Zuspruchs an die Innere Mission, sondern wandte sich im Gegenteil an die Öffentlichkeit, d. h. an Staat, Partei und Führer mit dem eindringlichen Appell, die Wirksamkeit evangelischer Liebestätigkeit auch im Dritten Reich sicherzustellen. Nach Worten aufrichtigen Dankes für die Leistungen des Regimes im „Kampf gegen den glaubenslosen Bolschewismus, der die Volksordnung vernichtet und die Kirche zerstören will" und die Wiederbelebung des Volksgemeinschaftsgedankens, durch den die Verantwortung für den notleidenden Nächsten aufs neue wach geworden sei, leitete Frick zu Entwicklungen über, die Kirche und Innerer Mission größte Sorgen bereiteten: „Wir bedauern aufs tiefste die wachsende Entfremdung zwischen der Partei [...] und unserer evangelischen Kirche, wie sie in den sich mehrenden Kirchenaustritten politischer Amtsträger in den verschiedensten Gegenden Deutschlands zum Ausdruck kommt." Zahlreiche Volksgenossen seien dadurch schon in innere Konflikte geraten. Man bitte deshalb „den Führer inständig, alles zu tun, um dem deutschen Volk die Gewißheit wiederzugeben, daß die Partei auf dem Boden des positiven Christentums steht, das seit dem Eintritt unseres Volkes in die Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch die Grundlage seiner Kultur ist". Auch das Engagement der Inneren Mission sei gefährdet, „wenn fortgesetzt die Berechtigung unseres Dienstes bezweifelt oder angefochten wird".459 Die hier geäußerte ungewohnt pointierte Kritik an der politischen Führung, die von den innerkirchlichen Auseinandersetzungen völlig absah und Kirche wie Innere Mission in eine gemeinsame Frontstellung gegen die parteiamtlich verordnete ,Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens' hineinbrachte, hätte bei ihrer Publikation vermutlich das Verbot des geplanten Kongresses bewirkt, weshalb jene auch unterblieb. 460 Es ist erstaunlich, welch weitsichtige und zutref457

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Vgl. den gedruckten Kongreßbericht „43.Reichstagung der Inneren Mission 1937", in: IM 32.1937,5-65. Aufrufentwurf und Lagebericht v. l.XII. 1936; ADW, CA 103/1. „Freudig ist die Innere Mission bereit, unter Leitung der N. S. V. an der Beseitigung und Linderung aller im Volk vorhandenen Not mitzuarbeiten"; ebd. Der Lagebericht wurde indessen in hektographierter Form an bestimmte Vereinsgeistliche bzw. Vorsteher weitergeleitet, so an F.v. Bodelschwingh; vgl. das Ex. in HAvBA, 2/39-142.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

fende Kritik ein Präsident formulieren konnte, ja ursprünglich sogar nach außen dringen lassen wollte, der für sein Taktieren und seine politische Zurückhaltung ansonsten bekannt war. Daß hinter dieser Kritik eine gründliche und auf zentrale andere Aspekte hinweisende Situationsanalyse stand, wird aus dem erwähnten zweiten Papier deutlich. Darin sparte Frick auch den Kirchenkampf als die Lage der Inneren Mission erschwerendes Moment nicht aus: Es sei kein Zweifel, daß sich die unklaren Kompetenzverhältnisse innerhalb der Reichskirche und die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Bekennender Kirche auf die Arbeit der angeschlossenen Einrichtungen nachteilig ausgewirkt hätten. Das bisher praktizierte „Verfahren des Zuwartens in der Hoffnung, daß sich im Laufe der Zeit doch alles wieder einrenken würde", habe sich nicht bewährt, dies auch nicht tun können, da die NS-Revolution und der gesellschaftliche Umbruch durch den totalen Staat nicht Zögern, sondern klare Entscheidungen verlangten. Hauptproblem der konfessionellen Liebestätigkeit sei die Verknüpfung herkömmlicher Pflege und Bewahrung mit dem christlichen Verkündigungsgebot, was häufig als störendes Element betrachtet werde, zumal bestimmte Aufgaben durch NSV und WHW heute wirkungsvoller wahrgenommen werden könnten. Bleibe das angespannte Verhältnis zwischen Staat und Kirche bestehen und verschärfe es sich womöglich noch, müsse die Innere Mission damit rechnen, daß ihr die letzten Mittelzuweisungen, selbst die Pflegesatzerstattungen entzogen würden. Für diesen Fall habe sie sich darauf einzustellen, auch unter beschränktesten Umständen ihre Arbeit weiter zu tun und bessere Zeiten abzuwarten. Bis das jedoch eintrete, müsse radikal verhandelt und die Zusammenarbeit mit den übrigen freien Verbänden einschließlich der NSV um jeden Preis beibehalten werden.461 - Damit hatte Frick die Prämissen seiner .Strategie' skizziert, die bis Kriegsende Gültigkeit haben sollten: gegenüber Staat, Partei und NSV die Aufrechterhaltung des Kooperationsangebotes bis zur Selbstverleugnung, nach innen die Vorbereitung auf Einschränkungen und Verbote sowie die Entwicklung alternativer Arbeitsmöglichkeiten, begrenzt auf den Raum der Kirche; und dies mit einem hohen Maß an Improvisation, da man nicht vorhersehen konnte, inwieweit ein solcher einkalkulierter Rückzug aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Dritten Reiches im Einzelfalle jeweils toleriert werden würde. Das waren die Rahmenbedingungen, unter denen die 43. Reichs/agMMg - die Bezeichnung ,Kongreß' hatten die Behörden untersagt462 - am 23. Januar 1937 begann. Der Evangelische Pressedienst berichtete, über tausend Menschen hätten an dieser ersten Massenversammlung der Inneren Mission im Dritten Reich teilgenommen. Entschließungen und Kundgebungen wurden mit Rücksicht auf 461 462

Memorandum Fricks „Zur Lage der Inneren Mission"; ebd. Das Wort,Kongreß' sei internationalen Veranstaltungen reserviert; vgl. den Prot.-auszug der CA-Vorstandssitzung v. 1./2.XII.1936; ADW, CA 103/1.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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die politische Lage nicht gefaßt bzw. erlassen. Es sei den Veranstaltern - so das offizielle Sprachrohr der D E K - primär um die ,innere Stärkung' der Teilnehmer und um eine Demonstration der Einheit zwischen evangelischer Liebestätigkeit und den Gemeinden gegangen, die erwiesen habe, d a ß die Innere Mission ein Werk der Kirche sei.463 Letzteres traf zum Leidwesen der anwesenden Berufsarbeiter freilich nur sehr bedingt zu und war lediglich aus Gründen einer harmonisierenden Optik in den EPD-Bericht gelangt. Auf der am letzten Tage stattfindenden Geschäftsführerkonferenz wurden solche Rücksichten nicht genommen. Hier beklagte Prof. Ulrich vom Ev. Hauptwohlfahrtsamt Berlin gerade die geringe Beteiligung der städtischen Pfarrerschaft an der Reichstagung. Die Innere Mission stehe vor den Gemeinden, ihren Vorständen und Geistlichen oftmals „wie vor einer Wand". Das Desinteresse sei groß, in vielen Gemeinden gelte die Innere Mission als Reaktionäres' Gebilde, gegenüber dem man am besten auf Distanz halte. 464 - Noch eine andere Enttäuschung erlebte der Centraiausschuß: Die eingeladenen Spitzenrepräsentanten von Ministerien und NSV waren nicht einmal zur feierlichen Eröffnung der Reichstagung erschienen. Frick überspielte diesen offenkundigen Affront in seiner Grußansprache, indem er, als sei nichts geschehen, die ferngebliebenen Abgesandten von RAM, Rdl und NSV in seine Adresse einfach mit einbezog. 465 Obwohl dieser Kunstgriff es dem Centraiausschuß ermöglichte, sein Gesicht zu wahren, machte ihm der Sachverhalt schmerzlich klar, wie schwach seine Stellung als anerkannter Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege inzwischen geworden war und daß er gut daran getan hatte, die Kongreßthemen weniger auf Außenwirkung denn auf Ermutigung für die eigenen Reihen und Besinnung auf die geistlichen Grundlagen des Dienstes zu konzentrieren. Obwohl diese Zielsetzung der Tagung von einigen Referenten wieder und wieder betont wurde, läßt sich nicht übersehen, d a ß der eigentliche Adressat vieler Ansprachen nicht die Mitarbeiterschaft, sondern letztlich der Staat blieb. Dabei wechselten Treuebekundungen und Dank an den Führer mit beschwörenden Bitten ab, die Fortexistenz christlicher Nächstenliebe auch unter den Bedingungen des Dritten Reiches zu gewährleisten. Weil Adolf Hitler durch seinen

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„Innere Mission in Kirche und Volk. Rückblick auf die Reichstagung", in: EPD Nr.4a v. 27.1.1937. Das offizielle Prot, sprach von 1.300 ausgehändigten Teilnehmerkarten, eine Zahl, die angesichts der improvisierten Vorbereitung erstaunlich hoch gewesen sei; cf. „43. Reichstagung", a. a. O., 6. Laut Prot, der erweiterten GK, die im Rahmen der Reichstagung am 25.1.1937 in Berlin zusammentrat; ADW, CA 761 XIX. S. das Prot., a. a. O., 13, und das GK-Prot. v. l.II. 1937, in dem Schirmacherdas Fehlen von NSV und Rdl in Berlin ausdrücklich einräumte; die Teilnahme ihrer Repräsentanten sei wohl verboten worden. Lediglich der Führer der ,Reichsbetriebsgemeinschaft 13', Dr. Strauß, und sein Geschäftsführer Gerhardt waren im Auftrag der DAF gekommen. GKProt. v. 25.1.1937, a.a.O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Kampf gegen den Bolschewismus für die höchsten Werte der Menschheit eingetreten sei, rufe ihn die Innere Mission um seinen Schutz an. Nichts ersehne sie mehr, als „daß eine Brücke gefunden werden möchte, über die hinweg sich die Männer finden können, die alle des Volkes Bestes wünschen". 466 Das Motiv der Volksgemeinschaft ließ auch Zoellner in seinem Grußwort anklingen. Neben dem Recht des Staates stehe das der Kirche und ihrer Inneren Mission; nach allem, was sie für Staat und Volk in der Vergangenheit geleistet habe, sei es nur billig, daß er ihre Arbeit schütze: „Darum heben wir die Hände auf und suchen ihn zu bewegen, heute, wie vordem, [...] daß er es fördere, daß er es haben wolle zum Dienst an dem, was ihm befohlen ist, [...] zum Dienst daran, daß Volksgemeinschaft werde, daß Heimat werde, daß der Arbeit ihr Segen und Lohn werde und daß darüber hinaus Ewigkeitsmächte der Erlösung in das dunkle Todestal und in alle furchtbaren Mächte der Selbstsucht hineinleuchten." 467 Das waren durchaus keine frommen ,Phrasen', sondern außerordentlich ernstgemeinte Worte, wenn auch in einer uns heute nicht mehr geläufigen - pathetisch anmutenden - religiösen Diktion; steckte hinter diesen formelhaften Wendungen doch die Sorge um die ureigenste Klientel der Inneren Mission: die Fürsorge an jenen, die als ,Ballastexistenzen' galten und an denen der NS-Staat und seine Volkswohlfahrt erklärtermaßen kein Interesse mehr hatten. Auf sie kam in sehr konkreter Weise Otto Ohl in seinem Vortrag „Die Kirche gehorcht dem Dienst am Volk" zu sprechen. Keine Nation könne und dürfe gerade diese Menschen sich selbst überlassen - eine solche Forderung bedeute weder Sentimentalität noch falsches Mitleid: „Es ist Dienst am Volk, den wir tun." Energisch wehrte sich Ohl auch gegen Vorwürfe, die konfessionellen Verbände hätten der ungehemmten Vermehrung dieser (Erb-)Kranken nicht nur nicht Einhalt geboten, sondern durch übertriebene Fürsorge diese noch gefördert. Er wies auf die frühe Beschäftigung der Inneren Mission mit diesen Fragen hin, welche für die 1933 einsetzende rassenhygienische Gesetzgebung eine Vorreiterrolle besessen hätte. Niemals habe man ein Wohlfahrtsmonopol angestrebt, sondern sei zur Zusammenarbeit bereit gewesen; deshalb habe man auch erwarten dürfen, daß die Eigenarten des Dienstes christlicher Nächstenliebe respektiert würden: die Bindung „im Gehorsam gegen den Herrn der Kirche". 468

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So eröffnete Frick die Hauptversammlung im Dom mit einer Eloge auf den Reichskanzler : „Unser Führer Adolf Hitler hat das Geglaubte möglich gemacht, hat unser zerrissenes deutsches Volk geeinigt, hat ihm Ehr' und Wehr wiedergegeben und hat ihm nicht nur hohe Ziele gesteckt, sondern auch in der kurzen Spanne von vier Jahren auf allen Gebieten so viel Werte geschaffen, wie es selten dem Führer eines Volkes, vor allem auch in solchem Umfang und in so kurzer Zeit vergönnt gewesen ist." Dafür danke ihm die IM. Vgl. „43. Reichstagung", a. a. O., 13.15. Ebd., 18. Ebd., 27-37. - Den einzigen Vortrag, dem primär theologische Reflexionen über den Sinn

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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Direktor Horst Schirmacher, der für manche Überraschung sorgen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, besiegelte diese eher pessimistische Lageeinschätzung der meisten Redner der Tagung in seinem Schlußwort, in dem er ganz im Gegensatz zu sonstigen Gelegenheiten auf jeden Euphemismus verzichtete und fast resignierend davon sprach, daß die Zeiten vorbei seien, in denen man die Arbeit der Inneren Mission als einen im bürgerlichen Leben geachteten .Ehrendienst' angesehen habe. Ständig werde nun die Existenzberechtigung konfessioneller Wohlfahrtspflege in Frage gestellt; dennoch, wer jetzt mutlos werde und aufgebe, erweise sich als ,ungetreuer Haushalter' Gottes. Deshalb müsse die Losung heute lauten: „Ausweitung unseres Dienstes!" 469 Mit der Proklamation dieses Mottos meinte Schirmacher wohl kaum die Erschließung neuer Arbeitsfelder, sondern die Mobilisierung aller Ressourcen; er wollte vielmehr zur notwendig werdenden Umstrukturierung von Einrichtungen und Verbänden unter dem Zwang staatlicher Restriktionen aufrufen und zu vertieftem Nachdenken über Zielsetzungen und Methoden der Inneren Mission. Eine Art Aufbruchstimmung sollte sich der Vereinsgeistlichen und anderer Mitarbeiter bemächtigen, um Enttäuschungen zu überwinden und wenigstens den Bestand des Vorhandenen so gut wie irgend möglich zu sichern. Insofern - um auf die eingangs dieses Abschnittes aufgezeigte Problematik zurückzukommen - bestätigte sich, daß die Reichstagung sehr viel weniger auf den ,internen' Bereich der Inneren Mission zielte, sondern im Gegenteil überdeutlich auf Außenwirkung bedacht war. Die fast dramatisch zu nennenden Mahnungen an Staat und Partei des Dritten Reiches, Grundlagen und Fortbestand der Arbeit zu garantieren, zeugen von dem Bemühen, - unter Fortlassung direkter Kritik - an die vermeintlich letztlich doch humanen Züge des Systems und seines Führers zu appellieren. Doch gleichzeitig waren sie ein Aufruf an die eigenen Reihen, jetzt nicht aufzugeben und in den Kämpfen des Tages mit Behörden und Volkswohlfahrt nach neuen Wegen und ,Ausweichquartieren' zu suchen, um auch im schlimmsten aller Fälle - d. h. bei Übernahme von Einrichtungen oder Verbot bestimmter Arbeitszweige - die Innere Mission nicht gänzlich verstummen zu lassen.470 Die Reichstagung blieb der einzige Anlauf des Centraiausschusses zwischen 1933 und 1945, seine Anliegen außerhalb des Raumes der Kirche einer größeren Öffentlichkeit gegenüber vorzubringen, sofern man in einem totalitären Staat und angesichts der Teilnehmerzahlen überhaupt von Öffentlichkeit' sprechen kann. Daß man sich

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der IM-Arbeit zugrunde lagen, hielt der ehemalige Leiter der Theologischen (Hoch-) Schule Bethel, D.Wilhelm Brandt: „Jesus gebietet die Arbeit der Liebe", ebd., 19-27. Ebd., 38 f. Auf der Eisenacher GK v.l.II. 1937 würdigte P. Ziegler/Karlsruhe die Ergebnisse der Reichstagung positiv: Einmütig habe die IM erklärt, „keinen Platz und keine Arbeitsmöglichkeit freiwillig aufzugeben". Sie müsse „mit allen gesetzlichen, moralischen und religiösen Mitteln [...] ihre Einrichtungen bis in das letzte Dorf halten"; sonst würden antichristlich orientierte Träger - d. h. die NSV - hier einspringen. ADW, CA 761 XIX.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

nicht vor Anfang 1937 auf ein solches Unternehmen einließ, erstaunt nur auf den ersten Blick. Der neugeknüpfte Kontakt zu einer Reichskirche, deren Führung - jedenfalls aus der Perspektive Fricks und anderer Männer der Mitte - in der Lage schien, den Kirchenstreit zu beenden, ermutigte dazu ebenso, wie der zunehmende Druck der täglichen Auseinandersetzungen mit dem weltanschaulichen Gegner dazu drängte, diese Angriffe auch einmal nicht nur in geduldigen und natürlich stets vertraulichen Verhandlungen, sondern in aller Deutlichkeit öffentlich zurückzuweisen. Freilich nicht im Sinne einer Kampfansage oder Fundamentalkritik. 471 Immer wieder lag der Akzent darauf, die Fäden nicht abreißen zu lassen und jeden Anflug von Verständigungsbereitschaft sofort aufzunehmen. Wenn diese Intentionen ihren Zweck verfehlten, kann das nicht allein mangelndem Realitätsgefühl der Verantwortlichen angelastet werden. Die Reaktionen von Staat und Partei waren für sie nicht einsichtig oder vorhersehbar; und daß dies nicht die letzte Fehleinschätzung von Innerer Mission und Kirche war, sollte sich anläßlich der überraschend angekündigten und dann wieder abgesetzten Kirchenwahlen dieses Jahres alsbald herausstellen. III.4.4.

Zoellners

Rücktritt

und die verordnete

Kirchenwahl

1937

Als Generalsuperintendent Zoellner nach endlosen Querelen mit den lutherischen Kirchenführern, mit der 2.VKL und schließlich mit dem Reichskirchenministerium sein Amt als Vorsitzender des Reichskirchenausschusses verbittert und enttäuscht niederlegte, schien sich der Beginn einer neuen kirchenpolitischen Ära anzukündigen. Sogleich erklärte Minister Kerrl, die Leitung der DEK nun selbst in die Hand nehmen zu wollen und verweigerte dem unmittelbar nach Rücktritt des RKA durch die Landeskirchenführerkonferenz gebildeten Geistlichen Ministerium unter Vorsitz Hanns Liljes die staatliche Anerkennung. Jedoch sorgte der alle Beteiligten am 15.11. überraschende Kanzlererlaß über die Abhaltung freier Kirchenwahlen für die kurzzeitige Illusion einer möglichen endlichen Klärung der immer verworrener werdenden kirchlichen Verhältnisse.472 Davon war auch die Innere Mission betroffen, die nun glaubte, im 471

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Diese Zurückhaltung wurde gleich im Anschluß an die Tagung in einigen Provinzialverbänden moniert. So meinte man in Westfalen, dessen Geschäftsführer P. Niemann diese Kritik übrigens nicht mittrug, der,Kongreß' habe zu den großen Zeitfragen,Kirchenaustrittsbewegung', ,Staat und Kirche' und den Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Frauenwerk und der ev. Frauenarbeit nichts beigetragen. In Eisenach wies Vizepräsident Ohl namens des CA solche Anwürfe zurück und betonte, man habe derartige Stellungnahmen bewußt ausgeklammert, da die Kirchenführer im Begriff seien, in einem ,Wort an den Staat' diese Fragen anzusprechen. Ebd. Zur weiteren kirchlichen Entwicklung des Jahres 1937 s. Meier II, 147 ff. Zum Kirchenwahlerlaß vgl. RGBl. 1937 I, 203. Wie Meier, a.a.O., 148.413, Anm.214, herausarbeitet, lagen dieser unerwarteten Wendung der Dinge außenpolitische Rücksichten zugrunde, da bei einer Realisierung der Intentionen Kerrls - einer straffen Anbindung der DEK an

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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Benehmen mit den anderen freien evangelischen Verbänden bei der Vorbereitung dieser Wahlen eine wichtige, ja eine zentrale Rolle spielen zu können. Schon einen Tag nach dem Wahlerlaß entschied sich der Centraiausschuß dafür, auf der Grundlage der DEK-Verfassung von 1933 mit dem Gustav-Adolf-Verein, dem Evangelischen Bund und dem Reichsbund deutscher Pfarrervereine eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen, die bei den Wahlen als geschlossener Block auftreten sollte. 473 Den versammelten Geschäftsführern erklärte Schirmacher eine Woche später die Hintergründe dieses Vorgehens: Der Verbandsprotestantismus sei durch den plötzlichen Rücktritt des RKA und die rasche Neuformierung einer Kirchenregierung unter Lilje in eine gefährliche Situation geraten; es komme nun alles darauf an, daß man fest zusammenstehe und d a ß in den bevorstehenden Wahlen die Verbände an die Stelle der durch tiefe Gräben getrennten kirchlichen Parteien träten. Wenn erst wieder die bekannten Fraktionierungen die Oberhand gewönnen, werde es voraussichtlich einen Kampf aller gegen alle geben. Ziegler/Karlsruhe zweifelte an der vom Staat garantierten Freiheit in der Durchführung der Wahl und fürchtete, daß starke Interessengruppen in Staat und Partei eine wirklich freie Entscheidung von Kirche und Kirchenvolk kaum tolerieren würden. Man habe mit wenigstens zwei Flügeln zu rechnen: demjenigen, der auf dem Boden von Artikel 1 der DEK-Verfassung stünde, d. h. auf der Grundlage von Evangelium und reformatorischen Bekenntnissen, ferner mit der Richtung der nationalkirchlichen Thüringer Deutschen Christen. Er hoffe gegen diese auf eine „Einheitsfront" mit den gemäßigten D C und auch darauf, daß nicht die radikalen BK-Anhänger wiederum glaubten, einen „eigenen Laden" aufmachen zu müssen. - Wesentlich skeptischer zeigten sich Adolf Wendelin und Otto Ohl gegenüber der von Frick und der CA-Vorstandsmehrheit protegierten Arbeitsgemeinschaft der Verbände im Vorfeld der Kirchenwahlen. Der Gedanke einer engeren Kooperation sei preußischen Ursprungs und stoße in Sachsen, wo der freie Protestantismus längst verkirchlicht sei, auf wenig Gegenliebe. Ohl brachte das alte Argument, die Innere Mission habe nicht die Aufgabe, sich kirchenpolitisch zu betätigen, und sei es durch die Gründung einer neuen Fraktion: „Damit spalten wir das auf, was wir nun durch die Jahre erhalten und in immer tieferem Maße erkämpft haben, nämlich die Arbeitsgemeinschaft in unseren Kreisen über [Hervorhebung d.Vf.] die Zugehörigkeit der einzelnen Glieder zu den kirchenpolitischen Gruppen". Es bleibe der IM nur übrig, die divergierenden Strömungen unter Verzicht auf eigene verbindliche Wahlempfehlungen an einen Tisch zu bringen und über gemeinsames

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sein Ministerium - wiederum Proteste der europäischen Kirchen zu erwarten waren. Die öffentliche Desavouierung seines Fachministers nahm Hitler dabei in Kauf. Prot, der CA-Vorstandssitzung v 16.11.1937; ADWDü, BO, 10/1-1,7

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Handeln zu sprechen. 474 Mit Altbischof Karow kam anschließend ein Vertreter der Mittelpartei, also der Richtung Fricks im Centraiausschuß zu Wort: Wahrscheinlich gehe es gar nicht um Kirchenwahlen althergebrachter Art, führte er aus, sondern um ein grundsätzliches Votum des Kirchenvolkes, das danach gefragt werde, ob es noch eine Kirche auf der Grundlage der Verfassung von 1933 unter Einschluß des Alten Testaments wolle. Wenn Einmütigkeit darüber nicht zustande komme, sei die Kirchenspaltung endgültig da. Der Staat könne dann mit Fug und Recht behaupten, eine Kirche im eigentlichen Sinne gebe es in Deutschland nicht mehr, womit auch das Schicksal der Inneren Mission besiegelt sei. Um der Einheit der Kirche willen müsse jene in dieser historischen Stunde öffentlich für die Zusammengehörigkeit des evangelischen Volksteils streiten. Dieser Ansicht war auch Präsident Frick. Er rechtfertigte die Bildung der Arbeitsgemeinschaft mit der Entscheidungssituation, der sich die Verbände nicht entziehen dürften. Man müsse dem Führer dankbar sein für sein tatkräftiges Eingreifen, das offenkundig nicht die Billigung seiner politischen Berater finde.475 Unbeschadet der geäußerten Bedenken schlug er den Geschäftsführern als praktischen Schritt vor, Listen mit möglichen Kandidaten aus allen Gruppen der Bevölkerung für die Generalsynode aufzustellen, 476 eine Anregung, die sich sogar P. Dr. Wenzel, der brandenburgische Provinzialpfarrer und inzwischen Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände' zu eigen machte, wennschon er kritisierte, daß der Zusammenschluß bekenntnistreuer Vereinsgeistlicher zu dieser wichtigen Konferenz keine Einladung erhalten habe; auch müßten vor endgültigen Entscheidungen alle Untergliederungen der Inneren Mission gehört werden.477

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P. Schwander/Speyer schloß sich, obwohl Anhänger der DC, Ohl an. Auch er sei gegen die neue Arbeitsgemeinschaft, deren Notwendigkeit er nicht einzusehen vermöge. Allerdings glaube er auch nicht, daß die heterogenen Gruppierungen an einen Tisch zu bringen seien; es werde sicherlich Reichslisten geben, an denen sich die IM nicht beteiligen dürfe, sonst sei die Spaltung da, die man solange vermieden habe. GK-Prot. v. 24.11.1937; ADW, CA 761 XIX. Daraufhin regte P. Schröder, der Hg. der ,IM', an, dem Kanzler für seine Initiative seitens der IM auch offiziell zu danken - ein Vorschlag, dem Ohl widersprach, weil dann die IM die selbstauferlegten Schranken politischer Neutralität durchbreche und außerdem der Führer mit Goebbels und Himmler nicht von Persönlichkeiten umgeben sei, „denen die evangelische Kirche sehram Herzen liegt". Ebd. . . . und „zwar nicht nur Ministerial-Direktoren [...], sondern auch einfache Arbeiter, von denen man weiß, daß sie einstehen für ihren Herrn und Heiland. Am besten solche, die auch zur Partei gehören [...]. Es nützt uns ja nichts, wenn lauter Männer mit langem Bart dastehen. Es können ganz junge Leute sein, und wir haben prachtvolle junge Menschen heute, die ihr Wort riskieren." Ebd. Die Ag. habe einen Ausschuß gebildet mit Missionsdirektor Knak, P. Niemöller, P. Thieme/Berliner Stadtmission, P. Wagner/Paul-Gerhardt-Stift und ihm. Man wolle zwei Verlautbarungen ausarbeiten, eine für das Kirchenvolk und eine für die 2. VKL bzw. an die Bischöfe. Vier Punkte seien unverzichtbare Grundlage für eine Beteiligung an den

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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Der oben skizzierte Verlauf der Geschäftsführerkonferenz vom 24. Februar ist für die Entwicklung der Inneren Mission und ihre Annäherang an die Reichskirche insofern von Bedeutung, als die Debatte den letzten Versuch der Wortführerin des freien Protestantismus markiert, im Verein mit den wichtigsten anderen Organisationen Einfluß auf die kirchliche Entwicklung zu nehmen. Die alte Vorstellung, d a ß es vornehmlich die Verbände seien, die das evangelische Deutschland neben den Landeskirchen repräsentierten, und daß sie und unter ihnen insonderheit die Innere Mission noch einmal vor der Aufgabe stünden, die kirchliche Einheit über alle Parteiungen hinweg voranzutreiben, bildete den Hintergrund für die geschilderten Bemühungen des Centraiausschusses um die Vorbereitung der Wahlen. Die plötzliche Entscheidung Hitlers, die gegen seinen Reichskirchenminister gefallen war, ja dessen öffentliche Bloßstellung, erschien vielen Vereinsgeistlichen wie ein ,Wunder', das sie auf einen überraschenden Ausweg aus einer ganz und gar verfahrenen kirchenpolitischen Situation hoffen ließ. 478 Die Erinnerung daran, daß es von 1848 über 1914/16, die Revolution von 1918 und das Jahr 1933 immer äußere, genuin politische Ereignisse - allerdings in einem äußerlich christlich überformten Staat - gewesen waren, die den kirchlichen Einheitsgedanken stimuliert und die Verbände zur Aktion zugunsten der unitarischen Idee aufgerufen hatten, mag im Frühjahr 1937 das Denken der verantwortlichen Männer einen Moment lang mitbestimmt haben. Freilich hätten sie aus diesen historischen Erfahrungen auch einen anderen Schluß ziehen können, nämlich den, d a ß es ihnen über Ansätze hinaus in der Vergangenheit nicht ein einziges Mal gelungen war, ihre Vorstellungen gegenüber der verfaßten Kirche durchzusetzen. Auch die Tatsache, daß die Diskussion um das Für und Wider der Kirchenwahlen, die aktive Beteiligung an ihnen und die Chance eines daraus resultierenden Verfassungsneubaus quer zu den kirchenpolitisch fixierten Positionen geführt wurde, ist bedenkenswert. Schirmacher, Wendelin, Schwander und Ziegler als Deutsche Christen votierten nicht etwa einheitlich, und dezidierte Anhänger der,Bekenntnisfront' wie Wenzel u n d mit Abstrichen auch Ohl blieben unter sich ebenfalls kontroverser Ansicht über den einzuschlagenden richtigen Weg. Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die aufgeworfenen Gräben auch innerhalb der kirchlichen Fraktionen; gleichzeitig und vielleicht stärker deutet es darauf hin, d a ß es den Verantwortlichen um die Wirkungsmöglichkeiten der Inneren Mission und um ihre Integrität als größter Zusammenschluß des Verbandsprotestantismus ging: Das Ringen um die Einheit nach innen besaß Vorrang vor jenem um die Einheit der Kirche.

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Wahlen: „1. Jesus von Nazareth ist allein Teil der Rassen und der Völker [richtig wohl: ,ist Teil aller Rassen und Völker'], 2. Die Schrift ist die alleinige Richtschnur für das Handeln der Kirche, 3. Die Bekenntnisse sind die allein gültige Auslegung der Schrift, 4. Die Wahl muß in voller Freiheit vor sich gehen." Ebd. So Frick in der GK am 15.IV. 1937; ADW, a. a. O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

Die Ernüchterung auf die durch das Wahlversprechen kurzzeitig freigesetzten neuen Hoffnungen folgte schnell. Lange bevor sich noch herausstellte, daß der Partei an Kirchenwahlen nicht mehr gelegen war und Kerrl das Thema im November des Jahres endgültig zu den Akten legen bzw. auf unbestimmte Zeit vertagen ließ, 479 kündigte sich an, daß der Verbandsprotestantismus als ,Kirchenpartei' - trotz allen Selbstbewußtseins und anfänglicher Förderung auch durch die verunsicherte Kirchenführung - am Ende kaum Gelegenheit erhalten würde, an Vorbereitung und Durchführung der Wahlen mitzuwirken. Obwohl Lilje als Vorsitzender jenes rasch installierten, mangels Anerkennung durch das Kirchenministerium aber notwendig provisorisch bleibenden Leitungsgremiums den Kontakt zu den Verbänden gesucht und sie aufgefordert hatte, mit den Landeskirchenführern eine Einheitsliste zu bilden, kam diese nicht zustande. Bei einer Zusammenkunft von Vorläufiger Kirchenleitung und Lutherischem Rat, zu der auch die freien Organisationen eingeladen waren und bei der es um die dauerhafte Verbindung beider ging, 480 wurde den Beteiligten nur zu bald deutlich, daß die Integration der Verbände zusätzlich zu der ohnehin höchst problematischen Einigung der kirchlichen Bekenntniskräfte eine schier unlösbare Aufgabe war. 481 Als sich auf eine Eingabe des Pfarrervereins an das Kirchenministerium, worin die guten Dienste der Verbände bei den Wahlen angeboten worden waren, auch noch Kerrl einschaltete, die Offerte zwar begrüßte, aber gleichzeitig erklärte, nur die Kirchenregierungen der Länder genössen staatliche Anerkennung und die freien Verbände hätten keine Befugnis, sich in von dort ausgehende Entscheidungen einzumischen, trat die junge Arbeitsgemeinschaft wieder ihren Rückzug aus der Kirchenpolitik an. Eine am 21. Mai 1937 in ihrem Namen von Kirchenrat Klingler, dem Vorsitzenden des Reichsbundes der Pfarrervereine, im Kirchenministerium eingereichte, von Kerrl erbetene Stellungnahme zu den Wahlen bezog sich schon nicht mehr ausdrücklich auf ein Zusammengehen von Verbänden und bekenntnisnahen Kirchenleitungen, sondern enthielt ein davon unabhängiges Votum des freien Protestantismus, allerdings in inhaltlicher

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A m 24.XI.1937 teilte Kerrl in einer Rede in Fulda die Vertagung mit. D a s sei Schuld der Kirche, die eine einheitliche Willensbildung in dieser Frage nicht zustande gebracht habe. Vgl. Meier II, 154, und III, 15. Danach war „die Befürchtung, die Kirchenwahl könne das Schauspiel einer kirchlichen Selbstzerfleischung bieten, das auch der Staatsautorität abträglich sei", der zentrale Grund für die Aussetzung, realiter aber endgültige Erledigung der Wahlen. D a s Folgende nach dem Bericht Fricks auf der G K v. 15.IV. 1937; A D W , a . a . O . - Die Verhandlungen zwischen 2. VKL und Lutherischem Rat führten im Juli 1937 zur Episode des sogenannten Kasseler Gremiums, einer zeitweiligen Einigung der seit der BK-Synode von Oeynhausen gespaltenen Bekenntnisfront; s. Meier III, 26 ff. Frick berichtete, man habe sich schon kaum vorstellen können, wie d e n n eigentlich die Vereinigung von VKL und Luth. Rat erfolgen sollte. „Man konnte sich aber n o c h weniger vorstellen, wie wir Freibeuter damit eingeordnet werden sollten; denn wir waren in der Tat ja Komponenten, die nicht ganz so einfach angegliedert werden konnten." A. a. O.

III.4. Chancen und Gefahren der Verkirchlichung: Die Kirchenausschüsse

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Affinität zu den Forderungen von VKL und Lutherischem Rat. Danach sollten die Wählbarkeit der Kandidaten „von einer entsprechenden bekenntnismäßigen Verpflichtungserklärung abhängig gemacht" und außerkirchliche Motive ausgeschlossen werden; statt Verhältnis- und Listenwahlen dürfe es nur eine „Persönlichkeitswahr geben. Gruppierungen, die nicht auf dem Boden des Bekenntnisses stünden, hätten aus der DEK auszuscheiden. 482 Auf die weitere Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche, die nur bedingt zu unserem Thema gehört, konnten die Verbände spätestens seit 1937 keinen oder nur geringen Einfluß mehr nehmen. Das war auch in der Tatsache begründet, daß nach der ,17. Durchführungsverordnung zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche', die am 10. Dezember des Jahres erlassen wurde, 483 die Leitung der DEK und der größten deutschen Landeskirche, der Altpreußischen Union, faktisch beim Präsidenten der Kirchenkanzlei Dr. Werner lag. Ungeachtet der vergeblichen Anstrengungen der kirchlichen Parteien, diesen unbefriedigenden Zustand in den kommenden Jahren zu ändern, mußte sich der Centraiausschuß um seiner Werke willen an den rechtlichen Gegebenheiten orientieren. Für ihn blieb der Ist-Stand des Verhältnisses von Staat und Kirche und nicht die Wünschbarkeit einer anderen Verfassungswirklichkeit entscheidend. Angesichts der zunehmenden Bedrohung und Einschränkung seiner Arbeit durch Staat und Partei auf der einen und der offenkundigen Ohnmacht der Kirchenführer auf der anderen Seite war er gehalten, unter Berücksichtigung dieser Fakten seinen Kurs im Dritten Reich in relativer Eigenständigkeit abzustecken. Der eingeschlagene Weg in Richtung einer Verkirchlichung der Verbände, der bei Wahrung der Organisationsfreiheit nach innen immer noch den Rückzug unter das schützende Dach der Kirche offenließ und von dem man auch ohne förmliche Unterstellung zu profitieren gedachte, schien nach dem Rücktritt Zoellners und dem Scheitern der Kirchenwahlen versperrt. Dennoch blieben zahlreiche Querverbindungen zum preußischen Evangelischen Oberkirchenrat und zur Kirchenkanzlei fortbestehen, wobei besonders in der DEK-Verwaltungsspitze die mit der Bekennenden Kirche sympathisierenden Sachbearbeiter oft genug ihren Einfluß geltend machten, 484 wenn die Innere Mission wieder einmal mit Bedrängnissen durch NSV und Staat zu kämpfen hatte, deren sie aus eigener Kraft nicht Herr werden konnte.

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„Grundsätzliche Stellungnahme der Leiter der großen kirchlichen Verbände zur Durchführung der Kirchen wählen" und Begleitschr. Klinglers; Ev. Arbeitsgemeinschaft f.kirchl. Zeitgeschichte/Mchn., NL v. Soden 6,6. S. a. Meier II, 150. GBl. d . D E K 1937,70. S.a. Meier II, 154. Es handelte sich vor allem um die Oberkonsistorialräte Dr. Elisabeth Schwarzhaupt, Heinz Brunotte und Dr. Georg Krüger-Wittmack.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

III.5. Auf dem Weg in den Krieg Der letzte Abschnitt dieses Kapitels wird anhand ausgewählter Beispiele die wichtigsten weiteren Stationen der Auseinandersetzung der Inneren Mission mit Staat, Partei und NSV umreißen. Davon gab es viele, wie schon in den entsprechenden Passagen über die Geschichte der Liga und ihrer Nachfolgeorganisationen angedeutet wurde. Die Konfliktfelder erstreckten sich von Grundsatzfragen evangelischer Liebestätigkeit im Zusammenhang der schon mehrfach angeschnittenen - sogenannten Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens über Angriffe auf das Schwesternwesen und Gefährdungen durch die restriktive Finanzgesetzgebung bis hin zur Wegnahme ganzer Anstalten durch NSV-Amtswalter und Gauleiter unter fadenscheinigen Vorwänden. Daneben existierten weniger zentrale .Kriegsschauplätze', die der Centraiausschuß nahezu kampflos preisgab, weil Insistieren zwecklos schien und weil man hier geneigt war, Kompromißbereitschaft zu demonstrieren, in der vagen Zuversicht, dafür andere Arbeitsbereiche behaupten zu können. Dazu gehörten die Schließung der 1922 gegründeten Apologetischen Centrale durch die Gestapo am 10. Dezember 1937 und die Auflösung des von Reinhold Seeberg an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität 1927 eingerichteten »Instituts für Sozialethik und Wissenschaft von der Inneren Mission' im März 1938. Die apologetische Arbeit war der Partei als lästige Konkurrenz auf dem Weltanschauungssektor schon seit längerem ein Dorn im Auge, zumal ihr Leiter, Privatdozent Walter Künneth, sich anders als die meisten Referenten des Centraiausschusses aktiv auf Seiten der BK im Kirchenkampf engagiert hatte und auch vor direkten Angriffen auf ideologische Vordenker des Systems wie Alfred Rosenberg nicht zurückschreckte.485 Seine offene kirchenpolitische Parteinahme stand im Widerspruch zum Neutralitätskurs des CA und hatte dort wegen der von Künneth betonten geistig-intellektuellen Eigenständigkeit der Apo bereits früher Unwillen und Ärger erregt, den

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Am 9.XI. 1937 machte das RKM Dr. Werner als EOK-Präsidenten darauf aufmerksam, daß die Gestapo eine Entgegnung Künneths auf Rosenbergs Broschüre .Protestantische Rompilger' beschlagnahmt habe. Um Künneths oppositionelles Wirken nicht mit der Gesamtkirche identifizieren zu können, müsse diese Maßnahmen gegen ihn und seine Tätigkeit ergreifen, vor allem aber jede finanzielle Unterstützung der Apo einstellen. Das Kirchenministerium [sie] habe den Reichsführer SS darauf hingewiesen, daß die Apo unter dessen Erlaß vom 29.VIII.1937 falle - das Verbot illegaler Fortbildungsstätten betreffend; EZA, E K D CA 3/294. - Das von Künneth verfaßte Büchlein,,Wider die Verfälschung des Protestantismus! Evangelische Antwort auf Alfred Rosenbergs Schrift .Protestantische Rompilger', lag schon in den Druckfahnen vor und hätte Ende Oktober 1937 ausgeliefert werden sollen, als die Beschlagnahme erfolgte. Die aus einem Nürnberger Vortrag entstandene Kurzfassung ,Evangelische Wahrheit!' konnte wider Erwarten jedoch publiziert und in 112.000 Exemplaren verbreitet werden. Vgl. W. Künneth, Lebensführungen, 143 ff., und jetzt Harald Iber, Christlicher Glaube oder rassischer Mythus.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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Schirmacher und vor allem Schatzmeister Dr. Heinrich als Parteigenossen häufig zum Anlaß harter Kritik an Künneth und der ganzen, von ihm geprägten Arbeitsweise der Apo nahmen. Obwohl nach Zwangsschließung und Beschlagnahmung des gesamten Inventars - darunter auch des wertvollen, lange verschollen geglaubten Archivs - Versuche gemacht wurden, die Centrale unter anderer Leitung und mit einer neuen Konzeption weiterzuführen, scheiterten solche Bemühungen am Veto der Staatsgewalt.486 - Ein anderes Motiv lag der Institutsauflösung an der Berliner Universität zugrunde: Hier hatte die NSV Mitte 1937 in der juristischen Fakultät unter der Verantwortung ihres Justitiars Dr. Georg Ballarin ein .Institut für Volkswohlfahrt' erhalten und drang nun aus Konkurrenzgründen beim Kultusminister auf die Beseitigung der Paralleleinrichtung bei den evangelischen Theologen. 487 Daß damit in Wirklichkeit der konfessionellen Wohlfahrtspflege insgesamt ein Schlag versetzt werden sollte, beweist das Vorgehen gegen das Caritas-Institut an der Universität Freiburg im Breisgau rund ein halbes Jahr später, das - wahrscheinlich aus Paritätserwägungen - am 15. Oktober 1938 ebenfalls seine Pforten schließen mußte. 488 Beide Aktionen sind auf dem Hintergrund der Zurückdrängung kirchlicher Einflußmöglichkeiten auf allen gesellschaftlichen Sektoren durch den Weltanschauungsstaat zu sehen. Nachdem es auch mit Hilfe der Deutschen Christen nicht gelungen war, die totale Unterwerfung respektive Anpassung der evangelischen Kirche an nationalsozialistische Zielvorgaben zu erzwingen, versuchte man unter Einbeziehung der Wohlfahrtspflege beider Großkirchen mittels der Kampfparole ,Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens' deren gesellschaftliches Einwirkungspotential zu schwächen. Praktisch bedeutete dies den Versuch, den jeweils evangelischen oder katholischen Charakter einer Anstalt unter dem Vorwand zu zerstören, man sei dort nur bereit, Patienten der eigenen Konfession aufzunehmen - eine Argumentation, die in der Regel allein in bezug

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Anfang 1988 wurde bekannt, daß das Archiv der Apologetischen Centrale oder erhebliche Teile davon heute vermutlich im Zentralen Staatsarchiv der DDR/Dienststelle Potsdam liegen; für den Vf. war der Bestand noch nicht benutzbar. Deshalb und weil der Komplex .Apologetische Centrale' zu einem Sonderarbeitsbereich der IM gehört, soll das Thema im Rahmen dieser Studie nicht weiter verfolgt werden. Das teilte der Reichs- u. Preußische Minister für Wiss., Erziehung und Volksbildung am 23.III. 1938 dem CA-Präsidenten ausdrücklich mit. Für ihn sei bei dem Entschluß, das Institut als Universitätseinrichtung aufzuheben, die Erwägung maßgeblich gewesen, „daß die christliche Liebestätigkeit, deren Behandlung dem Institut nach Errichtung eines neuen Instituts für Volkswohlfahrtspflege innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin vorbehalten blieb, unter nationalpolitischem Vorzeichen als Teil der sozialen Wohlfahrtsaufgaben von Partei und Staat angesehen und daher in dem neuen Wohlfahrtspflegeinstitut mitbehandelt werden muß." Die Trennung der Aufgabengebiete beider Institute innerhalb der Universität sei daher nicht möglich; ADW, CA 13371. Vgl. Richard Völkl, „50 Jahre Institut für Caritaswissenschaft".

420

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

auf d a s Personal zutraf. Selbst d i e s e s sollte j e d o c h nicht m e h r n a c h d e m Kriterium seiner kirchlichen Zugehörigkeit eingestellt w e r d e n , forderten die Fürsorg e v e r b ä n d e u n d d r o h t e n andernfalls mit der Einstellung ihrer Z a h l u n g e n b z w . damit, d e n christlichen H ä u s e r n keine Patienten o d e r E r h o l u n g s u c h e n d e n m e h r zuzuteilen. 4 8 9 Ein grundsätzliches N a c h g e b e n g e g e n ü b e r s o l c h

rigorosen

Wün-

s c h e n ' der Kostenträger hätte d i e S e l b s t a u f g a b e j e d e r christlich b e s t i m m t e n Liebestätigkeit b e d e u t e t , u n d s o w u n d e r t es nicht, d a ß selbst die s o n s t stets k o m p r o m i ß b e r e i t e Innere M i s s i o n über d i e s e s T h e m a nicht mit sich r e d e n ließ. 4 9 0 D a die K a t h o l i k e n e b e n f a l l s s o l c h e Z u g e s t ä n d n i s s e kategorisch ablehnten,

war

w e n i g s t e n s e i n e g e s c h l o s s e n e H a l t u n g der k o n f e s s i o n e l l e n Träger gesichert. D e r D r u c k , bei d e r N e u e i n s t e l l u n g v o n Pflegekräften v o n der R e l i g i o n s z u g e h ö r i g k e i t a b z u s e h e n , k a m vor a l l e m aus d e m Innenministerium. Er richtete sich, w i e m a n im C e n t r a i a u s s c h u ß zutreffend erkannte, letztlich a u f d i e Trennung v o n Kirche u n d kirchlicher W o h l f a h r t s p f l e g e ; somit zielte dieses V o r g e h e n a u f die Eliminierung e i n e s w e s e n t l i c h e n , w e n n nicht - in Anbetracht der durch K i r c h e n k a m p f u n d restriktive staatliche Verordnungspraxis stark eingeschränkten

sonstigen

M ö g l i c h k e i t e n - s o g a r a u s s c h l a g g e b e n d e n Faktors kirchlicher Öffentlichkeits489

Charakteristisch für solche Praktiken ist ein von Harmsen unterzeichnetes Beschwerdeschreiben der CA-Gesundheitsabteilung an das R K M v. 10.X. 1935, in dem ein Fall aus Bad Salzuflen geschildert wird. Dort hatte der Leiter der Ausgleichsstelle Münster vom Vorsteher der Kinderheilanstalt Bethesda verlangt, seine Einrichtung müsse entkonfessionalisiert werden, wenn sie weiterhin mit der Vermittlung von Kindern durch die Ausgleichsstelle rechnen wolle. „Die Berücksichtigung des Bekenntnisses bei der Auswahl und Anstellung der pflegerischen und erzieherischen Kräfte, insbesondere der Kindergärtnerinnen, dürfe nicht mehr stattfinden. Konfessionslose und katholische Kräfte müssen ebenso berücksichtigt werden wie evangelische." Auch der als Vermittler angerufene westf. Oberpräsident habe diese Auffassung unterstützt. Demgegenüber müsse der C A darauf bestehen, „daß die vom Führer zugesicherte innere Freiheit der kirchlichen Liebestätigkeit auch tatsächlich gewährleistet wird". ADW, C A / G 80000/7.

490

In einem Rückblick auf das Jahr 1935 ging der Schriftleiter der ,Inneren Mission', P. Schröder, auch auf die ,Entkonfessionalisierung' ein. Positiv daran sei die endlich verwirklichte „Bereinigung der politischen Sphäre vom religiösen Machtstreben", die evangelischem Denken ohnehin entgegenstehe. Entkonfessionalisierung dürfe aber nicht die Förderung des Neuheidentums [sc. der Deutschen Glaubensbewegung] bedeuten; deshalb wende sich die IM sowohl gegen den Ausfluß dieser Bestrebungen, konfessionelle Unterschiede zu verwischen, als auch gegen die Errichtung eines neuen nichtchristlichen Bekenntnisses. Sie sei gern bereit, in ihren Häusern insofern interkonfessionell zu handeln, als diese allen offenstünden. „Ihre Arbeit aber, ihr Dienst, ihr Leben und alle ihre Freude kommt aus dem unbedingten und klaren reformatorischen Bekenntnis: Christus unser Herr. Das hat nichts mit Politik oder Kirchenpolitik zu tun, sondern nur mit Bekenntnis. [...] Niemand darf erwarten, daß die I. M. sich entkonfessionalisieren läßt, um vielleicht ein Stücklein Welt zu gewinnen." Das Bekenntnis richte sich gegen nichts u n d niemanden, sondern bedeute die Nennung jenes Namens, in dem alle christliche Liebestätigkeit geschehe. Vgl. ders., „Wieder ein Jahr Innere Mission", in: I M 31.1936,5-14, Zit. 10 f. - Z u m Zusammenspiel der Entkonfessionalisierungskampagne und des Erstarkens der Deutschgläubigen, auf das hier nicht einzugehen ist, vgl. Meier II, 12 ff.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

421

Wirkung.491 Außerdem waren die christlichen Einrichtungen bei einer Abkopplung von den Landeskirchen Zumutungen und Herrschaftsansprüchen von Fürsorgeverbänden und NSV nahezu schutzlos ausgeliefert, was ihrer leichteren Verfügbarkeit im Sinne des Systems entgegenkam. Auch in die theologische Debatte spielte die Entkonfessionalisierungs-Problematik hinein. Die Ausschaltung der kirchlichen Arbeit aus dem öffentlichen Leben sähen die Anhänger Karl Barths - so seine Gegner unter den Vereinsgeistlichen - als konsequente und begrüßenswerte Folge einer Reduzierung kirchlicher Aufgaben auf die Wortverkündigung. Mit der Betonung einer Gleichrangigkeit von Wort und Tat habe Wiehern in den Augen der Dialektischen Theologie einst den untauglichen Versuch unternommen, eine „Kompromiß-Theologie" zu begründen; damit wolle die Innere Mission noch heute der von Barth ausgehenden „eigenartigen abstrakten Wort-Theologie" standhalten. Das aber sei Wasser auf die Mühle des weltanschaulichen Gegners: „Begierlich wird diese Rede aufgegriffen von denen, die kein Interesse daran haben, daß die Kirche im öffentlichen Leben noch in Erscheinung tritt."492 Ganz abwegig, obschon von parteilicher Ausprägung, war diese Kritik nicht. Die innere Distanz der Dialektischen Theologie zur gesellschaftlichen Breitenwirkung der Kirche und ihrer Werke begegnete hier - sicher nicht zufällig - jener Scheidung von Kirche und Verbänden, wie sie im 19. Jahrhundert gang und gäbe war und die auch die ,Väter' der Inneren Mission wie Wichern, Stoecker oder der alte Bodelschwingh nicht hatten überwinden können. In ,normalen' Zeiten - und darunter sind auch noch die Jahre von Weimar zu rechnen - barg das für den Bestand der Inneren Mission keine Gefahr; im Zeichen der Krise und Bedrohung jedoch konnte eine Theologie, die kirchliche Praxis außerhalb der Gemeinden als von eher peripherer Bedeutung einstufte, natürlich flexibler reagieren als die um ihrer Arbeit und der ihnen anvertrauten Menschen willen auf Kompromisse angewiesenen kirchlichen Werke. Dieses Dilemma kennzeichnet das Verhältnis von Innerer Mission, Kirche und Theologie im Dritten Reich. Bis zu einem gewissen Grade dürfte auch die Entkonfessionalisierungskampagne von Staat und Partei darauf Bezug genommen haben: Ein vorgegebener Dissens wurde geschickt benutzt, um die Machtansprüche des totalitären Staates mit Hilfe dieser ideologischen Verbrämung auch auf wohlfahrtspflegerischem Sektor durchzusetzen. Im Grunde stand der ganze Kampf der NSV um die kirchlichen Einrichtungen in den folgenden Jahren im Zeichen dieses Interpretaments und wurde von daher gerechtfertigt. Einzelne Arbeitsfelder wie das

491 492

So Schumacher auf der G K v . 17.X. 1935 in Eisenach; ADW, CA 761 XVII. Vgl. Schirmachers Bericht zur wohlfahrtspolitischen Lage vor den Geschäftsführern am 26.XI. 1935; ebd. - Auf der GK in Wernigerode am 27./28.V. 1935 nannte Schirmacher Karl Barth einen ,,abstrakte[n] Geist", der sich „lähmend auf die Pfarrerschaft gelegt" habe; ADW, CA 761 XVIII.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

kirchliche Schul- und Erwachsenenbildungswesen, die Schwesternschaften oder die Frage der öffentlichen' Finanzierung boten im Sinne jener Kampagne stets willkommene Anlässe, waren aber nicht oder nicht allein an inhaltlichen Kriterien orientierte Kampfplätze. Sie dienten nur als Etappen auf dem Weg zum Endziel nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege: der Ausgrenzung weltanschaulich dissentierender Organisationsformen und ihrer Einverleibung durch die damit beauftragten Untergliederungen der Partei. Die intendierte Beschränkung kirchlicher Wohlfahrtspflege auf die nicht rehabilitationsfahigen Volksgenossen und die relative Billigung, die Caritas und Innerer Mission für eine derart reduzierte Betätigung zuteil wurde, hatte nach allem, was Nationalsozialisten nach 1933 öffentlich erklärten, tendenziell schon die Vernichtung dieser unerwünschten Klientel im Blick. Damit aber würde sich das Problem eigenständiger religiöser Wohlfahrtspflege schließlich von selbst erledigen. III. 5.1. Existenzfragen

der Inneren

Mission

III.5.1.1. Grundsatzkonflikte mit der NSV Die Auseinandersetzungen mit der NSV erreichten 1937 einen neuen Höhepunkt. Sie beschränkten sich schon seit einiger Zeit nicht mehr auf örtliche und regionale Übergriffe von NSV-Untergliederungen, Regierungspräsidenten oder Gauleitern, sondern wurden zunehmend auch von der Berliner Zentrale selbst gesteuert, wenngleich sich die Spitzenrepräsentanten des Hauptamtes im persönlichen Umgang mit Vertretern der konfessionellen Wohlfahrtspflege weiterhin verhältnismäßig konziliant gaben. Es war indessen nicht zu übersehen, daß sich hier vor allem Hermann Althaus - der sich gern auf seine berufliche Herkunft aus der Berliner Stadtmission und seine evangelische Konfession berief, wenn er Zugeständnisse des Centraiausschusses erzwingen wollte493 - als ,Chefideologe' des kaum verhüllten offenen Konfrontationskurses profilierte. 1935 hatte er in seiner Schrift Nationalsozialistische Volkswohlfahrt' noch einmal die bekannte Rahmenkonzeption der NS-Wohlfahrtspolitik als einer wesentlich rassenhygienisch und erbbiologisch orientierten Fürsorge umrissen, die eine Betreuung Minderwertiger ablehnen und diese den religiösen Verbänden überlassen müsse: Die überholte Grundidee christlicher Liebestätigkeit anerkenne auch den nicht rehabilitationsfähigen kranken Menschen wegen seines unverwechselbaren individuellen Wertes vor Gott. Der Nationalsozialismus dagegen sehe das Individuum einzig in seiner Bedeutung für die Volksgemeinschaft; er könne die kirchliche Arbeit an Schwerstbehinderten aber bejahen, solange sich Innere Mission und Caritas auf dieses Aufgabengebiet beschränkten. Griffen sie jedoch darüber hinaus und verlangten auch das Recht der wohlfahrtspflegerischen und nicht

493

S.Kap. II, Anm. 353.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

423

allein seelsorgerlichen Betreuung Erbgesunder, komme es notgedrungen zu Konflikten. - In einer Stellungnahme zu diesen Thesen verwies der kurhessische Geschäftsführer Walter Schäfer auf die „Schöpfungsgemeinschaft", in der nach christlicher Auffassung Kranke und Gesunde vereint seien und Verantwortung füreinander trügen. Vom Neuen Testament aus betrachtet, weise die NSV „jenen Mangel an barmherziger Liebe" auf, „die nicht nur den einzelnen Kranken, Hilfsbedürftigen und Minderwertigen, sondern die Gesamtheit des Volkes unter das Evangelium von Jesus Christus beruft". Es sei ein Irrtum, darin die Fortsetzung eines längst abgetanen liberalistisch-individuellen Denkens zu vermuten. Weil jeder Dienst des Christen im Namen und Auftrag der Gesamtgemeinde geschehe, ziele er immer auf jene Gemeinschaft der Glaubenden, in der auch der kranke Mensch seinen ihm zustehenden Platz einnehme. 494 Daß nach solchen Grundsatzdarlegungen an einen wie auch immer gearteten geistigen Minimalkonsens zwischen konfessionellen Verbänden und NSV nicht mehr zu denken war, ist offenkundig. Immerhin hatte Althaus nicht nur mit Konflikten gedroht, sondern auch bedingte Zusammenarbeit angeboten, selbst hinsichtlich der rein seelsorgerlichen Betreuung des von der NSV exklusiv beanspruchten erbgesunden Personenkreises.495 In Wirklichkeit durfte die Innere Mission darauf nicht mehr rechnen, wie denn auch der Primat nationalsozialistischer Fürsorge in erster Linie von weltanschaulichen und weniger von sachlichen Forderungen geprägt war. Was letztere betrifft, spielte es eine untergeordnete Rolle, ob NSV, DRK, Caritas oder Innere Mission Müttererholungs-, Erziehungsheime oder Kindergärten betrieben; es kam der Partei und dem durch sie durchdrungenen Staat einzig und allein auf die ideologische Ausrichtung an, und insofern erwies sich das erwähnte Zugeständnis von Althaus wieder als Makulatur. Insbesondere der Kinderpflege- und Erziehungsbereich, der traditionell zu den großen Arbeitsfeldern der Inneren Mission auch deshalb gehörte, weil sich hier am ehesten enge Verbindungen zur kirchlichen ,Basis' der Gemeinden knüpfen ließen, war bis in den Krieg hinein davon in stetig zunehmendem Maße betroffen. Auf der im Rahmen der 43. Reichstagung der Inneren Mission im Januar 1937 stattfindenden erweiterten Geschäftsführerkonferenz wußte der Vorsitzende der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands, Pfarrer von Wicht, zu berichten, daß zunehmend in unerträglicher Weise bei Vorständen und Personal seiner Einrichtungen das Bekenntnis zum Christentum als Ausdruck politischer Unzuverlässigkeit gewertet werde. Im Rheinland sei im Gespräch, die Mitarbeiter von NSV-Heimen und -Kindergärten vor die Alternative zu stellen, entweder aus der Kirche auszutreten und dafür eine Arbeitsplatzgarantie zu erhalten oder entlassen zu werden. Und in Würt-

494

495

Lic. Walter Schäfer/Kassel, „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt im Lichte des Evangeliums" v. 26.XI. 1935; ADW, C A / P A F 22/1. Althaus,a.a.O.,26.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

temberg weigerten sich neuerdings die Finanzämter, Kirchensteuertitel dann zu vollstrecken, wenn in den Haushalten der Einzelgemeinden Ausgaben für Kindergärten ausgeworfen seien.496 Aufsehen in Kreisen der Inneren Mission erregte im Frühsommer 1937 ein ungezeichneter Artikel in dem unter der Herausgeberschaft von Althaus erscheinenden ,NS.-Volksdienst', der sich auf einen Vortrag Otto Ohls während der 43. Reichstagung über „Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe" bezog und den rheinischen Provinzialpfarrer heftig attackierte.497 Ohl hatte einen Gesamtüberblick über die evangelische Wohlfahrtspflege der letzten Jahre gegeben und sich keineswegs auf die vor allem umstrittene offene Jugendhilfe beschränkt. In deutlicher Form kritisierte er die Entkonfessionalisierungsbestrebungen, wie sie in der Diskreditierung religiöser Prägung und Erziehung der evangelischen Einrichtungen durch die NSV und die mit ihr kooperierenden Kostenträger zum Ausdruck kämen. Die Innere Mission sage ja zu einer Mitbelegung ihrer Heime durch die NSV; die Grenze einer Zusammenarbeit sei allerdings dort erreicht, wo der evangelische Charakter dieser Häuser tangiert werde, das heißt ihre „Aufgabe, für Christus zu wirken und ihn zu verkündigen", gerade an denjenigen, die sonst nichts von ihm hörten. Man habe umgekehrt das Beispiel solcher ,entkonfessionalisierter' Heime vor Augen, in denen Kinder, die von Hause aus an Tisch- und Abendgebet gewöhnt seien, sich plötzlich in einer Umgebung befänden, „in der ihnen beides als überflüssig gekennzeichnet, als überholt, vielleicht gar lächerlich gemacht" werde".498 - Auf infame Weise mischte der NSV-Artikel die Ausführungen Ohls nun mit darin gar nicht enthaltenen Angaben über extrem geringe Belegungszahlen evangelischer Erholungsstätten, um mit Hilfe dieser Fälschung auf die geäußerte Kritik zu replizieren: Die christlichen Einrichtungen wollten es der NSV also nicht erlauben, den ihr anvertrauten Kindern „eine Atmosphäre des Friedens und der Volksverbundenheit - als Voraussetzung wirksamer Erholung - durch geeignete Maßnahmen der Heimgestaltung und Personalbesetzung sicherzustellen". Gleichzeitig behaupte Ohl, die NSV verschicke nur Kinder aus ,gottlosen' Familien. Das sei ungeheuerlich angesichts der Tatsache, daß sich 97% dieser Jugendlichen zu christlichen Glaubensgemeinschaften bekennen würden; freilich handele es sich um Menschen, „die sich dank der nationalsozialistischen Jugenderziehung in erster Linie als junge Deutsche fühlen, denen man nicht zumuten kann, während ihrer Erholung Gegenstand und Opfer einseitiger, die Volksgemeinschaft zerreißender konfessioneller Exerzitien zu sein". Wer die deutsche Jugend vor solchen „seelischen

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497 498

Dies geschehe auf eine Verfügung des württ. Kultusministeriums. V.29.V. 1936 hin. Vgl. GK-Prot. v.27.1.1936; ADW, CA 761 XIX. - Dazu jüngst auch Rainer Bookhagen, .Auftrag und Verpflichtung'. NSV 4.1937,136, und IM 32.1937,56-65. Vgl.Ohl,a.a.O.,59.61.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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Umweltschäden" schütze, erhalte ihre „echte ursprüngliche Glaubenskraft", die Berge versetzen könne. 499 Es ist vorstellbar, welche Empörung diese Invektiven in der Inneren Mission und besonders bei dem betroffenen Ohl auslösten. Sie richtete sich weniger gegen den unbekannten Artikelschreiber als vielmehr gegen Althaus, den verantwortlichen Herausgeber des Blattes. Ohl zu Hilfe eilende Vereinsgeistliche und Verbandsführerinnen wie Auguste Mohrmann von der Diakoniegemeinschaft sprachen von einem „Generalangriff auf die ,Innere Mission'", den Althaus gestartet habe, und selbst der intransigente eigentliche Platzhalter der Partei im Centraiausschuß, Schatzmeister Dr. Heinrich, rief nach Konsequenzen im Sinne einer Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der NSV.500 Otto Ohl schließlich nutzte die Gelegenheit, dem ihm von vielen Verhandlungen gut bekannten Althaus seinen Standpunkt noch einmal brieflich zu erläutern und ihm dringend zu raten, „einer Entwicklung Einhalt zu gebieten, die die gegenseitigen Beziehungen auf die Dauer vergiften" müsse.501 Er wie die gesamte Innere Mission seien seit 1933 immer kooperationswillig gewesen und hätten dafür genug Beweise geliefert, von denen Althaus wisse. Dafür dürfe man Entgegenkommen und Verständnis in bezug auf die geistliche Grundlegung evangelischer Liebestätigkeit erwarten. Der höhnische Ton des NSV-Beitrags, der die Innere Mission auch noch dafür verspotte, daß es gewisse Probleme mit Auslastung und Finanzierung der Erholungsheime gebe, obwohl die Ursache dafür doch in der versuchten Abdrängung der konfessionellen Verbände von diesem Felde liege, sei bezeichnend für die Gesinnung des Verfassers. Er bitte, ihn und die Innere Mission vor derartigen Anwürfen und Unterstellungen künftig zu schützen. Aufregung und Verärgerung führender Vereinsgeistlicher über den Angriff auf Ohl hatten noch einen anderen Grund: die ,Enthüllung' angeblicher Sittlichkeitsskandale in ,Krüppel'-Anstalten der Caritas, die - ausgehend von einem Fuldaer Einzelfall - in generalisierende Vorwürfe zunächst gegen die katholische und dann die gesamte konfessionelle Wohlfahrtspflege einmündete. Die mediengerechte .Vermarktung' des pauschalen Verdachts, in kirchlichen Einrich-

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501

„Anspruch und Leistung", a. a. O. Solange man die Probleme noch auf oberster Ebene mit der NSV habe klären können, seien die vielen Unzuträglichkeiten noch zu verkraften gewesen. „Wenn jetzt aber solche Dinge im Organ des Hauptamtes gestanden haben und nach unten kommen, damit sind die Dämme gebrochen, jeder Funktionär hat das gelesen, und die Auswirkung wird so sein, wie das von der Spitze vorgetragen worden ist." - Schw. Auguste Mohrmann berichtete in diesem Zusammenhang, sie habe gerade an einer NSV-Schwesterntagung teilgenommen und einen Vortrag von Althaus gehört, der sich ebenfalls „ganz systematisch" gegen die evangelische Diakonie wandte. GK-Prot. v. 16.VI. 1937; ADW, CA 761 XIX. Das Sehr, datiert v. 18.VI. 1937; ADWDü, BO, 10/2-3,6. Eine erste Fassung hatte Ohl auf einer CA-Sitzung vorgestellt und vom Vorstand billigen lassen. Vgl. das GK-Prot. v. 16. VI. 1937, a.a.O.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

tungen sei die sittliche Integrität vorwiegend der jugendlichen Schutzbefohlenen nicht gewährleistet, bot den Verfechtern der Entkonfessionalisierungskampagne hinreichend Gelegenheit, um ihre antikirchlichen Ressentiments in der Öffentlichkeit demagogisch zu ,präzisieren'. 502 Das schuf auch unter den gar nicht Betroffenen Verunsicherung, wenngleich das eigentliche Motiv der Zurückdrängung christlicher Wohlfahrtspflege bald zutage trat. So erschien in der gleichen Nummer des ,Volksdienstes', in der Ohl angegriffen wurde, der Bericht über die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft der konfessionell nicht gebundenen [Krüppel-]Anstalten\ Wieder war Althaus die treibende Kraft und betonte, der neue Zusammenschluß sei notwendig geworden, um „die Durchführung einer Krüppelfürsorge im Geiste nationalsozialistischer Grundsätze der Erziehung und Wohlfahrtspflege sicherzustellen". Dem kirchlichen Anspruch, für diese Arbeit besondere Fähigkeiten mitzubringen, müsse entgegengetreten werden. Der Direktor des Berliner Oskar-Helene-Heims rechtfertigte die Arbeitsgemeinschaft darüber hinaus mit dem Argument, nur sie sei in der Lage, den Eltern körperbehinderter Kinder die Gewähr zu bieten, „daß diese vor sittlichen Mißständen in konfessionell gebundenen Einrichtungen bewahrt blieben". 5 0 3 Die Nachricht veranlaßte den Leiter der großen evangelischen Krüppelanstalt Volmarstein, Pastor Vietor, wegen der implizit damit zum Ausdruck gebrachten Übertragung dieses Verdachts auf evangelische Heime zu einem geharnischten Protest: Es sei „unglaublich", solche Beschuldigungen in einer offiziellen NSVZeitschrift zu bringen; das Blatt müsse die Anwürfe „in aller Form mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns" zurücknehmen. 504 Auch Präsident Frick nutzte die Gelegenheit, bei einer Unterredung mit Hilgenfeldt Anfang August die unwahren Behauptungen gegenüber Ohl und der Krüppelfürsorge insgesamt zurückzuweisen. Der Vorwurf einer nur auf das Individuum bezogenen Fürsorge treffe vielleicht für die katholischen Anstalten [!], nicht aber für den evangelischen Wohlfahrtsbereich zu. Anlaß zur Klage über die praktische Arbeit der Inneren Mission sei doch nicht vorhanden; für die Caritas könne er sich „bei den Vorkommnissen der letzten Zeit natürlich nicht verbürgen". Er bitte darum, in die negative Beurteilung der katholischen Einrichtungen nicht auch die Protestanten mit einzubeziehen. Hilgenfeldt schwächte daraufhin diese Kritik ab: Die Katholiken leisteten im allgemeinen gute Arbeit; hier wie auch in der Inneren Mission gebe es immer wieder ,schwarze Schafe'. Er wolle auch nicht abstreiten, daß er es selbst in der NSV gelegentlich mit,Fanatikern' zu tun habe, die sich „politisch die Sporen verdienen wollten" und wirklicher Volkswohlfahrt „verständnislos"

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503 504

Z u den Pressekampagnen allgemein s. H a n s - G ü n t e r Hockerts, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester. H. geht auf den hier in F r a g e stehenden F u l d a e r Einzelfall nicht ein. NSV 4.1937,129. SoaufderGKv.16.VI.1937,a.a.O.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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begegneten. 505 - Diese für den Hauptamtsleiter typische Teilrücknahme öffentlich erhobener und damit schon breitenwirksamer Anschuldigungen stellte die Innere Mission natürlich nicht zufrieden. Sie erleichterte indessen den persönlichen Umgang der Spitzenfunktionäre miteinander und ließ dem Centraiausschuß einen Rest von Zuversicht, derartige Konflikte im Einzelfall entschärfen zu können. Daß sich der Generalkurs nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege damit nicht ändern würde, darüber machten sich Frick u n d seine Mitarbeiter inzwischen keine Illusionen mehr. Ihnen kam es nun vor allem darauf an, eine für sie existenzgefahrdende Entwicklung in ihrem Tempo abzuschwächen und dafür zu sorgen, daß sie wenigstens in annähernd rechtsstaatlichen Bahnen verlief, so daß man in der Lage war, sich darauf vorzubereiten. Die seit dem Frühjahr 1937 „in konzentrischer Form" 5 0 6 vorgetragenen publizistischen Angriffe auf die konfessionelle Wohlfahrtspflege waren jedenfalls kein Zufall u n d hielten - wenn auch in gemäßigteren Formen - an. Im Oktober beschäftigte sich ein Beitrag in der ,Sozialen Arbeit' wiederum mit den „Unterschieden zwischen NSV. und kirchlicher Liebestätigkeit". Der Verfasser wählte den Weg, die Ansprüche der Religionsgemeinschaften auf die Betreuung Rehabilitationsfähiger durch vordergründiges Eingehen auf deren eigene Motive abzuwehren. Christliche Fürsorge entfremde sich ihrer wahren Bestimmung, wenn sie ihre Aufgaben zu stark ausweite, d.h. das Gebiet „irdischer Wohlfahrt" einbeziehe. Diese müsse der völkischen Zielsetzung der Fürsorge im NS-Staat vorbehalten bleiben, und die konfessionellen Verbände täten gut daran, diese Arbeitsfelder zugunsten der NSV abzubauen. 5 0 7 In internen, nur für den Dienstgebrauch der NSV bestimmten Periodika behielt man den grob-polemischen Ton gegenüber den christlichen Verbänden jedoch bei. Die beliebte Kritik am Zölibat der Ordensfrauen und der - nicht gleichermaßen verpflichtenden - Ehelosigkeit der Diakonissen gipfelte in einem Aufsatz des Jahres 1938 in der Behauptung, das kirchliche Dogma habe beim weiblichen Pflegepersonal zum Verzicht auf Nachwuchs geführt, während die Erbkranken sich ungehindert vermehren und die Substanz des deutschen Volkes schädigen könnten. Die theologische Lehre von der Gleichberechtigung der Schwachen sei ein Angriff auf die Volksgemeinschaft. Weil aber kranke Menschen niemals „die sittliche Höhe" der Gesunden erreichten, müsse „der Leistungsteil der Nation" höher bewertet werden als jener andere, der das Volk nur belaste. Deshalb bedeute kirchliche Wohlfahrtspflege für die Volksgemeinschaft letztlich „verantwortungslose Fürsorge" und Förderung bolschewistischen Untermenschentums'. 5 0 8 505

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Aufzeichnung Fricks über seine Besprechung mit Hilgenfeldt v. 12.VIII. 1937; ADW, C A / G 100150/2. So Pastor Schuhmacher/Frankfurt a. M. anläßlich der G K v. 16.VI. 1937, a. a.O. Soziale Arbeit 14.1937/38 V.23.X.1937 und Althaus, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, 27. „Die der christlichen Liebestätigkeit und humanitären Wohltätigkeit zugrundeliegende

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

III.5.1.2. Das .Modell Österreich' Welche ,Lösung' dem Hauptamt für Volkswohlfahrt im Umgang mit den kirchlichen Verbänden letztlich vorschwebte, läßt ein Blick auf die Neuordnung der Verhältnisse in Österreich nach dem ,Anschluß' erkennen. Traditionell flössen seit vielen Jahren erhebliche Mittel des Centraiausschusses an den .Zentralverein für Innere Mission in Österreich', die in der dortigen Diasporasituation der evangelischen Kirche hochwillkommen waren. Als die großen Sammlungen von Caritas und Innerer Mission verboten wurden und statt dessen Ausgleichszahlungen aus den Einnahmen des WHW erfolgten, mußte der Centraiausschuß auch die österreichischen Transaktionen im einzelnen nachweisen. So konnte sich die NSV schon lange vor 1938 ein Bild von Rechtsverhältnissen und Finanzsituation der konfessionellen Wohlfahrtspflege in der ,Ostmark' machen. 509 Noch fünf Tage, ehe die deutschen Truppen am 12. März 1938 in Österreich einmarschierten, wurde der junge schweizerische Pfarrer Meyer, 510 der kurz zuvor das Amt des Generalsekretärs des Zentralvereins übernommen hatte, zur NSV-Reichsleitung nach Berlin bestellt, um dort ein Abkommen zu unterzeichnen, das der NSV ein Aufsichtsrecht über seine Organisation einräumte und ihn als kommissarischen Leiter der österreichischen Inneren Mission bestätigte.511 Bis zur Neuregelung der Wohlfahrtspflege sollte der Zentral-

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5,0

511

Wertung m u ß in ihrer letzten Konsequenz in bolschewistischer Zersetzung und Auflösung jeden Volkstums mit der Herrschaft der .Untermenschen' enden." Vgl. „Der Einfluß des kirchlich-dogmatischen Denkens", o.Vf.-angabe, in: Informationsdienst für die soziale Arbeit der NS-Volkswohlfahrt. Vertrauliches Organ für den Dienstgebrauch 1.1938,61 f. - Hg. des .Dienstes' war Hilgenfeldt. Vgl. das Sehr. Dr. Schuberts/CA an das Hauptamt v. 4.VI.1936 wegen des Verwendungsnachweises für an den Zentralverein fließende Mittel; ADW, C A 2049/1. Zur Person E. G. Meyers, der als Schweizer Mitglied der N S D A P war, s. Hans Jaquemar, Innere Mission, 196 u. pass. Jaquemar, selbst Vorgänger Meyers als Generalsekretär des Zentral vereins, geht auf die Zeit zwischen 1938 und 1945 nur mit einigen wenigen Andeutungen ein. - Zur Entwicklung der österreichischen Diakonie im Umfeld des .Anschlusses' von 1938 ist ein Beitrag v. J-C. Kaiser in Vorbereitung. Eine Skizze der Entwicklung innerhalb der österreichischen Caritas bietet Hans-Josef Wollasch, „Vom vertraulichen Nachrichtendienst des DCVzu Informationsblättern für die Caritaspraxis", 356f. Die Caritas habe eine ähnliche Vereinbarung unterzeichnen müssen, behauptete Meyer auf der G K v. 13.V. 1938. Pfarrer Dietz/Nürnberg kritisierte die von Meyer unterschriebene Vereinbarung scharf und verlas den Text, um sein Monitum zu begründen. Außerdem bestritt er, d a ß die Caritas ebenfalls unterzeichnet habe; die Bischöfe hätten sich nach seinen Informationen nur zu Verhandlungen bereit erklärt. Meyer wies diese Version zurück: „Leider würde in der katholischen Kirche viel gelogen." Er glaube vielmehr, d a ß die Katholiken diese Übereinkunft geheimhalten wollten und ihre Existenz deshalb in der Öffentlichkeit verleugneten. Die IM Österreichs sei von ihren Pfarrern und dem Wiener E O K im Stich gelassen worden; deshalb habe er die Vereinbarung „als Blankowechsel" unterschrieben, im Vertrauen darauf, d a ß nun eine neue fruchtbare Arbeitsperiode für den Zentralverein beginne. ADW, C A 761 XX.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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verein nur noch volksmissionarisch tätig sein dürfen; Sammelverbote wurden erlassen, die zum Unterhalt der angeschlossenen Einrichtungen notwendigen Gelder jedoch zunächst durch die NSV gezahlt. Obwohl die evangelischen Österreicher die Eingliederung ihres Landes in das Deutsche Reich besonders enthusiastisch gefeiert hatten, wie Meyer im Mai der Geschäftsführerkonferenz berichtete,512 blieben manche deutschen Vereinsgeistlichen skeptisch. Der mehr als überraschende Coup Hilgenfeldts zeigte ihnen überdeutlich, daß er in den neuen Gebieten die im Altreich notwendigen Kompromisse nicht mehr eingehen würde. Die Kritik an Meyers Vorgehen hielt sich nicht zuletzt wegen der im Mai noch nicht völlig geklärten Lage und der grundsätzlichen Bejahung der Einverleibung Österreichs in Grenzen; auch beruhigende Voten Schirmachers und Fricks, die wieder einmal um Verständnis für das Vorgehen der NSV warben, trugen dazu bei. Die erhoffte Klärung sollte allerdings bald folgen - in anderem Sinne, als die Innere Mission erwartete. Am 22. Juli 1938 verfügte der ,Stillhaltekommissar', Reichsamtsleiter Albert Hoffmann, die Bildung einer »Arbeitsgemeinschaft für die freie Wohlfahrtspflege in der Ostmark', die vor allem auf die Weisungsbefugnis der NSV gegenüber den übrigen freien Verbänden abhob, zu der auch das Recht gehörte, die gesamte Arbeit nach den Intentionen der NSV neu zu ordnen.513 Als Hilgenfeldt selbst im Dezember des Jahres die Leitung der Arbeitsgemeinschaft übernahm, begann die befürchtete radikale Umstrukturierung: Innere Mission und Caritas wurden gewaltsam auf das Gebiet der geschlossenen Fürsorge beschränkt, während ihre sonstigen Einrichtungen die NSV oder nichtkonfessionelle freie Träger unter deren Aufsicht übernahmen. 514 Pfarrer Meyer 512

„Es sei das erfüllt worden an Wünschen, Hoffen und Sehnsüchten, wie es nicht schöner hätte sein können. Es sei schon längst eine große Los-von-Rom-Bewegung, den Schwarzen' würde jetzt heimgezahlt, was sie an Blut, Tränen und Leid auf sich geladen haben." Ebd. Zum Enthusiasmus gerade unter der evangelischen Bevölkerung über den .Anschluß' s. a. den Brief des Zentralvereins-Vorsitzenden, Kirchenrat Johann Wetjen/ Wien, an den CA, den die ,IM' auszugsweise abdruckte: „Innere Mission in DeutschÖsterreich", IM 33.1938, 70-74, 71 ff. Die letzte Bemerkung Meyers bezog sich auf die gelegentliche Diskreditierung der evangelischen Diaspora in Österreich als „Nazikirche", wozu allerdings bedingt Anlaß bestand, wie Wetjen, a.a.O., 70f., indirekt selbst eingestand: Die „gut völkische Arbeit" der Protestanten und die Ausnahmegenehmigung Rdl Fricks für eine 14tägige Sammelaktion 1937 [!] zugunsten der österreichischen Wohlfahrtspflege, von der auch der Zentralverein und seine Werke profitierten, sind dafür nur einige Indizien.

513

Vgl. den ungezeichneten Art. „Neuordnung der freien Wohlfahrtspflege in der Ostmark", in: NSV7.1940,141-146. Am 6.III.1939 schrieb Hilgenfeldt an den Zentralverein, die NSV nehme „das Recht der ausschließlichen Menschenführung" für sich in Anspruch; alle damit in Verbindung stehenden Arbeitsfelder habe die österreichische IM unverzüglich an die NSV zu übergeben: „Ihre Tätigkeit wird sich daher in Zukunft 1. auf die geschlossene Fürsorge zu beschränken haben und2.hierinnur insoweit, als es sich um Aufgaben bewahrender oder

514

430

III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

klagte seinen in Berlin versammelten Kollegen im Januar 1939 denn auch ernüchtert, die Arbeitsgemeinschaft habe sich „in eine Diktatur der NSV umgewandelt", die gesamte Gesundheitsfürsorge sei der Inneren Mission fortgenommen worden, sie dürfe sich künftig nur noch „mit Erbkranken und Unheilbaren befassen"; er wisse nicht, was der Zentralverein nun tun solle. - Erstaunlich mutet angesichts dieser veränderten Sachlage an, daß sich auch jetzt noch CAMitglieder und Vereinsgeistliche bereit fanden, das österreichische Modell zu akzeptieren: So wies Frick auf die dort geplante „Musterverwaltung" hin, zu deren Errichtung auch „drakonischef.] Maßnahmen" in Kauf genommen werden müßten, und selbst Braune meinte an die Übermacht der katholischen Einrichtungen erinnern zu sollen, die der Staat mit Gewalt habe brechen müssen. Schirmacher schließlich riet Meyer zu gütlichem Weiterverhandeln, machte aber zugleich deutlich, daß die Dinge im Reich anders gelagert seien. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, als seien die Geschäftsführer mit ihren eigenen Problemen so beschäftigt gewesen, daß sie gar nicht merkten, daß in Österreich „das Wunschprogramm der NSV für das Altreich" verwirklicht wurde, wie Ohl, der damit als einziger den Kern des Problems traf, bemerkte. 515 In der Tat gelang Hilgenfeldt hier zum ersten Mal die Durchsetzung seiner Maximalforderungen und zugleich die Scheidung evangelischer Wohlfahrtspflege innerhalb eines einheitlichen Rechtsgebietes in zwei Klassen. Selbst die Kommunikation zwischen Centraiausschuß und Zentralverein, der ersterem seit 1937 als Mitgliedsverband angeschlossen war, suchte Hilgenfeldt nach Kräften mit der Begründung zu unterbinden, daß die österreichische Arbeitsgemeinschaft „vorgesetzte Dienststelle" des Zentralvereins sei und ein direkter Schriftwechsel des CA mit letzterem unter Umgehung der Arbeitsgemeinschaft nicht geduldet werden könne. 516 Während dieses ,Wunschprogramm' bis Kriegsende im Altreich nicht zu realisieren war, fiel es Staat, Partei und NSV verhältnismäßig leicht, Kirchen- und Wohlfahrtspolitik nach ihren Vorstellungen in den durch den Kriegsverlauf neu zu Deutschland kommenden Ostgebieten durchzusetzen. Das galt vor allem für den Warthegau, in dem die Machtergreifung' der NSV nach einem ähnlichen Procedere ablief wie in der ,Ostmark'. Die Innere Mission dort und ihre Geistlichen, die in der Zwischenkriegszeit manche Konflikte bis hin zur Fortnahme

515 516

versorgender Natur handelt." ADW, C A / P A F 22/2. - Die Folge war unter anderem, daß von den Mitte 1938 bestehenden 511 konfessionellen Kindertagesstätten 297 in die NSV überführt wurden und der Rest geschlossen werden mußte, weil die baulichen und hygienischen Voraussetzungen für einen weiteren Betrieb angeblich nicht ausreichten - realiter wohl ein Hinweis darauf, daß die NSV personell nicht hinreichend ausgestattet war, um diese Einrichtungen ebenfalls in eigene Regie zu übernehmen; ebd., 144. GK-Prot. v. 18.1.1939; ADW, CA 761 XXI. Vgl. Gerhardt II, 419f., und das Sehr. Hilgenfeldts an den CA v.4.1.1941; ADW, C A / G 100150/3.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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ganzer Einrichtungen durch den polnischen Staat hatten hinnehmen müssen, waren zunächst außerordentlich froh über den deutschen Vormarsch und die staatliche Neugliederung ihres Territoriums. Nach den Bedrängnissen der Zeit unmittelbar vor dem Kriege, die auf eine Polonisierung der Anstalten und die Zernierung evangelischer Wohlfahrtspflege überhaupt hinausgelaufen seien, wie Provinzialpfarrer Steffani/Posen der Geschäftsführerkonferenz berichtete, habe man nach der deutschen Besetzung neue Hoffnungen geschöpft. 517 Schon wenige Monate später gestand Steffani ein, daß diese Hoffnungen verfrüht gewesen seien. Die NSV habe sich in Posen derart rasch organisiert, daß sie nun das Heft in der Hand halte; Kontensperrungen und andere Schikanen stellten die evangelischen Einrichtungen des Gaues vor die Existenzfrage: „Zwanzig Jahre haben wir etwas zu verteidigen gehabt und durchgesetzt, nun sind es unsere Freunde, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen." 518 Das Schicksal der Kirche und ihrer Werke im Warthegau ist bekannt und soll hier nicht weiter verfolgt werden. 519 Wesentlich für die Grundsatzkonflikte zwischen Innerer Mission und NSV im Altreich sind die Vorgänge in Österreich und im Osten deshalb, weil sie signalisieren, welchen Weg Hilgenfeldt und die ihn stützenden Männer des Parteiapparats gegangen wären, wenn die Anforderungen des Krieges und sein Ausgang ihr Konzept nicht zunichte gemacht hätten. Diese Deutung reicht aber als Antwort auf die Frage nach den Ursachen des vorsichtigeren Kurses gegenüber den konfessionellen Verbänden im Altreich nicht aus, wennschon sie wesentliche Motive darstellt. Eine neben Krieg und angespannte Ernährungslage zusätzlich tretende Beunruhigung der Bevölkerung durch scharfe Schnitte im Wohlfahrtsbereich störte die Strategie der Reichsführung wie die Fortsetzung des Kirchenkampfes, dessen Beendigung' während des Krieges im Sinne eines gewissen Stillhaltens der politischen Führung einer Weisung Hitlers entsprach. 520 - Das Zahlenverhältnis der Wohnbevölkerung wie der von den konfessionellen Verbänden betreuten Menschen verdeutlicht dagegen die besonderen Möglichkeiten des Regimes in Posen und Österreich, da es sich für die Protestanten um eine Diaspora-Situation handelte. Außerdem hatte Hilgenfeldt dort einen straff zentralisierten Apparat zur Verfügung, der auf ihn hörte, weil seine Absichten mit den politischen Zielen der Gauleiter und Reichsstatthalter korrespondierten, was sonst nicht immer der Fall war. - Der NSV im Reich stand mit Centraiausschuß und Caritasführung eine in Abwehr von Übergriffen und Improvisation eingespielte Maschinerie geistlicher Funktionäre' 5,7 518

519 520

GK-Prot. V.27.X. 1939; ADW, CA 761 XXI. „Unsere Pfarrer und Gemeindeglieder sind mit solcher Begeisterung dem Neuen entgegengegangen. Alles, was von oben kommt, glauben sie, ist gut und dem muß man gehorchen. Es ist schwer, dem einzelnen klarzumachen, seine Pflicht als Deutscher aber auch als Evangelischer zu tun." GK-Prot. v. 28.VI. 1940; ADW, C A 761 XXII. Vgl. Paul Gürtler, Nationalsozialismus und evangelische Kirchen im Warthegau. Vgl. John S. Conway, The Nazi Persecution of the Churches, 435 f., Anm. 1 u. 2.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

und ihrer sachkundigen Mitarbeiter gegenüber, deren Renommee in Kirche, Anstalten und Gemeinden ihnen einen, wenn auch beschränkten, Schutz bot und es nicht ratsam erscheinen ließ,,Lösungen' in jedem Fall und mit allen Mitteln zu erzwingen. Schließlich benötigten NSV, Länder und Kommunen das Personal der konfessionellen Wohlfahrtspflege auch zum Einsatz in jenen Einrichtungen, die nicht zu ihrem allein genehmigten Aufgabenbereich im Dienst an Erbkranken und sonstigen .Minderwertigen' gehörten. Trotz intensivster Propaganda und Anwendung staatlichen Drucks gelang es der NSV etwa nicht, genügend junge Frauen für den Schwesternberuf zu gewinnen. Die plötzliche Übernahme aller Kindertagesstätten, Erziehungs- und Erholungsheime usf. mit ausschließlich eigenem Personal hätte den Kollaps der gesamten offenen Fürsorge nach sich gezogen. Das wußten die Verantwortlichen im 1935 neu erbauten NSV-Domizil am Maybachufer in Berlin und agierten entsprechend mit einer Mischung aus Drohungen und Entgegenkommen. Was dabei Taktik war, was machtpolitisches Unvermögen, wenn ganze Anstaltskomplexe von NSVGauwaltern im Verein mit Regierungspräsidenten und Reichsstatthaltern beschlagnahmt wurden, 521 während Althaus und Hilgenfeldt ihre Zuständigkeit für solche Eingriffe bestritten, wird sich im nachhinein kaum klären lassen. Fest steht wohl, daß beide, ob sie nun ,blufften' oder die Wahrheit sagten, aus der Ungewißheit ihrer Gesprächspartner Kapital zu schlagen suchten, auch wenn man ihnen längst nicht mehr alles glaubte. Bei vielen Vereinsgeistlichen trat aber anstelle der früher bald erfolgten Desorientierung bei Anwendung solcher Praktiken im Laufe der Jahre große Gelassenheit. Zwar voller Sorge um ihre Werke, aber meist ohne persönliche Furcht verhandelten sie wie Braune und von Bodelschwingh, Frick, Ohl, Schirmacher und viele andere mit hohen und höchsten Behörden- und Regierungsvertretern und ließen sich auch von massiven Drohungen und angeblichen Geheimerlassen nicht so rasch einschüchtern. 522 Der -

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Hier sind besonders die Kämpfe um den Erhalt der pommerschen Anstalt Kückenmühle b. Stettin und um das mecklenburgische Stift Bethlehem b. Ludwigslust zu nennen. Während die Schließung der Kückenmühler Einrichtung durch den Stettiner Polizeipräsidenten mit dem Argument begründet wurde, sie liege in städtischem Wohngebiet und gefährde die Sicherheit der Anwohner, erfolgte der Zugriff auf Bethlehem unter Hinweis auf Reichsverteidigungsanforderungen; in Wahrheit hatten es der Schweriner Reichsstatthalter und der mit ihm verbündete Landrat jedoch auf das Barvermögen des Stiftes abgesehen. Kückenmühle blieb geschlossen und wurde später zur SS-Kaserne umgebaut; in Ludwigslust war die Partei zu einem Rückzieher und wenigstens teilweiser Rückgabe der Gebäude an die Innere Mission genötigt. Die eingehende Untersuchung dieser Beispiele willkürlicher Beschlagnahmungspraxis regionaler Gauleitungen und Regierungspräsidien, die sich beliebig vermehren ließen, bleibt ein Desiderat. Vgl. die umfangreichen Unterlagen dazu im EZA, EKD C 3/165 (Ludwigslust) und C 3/163 (Kückenmühle), sowie Gerhardt II, 417-419. Am 19.III. 1941 berichteten zwei Hamburger Rechtsanwälte, die im Auftrage des dortigen Landeskirchlichen Amtes für Innere Mission wegen der Beschlagnahmung von fast

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

433

immer relativ zu sehende - Erfolg gab ihnen recht: Niemand von ihnen wurde für seinen Mut ins Konzentrationslager gebracht oder mit Ausnahme des dort verhältnismäßig ,gut' behandelten Paul-Gerhard Braune von der Gestapo längere Zeit in Haft gehalten. 523 Und dennoch, Innerer Mission und Caritas blieb nur eine Frist; endgültige Regelungen für ihre Arbeit waren seit 1933 nicht mehr zu erreichen. Das bittere Kapitel der Krankenmorde, die kurz nach Kriegsbeginn einsetzten und ungeachtet ihrer offiziellen Beendigung auch über den Stichtag des 24. August 1941 hinaus weitergeführt wurden, 524 zeigt die ganze Vorläufigkeit, ja letztlich Vergeblichkeit aller Bemühungen auf, der inhumanen Rassen- und Erbgesundheitsideologie des totalitären Staates ein christliches Menschenbild entgegenzustellen, auf dessen Gültigkeit für die Gesellschaft des Dritten Reiches die Innere Mission 1933 so große Hoffnungen gesetzt hatte. III.5.1.3. Sammlungsprobleme und Schwesternfragen Nachdem im zweiten Kapitel die Rahmenbedingungen einer Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege im Dritten Reich skizziert wurden, geht es an dieser Stelle noch einmal um die großen Schwierigkeiten der konfessionellen Verbände - insonderheit der Inneren Mission - durch eigene Sammelaktionen zusätzliche Mittel zu gewinnen. 525 Wir erinnern uns, d a ß bis zum Ersten Weltkrieg das Spendenaufkommen neben den Pflegesatzerstattungen zu den wichtigsten Quellen gehörte, aus denen die Arbeit bezahlt wurde. Der starke Zufluß öffentlicher Gelder, an denen in der Weimarer Republik auch die Innere Mission partizipiert hatte, ließ aus den geschilderten ökonomischen Gründen schon während der Weltwirtschaftskrise spürbar nach u n d wurde später noch von den Nationalso-

17.000 RM durch die Gestapo interveniert hatten, dem verantwortlichen Pastor Donndorf, ihnen sei bedeutet worden, die Beschwerde werde ohne Erfolg bleiben. Der Gestapo liege eine (geheime) Verfügung des Rdl vor, „nach der die Bestrebungen der Inneren Mission als volks- und staatsfeindlich festgestellt seien". Auch habe sie der Minister per Sehr, v. 26. VI II. 1940 angewiesen, auf Grund des Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens v. 14.VII. 1933 das Geld einzubehalten und dem DRK zu überweisen. Wenn die IM nun protestiere und das Geld zurückfordere, müsse diese Begründung publik gemacht werden; das könne doch nicht im Interesse der IM liegen [!]. Daraufhin eilte der empörte Donndorf eigens nach Berlin, um Frick und Schirmacher zu bewegen, sich persönlich im Rdl für die Hamburger IM zu verwenden; ADW, C A / G 03. - Der weitere Fortgang der Angelegenheit wird in den Akten nicht dokumentiert. Der Fall ist jedoch ein kennzeichnendes Beispiel für die fast beliebige Konstruktion von Begründungszusammenhängen, wenn die politische Polizei auf ein bestimmtes Ziel hinauswollte; die behauptete Existenz einer derartigen förmlichen, wenngleich geheimen Rdl-Verfügung dürfte eine Erfindung der Hamburger Gestapo gewesen sein. 523

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So eine Mitteilung Fritz v. Bodelschwinghs an Geh. KonsR Karnatz v. 31.VIII.1940; HAvBA 2/33-155. S. a. Berta Braune, Hoffnung gegen die Not, 77 ff. Ernst Klee,,Euthanasie' im NS-Staat, 417 ff. u. pass. Vgl. noch einmal Kap. II.4.3.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

zialisten aus gesellschaftspolitischen Motiven gedrosselt. Diejenigen Aufgabenbereiche, die nicht direkt aus den Kassen der Krankenversicherungen und Fürsorgeverbände finanziert werden konnten wie evangelische Privatschulen, Kindergärten, Gemeindepflegestationen und die Volksmission, gerieten deshalb nach 1933 zunehmend unter Druck. Da die verfaßten Landeskirchen wegen des Kirchenkampfes, aus eigener Geldnot, aber auch aus prinzipiellen Erwägungen zu einer Übernahme solcher Kosten nicht bereit oder in der Lage waren, blieb der Centraiausschuß auf die Erträge der wenigen ihm noch zugestandenen öffentlichen Sammlungen in hohem Maße angewiesen. Dabei ging es um nicht unbeträchtliche Summen, wie das Gesamtergebnis des 1935 staatlicherseits eingeräumten ,Volkstages der Inneren Mission' mit fast 2,9 Mio. RM ausweist.526 Als man ein Jahr später eine weitere Sammelaktion vorbereiten wollte und das Innenministerium um die entsprechende Genehmigung ersuchte, ließ der Rdl die Innere Mission lange im ungewissen darüber, ob er erneut einem ,Volkstag' seine Zustimmung geben würde. Im März beklagte sich Präsident Frick bei Zoellner über die willkürliche Handhabung der Sammlungsgesetzgebung, deren Auswirkungen die Fortsetzung der karitativen Arbeit von Kirche und Innerer Mission gefährdeten, und bat um das Eingreifen des RKA. 527 Zoellner entzog sich dieser Bitte nicht; in einer Eingabe an den Minister unterstrich er, daß die Sammelwoche das Rückgrat evangelischer Liebestätigkeit darstelle und ein Ausfall bzw. eine Minderung der Gelder Rückwirkungen auf die Sozialpolitik und die Stimmung in der evangelischen Bevölkerung haben müsse.528 Wenngleich diese Begründung leicht übertrieben klingen mochte, für Zoellner als Kirchenführer, der lange im Bereich der Diakonie gewirkt hatte, stand dahinter der Gedanke, daß Kirche als erfahrbare Realität gerade von jenen oft nur durch das Wirken der Inneren Mission wahrgenommen wurde, die sich religiösem Denken längst innerlich entfremdet hatten. Die ,Opferwochen' mit ihren Straßen- und Haussammlungen sprachen bedeutend mehr Menschen unmittelbar an, als das Gottesdienste und andere auf den engeren kirchlichen Bereich beschränkte Veranstaltungen tun konnten. Umgekehrt war es diese öffentliche Werbemöglichkeit, die im Zeichen der beginnenden Entkonfessionalisierung Ministerien und Partei dazu bewog, solche publizitätsträchtigen Aktionen mit administrativen Vorgaben einzuengen und schließlich ganz zu unterbinden. Dennoch stimmte der Innenminister 1936 der Durchführung eines ,Volkstages' noch einmal zu, der im Juni des Jahres stattfinden konnte. Mit 526

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Die Volkstag-Sammlung von 1936 erbrachte 2.234.000 RM, d. h. etwa 23% weniger als das Vorjahresaufkommen. Mitteilung P. Engelmanns auf der GK V.6.X. 1936; ADW, CA 761 XVIII. Frick an Zoellner v.2.111.1936; EZA, E K D C 3/161. „Sonst wäre ernstlich zu befürchten, daß die konfessionellen Kreise sich zurückgesetzt fühlen, so wenig dies tatsächlich in der Absicht des Staates liegt [!]." RKA/Zoellner an Rdl (Entw.) v. März 1936; ebd.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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kleinlichen Restriktionen, die von der Veranstaltung paralleler Sammlungen vornehmlich durch das D R K bis hin zum .freiwilligen' Einsatz von SA-Männern in einzelnen Provinzen für das D R K reichten, gelang es, die Erträge zu mindern. 529 Auch von den gleichzeitig tätigen Caritas-Sammlern fühlte sich die Innere Mission übervorteilt, wobei dieser Effekt sicher von der Genehmigungsbehörde ebenfalls beabsichtigt war. Allerdings versuchte Präsident Frick, diese ärgerlichen Vorfälle mit dem Hinweis auf die politische Unzuverlässigkeit der Katholiken zu entschuldigen', denen der Staat deshalb ,auf die Finger sehen' müsse. Daß damit auch die Innere Mission getroffen werde, liege an der ungenügenden Aufklärung über ihre „ganz andere Haltung" gegenüber dem Dritten Reich. 530 Am 16. März 1937 erhielt der Centraiausschuß den Bescheid des Innenministers, eine Erlaubnis zur Veranstaltung ähnlicher Großaktionen wie in den beiden vorangegangenen Jahren könne nicht mehr erteilt werden. Daraufhin wurde Pastor Engelmann mit der Erstellung eines Papiers über Alternativen zu den öffentlichen und genehmigungspflichtigen Sammlungen beauftragt, das wohl zu den Vorbereitungen für ein Treffen mit dem Anfang April eingesetzten Kirchenführer-Ausschuß unter Vorsitz von Bischof Marahrens zählte, mit dem der C A die nun erforderlichen Schritte beraten wollte. 531 Engelmann regte an, den noch einzig verbleibenden Ausweg zu nutzen und die Kirche um die Abhaltung von Sonderkollekten für Zwecke der Inneren Mission zu bitten. Schwierig erschien diese Teillösung insofern, als die Kollektenpläne überall schon terminlich festgelegt waren und keine Landeskirche gezwungen werden konnte, für die Innere Mission einen eigenen Sonntag freizumachen. Auch die Kollekten der Kindergottesdienste und die jährliche Konfirmandengabe kämen - so Engelmann - für ein zusätzliches Opfer zugunsten der Inneren Mission in Betracht. 532 Einen Tag vor der Sitzung mit dem Kirchenführer-Ausschuß trat am 15. April die Geschäftsführerkonferenz zusammen, auf der das Sammelverbot breiten Raum einnahm. Schirmacher berichtete von erfolglosen Protesten des CA beim Innenminister

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Vgl. das CA-Schr. an den RKA v. 8.VI. 1936, wo über solche Schikanen in Hessen geklagt wurde. Ebd. Im Gau Westfalen-Nord kam es zu Zusammenstößen zwischen Sammlern der IM und des DRK; GK-Prot. v. 13.VI. 1936; ADW, CA 761 XVIII. Diese einseitige Bevorzugung des DRK auf Kosten der konfessionellen Verbände wird auch durch die Forschungen von H.-J. Wollasch bestätigt; vgl. ders., Beiträge, 185 ff. Nicht alle Geschäftsführer teilten Fricks konfessionelle Ressentiments; so kritisierte Lic. Krause/Breslau diese Abgrenzung von den Katholiken, die ja nur die Funktion habe, die IM auf Kosten der Caritas in ein .besseres Licht' zu rücken. Ebd. Der Kirchenführer-Ausschuß trat an die Stelle der .bevollmächtigten Leitung' unter Vorsitz Liljes, der nach dem Rücktritt des RKA provisorisch dessen kirchenleitende Funktion hatte übernehmen sollen, ohne freilich vom RKM anerkannt worden zu sein. Zu dem neuen Gremium, dem diese Anerkennung ebenfalls versagt blieb, vgl. Meier II, 151 f. P. Engelmann, „Anmerkungen zu der Frage, welche Maßnahmen die Landeskirche zugunsten der IM für die ausgefallenen Sammlungen ergreifen könne", v. April 1937; E Z A , E K D C 3/162.

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III. D i e Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

und selbst beim ,Führer', die aber immerhin zu einer Anweisung des Reichskanzlers an den WHW-Beauftragten Hilgenfeldt geführt hätten, jede „für das Volksganze wichtige Einrichtung (Anstalt) der freien Liebestätigkeit" aus WHWAusgleichsmitteln angemessen zu entschädigen. Daneben - so Schirmacher weiter - gebe es allerdings Arbeitsgebiete wie Kindergärten, Volksmission und Gemeindepflegestationen, die nicht nach planwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisierbar seien; diese müsse man künftig aus kirchlichen Mitteln unterstützen. Keinesfalls aber dürfe die Innere Mission „durch das Sammelverbot von [... ihren] Gemeinden abgeschnitten werden". - An der Frage, ob man die in Aussicht gestellten Ausgleichszahlungen überhaupt guten Gewissens annehmen könne oder sich damit in zu große Abhängigkeit zum WHW begebe, schieden sich in der anschließenden lebhaften Debatte die Geister. Pfarrer Brandmeyer, der Geschäftsführer des Evangelischen Frauenwerks, das auf solche Gelder gar nicht rechnete, weil es keine dafür in Frage kommenden Einrichtungen unterhielt, plädierte kennzeichnenderweise für einen völligen Verzicht und warb statt dessen für das feste Zusammenstehen aller Verbände im Sinne einer christlichen Solidargemeinschaft; nur so könne man sich den Pressionen der NSV entziehen. 533 Wie zu erwarten, widersprachen dem die alten Praktiker aus ihrer Verantwortung für die großen Werke der Anstaltsdiakonie heraus ganz entschieden: Kaufmann/Königsberg, Heyne/Bremen oder Ohl/Langenberg betonten das Angewiesensein auf diese Gelder und verglichen einen kurzschlüssigen Verzicht mit der gefährlichen Formel der Erweckungsbewegung ,Rechnen oder Glauben'. Ohl rief zu einer realistischen Sicht der Verhältnisse auf und warnte vor der Illusion, wahre Liebestätigkeit werde nur dort wirklich geübt, „wo freie Gaben im Spiel" seien. Tatsächlich bestünden die meisten Etats doch aus Pflegegeldern. Es gehe um zahlreiche Menschen, zu denen das Christentum sonst keinen Zugang finde; um ihrer willen dürfe man auf die angebotenen Ausgleichsmittel nicht verzichten, müsse aber zusehen, daß die Anstalten dadurch nicht entmündigt würden. 534 Pfarrer v.Wicht, der Vorsitzende des Kinderpflegeverbandes, fand

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„Wann kommt die Stunde, wo wir nicht theologisch u n d kirchenpolitisch verhandeln, sondern klar sagen: Es gibt eine christliche Gemeinschaft im deutschen Volk und Schicksal, die für einen M a n n und eine Sache steht. Dies müssen wir an allen maßgeblichen Stellen zum Ausdruck bringen, auch in den Verhandlungen mit der NSV. Wir müssen zu d e m Angebote der WHW-Mittel v o n Volk, Staat und Kirche her Nein sagen." GK-Prot. v. 15.IV. 1937; A D W , C A 761 X I X .

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A u c h Schirmacher unterstützte diese Argumentation: Wenn sich der C A nicht an den Ausgleichszahlungen beteilige, sei die IM binnen vier Wochen am Ende. U n d wenn dann Oberpräsidenten oder Staatskommissare die Anstalten übernähmen, „verlieren wir unsere missionarischen Aufgaben, d. h. mit anderen Worten, daß wir in ganz kurzer Zeit uns mit der Inneren Mission aus der Arbeit der kirchlichen Wohlfahrtspflege zurückziehen müssen [...]. Wo bleibt da das Wort .Mission in der Inneren Mission'?" Ebd. - Nicht wenige Geschäftsführer blieben indessen bei ihrer Überzeugung, keine WHW-Mittel zu akzeptieren; so lehnte der Volmarsteiner Vorsteher, P. Vietor, diese Gelder bei späterer

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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schließlich die Wendung, auf die sich die Konferenz einigen konnte: Wenn er an seine bedrohten Kindergärten denke, seien Anträge auf WHW-Mittel freilich von vornherein obsolet; wenn man diese Gelder aber als Ablösung für die verbotenen Sammlungen werte und bereit sei, den Anrechtsanspruch auch für die Einrichtungen mit eher kirchlichem als diakonischem Auftrag durchzufechten, sei ihre Annahme gerechtfertigt.535 Die enge Verknüpfung von Ausgleichszahlungen und Spendengeldern, die rechtlich nichts miteinander zu tun hatten, von seiten des WHW und der NSV jedoch in unmittelbarem Zusammenhang gesehen wurden, zeigte sich im September 1937, als die Landeskirchen erstmals den ,Tag der Inneren Mission' in Form eines Opfersonntages durchführten. Der CA hatte nämlich mit dem Kirchenführer-Ausschuß vereinbart, nun vermehrt kircheninterne Kollekten im Rahmen eines Sondersonntages zu veranstalten, eine Anregung, die auch der altpreußische Landeskirchenausschuß aufgriff. Bischof Marahrens kam es allerdings weniger auf einen „Leistungsnachweis" evangelischer Liebestätigkeit an als vielmehr auf die verstärkte Verankerung der Inneren Mission in den Gemeinden, die an diesem Tag zum Ausdruck kommen sollte. Obwohl es dem Centraiausschuß nicht überall gelang, die Veranstaltungen am 19. September - in Ostpreußen hatten sie bereits zu einem früheren Termin stattgefunden - gemäß den von ihm ausgegebenen Richtlinien zu koordinieren, wurde dieser rein innerkirchliche Aktionssonntag zu einem großen Erfolg für die Innere Mission: Sie erzielte trotz aller Beschränkungen etwa 50% der Einnahmen des Volkstages von 1936.536 Damit aber hatten diejenigen in Staat und Partei, die mit Hilfe des

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Gelegenheit noch einmal ab, weil zu befürchten stehe, daß die NSV dann in die Anstalten hineinregieren werde. Pfr. Burckert/Neuendettelsau bekräftigte das auch für seine Einrichtung, und der badische Geschäftsführer Ziegler warnte den CA mit dem kurzen Diktum: „Wer zahlt, kommandiert auch." Demgegenüber verwies P. Donndorf/Hamburg auf die Spendenprobleme in der Großstadt, die ihm den Verzicht auf WHW-Zahlungen unmöglich machten. Wie Anm. 541. Daraufhin beschloß die Konferenz, die Entscheidung über das Vorgehen dem CA zu überlassen, was Frick mit der Bemerkung kommentierte, er sei im vergangenen Jahr 60 Arbeitstage in Berlin gewesen und wisse nicht, wie lange er das noch physisch durchhalten könne, wenn sich die Vereinsgeistlichen nicht auch einmal der Führung des CA anvertrauten. GK-Prot. v. 15.1 V. 1936, a. a. O. In einigen Landeskirchen wiesen die Pfarrer während der Gottesdienste ausdrücklich auf den Ersatzcharakter des Sammelsonntages für den in diesem Jahr nicht genehmigten Volkstag hin, was einer öffentlichen Kritik an dem Verbot gleichkam und als Demonstrationsakt von politischer Qualität aufgefaßt wurde. Auch gab es Probleme mit der Rückgabe der Opfertüten, die nicht in allen Fällen während der Gottesdienste erfolgt war, was strenggenommen einen Verstoß gegen die Sammelgesetze bedeutete, da die Kollektierung damit auch außerhalb der Kirchenmauern erfolgte. Vgl. das Memorandum P. Engelmanns, „Anmerkungen zum Tag der Inneren Mission" V.30.IX.1937; EZA, E K D C 3 / 1 6 2 . - Ähnliche Erfolge hatte die ähnlich konzipierte Caritas-Kirchenkollekte von 1937; vgl. H.-J. Wollasch, Beiträge, 190.

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III- Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

öffentlichen Sammelverbotes die konfessionellen Wohlfahrtsverbände in ihrer Eigenständigkeit einengen und sie durch an Auflagen gebundene WHW-Ausgleichszahlungen abhängig machen wollten, ihre Intention weitgehend verfehlt, was bei Hilgenfeldt als WHW-Beauftragtem und den NSV-Spitzenfunktionären starke Verärgerung auslöste. Wenige Tage später drohte Hilgenfeldt dem Centraiausschuß mit strafrechtlichen Konsequenzen, die sich auf die partielle Übertretung des Buchstabens des Gesetzes in einigen Ländern stützten, und kündigte eine Verrechnung der Spendengelder mit den von ihm kontrollierten Ausgleichszahlungen an.537 Sein Stellvertreter Hermann Althaus bemühte gar seinen Vetter, den bekannten Erlanger Theologen, um bei Bischof Marahrens und der Kirchenkanzlei der DEK über den Centraiausschuß Beschwerde zu führen. Prof. Paul Althaus berichtete dem Landesbischof und mit einer Durchschrift dieses Briefes auch dem ihm befreundeten Konsistorialrat Hansjürg Ranke, man habe ihm von hoher Stelle [!] innerhalb der NSV bedeutet, es gebe dort „eine schwere Verstimmung gegenüber der Ev. Kirche" wegen des ,Tags der Inneren Mission'. Obwohl dem Centraiausschuß ein voller Ausgleich für die entgangene offizielle Sammlung garantiert, ja Gelder in Millionenhöhe schon bereitgestellt worden seien, habe er gemeinsam mit der Kirche versucht, die NSV zu hintergehen. Nach dem plötzlich ohne Absprache angesetzten Opfersonntag und den Hinweisen auf seine kompensatorische Funktion für das Verbot würden diese Mittel jetzt natürlich gesperrt. Kirche und Innere Mission trieben offensichtlich ein „Doppelspiel"; die NSV sei über die „UnWahrhaftigkeit" [!] der Kirche tief enttäuscht. 538 Die Erregung innerhalb des Hauptamtes über den Ausweg, den der Centraiausschuß unter Umgehung der diskriminierenden Sammlungsgesetzgebung zur Finanzierung seiner nicht in den Bereich der Anstaltsdiakonie fallenden Arbeitsfelder gefunden hatte, scheint nicht gestellt; verzögerte diese Art der Geldbeschaffung doch zumindest das weltanschauliche wie wohlfahrtspolitische Teilziel, die Innere Mission von ihren volksmissionarischen Aufgaben und denen der offenen Fürsorge zugunsten einer völligen Beschränkung auf die Betreuung der Erbkranken und nicht Rehabilitationsfähigen abzudrängen. Die von Hermann Althaus gegenüber seinem Vetter benutzten Vokabeln moralischer Empörung erinnern dagegen an jenes ,Doppelspiel', das in Wirklichkeit die NSV selbst trieb, um - über die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände und mit Duldung und Förderung der Ministerialbürokratie - jede eigenständige kirchli-

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Sein Sehr, an den CA v. 25.IX. 1937 scheint nicht erhalten; es wird von Engelmann, a.a.O., mit dem der C A die Durchführung des ,Tages der IM* rechtfertigen wollte, erwähnt. Zu den Drohungen Hilgenfeldts s. a. GK-Prot. v. 6.X. 1937; A D W , CA 761 X I X . Paul Althaus an Marahrens und Ranke v. 23.X. und Ranke an Althaus v. 5.XI. 1937, der in seiner Antwort einen Vermittlungsversuch bei Hermann A. ankündigte. Auch Schirmacher erhielt von beiden Briefen einen Durchschlag. EZA, E K D C 3/162.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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che Wohlfahrtspflege auszuschalten. So hinterließen die erhobenen Vorwürfe auch nicht den gewünschten Eindruck, sondern wurden seitens der Inneren Mission so bewertet, wie sie auch gemeint waren: als Versuch der,betrogenen Betrüger', mit dem hohlen Pathos eigener Wohlanständigkeit sowie unter Einbeziehung der Kirchenführer, die jenen Sammelsonntag genehmigt hatten, die moralische Integrität der Kirche und ihrer Werke in Frage zu stellen. Es mag sein, daß die im zweiten Kapitel beschriebenen geheimen Machinationen Hilgenfeldts mit der Zielsetzung, WHW-Zahlungen und andere öffentliche Zuwendungen für die konfessionellen Verbände gänzlich streichen zu lassen, durch die Sondersonntags-Erfahrungen verstärkt wurden, obschon dem Hauptamtsleiter wegen taktischer Erwägungen der Reichskanzlei letztlich nicht der gewünschte Erfolg beschieden war.539 Der Centraiausschuß bemühte sich jedenfalls seit Ende 1937 nicht mehr um die gesetzlich immerhin noch mögliche Erlaubnis, zustimmungspflichtige Haus- und Straßensammlungen durchzuführen und setzte statt dessen auf den weiteren Ausbau innerkirchlicher Opfertage. 540 Eine Fachkonferenz einzelner Provinzialpfarrer unter Hinzuziehung von Dr. Elisabeth Schwarzhaupt als Vertreterin der Kirchenkanzlei beriet im Februar 1938 das weitere Vorgehen. Dabei stellte sich heraus, daß die Anstalten der Inneren Mission ungeachtet der angekündigten Sperrung des WHW-Ausgleichsfonds 1937 1,3 Mio. RM in bar und 3 Mio. in Lebensmitteln für die ausgefallenen Herbst-Naturaliensammlungen erhalten hatten. Das war zwar rund eine halbe Million weniger als beantragt; die Höhe der Ausschüttungen bewies andererseits jedoch, daß die NSV entweder mit leeren Drohungen operierte oder daß Hilgenfeldt sich gegenüber den bewilligenden Instanzen nicht hatte durchsetzen können. Dennoch, bei künftigen Veranstaltungen nach Art des 19. September sollte darauf geachtet werden, die strengen Auflagen der Sammlungsgesetzgebung peinlich genau einzuhalten. 541 Der Kampf um öffentliche Gelder und Sammlungsgenehmigungen war ein wichtiger Teil der NSV-Strategie, die Arbeit der konfessionellen Verbände auf Dauer ,auszutrocknen' und in die vom Regime gewünschte Richtung zu lenken. Wie die staatlicherseits erzwungene Errichtung von - zumeist deutschchristlich besetzten - Finanzabteilungen in den Landeskirchen demonstriert, 542 ohne deren Plazet von der Pfarrerbesoldung bis hin zur Renovierung oder Neuerstellung kirchlicher Gebäude keine Mittel ausgezahlt werden durften, sahen Staat und Partei hier ein wirksames Instrument, mit dem sie anstrebten, ihnen genehme Entwicklungen befördern und oppositionelle Strömungen und die sie

539 540 541 542

Vgl. nochmals II. 4.2. So Engelmann in der GK v. 13.V. 1938; ADW, CA 761 XX. Vgl. den Bericht über diese Konferenz v.22.11.1938; ebd. Die Finanzabteilungen wurden am 11. März 1935 zunächst in Preußen eingerichtet; später folgten auch die anderen Landeskirchen; dazu s. Meier II, 41 u.pass.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

tragenden Personen unter Druck setzen zu können. Im Bereich solchen Taktierens durch finanzielle ,Erpressung' erwiesen sich Kirche und Innere Mission jedoch als nicht vergleichbare Adressaten: Die großen Apparate der Anstalten mit einem Etat, der oft an Millionenhöhe grenzte, waren ohne reale Gefährdung ihrer Existenz nicht in der Lage, einfach auf öffentliche Zuschüsse und Ersatzleistungen zu verzichten; bis zu einem gewissen Grade mußten sie sich deshalb diesem Druck beugen. Aber sie behielten auch Spielräume für partiellen Widerspruch, die es ihnen erlaubten, sich manchen Zumutungen zu entziehen oder diese durch langwierige Verhandlungen immer wieder hinauszuzögern. Denn eines wird man klar sehen müssen: Gerade die evangelischen und katholischen Einrichtungen der geschlossenen Fürsorge waren und blieben in ideologischer und praktischer Hinsicht fester Bestandteil der NSV-Wohlfahrtskonzeption. Die kirchlichen Werke ersparten dem Staat auf diesem Felde große Ausgaben, und ihr vorzüglich geschultes Personal konnte nicht ohne weiteres durch zuverlässig' nationalsozialistisch geprägte Schwestern, Pfleger und Verwaltungsbeamte ersetzt werden. Das Wissen darum befähigte die Vorsteher der Anstalten und den Centraiausschuß dazu, sich nicht allen von außen kommenden Ansprüchen zu beugen. Letzterem, der durch den Ausbau seiner ökonomisch-administrativen Fachaufsicht, die ihm noch der Reichskirchenausschuß zugestanden hatte,543 seit Mitte 1936 an Gewicht gegenüber den ihm angeschlossenen Institutionen gewann, gelang es immer wieder - auch durch Einschaltung der Kirchenkanzlei und ihm wohlgesonnener hoher Beamter im Innenministerium 544 -, einzelne Übergriffe abzuwehren oder den Anstalten gefahrliche Pläne, von denen er Kenntnis erhielt, zu vereiteln. Zu diesen Teilerfolgen in der Auseinandersetzung mit der NSV gehörte die Behauptung des konfessionellen Schwesternwesens, dessen Beseitigung und Überführung in die NS-Schwesternschaft zu den spezifischen Anliegen Hilgenfeldts zählte. Von den mannigfaltigen Versuchen des Hauptamtsleiters und seiner Organisation, die kirchlichen Schwesternschaften zugunsten der ,braunen' Neugründung zurückzudrängen und - wo dies sich als nicht möglich erwies - die Diakonissen in NSV-Dienste zu übernehmen, war im Rahmen dieser Studie schon mehrfach die Rede.545 1937 spitzten sich die Attacken in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß zu. Den ,Startschuß' dafür gab ein Artikel Hans Bernsees vom Haupt543 544

545

Vgl. Kap. III.4.1., Anm. 442. Zu ihnen gehörte etwa der Ministerialdirigent im Rdl, Kurt Jacobi, der wegen seiner Verdienste um die kirchliche Wohlfahrtspflege, die auch die Caritas ausdrücklich nach dem Kriege anerkannte, 1947 zum Justitiar der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel berufen wurde; vgl. seine Pers.-Akte im HAvBA, PA II. Kap. II.4.3.und III.2.1. S.a. Heidi Lauterer-Pirner, „Gefährdung des Dienstauftrags Schwesternschaften unter dem Nationalsozialismus, in Kriegs- und Nachkriegszeit". Die Heidelberger Autorin arbeitet an einer (hist.) Diss. über die Geschichte protestantischer Schwesternschaften im Dritten Reich.

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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amt für Volkswohlfahrt in der ,Sozialen Praxis', in dem er nicht nur die Aufgaben der NS-Schwestern beschrieb, sondern auch mit Seitenhieben auf die bestehenden Krankenpflegeorden und Diakonissenmutterhäuser nicht sparte. 546 Eingangs kritisierte er - ganz im Ginklang mit dem Konzept der ,Gesundheitsführung' durch Staat und Partei - den Anspruch der Kirchen, auch auf diesem Felde tätig zu sein. Das sei unmöglich, da das kirchliche Personal die geforderten weltanschaulichen Voraussetzungen nicht mitbringe. Deshalb habe Hilgenfeldt auch im Einvernehmen mit der Parteileitung eine eigene NS-Schwesternschaft ins Leben gerufen. Nur von der NS-Schwester könne man verlangen, „daß sie einen geschärften Blick für alle krankhaften Abweichungen vom normalen Verlauf der physiologischen Vorgänge und für die körperliche Wertigkeit und Unwertigkeit des einzelnen Gliedes des Volksganzen" besitze. Ihr Handeln sei nicht „Ausfluß caritativen Mitleids", sondern Dienst am Volk.547 So trage diese neue Schwesternschaft den Charakter eines .nationalsozialistischen Ordens'. - In einer innerhalb des Centralausschu'sses kursierenden Denkschrift wies der schlesische Provinzialpfarrer Lic. Helmut Krause diesen Angriff zurück. Abwegig sei vor allem die Behauptung, die Kirche habe kein Recht, Aufgaben im Bereich der ,Gesundheitsführung' wahrzunehmen: „Kirche, die vom Worte Gottes lebt, weiß, daß ihr der Dienst der Diakonie als urchristliches Amt vom Worte Gottes aufgetragen ist."548 Als unsinnig empfinde er die auch andernorts aufgestellte These, die christlichen Schwesternschaften böten ihrer geistigen Herkunft nach keine Gewähr für einen im völkischen Interesse liegenden Arbeitseinsatz; 549 ihr vaterländischer Dienst im Weltkrieg beweise das Gegenteil. Auch Constantin Frick, dem als Vorsteher des Bremer Diakonissenmutterhauses die weibliche Diakonie ganz besonders am Herzen lag, ließ nichts unversucht, die teilweise gehässigen Anwürfe gegenüber den konfessionellen Schwesternschaften abzuwehren. Seine gelegentlichen Unterredungen mit Hilgenfeldt verdeutlichten ihm zudem immer wieder, daß dieser mit seinen Bemühungen, die NS-Schwesternschaft zu der maßgeblichen Organisation weiblicher Pflegekräfte

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Der Beitrag „Die NS.-Schwesternschaft und der Reichsbund der freien Schwestern und Pflegerinnen" erschien am 16.IV. 1937. - Unwürdige Herabsetzungen hatte es schon frühergegeben; so berichtete P. Donndorf/Hamburg von einer Äußerung der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink, die kürzlich gesagt habe, es gehe nicht mehr an, „daß es noch Schwestern gibt, die auf ihren Herrn Jesus Christus verpflichtet werden. Es gibt nur eine Verpflichtung auf Adolf Hitler!" GK-Prot. V.30.VI. 1936; ADW, C A 761 XVIII. Wichtig sei es, daß sie „einen unverwüstlichen Optimismus mitbringe, der freudig in unendlicher Kleinarbeit, und ohne die Früchte des gelegten Samens selbst genießen zu können, am ewigen Deutschland arbeitet"; a. a. O. „Zur Klärung", undatiert; ADW, C A / P A F 2 3 / 1 . Krause bezog sich auf den Art. „Warum Aufbau der NS-Schwesternschaft?", in: NSV 4.1937,95.

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III. Die Innere Mission unter nationalsozialistischer Herrschaft

i m R e i c h a u f z u b a u e n , nicht vorankam, w a s n a c h A u f f a s s u n g d e s H a u p t a m t s l e i ters vor a l l e m daran lag, d a ß seine S c h w e s t e r n v i e l f a c h heirateten u n d anschließ e n d ihren D i e n s t quittierten. 5 5 0 D i e Propagierung e i n e s n e u e n d y n a m i s c h e n , s p e z i f i s c h nationalsozialistischen Berufsbildes, o h n e religiöse ,Gängelei' u n d v o r a l l e m o h n e d e n Verzicht auf Partnerschaft u n d E h e , d a s als K o n t r a s t p r o g r a m m z u d e n als altjüngferlich u n d bigott v e r u n g l i m p f t e n Erziehungsinhalten der k o n f e s s i o n e l l e n M u t t e r h ä u s e r gedacht w a r u n d a u f j u n g e Frauen attraktiv wirken sollte, verfehlte d i e s e Zielsetzung o f f e n b a r w e i t g e h e n d . 5 5 1 D a f ü r s p r e c h e n d i e bis in d e n Krieg h i n e i n v o r l i e g e n d e n Z a h l e n e i n e d e u t l i c h e Sprache. 5 5 2 Sie n ö t i g t e n d a s H a u p t a m t zu größerer Zurückhaltung g e g e n ü b e r der christlichen S c h w e sternschaft u n d führten z u den bereits b e s c h r i e b e n e n Vereinbarungen z w i s c h e n Innerer M i s s i o n , Caritas u n d N S V , in d e n e n H i l g e n f e l d t n a c h d e m G r u n d s a t z „ D i a k o n i s s e bleibt D i a k o n i s s e u n d N o n n e bleibt N o n n e " auch im Dienst

der

NS V d e n Mutterhäusern unfreiwillig w i c h t i g e Z u g e s t ä n d n i s s e m a c h e n m u ß t e . 5 5 3

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Aufzeichnung Fricks über eine Besprechung mit Hilgenfeldt am 2.VIII. 1937; A D W , C A / G 100150/2. Deshalb schlug Hilgenfeldt mitunter auch moderate Töne gegenüber den konfessionellen Schwestern an, wie in jenem Referat vor Studenten der Berliner Universität im Februar 1939, in dem er die Leistungen der Caritas-Schwestern ausdrücklich lobte und sie,seinem' NSV-Pflegepersonal, das doch viel besser besoldet werde, als Vorbild hinstellte. Wenn es neben der Mutterschaft überhaupt noch einen anderen Frauenberuf gebe, dann sei es der der Schwester. Vgl. die von Gertrud G r u n z / C A angefertigte Nachschrift eines Vortrages am 16.11.1939 vor Angehörigen des sozial wissenschaftlichen Instituts an der juristischen Fakultät; A D W , C A / G 100150/1. Nach dem Kriege ironisierte Frick im Rückblick auf diese Auseinandersetzungen das ,braune' Schwesternideal, das viele als unhaltbar durchschaut hätten und das man auf die kurze Formel bringen könne: „Schwester Erika pflegt, schwimmt, reitet, spielt Tennis, tanzt und heiratet schließlich, um ihre höchste Bestimmung zu erfüllen, dem Führer und dem Volke Kinder zu schenken." Damit wurde auch der eigentliche Kritikpunkt an den NSV-Schwestern offenbar: ihre trotz gegenteiliger Beteuerungen von uneigennützigem Opfer und Hingabe an Volk und Führer eben nicht an christlicher Pflichtethik unter Absehung von persönlichen Wünschen ausgerichtete Dienstauffassung, die privaten Wünschen noch breiten Raum gab. Vgl. Fricks undatierte, wahrscheinlich von 1947 stamm e n d e Aufzeichnungen; ADW, CA 837 III. - Während es am 31.XII.1934 erst 1.001 NS-Schwestern gab, erhöhte sich diese Zahl bis zum 30.VI. 1941 auf 11.993. Hinzugerechnet werden müssen auch die von der NSV stark beeinflußten 23.678 Angehörigen des ,Reichsbundes der freien Schwestern und Pflegerinnen'. S.,Deine Arbeit - Deine Welt', o. Pag., Bl. 10. Dem standen im Juni 1939 rund 50.000 in der ev. Diakoniegemeinschaft zusammengefaßte Schwestern und etwa 60.000 Ordensfrauen gegenüber. Vgl. die Eingabe Fricks an Lammers v. 13.VI. 1939, ADW, CA 1195/2 II, und die damit teilidentische „Denkschrift des Centrai-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche vom 13. Juni 1939 im Hinblick auf eine geplante gesetzliche Neuregelung der freien Wohlfahrtspflege"; ADW, C A 837 III, Nr. 50. Der ersatzweise von Hilgenfeldt ins Auge gefaßte Versuch einer grundsätzlichen Neuordnung des gesamten Schwesternwesens scheiterte 1940 nach zähen Verhandlungen mit Reichsärzteführer Dr. Conti, der seinerseits Dr. Harmsen als Fachmann hinzugezogen

III.5. Auf dem Weg in den Krieg

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- Man sollte sich dennoch nicht über die grundsätzlich negative Stoßrichtung und den wachsenden Druck nationalsozialistischer Wohlfahrtspflege auf die konfessionellen Verbände täuschen: Die Fortnahme der Berliner Einrichtung Bethanien oder der Erlaß über die Seelsorge am Krankenbett, welche seit 1941 nur noch auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten gestattet sein sollte, 554 signalisierten, daß der Arbeit von Diakonissen und Ordensfrauen im Dritten Reich keine lange Dauer mehr beschieden sein würde. Einzig die Verschärfung der politischen Lage und der Ausgang des Krieges bewahrten sie davor, von der NSV unter Ausschluß ihres religiösen Anliegens gewaltsam gleichgeschaltet zu werden.

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hatte, an den konkurrierenden Machtansprüchen beider Spitzenfunktionäre. Die gerüchtweise bekanntgewordenen Pläne lösten außerdem Unruhe unter den Schwesternschaften aus, so daß sich Hilgenfeldt genötigt sah, in einem Rundschreiben V.22.XI.1940 jede Diskussion über die anvisierte Umstrukturierung bis zur endgültigen Entscheidung durch den Stellvertreter des Führers zu verbieten; APK-NS, 11705324-25; ähnlich auch Prof. Harmsen in einem Gespräch mit dem Vf. am 3.XI. 1983 in Bendestorf. - Zum Schlagwort .Nonne bleibt Nonne . . . ' s . den Rückblick Fricks und Gerhardt II, 378. Erlaß Nr. 16/1941 des Rdl im Benehmen mit dem RAM, dem RKM und dem Erziehungsminister wegen der Betätigung von Angehörigen religiöser Glaubensgemeinschaften in öffentlichen Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten. Die Verfügung richte sich - so Schirmacher in einem Privatbrief an Dr. Heinrich - gegen die „Aufdringlichkeit" nicht nur von religiösen, sondern auch von kirchenfeindlichen Gruppierungen, was er bejahe: „Natürlich wird der Erlaß von kirchenwilden Gläubigen [!] unserer Kirche häßlich ausgedeutet werden. Ich möchte ihn aber auch besonders im Hinblick darauf begrüßen, daß die,Seelsorge' in diesem in die Zukunft weisenden Erlaß verankert ist." ADW, CA 761 XXIII. - Diese Wertung war entweder naiv oder zeigte nur aufs neue, daß Schirmacher dazu neigte, bei Interessenkollisionen zwischen NS-Staat und Innerer Mission zugunsten des ersten Partei zu ergreifen.

Fazit Im Verlauf dieser Arbeit ging es wesentlich um Entwicklungen der Inneren Mission im Kontext der evangelischen Kirche sowie um ihre gesellschaftspolitische Rolle als eine der beiden großen u n d einflußreichen konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen. Während das Eingangskapitel den Centraiausschuß und seine Untergliederungen eher aus der Binnenperspektive als Vormacht des Verbandsprotestantismus und kirchliches Subsystem präsentierte, war das zweite Kapitel in erster Linie der Inneren Mission - dem ,sozialen Konzern' des evangelischen Deutschland - in ihrer politischen Außenwirkung gewidmet. Im dritten Kapitel schließlich wurden beide Aspekte in einer Art Engführung miteinander verbunden, da sich Innere Mission und Kirche einer gleichen Bedrohung ausgeliefert sahen, der sie in je eigener Weise zu begegnen suchten. Im folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse dieser drei - sich in zeitlicher Abfolge und systematischem Zugriff unterscheidenden - Teile noch einmal zusammengefaßt und auf ihren Stellenwert für Konfessions- und Gesellschaftsgeschichte hin befragt werden. Träger der 1914/15 erneut propagierten reichskirchlichen EinigungsVorstellungen waren die protestantischen Verbände unter Führung der Inneren Mission. Sie trafen in lutherischem Konfessionalismus u n d Landeskirchentum jedoch auf eine grundsätzliche Gegnerschaft, die sich aus partikularistischen und bekenntnismäßigen Erwägungen speiste, ihre Befürworter indessen nicht davon abhielt, mit der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen ein Forum zu schaffen, von dem man erwartete, es werde die genannten Widerstände neutralisieren u n d dem deutschen Protestantismus - wenn schließlich auch nicht in Form einer Reichskirche, so doch auf informelle Weise - zu größerer Einheit verhelfen. Während des Krieges scheiterte dieser Plan an den kirchenpolitischen Gegebenheiten. Hingegen versuchte die Konsistorialbürokratie nicht, eine Zusammenfassung des Verbandsspektrums zu verhindern, weil sie sich dadurch eine gewisse Kanalisierung sonst nur sehr schwer zu überschauender und zu lenkender ,Laien'-Aktivitäten versprach. Mit der Revolution und dem einen Augenblick lang in Frage gestellten volkskirchlichen Prinzip schien der Verbandsprotestantismus in Gestalt der K D E A O zum .Partner' der Kirche aufzusteigen, ohne den der Verfassungsneubau nicht gelingen würde. Man setzte seitens des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses und einzelner Landeskirchen auf die integrierende Kraft der KDEAO, um vor allem ,radikale' Forderungen linksliberal-evangelischer Kreise abzuwehren. Diese Rechnung ging deshalb auf, weil

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sich die führenden Verbandsvertreter auf das Prinzip einer .geordneten rechtlichen Fortentwicklung des Bestehenden' einließen und in die rasch konstituierten Beratungsgremien neben den Kirchenleitungen eingebunden werden konnten. Diese ,Selbstentmächtigung' der Vereinsgruppierungen wurde mit wenn auch unbedeutenden Zugeständnissen wie einer Vertretungsgarantie f ü r die Synoden wie den Kirchentag ,honoriert', wobei zugestanden werden muß, d a ß die freien Organisationen jetzt erstmals Mitsprachemöglichkeiten dieser Art erhielten. Ihre kurzzeitige Hoffnung, sozusagen als .dritte Säule' neben Kirchenregiment und Synoden den Weg der Kirche künftig auch als Verfassungsorgan ,von innen' mitbestimmen zu können, erfüllte sich jedoch nicht. Das Erstarken des synodalen Elements minderte in der Folgezeit den Einfluß der Verbände zusätzlich, weil diese nun ihre ursprüngliche Funktion verloren, als Sprachrohr des ,Laienprotestantismus' auf die verfaßte Kirche einzuwirken. ,Praktisch' tätigen Großverbänden, d.h. vor allem der Inneren Mission, gelang es jedoch, ihr Gewicht auf ihren speziellen Arbeitsfeldern zu wahren und zu vermehren, dies freilich nur in jenen traditionellen Bahnen, die seit Wichern für das Verhältnis von Kirche und Innerer Mission vorgezeichnet waren. In Revolution und Nachkriegszeit agierten die Innere Mission und ihr Centraiausschuß vielfach flexibler als andere Gruppierungen des deutschen Protestantismus. Ein bewährter politischer Pragmatismus und die durch Kriegsfolgelasten zu übernehmenden Aufgaben bewegten die verantwortlichen Vereinsgeistlichen dazu, sich ungewöhnlich rasch auf die gegebene Situation einzulassen, wenngleich man an der theologischen wie politischen Negativeinschätzung der revolutionären Umwälzung festhielt und kein Bekenntnis zur Demokratie von Weimar ablegte. Zoellners Anregung einer partiellen Verkirchlichung der Inneren Mission und ihres Einbaus in die kommenden Kirchenverfassungen kam man nicht nach, obwohl die Vorteile einer engeren Anbindung an die verfaßte Kirche nicht verkannt wurden. Der Verlust ihres Gestaltungsspielraums im Konzert des freien Protestantismus erschien der Inneren Mission als Preis für den kirchlichen Rechtsschutz zu hoch, zumal sich die anfängliche Befürchtung bezüglich einer drohenden Beschneidung ihrer Wirkungsmöglichkeiten durch den weltanschaulich paritätischen Staat nicht bestätigen sollte. Vorausschauende Vereinsgeistliche setzten aber nun gegen den erbitterten Widerstand der persönlichen Altmitglieder des CA weitgehende interne Reformen in Gang, die aus der .Honoratiorenversammlung' eine effiziente, den Erfordernissen des Weimarer Wohlfahrtsstaates angepaßte Verwaltungsspitze machten. Das Verhältnis zu Kirchenbund und Landeskirchen blieb freilich ungeklärt; nur in der Vorschau auf den 1933 einsetzenden Kirchenkampf wird man das als Gewinn für die Innere Mission werten können, die in ganz anderer Weise, als es dann geschehen ist, zum Nachteil ihrer Einrichtungen und Werke in diesen Streit hineingezogen worden wäre. Die eingangs der Studie behauptete .Geschichtsmächtigkeit des Konfessionellen' - in unserem Falle bezogen auf den Verbandsprotestantismus und die

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Innere Mission - konnte in den zurückliegenden drei Kapiteln immer wieder bestätigt werden. Die Aussage hebt weniger auf den gemeinhin unbestrittenen Sachverhalt ab, daß soziale Gruppierungen solcher Größenordnung eo ipso gesellschaftliche Außenwirkungen zeitigen; vielmehr, was für überregionale und mitgliederstarke Vereinigungen aller Art zutrifft, gilt für Kirchen und kirchliche Subsysteme gleichermaßen. - Diese Feststellung läßt sich in der Tat nicht nur an vereinspolitischen Binnenphänomenen verifizieren, die sich etwa in Reaktion auf soziale und politische Veränderungsprozesse außerhalb der von ihnen verfolgten spezifischen Anliegen entwickelten, sondern genauso an unmittelbaren Interventionsversuchen des sozialen Protestantismus im Sachbereich Wohlfahrtspflege in Kommunen, Ländern und im Reich. Allerdings blieb der Erfolg stets von der politischen ,Großwetterlage' abhängig, welche in der Republik, die sich selbst als Wohlfahrtsstaat verstand, eine andere war als in den Jahren des Dritten Reiches. Dabei erwies sich die in weiten Teilen bestehende Interessenidentität mit dem zweiten kirchlichen Großverband, der Caritas, - unbeschadet spürbarer konfessioneller Antagonismen - zur Artikulation des gemeinsamen sozial- bzw. fürsorgepolitischen Öffentlichkeitswillens als mehr als förderlich: Zusammen in der Weimarer Demokratie ausgebaute Positionen machten Innere Mission und Caritas auf diesem Sektor so stark, daß die durch Hilgenfeldt, Reichsinnen- und Reichsarbeitsminister forcierte nationalsozialistische Neuorientierung von Fürsorge und Sozialpolitik nicht auf die kirchlichen Verbände verzichten konnte, wollten sie den Bestand der deutschen Wohlfahrtspflege in personeller wie materieller Hinsicht nicht gefährden. Als das Reich mit zwei Bundesratsverordnungen 1915 und 1917 erstmals in die Wohlfahrtspflege eingriff, um das Sammlungswesen seiner Kontrolle zu unterwerfen und so vor Mißbrauch zu schützen, wähnten die beiden konfessionellen Großverbände, dies sei der Anfang vom Ende ihrer bisher behaupteten Eigenständigkeit. Als auch die Wortführer einer vorwiegend konzeptionell tätigen, liberal-philanthropisch inspirierten Fürsorge der vermehrten staatlichen Aufsicht und Lenkung das Wort redeten, um die reibungslose Koordination der Arbeit zu gewährleisten, nahmen Caritas und Innere Mission den Kampf gegen das aus ihrer Sicht bedenkliche Bündnis von Staatsverwaltung und liberalen Wohlfahrtstheoretikern auf. Doch die Revolution verkehrte diese .Fronten', als mit der Sozialdemokratie eine bisher von den Schaltstellen der Macht ferngehaltene politische Größe Bedrohungen' ganz anderer Qualität für den Bestand der freien Vereinigungen zu signalisieren schien. Da sie dann aber unerwartet die Gestaltung der Wohlfahrtspflege auf Reichs- und Länderebene weitgehend dem Zentrum überließ - u. a. auch, weil sie kein Langzeitprogramm für diesen Sachbereich entwickelt hatte - , erfuhren die freien Träger einen ungeahnten Aufschwung. Die Schaffung einer,sozialen Demokratie' nötigte den Staat zu gesetzlichen Regelungen des Miteinanders von öffentlicher und privater Fürsorge, jedoch nun in ständiger Interaktion mit letzterer und unter entgegenkommender

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Berücksichtigung ihrer Forderungen. Es war für diese deshalb unumgänglich, eine mit Befugnissen, d.h. mit einem klaren Verhandlungsmandat ausgestattete Spitze zu installieren, um gegenüber Behörden und Ministerien geschlossen auftreten zu können. Reichsarbeits- und preußisches Wohlfahrtsministerium unterstützten das Vorhaben politisch und finanziell, um ein Gegengewicht gegen Bestrebungen zur ,Kommunalisierung' der Wohlfahrtspflege durch die sozialdemokratische Politik in vielen Großstädten zu setzen. Nach dem mißglückten Experiment der Reichsgemeinschaft, die lediglich ein Gesprächsforum ohne eigene Kompetenzen bildete, wurde eine solche ,Clearing-Stelle', die auch der intensiven Kontaktpflege untereinander diente, 1925 in der Liga gefunden. Daß in ihr die .praktisch' tätigen Verbände unter sich blieben, war ein später Gegenschlag auf die Initiativen der sich vornehmlich mit neuen Konzeptionen beschäftigenden ,Vordenker' einer sich wandelnden Sozialarbeit vor und im Weltkrieg, ist aber ebenso politischer Einflußnahme des RAM zu verdanken. Innere Mission und Caritas - die übrigen Mitgliedsverbände können hier vernachlässigt werden - fühlten sich allein dazu in der Lage, einen wesentlichen Part beim Aufbau des Wohlfahrtsstaates Weimarer Prägung zu spielen. Es bedarf keiner Diskussion, daß die Republik nicht der Staat der deutschen Protestanten war. Angesichts der positiven bis enthusiastischen Voten maßgeblicher Vertreter der Inneren Mission zum Nationalsozialismus in den Jahren 1933/34 kann die These gewagt werden, daß man die Demokratie vielfach als ,Interregnum' betrachtete, welches das fortbestehende ,heilige evangelische Reich deutscher Nation' im Sinne Stoeckers nur kurzfristig unterbrochen hatte, um dann im ,Dritten Reich' - auf der Folie larmoyant beklagter Negativerfahrungen - eine um so überzeugendere Renaissance zu erleben. Das hinderte den Centraiausschuß nicht, sozusagen im Schlagschatten der Caritas und des staatstragenden Zentrums die wohlfahrtspflegerischen Möglichkeiten, die auch ihm die Republik bot, voll auszuschöpfen. Andererseits brachte der direkte Einfluß auf die einschlägige Gesetzgebung und die Partizipation an erstmalig in dieser Höhe ausgeschütteten Subventionen auch Nachteile mit sich: Einmal wurden die anerkannten Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege dadurch - in den Augen der republikfeindlichen Kräfte - in das Weimarer ,System' eingebunden und für sein Scheitern mitverantwortlich gemacht, auch wenn das für die Innere Mission aus Gründen ihrer distanzierten Haltung nicht im gleichen Maße zutraf wie für die Caritas. Zum zweiten löste der Mittelzufluß einen Investitionsboom aus, dessen Problemen sich die Direktoren des Centraiausschusses nicht gewachsen zeigten, als die Folgen der Weltwirtschaftskrise und des kriminellen Fehlverhaltens verantwortlicher Mitarbeiter in der Devaheim-Affäre kulminierten. Daß die Krise der Wohlfahrtspflege zu Beginn der 30 er Jahre nicht allein auf die weltweite Depression zurückzuführen war, sondern auch eine geistige Dimension besaß, die im letztlich ungeklärten Verhältnis zum Parteienstaat

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selbst wurzelte, lehrt die Geschichte der Winterhilfe. Sie stellte - neben dem praktischen Nutzen für Notleidende - den anfechtbaren Versuch dar, den politischen und weltanschaulichen Pluralismus mit den aus ihm herrührenden Auseinandersetzungen zugunsten einer harmonisierenden Volksgemeinschafts-Ideologie zu überwinden. Schließlich sollte die Aktion ungebrochene Leistungsfähigkeit der freien Wohlfahrtspflege demonstrieren, die fähig sei, sich aus ihrer bürokratischen Erstarrung, d.h. der unter ihren Kritikern vielberufenen Vertrustung', zu befreien und der Nation auf dem Wege zu einer festgefügten Solidargemeinschaft voranzuhelfen. Damit würden sich - so die Erwartung der Ligaverbände - Notwendigkeit und Existenzberechtigung ihrer Arbeit erweisen lassen. - Die Kalkulation ging nicht auf: Kampagnen dieser Art sind in einer pluralistisch orientierten Demokratie - dazu ohne Fofcparteien - wahrscheinlich gar nicht oder nur für sehr kurze Zeit durchzusetzen, jedenfalls nicht auf gleiche Weise wie das spätere permanente Zwangshilfswerk im totalen Staat. Sodann grenzten die federführenden Ligaverbände mit der Arbeiterwohlfahrt und den kommunistischen Selbsthilfeeinrichtungen mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung aus der Organisation der Winterhilfe faktisch aus - eine Tatsache, die trotz des Nachweises gilt, daß die sozialistischen Gruppierungen eine Teilnahme verweigert hatten und auf eigene Hilfsanstrengungen bauten. Und nicht zuletzt mußten in der ,Endkrise' der Republik auf Volksgemeinschaft' abhebende überparteiliche' Einheitsbestrebungen an den harten Realitäten des tagespolitischen Kampfes scheitern. Mit zwar in vielen Fällen existenzsichernden Notstandsmaßnahmen war dieser Staat nicht mehr zu retten; dahin ging die Intention der Veranstalter auch nicht. Daß sie so zu Wegbereitern einer sich erst in Konturen abzeichnenden autoritären Staatlichkeit ganz anderer Art wurden, nahmen sie mehr oder weniger bewußt in Kauf. Dies mußte nicht die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeuten, konnte es aber - und selbst ein solches Risiko scheint zumindest die Innere Mission in Verkennung des totalitären Zuschnitts des kommenden Dritten Reiches offenen Auges eingegangen zu sein. - Unabhängig von diesen Erwägungen u n d für sich genommen, leistete die Liga in den wenigen Jahren ihres Bestehens Erstaunliches: Es gelang ihr, sich als Bindeglied zwischen staatlicher und kommunaler Fürsorge unentbehrlich zu machen und insonderheit den großen konfessionellen Gruppierungen einen dauerhaften und ganz wesentlichen Platz im Zusammenspiel der divergierenden Meinungsvielfalt des Sachbereichs Wohlfahrtspflege zu sichern. Ihre informelle Beteiligung am Prozeß der einschlägigen Gesetzgebung und ihre Anerkennung als Sprachrohr der freien Vereinigungen durch Reichs- und Länderministerien wie Fürsorgeverbände und Kommunen verhalfen dem Subsidiaritätsprinzip mit Gleichberechtigung und partiellem Vorrang der freien Träger endgültig zum Durchbruch. Der bewußtseinsmäßige Wandel öffentlicher Daseinsvorsorge obschon in den Jahren des Dritten Reiches gewaltsam suspendiert - überdauerte diese Zeitspanne und führte nach 1945 erneut zum Zusammenschluß der fast

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gleichen Spitzenverbände in der Bundesrepublik Deutschland - heute unter Einbeziehung der Arbeiterwohlfahrt. Die ,Biindesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege' hat nach dem Krieg wiederum die Notwendigkeit ligaähnlicher Organisationsformen für die Funktion der sozialen Demokratie erwiesen. Nach der Etablierung der NS-Volkswohlfahrt war für so eng mit der ,Weimarer Systemzeit' verbundene Institutionen wie die Liga kein Platz mehr. Die Angliederung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes an die NSV, der erzwungene Austritt des jüdischen Spitzenverbandes, die Auflösung der Arbeiterwohlfahrt und die radikale Nazifizierung und damit Umwidmung der Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes entzogen der herkömmlichen Liga-Arbeit den Boden. Die Durchsetzung des NSV-Führungsanspruchs via .Reichs-' und endlich ,Arbeitsgemeinschaft' erfolgte in nur gut einem Jahr und beschränkte die freie Wohlfahrtspflege alter Art de facto auf Innere Mission und Caritas. Während letztere wegen ihrer Zentrumsbindung und der Ablehnung des,Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' als politisch unzuverlässig und damit tendenziell regimefeindlich galt, suggerierte man ersterer, sie habe nun die Chance, zur einzigen staatstragenden Spitzenorganisation neben der führenden NSV aufzusteigen. Diesen Eindruck gewannen jedenfalls die maßgeblichen Männer des Centraiausschusses, die in den Anfangsjahren des Dritten Reiches die Innere Mission auf Kosten des katholischen Parallelverbandes aus dem Schatten der Caritas herauslösten und sich dem neuen Staat als einzig verläßlicher .Partner' im Sachbereich Wohlfahrtspflege empfahlen. Solche Pseudo-Emanzipation von der informellen Führungsrolle des Deutschen Caritasverbandes entsprang antikatholischen wie antidemokratischen Ressentiments und hing mit der bekannten Vision zusammen, das protestantische ,Zweite Reich' werde nun in neuer Form wiedererstehen. In dieser Deutlichkeit artikulierten das nur wenige; im Bewußtsein einer Mehrheit der evangelischen Vereinsgeistlichen bis hin zum späteren Präsidenten Frick war ein derartiges Denken jedoch virulent. Zu den Folgen des eher mental denn sachlich erfahrenen Wechsels des Leitverbandes gehörte natürlicherweise die Schwächung der konfessionellen Wohlfahrtspflege insgesamt. Schulter an Schulter vereint, hätte sie zumindest in der Anfangsphase des Dritten Reiches von der NSV stärkere Zugeständnisse erringen können, wenngleich nicht auf Dauer. Jedenfalls wäre der Formierungs- und Einordnungsprozeß nach den Wünschen der NSV vermutlich nicht so glatt verlaufen, und das vorhandene Resistenzpotential hätte sich früher ausbilden können, als es geschehen ist. Das macht- und selbstbewußte Auftreten der NSV gegenüber den verbliebenen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß ihre Wirkungsmöglichkeiten dort auf Grenzen stießen, wo sich die neue Fürsorgeideologie an den Realitäten rieb: Die personelle Ausstattung der NSV, ihre Schwierigkeiten bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter und die geringe Akzeptanz ihrer Arbeit innerhalb des NS-Systems nötigten sie ebenso wie die

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selbst ihr nur unzureichend zufließenden Gelder auf vielen Sektoren zu Kompromissen mit Caritas und Innerer Mission, wollte sie nicht den Bestand ganzer Arbeitsfelder aufs Spiel setzen. Die kurzschlüssige und inhumane Formel ,Die Gesunden für uns - die Unterwertigen und Unproduktiven für die kirchlichen Einrichtungen' ließ sich höchstens ansatzweise und auch das nur mit Mühe in die Tat umsetzen. Intern beanspruchten der Innenminister und zu ihm wiederum in Konkurrenz der Reichsärzteführer als Exponent der Partei die ,Gesundheitsführung' für sich. Auch wurden die Weisungen des Berliner Hauptamtes oftmals durch die sich dagegen sperrenden Herrschaftsansprüche der zahlreichen Gauamtsleiter und ihrer Untergliederungen obsolet. Außerhalb des Netzwerks von Administration und Partei leisteten die kirchlichen Werke hartnäckigen Widerstand und waren oftmals in der Lage, das Spannungsverhältnis zwischen ersteren für Zugeständnisse der NSV auszunutzen. Genau betrachtet blieb Hilgenfeldt und seinen Funktionären allein der Zugriff auf Gebiete wie Jugendwohlfahrt und das Hilfswerk ,Mutter und Kind'; selbst die Winterhilfe leitete er nur im kommissarischen Auftrag von Goebbels und nicht in eigener Verantwortung. Gemeindepflegestationen und Krankenhäuser konnte er nicht hinreichend mit ,braunen Schwestern' besetzen und mußte darum sogar personelle Anleihen bei Caritas und Innerer Mission machen, um wenigstens einen Teil dieser Arbeitsfelder an sich zu ziehen. Wirklichen Einfluß besaß die NSV vor allem im Sammlungswesen und bei der sonstigen Geldbeschaffung für wohlfahrtspflegerische Aufgaben. Durch ihre Kontrollfunktion bei der Vergabe öffentlicher oder aus WHW-Spenden stammender Mittel gelang es ihr hier, punktuell bestimmte Entwicklungen zu steuern, besonders aber die Arbeit der konfessionellen Verbände in einem endlosen ,Kleinkrieg' zu beeinträchtigen und zurückzudrängen. Dennoch, von einer erfolgreich umgesetzten NS-Wohlfahrtsstrategie kann man alles in allem kaum sprechen. Das bedeutet nicht, die von der NSV ausgehenden Bedrohungen für die kirchlichen Verbände zu verharmlosen; schließlich hielt Hilgenfeldt unbeirrt an seinem Endziel - der Einverleibung aller freien Einrichtungen in seine Organisation - fest, das nur aus Opportunitätserwägungen der Staats- und Parteispitze im Kriege nicht mehr realisiert wurde. Zahlreiche Widersprüche und Unsicherheiten, die sich aus dem Kompetenzchaos im Sachbereich Wohlfahrtspflege ergaben, nutzte er zur Verwirrung seiner kirchlichen Gegner aus. Diese machten freilich im Laufe der Jahre einen Lernprozeß durch, näherten sich einander wieder und paßten sich den komplizierten Verhältnissen, so gut es eben ging, an. Von den Möglichkeiten und Grenzen des dabei praktizierten ,Widerstandes' wird im letzten Abschnitt dieser Zusammenfassung zu reden sein. Die Geschichte der Inneren Mission zwischen 1933 und 1945 weist zahllose Parallelen zu derjenigen der verfaßten evangelischen Landeskirchen in diesem Zeitraum auf, unterscheidet sich aber von deren Entwicklung an einigen charakteristischen Punkten. Zu den vielen Gemeinsamkeiten zählen das anfangs uneinge-

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schränkte Ja der überwiegenden Mehrheit der deutschen Protestanten zum Dritten Reich und seinem Führer, von dem man irrigerweise die (Re-)Christianisierung der innerlich und äußerlich geeinten Nation erwartete, sowie der diese Erwartungen dann konterkarierende Vorstoß der Deutschen Christen, die über solche Zielsetzungen hinaus konkrete Machtansprüche für ihre ,Partei' anmeldeten und durchzusetzen hofften. In Kirche und Innerer Mission waren es bezeichnenderweise deutschchristliche Persönlichkeiten von außen, die eine Gleichschaltung' im Visier hatten, und nicht die seit langem bewährten, den DC nahestehenden geistlichen Funktionsträger in den jeweiligen Administrationen, die es auch gab. - Mit der Praxis vertraute Vereinsgeistliche der Inneren Mission erkannten unabhängig von ihrer privaten kirchenpolitischen Orientierung sehr früh, daß der aufkommende Kirchenstreit ihren Verbänden und Einrichtungen schwersten Schaden zufügen mußte, wenn man die immer härter werdenden Richtungskämpfe auch im Bereich der Inneren Mission ausfechten würde. Abgesehen von dem Zwischenspiel der ,Alleinherrschaft Themel/Schirmacher' im Centraiausschuß, das die dortige DC-Minderheit vorübergehend stärkte, wirkte der Kirchenkampf hier nur abgedämpft nach, zumal die Kommissare wenigstens verbal den Verdacht zurückwiesen, die Innere Mission im Bekenntnisstreit auf die von ihnen vertretene Linie festlegen zu wollen. Daß sie das de facto doch versuchten und unzweideutig für die von Müller geführte Reichskirche Partei ergriffen, steht nicht in Zweifel, zeigte aber keine gravierenden Folgen, da die Mehrheit der Provinzial- und Landesgeschäftsführer den als einzig gangbar erkannten Neutralitätskurs strikt wahrte und Müllers Regiment rasch abwirtschaftete. Auch dachten die unzweideutig für die Bekennende Kirche votierenden theologischen Berufsarbeiter nicht entfernt daran, ihre Arbeitsfelder der BK und deren Notkirchenregiment zu unterstellen, wie die hinhaltende und faktisch ablehnende Reaktion auf die Beschlüsse der Dahlemer Synode erkennen läßt. Im Gegenzug hielten sich die Deutschen Christen unter den Vereinsgeistlichen ebenso zurück. Bis auf Themel, Schatzmeister Dr. Heinrich und nur gelegentlich - Schirmacher scheint niemand von ihnen sein Engagement für die N S D A P höher bewertet zu haben als seine Loyalitätsverpflichtungen gegenüber der Inneren Mission. Die nach 1933 innerhalb der Wohlfahrtspflege neu auftretenden Sachzwänge taten das ihrige, um hier allen Versuchen der Eröffnung kirchenpolitischer .Nebenkriegsschauplätze' zu wehren. Zugespitzt und im Vergleich mit anderen großen Gruppierungen des evangelischen Vereinsspektrums im Dritten Reich kann man sagen, daß die Verbandsintegrität Vorrang besaß vor der Teilnahme am Kirchenstreit. Ganz deutlich wird das bei der Betrachtung der ,Arbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände', deren Wirken noch näher erforscht werden muß, die aber trotz ihrer klaren BK-Option die Eigenständigkeit der ihr angeschlossenen Organisationen bewußt zu wahren suchte. Dies nicht nur, weil das die Lösung drängender sozialer und anderer Aufgaben unabdingbar machte, sondern weil sich

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der freie Protestantismus insgesamt auch der traditionellen Distanz zur verfaßten Kirche verpflichtet fühlte. Jene wich aber in dem Maße einer gewissen Annäherung - jedenfalls bezogen auf die Innere Mission in dem der Druck von Staat und Partei auf die konfessionelle Wohlfahrtspflege zunahm. In mancher Hinsicht kam dieser Einstellung die vermittelnde Politik des Reichskirchenausschusses entgegen, auf die sich die Innere Mission nach ihrem Selbstverständnis eher einlassen konnte als auf die Extreme von links und rechts. Als Zoellner jedoch damit begann, über die Volkskirchliche Arbeitsgemeinschaft die Strategie eindeutiger Unterstellung der Verbände und mit ihnen des Centraiausschusses zu verfolgen, trat in diesem verhältnismäßig frühen Stadium bald die Grenze der Anpassungsbereitschaft zutage. Erst das Ende der Ausschüsse, die Nichtanerkennung kirchenleitender BK-Ersatzgremien durch den Staat, das Scheitern der Kirchenwahlen und der Übergang reichskirchlicher Entscheidungsbefugnisse an die Kirchenkanzlei der DEK ließen die Innere Mission tatsächlich näher an die verfaßte Kirche heranrücken. Den dort erhofften und in vielen Einzelfällen auch gewährten Rechtsschutz benötigte sie dringend, um den Zug um Zug erfolgenden Einschränkungen und Behinderungen ihrer Arbeit begegnen zu können. Der am Ende zurückgezogene Gesetzentwurf, der 1939 die Übertragung der gesamten freien Wohlfahrtspflege an einen Staatskommissar (Hilgenfeldt) vorsah, löste zuletzt die förmliche Eingliederung in die Reichskirche aus. Erstmals wurde so der Inneren Mission jene kirchenoffizielle Bestätigung zuteil, die ihr DEKA und Landeskirchen seit ihrer Gründung nicht zugestanden hatten: die Anerkennung als „Wesens- und Lebensäußerung der evangelischen Kirche" und die Erklärung der ihr verbundenen Einrichtungen und Werke zum „Bestandteil" der DEK. Die damit einhergehenden Befugnisse der Kirchenkanzlei und Auflagen für entsprechende Satzungsänderungen kamen während des Krieges nicht mehr zum Tragen: Wieder einmal profitierte allein die Innere Mission von diesem Zweckbündnis auf Zeit. Doch nach Kriegsende präsentierte ihr die neugegründete EKD in Gestalt von Eugen Gerstenmaiers ,Hilfswerk' die ,Rechnung'. Wenige Jahre lang sah es so aus, als sei die Zeit freier evangelischer Verbände neben der verfaßten Kirche nun vorbei. Von der Sowjetischen Militäradministration in der SBZ ausgehende Verkirchlichungszwänge und eine im ganzen nach 1945 recht negative Würdigung der Arbeit der Inneren Mission während des Dritten Reiches leisteten dieser Entwicklung Vorschub, die Johannes Michael Wischnath in einer vor kurzem erschienenen Monographie beschrieben hat.1 Die Eigendynamik des Sachbereichs Wohlfahrtspflege führte jedoch nach Überwindung der Nachkriegsnot wenigstens auf karitativem Sektor zu einem Wiedererstarken des freien Verbandsprinzips, wie es sich mit der Zusammenlegung von Hilfswerk und Innerer

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Kirche in Aktion. D a s evangelische Hilfswerk 1945-1957 und sein Verhältnis zu Kirche und Innerer Mission.

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Mission zum ,Diakonischen Werk der EKD' inzwischen erneut durchgesetzt hat. Am Schluß dieses Resümees sollen zwei Themenbereiche noch einmal angeschnitten werden, die den Bogen zu einer augenblicklich aktuellen Forschungsdiskussion schlagen: Es geht um die Wertung des Anteils von Kirche und Innerer Mission an der eugenischen Debatte und damit verbunden um die Sicht des .kirchlichen Widerstands', einen Komplex, der in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand fachwissenschaftlicher Reflexion gewesen ist. Die Darstellungen von Kurt Nowak, Ernst Klee, Gisela Bock und jetzt Hans Walter Schmuhl, 2 aber auch zahlreiche in jüngster Zeit publizierte Anstaltsgeschichten mit Schwerpunkt auf den jeweiligen Geschehnissen im Dritten Reich haben in der westdeutschen Öffentlichkeit auch die Frage nach dem Part der Kirchen innerhalb der eugenischen Diskussion wieder aufgerollt. Dabei wird die Anfälligkeit vor allem des Protestantismus für die Faszination erbbiologischer Züchtungskonzeptionen herausgestellt sowie das Problem historischer Mitverantwortung für eine im Massenmord vornehmlich an Geisteskranken endende Extrementwicklung. Bohrende Fragen dieser Art sind berechtigt, provozieren jedoch oftmals eindeutige und abschließende Werturteile, meist also monokausale Erklärungsmodelle, die auf dem Hintergrund aktueller Legitimationsbedürfnisse der Kritiker von moderner Psychiatrie, pränataler Diagnostik oder der beginnenden Gentechnologie am Menschen zu sehen sind. Der Historiker darf solchen Herausforderungen nicht ausweichen, ist aber gehalten, keine undifferenzierten Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern die aus dem empirischen Befund erwachsenen vielfältigen Deutungsmöglichkeiten sorgfältig abzuwägen. Zwei von ihnen sind eng miteinander verzahnt und haben besondere Plausibilität für sich. - Der erste Erklärungsversuch bezieht sich auf die eklatante Offenheit des Protestantismus in der Adaption neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese spezifische Bereitschaft, ständig hinzuzulernen und den Bereich des Religiösen der modernen Welt nicht zu verschließen, erstreckte sich nicht nur auf den liberalen Flügel der evangelischen Theologie, sie war auch bei den ,Modern-Positiven' - einer eher konservativen Spielart theologischen Nachdenkens, die den alten Glauben mit der neuen Zeit versöhnen wollte - zu Hause; nicht von ungefähr galt der langjährige CA-Präsident Reinhold Seeberg als ihr Wortführer. Das Ansprechende dieser Einstellung ist evident und liegt in der Permanenz des Bestrebens, „den Kontakt zur Problemlage der jeweiligen Zeit zu halten und sie dem eigenen theologischen und kirchlichen Selbstverständnis zu vermitteln". Übertragen auf die konkreten Inhalte der eugenischen Debatte, lag die Gefahr dieser Offenheit jedoch in der unkritischen Übernahme der solchen .Erkenntnissen' inhärenten

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Zu Schmuhl vgl. den Literaturbericht des Vf., „Kritische Anmerkungen zu Neuerscheinungen über die Geschichte von Heil- und Pflegeanstalten im Kontext von Eugenik - Sterilisation - .Euthanasie'".

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Manipulation und Umnormierung des christlichen Menschenbildes. 3 Das Vertrauen in die Wissenschaftlichkeit einer in den Bereich der Gesellschaft ausgreifenden und damit politische Qualität annehmenden Biologie schien unbegrenzt. Und der autoritative Anspruch, mit dem diese auftrat und als vorgeblich wissenschaftlich abgesicherte „Sozialtechnologie" ihre Forderungen anmeldete, wurde auch deshalb akzeptiert, weil - wie immer wieder betont werden muß - die ökonomischen Zwänge zu Beginn der 1930 er Jahre ohnehin eine Umorientierung der geschlossenen Anstaltsfürsorge nahelegten. Daß diese Biologie, abhängig von ihrem jeweiligen Erkenntnisstand, eine sich stets erneuernde szientistische Ethik ausprägte, deren Wandel vom Fortschritt des disziplinimmanenten Rationalisierungsprozesses abhängig war und sich um außerwissenschaftliche Wertvorstellungen - das christliche Naturrecht und die Grundrechtsnormen der Aufklärung und Französischen Revolution - nicht kümmerte, erkannten die Teilnehmer der eugenischen Fachkonferenzen genausowenig wie die meisten anderen zeitgenössischen Fachleute. Die ,Delegitimierung' traditioneller Werte, so nennt es Peter Weingart, zerstörte die Dämme, die der geschilderten stufenförmigen Verschärfung der eugenischen Gesetzgebung nach 1933 hätten entgegenstehen können: Unkontrolliert brach sich eine Bewegung auch innerhalb des Protestantismus Bahn, die - freilich gefördert durch die rassenhygienische Staatsdoktrin des Systems - in ihrer ausufernden Eigendynamik immer neue Bevölkerungsgruppen umfaßte und schließlich mit einer gewissen Konsequenz bei Krankenmorden und Holocaust endete. 4 Um so notwendiger wäre angesichts dieses Prozesses eine offizielle Stellungnahme von evangelisch-kirchlicher Seite zu Eugenik, Sterilisation und ,Euthanasie' gewesen. Daß sie ausblieb, hatte - wie dargestellt - viele Gründe; aber auch wenn sie nicht viel anders ausgefallen wäre als die Treysaer Erklärung, hätte sie die Innere Mission doch von einer Verantwortung entlastet, die sie allein zu tragen nur höchst unvollkommen imstande war. Außerdem hätte eine öffentliche Festlegung der D E K zumindest in Einzelfällen wohl größere Chancen zur Abmilderung geplanter ,Maßnahmen' geschaffen, vor allem aber den Protestantismus vor dem moralischen Odium des Schweigens bewahrt. Wenn am Ende das Widerstandsproblem noch einmal aufgegriffen wird, so geschieht dies nicht in der Absicht, das in der Fachforschung nach wie vor aktuelle Thema grundsätzlich aufzurollen. 5 Im Hinblick auf den Ertrag unserer 3

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Kurt Nowak, „Der deutsche Protestantismus und die Unfruchtbarmachung der Erbkranken. Kritische Erwägungen zur humanitären Dimension christlicher Existenz im Dritten Reich", bes. 182 ff. Peter Weingart, „Eugenik - Eine angewandte Wissenschaft. Utopien der Menschenzüchtung zwischen Wissenschaftsentwicklung und Politik". Auch das erste Heft der neuen Zeitschrift,Kirchliche Zeitgeschichte' [1.1988] ist dem Themenschwerpunkt „Der Widerstand von Kirchen und Christen gegen den Nationalsozialismus" gewidmet. Der Band faßt indessen nur Bekanntes noch einmal zusammen, weil die

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Arbeit sind jedoch einige Anmerkungen dazu notwendig. Denn es scheint so, als zeigten sich - bezogen auf die kirchliche Zeitgeschichte protestantischer Provenienz - Tendenzen zur Wiederbelebung eigentlich für überholt gehaltener Interpretationsansätze. - Eine solche Beobachtung richtet sich nicht gegen das - in Anlehnung an Hüttenberger und andere - von Günther van Norden vorgeschlagene dichotomische Schema .Kooperation und Teilwiderstand' mit seinen vielfachen Überschneidungen und der Ausdifferenzierung dessen, was man unter ,Widerständigkeit' fassen kann: nämlich Protest vornehmlich aus dem Bekenntnis heraus, offenes Eintreten für die Menschenrechte und in letzter Konsequenz aktiver politischer Widerstand mit dem Ziel, das System zu beseitigen. 6 Vielmehr stellt sich die Frage, ob der von manchen Kirchenhistorikern neuerdings vorgenommene Rekurs auf dezidiert theologische Voraussetzungen von Resistenz und Opposition, die dann mit älteren Positionen (,Aufstand des Gewissens') in Verbindung gebracht werden, nicht wieder in eine forschungspolitische Sackgasse führt, welcher die kirchliche Zeitgeschichte seit einigen Jahren erfolgreich zu entrinnen sucht. Wer die - unfreiwillig politische Qualität annehmende - Haltung der Bekennenden Kirche, ihrer Mitglieder und Exponenten im Kirchenkampf nur daraufhin untersuchen will, ob dort „eine sittlich-moralische Verpflichtung sichtbar wird, die jenseits materialer Kosten-Nutzen-Rechnungen auf genuin christlichen Maximen basiert", muß das Handeln der Inneren Mission zwischen 1933 und 1945 bis auf verschwindende Ausnahmen als staatskonform, angepaßt und loyal bis zum bitteren Ende qualifizieren. 7 Daneben verzichtet diese Sicht mit der einseitigen Akzentuierung - nicht bezweifelter - gesellschaftlicher Auswirkungen primär christlicher Gesinnung ohne Not auf den gesamtdisziplinären Erfahrungsaustausch, ja wertet möglicherweise Formen

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Beiträge der meisten Autoren schon einmal in veränderter Form an anderem Ort erschienen. Günther van Norden, „Zwischen Kooperation und Teil widerstand: Die Rolle der Kirchen und Konfessionen. Ein Überblick über Forschungspositionen", in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, 227-239.- Unstrittig ist das Verhalten der Kirchen nicht als ,Widerstand' im ursprünglichen Sinne des Wortes zu klassifizieren: als eine auf politische Aktion zum Sturz des Regimes zielende Fundamentalopposition; die Begriffe .Resistenz', .Widersetzlichkeit', .nonkonformes Verhalten' etc. werden deshalb ohne den Versuch einer exakten Abstufung im folgenden zur Umschreibung des Sachverhalts benutzt, daß sich die Kirchen und ihre Untergliederungen als nicht oder nur in Teilbereichen gleichgeschaltete gesellschaftliche Faktoren von Rang zunehmend weniger angepaßt zeigten und sich damit schon durch ihre bloße Existenz als Störfaktor erweisen konnten. - Vgl. auch die anderen Beiträge des genannten Sammelbandes, der den Berliner Widerstandskongreß von 1984 dokumentiert. Vgl. Gerhard Besier, „Ansätze zum politischen Widerstand in der Bekennenden Kirche Zur gegenwärtigen Forschungslage", in: Der Widerstand, 265-280; ähnlich Gerhard Ringshausen in einer Rezension zu Klaus Drobisch/Gerhard Fischer (Hg.), Ihr Gewissen gebot es. Christen in der Auseinandersetzung mit dem Hitlerfaschismus, Berlin/DDR 1985, in: Evangelische Kommentare 19.1986,112.

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von ,Widerständigkeit' aus anderen als religiösen Motivgeflechten dadurch ab. Es ist eindeutig das Verdienst der ,Leipziger Schule' kirchlicher Zeitgeschichtsforschung um Kurt Meier und Kurt Nowak, diese Perspektiwerengung durch Einbeziehen zum Widerstand überhaupt erst befähigender volkskirchlicher Strukturen überwunden zu haben. 8 Nicht nur die Kirchenleitungen und Synoden, eng umrissene kirchennahe Gruppen oder einzelne, immer wieder genannte christliche Persönlichkeiten hatten Teil an den Bedrängnissen durch das NS-Regime und reagierten darauf mit Widersetzlichkeit. Was kirchliche Renitenz und Resistenz für letzteres erst beachtenswert und gefährlich machte, war doch offenbar die Ausbreitung solchen Widerspruchs in das protestantische Kirchenvolk hinein. - Auf dem vor fünf Jahren in Erinnerung an den 20. Juli veranstalteten Berliner Widerstandskongreß wies van Norden darauf hin, daß dieser neue Erklärungsansatz der These von der Resistenzkraft des katholischen Milieus erstaunlich nahekomme. 9 Freilich fügte er hinzu, solange nicht präzisiert werden könne, auf welchen volkskirchlichen Arbeitsfeldern im Einflußbereich evangelischer ,Normaltheologie', d.h. grob gesprochen zwischen den Fronten von extremen ,Dahlemiten' und Thüringer DC, derartige oppositionelle Phänomene denn festgemacht werden könnten, halte er die Leipziger Hypothese für „unbrauchbar". - Es scheint indessen, als habe unsere Studie einen Schritt auf dem Wege machen können, den heuristischen Wert des volkskirchlichen Widerstandsmodells empirisch zu erweisen. Tatsächlich waren es ja ,Normaltheologen', jedenfalls in ihrer spezifischen Funktion im Rahmen der Inneren Mission, die jene geschilderten zahlreichen Konflikte mit Partei und Staat auszutragen hatten. Ganz dezidiert unterließen sie es, bei den Verhandlungen mit Ministerien, Behörden und Parteidienststellen theologische Vorbehalte gegen die beanstandeten Übergriffe vorzubringen und vertrauten auf die zwingende Wirkung des Sacharguments. Wer glaubt, daß evangelisch-kirchlicher Teilwiderstand allein aus den letzten Grundvoraussetzungen christlicher Existenz hervorzugehen habe oder erst von dort seine kirchenhistorische Dignität erhält, wird den Verbandsprotestantismus und erst recht die Innere Mission in dieser Beziehung ,abschreiben' müssen. Auch der Verweis auf wenige geistliche Führergestalten unter den IM-Theologen, die frühzeitig und entschieden Kritik an rassenhygienischen Vorstellungen, Wohlfahrtspflegekonzeption und -politik des Dritten Reiches übten - etwa Paul-Gerhard Braune und Otto Ohl - kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Weg der Inneren Mission von 1933 bis 1945 zwischen vorsorgender Anpassung und verhaltenem Widerspruch an pragmatischen Kriterien orientierte. Die Integrität ihrer Einrichtungen mit den darin betreuten Pflegebefohlenen, der Schutz des ,Personals' aus der Mutter- und Brüderhaus-

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Vgl. die einschlägigen Arbeiten Nowaks im Literaturverzeichnis und den Exkurs in Meiers III. Band: „Der evangelische Kirchenkampf als Widerstandsproblem", 587-616. Van Norden, a. a. O., mit Bezug auf den Beitrag von Heinz Hürten.

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diakonie und vieles mehr bedeutete Anstaltspfarrem und Geschäftsführern höchstes Gebot in ihren Verhandlungen mit Staat und Partei. Unbestritten bleibt, daß sich diakonische Arbeit durch ihre religiöse Fundierung von sonstiger Wohlfahrtspflege abhebt. Sie unterliegt jedoch durch die enge Verflechtung mit den sich ihr stellenden gesellschaftlichen Aufgaben besonderen Zwängen und Verantwortlichkeiten, die man mit denen der verfaßten Kirche gegenüber den ihr anvertrauten Gläubigen nicht unbedingt vergleichen kann; nonkonformes Verhalten dieses Sektors kirchlicher Wirksamkeit stößt somit auf schwerer wiegende Probleme und Grenzen. - Trotz aller Bereitschaft, dem von Gesetzgebung und NSV vorgegebenen Kurs zu folgen - anfangs sehr freiwillig, im Laufe der Jahre zunehmend contre coeur und notgedrungen - darf das von der Inneren Mission repräsentierte Resistenzpotential nicht unterschätzt werden. Immerhin gab es ja, wie gezeigt, unterschiedlich erfolgreiche' Felder der Bewährung: So gehört die Handhabung des evangelischen Nichtarierproblems zu den besonders dunklen Kapiteln der Geschichte evangelischer Liebestätigkeit im Dritten Reich.10 Nicht dagegen aufrechenbar, aber für sich selbst zeugend, stehen die Auseinandersetzungen um den Erhalt der Gemeindepflegestationen, das - wenn auch vergebliche - Ringen um eine Abmilderung der Ausführungsbestimmungen zum Erbgesundheitsgesetz und schließlich der zähe, unerbittliche Kampf gegen die sogenannte Euthanasie, der es nicht verhindern konnte, daß die Anstalten beider Konfessionen proportional gesehen stärker von den Krankentötungen betroffen waren als die Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft. 11 Die Widersetzlichkeit' von Innerer Mission - und Caritas - gegenüber den Ansprüchen der NSV zeigte unter anderem deshalb in gewissem Umfang Wirkungen, weil beide in der Lage waren, sich auf einen kirchlich positiv konditionierten und auch zahlenmäßig einflußreichen Bevölkerungsteil zu stützen, den der Nationalsozialismus nicht einfach mit tiefen Einschnitten in traditionell von konfessionellen Verbänden betreute Arbeitszweige vor den Kopf stoßen konnte, ohne eine das System destabilisierende Beunruhigung zu riskieren. Durch ihren in der Sozialarbeit wurzelnden intensiven Praxisbezug dürfte die Innere Mission in jenen noch aktiv oder wenigstens latent kirchlich disponierten Bevölkerungsgruppen stärker verankert gewesen sein als andere evangelische Verbände, ja

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Zu diesem Problemfeld s. den Beitrag des Vf., „Protestantismus, Diakonie und .Judenfrage' 1933-1941. Zur sozialen Dimension eines Konflikts". So die Berechnungen von Hans-Josef Wollasch in: Beiträge, 211, und seinem .Euthanasie'-Artikel im Staatslexikon der Görresgesellschaft, 483: „Von den 280 000 bis 300000 Geisteskranken und Geistesschwachen aller Altersstufen, die vor 1945 in über 900 Anstalten des Reiches gelebt haben, sind ungefähr 100000 als ,lebensunwert' vernichtet worden. Mehr als die Hälfte der Opfer stammte aus privaten und konfessionellen Anstalten. Da diese nur über 20% der Gesamtbettenzahl verfügten, waren sie in besonderem Maße Ziel der Euthanasie-Aktion gewesen." Zu den Zahlen, die nur Annäherungswerte darstellen können, noch einmal Kap. II, Anm. 224.

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vielleicht die Kirche selbst, deren Verkündigungsauftrag und Sinnsetzungsangebot oftmals kaum mehr wahrgenommen wurden: Die Innere Mission dagegen konnte man als in der Lebenswirklichkeit konkret erfahrbares ,soziales Gesicht der Kirche' noch immer akzeptieren.

Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Akten der Parteikanzlei der NSDAP (APK-NS) Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestands, bearb. von Helmut Heiber, München-Wien 1983, 2 Bde Microfiches, 2 Bde Regesten, 1 Registerbd. [zit. als APK-NS mit Bestands- und Blattnummer] Archiv des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg i.Br. (ADCV) 111.055 460.040,1-2 460.060,1 4601, 1 460, 1 CA XX 62 a, c R 290 I R 297 b I-II R 307 Archiv des Diakonischen Werkes, Berlin (ADW) Centraiausschuß CA 67 B (1934) CA 94 CA 100 II-IV CA 103/1 CA 118 CA 131/1 III CA 138 CA 165 A CA 165 I-IV CA 613 II CA 617 CA 664/3 CA 744 II

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CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA CA

Quellen- und Literaturverzeichnis

761 II-XXIII 786 V/1 837 a 837 III 838 III 8571 873 876 945 A 945 I-II. V 1019 B/V 1194 XIV 1195 I-XII 1195 Z 1 - 5 1261 XV 1337 I 1367/3 1947/91 1957 2042/1-2 2043 B/1 2049/1 2123 2240 West R 93

Centraiausschuß/Gesundheitsabteilung C A / G 03 C A / G 20 I C A / G 40 O.v. Holbeck, Fünfundzwanzig Jahre Reichsverband der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, 28. Oktober 1919-28. Oktober 1944 C A / G 93 C A / G 1202/28-29 C A / G 1600 C A / G 1601 C A / G 1800 C A / G 1801 C A / G 1900/4 C A / G 80000/6 C A / G 100.100 C A / G 100.150

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Centraiausschuß/Propagandaabteilung C A / P A F 23/1 Brandenburgischer Provinzialverband für Innere Mission PAflM, lfd. Nr. 55 BP I 249 Archiv des Diakonischen Werkes der Ev. Kirche im Rheinland, (ADWDÜ)

Düsseldorf

Bestand Ohl BO, Mappen M BO, 8/1,5 BO, 10/1-1-11 BO, 10/2-3, 3 BO, 10/3-3, 3 BO, 10/5, 1 BO, 91/1, 3 BO, 165, l a Berlin Document Center (BDC) Personalunterlagen: Hermann Althaus, Dr. Werner Betcke, Friedrich V.Bodelschwingh, D. Fritz v. Bodelschwingh, D. Constantin Frick, Dr. Johannes Heinrich, Erich Hilgenfeldt, Horst Schirmacher, Dr. Kurt Schubert, Karl Themel Berliner Missionsgesellschaft, Archiv (BMG) Briefwechsel Missionsdirektor Siegfried Knak Bundesarchiv, Koblenz (BA) R 2/19197 R 36/1382 NL Seeberg, Nr. 43 Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA) Bestand ,Evangelische Kirche in Deutschland' (EKD) A 2/22 A 2/202-03 A 3/294 A 3/7-8

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Quellen- und Literaturverzeichnis

3/43 3/45 4/539 3/52 1/55 3/161-166

Bestand Evangelischer Oberkirchenrat (EOK) Gen XII-12-10 Gen XII-12-11 Bestand ,Kirchenkampfarchiv' ( = Sammlung Härder) 50/199 Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Anstalten

(HAvBA)

2/33-572 2/33-155 PA II 2/91-16,22 Landeskirchliches Archiv, Stuttgart

(LKASt)

Fischer-Sammlung, Bd. IV-V N L Wurm Befragungen Frau Frau Frau Prof.

Bundesminister a. D. Dr. Elisabeth Schwarzhaupt (t), Bonn, 28.IV.1983 Hermine Bäcker, Köln-Rath, 6.VI.1983 Bertha Stahl, geb. Finck, Hamburg, 3.XI.1983 Dr. Dr. Hans Harmsen (+), Bendestorf, 3.XI.1983

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Register Abendroth, A. 79 Achinger, H. 164, 183 Acken, J. van 137 f., 142, 145 f., 148 f., 153, 159, 161 Adam, A. 7 Adler, B. 299 Ador, G. 139 Althaus, H. 14,194,198ff., 203, 210, 212f„ 216 f., 225, 280, 283, 293 ff., 422 ff., 432, 438 Althaus, P. 14, 194, 325, 348, 438 Aly, G. 222 Anthes 349, 370 f. AschofT, D. 381 Auguste Viktoria 140 Ayaß, W. 338 Backhausen, K..-W. 122 f. Bade, K. J. 29 Baden, M. v. 48 Baeck, L. 191 Bäcker, H. 336,363 Baehr, K. 330 Bäumer, G. 122 Baier, H. 255 Baker, L. 191 Ballarin, G. 203,214,419 Baron, R. 11, 137, 165 f. Bartels, F. 194 f. Barth, K. 257,421 Bauer 36 Bauer, R. 11 Bauks, F. W. 257 Baum, M. 110 Baumeister, W. 196 Baumgarten, O. 41 f., 45, 57 f. Bavink, B. 375 f., 379 Becker, C. H. 88 Beeking, J. 123 Behnsen 360 Behr, F. 343,350 Behrend 118

Beisiegel 131 Beker, C. 317 Beneckendorff u. v. Hindenburg, P. v. 193, 272 Benedictus XV. 46 Benzing, R. 288 Berner 59 Berning, W. 346 Bernsee, H. 440f. Bertram, A. 138, 146 Besier, G. 455 Besse», G. 312 Betcke, W. 14,280 Bethmann Hollweg, M. A. v. 5, 79 Beutel, H. 141,239,244 Beyer, H. W. 4, 22 Beyreuther, E. 4, 398 Beyschlag, W. 35 Bezzel, H. v. 38,40,45 Binding, K. 317 f., 349 Birnbaum, W. 268 Bismarck, O. v. 69 Blau, P. 49 Blaum, K. 100 f., 154 Bock, G. 320 f., 335, 339, 453 Bodelschwingh, F. v. (Vater) 7, 103,113, 319, 421 Bodelschwingh, F. v. (Sohn) 16, 148, 238, 250 f., 253 ff., 260, 276, 287 f., 304, 306 ff., 312, 314, 319, 325, 327, 330, 352, 384, 389, 398, 402, 407, 432f. Böhm, H. 245 Böhme, H. 174 Boehmer 53, 55 f. Boeters, G. 318,323 Bookhagen, R. 216, 424 Bonhoeffer, K. 348 Bopp, L. 127 Bormann, M. 205f., 214ff. Bornemann, W. 57 f. Bornhäuser, K. 49 Bornkamm, G. 27

500

Register

Boyens, A. 309 Bracht, F. 168 Brakelmann, G. 27 Brandmeyer 436 Brandt, W. 410f. Braun, W. 52 Braune, B. 433 Braune, P.-G. 209, 240, 272, 275, 284 f., 288, 310, 321, 341, 351, 388, 404, 430, 432 f., 456 Brauns, H. 11 f., 127, 144 Brinkmann, E. 57 Broszat, M. 354, 367, 385 Browning, Ch. 385 f. Brückner, W. 23 Brüning, H. 17, 161, 166,169, 173, 181 f. Brunotte, H. 417 Brunstäd, F. 62 Buchheini, H. 187, 190, 197 Buchheim, K. 4 Buck, G. 165 f. Büchsei, K. 79 Bühler, K. 169 Bülow, H. v. 380 Bultmann, R. 36 Bunke, E. 62, 76 Burghart, G. 86f.,241, 247 Burkert, A. 437 Busch 207 Buttmann, R. 346, 375 Buurman 369, 383 Campenhausen, A. v. 73 Carstens, W. 247 f. Christiansen, N. 287 Cochlovius, J. 22 f. Conti, L. 389, 442 f. Conway, J. 431 Conze, F. 243 f., 314 Conze, W. 4 Cordt 213 Cremer, P. 17 f , 61, 85 ff., 90 ff., 150 Dann, O. 2 Darwin, Ch. 339 Dehn, G. 62 f. Depuhl, A. 3 50 f., 378, 392 Detten, H. v. 312 Diamant, A. 112 Dibelius, O. 18,50 Dick, K. 239 f., 243 f.

Dietrich, G. 334 Dietrich, H. 165 Dietz, O. 428 Dinger, A. 267 Domarus, M. 232 Donndorf, G. 293, 433, 437, 441 Douglas, W. Graf v. 113 Draudt, P. 119 Drese, V. 312 Drobisch, K. 455 Dünner, J. 12,127 f., 136 f., 181 Duske, J. 91 Eichmann, B. 356 Eifert, Ch. 100 Eiserhardt, H. 120 Ellwein, Th. 403 ff. Engelmann, W. 173, 198, 287, 300, 359, 395, 398, 434 f., 437 ff. Epha, O. 392 Erdmann, K. D. 317 Erfurth, P. 84, 122 f., 280, 317 Ernst der Fromme 24 Eucken-Attenhausen, G. v. 77 Everling, O. 45f., 51 f., 55 Faber 369,373,375,377 Fabri, F. 29 Falk, J. 6 Feder, G. 232 Fehrenbach, K. 148 Fichte, J. G. 21 Fichtner, H. 384 Fieldhouse, D. 20 Finck, B. 14, 120, 134f„ 280 Fiore, G. da 27 Fischer, G. 455 Fischer, R. 389 Fischers, E. 100 Fleischmann, W. 20 Fliedner, Th. 6 f. Foerster, E. 56, 58 Forck, B.-H. 398,405 Fraenkel, A. 166 Fraenkel, E. 228, 364 Francke, A. H. 103 Frank, H. 379 Frick, C. 16, 26, 79f., 93, 106, 108f., 191, 204, 209,213f., 217ff., 222ff., 238ff., 243, 273, 276, 280, 284, 287, 290, 300, 304, 307f., 311 f f , 314, 321, 374f., 389, 391 f f .

Register 395, 398 ff., 402,404 ff., 412 ff., 419,426 f., 429 f., 432 ff., 441 ff., 449 Frick, W. 195, 206ff., 211, 213f., 225, 264f., 304, 341 f., 364, 367 f., 374, 386, 429, 433 ff. Fricke, D. 2 Friedländer 169 Fritsch, E. 261, 275 f., 282, 288 f. Fritz, A. 287,378,383 Fröhlich, A. 232 Frowein, v. 87 Frowein 352 Füllkrug, G. 19,45, 53f., 62,69, 79,81, 84, 87ff., 92f., 104,238f., 241,244, 317f„ 322 Fuld, L. 98 Gayl, W. v. 324, 333 ff. Geib 145, 168, 170, 172, 179, 181 Geibel, I. 188 Gemmingen, v. 162, 180 f. Gerhard, H. W. 234 Gerhardt 409 Gerhardt, M. 5 ff., 18, 22, 44, 98, 112, 1l4f„ 156, 191, 213, 221, 225f., 258, 289f., 310, 313, 331, 378, 392, 430, 432f. Gerlach, W. 377 Gerstenmaier, E. 18, 452 Gervinus, G. 21 Giese 56 f. Gmelin, A. 327 Goebbels, J. 13, 160, 190, 193, 218, 414, 450 Göring, H. 193, 205, 281 Gollwitzer, H. 4 Gonser, I. 119 f. Gottron, H. 44 Greifenstein, H. 314, 398 Greschat, M. 82,377 Grieser, A. 170 Gröber, C. 346 Groener, W. 167, 181 Groß, W. 359, 363 f., 375 Grossmann, K. 79 Grotjahn, A. 321 Gründer, H. 29,46,348,369 Grüneisen, F. 117, 121, 138, 141, 144, 168, 170, 177, 191, 200 Grundmann, W. 362 Grunz, G. 442 Grzesinski, A. 187 Gürtler, P. 215,226,431

501

Gürtner, F. 374 Gütt, A. 194f., 341, 345, 353, 358, 364, 367 Gustavus, W. 242, 244,246 f., 312, 398,406 Gutteridge, R. 377 Haeften, H. v. 203 Haenisch, C. 51 Hafenbradl, J. 139 Hagen, W. E. 313 Halbach, K. 272 Happich, F. 289, 325, 330 f. Harmsen, H. 62, 173, 191 f., 195, 203, 255, 258, 260, 262, 264 f., 267, 278, 289 ff., 316ff„ 321 ff., 340ff., 354f., 358ff., 362ff., 367ff., 372ff., 380ff., 384, 386, 420, 442f. Harnack, A. v. 41 Hartwich, N. 217, 287 Hase, H.-Ch. v. 4 Hase, K. v. 22,35 Hausen, K. 100 Heckel, Th. 19 Hegel, W. v. 76,88 Heierle, W. 127 Heim, K. 50, 52 ff. Heimerich, H. 100f., 163 Heinemann, M. 216 Heinrich, J. 197, 202, 204, 280, 287f., 311, 314, 392, 398, 419, 425, 443, 451 Hellmann, M. 320 Hennig, M. 25 f., 68 ff., 75, 80 Herkner, H. 96 Hermenau, H. 251 Heß, R. 190f., 206f., 214f., 225, 274, 289, 374, 443 Hesse, H. 252 Hey, B. 299 Heydt, F. v. d. 4 Heymann, J. 118 f. Heynacher, M. 135 Heyne, B. 4, 92, 221, 263 f., 289, 292, 304, 379, 394 f., 436 Heyse 349 Hilbert, G. 5 Hilgenfeldt, E. 13 f., 176, 188 ff., 192 ff., 198ff., 203, 205f., 210ff., 216ff., 222ff., 256,280, 283,289ff., 294f„ 297, 354,359, 426ff., 436, 438 ff., 446, 450, 452 Hillgruber, A. 385 Himmler, H. 206, 213f., 216, 414, 418 Hindenburg s. Beneckendorff Hirtsiefer, H. 170f., 180

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Register

Hitler, A. 189f., 213ff., 217f„ 225, 228, 232f., 253, 272, 275 f., 284, 294, 304ff., 343, 354, 367, 374, 377, 385 f., 396, 407, 409 ff., 420, 431, 436, 441 f., 451 Hoche, A. 317 f., 349 Hocheisen, P. 191 Hockerts, H.-G. 217,426 Höllen, M. 134 Hoffmann, A. 51, 70, 108 Hoffmann, A. 429 Hohenlohe-Langenburg, E. zu 24 Holbeck, O. v. 114, 126, 128, 133 Holstein, G. 23 Hoppe, Th. 92 Hosemann, J. 251 Hossenfelder, J. 255, 257 Hünlich 318,361 Hürten, H. 50, 108, 456 Hüttenberger, P. 455 Hugues, Th. 72 Hundinger, I. 173, 282 f. Huschenbett, M. 48 Hustedt, H. 263 Hymmen, J. 267,299 Iber, H. 418 Ihorst, R. 221 Jacke, J. 3, 48, 50f., 54, 108 Jacobi, K. 440 Jacobsohn, M. 101 Jäger, A. 15, 204, 254f., 257f„ 260, 264, 269 f., 284, 298, 305, 308 f., 391 Jagow, H. 259 Jahn, F. L. 21 Jakob, V. 20 Jans, K.-W. 155 Jaquemar, H. 428 Jatho, C. 42, 57 Jeep, W. 192, 194, 231 ff., 238, 243 ff., 250 ff., 254 ff., 258, 260, 262, 264 ff., 272, 278, 281, 296, 336f. Jenetzky, K. 304 Jenner, H. 356 Jeremias 58 Joerger, K. 119 Johnsen, H. 404f. Juchacz, M. 118, 143, 180f. Jung, B. 148 f., 163 Jung, M. 148 Jungclaußen, H. 351

Kaftan, J. 28, 37, 39, 42, 69,115 Kaftan, Th. 25 f., 28, 36 f., 39, 42 f., 45, 50 ff. Kahl, W. 50f., 62,148 Kaiser, J.-Ch. 2, 9,15 f., 20, 44, 49, 70 ff., 115, 147, 167, 202, 209, 232f„ 251, 257, 276, 284, 287, 307, 317, 320ff., 324, 349, 377, 380 f., 384, 419, 428, 443, 453, 457 Kameke, K. O. v. 91 f., Kapler, H. 242, 244, 247, 251 ff. Karl, Ch. 381, 388 Karnatz, B. 433 Karow, E. 241 f., 244, 247, 254 f., 257, 261, 267f., 270ff., 276, 278, 281, 314, 404f., 414 Kater, M. 188, 281 Kaufmann, D. 4,115 Kaufmann, P. 304, 436 Kaupen-Haas, H. 321 Kemper 314 Kerrl, H. 9, 214f„ 347f„ 368, 393f., 412f, 415 f. Keßler, A. 383 Kiefner, J. 318 Kirstein 368 f. Klaer, H. 334, 349 Klee, E. 211, 222, 340, 389, 433, 453 Kleßmann, E. 356 Klieber, A. H. 138, 149 Klingler, F. 416f. Klöcker, M. 2 , 4 Kloppenburg, H. 405 Klumker, Ch. J. 106, 166, 183 Knabe 361 f. Knak, S. 16, 307, 310, 399, 414 KnifTka, J. 123 Kockelke, H. 54, 60 Köbel, W. K. 160 Köhler, E. 166 Köhler, H. 169 Koehler, P. 29f. Kohlrausch, E. 335 Koller, H. 233, 245, 249f., 254f., 258, 260, 262, 264 f., 267, 278, 282 Kopfermann, D. 79 Kortheuer, A. 238, 284 Kouri, E. I. 2 Krause, H. 435, 441 Krause, R. 274f. Krauss, H. 4 Kraut, A. 149, 204

Register Kretschmar, G . 46 Kreutz, B. 115, 129f., 133, 136ff., 142, 144 fr., 148 ff., 157, 159,161, 165, 170, 172, 191, 198, 200, 202, 212f., 313 Kreyenberg, G . 335 Kröhne, M. 122,124 Krosigk, G. v. 310 Krüger 207 Krüger-Wittmack, G. 78, 417 Krug v. Nidda, C. L. 96, 99, 101, 104, 109 f., 128 Krumwiede, H.-W. 7 Künneth, W. 254, 258, 260, 262, 264 f., 267 f., 278, 350, 418 f. Kulka, O. 377 Kunze, J. 287,307 Kupisch, K. 4 Lahusen, F. 55 Laible, W. 31 f., 38 ff. Lammers, H. H. 214f„ 220, 388, 442 Landwehr, R. 11,137, 165f. Lange, J. 335 Langkutsch, W. 308 Langner, A. 147 Langstein, L. 133, 138, 147f., 150, 204 Lauer, A. 125 Lauerer, H. 201, 287, 303 f., 306 f. Lauterer-Pirner, H. 440 Lembke 120, 134 Lemke, L. 177, 179, 181 Lenin, V. I. Uljanov 257 Lensch, M. 326 f., 331, 344, 379 Lerchenfeld-Köfering, H. Graf v. 148f., 157, 191 ff., 204 Levy, A. 103 ff., 124 Ley, R. 189f., 196ff„ 216 Lilje, H. 412 f., 416,435 Linden, H. 363, 367 f., 372 f., 377, 389 Lösener, B. 208 Löwenthal 375 Lucas, G. 355 f., 360 Lücke, F. 6 Lüttichau, S. Graf v. 16, 201, 261, 287, 290, 307, 309 f., 314, 398 Luppe, H. 106 Luther, M. 379 Magen, F. 2 Mahling, F. 6 f „ 26ff., 30, 32, 36f., 39ff., 44, 48, 51, 62, 86 ff., 325

503

Mahrenholz, Ch. 404 Maier, J. 375 Marahrens 220, 252, 255, 310f., 435, 437f. Maron, G. 20 Marx, W. 148 Matzner 360 Mayer, A. 360, 378 ff, 387 Mehnert, G. 3 4 , 4 8 , 5 0 , 5 7 Meier, K. 3,14f., 27, 215, 217f., 237, 254f., 257, 298, 303 ff., 309,311, 350, 377, 393 f., 397, 403f., 406, 412, 416f., 420, 435, 439, 456 Meiser, H. 305 Meißner, O. 304 Meitzer, E. 318, 348ff, 362, 371 Memelsdorf 177 Mengele, J. 328 Menzel, P. 72 f., 77 f. Mettin, R. 106 Meyer, E . G . 428ff. Miesitscheck, v. 76 Mirbt, C. 54, 56ff. Mockenhaupt, H. 127 Mohrmann, A. 287,290,425 Mommsen, H. 386 Mommsen, W. J. 166 Monat, A. 99 f., 108 Muckermann, H. 335 Mühler, H. v. 5 , 7 9 Müller, A. 322 Müller, A. D. 376 Müller, A. 318 Müller, E. 155 Müller, L. 15 f., 253 ff, 257, 269 ff., 278, 283, 298 ff, 311 f., 314, 393,451 Müller-Hill, B. 326, 328 Münsterberg, E. 113 Mulert, H. 177 Mumm, R. 36, 51, 63 f. Mybes, F. 307ff. Nabrings, A. 82 Naumann, F. 109 Nebgen-Kaiser, E. 146 Nehm, E. 256 Nentwig 86 Neuhaus, A. 106,110,116 Neumann, A. 349 Nicolaiseri, C. 221,298 Niemann, J. 292, 304, 365, 404, 412 Niemöller, M. 328, 414

504

Register

Nietzsche, F. 319, 337 Nipperdey, Th. 2 Nitsch, H. 130 f. Noakes, J. 321,325 Norden, G. van 4, 307, 455 f. Nowak, K. 20, 50, 52, 54, 69,115, 211,222, 317, 320f., 326, 331, 340,343,356 ff., 361, 382, 386, 388 f., 453 f., 456 Oehlkers, P. 36, 41 f., 60, 76 Ohl, O. 60, 71, 75, 83f., 88, 91f., 137f„ 149f., 176f., 183f., 200f., 204f., 227, 229 f., 239, 246, 249 f., 256, 261, 268, 275, 283 f., 287, 292 ff., 297, 300, 310, 314,341, 351, 381 f., 389, 392, 398 f., 403 f., 410, 412 ff., 424 ff., 430, 432, 436, 456 Ohlemüller, G. 19 Ollendorf, F. 123 Oppen-Dannenwalde, D. v. 202 Oppen-Dannenwalde, J. v. 193, 202 Orthbandt, E. 99 Ostermann, A. 325 Ostermann, H. 4 Otte, B. 191 Papen, F. v. 182, 198, 324 Pasche 33 Peter, F. 341 Peters 170,180 Pfeiffer, W. 243 Pfürtner, St. 127 Philipps, W. 394 Philipps, W. (Theol.) 31, 33, 39, 62, 64, 259 Philipps, W. (Arzt) 380 Philipsborn, A. 138, 150,164,191 Polligkeit, W. 99,102, 110, 112f., 117, 119ff., 128, 130, 133 f., 139, 143, 150f., 168 Pommerin, R. 343 Preller, L. 96 Prokrantz 98, 104 f. Pünder, H. 17, 169 Rade, M. 34, 38, 42, 49 ff. Ranke, H. 438 Reiche 202 Reiz, R. 49 Rendtorff, F. 31, 37, 40 f., 48 Rettig 210 Richter 151

Richter, J. 327 Ringshausen, G. 455 Ritter, E. 12,116,127ff., 136f., 140,144ff., 151,154 f., 158,170 Roon, G. van 19 Rosenberg, A. 274,418 Rosenkranz, G. 58 Rotenhan, W. Frhr. v. 142, 158 Rott, F. 134 f. Rüdin, E. 353 Runge 21 Runstam, A. 322 Ruppel, E. 348 Ruppert, F. 209 Rust, B. 195, 254, 258, 264, 419 Ruttke, F. 353 Sachße, Ch. 11, 97f., 103,123, 137 Salomon, A. 101,110 Schäfer, G. 389 Schäfer, Th. 80 Schäfer, W. 423 Schafft, H. 406 Scheffen, W. 25, 29, 32, 36, 79, 113, 171, 313 Scheidemann, Ph. 49 Schieder, W. 2 Schiele, F. M. 24 Schirach, B. v. 189, 276 Schirmacher, H. 15,197 f., 217 f., 224 f., 236, 242, 255, 257 ff., 267 f., 270, 272 f., 275, 278 ff., 283 ff., 291, 293 ff., 303 ff., 309 ff., 313 f., 348,350, 353 f., 391 f., 402 f., 405, 409, 411, 413, 415, 419, 421, 429f., 432 f., 435 f., 438, 443, 451 Schiaich, C. L. 345 Schlatter, A. 325 Schlegtendal, E. G. 88 Schlippenbach, A. v. 79 Schlosser, G. 109 Schlunk, W. 89, 115, 135, 244f. Schmeling, W. v. 164 Schmidt, M. 36 Schmieder, H. E. 79 Schmitz, O. 50, 52 ff. Schmuhl, H. W. 321, 339, 453 Schneemelcher, W. 33 f., 46, 49, 53, 62 Schneider, C. 326, 328 f., 339, 348 Scholder, K. 3, 14f., 50, 75, 237, 252ff., 258, 269 f., 274 fr. Scholz, H. 30

Register Scholtz-Klink, G. 190,441 Schorsch 389 Schott, A. 156,181,209 Schreiber, A. W. 29 ff., 36 ff., 43, 45 ff., 51, 53 ff., 60 ff., 77, 84 Schreiner, H. 325, 348, 350 f. Schreiner, H. 98, 121 Schröder, E. v. 189 f., 198, 205 Schröder, G. 273, 290,298 f., 307,414,420 Schubert, K. 215,428 Schumacher, A. 427 Schulenburg, B. Gräfin v. d. 122 Schulte, K. J. 138 Schumacher, H. 18 Schwabe, K. 27 Schwander, O. A. 293, 414 f. Schwarz, F. X. 207 f., 213 Schwarzhaupt, E. 417, 439 Schweitzer, C.-G. 89, 239, 244 Schwerin, J. 103 Schwerin v. Krosigk, L. Graf 165, 207 ff., 310 Seeberg, R. 7,14, 26 f., 29 ff., 35 ff., 39, 42, 64, 86, 93, 230, 239, 241, 243 f., 280, 314, 322, 418, 453 Segall, J. 138 Seldte, F. 198, 209 ff., 446 Sellin, V. 2 Senfft-Pilsach, E. v. 79 Severing, C. 170 f., 187 Sieber, C. 127 Siegel, M. A. 13, 186f. Siegert, W. 260 Siegmund-Schultze, F. 123 Simons, W. 46, 139, 348, 368 ff., 373 Slotemaker de Brui'ne, J. R. 19, 322 Soden, H. v. 417 Söhngen, O. 336 Sommer 207,208 Sommerer, H. 327 Spiecker, A. 25, 29 ff., 36 f., 39 f., 42, 45, 47 f., 51, 53, 62 f., 67 f., 79, 83 f., 86, 90, 92 f., 141, 313 f. Spiewok, E. K.. 294 f. Staats, W. 350, 375 f., 379 Staemmler, M. 343, 346 Stahl, A. 120,134f., 155, 173, 233, 235f., 239, 244, 250 f., 255, 344, 391 Stahl, F. J. 5, 79, 82 Stange, E. 243 Stasiewski, B. 346

505

Steflfani, J. 431 Stegerwald, A. 146,153,161,170,178, 180 f. Stein, A. 372 Steinweg, J. 64,72 f., 76,79, 84 ff., 89,92 f., 96, 121 f., 141 f., 147 ff., 155,165,170, 184 f., 194, 231, 239, 244, 334 Stephan, H. 36, 49 Stock,A. 51 Stoecker, A. 27, 29, 36, 71, 421, 447 Stoltenhoff, E. 254 Stratenwerth, G. 169 Straubinger, J. 149 Strauß 409 Strauß u. Torney, H. v. 113 Struve, W. 333, 335 f. Studders, H. 122 Studemund, W. 25, 36, 238, 250 Stuhrmann 33 Sunder, J. 150,163 ff., 174, 204 Sutter, P. 356 Talazko, H. 6 ff., 22 f., 79, 89, 226 Tennstedt, F. 11, 96, 99,127,160 Thadden, R. v. 2 Themel, K. 15 f., 197, 201, 203, 222, 236, 255 ff., 267 ff., 275 ff., 284 ff., 291 f., 294 ff., 299 ff., 307, 309 ff., 314, 353, 391 f., 451 Theobald, J. 48 Thiel, J. 138, 148f. Thiele, W. 86f. Thieme, W. 414 Thimme, F. 49 Thomä, J. 60,72 Thomann, K.-D. 328 Titius, A. 51, 54, 56f. Todt, R. 326 Traub, G. 57 Trendelenburg, F. 9, 254 Trommershausen, H. 52 Tuchel, J. 321 Uhlhorn, G. 63,76, 80 Ulbrich, M. 317f. Ulrich, F. 92, 169, 171, 259f„ 281, 284, 288, 295, 409 Verschuer, O. Frhr. v. 328 ff., 339 Vietor, J. 293, 352, 426, 436 f. Vietor, K. 29,33 Villinger, W. 354, 356 f., 369, 371 ff., 379, 383 f., 389

506

Register

Vöhringer, G. 12, 149f„ 157ff, 162, 170f., 173 ff., 182 f., 189 f., 192, 195,198ff, 202 ff. Völkl, R. 419 Vogel, F. 362 Voigts, B. 55 f. Vorländer, H. 13, 160, 186 Wachenheim, H. 108, 184f. Wagner, G. 363, 367, 374f., 377, 386 Wagner, H. 371 f., 376 Wagner, H. 414 Wahl, H. 244 Wauschkuhn, E. 326 Weber 122 Weber, O. 271 Wegener, R. 136 Weinel, H. 33 ff., 38 Weingart, P. 346, 454 Weiß, B. 31, 313 Wendelin, A. 92, 236, 250 f., 265, 272, 287, 294, 310, 312, 392, 403, 413, 415 Wenschkewitz, L. 393 Wenzel, Th. 238, 314, 392, 414f. Werner 114 Werner, F. 224, 269, 312, 417 f. Werner, P. 349 f., 371 f., 380 Werthmann, L. 103ff., 110, 115,147 Wetjen, J. 429 Wex, E. 166 Wichern, H. 318f., 352 Wichern, J. H. 4ff., 18, 22f., 27, 68f., 71 f., 74, 77 ff., 87 f., 98,209,227, 229,268,272, 318, 335, 421, 445 Wicht, H. v. 423, 436 f. Wiedemann, F. 205

Wienken, H. 134,165,192f., 198,200, 202, 217 Wilhelm II. 24,48 Wilm, H. 71 Winckler, P. 397f. Winterfeldt-Menkin, J. v. 116 f., 141 f., 168 Wirth, J. 167 Wischnath; J. M. 18,452 Wisseil, R. 161 Witt, Th. de 13,160, 167, 176, 186f. Wölz, O. 127,129 f., 148 f. Wolf, F. 325 Wolf, M. 380 Wolff, J. 287, 306 f. Wolfram, H. 96 Wollasch, A. 106 Wollasch, H.-J. 115, 123, 189,195, 211, 214 f., 222, 317, 321, 340, 346, 349, 355, 365, 428, 435, 437, 457 Wright, J. R. C. 71,255 Wronsky, S. 97,101 f., 106, 118, 121, 123, 191 Wülfing, B. 187 Wuermeling, B. 152 ff., 156 Wunderer, H. 178 Wurm, Th. 245 ff., 276, 305, 389 Zahn, F. 102 ff. Zeitler, R. 382 f. Zeller, Ch. H. 6 Ziegler, W. 238, 289, 310, 314, 392, 411, 413, 415, 437 Zieler, K. 44 Zimmermann, K. 22 Zoellner, W. 45 f., 54, 56 f., 72 ff., 78, 83, 242, 394ff.,401 ff, 410, 412, 417, 434, 445, 452

Studien zur Zeitgeschichte Band 27 Heinz Dieter Hölsken

Band 31 Wolfgang Zank

Die V-Waffen

Entstehung-PropagandaKriegseinsatz 1984. 220 Seiten. Band 28 Patrick Moreau

Nationalsozialismus von links

Die „Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten" und die „Schwarze F r o n t " 1930-1935 1985. 280 Seiten. Band 29 Marie-Luise Recker

Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg 1985. 325 Seiten.

Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland

1945-1949

Probleme des Wiederaufbaus in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1987. 214 Seiten. Band 32 Klaus Segbers

Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg

Die Mobilisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft im „Großen Vaterländischen Krieg" 1 9 4 1 - 1 9 4 3 1987. 314 Seiten. Band 33 Peter Longerich

Propagandisten im Krieg

Band 30 Michael Prinz

Die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop 1987. 356 Seiten.

Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen

Band 34 Kai-Uwe Merz

Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948-1959 1987. 264 Seiten. Band 35 Margit Szöllösi-Janze

Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn

Historischer Kontext, Entwicklung und Herrschäft 1 9 8 9 . 4 9 9 Seiten. Band 36 Clemens Vollnhals

Evangelische Kirche und Entnazifizierung

1945-1949

Die Last der nationalsozialistischen Vergangenheit. 1 9 8 9 . 3 0 8 Seiten.

Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit 1 9 8 6 . 3 6 2 Seiten.

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