Tatort Unternehmen: Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert 9783110422719, 9783110426731

This book uses major historical examples to investigate the connection between white-collar crime and corporations. The

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German Pages 180 Year 2016

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Inhalt
Wirtschaftskriminalität und Unternehmen – Eine Einführung
Von Watergate zur Compliance Revolution. Die Geschichte der Korruptionsbekämpfung in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1972 bis 2014
Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898
Wirtschaftskorruption in der Weimarer Republik? Der Verein gegen das Bestechungsunwesen und dessen Korruptionskommunikation
Wirtschaftskriminalität im „Dritten Reich“ – der DAF-Konzern als (untypisches) Fallbeispiel
Verhandelte Grenzüberschreitungen. Die Entwicklungstrends der deutschen Kartellrechtspraxis am Beispiel der Fernsehgeräteindustrie, 1950 bis 1990
Wirtschaftskriminalität als psycho- und soziopathologische Erscheinung. Der „Täter im weißen Kragen“ 1965 bis 1975
„Verhältnisse wie in Kolumbien“?. Der Münchner „Klärwerks-Skandal“ 1991 bis 2001 und die Siemens AG
Die Autorinnen und Autoren
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Tatort Unternehmen: Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert
 9783110422719, 9783110426731

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Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh, Thomas Welskopp (Hrsg.) Tatort Unternehmen

Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte von Jan-Otmar Hesse, Christian Kleinschmidt und Werner Plumpe

Band 28

Tatort Unternehmen Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert Herausgegeben von Hartmut Berghoff, Cornelia Rauh und Thomas Welskopp

ISBN 978-3-11-042673-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042271-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042279-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelbild: moodboard / thinkstock Satz: Konvertus B.V., Haarlem Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Thomas Welskopp Wirtschaftskriminalität und Unternehmen – Eine Einführung —— 1 Hartmut Berghoff Von Watergate zur Compliance Revolution Die Geschichte der Korruptionsbekämpfung in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1972 bis 2014 —— 19 Uwe Spiekermann Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898 —— 47 Volker Köhler Wirtschaftskorruption in der ­Weimarer Republik? Der Verein gegen das ­Bestechungsunwesen und dessen ­Korruptionskommunikation —— 68 Rüdiger Hachtmann Wirtschaftskriminalität im „Dritten Reich“ – der DAF-Konzern als (untypisches) ­Fallbeispiel —— 84 Sebastian Teupe Verhandelte Grenzüberschreitungen Die Entwicklungstrends der deutschen Kartellrechtspraxis am Beispiel der Fernsehgeräteindustrie, 1950 bis 1990 —— 102 Steffen Dörre Wirtschaftskriminalität als psycho- und soziopathologische Erscheinung Der „Täter im weißen Kragen“ 1965 bis 1975 —— 129 Cornelia Rauh „Verhältnisse wie in Kolumbien“? Der Münchner „Klärwerks-Skandal“ 1991 bis 2001 und die Siemens AG —— 151 Die Autorinnen und Autoren —— 173

Thomas Welskopp

Wirtschaftskriminalität und Unternehmen – Eine Einführung Es gibt weder eine einheitliche Definition noch eine fest umrissene Vorstellung von dem, was Wirtschaftskriminalität eigentlich genau ist. Das Bundeskriminalamt behilft sich, weil keine „Legaldefinition“ dieses Deliktsbereichs verfügbar sei, mit einem Katalog einschlägiger Straftaten. Auch das Landeskriminalamt Niedersachsen liefert auf seiner Website eine eher schwammige Umschreibung und benennt als „Wirtschaftskriminalität“ ungesetzliche ökonomische Aktivitäten „innerhalb von Wirtschaftsunternehmen, durch Wirtschaftsunternehmen oder zulasten von Wirtschaftsunternehmen“, um dann zu einer langen Liste von Gesetzesverstößen Zuflucht zu nehmen, die deutsche Gerichte wiederholt und z.T. auch grundsätzlich als Manifestationen von Wirtschaftskriminalität, als typische Delikte, behandelt und abgeurteilt haben.1 Es ist höchst fraglich, ob eine derartige Kasuistik der Klärung des Begriffs förderlich ist. Das ist umso mehr der Fall, als der fragliche Abschnitt mit den kryptischen Hinweisen endet, dass Wirtschaftskriminalität auch dem Staat oder dem generellen Volkswohl schaden kann und dass die Polizei Delikte als solche betrachtet, die ein besonderes kaufmännisches Wissen bzw. insgesamt professionelle Kenntnisse zu ihrer Aufdeckung erfordern. Eine Ratsuche beim FBI ergibt ein noch diffuseres Bild, wird auf dessen Website unter „Wirtschaftskriminalität“ doch alles zusammengefasst, was im Wirtschaftskreislauf „Lügen, Stehlen und Betrügen“ bedeutet, also eigentlich individuelle Sünden und Vergehen, die hier auf eine neoliberale Auffassung einer den Eigentümern verpflichteten Ökonomie projiziert werden, dann aber gerade den Schaden moralisch inkriminieren, der den Familien (einschließlich derer der Shareholders) dadurch entsteht und eine entschlossene Verfolgungsaktivität des FBI – aber welche? – rechtfertigt.2 Gerade die Verfolgungsbehörden zeichnen sich offenbar nicht durch begriffliche Klarheit aus, wenn es um „Wirtschaftskriminalität“ oder white-collar crime geht, deren ökonomische Bedeutung bzw. der Schaden, den sie für die Volkswirtschaften verursacht, seit geraumer Zeit so unablässig beschworen wird.3

1 www.lka.niedersachsen.de/kriminalitaet/deliktsbereiche/wirtschaftskriminalitaet/definition-wirtschaftskriminalitaet [letzter Zugriff: 17.9.2015]. 2 www.fbi.gov/about-us/investigate/white_collar [letzter Zugriff: 17.9.2015]. 3 Vgl. jetzt Stefanie Werner, Unternehmenskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Umfang, Merkmale und warum sie sich lohnt, Ostfildern 2014, bes. 11–13.

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Es ist aber im Sinne der wirtschaftshistorischen Analyse, die sich erst seit relativ kurzer Zeit mit dem Bereich der Wirtschaftskriminalität beschäftigt, zu einigermaßen trennscharfen Kategorien zu kommen.4 Man könnte versuchen, solche Kategorien aus der seit etwa zwei Jahrzehnten überbordenden Diskussion in der Philosophie und Soziologie über Devianz im ökonomischen Verhalten prominenter Akteure – Stichwort Wirtschaftsethik5 –, der wirtschaftssoziologischen Korruptionsforschung und der explodierenden juristischen Literatur im Rahmen der vor allem amerikanischen Entwicklung in Richtung Regulation und Compliance zu gewinnen.6 Auch die neuere Wirtschafts- bzw. Marktsoziologie hat zum Thema unter den Begriffen „illegale Märkte“ und „Wirtschaftsethik des Kapitalismus“ produktive Beiträge vorgelegt, ohne einer konzeptionellen Klärung wirklich in einem umfassenden Sinne vorzugreifen.7 Ich schlage hier eine klare Unterscheidung zwischen Wirtschaftskriminalität und „organisierter Kriminalität“ vor, auch wenn in der Berichterstattung der Medien diese Grenze nicht selten mutwillig verwischt wird in dem Bemühen, kriminellen Aktivitäten von Unternehmen moralische Abgründigkeit zu ­unterstellen (z.B. das Gerede von der „Schienen-Mafia“), und tatsächlich natürlich die „organisierte Kriminalität“ die legale Wirtschaft vielfältig infiltriert hat. Eine weitere hilfreiche Unterscheidung ist die zwischen Wirtschaftskriminalität und „kriminellen Organisationen“, die wiederum von der „organisierten Kri-

4 Jens Ivo Engels u.a. (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft. Zur Geschichte ethischen Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015; ders., Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014; siehe aber bereits Dietmar Petzina/Werner Plumpe, Unternehmensethik – Unternehmenskultur. Herausforderungen für die Unternehmensgeschichte?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (1993), 9–19; S. Douglas Beets, Critical Events in the Ethics of US Corporation History, in: Journal of Business Ethics 102 (2011), 193–219. Bald erscheinen werden zwei Beiträge von Historikern, die sich in Langzeitanalysen mit der amerikanischen und der internationalen Geschichte von Wirtschaftskriminalität in Konzentration auf Täuschung und Betrug („fraud“) beschäftigen: Edward J. Balleisen, Business Fraud: An American History, erscheint Princeton University Press 2016; Christopher McKenna, Partners in Crime, erscheint wahrscheinlich Oxford University Press 2016. 5 U.a.: Bernd Noll, Grundriss der Wirtschaftsethik. Von der Stammesmoral zur Ethik der Globalisierung, Stuttgart 2010; Karl Homann/Christoph Lütge, Einführung in die Wirtschaftsethik, ­Münster 2005. 6 Siehe z.B. Stephan A. Jansen/Birger P. Priddat (Hrsg.), Korruption. Unaufgeklärter ­Kapitalismus – Multidisziplinäre Perspektiven zu Funktion und Folgen der Korruption, Wiesbaden 2005; Birger P. Priddat/Michael Schmidt (Hrsg.), Korruption als Ordnung zweiter Art, Wiesbaden 2011. 7 Jens Beckert/Frank Wehinger, In the Shadow: Illegal Markets and Economic Sociology, in: ­Socio-Economic Review 11 (2013), 5–30; Jens Beckert, Die sittliche Einbettung der Wirtschaft. Von der Effizienz- und Differenzierungstheorie zu einer Theorie wirtschaftlicher Felder, in: Berliner Journal für Soziologie 22 (2012), 247–266.



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minalität“ geschieden werden müssen. Auch wenn Unternehmen fast sämtlich Organisationen im Sinne der aktuellen Organisationssoziologie sind, werden sie im Zuge ihres wirtschaftskriminellen Gebarens deshalb nicht zu „kriminellen Organisationen“. Diese Bezeichnung sollte organisierten Verbänden vorbehalten bleiben, die staatliche Funktionen legal übertragen bekommen, wie etwa die lokale Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols, und diese Stellung eines „organisierten Dritten“ (Georg Simmel) dann für kriminelle Zwecke missbrauchen.8 Die früheren US Government Contractors im Irak, Halliburton und Blackwater, sind beste Beispiele für „kriminelle Organisationen“ in diesem Sinne, die die Kriterien der Definition nicht deshalb erfüllen, weil sie als Wirtschaftsunternehmen verfasst waren, sondern weil sie ganz nach den Bestimmungen des Gesetzes staatliche bzw. hoheitliche Funktionen stellvertretend erfüllten und dafür auch legal auf die Androhung und Ausführung organisierter Gewalt zurückgreifen konnten. Der Begriff der „kriminellen Organisation“ bezieht sich somit immer auf legale, staatlich anerkannte und in Funktionen eingesetzte Institutionen, die kriminellen Aktivitäten nachgehen, im Gegensatz zu organisationsähnlichen Gebilden, die völlig außerhalb der politischen Sphäre operieren – ein Beispiel sind etwa verschiedene Spielarten der Bandenkriminalität. Warlordism ist in diesem Sinne ein Grenzfall zwischen „kriminellen Organisationen“ und „organisierter Kriminalität“, denn natürlich können auch „kriminelle Organisationen“ in der „organisierten Kriminalität“ tätig werden, die die Organisierung der kriminellen Aktivität spezifiziert, die Formierung der kollektiven Akteure dagegen offenhält, wobei die meisten in der „organisierten Kriminalität“ aktiven Gruppierungen das soziologische Kriterium der formellen Organisation nicht erfüllen.9 Eine dritte Unterscheidung scheint geboten, nämlich die zwischen Wirtschaftskriminalität und Korruption. Zumindest in der Bandbreite empirisch vorfindlicher Korruptionsphänomene muss man die Formen differenzieren und spezifizieren, die unter Wirtschaftskriminalität im Sinne dieser begrifflichen Einführung verstanden werden sollen. Ein Großteil von Korruption fällt nicht darunter. Wie Jens Ivo Engels „Geschichte der Korruption“ von der Frühen Neuzeit bis zum Aufstieg der Diktaturen im Europa der 1930er Jahre zeigt, war und galt dies als viel eher in der politischen Sphäre verankertes Phänomen.10 Ein ­politisches

8 Christopher Dorn/Thomas Hoebel, Mafias als organisierte Dritte. Mafias as organized third parties, in: Behemoth 6 (2013), 74–97. 9 Siehe etwa Jeremy Scahill, Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt, Reinbek bei Hamburg 32009. 10 Engels, Geschichte der Korruption (wie Anm. 4).

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Regime als „korrupt“ zu bezeichnen, bedeutete, ihm die Legitimität zu bestreiten und die eigene Legitimation der politischen Gegner – so z.B. während der amerikanischen Revolution, die den britischen König derartig diffamierte – darauf zu begründen. Auch ein populärer Politikstil von Parteien zog den Vorwurf der „Korruption“ auf sich – das ganze Konzept der „Demokratie“ stand im 18. und über weite Strecken des 19. Jahrhunderts, vor allem in England, unter Korruptionsverdacht. Der Liberalismus, der selbst mit seinem Transparenzversprechen gegen die monarchistische Höflings-, Günstlings- und Einflüsterungspraxis unter dem Feldbanner des Korruptionsvorwurfs in die Offensive gegangen war, geriet, zumal in Italien, aber auch in anderen Ländern, im Verlauf des 19. Jahrhunderts selber in den Geruch, vormoderne Muster des Klientelismus in ein neues bürgerliches Zeitalter der Patronage nahezu ungebrochen überführt zu haben – was historisch-empirisch sehr gut zu erhärten ist. Offenbar also hat der Korruptionsbegriff sein Zentrum im Politischen und meint dort die, oftmals klandestine, zuweilen aber auch unverschämt offene Diskrepanz zwischen dem Appell an Transparenz, Gleichheit vor dem Gesetz und unpersönliche Rekrutierung auf Ämter und Mandate einerseits und der durch und durch persönlichen Bedienung partikularer Interessen andererseits. Formen der Korruption in der Wirtschaftskriminalität haben sich im historischen Rückblick und auch in der aktuellen Rundumschau ganz wesentlich an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft herausgebildet, sobald diese sich als eigenständige Funktionssysteme auszudifferenzieren begannen. Man kann dies auf drei Arten deuten, die jeweils brauchbare Teilwahrheiten hervorzuheben erlauben: Erstens dient Korruption im Ausdifferenzierungsprozess zwischen Politik und Wirtschaft der Kompensation verlorengegangener traditioneller Personenverflechtungen durch ihre klandestine und oftmals jetzt monetär geeichte Restrukturierung symbiotischer Netzwerke. Am Beispiel der „organisierten Kriminalität“, aber nicht nur, und am amerikanischen Fall vom späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist dies in allen Details empirisch zu beobachten.11 Zweitens ist Korruption in Fällen geschwächter Staatlichkeit oder gar von „failed states“ das Mittel der Wahl, das beide Seiten – die politische wie die wirtschaftliche – zusammenbringt, weil es politische und rechtliche Rahmen, die für alle wirtschaftlichen Bewerber gelten könnten, nicht gibt oder sie nicht im Entferntesten durchgesetzt werden können. Hier bewährt sich Birger P. Priddats Konzept – eigentlich eher Aperçu als Konzept – von der Korruption als „Ordnung zweiter

11 Thomas Welskopp, „Honest Graft“ – „Ehrbare Bestechung“. Korruption als Medium der ­Politik in US-amerikanischen Städten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen, Göttingen 2010, 221–245.



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Art“, die sich dort entfaltet, wo es keine Ordnung „erster Art“, also durch Recht und Gesetz, gibt. Das ist eine letztlich systemtheoretisch motivierte funktionale, nicht moralische oder ethische Deutung des Phänomens.12 Priddat beschränkt seine Vermessung des korrupten Feldes aber nicht auf Fälle geschwächter oder versagender Staatlichkeit. Auch in weithin funktionierenden Arbeitsteilungen zwischen politischem System und Wirtschaft gibt es drittens Formen wirtschaftskrimineller Korruption. Sie dienen dort, an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft, ebenso wie bei den „failed states“ der Verschiebung allgemeiner Wettbewerbsbedingungen zugunsten partikularer ökonomischer Interessen. Die Frage ist, wer genau der Korruption bezichtigt werden kann. Im Grunde genommen, ist ganz traditionell die Politik die „korrupte“ Seite, während sich individuelle Wirtschaftsakteure „korrumpierend“ betätigen und, wie Priddat nicht eben elegant formuliert, als „Korrupteure“ aktiv werden. Korruption als spezifisches Element der Wirtschaftskriminalität sollte dann hauptsächlich jene Formen in den Blick nehmen, die als illegale Wettbewerbsinstrumente eingesetzt werden, um sich in der Konkurrenzsituation ökonomische Vorteile zu verschaffen. Dies geschieht etwa durch Beschaffung von Informationsvorsprüngen mittels Bestechung, durch die „Bilateralisierung“ der Beziehung zu potentiellen Auftraggebern mittels Vorteilsgewährung oder durch die Personalisierung und Informalisierung der Kontakte zu staatlichen oder sonstigen öffentlichen Institutionen und Organisationen, die als Auftraggeber oder Lizenzgewährende in Frage kommen. Korruption in dieser Form ist Bestandteil der kapitalistischen Arbitrage; aus Sicht der Neuen Institutionenökonomie taugt sie dazu, Transaktionskosten zu reduzieren, weil sie unvorteilhafte Informationsintransparenzen abbaut und vorteilhafte Informationsasymmetrien gegenüber Mitbewerbern aufbaut.13 Darüber hinaus ist jedoch auch ein wirtschaftsinterner Korruptionssektor entstanden, der sich vor allem in unternehmerischen Großorganisationen eingenistet hat. Großeinkäufer innerhalb von Konzernen oder andere Akteure in unternehmerischen Netzwerken, die relativ frei von interner Kontrolle und auf eigene Initiative hin handeln können bzw. sogar müssen (hier tritt das ­Principal/­Agent-Problem auf), gewähren gerade kleinen und mittleren Zulieferern Aufträge nur gegen Bestechung oder so genannte kickbacks auf Aufträge, wobei die letzteren letztlich die Großfirma zugunsten des V ­ orteilsnehmers finanziell schädigen. Es dürfte interessant sein, solche Erscheinungen einmal

12 Birger P. Priddat, Korruption als second-life-economy, in: ders./Schmid (Hrsg.), Korruption als Ordnung zweiter Art (wie Anm. 6), 61–73, hier 63. 13 Ramond Fisman/Edward Miguel, „Economic Gangsters“. Korruption und Kriminalität in der Weltwirtschaft, Frankfurt a.M. 2009.

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historisch-­systematisch zu verfolgen, weil hier die partikularen Interessen von Zulieferern und Angestellten der Großorganisation zusammentreffen, die tatsächlich der Fiktion eines transparenten Marktes und einer rationalen, kontrollierten Unternehmensführung widersprechen. Die geldwerte „Pflege“ des politischen und juristischen Umfelds gegen ein konkretes quid pro quo dagegen, also einer finanziellen Leistung einzelner Unternehmen für ein zumindest retrospektiv spezifizierbares Regierungshandeln ist zwar auch ein wesentlicher Zweck der Bestechungsversuche legaler Wirtschaftsunternehmen, um sich ein gesetzlich günstiges und verfolgungsfreies Handlungsfeld zu verschaffen; sie ist aber nicht für sie spezifisch. Für die „organisierte Kriminalität“ ist diese Form der Korruption dagegen Bestandteil ihrer Definition, da die kriminellen Aktivitäten – abgesehen von der Androhung und Ausübung von Gewalt – nur auf diese Weise vor staatlicher Verfolgung auf mittlere Sicht geschützt werden können. Korrumpierung in einem umgekehrten Sinne ist dagegen ein führendes Kennzeichen „krimineller Organisationen“, die freilich tendenziell mit allen drei jetzt vorgestellten Formen von Korruption zu arbeiten gelernt haben, und das bereits seit dem Übergang zur Moderne. Was aber dann ist Wirtschaftskriminalität? Im angelsächsischen Sprachraum gibt es eine langewährende Diskussion um Begriffe wie economic crime, business crime, financial crime, white-collar crime, corporate crime und occupational crime. Vor allem im englischen Sprachgebrauch umfasst economic crime sämtliche Spielarten der Wirtschaftskriminalität im engeren Sinne, also finanziell m ­ otivierte Delikte, die im Vereinigten Königreich spezifischer als financial crime bezeichnet werden, aber eben auch einen weiten Kranz von beabsichtigten oder unbeabsichtigten Verstößen von Unternehmen etwa gegen Umwelt- oder Sicherheitsbestimmungen. British Rail beispielsweise wurde aufgrund seiner katastrophalen Sicherheitsbilanz in den 1990er Jahren schon wegen manslaughter (­Totschlag) verurteilt. In den USA scheint der Begriff  business crime die gängigste semantische Hülle für das zu sein, was wir unter Wirtschaftskriminalität fassen. Allerdings wird es auf einer konkreteren Ebene komplizierter, da dort zwischen white-collar crime und corporate crime, neuerdings statt white-collar crime eher occupational crime, unterschieden wird. Die Geschichte dieser Kategorien macht die grundlegenden Differenzen zur deutschen Debatte deutlich. White-­ collar crime wurde zuerst durch den amerikanischen Soziologen Edwin H. Sutherland in einem Vortrag von 1939 als „ein Verbrechen“ definiert, das „von einer respektablen Person von hohem sozialem Status in der Ausübung ihres Berufs begangen“ wird.14 Ganz deutlich wird hier in der Begriffsanstrengung des an der

14 Edwin H. Sutherland, White Collar Crime, New York 1949.



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University of Chicago ausgebildeten Soziologen, der sich viel mit jugendlicher Delinquenz in Einwandererghettos und also mit der sozialen Basis der „organisierten Kriminalität“ in den USA beschäftigt hatte, das Bemühen zu zeigen, dass nicht nur Angehörige von Sozialgruppen niederer Herkunft anfällig für kriminelle Aktivitäten waren, sondern sich auch Vertreter des anerkannten und respektierten Establishments „mit weißem Kragen“, die nur andere Gelegenheiten in anderen sozialen Umgebungen zu ihren Ausflügen in die Illegalität nutzten, wie in einer sozialen Homologie ebenfalls für kriminelle Anreize empfänglich zeigten. Nach Sutherland war Kriminalität damit nicht eine horizontale Schicht, ein Bodensatz der Gesellschaft, sondern eine vertikale Peripherie im Gesellschaftsaufbau, die sich im Hinblick auf die soziale Position im Klassengefüge von ganz unten bis ganz oben durchzog. Ebenso wichtig war Sutherland, diese auf den ersten Blick „kultivierten“ Formen der wirtschaftlichen Delinquenz von Geschäftsleuten, Managern und höheren Angestellten eben auch als crime darzustellen, das mit dem amerikanischen Strafrecht zu ahnden sei. Vorstöße, die Verfolgung solcher Delikte auf das Privatrecht und damit auf finanziellen Schadenersatz (tort law) zu beschränken, um damit der Stigmatisierung der Verurteilten als Kriminelle vorzubeugen, erteilte Sutherland eine klare Absage, gerade weil er diese Gesetzesverstöße als „Verbrechen“ im klassischen Sinne ansah und sich bei der Begründung auf die moralischen Prinzipien des common law berief. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Begriffstradition in Deutschland, wo man white-collar crime auch zwanglos mit „Kavaliersdelikten“ übersetzen könnte, was zeigt, dass Wirtschaftskriminalität hier lange Zeit weit weniger moralisch diskreditiert war als im angelsächsischen Raum. Dort aber wäre die Übertragung mit „Kriminalität“ sicher immer noch ein Euphemismus, weil crime nun einmal „Verbrechen“ heißt und damit auch Wirtschaftsdelikte moralisch mit Mord und Totschlag („Kapitalverbrechen“) gleichstellt.15 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zum deutschen Sprachgebrauch besteht in der Kategorie des corporate crime, das hier, soweit ich sehe, noch keine Entsprechung gefunden hat. Während white-collar crime finanziell motivierte illegale Aktivitäten individueller „Geschäftsleute und Regierungsagenten“ bezeichnet, zielt die Kategorie corporate crime auf die Erfassung ­systematischer Gesetzesverstöße „eines Wirtschaftskonzerns […] oder von ­Individuen, die im Namen eines Wirtschaftskonzerns oder [irgend] einer anderen Geschäftsform“ handeln, ab. Das bedeutet, dass white-collar crime in einem Geschäftsumfeld um

15 Edwin H. Sutherland, Is „White Collar Crime“ Crime?, in: American Sociological Review 10 (1944), 132–139, hier 133, 139.

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sich greifen kann, ohne das Unternehmen als solches zu involvieren, ja, auch auf seine Kosten erfolgen kann, während corporate crime die illegalen Aktivitäten eines gesamten Unternehmens beschreibt bzw. solche, die Einzelne oder Gruppen zum Vorteil des Unternehmens als Organisation und Entität ins Werk setzen.16 Diese Unterscheidung ist möglich geworden, weil Konzerne (­corporations) im amerikanischen Rechtssystem nicht nur im Zivilrecht, sondern auch im Strafrecht als „Rechtspersonen“ betrachtet werden. Seit einer Präzedenzentscheidung des US Supreme Court von 1886 genießen Konzerne den Schutz, den der vierzehnte Verfassungszusatz zur ­US-Constitution gewährt („due process of law“, „equal protection of the laws“), der sie aber auch als rechtliche Körperschaft wie eine individuelle Rechtsperson im Falle eines Verstoßes zur Rechenschaft zieht.17 Das ist ein bedeutender Unterschied zu Deutschland, wo Unternehmen Rechtspersonen im Zivilrecht sind, aber nicht im Strafrecht. Das deutsche Rechtssystem kennt kein Unternehmensstrafrecht. Die Verurteilung kriminellen Handelns setzt immer den Nachweis individueller Schuld voraus, was die Verfolgung von Delikten, die in Unternehmen begangen wurden, in vielen Fällen aufgrund der nicht nachweisbaren Verantwortung unmöglich macht. Zumeist behelfen sich deutsche Gerichte mit dem Ordnungswidrigkeitenrecht, dessen Bußen aber weit hinter denen des Strafrechts zurückbleiben. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Schuldsprüche gegen Manager zweier Stahlkonzerne, die sich im so genannten „Schienenkartell“, einem getarnten Zusammenschluss zum Zweck der illegalen Preisabsprache, der vor allem die Deutsche Bahn um einen dreistelligen Millionenbetrag schädigte, betätigt hatten. Die im August 2015 abgeschlossenen Gerichtsverfahren wurden z.T. durch private Nebenklagen der beschuldigten Konzerne gegen diese Manager auf Schadenersatz begleitet. Bei Siemens wurden alle Strafverfahren gegen angeklagte Manager gegen die Zahlung von Bußgeldern eingestellt, die die ermittelten Formen des Fehlverhaltens zu Ordnungswidrigkeiten herabstuften. Das Konzept des corporate crime scheint seinen Ursprung in der amerikanischen Progressive Era zu haben oder, wie Sutherland behauptet, in der Weltwirtschaftskrise, jedenfalls in Phasen, in denen sich das Image des Wirtschaftskon­ istorischen Tiefständen bewegte. Die Konstruktion scheint allerdings zerns auf h für die Compliance Revolution seit den späten 1990er Jahren mit verantwortlich gewesen zu sein. Gelang es doch so, die Interessen der Gesamtkonzerne, denen

16 U.S. Department of Justice, Federal Bureau of Investigation, White Collar Crime. A Report to the Public, Washington, D.C. 1989, 3. 17 Richard A. Booth, What is a Business Crime?, Villanova University School of Law Working Paper Series No. 98, 2007, www.law.bepress.com/villanovalwps/art98 [letzter Zugriff: 17.9.2015].



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irreparabler finanzieller Schaden drohte, und die der in ihnen beschäftigten Einzelpersonen – Manager, leitende Angestellte, die illegale Aktivitäten lange Zeit im Sinne des Unternehmens, aber offiziell unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der zentralen Geschäftsführung betrieben hatten – gegeneinander auszuspielen, weil nun das strategische Management für Missgriffe verantwortlich gemacht werden konnte, auch wenn die obere Geschäftsetage hartnäckig leugnete, von den Machenschaften ihrer Untergebenen gewusst zu haben. Die Compliance Revolution hat dabei sicher widersprüchliche Signale ausgesandt. Denn zum einen hat sich die Untersuchungs- und Verfolgungspraxis in den USA seit den 1970er Jahren stark ausgeweitet, zum anderen sind die Zahlen außer- oder vorgerichtlicher finanzieller settlements, verbunden mit dem erklärten Vorsatz der Unterlassung inkriminierter Praktiken in der Zukunft sowie der Einrichtung von compliance regulations innerhalb der Unternehmen, ebenso stark gestiegen. Für amerikanische Unternehmen hat sich die praktische Ausgestaltung des Unternehmensstrafrechts im Grunde als ein wenn nicht willkommener, so doch praktikabler Chancenrahmen erwiesen, personellen Strafverfolgungen einzelner Manager möglichst weitgehend und möglichst schon im Vorfeld etwaiger Straf- und Schadensersatzprozesse zuvorzukommen. Für deutsche Unternehmen wie etwa Siemens dagegen ergibt sich fast ein umgekehrtes Bild, dass nämlich die Anerkennung der Kriterien des amerikanischen Unternehmensstrafrechts eine notwendige Bedingung für die Beibehaltung des Zugangs zum amerikanischen Markt geworden ist, während die einigermaßen neue unnachgiebige Haltung der amerikanischen Rechtsbehörden gegenüber Korruption und anderen kriminellen Wirtschaftspraktiken sich aus dem Motiv der Abwendung von weltweiten Wettbewerbsnachteilen für US-Unternehmen speist, was sich dann im Umkehrschluss auf deren globale Konkurrenz ausgeweitet hat. Man hat sich also dieser Rechtsprechungspraxis „freiwillig“ unterworfen, ohne dafür nach deutschem Recht die verantwortlichen Manager hierzulande anders als durch zivilrechtliche Prozesse zur Rechenschaft zu ziehen, die häufig in Vergleiche mündeten. Strafrechtliche Verfolgungen endeten fast vollständig mit einem Freispruch.18 Die Unterscheidung zwischen corporate crime und occupational crime in der amerikanischen Rechtsterminologie und Kriminologie scheint auf eine Umorientierung von einer moralischen auf eine funktionale Betrachtungsweise hinzudeuten, wobei corporate crime auf kollektive, occupational crime auf individuelle Tatbestände, ungeachtet des Rangs der Delinquenten in der Firmenhierarchie, verweist. Ob sich das bewährt, bleibt eine offene Frage, denn jetzt kommen auch

18 Siehe den Beitrag von Hartmut Berghoff in diesem Band.

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Deliktgruppen wie cybercrime, „Identitätsdiebstahl“ und „Produktfälschung“ unter das Dach der Kategorie Wirtschaftskriminalität, die fraglos nicht von hochrangigen Managern, oft nicht einmal im Rahmen ausgeprägter wirtschaftlicher Organisationsstrukturen begangen werden müssen, vielleicht aber doch sinnvoller in einer spezifischen eigenen Begrifflichkeit – etwa „Netzkriminalität“ – erfasst werden sollten. Denn der moralisch motivierte Fokus auf Vertreter des wirtschaftlichen Establishments hat durchaus seine Vorteile für eine Schärfung der Definition. Von der „organisierten Kriminalität“ unterscheidet sich Wirtschaftskriminalität in erster Linie dadurch, dass letztere gewaltfrei abläuft und in der Regel auch nicht von der Androhung physischen Zwangs begleitet wird.19 Darüber hinaus aber scheint es zentral hervorzuheben, dass sich Wirtschaftskriminalität – ganz gleich ob als kollektiver, organisationsbezogener oder individueller Tatbestand – aus der Mitte einer legalen Geschäftsaktivität in legalen Märkten und reguliert durch allgemein bekannte und akzeptierte Gesetze und Anordnungen entfaltet. Im Gegensatz dazu bewegt sich „organisierte Kriminalität“ außerhalb der legalen Wirtschaft und schafft illegale Märkte, die es ohne ihre Initiative nicht gäbe.20 Wirtschaftskriminalität unterläuft, unterminiert und kompromittiert legale Regelsysteme, die es aber geben muss und die überwiegend auch funktionieren müssen, damit sie als solche überhaupt auftreten kann. Ebenso sind Wirtschaftskriminelle in der Regel legal erscheinende, anerkannte Professionelle – hier der Rückbezug zu Sutherlands Definition – die eben einen Teil ihrer Aktivitäten klandestin am legalen Regelsystem vorbei betreiben. Unter Wirtschaftskriminalität fielen somit illegale ökonomische Aktivitäten für einen individuellen oder kollektiven, organisationsbezogenen finanziellen Vorteil, die innerhalb einer funktionierenden legalen Ordnung betrieben werden, ohne diese damit als Ganzes zu bedrohen oder außer Kraft zu setzen.21 Das lässt es als sinnvoll erscheinen, Wirtschaftskriminalität vor allem als eine Erscheinung der Moderne zu betrachten, in der es zu einer Ausdifferenzierung des Funktionssystems „Wirtschaft“ gekommen ist, und hierbei vornehmlich an

19 Jay S. Albanese, Models of Organized Crime, in: Handbook of Organized Crime in the United States, hrsg. von Robert J. Kelly u.a, Westport, CN 1994, 77–90. 20 Thomas Welskopp, „Die im Dunkeln sieht man nicht“: Systematische Überlegungen zu ­Netzwerken der Organisierten Kriminalität am Beispiel der amerikanischen Alkoholsyndikate der Prohibitionszeit, in: Hartmut Berghoff/Jörg Sydow (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Organisationsform mit Zukunft?, Stuttgart 2007, 291–317. 21 Diana Ziegler, Wirtschaftskriminalität im Geschäftsleben. Eine empirische Untersuchung formeller und informeller Handlungsstrategien von Unternehmen am Beispiel Deutschlands, BadenBaden 2010.



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kapitalistische Systeme zu denken, für die das Recht, wie in der ordoliberalen Marktwirtschaft vorgesehen, einen ordnenden und regulierenden Rahmen setzt. Wirtschaftskriminalität setzt also zentral ein entwickeltes und auch durchsetzbares Zivil- und Strafrecht voraus, sodass „schwache“ oder failed Staaten nicht für diese Kategorie qualifizieren. Dort mag wirtschaftlich vieles im Argen liegen, was man aber Gewinn bringender als Korruption oder gar organisierten Raub analysiert, und die Verfolgung derartiger Aktivitäten nimmt in Diktaturen nicht selten die Form personeller politischer Machtkämpfe an, inklusive Schauprozessen und ­Hinrichtungen. Zugleich wirft eine solche eher enge Definition zum einen die interessante Frage auf, ob und inwieweit Wirtschaftskriminalität dem kapitalistischen System endemisch ist. So beruhen die zentralen Delikte der Wirtschaftskriminalität auf der betrügerischen Ausnutzung von Informationsasymmetrien – gewissermaßen einer pervertierten Form von Arbitrage –, während Arbitrage ansonsten eine geradezu konstituierende operative Form kapitalistischen Wirtschaftens ist, die nicht in Frage steht und trotz der zentralen Rolle, die Informationsunterschiede auch hier einnehmen, nicht zwingend einer der beteiligten Seiten zum Schaden gereichen muss. Da kapitalistische Wirtschaft einen Modus der Auslösung ökonomischer Aktivitäten darstellt, der auf dem Vorgriff auf zukünftige Resultate, also  auf Erwartungen basiert, sind hier die Situationen der Ungewissheit und unvollkommener Information für die Handelnden, deren privates Gewinnstreben das System dazu ausdrücklich prämiert, besonders zahlreich.22 Man kann vielleicht mit guten Gründen vermuten, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem dadurch der Wirtschaftskriminalität spezielle Anreize liefert, ohne als Ganzes in die Kriminalität abzugleiten. Obwohl die Zahlen zuweilen zu erschrecken vermögen, bleibt Wirtschaftskriminalität doch ein – wenn auch nicht unerhebliches – Randphänomen im gesamten Pool wirtschaftlicher Transaktionen. Ein weiterer Grund dafür, der systemischen Affinität von Kapitalismus und Wirtschaftskriminalität vertiefte Aufmerksamkeit zu widmen, könnte die Konstruktion des rechtlichen Norm- und Regelrahmens liefern, in den dann hochgradig individualisierte, ökonomisch gleichsam liberalisierte Aktivitäten eingebettet sind, gerade ohne dass diese einem ständigen „Monitoring“ durch Dritte unterliegen. Auch das hieße freilich letztlich, in dem Hiatus zwischen Rechtsrahmen und ­ökonomischem Handlungsfeld einen kriminellen Chancenraum zu erkennen, nicht aber einen kritischen Systemfehler zu konstatieren. Im Gegensatz zur „wirtschaftskriminellen Arbitrage“ besteht das ökonomische Prinzip der

22 Jens Beckert, Capitalism as a System of Expectations: Toward a Sociological Microfoundation of Political Economy, in: Politics and Society (2013), 323–350.

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„­organisierten Kriminalität“ aus rent-seeking activities, d.h. aus der Herrschaft über Gebietsmonopole und der Eintreibung illegaler Steuern – für beides ist die glaubhafte Androhung und effektive Ausübung von Gewalt unabdingbare Voraussetzung.23 Zum anderen bedeutet die Einbettung von Wirtschaftskriminalität in funktionierende Regel- und Ordnungssysteme unter Umständen, dass sie – gesetzt den Fall, dass sie tatsächlich verfolgt wird – dort besonders hoch ist, wo die Regelungsdichte ebenfalls hoch ist. Nach dem Motto „Pass a law – create a crimewave“ sind es die gesetzlichen Bestimmungen, die die Grenzen zwischen nichtkriminellen und kriminellen Verhaltensweisen ziehen. Die hochschnellende Zahl von Verfahren gegen Unternehmen in den USA – das neueste Beispiel ist der „Abgasskandal“ von Volkswagen, strafrechtlich in den USA ein Fall von Betrug (fraud) – ist nicht zuletzt Konsequenz einer rasant steigenden Regulierungsdichte, die sich in Verordnungen und Gesetzen, nach Seiten bemessen, pro Jahr um mehrere Tausend erhöht.24 So konnten etwa nach dem Sherman Act von 1890 in den USA Trusts, also verzweigte Konzerne, zerschlagen werden, wenn sie Monopolstellung zu erringen drohten, und Kartelle waren illegal. Im Deutschen Reich dagegen waren Kartelle lange Zeit legal, und ihre Geltung konnte sogar vor den Gerichten eingeklagt werden. Die gleichen Aktivitäten, die in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts Tatbestände des corporate crime darstellten, galten in Deutschland zur selben Zeit als durch und durch ehrenwert. In der Bundesrepublik Deutschland dagegen wurde eine Kartellgesetzgebung erlassen, die das gleiche Vorgehen nunmehr untersagte und Verstöße unter Strafandrohung stellte. Trotzdem gab es auch in der jungen Bundesrepublik, vor allem im Konsumgütersektor, verborgen aber auch weiterhin in den Investitionsgüterindustrien, kartellartige Absprachen, die sich in der Regel auf die Festsetzung von Preisen bezogen. Aber diese jetzt illegalen Praktiken wurden argwöhnisch beobachtet und zuweilen empfindlich sanktioniert.25 Die Kartellgesetze gehören zu den Wettbewerbsgesetzen. Das ist für unsere Fragestellung insofern bemerkenswert, als die Kerndelikte der Wirtschaftskriminalität spätestens seit der Durchsetzung der Shareholder-Philosophie mit dem Ziel definiert und verfolgt wurden, die Anteilseigner, also die Besitzer im

23 Jay S. Albanese, Organized Crime in America, Cincinnati, OH 1985, 6; Welskopp, „Die im Dunkeln sieht man nicht“ (wie Anm. 19), 295. 24 Hartmut Berghoff, From the Watergate Scandal to the Compliance Revolution. The Fight against Corporate Corruption in the United States and Germany, 1972–2012, in: Bulletin of the German Historical Institute 53 (2013), 7–30. 25 Siehe den Beitrag von Sebastian Teupe in diesem Band.



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rechtlichen Sinne, des eigenen Unternehmens oder die anderer Unternehmen zu schützen. Das Kartellrecht ist hier ein Hybrid, da es unmittelbar Konkurrenten und mittelbar die Verbraucher vor übermäßiger Marktmacht und Monopolpreisen bewahren soll. Eine weitere interessante Perspektive eröffnet das deutsche „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (UWG), das ursprünglich (1894) aus einem Markenschutzgesetz erwuchs. Nach der Erweiterung auf weitere Fallgruppen unlauteren Wettbewerbs 1896 trat 1909 eine Neuregelung in Kraft, die dem Gesetz seinen heutigen Wortlaut gab. Dort war in einer Generalklausel klar ausgeführt, dass dieses Recht dem Schutz der Konkurrenten, nicht aber des Verbrauchers dienen sollte. Das hat sich mittlerweile geändert, denn nach der letztgültigen Fassung von 2004, die nach wie vor keine andere allgemeine Definition des „unlauteren Wettbewerbs“ enthält als die, dass dies ökonomische Aktivitäten umfasse, die gegen die „guten Sitten“ verstießen, sind Deliktgruppen dort zusammengefasst, die mit „Kundenfang, Behinderung, Ausbeutung, Rechtsbruch und Marktstörung“ sehr wohl verbraucherzentrierte Verstöße einbeziehen. Inwieweit das Wirtschaftskriminalität ist, bleibt gleichwohl zu debattieren – und in der wirtschaftshistorischen Forschung auch empirisch nachzuverfolgen. Eine vergleichende Untersuchung des Wettbewerbsrechts und des Verbraucherschutzes steht jedenfalls noch aus. Die Wirtschaftssoziologie, vor allem in Gestalt der „Neuen Marktsoziologie“, schlägt vor, den Komplex der Wirtschaftskriminalität unter das Konzept der „illegalen Märkte“ zu subsummieren. Jens Beckert und Frank Wehinger unterscheiden dabei vier nicht ganz trennscharf zu scheidende Typen „illegaler Märkte“, nämlich erstens Märkte für illegale Güter wie etwa harte Drogen oder trinkbaren Alkohol zu Zeiten der Prohibition, zweitens Märkte für Produkte und Waren, die legal sind, aber deren Austausch auf Märkten gegen das Gesetz verstößt – das primäre Beispiel hier ist der Organhandel – drittens Märkte für den Absatz gestohlener oder gefälschter (Marken-)Produkte, sowie viertens schließlich den Handel mit Waren unter Umgehung und Verletzung geltender rechtlicher Regeln und Regulierungen. Die Manipulation von Abgaswerten in Dieselfahrzeugen von Volkswagen bei Tests fiele genau in diesen vierten Typus.26 Das Gemeinsame an allen Typen „illegaler Märkte“ lokalisieren Beckert und Wehinger in drei charakteristischen Koordinierungsproblemen, die sowohl den Grad der Öffentlichkeit als auch die Ausdehnung solcher Märkte so stark begrenzen, dass sie nicht über die Expansions- und Diversifizierungspotenziale legaler ­ arenwerts Märkte verfügen können: Erstens ist in der Regel die Bestimmung des W unklar, zumindest undurchsichtig und deshalb nicht in einer klassischen

26 Beckert/Wehinger, In the Shadow (wie Anm. 7), 9–14.

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K ­ onkurrenzsituation kommunikationsfähig. Zweitens ergibt sich eine intransparente Konkurrenzsituation, wobei es den beteiligten wirtschaftlichen Einheiten schwerfällt, Wettbewerb zu kontrollieren oder im besten Fall einzuhegen. Drittens schließlich fällt das Bemühen um die loyale Kooperation aller Marktbeteiligten im Fall „illegaler Märkte“ notwendig vom Vertrauen auf institutionelle Regelungen auf Vertrauensbeziehungen innerhalb personeller Netzwerke zurück, deren Expansionsfähigkeit notwendig begrenzt ist. Dies sehen Beckert und Wehinger denn auch eher als ein retardierendes Element, einen Rückfall auf vormoderne Vertrauensregimes, was „illegalen Märkten“ insgesamt einen rückwärtsgewandten Anschein verleiht.27 Die Fassung wirtschaftskrimineller Aktivitäten als „illegale Märkte“ verspricht einige Vorteile. Auf diese Weise lassen sich z.B. Verstöße gegen das Umweltrecht unter Markttyp vier: dem systematischen Verstoß gegen Regeln, Regulierungen und Grenzwerte, mit unternehmerischer Praxis in Verbindung bringen. Das scheint mir der Hauptvorteil dieses Konzepts zu sein. Dagegen gerät die Unterscheidung von Akteuren eher ins Zwielicht, denn die Typen eins und zwei suggerieren eine Nähe zur „organisierten Kriminalität“, während diese Einführung unter „Wirtschaftskriminellen“ ja gerade legal beschäftigte und in ihrem Geschäft weithin anerkannte Akteure innerhalb von legal auftretenden Unternehmen verstehen will. Außerdem sind nicht alle Vergehen, die unter das Rubrum „Wirtschaftskriminalität“ fallen, in strengem Sinne Marktaktivitäten. Ist der Verstoß beispielsweise gegen Umweltauflagen ein Marktgebaren oder eher ein dieses flankierendes, gewissermaßen illegal deckendes Unterfangen? Zumindest aber sollte man diesen Ansatz als weiterführend in der Diskussion halten. Die Frage nach der Unternehmens- oder Wirtschaftsethik führt schließlich noch einmal auf das Problem zurück, wie endemisch Wirtschaftskriminalität dem kapitalistischen System ist. Die wirtschaftsethische Diskussion seit den 1990er Jahren hat dabei stets darauf abgehoben, dass ethisches Wohlverhalten, also das Handeln nach positiven Normen, kapitalistisches Wirtschaften sehr wohl bestimme, und zwar nicht erst, seitdem der Begriff der „Unternehmensethik“ in der Welt war.28 Während „[r]eines Handeln nach marktkonformen Regeln mit dem Ziel der Gewinnmaximierung […] moralisch defizitär“ sei, würden bereits seit der Industrialisierung „zusätzliche Handlungsmaximen eingefordert“, von außen, der Gesellschaft her, aber ebenso aus dem Inneren der Unternehmen,

27 Ebd., 13–21. 28 Jens Ivo Engels/Julian Ostendorf, Geschichte von Unternehmensethik schreiben. Konzeptuelle Überlegungen zu Akteuren und Arenen, Manifestationen und Geltungsbereichen, in: Engels u.a. (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft (wie Anm. 3), 23–42, hier 25.



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die nach entsprechend wahrgenommenen Marktsituationen ethisches Verhalten als ökonomisch rational begriffen.29 Laut der neoklassischen Theorie ist rationales Marktverhalten aber nicht „moralisch defizitär“, sondern ethisch indifferent. Das ist sogar Element der Kerndefinition in der neoklassischen Theorie, die von normfreier Nutzenmaximierung ausgehen muss, um den Wirtschaftsprozess überhaupt schlank und schlüssig modellieren zu können.30 Anders gelagert ist der Fall in der durchaus zynischen Definition des Kapitalismus durch Wolfgang Streeck: „Der Kapitalismus ist eine moderne Gesellschaft, die ihre kollektive Reproduktion als unbeabsichtigte Nebenwirkung individuell rationaler, kompetitiver Profitmaximierung zum Zweck privater Kapitalakkumulation sicherstellt – vermittels eines ‚Arbeitsprozesses‘, der privates Kapital mit kommodifizierter Arbeitskraft kombiniert, um so die Mandeville’sche Verheißung der Verwandlung privater Laster in öffentliche Güter wahr werden zu lassen.“31 Der Verweis auf das Paradoxon Bernard Mandevilles (private vices produzierten public benefits), das dieser schon 1714 publik machte, ist eine durch und durch moralische Anklage, die dem ethisch völlig indifferenten, ja Amoralität der Akteure zwingend unterstellenden, Wirtschaftsgeschehen („individuell rationale Profitmaximierung zum Zweck privater Kapitalakkumulation“) einen gesellschaftsreproduzierenden Systemeffekt als „unbeabsichtigte Nebenfolge“ gegenüberstellt und somit auf einen Grundwiderspruch kapitalistischer Ökonomien hinweist. Man kann mit guten Gründen bestreiten, der „Kapitalismus“ sei als Gesellschaftsformation zu bezeichnen, was eine flächendeckende Durchdringung allen sozialen Handelns mit diesem grundlegenden Handlungsprinzip der privaten Bereicherung implizieren würde. Aber das ist hier nicht das Thema. ­Vielmehr steckt in Streecks Schärfe der moralische Vorwurf, dass private Nutzenmaximierung durchweg das Stigma der Schurkenhaftigkeit in sich trägt. Wir wissen, dass Adam Smith auf die private Nutzenfunktion für die Sicherung des Gemeinwohls setzte, dabei aber davon ausging, dass die Wirtschaftsakteure allesamt tugendhaft seien oder durch staatliche Maßnahmen zur Tugend erzogen werden könnten. Bei Max Weber war es die Überführung extrem tugendhafter Moralstandards in sich selbst regulierende Verfahren, die dafür sorgte, dass der moderne Kapitalismus eine nicht kriminelle Veranstaltung war. Mandevilles Pointe dagegen ist die

29 Ebd., 23, 25. 30 Beckert, Die sittliche Einbettung (wie Anm. 7), 248f. 31 Zit. in: Andreas Zielcke, Institutionell dumm. Die Frage ist nicht, ob der Kapitalismus stirbt, sondern wie. Gründe wären die Ausbeutung des Staates, der Krieg gegen das Klima, vor allem aber der Verlust des sozialen Fundaments. Die Elite isoliert sich. Der Rest darbt, in: Süddeutsche ­Zeitung (19.3.2015), 11.

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Behauptung, dass nicht amoralisches Handeln in Markttransaktionen, sondern unmoralisches Handeln die unbeabsichtigten Folgen zeitigte, die die Reproduktion der Gesamtgesellschaft irgendwie hervorbrächten – ohne jede Garantie auf künftige Wiederholbarkeit. Die unausgesprochene Konsequenz von Streecks Formulierung des Problems wäre für ein historisches Interesse an der Wirtschaftskriminalität die wenig hilfreiche Generalverdächtigung aller am kapitalistischen Wirtschaftsprozess Beteiligter als potentiell kriminell. Fast als ein Gegenentwurf präsentiert sich Jens Beckerts Plädoyer dafür, aus soziologischem Blickwinkel die Wirtschaft als immer schon und strukturell notwendig „sittlich eingebettet“ zu betrachten – im Gegensatz zur ökonomischen Theorie und vielfältiger traditioneller soziologischer Ansätze wie etwa der Systemtheorie, die sämtlich der „Entbettung“ des Wirtschaftssystems aus Normenkomplexen das Wort redeten und damit der ökonomischen Argumentation ­aufsäßen.32 Stattdessen führt er als inhärente ethische Elemente im kapitalistischen Wirtschaftsprozess die „marktermöglichende Sittlichkeit“ auf, die z.B. das Vertrauen auf die Vertragstreue von Marktpartnern beinhaltet, die „marktbegleitende Sittlichkeit“, die die Einstellung auf die sich historisch wandelnden moralischen Präferenzen etwa von potentiellen Kunden meint, sowie die „marktbegrenzende Sittlichkeit“, die regelt, was zu welchem Zeitpunkt überhaupt als marktgängiges Produkt gehandelt werden darf. Hier geht es also um Markttabus.33 Beckert schlägt letztlich vor, Marktaktivitäten mit dem Pierre Bourdieu’schen Feldbegriff zu fassen, was sie auf prinzipielle Konflikthaftigkeit („Konkurrenz“ als „Kampf“), auf die beteiligten Akteure und deren jeweilige Normorientierung zuschneiden würde. Das ist eine naheliegende Strategie, Marktinteraktionen soziologisch statt in neoklassischem Sinne ökonomisch zu fundieren und insofern hochwillkommen. Dieser Versuch, das kapitalistische Marktgeschehen ethisch „einzubetten“, ändert aber nichts an der Tatsache, dass man in diesem Marktgeschehen unter Umständen ethisches Verhalten beobachten kann und dieses wiederum ethische Maßstäbe als Effekt, als „unbeabsichtigte Nebenwirkung“, reproduziert, das Marktgeschehen selbst aber keine ethischen Maßstäbe schafft, sondern im Zweifelsfall eher dazu tendiert, sie auszuzehren.34 Allerdings führt das für die Verortung von Wirtschaftskriminalität im kapitalistischen System auch nicht bedeutend weiter. Wirtschaftskriminalität ­repräsentiert

32 Beckert, Die sittliche Einbettung (wie Anm. 7), 248ff. 33 Ebd., 250ff. siehe auch Monika Dommann, Markttabu, in: Christof Dejung/­Monika ­Dommann/ Daniel Speich Chassé (Hrsg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische ­Annäherungen, Tübingen 2014, 183–205. 34 Beckert, Die sittliche Einbettung (wie Anm. 6), 261f.



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ja, genau genommen, nicht die Abwesenheit ethischer Standards bei den beteiligten Akteuren, sondern kann sich auch an moralischen Normen orientieren, die ­ riminell gelten. selber zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten als k Das haben Dietmar Petzina und Werner Plumpe schon 1993 am Beispiel der NSÖkonomie überzeugend gezeigt.35 Systematisch scheint mir daher einiges dafür zu sprechen, vom grundlegend opportunistischen Charakter der kapitalistischen ­Wirtschaftsweise auszugehen. Das hat erst einmal nichts mit Kriminalität zu tun. Aber wenn man den in der Tat ethisch indifferenten Markttausch als Grundbedingung annimmt – bei allen „Ethiktheorien“ kommen die Normen ja aus Sicht des engsten Bereichs der Markttransaktionen von außen –, könnte man die Konstellation eines möglichen strukturellen Widerspruchs zwischen einem externen Opportunismus von Unternehmen, der sich an gesellschaftlichen Normen orientiert, vor allem soweit sie umworbene Kundenmärkte betreffen, und einem internen Opportunismus in Betracht ziehen, der sich auf die Unternehmensziele eines optimalen Ertrags und eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens erstreckt. Je weiter diese zwei Formen von Opportunismus auseinanderdriften – eine historisch kontingente Situiertheit vorausgesetzt –, desto logischer erscheint die Einlagerung wirtschaftskrimineller Netzwerke und Handlungsstrukturen in Unternehmen als Möglichkeit. Wirtschaftskriminalität entsteht nach einem solchen Modell dann, wenn unternehmensintern zwischen widerstreitenden Anforderungen vermittelt werden und dies in eine unternehmerische Handlungsstrategie umgesetzt werden muss, ohne dass der Widerspruch offen zum Thema gemacht werden kann. Dann ducken sich die – nach außen oft anonymen – Verantwortlichen in den Unternehmen gewissermaßen unter den konfligierenden Normen, Regeln, Interessen und Verhaltenserwartungen weg, um ein wirtschaftliches Ergebnisoptimum zu erreichen, das die Regelverstöße nach innen und außen kaschiert, bis ein Skandal sie aufdeckt.36 Dabei ist es belanglos, ob es sich um Wirtschaftskriminalität im Interesse eines ganzen Unternehmens oder um die Bereicherungsmöglichkeiten individueller Mitarbeiter handelt. Sowohl bei Siemens als auch bei Volkswagen haben die kriminell Handelnden das Wohl des Gesamtunternehmens mit ihrem ­persönlichen Eigenschutz identifiziert, was der immense Erfolgsdruck im Zeichen des Shareholder Value entscheidend beförderte. Dabei ist freilich hervorzuheben, dass Loyalitätskonflikte gegenüber widersprüchlichen Opportunitätszielen auch innerhalb von

35 Petzina/Plumpe, Unternehmensethik (wie Anm. 4), 12f., 17. 36 Rainer Hank/Georg Meck, Nützliche Kriminalität. Der VW-Skandal ist längst nicht so überraschend, wie jetzt alle Überraschten tun. Das Muster des Betrugs folgt einer zwingenden Logik. Wer meint, alles sei lediglich das Werk von ein paar kriminellen Entwicklern, täuscht sich, in: ­Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (4.10.2015), 23.

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Unternehmen auftreten können und einen – dann kriminellen – Opportunismus des geringsten Widerstandes begünstigen. Das scheint gerade bei Volkswagen der Fall gewesen zu sein: „Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, da dachten sie bei Volkswagen, zu einem vernünftigen Preis einen ‚Clean Diesel‘ bauen zu können. Einen Motor, der nicht mehr dreckig ist und der so auch in den strengen USA zum Erfolg fährt. Deutsche Ingenieurskunst kann das, so die Vorgabe. Die VW-Techniker versuchten es über viele Monate. Aber sie mussten erkennen: Mit einfachen, mit herkömmlichen Mitteln war das nicht möglich. Zwar hätte es Möglichkeiten gegeben. Doch die Kosten für eine saubere Lösung […] waren den Managern offenbar zu hoch. Diskutieren sei zwecklos gewesen, das Eingestehen des Scheiterns ebenso, erzählen Leute aus dem Konzern […].“37 Solche Fälle verweisen sehr wohl auf eine Systemspezifizität des Kapitalismus, nämlich die prinzipielle Subjektivation der handelnden Akteure in kapitalistischen Unternehmen, die verantwortlich und auf eigene Initiative hin handeln müssen, trotzdem aber gegenüber einem Management und dessen Hintergrundinteressen (Aufsichtsrat, Aktionäre) rechenschaftspflichtig sind, was sie unter unbedingten – und eben z.T. widersprüchlichen – Erwartungsdruck setzt. Kapitalismus ist keine Befehls- und Anordnungswirtschaft, sondern funktioniert nach dem System von Anreizen und Drohungen, die Leistung – initiative Eigenleistung – hervorbringen sollen. Im Fall von Volkswagen resultierte daraus technischer Betrug, aber auch die Spekulationsblase von finanziellen Derivatverkäufen vor dem Finanzcrash könnte auf solche internen Opportunitätskonflikte hindeuten – gute Boni für den Verkauf weniger als halbseidener Finanzprodukte – ein anscheinend augenzwinkerndes Komplizentum zwischen den operativen Stellen in den Unternehmen und dem Management, bis etwas Skandalöses herauskommt. Diese institutionellen Notlagen können wiederum für eine individuelle Bereicherung zumindest zeitweilig ausgenützt werden, etwa indem operativ tätige Angehörige des Unternehmens dadurch mangelnde Anerkennung zu kompensieren versuchen oder für den Druck widersprüchlicher Verhaltenserwartungen eine Art Vergeltung ausüben wollen. Ungeachtet der Frage der zur Debatte stehenden ethischen Normen im fortlaufenden Wirtschaftshandeln wäre damit auch die Frage geklärt, warum die beteiligten Akteure eventuell ein schlechtes Gewissen, in der Regel aber kein ­Unrechtsbewusstsein an den Tag legen.

37 Thomas Fromm/Max Hägler/Volkmar Kabisch, Unverfroren. Während der künftige VW-­Aufsich­ tsratschef von einer „existenzbedrohenden Krise“ spricht, werden neue Details aus der Abgas-­ Affäre bekannt. Warnungen wurden ignoriert, Ingenieure gaben sich gegenüber Prüfern ­arrogant, in: Süddeutsche Zeitung (5.10.2015) 19.

Hartmut Berghoff

Von Watergate zur Compliance Revolution Die Geschichte der Korruptionsbekämpfung in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, 1972 bis 2014 „Time is running out for the merchants of crime and corruption in American society.“ Mit diesen Worten nahm Richard Nixon 1968 seine Nominierung als Präsidentschaftskandidat an.1 Nixon wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wie Recht er haben sollte, auch wenn sich diese Vorhersage in einem ganz anderen Sinn bewahrheiten sollte, als er glaubte. 1968 wurde der Republikaner Nixon zum 37. Präsidenten der USA und 1972 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt, die für ihn und das Land zu einem Alptraum werden sollte. Die unangefochtene weltwirtschaftliche Dominanz der USA ging zu Ende, nicht nur, aber auch als Folge des Vietnamkrieges. Steigende Arbeitslosigkeit, Inflation sowie Handelsbilanzdefizite und ein erheblicher Abwertungsdruck auf den Dollar hatten Nixon schon 1971 veranlasst, dessen Golddeckung aufzukündigen. Der anschließende Wertverlust sowie die anhaltende Wachstumsschwäche bei hoher Inflation versetzten dem Selbstbewusstsein der USA einen schweren Schlag. Nixons Strategie, den Sieg in Vietnam herbei zu bomben und den Luftkrieg auf Laos sowie den Bodenkrieg auf Kambodscha auszuweiten, erwies sich als folgenschwerer Fehler. Innenpolitisch erreichte der Antikriegsprotest einen Höhepunkt. Über mehrere Universitäten wurde das Kriegsrecht verhängt, und Armee und Nationalgarde gingen brutal gegen Studenten vor. Zugleich zeichnete sich die demütigende Niederlage der militärischen Supermacht gegen das kleine Land Nordvietnam ab. Die Bürgerrechtsbewegung und andere ­liberal-progressive Strömungen befanden sich im Aufwind, so dass sich die Situation der Afroamerikaner und anderer Minderheiten zu verbessern begann, sehr zum Verdruss der Konservativen einschließlich Nixon. Zeitgleich gewannen kritische, linksliberale Medien an Einfluss. Investigativer J­ ournalismus enthüllte 1971 das Massaker von

1 www.watergate.info/1968/08/08/nixon-accepts-republican-nomination-for-president.html [letzter Zugriff: 20.10.2012].

Anmerkung: Dieser Beitrag ist die Übersetzung einer überarbeiteten und erweiterten Version von Hartmut Berghoff, From the Watergate Scandal to the Compliance Revolution. The Fight against Corporate Corruption in the United States and Germany, 1972–2012, in: Bulletin of the German Historical Institute 2 (2013), 7–30.

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My Lai. Die Veröffentlichung der Pentagon-Papers in der New York Times belegte systematische Lügen der Regierung. Nixon seinerseits fühlte sich von Feinden umstellt und entwickelte geradezu paranoide Züge. In diesem Klima begann 1972 der Präsidentschaftswahlkampf.2 Der Gegenkandidat der Demokraten, George McGovern, machte es Nixon leicht und trieb mit Vorschlägen zur radikalen Vermögensumverteilung, der Kürzung des Militäretats und der Legalisierung von Marihuana die Mitte der USGesellschaft in die Arme des republikanischen Amtsinhabers, dessen Wiederwahl daher ungefährdet war. Trotzdem wollte Nixon auf schmutzige Tricks nicht verzichten. Das Committee to Re-elect the President (CREEP) setzte darauf, den politischen Gegner mit allen Mitteln zu schädigen und strotzte vor krimineller Energie. Am 17. Juni 1972 wurden als Klempner verkleidete CREEP-Mitarbeiter dabei erwischt, wie sie in der Parteizentrale der Demokraten im Washingtoner Watergate-Komplex Abhöranlagen installierten.3 Damit begann eine Regierungskrise, wie es sie seit dem Bürgerkrieg nicht gegeben hatte. Nixon bestritt, irgendetwas mit dem Einbruch zu tun zu haben. Zugleich erkaufte er mit Bestechungsgeldern das Schweigen der Beteiligten und nutzte seine Macht, um Untersuchungen der Vorfälle durch das FBI zu verhindern. Unterdessen wurde Nixon im November 1972 mit großer Mehrheit wiedergewählt. In den Monaten danach kam ein Detail seiner Machenschaften nach dem anderen ans Tageslicht. In dieser Phase schreckte er nicht davor zurück, die Justiz massiv zu behindern. So wies er den amtierenden Justizminister an, den Sonderankläger des Watergate-Falles zu entlassen, woraufhin ersterer im Oktober 1973 zurücktrat. Die dann doch erfolgte Entlassung des Sonderanklägers sowie der Rücktritt von Vizepräsident Agnew, der als Gouverneur von Maryland Bestechungsgelder von Firmen für Regierungsaufträge angenommen und Steuern hinterzogen hatte, schädigten die Reputation der Regierung. Es war der erste ­Rücktritt eines Vizepräsidenten seit 1832.4 Im Februar 1974 begann das Repräsentantenhaus, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Nixon zu prüfen, im Juli wurde ein solches Verfahren empfohlen. Gleichwohl hielt Nixon fast bis zum Schluss daran fest zu leugnen, obwohl er am 5. August die Tonbandaufzeichnungen seiner Telefonate herausgeben musste und ­ eherrschung nun der letzte Beweis für seine Drahtzieherei und seine virtuose B der Fäkalsprache erbracht war. Trotzdem: Noch am 7. August verweigerte er den Rücktritt. Nachdem man ihm aber deutlich gemacht hatte, wie das Verfahren aus-

2 Vgl. Jeffrey P. Kimball, Nixon‘s Vietnam War, Lawrence, Kansas, 1998, 40–258. 3 Stanley Kutler, The Wars of Watergate: The Last Crisis of Richard Nixon, New York 1990. 4 James T. Patterson, Grand Expectations: The United States, 1945–1974, New York 1996, 771ff.



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gehen würde, nämlich mit seiner Amtsenthebung, gab er klein bei. Am 9. August trat er als erster Präsident in der Geschichte seines Landes zurück. Anders als 25 Mitglieder seiner Administration entging er nur dadurch einer Gefängnisstrafe, dass ihn sein Nachfolger, Gerald Ford, begnadigte. Nixon erhielt ein, so Ford, „full, free, and absolute pardon […] for all offenses against the United States which he […] has committed or may have committed […] during the period from January 20, 1969“.5 Das betraf nicht nur Watergate, sondern gleich alle möglicherweise noch gar nicht bekannt gewordenen Verbrechen. Die Institutionen des Staates und die politische Klasse der USA nahmen so schwersten Schaden, international und im eigenen Land.

Von Watergate zum Business Watergate Watergate wurde zum Ausgangspunkt eines langen Feldzuges gegen die Korruption im Wirtschaftsleben, deren Bekämpfung heute auf der Prioritätenrangliste der US-Regierung gleich hinter der Terrorismusbekämpfung rangiert. Vor 1973 hatte sich niemand wirklich an der Auslandskorruption von Konzernen gestoßen. Watergate setzte aber eine Bewegung in Gang, die nach 1990 in eine Compliance Revolution mündete und die Parameter unternehmerischen Handelns fundamental veränderte. Bei der Aufklärung des Watergate-Skandals wurde festgestellt, dass USUnternehmen wie 3M, American Airlines und Goodyear illegale Zahlungen an CREEP geleistet hatten und dafür geheime Offshore-Konten unterhielten. Viele andere nutzten solche Konten für verdeckte Wahlkampfspenden. Weitere Untersuchungen ergaben, dass noch zahlreiche andere Unternehmen solche Konten unterhielten und sie in der Regel auch zur Bestechung im Ausland verwendeten. Das erregte die Aufmerksamkeit der Börsenaufsicht Securities and Exchange Commisson (SEC). Stanley Sporking, Leiter der SEC Division of Enforcement, verfolgte die Watergate Hearings im Fernsehen und traute seinen Ohren nicht. Für ihn  bestand das größte Problem der Offshore-Konten und der Auslandsbestechung nicht in der politischen, fiskalischen oder moralischen Brisanz, sondern in der Täuschung der Aktionäre der Unternehmen, denen diese Zahlungen ja verborgen blieben. Falsche Bilanzen sind für die SEC und den Kapitalmarkt ein ­gravierendes Problem, denn Investitionsentscheidungen können

5 www.watergate.info/1974/09/08/text-of-ford-pardon-proclamation.html [letzter Zugriff: 20.10. 2012].

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dadurch verzerrt und ­Aktionäre geschädigt werden. Diesen Ansatz nennt man auch „disclosure perspective“.6 Die SEC konfrontierte weitere Unternehmen mit Nachfragen, ­woraufhin 150 börsennotierte US-Aktiengesellschaften die Bestechung ausländischer Amtspersonen und die Existenz schwarzer Kassen für Schmiergelder zugaben. Je mehr Firmen die SEC befragte, desto größer wurde die ­Dimension. 1976/77 waren ca. 500 US-Unternehmen mit fragwürdigen Zahlungen bekannt. Auslandsbestechung kam eigentlich bei fast allen großen US-Unternehmen vor. Der linksgerichtete Think Tank Council on Economic Priorities listete 1976 über 300 Mio. Dollar schwarzer Zahlungen auf. Das Ausmaß der Bestechung überstieg alle Erwartungen. Es kam zu einem öffentlichen Aufschrei in den USA und im Ausland, und der Begriff „Business Watergate“ fand Verbreitung.7 Im linken politischen Lager ließen sich leicht Argumente dafür finden, dass es sich hier um ein systeminhärentes Phänomen des Kapitalismus handelte, das dieses Wirtschaftssystem demaskiere und delegitimiere. In den 1960er und 1970er Jahren gab es in der westlichen Welt starke antikapitalistische und antiamerikanische Strömungen.8 Das Vertrauen in das Establishment war in weiten Teilen der US-Bevölkerung nach Watergate ohnehin erschüttert. Die kritische Öffentlichkeit griff das Thema Bestechung daher begierig auf, schien es doch alle Vorurteile zu bestätigen, die insbesondere gegen multinationale Unternehmen im Umlauf waren. Senat und Repräsentantenhaus führten 1975 und 1976 mehrere Anhörungen zum Thema Auslandsbestechung durch, zu denen auch zahlreiche Vorstandsvorsitzende von Großunternehmen vorgeladen wurden.9 Eine treibende Kraft war der demokratische Senator Frank Church, der sich als einer der ersten Senatoren in den 1960er Jahren gegen den Vietnamkrieg ausgesprochen hatte. Als führender Außenpolitiker verlieh er der Debatte eine andere, wirkungsvollere Stoßrichtung als Sporking und die SEC. Korruption, so die „foreign policy perspective“, schade dem Ansehen und der Macht der USA und nutze vor allem den Feinden

6 Vgl. Alejandro Posadas, Combating Corruption Under International Law, in: Duke Journal of Comparative & International Law 2 (2000), 345–414. 7 Ausführlich mit weiterer Literatur ebd. u. Andrew Brady Spalding, Unwitting Sanctions: ­Understanding Anti-Bribery Legislation as Economic Sanctions Against Emerging Markets, in: Florida Law Review 2 (2010), 351–427, hier 359–366 u. 384–396. Siehe auch Wall Street Journal (2.10.2012). 8 Siehe Martin Klimke, The Other Alliance: Student Protest in West Germany and the United States in the Gobal Sixties, Princeton 2009; Patterson, Expectations (wie Anm. 4), 442ff. und 710ff. sowie John Morton Blum, Years of Discord, 1961–1974, New York 1991. 9 Eine komplette Auflistung aller Anhörungen findet sich bei Posadas, Combating Corruption (wie Anm. 7), 350.



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Amerikas. Die Verbündeten der USA würden durch die von US-Unternehmen ­verbreitete Korruption geschwächt. 1976 formulierte er im Senat plakativ: „Payments by Lockheed alone may very well advance the communists in Italy. […] The Communist bloc chortles with glee at the sight of corrupt capitalism.“10 Die Führungsmacht des Westens diskreditiere sich selbst, und das war im Kalten Krieg ein sehr wirkungsmächtiges und zudem keineswegs aus der Luft gegriffenes Argument. Im frostigen Klima der Blockkonfrontation war es völlig inakzeptabel, ja ein geradezu kaum vorstellbarer Skandal, dass US-Unternehmen nicht davor zurückschreckten, selbst kommunistische Politiker zu bestechen. Der junge Senator Joe Biden, von 2009 bis 2016 Vizepräsident der USA, berichtete 1976 im Senatsausschuss zu „Foreign and Corporate Bribes“ von seiner Erfahrung im Subcommittee on Multinational Corporations of the Foreign Relations Committee, das sich 1975 ebenfalls mit dem Thema Korruption befasst hatte, denn Bestechung „directly flies in the face of our own foreign policy“. Eine Anhörung von Vertretern von US-Multinationals habe ergeben, dass deren Bestechungsgelder oft dazu dienten, Mitbewerber aus den USA in anderen Ländern auszustechen. In einem Fall habe ein CEO ausgesagt, dass der einzige Grund „why he was involved in one European country was to keep free enterprise going in that country and the need to work against the advancement of communism […] That’s the reason why they gave money to these other political parties.“ Biden hatte dann, mehr spaßeshalber, gefragt: „How much did you contribute to the Communist Party?“ Die Antwort war ebenso überraschend wie haarsträubend: „The faces sort of blanched and the attorney turned to the President of the corporation and conferred a second and said, ‚Well, $ 88,000.‘“11 Der Unternehmer verstrickte sich in den Widerspruch zwischen der geläufigen antikommunistischen Rhetorik und den Fakten seines Handelns. Es bestand kein Zweifel daran, dass solche Doppelzüngigkeit und überhaupt finanzielle Zuwendungen an Kommunisten „and other shady characters in far-off countries“12 schlechterdings unerträglich waren, zumal im paranoiden Klima des Kalten Krieges. Das Protokoll dieser Anhörung enthüllt übrigens auch, dass Außenminister Henry Kissinger darauf gedrungen hatte, „that recipients of corporate bribes not

10 Congressional Record, Vol.-122, Part 10, 94th Congress, 2nd Session, 12.604f. (5.5.1976). www. archive.org/stream/congressionalrec122eunit#page/n1204/mode/1up [letzter Zugriff: 24.10.2012]. 11 Foreign and Corporate Bribes Hearings Before the Senate Committee on Banking, Housing, and Urban Affairs, 94th Cong., 2nd Session, 3.133 (1976), 44 und 45 (Joseph Biden, Jr). 12 Ebd., 40 (George Ball, Lehman Bros).

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be disclosed because they might embarrass officials of friendly governments“.13 Bereits beim Lockheed-Fall hatte Kissinger – ebenfalls ohne Erfolg – interveniert, um die Akten vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Dahinter stand die Überlegung, so der Vorsitzende des Komitees, dass einige der Bestechungsgelder im direkten Interesse der USA gewesen seien, da die CIA amerikanische Unternehmen zuweilen als Tarnung benutzt habe, um unauffällig Gelder an ausländische Regierungspolitiker zu schleusen, „in order that they who are friendly with this country stay in office“.14 Ein von Church geleiteter Unterausschuss des Senats befasste sich 1975/76 unter anderem mit dem Flugzeughersteller Lockheed, der 1971 von der US-­ Regierung durch einen 250 Mio.-Dollar-Kredit vor dem Bankrott gerettet worden war. Es stellte sich heraus, dass Lockheed seit den 1950er Jahren Regierungen und hohe Beamte im Ausland, darunter wichtige Nato-Partnerländer, systematisch bestochen hatte. Dieser Skandal zog weite Kreise. In den Niederlanden kam es zu einer Verfassungskrise, als der schwer belastete Prinz Bernhard nur dadurch einer parlamentarischen Untersuchung und einem Gerichtsverfahren entging, dass Königin Juliana mit ihrem Rücktritt drohte. Allerdings legte der Prinz alle öffentlichen Ämter nieder. In Japan wurde Premierminister Tanaka 1976 verhaftet und 1983 verurteilt. Ernest Hauser, der frühere Lockheed-Lobbyist in Bonn, sagte 1975 vor dem Ausschuss des Senats aus, dass der deutsche Verteidigungsmister Franz Josef Strauß und die CSU 1961 mindestens 10 Mio. Dollar für den Kauf von 916 Kampfjets des Typs Starfighter für die Bundesluftwaffe erhalten hätten. Die vorgelegten Beweisdokumente erwiesen sich jedoch als Fälschung. Die Starfighter wurden ab 1961 zum Teil aus den USA importiert, zum Teil von einem Konsortium deutscher Flugzeughersteller in Deutschland in Lizenz gefertigt. Der Lizenzbau war eine wichtige Komponente des Wiederaufbaus der deutschen Luftfahrtindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Medien verspotteten die Starfighter in den frühen 1960er Jahren aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit (292 Abstürze, 116 tote Piloten zwischen 1961 und 1989) als „Witwenmacher“, bevor sie durch Konstruktionsverbesserungen sicherer wurden. Strauß wurde den Ruf des korrupten „Starfighters aus Bayern“, so ein Buchtitel, nie mehr los.15 Der ­Bundesrechnungshof rügte 1969 die überteuerte Beschaffung des unausgereiften Fluggeräts. Hauser zog seine Behaup-

13 Ebd., 42 (William Proxmire, Committee Chair). 14 Ebd., 45 (William Proxmire, Committee Chair). 15 Ludwig Börst, Der Starfighter aus Bayern. Biografisches um Franz Josef Strauß in Versen, Lollar 1976. Allgemein zur Affäre Wolfgang Schmidt, Starfighter/Lockheed, in: Stiftung Haus der G ­ eschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, ­Bielefeld 2007, 76–85.



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tung später nach einer Klage von Strauß zurück. Die Anschuldigungen konnten niemals aufgeklärt werden, da die Akten 1969 im Verteidigungsministerium vernichtet worden waren. Im Bundestagswahlkampf von 1980, bei dem Strauß Kanzlerkandidat war, kochte das Thema aufgrund der Enthüllungen in den USA erneut hoch. Zugleich wurde eine von Lockheed bezahlte Reise von Manfred Wörner, der von 1982 bis 1988 Bundesverteidigungsminister werden sollte, bekannt. In Italien wurden diverse frühere Regierungsmitglieder einschließlich Premierminister Rumor beschuldigt, ebenso wie der amtierende Staatspräsident Leone, der 1978 zurücktrat. Weitere Lockheed-Skandale kamen u.a. in Saudi-Arabien, Schweden, Mexiko und der Türkei ans Tageslicht. Der Imageschaden für die USA war unermesslich.16 Ein vom amerikanischen Steuerzahler am Leben gehaltenes Unternehmen sorgte dafür, dass dem Antiamerikanismus die Munition nicht ausging und die Regierungen der wichtigsten Verbündeten destabilisiert wurden. Ein anderer spektakulärer Fall wurde unter dem Label „Bananagate“ bekannt. Gegen United Brands (Marke Chiquita) – das Nachfolgeunternehmen von United Fruit – lief 1975 ein Ermittlungsverfahren der SEC, in dessen Verlauf der CEO, Eli Black, aus seinem Büro in einem New Yorker Hochhaus in den Tod sprang. United Brands hatte dem Honduranischen Präsidenten, General Oswaldo López Arellano, 1,25 Mio. Dollar Schmiergelder gezahlt und dieselbe Summe für das Folgejahr zugesagt. Die Operation, die über Schweizer Banken lief, wurde vom Finanzminister Abram Bennaton Ramos persönlich betreut. Den Hintergrund bildete ein 1974 gegründetes Kartell der Bananen exportierenden Staaten Kolumbien, Costa Rica, Ecuador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama. Sie wollten ihren armen Ländern nach 20 Jahren Preisstagnation durch eine kräftige Erhöhung der Exportsteuer einen größeren Anteil am Bananengeschäft sichern. Damit forderten sie das Oligopol von United Brands, Standard Fruit und Del Monte heraus. Honduras verdoppelte 1974 die Steuer. Nach der Bestechung nahm das Land die Erhöhung wieder zurück, wodurch United Brands 7,5 Mio. Dollar Steuern einsparte. Noch wichtiger: Die Bestechung ließ das Kartell kollabieren. Im Zuge der Untersuchung wurde auch herausgefunden, dass United Brands seit 1970 italienische Beamte mit 0,8 Mio. Dollar bestochen hatte, um Einfuhrrestriktionen zu verhindern. Die Europäische Gemeinschaft, in der United Brands einen Marktanteil von 40 Prozent hatte, stellte zudem gravierende Missbräuche der Marktstellung fest.17

16 Vgl. David Boulton, The Grease Machine: The inside Story of Lockheed’s Dollar Diplomacy, New York 1978. 17 Thomas P. Anderson, Politics in Central America: Guatemala, El Salvador, Honduras, and ­Nica­ragua, Westport, CT 1988, 127–170. Vgl. auch Der Spiegel (12.5. und 7.7.1975) und Newsweek (21.4.1975).

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Nach geltendem Recht war die im Ausland ausgeübte Korruption in den USA keineswegs strafbar. Es handelte sich lediglich im Sinne der „disclosure perspective“ um eine „book and records violation“, denn die Bestechungsgelder liefen ja nicht ordnungsgemäß durch die Bücher. United Brands bat das State Department übrigens vergeblich, den Fall vertraulich zu behandeln, um Schaden von Land und Unternehmen abzuwenden. Nach Bekanntwerden brach in Honduras ein Aufstand gegen die Militärregierung aus, in dessen Verlauf eine andere Militärjunta an die Macht kam und United Brands teilweise enteignet wurde.18 Ein anderer gravierender Fall war die Zahlung von 4 Mio. Dollar, die Gulf Oil angeblich nach massiver Aufforderung durch einzelne Politiker an die südkoreanische Regierungspartei DRPRK gezahlt hatte. Das Unternehmen hatte zugleich einem bolivianischen Präsidentschaftskandidaten den Kauf eines Helikopters ermöglicht.19 1975 veröffentlichte der demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus, Leslie Aspin Jr., der später als Verteidigungsminister im Kabinett der Regierung Clinton saß, eine Liste mit Zahlungen von 20 Unternehmen, die beschuldigt wurden oder zugegeben hatten, zusammen 306 Mio. Dollar an dubiosen Zahlungen geleistet zu haben. Die Liste wurde dominiert von Rüstungs- und Ölkonzernen und angeführt von Lockheed (229 Mio.), Exxon (50), N ­ orthorpe (30) und Gulf Oil (5).20 In den diversen Anhörungen gaben die meisten Unternehmen diese Zahlungen zu, aber verteidigten sie mit den folgenden Argumenten: Bestechungsgelder erschienen ihnen als alternativlos, um Geschäftsbeziehungen in den betreffenden Ländern aufrechtzuerhalten. Oft behaupteten Manager auch, dass sie die Demokratie schützen wollten, indem sie die richtigen Politiker unterstützten. Zudem erklärten sie, dass es sich bei Bestechung in dem jeweiligen Land um eine allseits akzeptierte Praxis handelte. Dortige Parteien und Amtsträger übten starken Druck aus, indem sie Steuererhöhungen zulasten von US-Konzernen, die Verweigerung von Lizenzen und sogar die Verstaatlichung androhten.21

18 Vgl. Steve Striffler/Mark Moberg, Banana Wars, Durham, NC 2003; Thomas P. McCann, On the Inside, Beverley, Mass. 1987. 19 Siehe Hearings before the Subcommittee on Multinational Corporations of the Senate Committee of Foreign Relations, 94th Congress 5 (1975), 9 und 11. 20 Siehe Lewis D. Solomon/Leslie G. Linville, Transnational Conduct of American Multinational Corporations: Questionable Payments Abroad, in: Boston College Law Review 3 (1976), 303–345. 21 Eine Zusammenfassung dieser Argumente ebd., 305f.



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Die Entstehung des Foreign Corrupt Practices Act (1977) Im Kontext des Kalten Krieges waren diese Zustände unhaltbar geworden, zumal Medien und kritische Öffentlichkeit die politische Brisanz zusätzlich steigerten.22 Die Weltmacht USA delegitimierte sich im Grunde genommen selbst. Im März 1976 setzte Präsident Gerald Ford daher eine hochrangig besetzte Taskforce ein, schreckte jedoch vor der vorgeschlagenen Kriminalisierung der Bestechung ausländischer Amtsträger zurück. Der Vorschlag einer „soft option“, nämlich einer bloßen Offenlegungspflicht, scheiterte im demokratisch kontrollierten Kongress. Fords demokratischer Nachfolger, Jimmy Carter, griff das Thema aber 1977 als eine seiner ersten Initiativen auf. Der zuständige Ausschuss des Repräsentantenhauses bezeichnete in seinem Abschlussbericht von September 1977 die über 400 Bestechungsfälle nicht nur als „unethisch“, sondern auch als Gefahr für die Marktwirtschaft und die Konkurrenzfähigkeit der US-Wirtschaft. Ferner betonte man die außen- und militärpolitischen Interessen des Landes. Im überaus aufschlussreichen Bericht heißt es, Korruption sei counter to the moral expectations and values of the American public. But not only is it unethical, it is bad business as well. It erodes public confidence in the integrity of the free market system. It short-circuits the marketplace by directing business to those companies too inefficient to compete in terms of price, quality or service, or too lazy to engage in honest salesmanship, or too intent upon unloading marginal products. In short, it rewards corruption instead of efficiency and puts pressure on ethical enterprises to lower their standards or risk losing business. […] Corporate bribery is also unnecessary. Corporate bribery also creates severe foreign policy problems for the United States. The revelation of improper payments invariably tends to embarrass friendly governments, lower the esteem for the United States among the citizens of foreign nations, and lend credence to the suspicions sown by foreign opponents of the United States that American enterprises exert a corrupting influence on the political processes of their nations. […] the Lockheed scandal […] jeopardized U.S. foreign policy […] with respect to the entire NATO alliance […] Finally, a strong antibribery statute would actually help U.S. corporations resist corrupt demands.23

22 Allgemein zu den 1970er Jahren James T. Patterson, Restless Giant: The United States from Watergate to Bush v. Gore, New York 2005, 13–130 und Thomas Borstelmann, The 1970s: A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality, Princeton 2012, 19–63. 23 US House of Representatives, Committee on Interstate and Foreign Commerce, House ­Report No. 95–640, Sept. 28, 1977, Abs. 5, www.justice.gov/criminal/fraud/fcpa/history/1977/­ houseprt-95–640.pdf [letzter Zugriff: 1.11.2011].

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Die zentralen Argumente waren ganz vom Kalten Krieg geprägt. Korruption stütze schwache Unternehmen, so dass die Leistungsfähigkeit der US-Wirtschaft leide. Sie entfremde die wichtigsten Mitglieder der westlichen Allianz von den USA. Schließlich – das wurde aber nicht explizit gesagt – grassierte die Angst vor der unkontrollierten Proliferation von Rüstungstechnologie, die korrupte Unternehmen an Feindstaaten verkaufen könnten. Angesichts der geballten Wirkung dieser Argumente gelang es Carter noch im Dezember 1977, den „Foreign Corrupt Practices Act“ (FCPA) zu unterzeichnen, der die Bestechung ausländischer Offizieller und Politiker zur Erzielung unbilliger Vorteile zu einer Straftat machte, die mit hohen Geldstrafen und Haft bis zu fünf Jahren sanktioniert wurde. Hierbei handelt es sich um einen unilateralen, ohne Konsultationen von Handelspartnern und Verbündeten durchgeführten Schritt, der zumindest de jure amerikanische Unternehmen benachteiligte. Der FCPA verbietet nicht alle Formen der Korruption. „Grease payments“, die subalterne Beamte motivieren sollen, ihre normalen Aufgaben zu erledigen oder zu beschleunigen, etwa ein Zollformular oder ein Visum abzustempeln, sind explizit ausgenommen.24 Es geht vor allem um „grand corruption“, um unfaire Vorteile bei der Akquise von Aufträgen und um die Beeinflussung politischer Entscheidungen.25 Allerdings wurde der FCPA von SEC und dem US-Justizministerium (DoJ) zunächst kaum angewandt.26 Im markanten Gegensatz zum Bundesjustizministerium ist das DoJ eine Strafverfolgungsbehörde, die selbst Strafverfahren initiieren und „settlements“, d.h. Vergleiche, abschließen kann. Der FCPA mag eine schwer einzuschätzende abschreckende Wirkung entfaltet haben. Skeptiker meinten, dass der FCPA die Unternehmen dazu erzogen habe, Korruption besser zu tarnen. In den 1980er Jahren gab es aufgrund scharfer Kritik aus dem ­Unternehmerlager

24 Die Formulierung des Senate Reports lautete: Die Strafandrohung des FCPA „shall not apply to any facilitating or expediting payment to a foreign official, political party, or party official the purpose of which is to expedite or to secure the performance of a routine governmental action by a foreign official, political party, or party official.“ Zit. in: Spalding, Sanctions (wie Anm. 8), 364f. Wörtlich wiederholt im Omnibus Trade and Competitiveness Act of 1988, Title V, Subtitle A, Part 1 Sect. 30A 3 b. 25 Vgl. Mark Pieth/Lucinda A. Low/Peter J. Cullen, The OECD Convention on Bribery: A Commentary, Cambridge 2007, 77; Mark Pieth, Introduction, in: ebd., 3–41, hier 5ff. 26 Miriam F. Weismann, The Foreign Corrupt Practices Act: The Failure of the Self-Regulatory Model of Corporate Governance in the Global Business Environment, in: Journal of Business Ethics 4 (2009), 615–661, belegt, dass der FCPA keine dramatischen Auswirkungen auf das Verhalten der US-Konzerne hatte. Frühe Skepsis äußerte Shelley B. O’Neill, The Foreign Corrupt. Practices Act of 1977: A Private Right of Action?, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law 3 (1979), 689–720.



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in der Reagan-Administration sogar ernsthafte Vorstöße, den FCPA stark zu verwässern, was jedoch scheiterte. 1988 kam es aber zu einer gewissen Entschärfung.

Mit regierungsamtlicher und höchstrichterlicher Unterstützung. Auslandskorruption deutscher Unternehmen Wie weit sich die USA vorgewagt hatten und wie außergewöhnlich die unilaterale Kriminalisierung der Auslandskorruption 1977 wirklich war, zeigt der Vergleich mit der Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Dort lautete der Terminus technicus für Bestechungsgelder „Nützliche Aufwendungen“, was nicht nur ihren legalen Charakter betonte, sondern auch ihre steuerliche Abzugsfähigkeit. Bestechungsgelder wurden somit als normale Kosten der Geschäftsanbahnung klassifiziert, so wie etwa Kosten für Werbung oder Vermittler. Zu Beginn der 1970er Jahre stellte der Leiter der deutschen Auslandshandelskammern fest: „Ob wir es wollen oder nicht, ohne Korruption sind in weiten Teilen dieser Welt Geschäfte nicht abzuschließen, Wirtschaftsbeziehungen würden ohne sie schlicht zusammenbrechen.“27 Diesem Weltbild entsprechend galten außerhalb der Bundesrepublik andere Rechts- und Moralvorstellungen, die den Akteuren von der Konkurrenz und ortsüblichen Usancen vorgegeben wurden. Sie zu missachten, wäre nur zum Preis des Rückzuges aus dem jeweiligen Markt möglich. Auslandskorruption durch deutsche Unternehmen vollzog sich seit langem in einem erheblichen, leider nicht exakt quantifizierbarem Umfang. Sie dürfte bereits ein wesentlicher Bestandteil des westdeutschen Exportwunders seit den 1950er Jahren gewesen sein. Dieses Kapitel der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte ist bislang noch ungeschrieben. Grundlage dieser Praxis war die Mitwisserschaft und offizielle Billigung der Bundesregierung, obwohl es sich in den meisten Fällen um Verstöße gegen das Recht der jeweiligen ausländischen Staaten handelte. „Nützliche Aufwendungen“ waren bis 1999 in der Bundesrepublik nicht nur steuerlich absetzbar, sondern die Unternehmen konnten sogar auf Belege verzichten. So hieß es in einem Vermerk des Bundesfinanzministeriums: „In Einzelfällen“ könne es „gerechtfertigt sein, bei Auslandsgeschäften nicht den Namen des Empfängers zu verlangen, wenn feststeht, dass die ­Schmiergelder

27 Zit. in Daniela Decurtins, Siemens. Anatomie eines Unternehmens, Frankfurt a.M. 2002, 244.

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tatsächlich gezahlt und betrieblich veranlasst sind“.28 Dieser Argumentation folgend, handelte es sich bei den Zahlungen um internationale Usancen mit dem Ziel, deutsche Unternehmen nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Um auf Nummer sicher zu gehen, konnten sich diese auch an die Finanzämter wenden und sich im Vorhinein die steuerliche Abzugsfähigkeit geplanter Bestechungsgelder attestieren lassen. In den sozialliberalen Koalitionen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt (1969–82) war diese Praxis nicht unumstritten. Der Gewerkschafter Hans Matthöfer sprach sich schon 1971, ein Jahr vor seiner Ernennung zum parlamentarischen Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, gegen die Abzugsfähigkeit aus. Als Entwicklungsexperte wusste er um die schädliche Wirkung der Korruption für die Staaten und Gesellschaften der Dritten Welt. In der Tat zerstört Korruption regelkonformes Verwaltungshandeln mit zum Teil verheerenden Wirkungen: überhöhte Preise, die Fehlallokation von Kapital und die Verhinderung von Wachstum sind nicht selten die Folge. In vielen Fällen ist sie auch direkt mit der Ausbeutung durch kleptokratische Eliten sowie der Verarmung und existenziellen Bedrohung der einheimischen Bevölkerung verbunden.29 Matthöfer schlug den Vereinten Nationen vergeblich einen Anti-­Korruptionskodex vor. Die Gegenposition vertrat Rainer Offergeld, der von 1975 bis 1978 Staatssekretär im Finanzministerium war: „Entweder man macht da mit oder man sitzt auf dem Trockenen.“30 In Matthöfers Amtszeit als Bundesfinanzminister (1978−82) wurde die steuerliche Abzugsfähigkeit ausländischer Bestechungsgelder trotz seiner früheren kritischen Haltung allerdings nicht angetastet. 1985 erhielt Auslandskorruption sogar eine höchstrichterliche Billigung, als ein deutsches Handelshaus seine Provision gegenüber einem deutschen Kunden einklagte. Ein Mitarbeiter hatte Amtsträger in Nigeria bestochen, um dem Kunden dort einen Auftrag zu verschaffen. Dieser hatte die geheime Provisionsvereinbarung aber nicht erfüllt, d.h. nicht gezahlt. Zum Hintergrund erläuterte der Bundesgerichtshof (BGH): „Um derartige Geschäfte in N. abschließen zu können, sind Schmiergeldzahlungen an die einflussreichen Stellen im Lande erforderlich. Dies war den Parteien bekannt. Da andererseits der Einsatz von Schmiergeldern in N. strafbar ist und die Gefahr mit sich bringt, dass der Anbieter auf schwarze Listen gesetzt wird und sich einer möglichen Strafverfolgung aussetzt, ist es bei

28 Zit. in: Der Spiegel (3.5.1976). 29 Vgl. die eindrucksvollen Beispiele bei Laurence Cockcroft, Global Corruption: Money, Power and Ethics in the Modern World, Philadelphia 2012, vor allem 11–42. 30 Zit. in: Der Spiegel (3.5.1976).



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europäischen Anbietern üblich, das ‚Schmieren‘ durch Einheimische besorgen zu lassen.“31 Die 1985 ergangene Entscheidung des BGH spiegelt den ambivalenten Umgang mit der Auslandskorruption wider. Die Vorinstanz, ein Landgericht, hatte dem Handelshaus mit der simplen Begründung recht gegeben, „die Regelung der Parteien hinsichtlich der Zahlung von Schmiergeldern“ verstoße „nicht gegen den deutschen ordre public“. Der BGH folgte dieser Ansicht jedoch nicht. Da es sich um eine sittenwidrige und in dem betreffenden Land zumindest formell strafbare Handlung handele, bestehe kein wirksamer Provisionsanspruch. Hätte der Kunde die vereinbarte Provision jedoch gezahlt, sei das nicht zu beanstanden gewesen. Damit wurde die langjährige Bestechungspraxis gleichsam gebilligt, denn es hieß weiter: Von einem deutschen Unternehmer kann zwar nicht erwartet werden, daß er in den Ländern, in denen staatliche Aufträge nur durch Bestechung der zuständigen Staatsorgane zu erlangen sind, auf dieses Mittel völlig verzichtet und damit das Geschäft weniger gewissenhaften Konkurrenten überläßt. Er wird daher seinen Angestellten und Handelsvertretern, die bei der Bewerbung um solche Aufträge in ortsüblicher Weise mit Schmiergeldern arbeiten, nicht den Vorwurf einer Verletzung ihrer Dienst- oder Vertragspflichten machen können; er wird ihnen unter Umständen sogar die von ihnen verauslagten Schmiergelder […] ersetzen müssen. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß auch die Schmiergeldvereinbarung als solche […] rechtlich anerkannt werden müßte. Rechtsgeschäfte, die […] sittlichrechtlichen Grundsätzen widersprechen, sind […] nichtig.32

Vereinbarungen, Amtsträger zu bestechen, und Ansprüche daraus sind demnach nicht einklagbar, während der Vorgang an sich zwar als inkorrekt bewertet, aber eben doch toleriert wurde. Angestellte besaßen einen Anspruch auf Erstattung von Schmiergeldern durch ihren Arbeitgeber. Allerdings kündigte sich seit den späten 1970er Jahren ein grundlegender Wandel in der rechtlichen Bewertung und der öffentlichen Wahrnehmung der Korruption an. Maßgeblich vorangetrieben wurde er weder von der Politik noch von der Wirtschaft in Deutschland. Vielmehr wurde er von einer kritischen Öffentlichkeit und durch politisch-rechtliche Grundsatzentscheidungen der ­US-Regierung und der internationalen Gemeinschaft in die Bundesrepublik getragen. In den 1990er Jahren beendete das Ende des Kalten Krieges die Rahmenbedingungen der Debatte von Grund auf.

31 Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (BGHZ), 94. Bd., Köln 1985, 268–275, hier 269. 32 BGHZ, 94. Bd., Köln 1985, 272. Vgl. auch Neue Juristische Wochenschrift (1985) 2405 und Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.12.2011).

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Die Compliance Revolution der 1990er und 2000er Jahre Ein grundsätzlicher Wandel trat erst zwischen 1990 und 2002 ein. Es ist nicht übertrieben, ihn als Compliance Revolution zu bezeichnen.33 Sie hatte acht miteinander verwobene Ursachen: 1. In der Entwicklungspolitik vollzog sich ein Paradigmenwechsel, den das Ende des Kalten Krieges beschleunigte. Hatte man lange im Kapital den entscheidenden und beinahe einzigen Hebel gesehen, um Unterentwicklung zu überwinden, trat nun das institutionelle Umfeld in den Blickpunkt. Im Zeichen der alten Kapitalmangelthese stellte Korruption kein Problem dar. Vielmehr galt sie als unvermeidbare Begleiterscheinung der ersehnten Kapitalzufuhr, als ein – zwar unschöner – Mechanismus zur Überwindung von Investitionshemmnissen. Auf die wirtschaftliche Modernisierung folge, so die Theorie, eine soziokulturelle und politische, so dass die Korruption auf lange Sicht von selber verschwinde.34   Zudem schien es vor 1990 im Zeichen der Blockkonfrontation für den Westen stets wichtiger, den Übertritt eines bestimmten Entwicklungslandes in das Lager der Sowjetunion zu verhindern, als eine Konfrontation mit den einheimischen Eliten über Fragen der Wirtschaftsethik loszutreten.35 Nach 1990 entfiel dieser Grund für die langjährige Duldsamkeit. So machte die Weltbank, die dem Thema Korruption seit Jahrzehnten keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, Mitte der 1990er Jahre die Korruptionsbekämpfung zu einem ihrer wichtigsten Ziele. Dies geschah in der Amtszeit des neunten Präsidenten der Weltbank, James David Wolfensohn, der – nominiert von USPräsident Clinton – 1995 sein Amt antrat und bis 2005 ausübte. Wolfensohn widmete als erster Präsident der Weltbank dem Thema Korruption höchste Aufmerksamkeit, was auch bei anderen Entwicklungsbanken und globalen Organisationen zu einem Bewusstseinswandel beitrug. 1996 verkündete er auf dem Jahrestreffen der Weltbank eine fundamentale Kehrtwende seiner Organisation. Der Zufluss von 170 Mrd. Dollar aus privaten Quellen in die Entwicklungsländer im Jahr 1995 und von knapp 60 Mrd. öffentlichen Geldern sei zwar eindrucksvoll, aber unzureichend. Die ­Weltbank habe sich nicht nur um

33 Vgl. Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh, Korruption rechnet sich nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.2.2013). 34 Vgl. Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014, 362. 35 Vgl. Cockcroft (wie Anm. 29), 8 und 103ff.



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effektive Kapitaltransfers zu kümmern, sondern müsse sich auch um „transparency, accountability, and institutional capacity“ kümmern. „We need to deal with the cancer of corruption. In country after country, it is the people who are demanding action on this issue. They know that corruption diverts resources from the poor to the rich, increases the cost of running businesses, distorts public expenditures, and deters foreign investors. They also know that it erodes the constituency for aid programs and humanitarian relief. And we all know that it is a major barrier to sound and equitable development.“36 Korruption war plötzlich vom tolerierten Begleitphänomen notwendiger Kapitaltransfers zu einem der größten Entwicklungshindernisse überhaupt geworden. Damit war das Thema Mitte der 1990er Jahre an die Spitze der entwicklungspolitischen Agenda und in den Fokus der Staatengemeinschaft gerückt. 2. Nach Überwindung der Blockkonfrontation begann eine Phase der Marktund Globalisierungseuphorie. Korruption galt nun nicht mehr als Schmiermittel des Welthandels, sondern als nichttarifäres Handelshemmnis, das künstliche Monopole schuf. Politisch schienen nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen die Zeichen allenthalben auf Demokratisierung zu stehen. Korruption ging aber oft mit unkontrollierter Macht von Diktatoren und Eliten einher, so dass es neben dem entwicklungsökonomischen auch einen allgemeinpolitischen Impetus zur Bekämpfung der Korruption gab. Der Reformdruck stieg innerhalb weniger Jahre massiv an. 3. Wegweisend wurde 1992 der Regierungswechsel von George Bush sen. zu Bill Clinton. Während der Republikaner Bush ein Scheitern der Verhandlungen als Vorwand für eine Schwächung oder Abschaffung des FCPA genutzt hätte, unterstützte der Demokrat Clinton die Bemühungen um die Internationalisierung des FCPA mit Nachdruck. In seinen Regierungsjahren kam es zu einer rigideren Anwendung des FCPA, nicht was die Anzahl der Verfahren (Grafik 1), aber was die Härte und die Sichtbarkeit der Verfahren anging. So kam es zu zwei spektakulären FCPA-Verfahren gegen Ikonen der amerikanischen Industrie wie General Electric (1992–94) und wieder einmal Lockheed (1994–95), die zu empfindlichen Strafen führten und die Öffentlichkeit für das Thema erneut sensibilisierten.

36 Annual Meetings Address by James D. Wolfensohn, President of The World Bank, 01.10.1996, web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/EXTABOUTUS/ORGANIZATION/­E XTPRESIDENT/ EXTPASTPRESIDENTS/PRESIDENTEXTERNAL/0,,contentMDK:20025269~menuPK:232083~pag ePK:159837~piPK:159808~theSitePK:227585,00.html [letzter Zugriff: 12.02.2015]. Vgl. auch Cockcroft (wie Anm. 29), 110ff.

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Es entstand eine Situation, in der die Alternativen hießen: Abschaffung oder Schwächung des FCPA oder ein internationales Abkommen. Ohne letzteres wäre der FCPA langfristig in den USA nicht zu halten gewesen, denn die Klagen der US-Unternehmen über ihre Benachteiligung ließen sich argumentativ nur abwehren, wenn die amerikanischen Regeln auch für die wichtigsten Wettbewerber galten. Die Aufhebung des FCPA war aber das letzte, was sich die westlichen Partner wünschten. Der starke Druck der US-Wirtschaft richtete sich auf die Unterbindung korrupter Praktiken ihrer Mitbewerber. 4. Die FCPA-Novelle von 1988 hatte es zur Pflicht des US-Präsidenten gemacht, auf ein internationales Abkommen hinzuarbeiten, um die vermeintliche Benachteiligung von US-Unternehmen zu beseitigen. Das Thema rutschte somit auf der politischen Agenda nach oben, und tatsächlich baten die USA 1989 die OECD, ein Abkommen gegen Auslandsbestechung zu erarbeiten. Noch im selben Jahr setzte sie die Ad hoc Group on Illicit Payments ein, die allerdings nur langsam vorankam und 1994 erste unverbindliche Empfehlungen vorlegte. Sie brachten zwar noch keinen Durchbruch, schufen aber ein Momentum. Die Überwindung der Korruption wurde zu einem politischen Ziel, das sich der Europäische Rat, aber auch die nun entstehende zivilgesellschaftliche Anti-Korruptionslobby zu eigen machte.37 5. Ab 1993 traten schlagkräftige, global agierende Nicht-Regierungsorganisationen auf den Plan, die gemeinsam mit kirchlichen und entwicklungspolitischen Gruppen das Thema Korruptionsbekämpfung auf die Tagesordnung setzten. Die bisherige Nachsicht der Weltbank gegenüber der Korruption veranlasste einen ihrer Manager, Peter Eigen, 1993 die Bank zu verlassen und Transparency International (TI) zu gründen. Eigen war zuletzt Direktor der Regionalmission für Ostafrika und zuvor für Westafrika und Lateinamerika zuständig gewesen. Durch diese Tätigkeit wurde er zwangsläufig zu einem Experten für Korruption, deren Bekämpfung er durch die Politik und Justiz nicht hinreichend gewährleistet sah. Auch aufgrund der hervorragenden Vernetzung Eigens entwickelte sich TI innerhalb weniger Jahre nach der Gründung im Jahr 1993 zu einem globalen Player mit 49 Ländergruppen im Jahr 1997, dessen Positionen erhebliches Gewicht entwickelten. Trotz erheblicher Widerstände gewann TI auch in Deutschland zunehmend an Unterstützung, etwa durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und prominente Manager wie Marcus Bierich (Bosch) und Richard Brandtner (KfW). Siemens trat 1998 als eines der ersten und wichtigsten korporativen Mitglieder TI-Deutschland bei. In der Bundesrepublik richtete sich der Druck

37 Pieth, Introduction (wie Anm. 25), 9ff.



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gegen die steuerliche Absetzbarkeit von Bestechungsgeldern, global auf die Verabschiedung einer bindenden OECD-Konvention.38   Ebenfalls 1993 entstand aus kleinsten Anfängen die Organisation Global Witness, deren Ziel die Enthüllung von „economic networks behind conflict, corruption and environmental destruction“ ist.39 Global Witness erzielte in den 1990er Jahren spektakuläre Erfolge bei der Bekämpfung des illegalen Holzhandels zwischen Thailand und Kambodscha, einer wichtigen Finanzquelle der Roten Khmer; bei der Regulierung des mörderischen Diamantenhandels Afrikas durch Zertifizierungen, was Global Witness 2003 die Nominierung für den Friedensnobelpreis einbrachte, sowie mit dem 2002 mithilfe der Unterstützung von George Soros und TI etablierten Anti-Korruptionsmechanismus von Öl-, Gas- und Bergbaukonzernen: The Extractives Industries Transparency Initiative (EITI), einem Selbstverpflichtungspakt zur Herstellung von Transparenz. 6. Einen ersten Teilerfolg brachte in Deutschland 1997 das Verbot der Bestechung im geschäftlichen Verkehr innerhalb Deutschlands durch den neuen Paragraphen 299 StGB. Damit wurde auch die Steuerabzugsfähigkeit innerdeutscher Bestechungszahlungen im Geschäftsverkehr abgeschafft. Strafbar war die Inlandsbestechung von Beamten schon seit 1872. 1975 wurde das Verbot auf alle Amtspersonen ausgedehnt.   Aufgrund des zunehmenden internationalen Drucks rückte die Verabschiedung einer OECD-Konvention immer näher.40 Während diverse europäische Regierungen, allen voran die christlich-liberale Koalition in Deutschland, wiederholt Vorschläge zur Bekämpfung der Auslandskorruption ablehnten, sprachen sich 16 europäische Unternehmer im Mai 1997 in einem offenen Brief an die Wirtschaftsminister der OECD-Staaten explizit für die Kriminalisierung der Auslandskorruption und das Ende ihrer steuerlichen ­Absetzbarkeit aus. Zu den acht deutschen Unterzeichnern gehörten Vertreter von Daimler Benz, Siemens, Bosch, ABB und der Metallgesellschaft.41 Sie exponierten sich an vorderster Front in der Anti-Korruptionsbewegung, während die Mehrzahl der deutschen Unternehmen noch schwieg. Da Siemens, Daimler ­ assiver ­Bestechungen und ABB einige Jahre später mit Anklagen aufgrund m

38 Vgl. www.transparency.org/whoweare/history [letzter Zugriff: 11.2.2015] und Cockcroft, Corruption (wie Anm. 29), 154ff. 39 Vgl. ebd., 149ff. und new.globalwitness.org/20yearsimpact.php [letzter Zugriff: 11.2.2015]. 40 Vgl. Die Gründungsgeschichte von Transparency International Deutschland e.V., www.transparency.de/Die-Gruendungsgeschichte-von-T.1420.0.html [letzter Zugriff: 1.11.2011]. 41 Der vollständige Text und die Liste der Unterzeichner findet sich unter www.­transparency.org/ news_room/latest_news/press_releases/1997/1997_05_21_euopen#letter ­[letzter Zugriff: 1.11.2011].

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­ onfrontiert wurden, liegt die Vermutung nahe, dass man von der Existenz k von Korruption im eigenen Hause wusste – wenngleich nicht in allen Details – und man hoffte, auf politischem Wege einheitliche Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Konkurrenten sollten nicht länger in der Lage sein, sich durch Bestechung Vorteile zu verschaffen oder das eigene Unternehmen zur Nachahmung korrupter Praktiken zu veranlassen. Zudem war es ein Ziel, Anforderungen von Schmiergeldern durch korrupte Eliten mit dem Hinweis auf eine internationale Konvention zurückweisen zu können. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Briefes war klar, dass sich die Gesetzeslage ändern würde und erhebliche rechtliche Risiken entstanden, man sich also mittelfristig umstellen musste. Eine einseitige Abkehr von der Korruption erschien aber geschäftlich zu gefährlich, so dass man sehr große Hoffnungen auf eine allgemeine Veränderung der globalen Wettbewerbslandschaft setzte. Vielleicht sprang man auch nur auf einen bereits fahrenden Zug auf. 7. Noch im Dezember 1997 wurde die Anti-Bribery Convention (offiziell OECD Convention on Combating Bribery of Foreign Public Officials in International Business Transactions) von allen OECD-Mitgliedstaaten unterschrieben, was aufgrund der Vorreiterrolle der wichtigsten Industrienationen, vor allem der USA, aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit und der unermüdlichen Lobbyarbeit von TI gelang. So trat die Konvention in für die OECD rekordverdächtiger Zeit von wenig mehr als einem Jahr am 15. Februar 1999 in Kraft und verpflichtete die Signatarstaaten, die aktive Bestechung ausländischer Amtsträger unter Strafe zu stellen. Es handelt sich um ein universell gültiges erga omnes-Recht, das auch auf Taten in Staaten anzuwenden ist, die der Konvention nicht beitreten.42 In den meisten der 45 Unterzeichnerländern ergingen bis 2001 entsprechende Gesetze, in Deutschland 1999, in den USA sogar schon 1998 im Zuge einer Verschärfung des FCPA durch die ClintonRegierung.   US-Bürger und US-Firmen konnten nun auch wegen Bestechung belangt werden, wenn sie außerhalb des US-Territoriums und ohne Bezug zu amerikanischen Konten, Büchern und Kommunikationsdiensten im Ausland Schmiergelder zahlten. Noch gravierender war die Ausdehnung des r­echtlichen

42 Passive Bestechung, d.h. die Annahme von Bestechungsgeldern, ist dagegen nicht Gegenstand der OECD-Konvention. Dasselbe gilt für Inlandsbestechung, die Bestechung von Parteien, Kandidaten und anderen Personen ohne offizielles Amt sowie „petty corruption“, d.h. kleinerer Schmiergelder, um Amtsträger zu veranlassen, ihre normalen Pflichten zu verrichten. Diese ­unerwünschten Praktiken seien innere Angelegenheiten der jeweiligen Staaten und dort zumeist illegal, müssten aber nicht Gegenstand der Strafverfolgung von Drittstaaten werden. Vgl. Pieth, Introduction (wie Anm. 25), 19ff.







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Zugriffs der USA auf Ausländer. Wer in den USA Wertpapiere ausgab, also an US-Börsen notiert war, fiel schon seit 1977 unter den FCPA. Das wurde nun auf jegliche Geschäftstätigkeit in den USA erweitert, wobei schon die Nutzung ­ -­Mail-Dienstes oder sonstigen Dienstes in den USA eine Juriseines Kontos, E diktion begründet. Daraus ergab sich eine global fast unbegrenzte rechtliche Zuständigkeit der US-Behörden. Wenn also ein deutsches Unternehmen in Argentinien besticht und dafür eine E-Mail an jemanden schickt, der sich gerade in den USA aufhält, ein Google-Account verwendet oder das Geld in Miami übergibt, kann von den US-Behörden angeklagt werden. Gleiches gilt, wenn das Unternehmen in den USA gleichzeitig Geschäfte betreibt, die mit der Korruption in Argentinien gar nichts zu tun haben. Angesichts der Größe und Bedeutung der US-Wirtschaft haben fast alle größeren Unternehmen der Welt geschäftliche Verbindungen in die USA. Das ist wahrlich eine rechtlich extrem extensive Definition einer nationalen Jurisdiktion, die den USA de facto die Rolle des Weltpolizisten zuschreibt. Ab 2000 wurden die zuständigen Abteilungen des Justizministeriums und der SEC erheblich vergrößert. Mit anderen Worten, der FCPA erhielt jetzt wirklich scharfe Zähne.   In Deutschland wurden 1997 die Paragrafen 299 und 300 in das StGB eingefügt, die Bestechung im nationalen geschäftlichen Verkehr kriminalisierten und mit Geldstrafen bzw. Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren, in besonders schweren Fällen („bandenmäßige Kriminalität“) bis zu fünf Jahren sanktionierten. 1998 ratifizierte der christlich-liberal dominierte Bundestag die OECD-Konvention. Damit trat als Umsetzungsgesetz zur Konvention das Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung (IntBestG) in Kraft, das die Bestechung ausländischer Amtsträger und Abgeordneter mit derjenigen deutscher Amtsträger und Abgeordneter gleichsetzte. Zugleich lehnte der Bundestag mit einer bemerkenswerten Inkonsequenz jedoch die Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit von Bestechungsgeldern im Ausland vorerst ab. Die EU verabschiedete im Mai 1999 eine Anti-­Korruptionskonvention.   Nachdem die Bundestagswahl im Herbst 1998 die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der SPD und der Grünen verändert hatte, entfiel nun auch die steuerliche Absetzbarkeit von Bestechungsgeldern im Ausland. Mit der Erweiterung des Paragrafen 299 durch Abs. 3 StGB im Jahr 2002 wurde auch die Bestechung von Angehörigen ausländischer Privatfirmen unter Strafe gestellt, und zwar unter dieselbe wie Korruption im nationalen Geschäftsverkehr. Damit hatte die Bundesrepublik ein gutes Vierteljahrhundert nach dem FCPA strafrechtlich mit den USA gleichgezogen. Mit dem nun weltweit geltenden Bestechungsverbot im öffentlichen und privatwirtschaftlichen Raum begann 2002 in der Bundesrepublik in Hinblick auf die Korruption eine neue Zeitrechnung.

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8. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts kam es weltweit zu einer massiven Verschärfung der Anti-Korruptionsmaßnahmen. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden illegale Geldflüsse intensiver beobachtet und unterbunden; was die Abwicklung von Schmiergeldzahlungen und andere illegale Geldtransfers erheblich erschwerte. Das betraf den Grenzübertritt mit Koffern voller Bargeld, aber auch internationale Überweisungen. Ein weiterer Schritt zur einschneidenden Verschärfung der Korruptionsbekämpfung der USA war 2002 der Sarbanes-Oxley Act (SOA). Das US-Bundesgesetz reagierte auf die großen Bilanzskandale bei Enron, Tyco, Adelphia, Peregrine und Worldcom. Enron brachte das Fass zum Überlaufen und erzwang eine politische Gegenreaktion. Es handelte sich nicht nur um einen der größten Bankrotte in der amerikanischen Geschichte, sondern um ein Symbol einer Ära. In weniger als 16 Jahren war Enron eines der größten US-Unternehmen geworden. Es nutzte die Chancen, die sich aus der Deregulierungswelle der 1980er Jahre ergaben, entwickelte hochinnovative Methoden des Handels mit Futures auf Energie und wurde in den 1990er Jahren als leuchtendes Vorbild amerikanischen Unternehmertums wahrgenommen. 2001 bat George W. Bush den Vorstandsvorsitzenden Enrons, Kenneth Lay – einen engen Freund der Familie –, das Übergangsteam des neuen Präsidenten zu beraten. Enron gelang es sogar teilweise, die Energiepolitik der Regierung zu beeinflussen. Im Herbst 2001 war aber nicht mehr zu übersehen, dass sich ein gewaltiger Betrug ereignet hatte. Die Enthüllung der künstlich hoch geschraubten Gewinne und anderer betrügerischer Buchhaltungspraktiken ließen den Aktienkurs von Enron abstürzen. Die Verurteilung Lays zu einer langjährigen Haftstrafe war 2006 absehbar, als er noch während des Prozesses starb.43 Durch Enron und andere Skandale verloren Anleger Milliardenbeträge und das Vertrauen in die Finanzmärkte. Die Wiederherstellung des Vertrauens besaß systemrelevante Bedeutung. Der daher 2002 erlassene Sarbanes-Oxley Act (SOA) – eine parteiübergreifende Gesetzesinitiative – wurde im Repräsentantenhaus mit nur drei Gegenstimmen und im Senat ohne jede Gegenstimme angenommen. George W. Bush nannte es bei der Unterzeichnung triumphierend „the most far-reaching reforms of American business practices since the time of Franklin D. Roosevelt. The era of low standards and false profits is over; no boardroom in

43 Vgl. Malcolm S. Salter, Innovation Corrupted: The Origins and Legacy of Enron’s Collapse. Cambridge, Mass. 2008.



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America is above or beyond the law.“44 In der Tat handelte es sich um eine drakonische Verschärfung der Bilanzrichtlinien für amerikanische und ausländische, in den USA börsennotierte Unternehmen. SOA erweiterte die Prüf- und Berichtspflichten erheblich, verstärkte die Unabhängigkeit und Aufsicht der Wirtschaftsprüfer und schützte Informanten im eigenen Unternehmen, „whistle-blowers“. Am gravierendsten wirkte sich die Einführung einer unmittelbaren persönlichen Verantwortlichkeit der zuständigen Vorstände aus. Sie mussten den ausführlichen Jahresbericht, „Form 20-F“, unterschreiben und als Individuen für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben bürgen. Die CFOs und CEOs konnten sich also jetzt nicht mehr hinter ihrer Funktion oder der Rechtsperson des Unternehmens verstecken, sondern wurden mit individuellen Strafandrohungen von bis zu 5 Mio. Dollar und 20 Jahren Gefängnis konfrontiert. Zugleich verbesserten sich die Bedingungen der Durchsetzung des Rechtes, denn das Budget der SEC verdoppelte sich bis 2009.45 Korrupte Praktiken waren direkt betroffen, da sie ja stets zu inakkuraten Bilanzen führten, so dass der SOA unmittelbar griff. Vielen Top-Managern stand 2002 Panik ins Gesicht geschrieben. Lange verdeckte und schlummernde Probleme drangen nun an die Oberfläche. Rechtsabteilungen und 40 35 30

Gesamtzahl der Fälle Angeklagte außerhalb der USA davon deutsche Angeklagte

25 20 15 10 5 0 1977

1981

1985

1989

1993

1997

2001

2005

2009

2013

Abb. 1: Zur Anklage gebrachte FCPA-Fälle des US-Department of Justice, 1977–2014 Quelle: www.justice.gov/criminal/fraud/fcpa/cases/2012.html [letzter Zugriff: 15.2.2015]

44 Zit. in: New York Times (31.7.2002). 45 Vgl. en.wikipedia.org/wiki/Sarbanes%E2%80%93Oxley_Act [letzter Zugriff: 24.10.2012].

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Rechtsanwälte bekamen viel Arbeit, und es kam zu einer beträchtlichen Zahl von Selbstanzeigen. Grafik 1 spiegelt die Praxis der Strafverfolgung und den scharfen Umbruch nach 2000. Während das US-Justizministerium zwischen 1977 und 2000 nur 36 Fälle und in den meisten Jahren keinen oder nur einen Fall verfolgt hatte, waren es zwischen 2001 und 2011 154 Fälle, wobei 57 auf Fälle mit ausländischen Angeklagten entfielen. Der in Deutschland lancierte Vorwurf, es handele sich um ein besonders gegenüber ausländischen Unternehmen angewandtes Recht, entbehrt jeder Grundlage. Die Anzahl der Fälle mit deutschen Angeklagten lag in dem Jahrzehnt lediglich bei vier (Siemens AG, einzelne Siemens-Manager, Daimler, Telekom). In den USA gab es ab dem Jahr 2002 Selbstanzeigen zuhauf, die etwa die Hälfte aller Verfahren ausmachten. Es entstand nun spürbar ein erhöhter Ermittlungsdruck, der zu einer Verschärfung der Compliance-Systeme in den Unternehmen führte. Das Strafmaß nahm drastisch zu. 2006 wurde die FCPAAbteilung beim FBI gegründet sowie die Abteilungen der SEC und des DoJ weiter ausgebaut. Ein Jahr zuvor war es zu einem folgenschweren personellen Wechsel an der Spitze der Compliance-Abteilung der SEC gekommen. Mit Mark Mendelsohn trat ein junger, hoch motivierter Mann an die Spitze der Abteilung, gerade Tab. 1: Höchststrafen in FCPA-Verfahren in den USA, 2008 bis 2014

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Unternehmen

Land

Strafe in Dollar

Jahr

Siemens Alstom KBR/Halliburton BAE Total Alcoa Snamprogetti Netherlands B.V./ENI S.p.A. Technip S.A. JGC Corporation Daimler AG Weatherford International Alcatel-Lucent Magyar Telekom/Deutsche Telekom Panalpina

Deutschland Frankreich USA Großbritannien Frankreich USA Niederlande/Italien

800 Mio. 772 Mio. 579 Mio. 400 Mio. 398 Mio. 384 Moi. 365 Mio.

2008 2014 2009 2010 2013 2014 2010

Frankreich Japan Deutschland Schweiz Frankreich Ungarn/ Deutschland Schweiz

338 Mio. 219 Mio. 185 Mio. 152 Moi. 137 Mio. 95 Mio.

2010 2011 2010 2013 2010 2011

81,8 Mio.

2010

Quelle: www.justice.gov/criminal/fraud/fcpa/cases/d.html, für KBR/Halliburton: www.sec. gov/litigation/litreleases/2009/lr20897.htm [letzter Zugriff: 29.5.2014] und www.fcpablog. com/blog/2014/12/23/with-alstom-three-french-companies-are-now-in-the-fcpa-top-t.html [letzter Zugriff: 24.12.2014].



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rechtzeitig, um den größten bisher bekannt gewordenen Bestechungsfall der ­Wirtschaftsgeschichte, nämlich denjenigen der Siemens AG, zu bearbeiten. 2008 wurde der Fall mit der Verhängung von 800 Mio. Dollar Bußgeldern in den USA und zusätzlich 596 Mio. Euro in Deutschland (2007 und 2008) mit der höchsten Bußgeldzahlung für Korruptionsverfahren in der amerikanischen und deutschen Geschichte abgeschlossen. Dieses „settlement“ war auch rechtshistorisch bahnbrechend, da SEC, DoJ und die deutschen Strafverfolgungsbehörden erstmals bei einem Korruptionsfall eng miteinander kooperierten und die Ermittlungen überwiegend von einer privaten Rechtsanwaltskanzlei durchgeführt wurden, was in den USA gängige Praxis ist, aber in Deutschland absolutes Neuland bedeutete. Wie hoch fielen die Strafen aus? Erfasst sind in Tabelle 2.1 nur die mit SEC und DoJ vereinbarten Strafen. Hinzu zu addieren sind zusätzliche Strafen in anderen Ländern sowie Rechts- und Aufklärungskosten. Im spektakulären Fall Siemens belief sich der Gesamtbetrag auf 2,5 Mrd. Euro, das ist bis heute nicht nur Weltrekord, sondern zeigt, welche Risiken die Compliance Revolution geschaffen hat.46 Hier wurde eine völlig neue Dimension erreicht. In einem der größten Skandale der bundesdeutschen Geschichte, durch den mehrere Tausende Babys durch das Arzneimittel Contergan mit schweren Missbildungen geboren wurden und ihr Leben lang schwerbehindert blieben, verpflichtete 1970 ein Vergleich den Hersteller Grünenthal zu einer Zahlung von 51 Mio. Euro (100 Mio. D-Mark). 1998 zahlte dieser freiwillig noch einmal 50 Mio. Euro.47 Natürlich sind beide Fälle in keiner Weise vergleichbar, aber die Gegenüberstellung der Summen belegt eindrucksvoll, welche Eskalation der finanziellen Risiken mit der Compliance Revolution einherging. Für Siemens war die Zahlung der Bußgelder, die ohne die Kooperation des Unternehmens mit den Behörden deutlich höher ausgefallen wären, noch nicht einmal das größte Risiko. Dieses bestand nämlich in der Gefahr des Ausschlusses von öffentlichen Aufträgen sowie einem in seinen Folgen unkalkulierbaren Reputationsschaden. Siemens geriet im Zuge der Korruptionskrise vorübergehend an den Rand der Existenzbedrohung und tauschte praktisch den gesamten Vorstand und 130 Führungskräfte aus, ein beispielloser Vorgang in der Geschichte des Unternehmens.48

46 Vgl. Klaus Moosmayer, Compliance: Praxisleitfaden für Unternehmen, München 22012, 11–32. 47 Die Renten der Opfer lagen, mitfinanziert aus Steuermitteln, 2002 bis 2008 zwischen 121 Euro und 545 Euro pro Monat. Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Contergan-Skandal [letzter Zugriff: 23.8.2013]. 48 Vgl. dazu Berghoff/Rauh, Korruption (wie Anm. 33). Die Autoren haben im Auftrag der Siemens AG die jüngere Geschichte des Unternehmens und des Compliance-Skandals aufgearbeitet. Vgl. Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh, Die große Transformation. Die Geschichte der Siemens AG im Zeitalter der Globalisierung, 1966–2011, München 2015 (unveröffentlichtes Manuskript).

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 Hartmut Berghoff

Die Strafen sind allgemein so bemessen, dass sie den Unternehmen wehtun, sie aber nicht zerstören. Wer mit SEC und DoJ nicht kooperiert, hat jedoch Schlimmeres zu erwarten. In Zukunft ist von einer weiteren Verschärfung auszugehen, da die Korruptionsbekämpfung global immer mehr an Dynamik gewinnt. Sie war ein zentrales Thema des arabischen Frühlings, und in Indien gibt es eine starke Anti-Korruptionsbewegung von unten. In Spanien und Italien hat eine offene Diskussion um die weit verbreitete Praxis der Bestechung von Politikern begonnen. Die UNO-Konvention von 2003 trat 2005 in Kraft und brachte weitere Verschärfungen. Sie ist bis zum Dezember 2015 von 178 Staaten ratifiziert worden. In Deutschland, das 2003 zu den Erstunterzeichnern gehörte, verzögerte sich die Ratifizierung aber bis Ende 2014, da die von der Konvention geforderte Verschärfung der Regeln gegen die Bestechung von Abgeordneten (§ 108e StGB) bei vielen Bundestagsabgeordneten auf Ablehnung stieß. Noch im Juni 2013 lehnte die christlich-liberale Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit im Bundestag Regelungen ab, die die Grenze zwischen Lobbyismus und Bestechung schärfer definieren und machte dabei verfassungsrechtliche Bedenken geltend.49 Dadurch befand sich Deutschland jahrelang in der zweifelhaften Gesellschaft von Staaten wie Sudan, Somalia, Nordkorea und Syrien, die ebenfalls nicht ratifiziert hatten. Erst die neue, von Union und SPD geführte Bundesregierung verschärfte im Februar 2014 die Regeln gegen die Abgeordnetenbestechung und ratifizierte im Herbst 2014 die UNO-Konvention, die damit am 12. Dezember 2014 für Deutschland in Kraft trat.50

Die Compliance-Industrie und ihre Kritiker Unternehmen müssen das Thema Korruption und Compliance sehr ernst nehmen. Für Juristen eröffnete sich in diesen Feldern seit 2001 ein rasch ­expandierender, hoch lukrativer Zukunftsmarkt. Es entstand eine Art Compliance-Industrie. Berater, Trainer, Anwälte, Experten, Fachzeitschriften, Blogs – sie alle nahmen in den letzten Jahren einen steilen Aufschwung. Hochspezialisierte Anwaltskanzleien beraten ihre Klienten nicht nur und vertreten sie vor Gericht, sondern betreiben Aufklärung für SEC und DoJ im Auftrag der betroffenen Unternehmen,

49 Spiegel online (27.6.2013). 50 Vgl. Bundesgesetzblatt 2014 I, 410 u. 2015 II, 140. Vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung (28.5.2014).



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die sich durch solche Formen der reuigen Kooperation mildere Strafen verdienen und dafür viel Geld bezahlen. Führende FCPA-Anwälte verdienen heute pro Jahr zwischen 2 und 4,5 Mio. Dollar. In der Regel stammen sie aus dem DoJ oder der SEC. Nach wenigen Jahren im Staatsdienst und einigen spektakulären Erfolgen wechseln sie in diese Kanzleien. Das Wirtschaftsmagazin Forbes führte 2010 einen Frontalangriff gegen den „anti-bribery-complex“.51 Es handele sich, so Forbes, um eine Verschwörung ehemaliger Beamter, die zuerst die staatliche Korruptionsbekämpfung aufgebaut hätten, um sich dann mit Insiderkenntnissen auf der anderen Seite zu bereichern. Der Hebel, den eine drohende FCPA-­ Verurteilung darstelle, sei so stark, dass die Firmen bereit seien, nahezu jede Summe zu ihrem Schutz aufzuwenden. Joseph Covington, früher beim DoJ für FCPA zuständig und heute bei der Kanzlei Jenner & Block mit 450 Anwälten tätig, äußerte selbstkritisch über die US-Anti-Korruptionspolitik: „This is good business for law firms. This is good business for accounting firms, it’s good business for consulting firms, the media, and Justice Department lawyers who create the marketplace and then get yourself a job.“52 Diese Selbstkritik ist erstaunlich. Die Gegenargumente der Anwälte lauten, dass sie lediglich Marktpreise berechneten und die Unternehmen einen realen Gegenwert erhielten. Es gelänge, riesige Summen an Bußgeldern einzusparen, die Zukunft von Geschäftsfeldern und sogar ganzen Großunternehmen mit tausenden Beschäftigten zu sichern und Firmen einen „path to salvation“ im Dschungel der Paragraphen aufzuzeigen. Durch die transnationale Natur der Geschäftsbeziehungen ergeben sich höchst komplexe Fragen des internationalen Rechts. Schließlich ginge es auch darum, Firmen den Weg zu einer effizienten Korruptionsprävention aufzuzeigen.53 Eine Debatte über die Kosten und den Nutzen heutiger Compliance-Standards ist sicher überfällig. Ein Teil der Kritik ist unverkennbar leicht durchschaubarer Interessenpolitik geschuldet. Die erzkonservative Lobbyorganisation US Chamber of Commerce hat gemeinsam mit überwiegend republikanischen Kongressabgeordneten das Thema FCPA-Reform auf die Agenda gesetzt und die verschärfte Strafverfolgung als Beispiel für die ­Wirtschaftsfeindlichkeit der ­Obama-Regierung gebrandmarkt. Dabei wurden die alten Argumente der 1970er

51 Forbes Magazine (24.5.2010). 52 Zit. in: www.forbes.com/forbes/2010/0524/business-weatherford-kbr-corruption-briberyracket_print.html [letzter Zugriff: 24.10.2012]. 53 Interview von Hartmut Berghoff mit dem Partner einer großen auf FCPA-Verstöße und Wirtschaftskriminalität spezialisierten Anwaltskanzlei, Washington DC, 15.6.2012.

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 Hartmut Berghoff

und 1980er Jahre aufgewärmt. Der Versuch, dieses Thema im US-Wahlkampf von 2012 ins Rampenlicht zu stellen, misslang jedoch. Es scheint unwahrscheinlich, dass die Uhren wieder zurückgestellt werden. Im Sommer 2014 spitzte der Economist die Debatte noch einmal zu, als er die Unternehmen als Opfer einer völlig aus dem Ruder gelaufenen US-Justiz beschrieb. Durch intransparente Settlements entstünden Aktionären horrende Schäden, da Manager angesichts der drohenden Strafen sogar bereit seien, milliardenschweren Vergleichen für Delikte zuzustimmen, die sie gar nicht begangen hätten. Die Justiz habe einen solchen Druck aufgebaut, dass Spitzenmanagern letztlich keine Wahl bliebe. Tatsächlich haben sich die Bußen für Unternehmen aufgrund von Wirtschaftsdelikten zwischen 2001 und 2014 mehr als vervierzehnfacht.54 Eine zweite Debatte kritisiert die westliche Korruptionsbekämpfung mit Blick auf die Entwicklungsländer. Es wird argumentiert, dass die neuen Ansätze der Korruptionsbekämpfung in korruptionsaffinen Ländern die wirtschaftliche Entwicklung schädigten, denn diese würden de facto Sanktionen verhängen und dadurch westliche Investoren abschrecken. Obwohl der FCPA und alle ihm nachfolgenden Gesetze auch den Zweck verfolgten, ärmere Länder vor den negativen Effekten der Bestechung zu schützen, stellten diese Sanktionen, so das Argument, perfide bzw. nicht intendierte Konsequenzen westlicher Bevormundung dar. Die Anstrengungen der reichen Länder, Korruption durch ihre Konzerne zu unterbinden, führe auch dazu, dass Länder ohne entsprechende Gesetze bzw. ethische Prinzipien die entstehenden Lücken hemmungslos ausfüllen und in den Entwicklungsländern Fuß fassen würden. Die zwangsweise Durchsetzung westlicher Normen führe also zu einem „race to the bottom“. In diesem Kontext sind die aggressiven Investitionen Chinas in Afrika, Lateinamerika und Zentralasien zu betrachten. Zudem wird behauptet, dass die Korruptionsbekämpfung einseitig auf Bestechungen in „emerging markets“ ziele, während Korruption in der westlichen Welt weniger entschieden verfolgt werde.55 Eine andere, ideologisch eingefärbte Position ist die These, dass westliche Anti-Korruptionsindizes im Grunde genommen kulturimperialistische bzw. ­neokoloniale Instrumente seien, um die Ausbeutung des „globalen Südens“ durch den Norden neu zu rechtfertigen.56 Andere beschwichtigen und trösten

54 Vgl. Economist (30.8.2014). 55 So die Position von Spalding, Sanctions (wie Anm. 7). 56 Vgl. Padideh Ala’i, The Legacy of Geographical Morality and Colonialism: A Historical Assessment of the Current Crusade Against Corruption, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law 4 (2000), 877–894 und Steven R. Salbu, The Foreign Corrupt Practices Act as a Threat to Global Harmony, in: Michigan Journal of International Law 2 (1999), 419–449.



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sich damit, dass steigende Lebensstandards und verbesserte Gehälter öffentlicher Beschäftigter das Korruptionsproblem auf lange Sicht von selbst lösen würden. Das mag auf „petty corruption“ zutreffen, dürfte aber bei der nicht aus sozialer Not resultierenden „grand corruption“ zweifelhaft sein.57 Diese Thesen sind überspitzt, gleichwohl bedenkenswert, denn über die Folgen der Anti-­ Korruptionspolitik in der Praxis wissen wir wenig.

Schluss Die Auslandskorruption hat sich seit den 1970er Jahren von einem Kavaliersdelikt, genauer einem Buchhaltungsvergehen, zu einer Straftat mit gravierenden Rechtsfolgen gewandelt. Mit dem FCPA unternahm die USA 1977 einen unilateralen Vorstoß, maßgeblich um antikapitalistischen Regungen im eigenen Lande ebenso entgegenzutreten wie antiamerikanischen Ressentiments in der ganzen Welt. Damit reagierte sie auch auf skandalöse, nun offenkundig gewordene Missstände in den führenden Konzernen der US-Wirtschaft. Das Ende des Kalten Krieges und der Regierungswechsel von 1993 trieben die Internationalisierung des FCPA voran. Es ging jetzt im Gegensatz zu den republikanischen Regierungen Reagan und Bush sen. nicht mehr um eine Schwächung des FCPA, sondern um seine Universalisierung. Das Leitargument lautete, man müsse die einseitige Fesselung der US-Unternehmen beseitigen. Man kann lange darüber spekulieren, ob der FCPA wirklich so einengend gewesen ist, da kaum Verfahren eröffnet wurden. In den 1990er Jahren wirkten der Druck der US-Außenpolitik und der amerikanischen Wirtschaft zusammen, um die Korruptionsbekämpfung zu einem Anliegen der internationalen Gemeinschaft zu machen. Hinzu kamen in einer in vieler Hinsicht überraschenden Allianz wirkungsvolle zivilgesellschaftliche Initiativen aus dem unternehmensnahen und dem kapitalismuskritischen Lager. Schließlich entstand auf der Bühne internationaler Organisationen eine Eigendynamik, die ein Zurück unmöglich machte. Parallel dazu vollzog sich ein ­Mentalitätswandel, der Abscheu gegenüber der schmutzigen Praxis der Korruption und ihren schädlichen Auswirkungen erzeugte. Das betraf teilweise auch diejenigen, die K ­ orruption aktiv betrieben. Sie artikulierten das Verlangen, mit Hilfe ­stringenter, universeller Regelwerke die Forderungen korrupter Regierungen abwehren zu können.

57 Vgl. mit zahlreicher weiterer Literatur Steven R. Salbu, Transnational Bribery: The Big Questions, in: Northwestern Journal of International Law & Business 2 (2001), 435–470, hier 468.

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 Hartmut Berghoff

Trotz aller Fortschritte ist die Korruption heute keineswegs ausgestorben. Ihre Bekämpfung steht weiterhin weit oben auf der politischen Agenda. Kein großes Unternehmen kann es sich heute leisten, die Brisanz dieses Themas zu unterschätzen.

Uwe Spiekermann

Das gekaufte Königreich: Claus Spreckels, die Hawaiian Commercial Company und die Grenzen wirtschaftlicher Einflussnahme im Königtum Hawaii, 1875 bis 1898 Hawaii gilt heutzutage als Trauminsel, als Urlaubsparadies, als Zielort unzähliger Hochzeitsreisen – und eingängige Bilder von Tourismusunternehmen und Politik vermitteln seit über 100 Jahren ein Bild von Exotik und entspanntem Leben (Abb. 1).1 Bilder dieser Art verweisen jedoch auch auf sich verändernde Machtverhältnisse: Hawaii wurde als Urlaubsziel in den 1880er und 1890er Jahren vor allem von der Oceanic Steamship Company popularisiert. Sie war Teil einer Diversifikationsstrategie der die Zuckerproduktion der Insel dominierenden deutschamerikanischen Familie Spreckels.2 Hinter den Kulissen des entstehenden Urlaubsparadieses hatten sich seit den späten 1870er Jahren die wirtschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt. Das Königtum Hawaii wurde integraler Bestandteil der globalen Agrarwirtschaft, entwickelte sich rapide, wenngleich einseitig, bis es 1898 schließlich auch juristisch seine Unabhängigkeit verlor und Territorium der USA wurde.3 Diese wirtschaftlichen Aktivitäten sind im Kontext einer wesentlich umfassenderen Landnahme des Westens der USA und der Pazifikregion zu sehen, die durch den amerikanischen Bürgerkrieg nur kurzfristig unterbrochen wurde.4

1 Hierzu rückfragend Mansel G. Blackford, Fragile Paradise: The Impact of Tourism on Maui, 1959–2000, Lawrence 2001. 2 Vgl. Jacob Adler, Claus Spreckels: The Sugar King in Hawaii, Honolulu 1966; Uwe Spiekermann, Claus Spreckels: A Biographical Case Study of Nineteenth-Century American Immigrant Entrepreneurship, in: Business and Economic History Online 8 (2010), www.thebhc.org/sites/ default/files/spiekermann.pdf [letzter Zugriff: 7.12.2015]. 3 James L. Haley, Captive Paradise. A History of Hawai’i, New York 2014, 209–336; David M. ­Pletcher, The Diplomacy of Involvement, Columbia 2001, v. a. 46ff. 4 John Whitehead, Hawai’i: The First and Last Far West?, in: Western Historical Quarterly 23 (1992), 153–177; David J. St. Clair, The Gold Rush and the Beginnings of California Industry, in: ­California History 77/4 (1998/99), 185–208; David Igler, The Industrial Far West: Region and Nation in the Late Nineteenth Century, in: Pacific Historical Review 60 (2000), 159–192.

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Abb. 1: Hawaii als Urlaubsparadies. Anzeige der Spreckelschen Oceanic Steamship Company, 1890.5

5 The Wasp 25 (1890), Nr. 24, s. p.



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Landnahme – Die Hawaiian Commercial Company Der wichtigste Akteur des lokalen und regionalen Wandels war der norddeutsche US-Immigrant Claus Spreckels, seinerseits dominierender Exponent einer wachsenden Gruppe US-amerikanischer, britischer und deutscher Zuckerproduzenten.6 Seine hohen Investitionen und seine zahlreichen Unternehmen, darunter vor allem die auf Maui ansässige Hawaiian Commercial (and Sugar) Company, gaben dem Königtum wesentliche Entwicklungsimpulse. Die Methoden dieser Landnahme waren robust, wurden seinerzeit kritisch und kontrovers diskutiert und sind aus heutiger Sicht gewiss als Wirtschaftskriminalität einzuordnen.7 Claus Spreckels hätte dies jedoch anders gesehen und wies alle einschlägigen Vorwürfe empört zurück.8 Zum einen gab es – und gibt es bis heute – keine Legaldefinition von Wirtschaftskriminalität. In den USA gab es zwar seit 1909 ein Unternehmensstrafrecht, doch dies betraf den 1908 verstorbenen Spreckels nicht mehr.9 Auch der Straftatbestand der Korruption konnte ihn als unabhängigen Unternehmer nicht treffen, wohl aber die öffentlichen Funktionsträger, mit denen er Geschäfte machte.10 Es ist entsprechend weniger der strafrechtliche Aspekt, der diese Fallstudie interessant macht.11 Sie zeigt vielmehr wie Wirtschaftskriminalität zum einen in einem moralischen Diskurs stand und entstand und zum

6 Detailliert hierzu William Henry Dorrance/Francis S. Morgan, Sugar Islands: The 165-year Story of sugar in Hawai’i, Honolulu 2000. 7 Jacob Adler, The Maui Land Deal: A Chapter in Claus Spreckels‘ Hawaiian Career, in: Agricultural History 39 (1965), 155–163. 8 Vgl. Edward Balleisen, The Ambiguities of Business Fraud and Entrepreneurial Reputation in Progressive-Era America, in: Business History Review 87 (2013), 627–642. Ein guter Beleg hierfür ist etwa, dass in der Zeitungsdatenbank Chronicling America der Library of Congress von 70.643 Seiten mit Artikeln zum Suchwort Spreckels (bei einer Grundgesamtheit von 10.184.006 Seiten) lediglich 15 auch den B ­ egriff „crime“ enthalten. Sie verwenden ihn entweder als rechtlichen Begriff oder nutzen ihn ironisch. 9 Im Verfahren der New York Central and Hudson River Railroad Co. gegen die United States 212 U.S. 481 v. 23.12.1909, hieß es „Congress can impute to a corporation the commission of certain criminal offenses and subject it to criminal prosecution therefor“. www.supreme.justia.com/ cases/federal/us/212/481/case.html [letzter Zugriff: 7.12.2015]. 10 Allerdings konnte der König gemäß der Hawaiianischen Konstitution von 1864 strafrechtlich nicht belangt werden. 11 Das hawaiianische Strafgesetzbuch sah jedoch in Kap. 29, Abs. 16 eine Strafe von bis zu 2 Jahren Gefängnis mit Strafarbeit und eine Geldstrafe von bis zu 500 Dollar für denjenigen vor, der Staatsbedienstete und Inhaber öffentlicher Ämter bestach (Penal Code of the Hawaiian Islands, Honolulu s. a. [1850], 65). Entsprechende Beschuldigungen hätten natürlich vor Gericht nachgewiesen werden müssen, während der Beschuldigte parallel eine Anklage wegen Verleumdung hätte anstrengen können.

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anderen wie die damit verbundenen öffentlichen Be- und Verurteilungen auf die Akteure zurückwirkten und dadurch grundsätzlich Spielräume für die Legaldefinition neuer Straftatbestände und für Verhaltensänderungen der Akteure gewonnen werden konnten. Die wirtschaftliche Erschließung des Königreiches Hawaii durch ausländisches, zumal US-amerikanisches Kapital wurde seit den Jahren 1875/76 intensiviert: Nach langen Disputen in Öffentlichkeit, bei Interessengruppen und im Kongress schlossen die USA und Hawaii den sogenannten Reziprozitätsvertrag.12 Damit wurden nicht nur fünfzehn Handelsgüter – darunter die „cash crops“ Reis und Zucker – von Importzöllen befreit, sondern zugleich zahlte die USA eine Subvention von zwei Cent pro Pfund importierten Zuckers. Bei einem Großhandelspreis von ca. acht Cent pro Pfund war dies ein erheblicher Investitionsanreiz. Claus Spreckels, der als der führende Zuckerproduzent in San Francisco den Markt im Westen der USA kontrollierte, hatte den Vertrag anfangs vehement bekämpft, da er seine Quasimonopolstellung bedroht sah. 1875/76 aber nutzte er die sich bietenden Chancen. Er sandte seinen ältesten Sohn John D. Spreckels, der in Hannover und San Francisco Maschinenbau und Chemie studiert hatte, als Vortrupp auf die Sandwichinseln und fuhr selbst im August 1876, nach Inkrafttreten des Reziprozitätsvertrages, erstmals nach Hawaii. Dort sicherte er sich die Zuckerernte zur späteren Verarbeitung in seiner San Franciscoer California Sugar Refinery Company. Zugleich aber begann er mit dem Ankauf erster Zuckerplantagen.13 Damit erweiterte er einerseits die Rohstoffzufuhr seiner Raffinerie – sie war zuvor vor allem auf philippinischen Rohzucker angewiesen –, und konnte nun anderseits von den US-amerikanischen Importsubventionen profitieren. Hawaii war zu dieser Zeit zwar ein geachteter Vertragspartner, war zugleich aber kein Rechtsstaat im Sinne vornehmlich europäischer Tradition. Formal handelte es sich um eine Mischung einer konstitutionellen Monarchie britischer Prägung und einer auf dem früheren Chief-System gründenden Autokratie. Der auf Lebenszeit gewählte König, seit 1874 war dies David Kalakaua, hatte bei allen staatlichen Entscheidungen das letzte Wort.14 Er konnte die Regierung e­ insetzen

12 Zur Motivlage der Vertragspartner s. Ralph S. Kuykendall, The Hawaiian Kingdom, Bd. 3: 1874–1893: The Kalakaua Dynasty, Honolulu 1967. Zu den Folgewirkungen s. The Hawaiian Treaty, in: Compilation of Reports of Committee on Foreign Relations, United States Senate, 1789– 1901, Bd. 6, Washington 1901, 465–475. 13 San Francisco News Letter 26 (23.9.1876), 1; The Purchase of the Sugar Crop, in: Daily Alta California (28.9.1876), 2. 14 Vgl. Helena G. Allen, Kalakaua: Renaissance King, Honolulu 1995.



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und absetzen, konnte ebenso Neuwahlen der Legislative ansetzen. Größere Investitionen bedurften daher nicht allein der abstrakten Rückendeckung des hawaiianischen Staates, sondern der ­konkreten Zustimmung von König Kalakaua. Claus Spreckels traf in Hawaii auf ein System von Patronage und wirtschaftlicher Einflussnahme. Korruption war weit verbreitet.15 Seine immense Kapitalkraft – er besaß 1875 ein Vermögen von ca. fünf  bis sechs Mio. US-Dollar, aus heutiger Sicht handelte es sich also um Milliarden – erleichterte diese Einflussnahme.16 Sein Ruf als harter, ja unerbittlicher Geschäftsmann und Modernisierer stand dem nicht entgegen.

Abb. 2: Karte der Sandwichinseln 1880.17

Spreckels Hauptziel war – nach intensiven geologischen Erkundungen und direkten Begehungen – die Umgestaltung der zweitgrößten hawaiianischen Insel Maui

15 Zur konzeptionellen Einordnung vgl. Niels Grüne, „Und Sie wissen nicht, was es ist.“ ­Ansätze und Blickpunkte historischer Korruptionsforschung, in: Ders./Simona Slanicka (Hrsg.), ­Korruption. Historische Annäherungen, Göttingen 2010, 11–34. 16 Eine angemessene Umrechnung dieser Vermögenswerte, wie sie etwa die Datenbank MeasuringWorth.com ermöglicht, birgt beträchtliche Probleme, die sich nicht allein aus der starken Orientierung an den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Ostküste und des Mittleren Westens ergeben: Je nach Bezugsgröße lag Spreckels Vermögen bei 135 Mio. US-Dollar (Lebensstandard), bei 1,76 Mrd. US-Dollar (Wirtschaftlicher Status) bzw. 12 Mrd. US-Dollar (Wirtschaftliche Macht). 17 King Kalakaua‘s Tour Round the World: A Sketch of Incidents of Travel, Honolulu 1881, 4.

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in eine Monokultur, in eine Zuckerinsel.18 Dies bedeutete nicht allein Investitionen in Höhe von insgesamt vier Mio. US-Dollar, sondern auch tiefe Eingriffe in bestehende Besitzverhältnisse. Spreckels brachte aus Kalifornien Kapital, Fachwissen und Technologie mit, um die ariden Gebiete in der Mitte Mauis zu bewässern und brachliegendes Terrain in Rohrzuckerland zu ­verwandeln.19 Doch er besaß 1876 weder Land, noch Wasserrechte. Diese aber konnte er kaufen: offiziell und inoffiziell. Claus Spreckels erwarb 1878 zuerst die Waikapu Commons (16.000 Acres).20 Dies geschah mit Zustimmung des Königs, auf Basis eines sehr günstigen ­Kaufpreises, gezahlt an den britischen Besitzer, und war verbunden mit kleineren Geldgeschenken an Kalakaua. Die niedrigen Preise waren ein Reflex auf die ­geologischen ­Gegebenheiten: Die wasserreichen vulkanischen Bergregionen waren durch die waldreichen Zwischenregionen von der ebenen Zentralregion strikt getrennt; und vereinzelte Versuche von Kanalbauten scheiterten entweder oder erlaubten nur die Bewässerung kleiner Plantagen. Spreckels erwarb dennoch die Wasserrechte der Bergregion und verband diese mit einem 30 Meilen umfassenden Bewässerungssystem, von mehreren hundert Arbeitern binnen zweier Jahre angelegt. Diese Transaktion wurde vom Kabinett im Juni 1878 jedoch abgelehnt. Nachdem Spreckels mit dem König verhandelt hatte, entließ dieser das kritische Kabinett, vergab die Wasserrechte per Dekret an Spreckels und ließ sich diese Transaktion anschließend durch das neue Kabinett bestätigen.21 Nichtöffentlicher Teil dieses Geschäftes war ein größerer Privatkredit von Spreckels an den König sowie eine Privatzuwendung von 10.000 US-Dollar (heutzutage ca. 2–3 Mio. US-Dollar).

18 Jacob Adler, Water Rights and Cabinet Shuffles, in: Business History Review 34 (1960), 50–63. 19 Vgl. hierzu, trotz zahlreicher sachlicher Fehler, Jessica B. Teisch, Engineering Nature: Water, Development, & Global Spread of American Environmental Expertise, Chapel Hill 2011, 134–150, insbes. 137ff. 20 Zur Landnahme s. im Detail Jon M. Van Dyke, Who owns the Crown Lands of Hawai’i?, Hawai’i 2008, 100–110. 21 Pacific Commercial Advertiser (31.1.1880), 2; A Period of Intrigue: Evils that Marked the Reign of the Late King Kalakaua, in: Washington Post (16.11.1893), 7. Celso Caesar Moreno, Repräsentant der Chinese Merchant Steamship Navigation Company of Shanghai, schilderte das ­Geschehen: „These members of the cabinet refusing to give Mr. Claus Spreckels a large concession of crown lands, and Mr. Spreckels being indignant, went at eleven o’clock at night to the King‘s palace, and, as an autocrat, imperatively ordered the King to dismiss his cabinet, and it was done. […] At eleven o’clock at night the order was sent to the ministers that their services were no longer required“. Statements to the Committee of Ways and Means on the Morrison Tariff Bill […], Washington 1886, 39.



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Schwieriger gestaltete sich der Erwerb der ebenfalls in der Zentralebene gelegenen Wailuku Commons. Spreckels kaufte die Rechte für dieses Kronland 1878 von Prinzessin Kelikolani für ebenfalls 10.000 US-Dollar und einen größeren Privatkredit. In Hawaii wird bis heute diskutiert, ob diese Rechte begründet waren. Doch wichtiger ist, dass es dem Investor gelang, König, Regierung und Legislative von der Legitimität seines Anspruches zu überzeugen. Gerichte bestätigten dies. Abermals flossen dabei Gelder an den König und einzelne Regierungsmitglieder; meist in Form günstiger Kredite, seltener in Form direkter Geldzuwendungen. In einem Umfeld von Kapitalarmut konnte Spreckels nahezu unbehelligt schalten und walten; er verkörperte mit diesem Gebaren weniger unlautere, gar kriminelle Geschäftspraktiken, sondern Zukunft und Wachstum für das hawaiianische ­Königtum.22 Bis 1882 wurde die Plantage – die 1878 inkorporierte Hawaiian Commercial Company war das mit Abstand größte Unternehmen der Inselgruppe – errichtet, in Betrieb genommen und in den Folgejahren dann Jahr für Jahr erweitert. Ca. 1.200 Beschäftigte – US-amerikanische und europäische Vorarbeiter, ­Kontraktarbeiter zuerst aus Europa, dann aus China resp. Japan – waren hier tätig, vier kleinere Raffinerien zur Vorfertigung wurden angelegt und der nahe dem heutigen ­Flughafen gelegene Kernort erhielt den Namen „Spreckelsville“.23 Die alltäglichen Geschäfte übertrug Spreckels seiner Agentur von William G. Irwin & Co. – und widmete sich weiteren Geschäften.

Ökonomische Durchdringung – Spreckels im ­Herrschaftsgefüge des Königreiches Claus Spreckels Zuckerimperium gründete auf seiner Zuckerraffinerie in San Francisco, die mit einer Ausnahme alle Wettbewerber vom Markt verdrängt hatte. Sie wurde mehrfach vergrößert, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden und zugleich Größenvorteile auszuspielen. Dies galt nicht allein in Bezug auf eine preiswerte Produktion, sondern auch im Kampf um günstigere Konditionen im Zuckergroßhandel. Die California Sugar Refinery Company bezog 1881 einen Neubau, der mit Investitionen von 1,5 Mio. US-Dollar auf den

22 Ein Brief, veröffentlicht in: Hawaiian Gazette (17.7.1878), 2, brachte diese Haltung auf den Punkt: „Let us honor the millionaire […].“ 23 Hawaiian Sugar News, in: Northern Star (25.3.1882), 5; John S. Hittell, The ­Commerce and Industries of the Pacific Coast, San Francisco 1883, 547ff.

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technisch neuesten Stand gebracht wurde, so dass die nun rasch wachsenden Roh- und Raffinadezuckermengen Hawaiis problemlos verarbeitet werden konnten.24 Diese an der San Francisco Bay gelegene Firma bildete den Eckstein eines vertikal integrierten Firmengeflechtes, dessen Transport- und Finanzkomponenten in den 1880er Jahren ausgebaut wurden. Von diesem Aufschwung profitierte der hawaiianische Staat – Spreckels zahlte von 1880 bis 1894 25–50 Prozent des Steueraufkommens25 – geriet aber zugleich in immer größere Abhängigkeit vom Investor. Ein wichtiger Schritt war die Gründung einer Frachtflotte unter dem Dach der 1882 inkorporierten, von den drei ältesten Söhnen Spreckels geleiteten Steamship Company.26 Anfangs setzte die Schiffslinie auf günstige Oceanic ­ Segelschiffe, die zwei Wochen für die Strecke Hawaii-Kalifornien benötigten. Die präzise Taktung von fast einem Dutzend dieser Schiffe erlaubte eine fast fließbandartige Organisation des Transports. Das Chartergeschäft von John D. Spreckels & Bros., der 1878 gegründeten Dachgesellschaft des gesamten Transportgeschäftes, war jedoch nicht allein auf Zucker begrenzt, sondern versorgte Kalifornien auch mit Kohle und anderen Rohstoffen, vornehmlich aus Australien und Neuseeland. ­Angesichts der noch erforderlichen Schiffspassage um Kap Horn und der Tarifpolitik der Southern Pacific Railroad Comp. waren diese Importe vielfach günstiger als Rohstoffe aus dem Osten der USA. 1883 richtete Spreckels schließlich eine regelmäßige Dampferlinie mit eigens dafür gebauten Schnelldampfern ein. Sie transportierten vornehmlich Zucker, etablierten Hawaii aber zugleich als touristisches Ziel eines ­wachsenden Elitentourismus. Die Oceanic Steamship Company übernahm 1885 auch den Postverkehr der Inselgruppe und der britischen Kolonien in Neuseeland und Australien, anfangs noch in Kooperation mit der ­neuseeländischen Union Steamship Company. Dafür erhielt sie nicht nur beträchtliche Subventionen von den Kolonialregierungen, sondern konnte auch eine regelmäßige Subvention von hawaiianischer Seite durchsetzen.27 All dies erfolgte nach intensiver Kontaktpflege mit König, Regierung und Legislative und

24 Spreckels‘ New Refinery, in: Daily Alta California (20.11.1880), 1. 25 Spreckels Interviewed, in: Ogden Standard Examiner (30.7.1893), 6. 26 Vgl. Jacob Adler, The Oceanic Steamship Company: A Link in Claus Spreckels‘ Hawaiian Sugar Empire, in: Pacific Historical Review 29 (1960), 257–269. 27 Der Briefverkehr erfolgte zuvor durch die britische Pacific Steamship Company, die jedoch vielfach daran scheiterte, Post pünktlich und regelmäßig anzulanden. Letter to the PCA, in: Daily Alta California (21.5.1881), Suppl., 6. Als sie 1885 aufgrund von Subventionskürzungen den Linienverkehr einstellen wollte, stand die Spreckels-Linie ab November bereit (Coshocton Age (25.7.1885), 2; Mail Service to Australia, in: Sacramento Daily Union (23.9.1885), 1; From Washington, in: Daily Alta California (14.10.1885), 5).



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war von geldlichen Zuwendungen abgefedert. All dies wurde zugleich kontrovers in der hawaiianischen Presse diskutiert.28 Spreckels schuf zeitgleich finanzielle Institutionen. Gemeinsam mit William G. Irwin gründete er Anfang 1884 die Geschäftsbank Claus Spreckels & Co. Sie war die erst zweite Bankgründung im Königreich und wurde für die Kreditversorgung des zunehmend ambitionierten Königtums rasch zentral. Spreckels plante gar mehr, zielte auf den Ausbau seiner Bank zur Zentralbank des kleinen ­Inselstaates. Doch dieses Vorhaben scheiterte 1884 am Einspruch der Legislative.29 Auch der König akzeptierte dies, nachdem er anfangs Spreckels Pläne unterstützt hatte. Erste Grenzen der Einflussnahme des ausländischen Investors wurden sichtbar. Gleichwohl bedurfte es keiner Maximalziele, um auch im akzeptablen Rahmen lukrative Geschäfte machen zu können. Ein gutes Beispiel für die sich nicht zuletzt aus dem Status der sehr moderaten kommerziellen Entwicklung Hawaiis ergebenden Geschäftsmöglichkeiten war die Einführung einer hawaiianischen Silberwährung 1883 in den ansonsten von US-Goldmünzen, mexikanischen Dollars und französischen Francs dominierten ­Zahlungsverkehr auf der Inselgruppe.30 Claus Spreckels gewährte dem Königreich einen Kredit von einer Mio. US-Dollar, ließ dafür Münzen in den USA prägen und zahlte den Kredit dann in Form von Münzen aus.31 Den Gewinn dieser von ihnen selbst ausgeheckten Transaktion – 135.000 US-Dollar – teilten sich Investor und König. Mitte der 1880er Jahre hatte Claus Spreckels den Zenit seines Einflusses in Hawaii erreicht. Die Pflanzer waren abhängig von der Abnahme ihrer Ernten durch Spreckels Zuckerraffinerie auf dem amerikanischen Festland.32 Und auf die Frage, ob der Deutsch-Amerikaner nicht de facto die Regierung bilde, antwortete sein Geschäftspartner William G. Irwin mit gebotenem Understatement: „Mr. Spreckels naturally has something to say in the government of so small a country,

28 Adler, Claus Spreckels (wie Anm. 2), 112–128. 29 Troubled Islands, Daily Alta California (11.7.1884), 5; W[illiam] D[e Witt] Alexander, Kalakaua‘s Reign: A Sketch of Hawaiian History, Honolulu 1894, 21f.; Lorrin A. Thurston, Memoirs of the Hawaiian Revolution, hrsg. v. Andrew Farrell, Honolulu 1936, 85. 30 Varied Coinage Circulated in Early Hawaii, in: Christian Science Monitor (26.5.1914), 14. 31 The Hawaiian Dollar, in: San Francisco News Letter 34 (1883/84), Ausg. v. 14.6., 10; The New Hawaiian Coinage, in: Pacific Commercial Advertiser (13.10.1883), 2; Kanaka Coins at a Premium, in: San Francisco Chronicle (12.1.1904), 3. 32 Zur Bedeutung des Marktzugangs in den USA s. Summer J. La Croix/Christopher Grady, The Political Instability of the Reciprocal Trade and the Overthrow of the Hawaiian Kingdom, in: Journal of Economic History 57 (1997), 161–189.

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where he has so much invested.“33 Gemeinsam mit dem leicht beeinflussbaren König entschied Spreckels über die Zusammensetzung der Kabinette. Seine Kredite deckten damals weit mehr als die Hälfte der wachsenden Schulden des Königreiches. Und seine Denomination als „Zuckerkönig“ entsprach nicht allein der publizistischen Tradition der Vereinigten Staaten, die Branchenführern vielfach aristokratische Attribute zuwies, sondern verwies auf seine herausgehobene ökonomische und politische Stellung.34 Auch Spreckels bekannte im Rückblick: „When Kalakaua was King I practically ran this country.“35 Doch diese Partnerschaft bekam zunehmend Risse; und es war der deutschamerikanische Investor, der die Grenzen eines korrupten Staatswesens genau analysierte und die eigene Teilhabe an diesem System zunehmend dosierte. Spreckels war sich bewusst, dass die Schuldenwirtschaft und zunehmende Großmannssucht des Königs – sichtbar etwa am Plan eines hawaiianischen Panzerkreuzers, dann einer Schlachtflotte – letztlich nicht haltbar waren. Er band deshalb Kredite zunehmend an Zusagen für Investitionsprojekte, forderte eine Abkehr von einer dominant konsumtiven Verwendung, war damit allerdings nicht erfolgreich.36 Ökonomische Rationalität unterminierte zunehmend die durch zahlreiche Dinner und Trinkgelage unterfütterte Männerfreundschaft von Spreckels und Kalakaua.

Diskurse – „Zuckerkönig“ Spreckels in der US-amerikanischen Öffentlichkeit Diese Geschichte ließe sich beträchtlich vertiefen, um weitere Facetten und auch geschäftliche Transaktionen ergänzen. Doch wichtiger zur Bewertung der Spreckelschen Einflussnahme ist, dass diese nicht nur im Königreich, sondern auch

33 Hawaiian Sugar, in: Chicago Daily Tribune (13.11.1882), 8. 34 Gerade in der deutschsprachigen Presse der USA wurde dies jedoch auch als Abkehr von ­republikanischen Traditionen gebrandmarkt. Der Deutsche Correspondent (20.7.1881), 1 schlug spöttisch den Titel „Spreckels I., von Dollars Gnaden König von Hawaii“ vor. 35 The Hawaiian Kingdom, in: Sacramento Daily Union (4.5.1893), 6. 36 Das Parlament diskutierte eine geplante Anleihe von zwei Mio. US-Dollar bei Londoner Banken allerdings kontrovers, vgl. Hawaiian Politics, in: Daily Alta California (31.10.1886), 5. Zugleich wurde in der Öffentlichkeit erörtert, dass Spreckels sich keinen Bruch erlauben könne, wolle er nicht den Ausfall der Kredite riskieren. Spreckels war allerdings bereit, sich aus dieser Lock-inSituation auch zu hohen Kosten zu befreien (vgl. Two Kings Quarrel, in: Ogden Standard Examiner (4.11.1886, 2).



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in den USA öffentlich debattiert und verhandelt wurde. Wirtschaftskriminalität und die Lauterkeit des Geschäftsgebarens waren spätestens seit dem Aufkommen einer skandalsensiblen Yellow Press in den späten 1870er Jahren wichtige Themen, deren Diskussion nicht auf eine kleine Inselgruppe begrenzt werden konnte.37 Der Bruch zwischen den beiden Machthabern war entsprechend auch auf die öffentlichen Folgekosten von Patronage und Korruption zurückzuführen. Doch auch hier gilt, dass es sich bei diesen Diskussionen nicht um wirtschaftskriminelle Straftatbestände handelte, sondern um moralisch anstößiges Verhalten, bei dem eine dominante wirtschaftliche Position unlauter ausgenutzt wurde. Spreckels Investitionen und Kredite eröffneten König Kalakaua Spielräume, um seine Träume eines mächtigen polynesischen Königreiches auszuleben – eine Weltreise zu den führenden Mächten unterstrich dies 1881 nochmals.38 Von den auswärtigen Mächten wurde die Inselgruppe jedoch primär als exotischer Operettenstaat verstanden, dessen eigentliche Macht eine kleine Gruppe von ausländischen Investoren innehatte. Schon früh führte dies – in den USA, aber auch in Großbritannien – zu Überlegungen, die Inselgruppe zu annektieren. Anfang der 1880er Jahre nahm man davon jedoch Abstand, da informelle Herrschaft und ökonomische Durchdringung ertragreicher erschienen als die direkte Beherrschung eines Königreiches mit einer in den öffentlichen Medien der „westlichen“ Welt fast durchweg rassistisch als faul und minderwertig bewerteten indigenen Bevölkerung. Informelle Herrschaft erlaubte zudem eine kontinuierliche Veränderung der Bevölkerungsstruktur Hawaiis, brachten die führenden Pflanzer doch tausende von Arbeitern und Siedlern in das Land: Im Falle von Spreckels handelte es sich anfangs um Deutsche, Norweger, US-Amerikaner und Portugiesen, dann aber vor allem um Chinesen und Japaner.

37 Die Anfänge der Yellow Press werden gemeinhin mit New York verbunden, rangen hier doch Ende der 1890er Jahre Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst um die Meinungsführerschaft. Doch Hearst begann seine Karriere 1887 in San Francisco, wo er die bestehende Zeitungslandschaft präzise analysierte und den San Francisco Examiner zur führenden lokalen Zeitschrift ausbaute – neben dem San Francisco Chronicle und dem dann von John D. Spreckels 1895 gekauften San Francisco Call. 38 William N. Armstrong, Around the World with a King. The Story of the Circumnavigation of His Majesty King David Kalakaua, New York 1904.

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Abb. 3: Karikatur eines Ausverkaufs: „Zuckerkönig“ Claus Spreckels (links) auf gleicher Ebene mit den führenden imperialen Nationen.39

Doch Spreckels ökonomische und politische Dominanz wurde in der US-­ Publizistik keineswegs als Ausdruck des überlegenen eigenen Wirtschaftsmodells gefeiert. Im Gegenteil: Seit den späten 1870er Jahren findet sich in den amerikanischen Medien eine kontinuierliche Kritik an der imperialistischen Dominanz

39 The Wasp 7 (1881), 64.



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des Deutsch-Amerikaners, an dessen Einflussnahme auf die Politik in Honolulu, Sacramento und Washington. Schon in den frühen 1880er Jahren ­entzündeten sich an diesem Beispiel breitere Debatten, die Vorboten der späteren populistischen Bewegung wurden, welche zugleich zentrale Reformgedanken des Progressivism publizistisch vorwegnahmen.40 Im vielgestaltigen Medienmarkt San Franciscos führte der San Francisco Chronicle der de Young-Familie die Phalanx der Kritiker an. Seit den späten 1870er Jahren skandalierte dieser frühe Repräsentant der Yellow Press die Verhältnisse im Spreckelschen Wirtschaftsimperium.41 Dieses wurde als Korruptionsregime beschrieben, als Verbrechen gegen Sitte und Anstand, gründend auf Sklavenwirtschaft; es galt, kurzum, als „unamerikanisch“. Das war auch eine Antwort auf Spreckels forcierte Nutzung asiatischer Kontraktarbeit, die ihm gerade bei irischstämmigen Zuwanderern Feindschaft bis hin zu Morddrohungen einbrachte.42 Im San Francisco Chronicle wurde allerdings vor allem die Coolie-Arbeit „weißer“ und christlicher portugiesischer Kontraktarbeiter thematisiert.43 Mochten die lokalen Zeitschriften auf Basis ihrer Berichte – und später auch offizieller Untersuchungen der portugiesischen und norwegischen Regierungen – zum Ergebnis kommen, dass die Lebensbedingungen der zugewanderten Arbeiter akzeptabel und deutlich besser als etwa in der Karibik waren, so konnte der Vorwurf ­menschenverachtender Bereicherung nicht vollends beseitigt werden.44 Er wurde selbst im deutschen Reichstag kontrovers diskutiert.45

40 Vgl. Michael McGerr, A Fierce Contest: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, Oxford/New York 2005. 41 Im Satiremagazin The Wasp, das später als eine von wenigen Zeitschriften die Bürgerrechte von Michael de Young verteidigte, hieß es über dessen Zeitung zuvor jedoch: „For many years the San Francisco Chronicle has terrorized this town. Its history, written in the blood of men and the tears of women, is a history of rapacity, cruelty, ruin, indecency, falsehood and exaction.“ The Wasp 7 (1881), 260. 42 Denis Kearney, Vorsitzender der Workingmen‘s Party, wurde daraufhin zu Geldstrafe und sechs Monaten Gefängnis verurteilt, vgl. Kearney in Court, in: Daily Alta California (13.5.1880), 1. 43 Prononciert war vor allem der vermeintliche Erfahrungsbericht Slave or Starve, in: Chicago Daily Tribune (18.10.1881), 5, der zuerst im San Francisco Chronicle erschienen war, anschließend in zahlreichen Tageszeitungen nachgedruckt wurde. Vgl. etwa Schwere Anklagen gegen einen Deutsch-Amerikaner, in: Der Deutsche Correspondent (29.10.1881), 5, allerdings mit einer Erklärung des Beschuldigten Claus Spreckels. 44 Vgl. The Chronicle on Hawaii, in: The Wasp 7 (1881), 277; The Argonaut 9 (22.10.1881), 8; The Attack on Claus Spreckels and its Motive, in: San Francisco News Letter 32 (1881/82), Ausg. v. 29.10., 10. Über lokale Untersuchungen auf Maui berichtete The „Chronicles“ Crow and What it Amounts to, in: San Francisco Merchant 14 (17.7.1885), 104. 45 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Leg. V, Sess. II 1882/83, Bd. 2, Berlin 1883, 1496–1498 (Kapp) sowie 1498f. (Dorhn).

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Der San Francisco Chronicle legte zugleich Woche für Woche mit einschlägigen Skandalberichten nach – zunehmend auch, um die Verlängerung des Reziprozitätsvertrages 1883/84 zu torpedieren.46 Viele Zeitschriften des Mittleren Westens und insbesondere der Ostküste übernahmen diese Position: „If there were no other reasons for throwing the Hawaiian reciprocity treaty into the wastebasket the moment it expires, the corruptions and frauds growing out of Claus Spreckels‘ sugar interests would be sufficient.“47 Korruption und Betrug waren Begriffe, die üblicherweise auf das politische Geschäft und seine Repräsentanten angewandt wurden. Mit Abwahl und dem Ausscheiden aus dem Amt schien ihnen einfacher beizukommen zu sein als mit dem Strafrecht. Auch die vielfältigen öffentlichen Vorwürfe gegen die sogenannten Robber Barons, also ruchlose, ihre wirtschaftliche Macht- oder Monopolstellung brutal ausnutzende Unternehmer, zielten weniger auf strafrechtliche ­Konsequenzen, sondern einerseits auf moralische Diskreditierung, anderseits auf eine effektivere Monopolgesetzgebung, um Macht- und Monopolstellungen im Ansatz zu bekämpfen.48 Die Spreckelsche Fallstudie zeigt aber, dass die Konfliktlinien der öffentlichen Debatten keineswegs klar waren. Der San Francisco Chronicle diente eben nicht allein der Enthüllung und Skandalisierung bestehender Missstände. Vielmehr wurden diese Presseartikel mit jährlich 50.000 US-Dollar von den führenden Zuckerfabrikanten der Ostküste finanziert. Sie sollten Spreckels öffentlich waidwund schießen, um ihn in den dann entstehenden Zuckertrust, die spätere American Sugar Refinery Company, zu integrieren.49 Wirtschaftskriminalität wurde zum Wettbewerbsfaktor. Spreckels Aktivitäten in Hawaii, in einem Umfeld strikter ökonomischer Dominanz, wurden im Interesse möglicher Wettbewerber

46 Vgl. Donald Marquard Dozer, The Opposition to Hawaiian Reciprocity, 1876–1888, in: Pacific Historical Review 14 (1945), 157–183. 47 Claus Spreckels‘ Monopoly, in: Chicago Daily Tribune (9.1.1883), 4. 48 Richard R. John, Robber Barons Redux: Antimonopoly Reconsidered, in: Enterprise and Society 13 (2012), 1–38. 49 Dieser Kampf um die Monopolstellung in den USA wurde seit den späten 1880er Jahren im Osten der USA geschlagen, als Spreckels als Antwort auf den Ankauf der letzten verbliebenen lokalen Konkurrenz durch die American Sugar Refining Comp. und direkte Angebote, sein ­Unternehmen für einen hohen Preis zu übernehmen, einen Preiskampf im Osten der USA führte, nachdem er in Philadelphia die größte Zuckerraffinerie der USA errichtet hatte. Am Ende stand ein für Spreckels profitabler Kompromiss, der ihm das de facto Monopol im Westen der USA bestätigte. Die Artikelserien in den 1880er Jahren führten insgesamt jedoch zu einer zunehmend kritischen Haltung in der Öffentlichkeit gegenüber den bestehenden Zuckermonopolen in Ost und West und auch den Frachtmonopolen einzelner Eisenbahnunternehmen (Hawaii-Zucker, in: Scranton Wochenblatt (23.2.1882), 2; California‘s new financial Era, in: American Settler (1.4.1881), 6; Railroad and Steamship Rates, in: San Francisco Merchant 10 (27.4.1883), 52).



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öffentlich thematisiert und skandaliert, um dessen relative Monopolstellung im Westen der USA moralisch zu diskreditieren und so zu unterminieren. Öffentliches Renommee und ein guter Leumund waren schließlich Geld wert – und entsprechend drastisch reagierte der Spreckelsche Familienclan. Als im November 1884 auch Claus Spreckels Ehefrau Anna Schmähkritik erfuhr, bewirkte dies eine „Ehrenhandlung“ ihres Sohnes Adolph B. Er begab sich in die Büroräume des San Francisco Chronicle, schoss zweimal auf den Verleger Michael de Young, der nur durch glückliche Umstände mit dem Leben davonkam.50 Sein Bruder Charles de Young war 1880 bereits einem Ehrenmord zum Opfer gefallen.51 Obwohl der Mordversuch als solcher unstrittig schien, gelang es der Spreckelsfamilie 1884/85 dennoch, die öffentliche Meinung San Franciscos in ihrem Sinne zu korrumpieren. Hatte es anfangs noch prononciert geheißen: „It is time that in California we should begin to punish our wealthy criminals“,52 so hatte sich die öffentliche Meinung bis zum mehrfach verschobenen Prozessbeginn im Juni und Juli 1885 deutlich verändert. Der ungeliebte jüdische Skandalverleger erschien im Prozess nicht als Kläger, sondern als Angeklagter. Gegen Boulevardjournalismus und Verleumdung schien Selbsthilfe mannhaft und legitim.53 Claus Spreckels zahlte allein 25.000 US-Dollar, um die Verteidigungsrede eines der Anwälte seines Sohnes in neun führenden Zeitungen und Zeitschriften als vielseitige Anzeige drucken zu lassen.54 Darin wurde das hawaiianische Engagement als zivilisatorische Leistung gewürdigt und die Kritik am Korruptionsregime detailliert besprochen und zurückgewiesen. Zugleich geißelten Spreckels Anwälte die Schattenmänner der östlichen Zuckerproduzenten und kehrten die Argumente um: Der Chronicle habe sich von den Spreckelschen Konkurrenten kaufen lassen, habe aus Gründen simpler Profitsucht einen ehrbaren Unternehmer diskreditiert, um so Zuckerproduzenten den Weg in den kalifornischen Markt zu ebnen, den sie durch lautere Arbeit nicht würden beschreiten können.55 Adolph B. Spreckels wurde am Ende wegen temporärer geistiger Unzurechnungsfähigkeit vom Geschworenenge-

50 The Ready Revolver, in: Daily Alta California (20.11.1884), 1; Another Shooting Affair in the San Francisco „Chronicle“ Office, in: Sacramento Daily Union (20.11.1884), 2. 51 Irving McKee, The Shooting of Charles de Young, in: Pacific Historical Review 16 (1947), 271–284. Der Attentäter, Sohn des damaligen Bürgermeisters San Franciscos, wurde gleichwohl freigesprochen. 52 The Argonaut 15 (22.11.1884), 3. 53 Zur Argumentationslinie vgl. bereits In Spreckels‘ Defense, in: Daily Gazette [Colorado Springs] (27.11.1884), 1. Zeitgenossen schätzten, dass während des Prozesses nur 15 Prozent der kalifornischen Presse sich für eine Verurteilung von Adolph B. Spreckels aussprachen (The „Chronicle“ Crow and What it Amounts to, in: San Francisco Merchant 14 (17.7.1885), 104). 54 The Golden Gate, in: Chicago Daily Tribune (28.6.1885), 8. 55 The Spreckels Case: H.E. Highton‘s Brillant Address to the Jury, in: The Wasp 15 (1885), Nr. 1, Suppl.

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richt freigesprochen – und blieb einer der führenden Unternehmer und Bürger der Stadt, von dessen zivilgesellschaftlichem Engagement der Golden Gate Park und das Kunstmuseum der Legion of Honor bis heute Zeugnis geben.56 Gleichwohl führte diese Debatte über das gekaufte Königreich zu zahlreichen Rückfragen an die Verantwortung von Unternehmern für die Produktionsbedingungen und die moralische Integrität von Privatunternehmern. Die Grenzen z­ wischen legitimer und illegitimer Einflussnahme standen zur Debatte, wurden verwoben mit der zunehmenden öffentlichen Kritik am Gebaren der Robber Barons des Gilded Age und der alltagsprägenden Korruption der politischen Maschinen.57 Spannend ist, dass auch Konsumentenpflichten in diesen Debatten verhandelt wurden. Vor dem Hintergrund des nicht nur in den USA und dem Pazifikraum virulenten Rassismus führten sie zu moralisch aufgeladenen Verhaltensstandards in Peripherien, aber auch den Metropolen; auch wenn deren Effekte kaum messbar sind.58 Diese Debatten wurden in Hawaii wohl zur Kenntnis genommen und befeuerten die Ansprüche der oligarchischen Opposition gegen das Doppelregime von Kalakaua und Spreckels. Doch es war unternehmerische Logik, die diesem ein Ende setzte. Spreckels war seit 1886 nicht mehr bereit, die teuren Eskapaden des absolut herrschenden Königs zu finanzieren, da eine Rückzahlung der großen Kredite nicht gesichert schien. Als Kalakaua daraufhin über Emissäre am L ­ ondoner Finanzmarkt eine Millionenanleihe auflegen wollte, forderte der Investor einen strikten Sparkurs, andernfalls aber sein Geld zurück. Der gekrönte Monarch zahlte, da britische Investoren seine finanziellen Verpflichtungen ­übernahmen.59 Spreckels politische Macht war dadurch gebrochen, im Zorn warf er dem König die zahlreich erhaltenen Orden und Ehrenauszeichnungen vor die Füße und verließ

56 Vgl. William B. Secrest, California Feuds: Vengeance, Vendettas & Violence on the Old West Coast, Sanger 2005, 114–118; Legion of Honor: Inside and Outside, hrsg. v. Fine Arts Museums of San Francisco, San Francisco 2013. 57 Vgl. Jack Beatty, Age of Betrayal: The Triumph of Money in America, 1865–1900, New York 2008. 58 Ein gutes Beispiel hierfür ist der zuvor im San Francisco Chronicle erschienene Artikel Sugar, in: Chicago Daily Tribune (7.2.1882), 7, in dem die Konsumenten einerseits über das Spreckelsche Monopol im Westen und die Tarifmonopole der westwärts fahrenden Eisenbahngesellschaften informiert wurden, aber zugleich eine Lanze für die Zuckerproduzenten des Ostens gebrochen wurde, die mit Unterstützung der Öffentlichkeit dieses doppelte Monopol brechen könnten. Auch hier gilt, dass Spreckels dieses Argument wenige Jahre später umkehrte, als er das Monopol des „Zuckertrusts“ im Osten attackierte, dazu die Preise deutlich senkte und immer wieder auf die sich daraus für den Konsumenten ergebenden Vorteile verwies. Als Ankündigung vgl. Spreckels in New York, in: Chicago Daily Tribune (7.3.1888), 6. 59 Zur Schuldenwirtschaft s. Richard C.K. Burdekin/Leroy O. Laney, Financial market reactions to the overthrow and annexation of the Hawaiian Kingdom: evidence from London, Honolulu and New York, in: Cliometrica 2 (2008), 119–141.



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die Inselgruppe.60 Selbst das hawaiianische Konsulat in San Francisco musste seine bisherigen Büroräume in der Spreckelschen Firmenzentrale räumen.61

Kolonialisierung – Staatliche vs. privatwirtschaftliche Einflussnahme Der Bruch zwischen den beiden hawaiianischen Herrschern führte allerdings nicht zu einem Ende der dominanten ökonomischen Stellung der Hawaiian Commercial Company, der damals größten Rohrzuckerplantage der Welt.62 Deren Ausbau endete erst im frühen 20. Jahrhundert. Das Königtum geriet dagegen 1887 in eine konstitutionelle Krise, nachdem das autokratische Regiment von König Kalakaua und Ministerpräsident Walter M. Gibson sowie die wachsende Schuldenlast zu einem ersten Putsch der Mehrzahl der Pflanzer geführt hatte. John D. Spreckels kommentierte lapidar: „The extravagance and mismanagement of King Kalakaua has created a feeling of great dissatisfaction among the foreign residents.“63 Zugleich dementierten Spreckels Söhne bestehende Gerüchte, der Aufruhr sei von ihrem Vater unterstützt oder gar initiiert worden.64 Der König sah sich jedenfalls gezwungen, eine neue Konstitution zu unterzeichnen, die seine Rechte deutlich beschnitt, während sie die des Parlaments deutlich aufwertete. Nach dem Tode Kalakauas in San Francisco 1891 – Claus ­Spreckels saß nach einer Versöhnung 1889 an seinem Sterbebett – übernahm dessen Schwester ­Liliuokalani 1891 den Thron, doch sie scheiterte mit dem Versuch, sowohl Reformen als auch eine neue autokratische Verfassung durchzusetzen. 1893 kam es dann zu einem erneuten Putsch vor allem US-amerikanischer Annexionisten – und die Frage der Über-

60 Spreckels war beispielsweise seit 1879 Knight Commander of the Order of Kalakaua. Sir Claus Spreckels, in: San Francisco News Letter 29 (1878/79), Ausg. v. 5.4., 2. Zu den Geschehnissen s. The Two Sandwich Kings, in: Chicago Daily Tribune (2.5.1887), 9. 61 The Hawaiian Consulate, in: San Francisco Merchant 17 (1886/87), Ausg. v. 10.12., 57. 62 Vgl. The Hawaiian Commercial and Sugar Company‘s Estate in Spreckelsville, Maui, H.I., in: The Planter‘s Monthly 8 (1889), 68–75; Jacob Adler, The Spreckelsville Plantation: A chapter in Claus Spreckels‘ Hawaiian Career, in: California Historical Society Quarterly 40 (1961), 33–48. 63 Serious Troubles on the Hawaiian Islands, in: Los Angeles Herald (17.6.1887), 1. 64 What is Said, in: Daily Alta California (10.7.1887), 1. Zu anders lautenden Gerüchten s. etwa Hawaii‘s New Regime, in: Boston Daily Globe (11.7.1887), 5; Die Revolution auf Hawaii, in: Der Deutsche Correspondent (12.7.1887), 1.

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nahme Hawaiis durch die USA war wieder akut.65 Anders ausgedrückt: Die USA sollten im Sinne einer kapitalkräftigen oligarchischen Elite die rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen garantieren, die eine notorisch korrupte und auf eigene Vorteile bedachte Monarchie nicht liefern konnte. An die Stelle privatwirtschaftlicher Ordnung sollte staatliche Dominanz treten. Claus Spreckels positionierte sich 1893 allerdings als zentraler Antipode der Annexionisten; auch wenn er anfangs deren Kernziel unterstützt hatte.66 Eine Kolonisierung Hawaiis hätte die Anwendung US-amerikanischen Rechtes inklusive des Chinese Exclusion Act von 1892 bedeutet: In seinen Plantagen hätte er dann keine chinesischen Kontraktarbeiter mehr neu einstellen können und deutlich höhere Löhne bezahlen müssen. Auch wenn es Spreckels trotz hohem persönlichen Engagement in Hawaii nicht gelang, die Monarchie wieder zu restituieren, so bewirkten seine direkten Interventionen in Washington doch einen Aufschub der formalen Kolonialisierung Hawaiis.67 Öffentlich erklärte Spreckels: „I am opposed to stealing and do not believe that might make right.“68 Letztlich aber setzten sich nach dem Ende eines demokratischen Zwischenspiels in Washington die außenpolitischen Interessen der aufstrebenden Pazifikmacht USA und die ökonomischen Interessen der führenden Zuckerpflanzer durch; auch um den Einfluss Großbritanniens in der Region zu begrenzen. 1898 wurde das frühere Königreich Territorium der USA. Zu diesem Zeitpunkt hatte Claus Spreckels seine Aktienmehrheit an der Hawaiian Commercial Company jedoch bereits an zwei seiner Söhne abtreten müssen, die diese ihrerseits 1898 durch eine für sie finanziell sehr profitable feindliche Übernahme verloren.69 Der wirtschaftliche Einfluss der Spreckelsfamilie blieb auch danach beträchtlich, doch sie stand nun in einer Reihe mit anderen finanzstarken und politisch einflussreichen Familien und Interessenten.

65 Diese Vorgeschichte der Annexion ist bis heute Anlass vielfältiger Debatten, nicht zuletzt über die historische Identität Hawaiis und die koloniale Vergangenheit der USA. Vgl. zuletzt etwa Julia Flynn Siler, Lost Kingdom: Hawaii‘s Last Queen, the Sugar Kings, and America‘s First Imperial Adventure, New York 2012. 66 Leading Men Favor a Republic, in: Chicago Daily Tribune (4.4.1893), 4; A Waiting Game, in: Sacramento Daily Union (18.5.1893), 6. 67 Spreckels Will Protest, in: San Francisco Morning Call (19.8.1893), 1. 68 Spreckels on Annexation, in: Chicago Daily Tribune (23.10.1893), 1. 69 Claus A. Spreckels, drittältester Sohn von Claus Spreckels, berichtete später vor einem ­Senatsausschuss, dass er seine Aktien der Hawaiian Commercial and Sugar Company für 10 USCent pro Stück gekauft und für 40–80 US-Dollar verkauft habe: „That is better than a gold mine […]“. Hearings held before the Special Committee on the Investigation of the American Sugar Refining Co. and others. House of Representatives, Bd. III, Washington, 1911, 2209–2216, hier 2215.



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Abb. 4: Spreckels als vermeintlicher Strippenzieher der hawaiianischen Revolution 1893.70

70 Judge Magazine 24 (18.2.1893), s. p.

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Schlussthesen Die zeitweilige Etablierung einer auf Patronage und Korruption basierenden Herrschaft im Königreich Hawaii war Ausdruck einer relativ einzigartigen Konstellation: Ein kleiner, ambitionierter Staat mit einem die Grenzen seiner Macht nicht realisierenden König und ein kapitalkräftiger Investor, der etwas Neues schaffen wollte und diesem Ziel die für ihn in Kalifornien geltenden Grundsätze kaufmännischer Ehrbarkeit unterordnete.71 Und doch bietet diese Fallstudie ­ spannende Vergleichsmöglichkeiten, um weitere Forschung anzuregen: Wirtschaftskriminalität war, erstens, in Hawaii (und den USA) eine gängige und weithin angewandte Praxis, um erfolgreich in einem korrupten Umfeld agieren zu können. Die Grenzen zwischen harter Geschäftspolitik, Patronage und Korruption waren dabei fließend. Derartige ökonomisch begründete Einflussnahmen waren in Hawaii entweder nicht verboten oder wurden de facto nur in Ausnahmefällen bestraft. Auch die Mehrzahl der in den USA in Klubs und der Handelskammer organisierten Unternehmer sah keinen Anlass, die wirtschaftlichen Praktiken in den neu zu erschließenden Gebieten zu kritisieren. Schließlich galt es, lokale Gegebenheiten zu nutzen. Wirtschaftskriminalität war, zweitens, ein öffentlich verhandeltes Thema innerhalb und außerhalb von Hawaii. Sie konnte nicht geheim gehalten werden, sondern drängte förmlich in die Öffentlichkeit. Dabei wurde weniger mit juristischen Standards als vielmehr mit moralischen Argumenten argumentiert, obwohl ein Rekurs auf das hawaiianische Strafrecht durchaus möglich gewesen wäre. Negative Renommee-Effekte und nachrichtensensible Aktienkurse waren für die Hawaiian Commercial Company letztlich aber bedrohlicher als schwer nachweisbare Straftatbestände. Wirtschaftskriminalität war, drittens, ein integrales Element des ökonomischen Wettbewerbs. Spreckels Konkurrenten nutzten ihr Wissen, um dessen Leumund und persönliche Integrität zu unterminieren. Nicht faktengetreue Aufarbeitung und anschließende Gerichtsverfahren standen im Mittelpunkt, sondern Übersteigerung und Desinformation. Paradoxerweise führte dies mittelfristig, gestützt auch von breiten Teilen der Wirtschaft, zu strikteren Standards

71 Die Rechtfertigung erfolgte vielfach auf rassistischer Grundlage, schien Herrschaftserringung doch erforderlich, um die indigene Bevölkerung einer besseren Zukunft zuzuführen: „I can lead the Kanakas because I know them“. The Sugar King of Hawaii, in: Salt Lake Herald (4.5.1893), 1.



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für unternehmerisches Handeln, zum Aufbau öffentlichkeitswirksamer PR und der partiellen Unterstützung von Reformbestrebungen des Progressivism.72 Das Fallbeispiel des gekauften Königreichs zeigt schließlich, viertens, die enge Interaktion von Peripherien und Zentren. Die skandalisierten ­Verhaltensweisen schlugen zurück auf die Akteure. Praktiken auch in peripheren Gegenden wurden bekannt und in den Zentren diskutiert. Claus Spreckels selbst änderte spätestens nach dem Attentat seines Sohnes seine Geschäftspraktiken und investierte seit den späten 1880er Jahren viel Zeit und Geld in ein neues Image als Monopolbrecher und Wohltäter Kaliforniens.

72 Innerhalb der Spreckelsfamilie war es der jüngste Sohn Rudolph, der zuerst in den von ihm bezahlten Bestechungsprozessen die korrupte Stadtregierung San Franciscos 1906/08 vor ­Gericht brachte, dann aber 1908/09 daran scheiterte, auch die für die Bestechungszahlungen verantwortlichen Unternehmer ins Gefängnis zu bringen. Die von ihm 1910 mitgegründete ­National Antigraft Movement fand breiten Widerhall in Wirtschaftskreisen, ohne aber die meist lokalen Korruptionsverhältnisse nachhaltig verändern zu können. Vgl. Mission of a Millionaire, in: Duluth Herald (16.12.1910), 11.

Volker Köhler

W  irtschaftskorruption in der ­Weimarer Republik? Der Verein gegen das ­Bestechungsunwesen und dessen ­Korruptionskommunikation „Korruption“ war ein in der Presselandschaft der Weimarer Republik häufig gebrauchter Vorwurf. Zeit ihres Bestehens wurde die erste deutsche Republik von größeren und kleineren Korruptionsskandalen erschüttert. Anders als zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren diese immer mit dem politischen Feld verwoben. Sie  hatten den Angriff auf die Republik oder einzelne Politiker zum Kern. Skandale oder Korruptionsvorwürfe, bei denen das Fehlverhalten von Akteuren aus der  ­Wirtschaft im Vordergrund stand, waren verschwindend gering. Zwar hatten  Korruptionsskandale oftmals eine als unzulässig wahrgenommene Verbindung zwischen Politikern und Unternehmern zum Thema, doch wurde über das Verhalten der Politiker, nicht das der Unternehmer geurteilt. Wenn Unternehmer thematisiert wurden, so unter anderem unter Zuhilfenahme antisemitischer Klischees als zwielichtige Gestalten, die in Staat und Gesellschaft nicht hofiert werden dürften. Das Zwielichtige des Unternehmers fiel wiederum auf den Politiker zurück, der dem unlauteren Verhalten überhaupt erst eine Möglichkeit zur Entfaltung gegeben habe. Dieser Befund trifft auf Skandale um öffentliche Auftragsvergaben wie Sklarz und Barmat-Kutisker, aber auch auf Skandale zu, in denen es zu einer Vermischung von Wirtschaft, Politik, persönlichen Interessen und Gemeinwohl kam, wie etwa der Fall Erzberger-Helfferich; auf sie wird im Folgenden noch kurz eingegangen.1 Wie kam es, dass sich die Presse so wenig für das korrupte Verhalten der Unternehmer interessierte? Und welche Möglichkeiten eröffnete dies den U ­ nternehmern?

1 Vgl. allgemein zu Korruptionsskandalen in der Weimarer Republik Annika Klein, Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2014. Zur Bedeutung von Korruptionsskandalen für die Nationalsozialisten in den letzten Jahren der Republik Cordula Ludwig, Korruption und Nationalsozialismus in Berlin 1924–1934, Frankfurt a.M. 1998.

Anmerkung: Dieser Artikel verdankt den regen Diskussionen mit meinen Kolleginnen Annika Klein und Anna Rothfuss mehr als in Zitationen alleine gewürdigt werden kann. Daher möchte ich den beiden für ihre Gedanken und Kritiken in dieser Anmerkung gesondert danken. Für wertvolle Hinweise danke ich Robert Bernsee und Ralf König.



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Diesen Fragen will der Artikel nachgehen. Die zugrunde liegende These ist dabei, dass die Konzentration des Korruptionsvorwurfs auf die Sphäre des P ­ olitischen Unternehmern und Unternehmen spezifische Handlungsspielräume eröffnete, in welchen zwar auch über Korruption und Bestechung verhandelt wurde, allerdings in einer vermeintlich objektiven Sprache, die damit u ­ nangreifbarer und operationalisierbarer war als die aufgeladene und hitzige Debatte über politische Korruption. Um diese These zu überprüfen, soll im Folgenden zunächst das Reden über Korruption, sodann sehr knapp das Reden über Wirtschaft in der Weimarer Republik betrachtet werden. Anschließend soll am Fallbeispiel des Vereins gegen das Bestechungsunwesen, eines Interessenverbandes der Wirtschaft, gezeigt werden, welche Möglichkeiten für die Akteure bestanden, über Korruption in der Wirtschaft zu sprechen oder auch gezielt nicht zu ­sprechen. Dabei gilt: Über Korruption zu sprechen, kann nie bedeuten, korrupte Praktiken eins zu eins zu identifizieren. „Korruption“ und das zugehörige Adjektiv „korrupt“ sind in der deutschen Sprache eine Bewertung, kein Sachverhalt. Das deutsche Strafgesetzbuch kannte weder zur Weimarer Zeit, noch kennt es heute einen Straftatbestand Korruption.2 Es gab in der Weimarer Zeit keine allgemein verbindliche ­Definition von „Korruption“. Der Begriff konnte vielmehr eine Vielzahl von Handlungen bezeichnen, unter anderem Bestechung, Veruntreuung, Betrügerei, Falschinformation oder auch unter der Hand gehandelte Güter oder in personalen ­Netzwerken vergebene Kredite oder Posten. In verschiedenen Kombinationen wurden derartige Praktiken gerne als „korrupt“ diffamiert.3 An dieser Stelle ist wichtig festzustellen, dass „Korruption“ als reine Zuschreibungskategorie verstanden werden soll. Diese ermöglichte die Delegitimierung verschiedener Praktiken. Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung in Praktiken wie Bestechung auf der einen und einer Zuschreibung von „Korruption“ auf der anderen Seite spitzfindig erscheinen. Sie hat für die Analyse von Korruption und für die Frage nach der fehlenden Thematisierung von Wirtschaftskorruption in der Weimarer Republik jedoch weitreichende Bedeutung. Die Differenzierung in Praktiken und Debatten, wie ein derartiger Zugriff auch beschrieben werden könnte, hat erstmals Jens Ivo Engels für die historische Korruptionsforschung vorgeschlagen, der ­ orruption sich dabei, wie auch andere Historiker, die sich im 21. Jahrhundert mit K beschäftigen, an die Korruptionsdefinition des Politikwissenschaftlers Michael

2 Nach heutigem Recht wird u.a. Beamtenbestechung nach §299 StGB, Untreue nach §266 StGB, Bestechung und ähnliche Phänomene innerhalb der Wirtschaft auf Grundlage des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG, Erstfassung von 1896, heutige Fassung von 2004), bewertet. 3 Vgl. wiederum Klein, Korruption (wie Anm.1) für eine Übersicht derartiger Fälle.

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Johnston anlehnt. Johnston definiert Korruption als „Missbrauch einer öffentlichen Rolle zum privaten Nutzen und zwar gemäß der rechtlichen oder sozialen Standards der jeweiligen Ordnung.“4 Interessant ist dabei, dass sich diese Definition, wie die aus ihr hervorgehenden oder von ihr inspirierten Analysemethoden, durch den Bezug auf die öffentliche Rolle auf einen Korruptionsbegriff stützt, der dem eingangs erwähnten Korruptionsverständnis der Weimarer Presse nahekommt. „Korruption“ kann demnach nur stattfinden, wo öffentliche Rollen existieren – klassischerweise als Posten in Politik und Verwaltung. Dies ist in sich selbst bereits ein explanans. Wenn Korruption nur diagnostiziert werden kann, wo öffentliche Ämter verstanden werden, so kann Wirtschaftskorruption nur in einem Diskussionszusammenhang verstanden werden, in welchem auch Angestellte einer Firma als im öffentlichen Raum handelnd, sich öffentlichen Normen unterwerfend angesehen werden. Bevor diese Feststellung im Abschnitt über Reden über Wirtschaft genauer aufgegriffen wird, zurück zum Reden über Korruption im engeren Sinne.

Reden über Korruption Als 1919 die ersten großen Korruptionsskandale über die Weimarer Republik hereinbrachen, war Korruption ein bereits etabliertes Wort und Wortfeld.5 Bereits im Kaiserreich hatte es spektakuläre Korruptionsfälle gegeben. Insbesondere unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es mit den Fällen Kornwalzer und Eulenburg zu zwei großen Skandalen, welche in ihrer Unterschiedlichkeit bereits auf die Begriffsgeschichte des Wortes Korruption in der deutschen Sprache hinweisen. Während es im Fall Kornwalzer um Korruption als wirtschaftlich-­politisches Fehlverhalten ging, stand bei der Eulenburg-Affäre die moralische Korruption im Vordergrund.6 So ging es im Eulenburg-Skandal um den moralischen Verfall, die

4 Johnston-Definition, zit. n. Jens Ivo Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014, 29. Siehe für Anwendungen auch mit ­Anlehnung an Systemtheorie Niels Grüne, „Und sie wissen nicht, was es ist“. Ansätze und Blickpunkte historischer Korruptionsforschung, in: ders./Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010, 11–34; eher klassisch: Gjalt de Graaf u.a., Constructing Corruption, in: ders. u.a. (Hrsg.), The Good Cause. Theoretical Perspectives on Corruption, Opladen 2010, 98–114. 5 Jens Ivo Engels datiert die feste Etablierung des Begriffes Korruption um 1900, vgl. Engels, Korruption (wie Anm. 4), 170. 6 Für die Skandale vgl. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009 sowie spezifisch für den Eulenburg-



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moralische Korruption der politischen Elite, wobei die Homosexualität des Kaiservertrauten Philipp von Eulenburg einen zentralen Aspekt darstellte. Im von der SPD initiierten Kornwalzer-Skandal war es die enge Verbindung des Waffenherstellers Krupp mit staatlichen Eliten, die im Fadenkreuz der Korruptionskritik stand. Der Korruptionsskandal sollte, auf diesen Skandalen aufbauend, während der Weimarer Republik eine neue, systemdestabilisierende und wirkmächtige Rolle bekommen. Annika Klein führt dies darauf zurück, dass die „hohe Anschlussfähigkeit“ des Korruptionsdiskurses diesen zu einem Grundelement politischer Kommunikation machte, dessen gemeinsames Repertoire an Bildern, Tropen und Themen von allen politischen Akteuren geteilt wurde. Die aufgeheizte Atmosphäre in der Presse führte dabei aber zu einer zunehmenden Akzentuierung des republikfeindlichen Potentials der Korruptionskommunikation.7 Darin bestand der große Unterschied zu den Korruptionsskandalen im Kaiserreich, in denen nicht das politische System an sich, sondern nur die Eliten als korrupt gebrandmarkt wurden: In der Weimarer Republik verschob sich der Fokus auf das politische, nun republikanische System: Korruptionskommunikation wurde im Laufe der 1920er Jahre allgegenwärtig. Wie die ersten großen Korruptionsskandale der Republik, die Fälle Sklarz und Erzberger-Helfferich, andeuten, behandelten viele der in Presse und Gerichten verhandelten Korruptionsvergehen Vorgänge, die im Ersten Weltkrieg oder der Nachkriegszeit stattgefunden hatten, um daran aber die Korruption der Republik zu erörtern. Der erste große Fall dieser Art war der Konflikt zwischen dem deutschnationalen Politiker Karl Helfferich und dem Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger. Der Verlauf und die Form, welche dieser Fall annahm, waren sinnbildlich für viele andere Fälle. Karl Helfferich beschuldigte

Skandal Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt a.M. 2010 und folgende Sammelrezension: Lothar Machtan, Rezension zu Peter ­Winzen, Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909. Köln 2010 / Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine ­politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Frankfurt a.M. 2010 / Wolfgang Wippermann, Skandal im Jagdschloss Grunewald. Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich. Darmstadt 2010, in: HSoz-Kult, 08.12.2010, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15492 ­[letzter Zugriff: 18.3.2015]. Zu „Kornwalzer“: Frank Bösch, Krupps „Kornwalzer“ ­Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), 337–379 und Jens Ivo Engels/ Anna Rothfuss, Les usages de la politique du scandale. Le SPD et les débats sur la corruption politique pendant le Kaiserreich (1873–1913, in: Cahiers Jaurès 209 (2013), 33–51. 7 Vgl. Klein, Korruption (wie Anm. 1), v.a. 484–494. Zum Begriff der Korruptionskommunikation, vgl. auch den systemtheoretischen Ansatz von Niels Grüne/Tom Tölle, Corruption in the Ancien Régime: Systems-theoretical Considerations on Normative Plurality, in: Journal of Modern European History 11 (2013), 31–51, hier 31ff.

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mit Matthias Erzberger einen seiner einstmals schärfsten Widersacher in der Kolonialpolitik, während des Ersten Weltkrieges in mehreren Fällen politische Entscheidungen im Gegenzug zu ökonomischen Belohnungen verschiedener Art getroffen zu haben. Helfferichs Anschuldigungen mündeten darin, dass Erzberger Beleidigungsklage gegen diesen erhob. Im daraus resultierenden Prozess war zwar Erzberger Kläger und Helfferich Angeklagter, doch konnte Helfferich den Prozess als Bühne nutzen, um seine Vorwürfe der Korruption, konkret der politischen Einflussnahme für Unternehmen während des Krieges, einer breiten Öffentlichkeit vorzutragen. Die Presse ging darauf zum Großteil auch ein, so dass Erzberger zwar den Prozess gewann, den Skandal aber, wenn man so will, verlor.8 Im Falle Sklarz ging es um das Fortbestehen von im Krieg geknüpften Beziehungen zwischen den Unternehmern Sklarz und sozialdemokratischen Politikern, die in der Nachkriegszeit zu weiteren vorteilhaften und intransparenten Auftragsvergaben geführt haben sollen. Beide Fälle wurden in der kritischen Presse aber nicht als Versagen der Eliten, sondern als Versagen des republikanischen Systems dargestellt.9 Auch der größte Korruptionsskandal der Weimarer Zeit, der sogenannte „Barmat-Kutisker-Skandal“, führte inhaltlich auf den Krieg und die Nachkriegszeit zurück, in welcher sich die in Holland lebenden ostjüdischen Brüder Barmat Kontakte in der deutschen Sozialdemokratie aufbauten, über die sie später an Lebensmittelaufträge des Reiches, aber auch einzelner Länder wie Sachsen, gelangten.10 Zudem ging es um ein ehemaliges Militärlager des Heeres, welches über zweifelhafte Wertschätzungen, Wechselgeschäfte und Kreditvergaben zu einem Spekulationsobjekt verschiedener Geschäftspartner, darunter auch die Barmats, wurde. Die so entstandenen Kontakte nutzten die Barmats in den Folgejahren weiter aus und umwarben Politiker der republikfreundlichen Parteien mit Festen und Geschenken, bis das so entstandene Unternehmensimperium im Zuge der Stabilisierungskrise 1924 vor dem Zusammenbruch stand und die Barmats versuchten, über persönliche Kontakte bei Politikern wie dem ­Postminister Höfle Kredite

8 Und auch den Prozess gewann er eigentlich nicht, da der konservative Richter Helfferich ­soweit es nur ging entgegenkam, vgl. Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt a. M. 1976, hier 392–411. 9 Erzberger sollte als Person und Repräsentant der Republik diskreditiert werden, vgl. Klein, Korruption (wie Anm. 1), 101f.; Sklarz wurde als Bezugspunkt republikkritischer Stimmen etabliert, vgl. ebd., 157. 10 Vgl. zum Fall Barmat, Klein, Korruption (wie Anm. 1), 229–293 und Martin H. Geyer, Der Barmat-Kutisker-Skandal und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der politischen Kultur der Weimarer Republik. in: Ute Daniel, Politische Kultur und Medienwirklichkeiten in den 1920er Jahren, München 2010, 47–80.



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zu erhalten.11 Korruptionsskandale in den späten Jahren der Weimarer Republik entfernten sich etwas von diesem Hintergrund, so ging es etwa bei dem im Jahre 1929 die Schlagzeilen beherrschenden Skandal „Sklarek“ um Textilaufträge der Stadt Berlin in den Jahren ab 1921.12 Immer wurde in den Debatten jedoch die Verbindung von Wirtschaft und Politik verhandelt, immer stand das Ziel, die Politik als gesellschaftlichen Teilbereich zu attackieren, im Mittelpunkt. Das galt selbst für den Fall Barmat, in dem zwar scheinbar die Unternehmer im Vordergrund standen, die jedoch von rechten Parteien und Zeitungen wie etwa dem Völkischen Beobachter als Symbol für das Eindringen unerwünschter Fremdkörper in die Gesellschaft („Ostjuden“) instrumentalisiert wurden und die korrupte Republik und die korrupten republikanischen Politiker bloßstellen sollten.13 „Korruption“ war trotz aller Anschlussfähigkeit ein zuvorderst politischer Kampfbegriff. Er diente zur moralischen Verurteilung und damit Entwertung des Gegners, innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen. Dies galt im parteiinternen Kampf nicht nur für die Parteien des rechten und linken Randes, sondern auch etwa für die SPD, in deren internen Richtungsstreitigkeiten der Ursprung des Sklarz-Skandals begründet lag. So wurde das den Fall ins Rollen bringende Material zunächst SPD-Mitgliedern übergeben, welche sich dann parteiintern mit den unter anderem beschuldigten führenden Reichspolitikern Philipp Scheidemann, Gustav Bauer und Friedrich Ebert, auseinandersetzten. Erst nach einigen Wochen kochte die Affäre in der Öffentlichkeit hoch.14 Wie die bisherigen Fälle mit ihrem Fokus auf republikanischen Politikern zeigen, eignete sich der Korruptionsvorwurf im Klima der Weimarer Republik mehr zur Delegitimierung der Republik und ihrer Befürworter als zum Angriff auf Republikgegner oder die Anwendung auf nichtpolitische Bereiche der Gesellschaft. Die Republik wurde in dieser Sichtweise zu einem unorganischen, künstlichen Konstrukt, das Dissonanz und Diskrepanz innerhalb der „Volksgemeinschaft“ fördere und damit – zugespitzt ausgedrückt – die eigentliche „Essenz“ der deutschen „Gemeinschaft“ korrumpiere. Derartige Vorstellungen kamen in Metaphern wie dem „kranken Volkskörper“ zum Vorschein.15 Die Politiker, die in der Republik zu Prominenz gelangten und die neue Staatsform verteidigten, seien

11 Vgl. für den Fall zeitgenössisch Victor Schiff, Die Höfle-Tragödie. Geschichte eines Justizmordes, Berlin 1925. 12 Vgl. Klein, Korruption (wie Anm. 1), 296–365 und Ludwig, Korruption (wie Anm. 3), 133–166. 13 Vgl. insbesondere Geyer, Barmat-Kutisker (wie Anm. 10), aber auch Klein, Korruption (wie Anm. 1), 267. 14 Vgl. Klein, Korruption (wie Anm. 1), 116f. 15 Moritz Föllmer, Der „kranke Volkskörper“. Industrielle, hohe Beamte und der Diskurs der nationalen Regeneration in der Weimarer Republik, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 41–67.

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nicht die Führerfiguren, die das Volk brauche, sondern nur auf die Maximierung von Partikularinteressen aus. Derartige Kritik erschien unter dem Schlagwort der „Futterkrippe“ immer wieder in der republikkritischen Presse. So beispielsweise in Sachsen in den Jahren der sozialdemokratischen Regierungskonstellationen 1918–1923, aber auch als Vorwurf gegen die Versuche der Republikanisierung der Verwaltung unter den preußischen Innenministern Carl Severing und Albert Grzesinski (1920–1930). Unter diesem Kampfbegriff erhob man den an sächsische und preußische Sozialdemokraten gerichteten Vorwurf, die öffentliche Verwaltung als Versorgungsstelle für Parteigenossen zu missbrauchen. Verwaltungsposten würden an Parteigenossen vergeben, ohne auf deren Qualifikation für die jeweilige Stelle zu achten. Dem Gemeinwohl dienten die republikanischen Politiker und die republikanischen Institutionen dabei nicht.16 Die Weimarer Presselandschaft mit ihrer zunehmenden Kommerzialisierung auf der einen und Politisierung auf der anderen Seite, war ein idealer Multiplikator für derartige Korruptionsvorwürfe.17 Einerseits war der Pressemarkt in Deutschland umkämpfter als in vielen anderen europäischen Ländern. Andererseits erlaubten es technische Innovationen, mehrere Ausgaben täglich zu ­produzieren, die alle mit Inhalt gefüllt werden mussten.18 Dieser Befund gilt insbesondere für die medialen Organe der radikalen Parteien KPD und NSDAP, wie etwa Rote Fahne oder die Brennessel. Sie nutzten den „struggle for interpretative dominance“ in der Presse, um mit möglichst radikalen Enthüllungen die Republik zu delegitimieren.19 Was genau „Korruption“ aber bezeichnete, blieb weiter offen. Korruption konnte alles beinhalten, von Gefälligkeiten über Amtsmissbrauch und Bestechung. Wurde „Korruption“ in der Presse oder im Reichstag behandelt, so ging es zumeist nicht um einzelne, isolierte Fälle derartiger Praktiken, sondern um Gabentauschketten und Netzwerke, welche im Verborgenen agierten. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, auf die offensichtliche Unterscheidung von Amt und Mandat zu achten. Politiker, die ein Mandat innehatten, beispielsweise Parlamentarier, hatten andere Beurteilungen zu erwarten und wurden an anderen Maßstäben gemessen als Politiker, die ein Amt ausübten, beispielsweise Minister. Als Mandatsträger war man Vertreter von Partikularinteressen, einer Partei, einer

16 Vgl. etwa „Die Futterkrippe im Freistaat ‹Sachsen›“, in: unbekannter Zeitung (24.1.1922), Abendausgabe, zit. n. SHStA DD 10702197; „Futterkrippen-Korruption“, in: Leipziger Allgemeine Zeitung (6.11.1921) oder Briefwechsel zwischen Elard von Oldenburg-Januschau und Freiherr von Gayl: Brief vom 8.4.1924, BArch R 8003/9, fol. 46–51, Zitat Bl. 50. 17 Vgl. Bernhard Fulda, Press and Politics in the Weimar Republic, Oxford 2009, v.a. 31–42, aber auch für eine allgemeine Übersicht Kurt Koszyk, Deutsche Presse, 1914–1945, Berlin 1972. 18 Vgl. Klein, Korruption (wie Anm. 1), 52ff. 19 Zitat Fulda, Press (wie Anm. 17), 45.



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Region, einer Organisation oder eines Interessenverbandes. Als solche hatten die Verfassungsväter die Rolle des Mandats konzipiert und als solche erkannte man sie auch in der Verfassungswirklichkeit an.20 Als Amtsträger vertrat man das Gemeinwohl und musste sich so an anderen Maßstäben messen lassen; beispielsweise konnte die Mitgliedschaft in einem Aufsichtsrat einem Amtsträger zum Verhängnis werden, einem Mandatsträger wurde sie zugebilligt. Hier ist nur an das Beispiel Erzberger zu denken, aber auch an den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, der vor seiner Wiederwahl zusichern musste, seine Einkünfte aus der Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Bank wohltätigen Zwecken zukommen zu lassen.21 Gerade am Beispiel Adenauers und des sprichwörtlichen „Kölschen Klüngels“ wird klar, dass derartige Aufsichtsratsposten nur als Symptom für eine enge Verflechtung von Politik und Wirtschaft angesehen wurden. Adenauers enge Beziehungen zu anderen Unternehmern und Bankern des Rheinlandes wie Louis Hagen oder Paul Silverberg, könnte man hier ergänzend erwähnen.22 Mandatsträgern wurde hingegen offen eingeräumt, dass sie sich für Interessenverbände und andere Gruppierungen auch in ihrer politischen Arbeit einsetzen durften.23 Dabei stellt sich nun die Frage, auf welcher Seite Akteure aus dem Bereich der Wirtschaft eingeordnet wurden. Sah man sie in den großen Korruptionsskandalen als randständig an, weil ihr Recht auf die Vertretung von Partikularinteressen als legitim angesehen wurde oder weil sie nicht Teil der politischen Kampagne waren? Dazu einige Worte über in Wissenschaft und Unternehmerkreisen kursierende Vorstellungen von Wirtschaft während der Weimarer Republik.

Reden über Wirtschaft Über Wirtschaft reden, bedeutete Vorstellungen von Wirtschaft zu artikulieren. Über Wirtschaft nach 1918 reden, bedeutete auch immer sich im Nachhall zur Ausnahmesituation des Ersten Weltkrieges zu bewegen.24 Wie in diesem kurzen Abschnitt dargelegt werden soll, bedingten gewisse Vorstellungen von Wirtschaft als hochgradig organisiertem, aber eigenständigem Bereich der Gesellschaft, den

20 Eine konzise Übersicht über die Verfassung und deren Konstruktion: Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik, München 82013, 181. 21 Vgl. Henning Köhler, Adenauer. Eine politische Biographie, Band 1, Berlin 1997, 224f. 22 Vgl. ebd., 183 und 196f. 23 Vgl. zeitgenössisch Walter Lambach, Die Herrschaft der Fünfhundert, Hamburg 1928, 76ff. 24 Vgl. u.a. Moritz Föllmer, Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe ­Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002, 191ff.

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Rahmen, in welchem Praktiken der Unternehmer als „korrupt“ zu diffamieren waren. Im Sinne einer „Gemeinwirtschaft“ konnten etwa Verflechtungen und Absprachen zu großen Teilen erwünscht sein. Die staatliche organisierte Zwangswirtschaft der Jahre 1914–1918 hatte zu einem bis dahin unbekannten Nahverhältnis von Wirtschaft und Politik geführt.25 Zugleich ermöglichten Zwangswirtschaft und Kriegswirtschaft ungeahnte Profite, welche gerade in Kontrast zur im Kriegsverlauf immer stärker hungernden und leidenden Bevölkerung, die Abneigung gegen „Kriegsgewinnler“ steigerte.26 Diese Grundkonstellation, vor deren Hintergrund sich auch die Entwicklung der Wirtschaft in den ersten Jahren der Republik entfaltete, hatte Auswirkungen auf das Reden der Unternehmer über Wirtschaft.27 So entstanden in der spezifischen Weltkriegssituation neue Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft, am prominentesten vielleicht die zu Beginn der 1920er Jahre populäre, von den Kriegswirtschaftsorganisatoren Wissell und Moellendorf geprägte „Gemeinwirtschaft“ als ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus oder auch der „Organisierte Kapitalismus“ des sozialdemokratischen Vordenkers Rudolf Hilferding.28 Beide Vorstellungen betonten ständische und korporatistische Elemente und sahen einen hohen Organisationsgrad der Wirtschaft als wünschenswert an. Diese Vorstellungen prägten auch die Wahrnehmung von Wirtschaften in den 1920er Jahren. So wurden Kartelle in den 1920er Jahren im Sinne einer organisierten, aber selbstverantwortlichen Wirtschaft in wissenschaftlichen Kreisen positiv besprochen. Der vermutlich prominenteste Kartellforscher der Zeit war Robert Liefmann, der eine vieldiskutierte und vielzitierte Definition von Kartellen in die Debatte einbrachte. Für ihn waren Kartelle „freie Vereinbarungen oder, […] Verbände zwischen selbständig b ­ leibenden

25 Vgl. Gerald D. Feldman, Army Industry and Labor in Germany 1914–1918, Princeton 1966. 26 Vgl. u.a. Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914–1918, Düsseldorf 1974, 56; Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 21978, 34f. sowie Annika Klein/Ronald Kroeze, Governing The First World War in Germany and the Netherlands: Bureaucratism, Parliamentarism and Corruption Scandals, in: Journal of Modern European History 11 (2013), 109–129. 27 Vgl. Steffen Bruendel, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003 sowie Gerald D. Feldman/Heinrich August Winkler (Hrsg.), Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974 und Gerald D. Feldman, German Interest Group Alliances in War and Inflation 1914–1923, in: ­Suzanne Berger (Hg.), Organizing Interests in Western Europe. Pluralism, Corporatism, and the Transformation of Politics, Cambridge 1981, 159–184. 28 Vgl. Wichard von Moellendorf, Deutsche Gemeinwirtschaft, Berlin 1916, Rudolf Hilferding, Organisierter Kapitalismus. Referate und Diskussionen vom Sozialdemokratischen Parteitag 1927 in Kiel, Kiel 1927; Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital. Eine Studie zur jüngsten Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910.



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Unternehmern derselben Art zum Zwecke monopolistischer Beeinflussung des Marktes“.29 Von dieser Definition ausgehend, zeichnete Liefmann ein positives Bild von Kartellen, welche Investitionen geschickt lenken könnten und in der Vergangenheit bereits große Erfolge aufzuweisen gehabt hätten.30 Im Gegensatz zu einer Verzahnung mit dem Staat hätte die Selbstorganisation der Wirtschaft in Kartellen einen großen Nutzen, da der Staat sonst zu sehr in die Interessenkämpfe zwischen Arbeitern und Arbeitgebern hineingezogen werde und dadurch seine eigene Autorität untergrabe.31 Ähnliche Argumentationen finden sich auch bei Juristen und Wirtschaftswissenschaftlern wie Rudolf Islay oder Herberth von Beckerath.32 Die vor diesem Hintergrund sich etablierenden Trusts wie IG Farben oder die Vereinigten Stahlwerke zeigen, dass Unternehmer sich diesen Gedanken verpflichtet fühlten und sich so als selbständig organisierter und unabhängiger Teil der Gesellschaft sahen. Auch Ansprachen wie die Dresdner Rede Paul Silverbergs von 1926, in welcher er als einer der wenigen Großunternehmer von seinen Kollegen die Akzeptanz der Republik einforderte, änderten an diesem grundsätzlichen Trend nichts.33 Damit entwickelte sich die Wirtschaft zunehmend zu einem eigenständigen, aber in verschiedene Sektoren und Interessengruppen wie exportorientierte und binnenmarktzentrierte Industrie zerfallenden Bereich der Gesellschaft.34 Dieser besaß, so das Selbstverständnis, eigene Regeln und Handlungsnormen, zu denen auch eine hohe Toleranz gegenüber Verflechtungstendenzen gehörte, wie die positive Wahrnehmung von Kartellen zeigt.

Reden über Wirtschaftskorruption: Der Verein gegen das Bestechungsunwesen35 Wenn also Korruptionsskandale auf Politik zielten und sich die Vorstellung von wirtschaftlichen Normen im Laufe der Weimarer Republik von denen der Politik

29 Robert Liefmann, Kartelle, Konzerne und Trusts, Stuttgart 81930, 9. 30 Ebd., 59f. und 108. 31 Ebd., 274. 32 Vgl. Herbert von Beckerath, Der Inhaltswandel des Kartellbegriffs und seine wirtschaftspolitischen Folgen, in: Wirtschaftsdienst 12 (1927), 1119–1122 und Rudolf Isay, Die Geschichte der Kartellgesetzgebungen, Berlin 1955. 33 Vgl. u.a. Boris Gehlen, Paul Silverberg, 1876–1959. Ein Unternehmer, Stuttgart 2007, 362ff. 34 Vgl. u.a. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1987, 116. 35 Teile dieses Abschnitts beruhen auf dem Aufsatz Anna Rothfuss/Volker Köhler, Ehrbare Kaufmänner und unlauterer Wettbewerb. Der Verein gegen das Bestechungsunwesen 1911–1935,

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entfernte, so stellt sich die Frage, ob Zeitgenossen „Korruption“ und „Wirtschaft“, „Wirtschaftskorruption“, überhaupt zusammendachten und wenn ja wie. In der Tat lässt sich mindestens ein Beispiel finden, welches sich der Thematik der Wirtschaftskorruption annahm, ohne den Tatbestand auch als „Wirtschaftskorruption“ zu benennen. Dabei handelte es sich um den sogenannten Verein gegen das Bestechungsunwesen. Der noch im Kaiserreich gegründete Verein war eine relativ kleine wirtschaftliche Interessenvertretung, deren Mitglieder sich hauptsächlich aus Handels- und Gewerbekammern, Kommunen, Verbänden und Betrieben rekrutierten. Dominiert wurde der Verein von der BASF, später den IG Farben. Vertreter der Schwerindustrie waren zwar auch im Verein vertreten, etwa der Langnamverein, doch in den Exekutivorganen kaum präsent.36 Der Verein hatte sich zum Ziel gesetzt, die juristischen Handlungsmöglichkeiten gegen „unlauteren Wettbewerb“, wie sie seit 1896 im „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ (UWG) festgehalten wurden, zu nutzen.37 Interessant ist insbesondere, wie er in seinen in unregelmäßigen Abständen, aber mehrmals jährlich herausgegebenen Vereinsmitteilungen, einer Zeitschrift für Mitglieder, seinen Umgang mit dem „Bestechungsunwesen“ beziehungsweise zunehmend mit der „Korruption“ schilderte. Zunächst ist zu konstatieren, dass sich die Vereinsmitteilungen nicht für die großen Korruptionsskandale interessierten. Große Teile der jeweiligen Ausgaben waren der Beschreibung von vor Gericht verhandelten Verstößen gegen das UWG, aber auch gegen die Beamtenbestechungsparagraphen des Strafgesetzbuches gewidmet. In diesem Zusammenhang wurde zwar ebenfalls kurz über Skandale wie den Barmat-Fall berichtet, aber es ließ sich weder aus Inhalt, noch Größe oder Layout des Berichtes herauslesen, dass es sich dabei um den am heftigsten diskutierten Korruptionsfall der Weimarer Jahre handelte. Er stand quasi gleichberechtigt neben Schilderungen kleinerer Fälle, wie „Fordern von Schmiergeld durch einen bauleitenden Diplom-Ingenieur“, „Unterschlagung bei der Carbid-Verteilungsstelle“, „1 Monat Gefängnis für einen bestechlichen Einkäufer eines Lebensmittelamts“, „Das sogenannte Trinkgeld für den Garagenmeister“ oder „Die teuren Spiralfedern (Weise)“.38 Der Verein unterhielt zwar Kontakte zu ­ähnlichen ­ usschließlich mit Organisationen im Ausland, beschäftigte sich aber nahezu a Bestechungsfällen im Inland. Es ist daher anzunehmen, dass es ihm weniger

in: Jens Ivo Engels u.a. (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft. Zur Geschichte ethischen ­Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015. 36 Vgl. dazu Mitgliederstatistiken von 1912, 1927 u. 1930, in: StaBi Berlin Fn 3346/1. 37 Vgl. Vereinsmitteilungen Nr. 1 (30.10.1911), 2. 38 In der Reihenfolge der Nennung sind diese Überschriften aus: Vereinsmitteilungen (VM) 33, 442, VM 42, 676, VM 45, 737, VM 56, 969 und VM 70, 1103; vgl. auch Rothfuss/Köhler, Kaufmänner (wie Anm. 35).



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darum ging „Korruption“ an sich zu bekämpfen, als vielmehr Chancengleichheit auf dem inländischen Markt herzustellen. Eine weitere Komponente der Vereinsmitteilungen waren die Schilderungen der Hauptversammlungen und der dort gehaltenen Vorträge. Diese drehten sich zumeist um allgemeine Ausführungen zum Stand der Gesetzgebung im Bereich des unlauteren Wettbewerbs. Zudem berichteten die Vereinsmitteilungen immer wieder von Informationsmöglichkeiten für Mitglieder in Bezug auf das UWG, aber machten auch Werbung in eigener Sache. So versuchte der Verein gegen das Bestechungsunwesen einen Verpflichtungsschein zu verbreiten, der die Unterzeichner neben den gesetzlich vorgesehenen Sanktionen noch zur Zahlung einer zusätzlichen Konventionalstrafe verpflichtete, wenn in der Wertschöpfungskette zwischen Zulieferern und Produzenten irgendwo Bestechung auftauchte.39 Über den gesamten Zeitraum der Weimarer Republik hinweg blieben die Vereinsmitteilungen diesen Inhalten treu. Dadurch transportierten sie eine sehr enge, kleinteilige, juristische Sicht auf das Thema Korruption. Besonders deutlich wird das in den abgedruckten Reden der Jahreshauptversammlungen. Wie es der Anlass einer solchen Rede verlangte, begannen diese zumeist mit Themen, welche den Zeitgeist einfingen oder bedienten. Doch schnell schwenkten die juristisch ausgebildeten Sprecher auf das juristische Feld um und betrachteten Bestechung und Korruption als rein juristisches Phänomen.40 Was allerdings jeweils Teil dieses Phänomens war, wurde situativ unterschiedlich interpretiert. Eine Auswertung der behandelten Gerichtsfälle in den „Vereinsmitteilungen“ ergibt folgendes Bild: Während zu Beginn der Vereinstätigkeit, also in den letzten Jahren des Kaiserreichs, vor allem innerwirtschaftliche, durch das UWG abgedeckte Fälle behandelt wurden, avancierte die Beamtenbestechung zum zentralen Thema des Ersten Weltkrieges, als der Staat eng mit der Wirtschaft verflochten war. In der Weimarer Republik blieb sich der Verein treu und führte die Beamtenbestechung neben Verfahren gegen den unlauteren Wettbewerb als feste Größe in seine Berichterstattungen ein. Erst im Zuge der Weltwirtschaftskrise ging die Zahl der Fälle mit Bezug zur öffentlichen Hand wieder zurück. Eine stichprobenartige Auszählung der behandelten Fälle in den Vereinsmitteilungen für die Jahre 1918–1921, 1924/25 und 1930–32 ergab, dass 1918–1921 Fälle mit Involvierung öffentlicher Angestellter oder Beamter ungefähr ein Drittel seltener waren als reine Wirtschaftsfälle. Für die Jahre 1924/25 lag das Verhältnis etwa bei eins zu eins, während für die Jahre 1930–32 ein starker Umbruch festzustellen ist: Fälle mit Beteiligung der öffentlichen Hand standen bei etwa einem Achtel der

39 Vgl. VM Nr. 1 (30.10.1911), 4–5. Verpflichtungsschein: Beilage in VM Nr. 2 (15.3.1912). 40 Beispielhaft: VM Nr. 49 (12.7.1925), 839–841.

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reinen Wirtschaftsfälle.41 Die geschilderten Fälle blieben dabei immer regional eingegrenzte und allgemeinere Beobachtungen; Schlussfolgerungen aus diesen Fällen wurden, wenn überhaupt, nur im Sinne einer allgemeinen rechtlichen Erörterung oder Forderung angestellt. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung des Vereins gegen das Bestechungsunwesen aus dem Jahre 1928 über den Fall Wagner, eine Figur, die „im Wirtschaftsleben der Pfalz“ eine „bedeutende, wenn nicht unumstrittene“ Rolle einnahm.42 Der Verein veröffentlichte wegen „des in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bedeutsamen Sachverhalts“ Auszüge aus dem Gerichtsurteil und kommentierte dies anschließend.43 Der Sachverhalt war Angestelltenbestechung und der Verein begrüßte die gründliche Arbeit des Gerichts, ebenso wie das harte Urteil. Es spräche zudem „für die Erfahrung des Gerichts, wenn es gelegentlich der Beurteilung des Wagner ausführt, daß die strafbaren Handlungen des Wagner um so gefährlicher für das Wirtschaftsleben und um so zersetzender für die öffentliche Moral sind, als ihre Entdeckung […] auf vermeidbare Unklugheit und Unvorsichtigkeit des Täters selbst zurückzuführen“ sei.44 Dieser Interpretation zufolge war die Auswirkung auf die öffentliche Moral nur Teil der Urteilsfindung, aber kein elementarer Punkt einer darüber hinausgehenden Argumentation. Dadurch ergab sich insgesamt das Bild eines sehr fokussierten, objektivierten Redens über Wirtschaftskorruption auf den Seiten der Vereinsmitteilungen: Fokussiert, weil nicht versucht wurde, die Wirtschaftskorruption in eine größere gesellschaftliche Debatte einzuordnen. Die Debatte sollte innerhalb der Wirtschaftswelt bleiben. Die Mitglieder sollten sich an den Verein wenden können, und der Verein versuchte, aktiv Selbsthilfe für die Mitglieder zu unterstützen. So wehrte sich der Verein 1919 dagegen, das UWG in das Strafgesetzbuch zu integrieren, da er eine Verankerung der Straftaten im Wirtschaftsrecht für wichtig hielt.45 Objektiviert, weil die Vereinsmitteilungen suggerierten, dass alle Vergehen alleine nach juristischen Kriterien zu beurteilen wären. Eine Handlung war entweder legal oder illegal. Sie war nicht in einem durch Debatte zu definierenden Feld angeordnet, das für Zwischentöne und Legitimations- statt Legalitätsfragen Raum einräumen könnte. Doch was versprach sich der Verein gegen das B ­ estechungsunwesen von einer derartigen Darstellung von ­Wirtschaftskorruption? Um Indizien zur Beantwortung dieser Frage zu sammeln,

41 Die Zahlen beruhen auf einer händischen Auszählung des Autors. 42 Vgl. „Bestechungsprozeß Wagner u. Gen“, in: VM 58, 986–992, Zitat 990. 43 Ebd., 986. 44 Ebd., 991. 45 VM Nr. 34 (10.11.1919), 449; vgl. auch Rothfuss/Köhler, Kaufmänner (wie Anm. 35).



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ist es sinnvoll, sich die Mitgliederstruktur des Vereins und damit die konkreten Akteure genauer anzuschauen. Tut man das, fällt einem die bereits erwähnte Dominanz der BASF, später der IG Farben ins Auge. Diese stellten nicht nur sämtliche Vorsitzenden des Vereins, sondern auch einen großen Teil des Ausschusses.46 Dieses von vielen Zulieferern abhängige Chemieunternehmen hatte ein Interesse daran, den Wettbewerb um Auftragsvergaben in seinem Sinne zu gestalten, dabei aber gleichzeitig keine Aufmerksamkeit auf andere Aspekte des wirtschaftlichen Handelns zu lenken. Es gelang ihr durch die Fokussierung und scheinbare Objektivierung in ihrem Sprechen über Wirtschaftskorruption, wie im Falle des intern verteilten Verpflichtungsscheins oder der rein juristischen Verfolgung von Vergehen ohne die Öffentlichkeit zu involvieren, die Sanktionierung der Zuliefererketten in der eigenen Hand zu behalten.

Wirtschaftskorruption und Öffentlichkeit Dieses Vorgehen führte im Falle des Vereins gegen das Bestechungsunwesen jedoch auch dazu, dass er sich aus der öffentlichen Debatte heraushielt. Stattdessen versuchte er, über direkte Anschreiben an Minister, Parlamentarier und auch Parlamente Einfluss auf die Bekämpfung von unlauterem Wettbewerb von Seiten der Politik zu nehmen.47 Dieses Vorgehen funktionierte manchmal besser, manchmal schlechter. Gerade der Verpflichtungsschein wurde vom Verein immer wieder an Amts- und Mandatsträger mit der Bitte herangetragen, ihn gesetzlich zu verankern oder zumindest per Anweisung für die Vergabe öffentlicher Aufträge verpflichtend zu machen. Im Reichsfinanzministerium hatte der Verein damit 1925 Erfolg, doch gelang es ihm nicht, weitere Ministerien zu überzeugen. Auch durch seine Rolle als klageberechtigter Verband wirkte der Verein nach außen. Er versuchte sich dabei aber auf den Gerichtssaal zu beschränken und nicht über den Gerichtsprozess eine Pressekampagne zu inszenieren. Vielmehr hatte der Verein einen eigenen Pressedienst, der gezielt Informationen an Zeitungen liefern konnte, ohne dass die Organisation selbst in die Öffentlichkeit treten musste.48 Ein solches Vorgehen konnte freilich die öffentliche K ­ orruptionsdebatte der Weimarer Jahre nicht maßgeblich beeinflussen; dies war aber auch nicht

46 Vgl. dazu Mitgliederstatistiken von 1912, 1927 u. 1930, in: StaBi Berlin: Fn 3346/1. 47 So beispielsweise verschiedene Briefwechsel, in: Akten betreffend Bestechungsunwesen, R. – u. Staatsbeamte, in: BArch Berlin R43 I/262. 48 Über die Beziehung des Vereins zur Presse vgl. u.a.: VM Nr. 3 (1.7.1912), 48f.; Jahresbericht und Erklärung der Hauptversammlung vom 22. Oktober 1919, in: VM Nr. 34 (10.11.1919), 450–453, bes. 453, Spalte 4.

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beabsichtigt. Öffentlich blieb Korruption ein Phänomen der Politik und mit ihr der Verwaltung. Politische Amtsträger und Beamte hatten sich dem Gemeinwohl zu verpflichten, ihnen konnte das Vertreten von Partikularinteressen zum Verhängnis werden. Von Wirtschaftsvertretern wurde Derartiges nicht erwartet. Im Falle des Vereins wussten die Akteure darum. Sie präsentierten Wirtschaftskorruption als Problem der Wirtschaft und damit als Problem, mit dem die Wirtschaft im Verbund mit dem Gesetz alleine fertig werde. Eine Debatte über den Ort der Wirtschaft in der Gesamtgesellschaft und um Handlungsnormen und Unternehmensethik wurde auf diese Weise umgangen.49 In der Öffentlichkeit wurden so weiterhin Politiker und politische Systeme, nicht Unternehmer, aber auch keine Gewerkschaftler oder Kartelle, als korrupt tituliert. Die Korruptionskommunikation des Vereins gegen das Bestechungsunwesen beschränkte sich auf kleine, direkt nachzuweisende Fälle von Bestechung, Veruntreuung und Ähnlichem. In der Rechtssoziologie fasst man derartige Praktiken als Korruption im engeren Sinne, also unter einem engen Korruptionsbegriff zusammen. Dieser steht in Kontrast zu einem weiten Korruptionsbegriff, welcher eher langfristige Strukturen und Verflechtungen erfasst, also Phänomene, welche in den Vereinsmitteilungen kaum behandelt werden.50 Man kann somit auch sagen, dass der Verein gegen das Bestechungsunwesen sich auf einen engen Korruptionsbegriff festlegte. Durch ein solches Vorgehen konnte der Verein eine enggesteckte Debatte über wirtschaftliches Vergehen führen. Wirtschaftskorruption blieb eine Domäne der Wirtschaft und des Rechts. Dementsprechend gab es auch wenig Druck auf die Legislative, die – im Vergleich mit heute sehr geringe – Regulierungsdichte der Wirtschaft zu verschärfen und den unlauteren Wettbewerb zu einem Teil der Korruptionskommunikation zu machen. Wirtschaftskorruption erregte kein öffentliches Interesse, der Begriff selbst existierte nicht. Vielmehr wurde der Begriff „Korruption“ vom Verein gegen das Bestechungsunwesen erst im Laufe der 1920er Jahre und auch dann nur sehr sporadisch benutzt, um gewisse Vergehen in der Wirtschaft, die er vorher unter dem Oberbegriff der Bestechung zu fassen versuchte, moralisch zu konnotieren. Somit konnte die Wirtschaft, wie sie vom Verein vertreten wurde, eine gewisse ­Unabhängigkeit vom medialen Diskurs und der medialen Beobachtung wahren. Dadurch ­entstanden Handlungsspielräume. Praktiken wie die enge Vernetzung

49 Vgl. Jens Ivo Engels/Julian Ostendorf, Geschichte von Unternehmensethik schreiben. Konzeptuelle Überlegungen zu Akteuren und Arenen, Manifestationen und Geltungsbereichen, in: Engels u.a. (Hrsg.), Touren (wie Anm. 35). 50 Vgl. u.a. Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie-online §78 Korruption, rechtssoziologie-online. de/?page_id=410 [letzter Zugriff: 16.3.2015].



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der Spitzenfunktionäre und die Kartellwirtschaft konnten bewahrt werden. Sie wurden nicht kritisch hinterfragt. Andere Praktiken wurden durch die Wirtschaftsleute in Form des Vereins gegen das Bestechungsunwesen delegitimiert und verfolgt. Die Unabhängigkeit der Wirtschaft blieb erhalten. Korruption erweist sich somit auch im Falle der Wirtschaftskorruption als zeitlich gebundene Bewertung im Sinne der Definition Michael Johnstons. Wirtschaftskorruption war während der Weimarer Republik ein wenig thematisiertes Phänomen. Es wurde sowohl von den Wirtschaftsakteuren kleingehalten als auch von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass derlei Praktiken nicht den Gegensatz öffentlich-privat berührten, der auch dem Korruptionsdiskurs der Weimarer Republik zugrunde lag. Stattdessen betraf das Phänomen Vergehen innerhalb einer von Partikularinteressen geformten Sphäre der Gesellschaft, nämlich der Wirtschaft. Agierten Unternehmer oder Angestellte gesetzeswidrig, so wurde dies als Problem für das Unternehmen und für den fairen Wettbewerb gesehen, aber nicht für das Gemeinwohl. Hierin liegt ein großer Unterschied zur Gegenwart, in welcher Wirtschaftskorruption von NGOs wie Transparency International immer auch als schädlich für das Gemeinwohl dargestellt wird und damit auch in der Öffentlichkeit breitere Berücksichtigung findet.51

51 Vgl. Hartmut Berghoff, From the Watergate Scandal to the Compliance Revolution: The Fight against Corporate Corruption in the United States and Germany, 1972–2012, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington DC) 53 (Fall 2013), 7–30 und Ivan Krastev, Die Obsession mit Transparenz: Der Washington-Konsens zur Korruption, in: Shalini Randeria/Andreas Eckert (Hrsg.), Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf Globalisierung, Frankfurt a.M. 2009, 137–161.

Rüdiger Hachtmann

Wirtschaftskriminalität im „Dritten Reich“ – der DAF-Konzern als (untypisches) ­Fallbeispiel Die Frage nach Kriminalität und ebenso nach Wirtschaftskriminalität ist für die Zeit des Dritten Reiches (noch) schwerer zu beantworten als für „normale Zeiten“ oder „normale politische Systeme“.1 Denn: War die NS-Diktatur nicht als Ganzes ein „Unrechtsstaat“? War nicht das gesamte Hitler-Regime mitsamt seiner Akteure „kriminell“? Gewiss. Der Terminus „Unrechtstaat“ ist hier in moralischethischer Hinsicht zweifelsohne gerechtfertigt. Sein heuristischer Wert ist allerdings gleich Null. Moralisierende Begrifflichkeiten verstellen den analytischen Blick. Überhaupt helfen abstrakte Definitionen und rechtstheoretische Ausführungen nicht wirklich weiter, um zu klären, was die Zeitgenossen und die Akteure in Wirtschaft und Politik unter „Kriminalität“ und „kriminellem Handeln“ in der ökonomischen Sphäre verstanden. Keine Rechtsschule dominierte während des Dritten Reiches. Zwar lassen sich durchaus bestimmte Grundprinzipien nationalsozialistischen Rechtsverständnisses auskristallisieren. Dieses folgte jedoch nicht ein für allemal ausformulierten Rechtsdogmen. Die Gründe sind simpel: Zum einen entwickelte das NS-Regime seit 1933 eine ungemeine Dynamik, die die bestehenden Verhältnisse immer wieder grundlegend veränderte, alle gesellschaftlichen Bereiche mitriss und auch das Rechtsgefühl der neuen Machthaber, der Funktionseliten, auch der Judikative, sowie der grauen Masse der „Volksgenossen“ wandelte. Rechtsgewohnheiten, eine neue „Rechtsnormalität“, konnten sich allein deshalb zu keinem Zeitpunkt wirklich einstellen. Wenn sich neue, ein für allemal fixierte neue Dogmen und Rechtstheorien nicht auf längere Zeit etablierten, dann lag dies zweitens an der Struktur des – die überkommene Staatsform aufbrechenden wie die klassisch-bürgerliche Gewaltenteilung aufhebenden – NS-Herrschaftssystems. Ein wie auch immer in sich konsistentes, in feste Formen gegossenes Rechtsregularium, eine nationalsozialistische „Rechtsstaatlichkeit“, hätte den „Führer“ und dessen Paladine gebunden und überhaupt

1 Dass der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ auch unter „normalen“ Verhältnissen, also demokratisch-kapitalistischen Konstellationen, schwer einzugrenzen und zu typologisieren ist, zeigt der Beitrag von Thomas Welskopp im vorliegenden Band.



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dem Wesen der so elastischen wie fragilen Neuen Staatlichkeit, die sich seit 1933 ausbildete,2 sowie dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten widersprochen. Die überkommenen Gesetze galten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zwar weiter, wurden jedoch durch eine Unmenge neuer, oft ad hoc (d.h. aufgrund selbst ausgelöster kurzfristiger „Zwangslagen“) erlassener, zudem mit Generalklauseln gespickter Verordnungen ergänzt,3 überformt und „verflüssigt“ sowie durch politische Auslegung mit „neuem Geist“ gefüllt. Was jedoch unter dem neuen „nationalsozialistischen Geist“ zu verstehen war, blieb diffus; zudem ließ sich darüber kein allgemein akzeptierter Konsens herstellen. Lediglich die Worte des „Führers“ waren sakrosankt, jedoch zumeist bedeutungsoffen und ließen sich nur schwer zu, wie auch immer gearteten, allgemein akzeptierten „Rechtsauslegungen“ verdichten.4 Deshalb wird hier und im Folgenden zumeist von „Rechtsempfinden“ und „Rechtsgefühl“ gesprochen. Dieses Rechtsempfinden schloss die Verfolgung von auch aus traditioneller Sicht kriminellen Delikten ein, darunter etwa Unterschlagung und Bestechung,5 aber auch Steuerhinterziehung (die in der von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges geprägten N ­ S-­Gesellschaft überdies schnell mit dem Geruch des Kriegsgewinnlertums behaftet war). Zu fragen ist freilich, ob und mit welcher Konsequenz diese Vergehen verfolgt wurden und wer hier möglicherweise einen weitgehenden, politisch grundierten „Rechtsschutz“ besaß. Zu den wenigen bleibenden „Grundwerten“ gehörte nach der nationalsozialistischen Ideologie und nach nationalsozialistischem Rechtsgefühl das – für

2 Vgl. hierzu ausführlich Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz – Anmerkungen zur Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Seibel/Sven Reichardt (Hrsg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2011, 29–73. 3 So ist für die Zeit des Dritten Reiches von einer „Intensivierung der wirtschaftsrechtlichen Normproduktion“, einer „Flut“ neuer (nicht nur) wirtschaftsrechtlicher Kodifikationen gesprochen worden. Vgl. Dieter Gosewinkel, Forschung und Forschungsperspektiven, in: ders. (Hg.), Wirtschaftskontrolle und Recht im Nationalsozialismus – zwischen Entrechtlichung und Modernisierung. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Baden-Baden 2004, IX–LIX, hier XIIIff. 4 Unabhängig davon verloren die tradierten Rechtsauslegungen – vor allem durch Gerichte – rapide an Bedeutung, gerade auf dem Feld des Wirtschaftsrechts. Vgl. resümierend ebd., L. 5 Zu einem herausragenden Exemplum eines fanatischen Nazis und von moralischem Impetus getriebenen, subjektiv uneigennützigen Korruptionsbekämpfers vgl. Raphael Gross, Die Ethik des wahrheitssuchenden Richters. Konrad Morgen, SS-Richter und Korruptionsspezialist, in: ders./ Werner Konitzer (Hrsg.), Die Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistisches Verbrechen (Jb. Fritz-Bauer-Institut), Frankfurt a.M. 2009, 243–264.

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das Phänomen der Wirtschaftskriminalität konstitutive – Eigentumsrecht,6 überformt freilich durch zentrale NS-Ideologeme, namentlich Rassismus und einen tiefsitzenden Hass gegenüber den linken „Novemberverbrechern“. Wenn das Eigentumsrecht trotz dieser Einschränkungen grundsätzlich in Geltung blieb, dann ist dies wesentlich auf das von den Nationalsozialisten zusätzlich sozialdarwinistisch und damit biologistisch aufgeladene Leistungsprinzip zurückzuführen. „Volksgemeinschaft“ als Kernbegriff wurde keineswegs zufällig mit „Leistungsgemeinschaft“ zusammengedacht. Eigentum, gerade auch Unternehmenseigentum, galt als materialisierte Leistung. Zudem blieb das NS-Regime in seinem Handeln bis 1945 bellizistisch-pragmatisch grundiert – da sich die Protagonisten der Diktatur bewusst waren, dass erfolgreiche Kriege im Jahrhundert der industriellen Hochmoderne nur auf Basis eines die Leistung durch Konkurrenz stimulierenden Wirtschaftssystems geführt werden konnten, das wiederum ohne grundsätzlichen Eigentumsschutz und ohne einigermaßen wirksame, (relativ) allgemeingültige Regeln nicht funktionierte. An diesem Punkt setzen die ­folgenden Ausführung an: Wie wurden – stets auch handlungsleitende – ­NS-Ideologeme mit den rechtlichen Erfordernissen einer modernen kapitalistischen Industriegesellschaft, zu denen auf Unternehmenseigentum und Unternehmerhandeln bezogene stabile, kalkulierbare rechtliche Regeln gehören, in Übereinstimmung gebracht? Welchen Blick hatten die maßgeblichen Akteure auf die verschiedenen Facetten der Wirtschaftskriminalität – von der Bestechung über den Bruch von Vereinbarungen wie etwa des Abkommens gegen unlautere Konkurrenz bis hin zur Verletzung des gültigen Steuerrechts? Wie wurde wirtschaftskriminelles Handeln geahndet? Wurde bei der Ahndung von Wirtschaftskriminalität das Prinzip der Rechtsgleichheit gewahrt? Welches Rechtsempfinden sich mit Blick auf die ökonomische Sphäre seit 1933 ausbildete, welches (implizite) Konzept von „Wirtschaftskriminalität“ Geltung gewann, lässt sich am besten empirisch und exemplarisch entwickeln. Für das Folgende wird das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront (DAF) als Fallbeispiel herangezogen. Das schwer überschaubare, riesige Unternehmensgeflecht der DAF, in dem 1942 etwa 200.000 Angestellte und Arbeiter beschäftigt waren und das vom Umsatz her Anfang der vierziger Jahre dem der IG Farbenindustrie nahe kam, ist ein zugegeben untypisches Beispiel. Dennoch

6 Zu den – letztlich vergeblichen – Kapriolen bei der Konstruktion eines neuen Eigentumsrechts durch NS-Rechtstheoretiker vgl. bereits Alexander v. Brünneck, Die Eigentumsordnung des ­Nationalsozialismus, in: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechts-Staat, Bd. II: Recht und Justiz im Nationalsozialismus, Baden-Baden 1984, 9–30, hier 11ff., 28f. (Erstveröffentlichung in: ­Kritische Justiz 2 (1979), 151–172.)



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lässt sich an seinem Beispiel der Begriff der Wirtschaftskriminalität für die Zeit des Dritten Reiches schärfen und der Umgang mit inkriminierten Wirtschaftsvergehen exemplarisch nachverfolgen. Es bietet zudem Aufschluss darüber, welche Vorstellungen NS-Politiker, Ministerialbeamte und gewöhnliche Unternehmer von „Wirtschaftskriminalität“ hatten und welche Sanktionsmöglichkeiten die mit der Verfolgung von Wirtschaftsvergehen befassten Institutionen besaßen. Der DAF-Konzern ist als herausragendes Exemplum eines parteinahen Konzerns außerdem deshalb interessant, weil das Verhalten der Akteure dort über das Verhältnis von ökonomischer und politischer Sphäre während des Dritten Reiches Auskunft zu geben verspricht.

Eigentumsrecht und „Gemeinschaftsfeindlichkeit“ Ein neues „nationalsozialistisches“ Rechtsverständnis7 bildete sich (wie angedeutet) entlang bestimmter ideologischer Leitplanken aus. Diese waren elastisch und wurden in bedeutungsoffenen Formeln pointiert. Eine herausragende Rolle spielten Gemeinschaftstermini. Sie flirrten zwar schon lange vor 1933 durch die Diskurse8 und hatten auf vielfältige Weise auch in die Rechtschöpfung Eingang gefunden. Nicht zufällig wuchs ihre ohnehin große Rolle während des Dritten Reiches aber weiter, zuvörderst die alles überwölbende „Volksgemeinschaft“, als völkisch-rassistische Basisgemeinschaft. Wichtig ist zunächst, dass „Volksgemeinschaft“ niemals egalitär gedacht war. Abgesehen davon, dass das NS-Regime geschlechtsspezifische Rollenmuster biologistisch vertiefte und die sozialen Stratifikationen der modernen Industriegesellschaft kaum antastete, verstanden sich die N ­ ationalsozialisten  – die sich selbst als Antipoden der Großen Französischen Revolution von 1789 und der von dieser ausgehenden Emanzipationsbewegungen sahen – als antiegalitär und ließen der Führer- und Elitenbildung breiten Raum. Es war kein Zufall, sondern Ausdruck eines antiegalitären Selbstverständnisses, wenn seit 1933 für ­institutionelle Träger der Diktatur (NSDAP, SS oder auch das hohe

7 „Nationalsozialistisch“ wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil selbst unter hohen Funktionsträgern umstritten war, was politisch-weltanschaulich als nationalsozialistisch zu gelten hatte. Der Nationalsozialismus war keine in sich geschlossene Ideologie, sondern eine um ­bestimmte ideologische Kerne angelagerte Weltanschauung mit je nach sozialem Standort sehr unterschiedlichen Akzenten. 8 Vgl. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, hier 54–62.

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­ AF-­Funktionärskorps und andere) neue Formen der – von ihren Ursprüngen her D ja eigentlich vorbürgerlichen, ständischen – Sondergerichtsbarkeit eingerichtet wurden. Zu einem nationalsozialistischen Schlüsselbegriff wurde ­„Volksgemeinschaft“ aufgrund seiner exkludierenden Konnotationen. „Volksgemeinschaft“ als zentrales NS-Ideologem zog hohe Mauern zwischen einem – aller internen Heterogenität zum Trotz – privilegierten „Innen“ und einem abgestuft diskriminierten oder gänzlich rechtlosen „Außen“. Die inflationär verwendeten Termini „gemeinschaftsfeindlich“, „gemeinschaftsfremd“ oder „gemeinschaftsschädlich“ waren im Rechtsempfinden ab 1933 für den Kriminalitätsbegriff konstitutiv. „Gemeinschaftsfeinde“ konnten nur in den ersten Jahren (und nicht generell) auf partiellen Rechtsschutz durch die verbliebenen Reste der überkommenen ­Gerichtsbarkeit hoffen. Das galt auch für das Eigentumsrecht. Insbesondere diejenigen Unternehmer, Manager und zahllosen kleinen Selbständigen, die nach den NS-­Rassegesetzen als „Juden“ klassifiziert waren, wurden quasi unter „Fremdenrecht“ gestellt oder ihnen gleich das Existenzrecht als Menschen abgesprochen – und damit ihre, als „Arisierung“ bezeichnete Enteignung und Vertreibung legitimiert. Übersehen wird leicht, dass das Diktum der „Gemeinschaftsfeindlichkeit“ auch für die politische Linke galt – mit entsprechenden, eigentumsrechtlich durchaus vergleichbaren Folgen. Aus gutem Grund ist die Reichstagsbrandverordnung von Ernst Fraenkel als die eigentliche Verfassungsurkunde des Dritten Reiches bezeichnet worden.9 Sie erklärte die Kommunisten für vogelfrei. Wenig später fielen auch Sozialdemokraten und freie Gewerkschaften, gleichfalls als „Novemberverbrecher“ diskreditiert, unter das Verdikt „gemeinschaftsfremd“. Für den einzelnen politischen Gegner galt diese Exklusion aus der „Volks-“ oder auch „Betriebsgemeinschaft“ auf Widerruf. Im Unterschied zu denjenigen, die die Nazis als „Juden“ klassifizierten, konnten Linke, wenn sie ­mindestens stillhielten und sich nicht dem Widerstand anschlossen, nachträglich gnädig in die „Volksgemeinschaft“ aufgenommen werden. Für die Institution „Arbeiterbewegung“, d.h. für die entsprechenden Parteien sowie vor allem gewerkschaftliche oder gewerkschaftsnahe Organisationen einschließlich ihrer Immobilien, Barvermögen sowie Unternehmen und Genossenschaften galt dies dagegen nicht.10 Deren Enteignung im Mai 1933 war definitiv. Überkommene

9 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt a.M. 1974 (EA 1940), 26. 10 Dies galt grundsätzlich auch für die christlich-nationalen Gewerkschaften sowie – mit allerdings erheblichen Abstufungen – für den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (der sich freiwillig der DAF anschloss). Zum differenzierten Umgang der DAF mit dem Eigentum der



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e­ igentumsrechtliche Regelungen, d.h. das Grundrecht auf Schutz des Eigentums, galten für sie nicht mehr. Dennoch tat sich die Arbeitsfront schwer, eine rechtliche Konstruktion zu finden, um sich die gewerkschaftlichen Unternehmen und Genossenschaften anzugliedern. Nach längerem Hin und Her ließ sich die Arbeitsfront – die mitgliederstärkste und zudem mit Abstand finanzkräftigste NS-­Massenorganisation11 – diese nicht als unmittelbares Eigentum zuschreiben, sondern trat deren Erbschaft als Treuhänder an. Die Treuhandgesellschaft für die Unternehmen der DAF mbH bildete das Scharnier zwischen der politischen Organisation und dem verschachtelten Unternehmensgeflecht der Arbeitsfront.12 Darauf ist hier nicht weiter einzugehen, ebenso wenig auf die moralisch gleichfalls hochproblematische Aneignung zahlreicher gewerkschaftsnaher Unternehmen und Genossenschaften durch die DAF ab 1938 im okkupierten Ausland,13 da diese Praxis von den meisten reichsdeutschen Zeitgenossen als legitim empfunden oder jedenfalls stillschweigend akzeptiert wurde.

Bestechung, Steuervergehen und die politischen Grenzen der Rechtsverfolgung – zum Umgang mit Wirtschaftsvergehen Umstritten waren andere Praktiken der Arbeitsfront, die im weiteren Sinne eine wirtschaftskriminelle Dimension besaßen. Sie sollen mit drei Fallbeispielen näher ausgeleuchtet werden. Erstes Schlaglicht: In einem Vermerk vom 7. Dezember 1939 sprach Hans Saupert, als Stabsleiter des einflussreichen NSDAP-Reichsschatzmeisters Franz

vormals unabhängigen Arbeitnehmerverbände vgl. im Einzelnen Rüdiger Hachtmann, Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront, Göttingen 2012, hier 57–69, 248, 295f. 11 Als Überblick über die Geschichte der DAF als politischer Massenorganisation vgl. ders., Einleitung, in: ders. (Hg.), Ein Koloss auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936, München 2006, 7–96. 12 Vgl. dazu ders., Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), hier 70ff. Hintergrund der Konstruktion einer Treuhänderschaft war das Motiv der DAF, nicht für Schulden sowie Ansprüche entlassener Mitarbeiter der ehemaligen gewerkschaftlichen Genossenschaften und Unternehmen aufkommen zu müssen. 13 Davon zu unterscheiden ist der Erwerb von „normalen“ Fremdunternehmen im nationalsozialistisch beherrschten Europa oder den mit der Hitler-Diktatur verbündeten Staaten, oft unter Druck und zu bemerkenswert niedrigen Preisen. Hier unterschied sich das Wirtschaftsimperium der Arbeitsfront kaum von anderen deutschen Konzernen. Ausführlich: ebd., hier 156ff., 172ff., 255ff., 343ff. 525ff., 529f.

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Xaver Schwarz de facto dessen Stellvertreter,14 Veruntreuungen riesigen Ausmaßes an, von denen ihm der Reichsamtsleiter aus dem Stab Heß und spätere NSDAP-Gauleiter von Westfalen-Süd Albert Hoffmann15 berichtet habe. Hoffmann habe ihm gegenüber unter dem Siegel der Verschwiegenheit erklärt, dass „der Betrag, welchen der Leiter der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley den Gauleitern der NSDAP zahle“, angeblich „den drittgrößten Bilanzposten der Deutschen Arbeitsfront“ ausmache.16 Auch wenn über die genaue Höhe dieses „Bilanzpostens“ keine Informationen vorliegen, handelte es sich dabei um einen Korruptionsfonds von (für damalige Verhältnisse) gigantischem Ausmaß. Hinter der von hohen NS-Funktionären beklagten Veruntreuung stand die Vermischung verschiedener politischer Funktionen. Ley war nicht nur Chef der DAF, sondern daneben „Reichsorganisationsleiter“ der NSDAP und lag in dieser Rolle seit 1933 im Dauerclinch mit dem „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß. Die genannten Gelder, die Ley aus den Beiträgen der Arbeitnehmer an die Arbeitsfront selbstherrlich „abzweigte“, dienten dazu, in diesem Machtkampf die einflussreichen NSDAP-Gauleiter günstig zu stimmen und auf die Seite Leys zu ziehen. Eine „wirtschaftskriminelle“ Dimension bekam diese frivole „Zweckentfremdung“ von DAF-Mitgliedsbeiträgen, weil darin auch Teile der Wirtschaftsunternehmen der Arbeitsfront involviert waren, insbesondere die Bank der Deutschen Arbeit (kurz: Arbeitsbank), die bis zur NS-Machtergreifung als Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten im Besitz des ADGB gewesen war und sich bis Ende 1939 nach Bilanzsumme und Umsatz zum drittgrößten deutschen Geldinstitut entwickelte.17 Über den vom NSDAP-Reichsschatzamt misstrauisch ­ beäugten eigenartigen „Bilanzposten“ glaubte Ley in seiner Rolle als Chef der Arbeitsfront und damit als Graue Eminenz des DAF-Wirtschaftsimperiums v ­ erfügen zu

14 Saupert (1897–1966), Bankangestellter, war von Jan. 1931 bis Mai 1933 Reichsrevisor der NSDAP bzw. Chef der NSDAP-Reichsrevisionsabteilung, danach Stabsleiter des NSDAP-Reichsschatzmeisters. 15 Hoffmann (1907–1972), kaufmännischer Angestellter, seit 1934 Amtsleiter in der Parteikanzlei der NSDAP, ging im März 1938 als Sonderbeauftragter der Parteikanzlei der NSDAP nach Wien („Stillhaltekommissar“) und fungierte ab Herbst 1938 als Beauftragter des Stabes Heß im Stabe des sudetendeutschen Reichskommissars Konrad Henlein. 1941 wurde er zum stellv. NSDAPGauleiter von Oberschlesien ernannt, in Personalunion außerdem zum DAF-Gauobmann für Oberschlesien; seit Febr. 1943 amtierte er als NSDAP-Gauleiter von Westfalen-Süd sowie als Reichsverteidigungskommissar. 16 In: BArch Berlin, NS 1, Nr. 249–1. Die Erklärung Hoffmanns gegenüber Saupert (die im Okt. oder Nov. 1939 gemacht wurde) ging auf einen „Parteigenossen Scholz [zurück], der die Verwaltung beim Stillhaltekommissar [der „Ostmark“ ab März 1938] führt und aus der DAF ­gekommen ist“ (ebd.). 17 Vgl. im Einzelnen Hachtmann, Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), 93–189.



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können. Auch in diesem Gebaren spiegelt sich ein strukturelles Element des NSSystems – die Diktatur als hochgradig personalisierter Herrschaftsverband. Dass Ley Einnahmen der Arbeitsfront und Gewinne des DAF-Wirtschaftsimperiums unverfroren dazu verwendete, seinen persönlichen Einfluss auszubauen, war im Übrigen nichts Neues. Karl Müller,18 der im Mai 1933 im Auftrag Leys u.a. Unterpfleger des gesamten enteigneten SPD- und Gewerkschaftsvermögens sowie der erste Vorstandsvorsitzende der Bank der Deutschen Arbeit g ­ eworden war und 1935 dann im Unfrieden mit Ley aus allen Ämtern ausschied, nannte Mitte Juli 1935 einen Betrag von 40 Mio. Reichsmark, der „verschwunden“ sei.19 Wenn Ley Gelder der DAF unterschlug, bzw. genauer: von subalternen Angestellten der Arbeitsbank unterschlagen ließ, um diese für den Ausbau seiner persönlichen Machtposition zu verwenden, dann handelte es sich bei diesen ­Vorgängen zwar eigentlich auch nach dem Rechtsempfinden der Zeitgenossen um kriminelle Delikte; Ley und seine Raffgier wurden nicht zufällig Gegenstand zahlreicher Gerüchte. Gedeckt war diese Praxis jedoch durch die Sonderstellung Leys als „charismatischer Jünger“ (Max Weber) Hitlers. Infolgedessen wurden dessen „Verfehlungen“ – ähnlich wie bei anderen Paladinen Hitlers – nicht geahndet und gegenüber der Öffentlichkeit unter dem Deckel gehalten. Selbst intern wurden sie lediglich angedeutet. Um Robert Ley und die von ihm geführte Arbeitsfront mit Korruptionsgeschichten in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen, war dessen Stellung zu stark. Zudem standen er und die DAF nicht allein. Auch andere NSOrganisationen gingen ähnlich lax mit riesigen Geldsummen um, z.B. die SA, der

18 Müller (1879–1944), Bankdirektor, wurde von Ley im Mai 1933 als Unterpfleger des enteigneten SPD- und Gewerkschaftsvermögens eingesetzt. Von Mai 1933 bis Juli 1935 fungierte er als Beauftragter der DAF für die Konsumgenossenschaften, Vorstandsvorsitzender der Bank der Deutschen Arbeit und Beauftragter für die wirtschaftlichen Unternehmungen der DAF sowie als Leiter des DAF-„Amtes für Selbsthilfe“ bzw. „Selbsthilfe und Siedlung“. Im Sommer 1935 wurde er wegen fundamentaler Differenzen mit Ley aller DAF-Ämter enthoben. Ein anschließend eingeleitetes Strafverfahren „wegen handelsrechtlicher Untreue“ sowie eines Parteigerichtsverfahrens, wurde im Sept. 1936 eingestellt. Müller überschätzte seine Position, weil er Hitler bereits frühzeitig kennengelernt hatte, ab 1933 jedoch (im Unterschied zu Ley) nie persönlichen Zugang zum „Führer“ besaß. 19 Müller an Ley, vom 16. Juli 1935, in: BArch Berlin NS 10, Nr. 134, Bl. 96–100, hier: Bl. 97f. Ob der Betrag stimmt, lässt sich nicht mehr überprüfen. Entsprechende Gerüchte drangen auch an die Öffentlichkeit. Vgl. z.B. Klaus Behnken (Hg.), Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE) 1934–1940, Salzhausen 1980, hier 1936, 235; ferner Ronald Smelser, Hitlers Mann an der „Arbeitsfront“. Robert Ley. Eine Biographie, Paderborn 1989, 167.

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der Reichsrechnungshof finanzielle „Unregelmäßigkeiten“ in Höhe von 45 Mio. Reichsmark nachwies.20 Zweites Schlaglicht: Ende 1937 flog eine Korruptionsaffäre auf, die innerhalb der NS-Bewegung und des Staatsapparates hohe Wellen schlug und mit dem Namen Anton Karl verbunden war. Nach außen hin firmierte Karl als „Häusermakler“. Er stieg Anfang November 1936 zu einem zentralen Akteur in der DAFeigenen Deutsche Bau AG (Deubau) auf, einem Bauunternehmen, das Mitte 1936 aus dem Verband sozialer Baubetriebe GmbH, dem Dachverband der vormals freigewerkschaftlichen Bauproduktivgenossenschaften, hervorgegangen war.21 Karls Aufgabe bestand darin, als „selbständiger Kaufmann“ gegen hohe Provisionen Aufträge für die Deubau zu akquirieren.22 Als faktisch zentraler Repräsentant dieses großen, überregionalen Bauunternehmens der DAF wendete Karl in den folgenden Monaten alles in allem knapp 600.000 Reichsmark an Schmiergeldern auf, um von staatlichen Behörden bzw. NS-­Organisationen Aufträge für die Deubau zu erlangen. Die Bestechungsgelder wurden von der Arbeitsbank als Kredite verauslagt.23 Finanziert wurden damit opulente Geschenke, mit denen Karl 1936/37 hohe und höchste Protagonisten des NS-Regimes günstig stimmte. Um der Deubau den Auftrag für eine ­SS-Wohnblocksiedlung in Berlin-Lichterfelde zu verschaffen, erhielt der Führer der „Leibstandarte Adolf Hitler“ und SS-Obergruppenführer Sepp Dietrich u.a. ein goldenes Zigarettenetui, für sich und seine Frau einen Morgenrock, drei seidene Schlafanzüge und ein Jagdgewehr. Außerdem finanzierte Karl eine ­zehntägige

20 Vgl. Hermann A. Dommach, Der Funktionsverlust des Reichsrechnungshofs (RRH) in den Vorkriegsjahren, in: Theo Pirker (Hg.), Rechnungshöfe als Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung. Entwicklung und Bedeutung der Rechnungshöfe im 20. Jahrhundert, Berlin 1987, 35–50, hier 45; Jens Bögershausen, Rechnungshöfe und Regimewechsel. Von der klassischen Rechnungsprüfung zur modernen Finanzkontrolle, Bamberg 2008, 121 (d-nb.info/994594070/34). 21 Zu beiden sowie weiteren Bauunternehmen der DAF sowie den Wohnungsgesellschaften der Arbeitsfront vgl. Hachtmann, Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), 425–498. 22 Der am 4. Nov. 1936 mit A. Karl geschlossene Vertrag sicherte ihm neben einem – nicht näher bezifferten – „Anteil an der Bauabrechnungssumme“ außerdem „monatliche Abschlagszahlungen bis zur Höhe von RM. 2000,- vertraglich“ zu. Die Laufzeit ging bis zum 31. Sept. 1937 und sollte „dann jeweils um 1 Jahr verlängert“ werden. Vgl. Bericht der Deutschen Wirtschaftsprüfungs- und Treuhandgesellschaft mbH (Berlin) über die Deutsche Bau AG zum Jahresabschluß vom 31. Dez. 1936, 31, in: BArch Berlin R 8120, Nr. 714. 23 Vgl. Feststellungsbericht des Revisionsamtes der NSDAP vom 14. Febr. 1938 über die Bauunternehmen der DAF, 29, in: BArch Berlin, NS 1, Nr. 811. In diesem 131-seitigen Bericht werden die Dimensionen der Korruptionsaffäre penibel nachgezeichnet. Zusammenfassung bei: Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a.M. 2001, 57–62. Vgl. ferner Smelser, Hitlers Mann (wie Anm. 19), 166f.; Hachtmann, Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), 147ff.



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I­talienreise des SS-Obergruppenführers. Das freilich waren Peanuts im Vergleich zum „Gewinn“ mit einem Grundstück, das Dietrich mit einem sehr günstigen Kredit der DAF-eigenen Bank der Deutschen Arbeit zum Preis von 50.000 Reichsmark erworben hatte, um es wenig später an eben diese Arbeitsbank für den doppelten Preis weiterzuverkaufen. Der einflussreiche Hermann Esser, Staatsminister a.D. und Präsident des Deutschen Fremdenverkehrsverbandes, wurde gleichfalls mit Seidenkrawatten, wertvollen Ölgemälden („Äsende Rehe“) und anderen Kostbarkeiten bedacht. Er erhielt zudem von der Arbeitsbank für den Bau eines Hauses einen Personalkredit von 90.000 Reichsmark ohne ausreichende Sicherheiten; die Inneneinrichtung im Wert von 33.500 Reichsmark erstellten ihm Handwerker im Auftrag der Deubau zudem vollkommen unentgeltlich. Auch der Chef der „Kanzlei des Führers“ Philipp Bouhler wurde dank des DAF-­Bauunternehmens zum Besitzer eines stark „verbilligten“ Eigenheims; statt 100.000 Reichsmark musste er nicht einmal 60.000 Reichsmark aufwenden. Die für Bouhler „ungemein günstige Preisfestsetzung“ rechtfertigten Karl und andere DAF-Funktionsträger damit, dass dieser „der kommende Reichsschatzmeister der NSDAP“ sei und der Deubau unbedingt „verpflichtet“ werden müsse, „da durch seine Hand sämtliche Bauten der Partei gehen würden“. Das opulente Landhaus des Stabschefs Himmlers, Karl Wolff, wurde gleichfalls höchst kostengünstig im Auftrag der Deubau errichtet, da „der Mann uns drei [SS-]Kasernen wert ist“ und durch ihn womöglich weitere ­„SS-Bauaufträge zu erhalten“ seien.24 Andere NS-Funktionsträger waren billiger. Dem „Wirtschaftsbeauftragten“ für München als der „Hauptstadt der Bewegung“ und SS-Brigadeführer Christian Weber ließ Karl im Auftrag der Deubau ein Jagd- und ein Herrenzimmer einrichten. Julius Schaub, dem „Chef-Adjutanten“ Hitlers und später (seit 1943) SS-Obergruppenführer, baute die Deubau ein Zimmer seines Hauses zu einer „Trinkstube“ aus und renovierte zudem dessen „Speisezimmer“. Schaub ließ sich überdies eine goldene Armbanduhr, einen Teppich, mehrere Kisten Sekt sowie die offenbar obligatorischen Seidenkrawatten von Karl schenken. Der Hausfotograf Hitlers und „Reichsbildberichterstatter“ Heinrich Hoffmann erhielt dafür, dass er Karl in die engere Umgebung Hitlers einführte, immerhin ein goldenes Zigarettenetui. Wilhelm Brückner, seit 1930 einer der Adjutanten und Leibwächter Hitlers und SA-Obergruppenführer, sowie weitere Figuren aus der unmittelbaren Umgebung des „Führers“ wurden gleichfalls mit üppigen Geschenken bestochen.

24 Diese und die folgenden Zitate: Feststellungsbericht (wie Anm. 23), 32–98, 105. Auch unter hohen DAF-Funktionären und „leitenden Personen“ der Unternehmen der Arbeitsfront sei ein „stark verbilligter“ Privathausbau „durchaus üblich“ gewesen. Ebd., 104.

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Die Arbeitsbank war in diese Schmiergeldaffäre nicht nur als Transmissionsriemen verwickelt, da alle Finanztransaktionen über sie liefen. Sie war zudem mit 99 Prozent der Aktien des DAF-Bauunternehmens nomineller Eigentümer der Deubau.25 Für das DAF-Geldinstitut schlugen die von Karl getätigten Transaktionen unmittelbar mit 288.021 Reichsmark negativ zu Buche.26 Die übrigen Schmiergelder in Höhe von etwa 300.000 Reichsmark wurden mit den Baukosten verrechnet. Wie beim Bestechungsfonds Leys, dem ersten Fallbeispiel, handelte es sich auch hier um Korruption – allerdings auf einer eher profanen Ebene, nämlich zur Auftragsakquise, wie sie ähnlich auch zu anderen Zeiten und unter anderen Systemen üblich ist. Fast überflüssig festzustellen, dass Anton Karl nicht auf eigene Faust handelte, sondern unter Duldung, wenn nicht sogar auf Anweisung höchster Funktionsträger der Arbeitsfront. Der damalige Vorsitzende der Treuhandgesellschaft für die wirtschaftlichen Unternehmungen der DAF mbH, Werner Boltz, veranlasste die Arbeitsbank, Karl die Beträge für Schmiergeldzahlungen zu reservieren. Auch der DAF-Schatzmeister Paul A. Brinckmann war über die finanziellen Transaktionen – mindestens – informiert.27 Die „Bereinigung“ der Korruptionsaffäre wurde auf DAF-typische Weise vorgenommen: Anton Karl wurde umgehend „aus dem Verkehr gezogen“. Nachdem die mit dem Namen Karls verbundenen Vorgänge immer weitere Kreise gezogen hatten und nun auch Leys Ruf zu beschädigen drohten, mussten auch Boltz und schließlich sogar Brinckmann als die höchsten, nachweislich in den Korruptionsfall verwickelten DAF-Funktionäre Anfang bzw. Mitte 1938 gehen.28

25 Von dem Grundkapital von 5,0 Mio. Reichsmark gehörten der Bank der Deutschen Arbeit seit dem 31. Dez. 1936 4,99 Mio. Reichsmark. Vgl. ebd. 26 Bericht der Deutschen Wirtschaftsprüfungs- und Treuhandgesellschaft mbH (Berlin) über die Deutsche Bau AG zum Jahresabschluss vom 31. Dez. 1937 (vom 23. Juni 1938), in: BArch Berlin R 8120, Nr. 714), 60. Die unmittelbaren Forderungen gegenüber Anton Karl wurden symbolisch mit einer Reichsmark als „Erinnerungsposten unter ‚Sonstige Forderungen‘ verbucht. 27 Vgl. Feststellungsbericht (wie Anm. 24), 99–108. 28 Brinckmann fungierte vom 6. Mai 1933 bis 9. Mai 1938 als Schatzmeister der DAF sowie seit Ende Nov. 1933 als Leiter des Schatzamtes der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude. Nach Erweiterung seiner Kompetenzen firmierte er seit Juni 1937 als „Reichssachwalter der DAF“ und Leiter des DAF-Etatamtes. Sein Rücktritt erfolgte offiziell aus Gesundheitsgründen. Boltz (1909-?), kaufmännischer Angestellter, unter Brinckmann stellv. Schatzmeister der DAF. ­Offiziell – und um nach außen das Gesicht der DAF zu wahren – schied Boltz „auf eigenen Wunsch“ aus. Wenig später wurde Boltz allerdings wegen „Verfehlungen im Amt“ aus der NSDAP ausgeschlossen und war seitdem in der freien Wirtschaft tätig. Gehen musste außerdem Josef Bücherl, der (noch von Müller ernannt) Mitte April 1935 die Geschäftsführung des Verbandes Sozialer Baubetriebe übernommen und ab Mitte 1936 als Direktor dem Vorstand der Deubau angehört hatte.



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Andere ­Repräsentanten der Arbeitsfront konnten bleiben, obwohl sie von den ­Schmiergeldern gewusst hatten.29 Mit anderen Worten: Es wurden exemplarisch einige schwarze Schafe geschlachtet, um die aufgeschreckte NS-Bewegung zu besänftigen und die engere DAF-Führungsclique ungeschoren zu lassen. Die Bestochenen selbst kamen ungeschoren davon.30 Symptomatisch ist außerdem, dass nicht etwa die Arbeitsfront selbst, sondern die Behörde des NSDAP-Reichsschatzmeisters Franz Xaver Schwarz den Skandal aufdeckte und darüber einen mehr als hundert Seiten starken Bericht anfertigte. Seinerseits war Schwarz von Heinrich Himmler aufgefordert worden, die anrüchigen Machenschaften Karls und der Deubau – die offenbar in weiten Parteikreisen Aufsehen und Ärger erregt hatten – genauer zu durchleuchten. Hinter dieser Aufklärungsarbeit des Reichsschatzmeisters wiederum standen nicht etwa rechtsstaatliche Motive oder die Redlichkeit eines NS-Bürokraten, sondern (auch) ein Kampf um Macht und Einfluss, von dem vor allem Schwarz profitierte. Er erhielt in der Folgezeit ein grundsätzliches finanzielles Kontrollrecht über die Arbeitsfront, das er zwar nur begrenzt nutzte und das Ley politisch auch nicht substantiell schwächte, jenen jedoch zu einem freundlicheren Umgang mit Schwarz zwang.31 Drittes Schlaglicht: Die NSDAP und auch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) sowie das Winterhilfswerk (WHW) führten ihre Hauptkonten bei der Arbeitsbank. Sie taten dies nicht etwa aufgrund besonderer p ­ olitischer

29 Alexander Halder wurde im Feststellungsbericht (wie Anm. 24, 127ff.) zwar ­vorgeworfen, dass er gleichzeitig als Gesellschafter und Geschäftsführer der DAF-eigenen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft fungierte – deren Aufgabe darin bestand, die Buchführung etc. der Unternehmen der Arbeitsfront zu kontrollieren – und dass diese Funktion mit seinen DAF-­Ämtern kollidierte. Auch wurde im Feststellungsbericht (128) festgestellt, dass er von den Schwarzgeldern Karls sowie den falschen Bilanzen der Deubau eigentlich hätte wissen müssen. Eine Verwicklung in die Affäre Karl konnte ihm jedoch nicht nachgewiesen werden. Seinen weiteren Aufstieg bremste der Skandal deshalb nicht. Vgl. Hachtmann, Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), hier 72ff. 30 Wenn sie wie z.B. Hermann Esser einen Karriereknick hinnehmen mussten, dann waren andere Vergehen dafür verantwortlich, bei Esser z.B. „sexuelle Eskapaden“ (die dem bei Korruption generösen, in puncto Sexualität jedoch spießigen Hitler aufstießen) sowie Intrigen gegen den NSDAP-Reichsschatzmeister Schwarz. Auch Bouhler, der für die Euthanasie-Aktionen verantwortlich war – anderen erging es später ähnlich – wurde durch stärkere Rivalen beiseite ­gedrängt (Bouhler insbesondere durch Bormann). 31 Vgl. dazu sowie zum auch in der Folgezeit nicht immer unkomplizierten, insgesamt jedoch einvernehmlichen Verhältnis zwischen Ley und Schwarz im Einzelnen ebd., 122f., 139f., 151ff.

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­erbundenheit gegenüber dem Geldinstitut der DAF,32 sondern aus einem V schlichten ökonomischen Kalkül. Denn die Arbeitsbank gewährte ihnen äußerst günstige Sonderkonditionen. Das jedoch war nicht erlaubt. Betriebsprüfer stellten fest, dass „die Arbeitsbank die Konten des WHW, der NSV usw. mit 3 ½% und ab 1938 mit 3% verzinst [habe], obwohl nach dem Haben-Zinsabkommen für täglich fällige Gelder nur ein Satz von 1% hätte gezahlt werden dürfen.“33 Das sei illegal und alles, was über den für Tagesgelder und Spareinlagen erlaubten Zinssatz hinausging, müsse besteuert werden. Die Differenz sei als eine zu versteuernde „freiwillige Spende“ zu werten. Diese habe 1937 2,5 Mio. Reichsmark, 1938 2 Mio. Reichsmark und 1939 schließlich sogar 4,2 Mio. Reichsmark ausgemacht. Infolgedessen hätten „für die Jahre 1937–1939 8,7 Mill. Reichsmark mehr an Einkommen versteuert werden [müssen], als die Bank bisher versteuert hat“. Für die Jahre 1937 bis 1939 wären „eine Körperschaftssteuernachzahlung von 3 Mill. Reichsmark und von rd. RM 870.000,– Gewerbesteuer“ zu entrichten gewesen.34 Bis Kriegsbeginn passierte nichts. Mitte 1941 sah sich das Reichsfinanzministerium aus Gründen der Wettbewerbsgerechtigkeit dann doch zur Intervention veranlasst. Es kam zu Verhandlungen zwischen beiden Seiten, die sich länger hinzogen. Die Repräsentanten der Arbeitsbank versuchten anfangs, alle Forderungen nach Steuernachzahlungen pauschal abzublocken. Der Vorstandsvorsitzende der Arbeitsbank Carl Rosenhauer35 hatte zunächst eingewandt: „Die NSV und das WHW würden so viel Geld bei der Bank anlegen, dass man in diesem Fall gesonderte Abmachungen [habe] treffen“ müssen und „das Haben-Zinsabkommen in dem vorliegenden Fall nicht als Richtschnur“ habe anwenden können. Das war eine so wenig überzeugende Argumentation, dass selbst der Rechtsberater des DAF-Geldinstituts, ein Finanzanwalt und Steuerberater Niethammer, seinem Mandanten riet, den von hochrangigen Vertretern

32 Es waren umgekehrt oft gerade die politischen Konstellationen, der große Einfluss der ­Arbeitsfront, der manchen NSDAP-Gauleiter oder rivalisierende NS-Massenorganisationen dazu brachte, trotz schlechterer Konditionen, ihre Einnahmen und Vermögen bei anderen – „normalen“ – Geldhäusern anzulegen. Sie wollten die Abhängigkeit von der DAF-Bank nicht zu groß werden lassen. Vgl. Hachtmann, Wirtschaftsimperium (wie Anm. 10), 130, 158. 33 Aktenvermerk (gez. Georg Niethammer) über die Schlussbesprechung betreffend Betriebsprüfung bei der Bank der Deutschen Arbeit AG Berlin, am 21. Juli 1941, in: BArch Berlin R 8120, Nr. 804, Bl. 1–5, hier Bl. 2. Das Ende 1936 als Wettbewerbsvereinbarung abgeschlossene sog. Haben-Zins-Abkommen hatte der Reichskommissar für das Kreditwesen per Verordnung für verbindlich erklärt. 34 Ebd. 35 Rosenhauer (1881–1943) amtierte von Sommer 1935 bis Jan. 1943 als Vorsitzender des Vorstandes der Bank der Deutschen Arbeit.



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aus dem ­Reichsfinanzministerium vorgeschlagenen Kompromiss anzunehmen. Angesichts eines drohenden Verfahrens wegen Steuerhinterziehung akzeptierte Rosenhauer nach einigem Zögern schließlich den für die Arbeitsbank günstigen Deal. Das DAF-Geldinstitut konnte die eigentlich fälligen Nachzahlungen an den Fiskus allein für die Jahre 1937 bis 1939 in Höhe von knapp vier Mio. Reichsmark vermeiden; die Summe, welche die Arbeitsbank zu entrichten hatte, belief sich auf knapp 700.000 Reichsmark.36 Bemerkenswert sind dieser Konflikt und der schließlich gefundene Kompromiss, weil sie deutlich machen, dass Finanzverwaltung und Steuererhebung auch nach 1939 noch weitgehend auf Basis des etablierten Rechts funktionierten und diesem selbst mitten im Krieg gegenüber mächtigen politischen Organisationen wirkungsvoll Geltung verschaffen konnten. Parteinähe sowie die enge Verflechtung mit einem so mächtigen politischen Partner wie der DAF mag die Arbeitsbank vor exorbitanten Nachzahlungen geschützt haben. Aber sie war immerhin gezwungen, sich auf eine auch unter anderen politischen Systemen geübte Praxis, nämlich einen „Deal“ mit der zuständigen Finanzverwaltung, einzulassen. Selbst 1941 – und ebenso in der zweiten Kriegshälfte – hielt das deutsche „Steuerwesen an den Regeln des Normenstaates fest“ (Ernst Fraenkel). Denn „rationale Kalkulation als Teil der Unternehmensführung wird unmöglich, wenn Steuerveranlagungen nicht kalkulierbar sind“.37 Und an effizientem Unternehmenshandeln sowie überhaupt einem geordneten wirtschafts- und finanzpolitischen Verwaltungshandeln hatte das NS-Regime ein fundamentales Interesse. Steuerhinterziehung blieb deshalb ein kriminelles Delikt.

Fazit: Was galt im Dritten Reich als ­Wirtschaftsvergehen? Wo waren die Grenzen der Verfolgung von Wirtschaftskriminalität? Die skizzierten Fallbeispiele illustrieren, was kritischen Beobachtern und staatlichen Aufsichtsorganen im Dritten Reich als Wirtschaftskriminalität galt und als Wirtschaftskriminalität behandelt wurde. Darüber hinaus werfen sie Schlaglichter auf die Beziehung der führenden Protagonisten der NS-Diktatur zum kapitalistischen Eigentumsrecht. Vor allem folgende Aspekte sind bemerkenswert:

36 Vgl. Aktenvermerk Betriebsprüfung (wie Anm. 33), 4f. 37 Fraenkel, Doppelstaat (wie Anm. 9), 108.

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Erstens: Die charismatischen Züge der NS-Herrschaft schufen für zentrale politische Protagonisten de facto rechtsfreie Räume. Sie konnten sich auch dann über allgemeingültige Gesetze oder Verordnungen hinwegsetzen, wenn sie ziemlich offen und in heute kaum vorstellbaren Dimensionen entweder andere korrumpiert oder sich selbst als korrupt gezeigt hatten. Gegenüber dem Vorwurf wirtschaftskriminellen Handelns blieben sie immunisiert. Vielleicht hatte Fraenkel neben Hermann Göring auch Robert Ley im Blick, als er den Satz, „das ­Privateigentum genießt nach wie vor gegenüber behördlichen Übergriffen gerichtlichen Schutz“, fast sarkastisch um die einschränkende Bemerkung ergänzte: „außer in politischen Fällen“.38 Und ein solcher war das Fallbeispiel Nr.  1 – die Arbeitsbank als persönlicher Korruptionsfonds. Ley machte daraus gegenüber anderen hohen Funktionsträgern des NS-Regimes keinen Hehl. Er sah das DAF-Wirtschaftsimperium ausdrücklich als seine persönliche Verfügungsmasse an. So protzte er gegenüber dem Reichswirtschaftsminister Funk in einem Schreiben vom 24. Mai 1941 damit, dass er den Unternehmen der Arbeitsfront „ungesetzlich Befehl“ erteilen würde, wenn er dies für notwendig halte.39 Dass er sich so unverblümt äußerte, verweist darauf, dass ein derart selbstherrlicher – wenn man so will – feudaler Umgang mit institutionellem oder Organisationseigentum auch bei anderen Paladinen des Diktators üblich war. Bestechungsskandale konnten NS-intern freilich für erhebliches Aufsehen sorgen und Teile der Führungsgruppen dann wenigstens personelle Konsequenzen verlangen. In solchen Fällen opferte man – wie am zweiten Fallbeispiel deutlich wird – einige schwarze Schafe. Reichsleiter als die höchste F ­ ührungsgarnitur der Diktatur und Hofschranzen, also diejenigen, die im Fall Anton Karl die Hände aufhielten, genossen dagegen vor jeglicher Strafverfolgung Immunität – wenn nicht der „Führer“ selbst seine Paladine fallen ließ, was selten genug vorkam.40 Großdimensionierte Korruption blieb dennoch auch für einflussreiche NS-­Funktionäre selten gänzlich folgenlos. Sie wurden erpressbar oder mussten in einigen Fällen wenigstens Konzessionen machen. So zeigt das zweite Fallbeispiel, dass politische Rivalen exzessive Korruption nutzen konnten, um die eigene Machtstellung auszubauen: Der NSDAP-Reichsschatzmeister entwickelte in dieser ­Hinsicht einiges Geschick. Dass Schwarz und Ley in der Folgezeit seit 1937/38 zu politischen Verbündeten wurden, steht dem nicht entgegen. Denn Ley

38 Ebd., 107f. 39 In: BArch Berlin, NS 5 I, Nr. 337 bzw. R 8120, Nr. 736, Bl. 52–59. 40 Ein solch seltener Fall war Julius Streicher (1885–1946), der Anfang 1940 nicht zuletzt wegen seiner uferlosen Raffgier als NSDAP-Gauleiter abgesetzt wurde, allerdings keineswegs gänzlich in Ungnade fiel.



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erhielt sich eine bleibend starke Stellung innerhalb des Machtgefüges der Diktatur und blieb im Rahmen der Machtkämpfe ein starker Bundesgenosse; der Reichsschatzmeister der Partei stärkte seine eigene Position, wenn ihm der Chef der DAF verpflichtet war. Zentral war zweitens das Prinzip der pauschalen Exklusion, das Diktum der „Gemeinschaftsfeindlichkeit“ für das Eigentums- und Unternehmensrecht des Dritten Reichs, das dessen Suspendierung für ganze Gruppen möglich machte. Enteignung aufgrund von „Gemeinschaftsfeindlichkeit“ galt nicht als kriminell. Rassistisch gewendet, vor allem als „Arisierung“, war es sicherlich ­NS-­spezifisch.41 Eigentumsrechtlich ähnlich brachial und unumkehrbar vor allem gegen die linke Arbeiterbewegung gerichtet, ist es dagegen ein Charakteristikum des sehr viel breiteren Spektrums an rechts-autoritären Regimen. Rassistisch oder politisch begründete Enteignungen wiederum ändern allerdings nichts daran, dass Hitler und ebenso sein Adlatus Ley sowie die meisten anderen NS-Paladine unbedingte Anhänger des „liberalen Konkurrenzprinzips“ (Henry Ashby Turner)42 blieben. Die Enteignung der freigewerkschaftlichen Genossenschaften und Unternehmen wurde nicht zufällig auch mit deren angeblich gegen den selbständigen Mittelstand gerichteten, vermeintlich sozialistischen Grundtendenz sowie vorgeblichen Sozialisierungsabsichten der Linken gerechtfertigt. Die maßgeblichen Protagonisten des NS-Regimes wollten vor ein klassisch privatkapitalistisches Eigentumsrecht „lediglich“ einen rassistischen und politischen Filter spannen. Verstaatlichungen standen sie dagegen grundsätzlich skeptisch bis ablehnend gegenüber. Wie sehr sie dem Prinzip des Privateigentums huldigten und alles dafür taten, nicht in den Geruch der Verstaatlichung oder gar der vielgeschmähten „Sozialisierung“ zu kommen, zeigt der Verkauf der im Staatsbesitz befindlichen Aktien der Vereinigten Stahlwerke oder der in der Krise teilverstaatlichten Großen Berliner Geschäftsbanken Mitte der dreißiger Jahre. Wie sehr auch späterhin gerade führende Nationalsozialisten Verstaatlichungen ideologisch grundsätzlich ablehnten, illustriert die Reprivatisierung der Betriebe der Montan GmbH Ende 1941 oder die Sondierungen Görings 1942, mindestens Teile der nach ihm benannten, im Krieg kräftig expandierten

41 Vgl. Jan Schleusener, Eigentumspolitik im NS-Staat. Der staatliche Umgang mit Handlungsund Verfügungsrechten über privates Eigentum 1933–1939, Frankfurt a.M. 2009; (exemplarisch für den politisch wie juristisch einflussreichen Berliner NSDAP-Gauwirtschaftsberater Heinrich Hunke) Christoph Kreutzmüller, Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012, 74ff. 42 Henry Ashby Turner, Hitlers Einstellung zu Wirtschaft und Gesellschaft vor 1933, in: ­Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), 89–117, hier 95.

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R ­ eichswerke zu ­privatisieren.43 Die „Wahrung privater Unternehmerinitiative auf privatkapitalistischer Grundlage“ sowie die Abkehr von der kriegsbedingten, ohnehin nur partiellen „Zwangswirtschaft sowohl in der Außenhandels- wie in der Binnenwirtschaft“ nach dem erhofften nationalsozialistischen „Endsieg“ gehörten zum Repertoire politischer Grundüberzeugungen so ziemlich aller wichtigen NS-­Protagonisten.44 Dass die auch zu „normalen“ Zeiten (unter parlamentarisch-demokratischen wie autoritären Systemen) nie undurchlässigen Grenzen zwischen Ökonomie und Politik zwischen 1933 und 1945 weiter durchlöchert wurden, wird – ­drittens  – am Beispiel des Wirtschaftsimperiums der Arbeitsfront besonders sichtbar. Die Nutzung politischer Machtverhältnisse für wirtschaftliches Handeln lag ebenso nahe wie umgekehrt die Funktionalisierung ökonomischer Stärke für den Ausbau politischen Einflusses. Mitunter wurden die Barrieren zwischen politischer und ökonomischer Sphäre so sehr niedergerissen, dass bei manchen Zeitgenossen der Eindruck kriminellen Handelns aufkam, zumal die Leitung mancher DAF-­ Unternehmen tatsächlich der Versuchung nicht widerstand, die Nähe zur Ley’schen Massenorganisation ökonomisch auszubeuten. Aber bestehendes Recht wurde oft vielleicht gedehnt, jedoch nur selten gebrochen. Der DAF-­ Konzern, der als „volksgemeinschaftlicher Dienstleister“ zudem zusätzlich mit sozialpolitischen Aufgaben befrachtet war, fiel im Übrigen keineswegs gänzlich aus dem Rahmen, wenn er Parteinähe in wirtschaftliche Vorteile umzumünzen versuchte. Auch für etablierte, „gewöhnliche“ Unternehmen gilt, dass bei ihnen die Grenzen zwischen politischem und wirtschaftlichem Handeln nach 1933 zunehmend verschwammen. Die Dresdner Bank und ihr besonderes Verhältnis zur SS sind in dieser Hinsicht ein aufschlussreiches Beispiel. Zwar wurden die Grenzen zwischen Politik und Ökonomie (nicht untypisch für Kriegswirtschaften generell) partiell eingeebnet. Aber das Eigentumsrecht – dies ist ein vierter Aspekt, den das Beispiel des DAF-Wirtschaftsimperiums illustriert – wurde nicht generell ausgehebelt. Gerade die Kriegswirtschaft konnte durch (immer neue) Sonderkommissare allein nicht zusammengehalten werden.

43 Vgl. Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, 494f.; Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Bd. III, 1943–1945, Berlin 1996, 550; Jonas Scherner, Die Logik der Industriepolitik im Dritten Reich. Die Investitionen in die Autarkie- und Rüstungspolitik, Stuttgart 2008, 48; Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und [das] NS-Regime 1933–1945, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), 351–390, hier 366, Anm. 41. Gewiss hing bereits die Möglichkeit, verstaatlicht werden zu können, als unausgesprochene Drohung wie ein Damoklesschwert über allen Unternehmen. Aber das ist nicht NS-typisch, sondern gilt insbesondere für Kriegswirtschaften letztlich generell. 44 Gosewinkel, Forschung (wie Anm. 2), XIX, XXI.



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Präzise wirtschaftsrechtliche Normen und die konsequente Verfolgung von Regelverletzungen blieben für die Stabilität der Diktatur unabdingbar. Sie waren die Basis für die Kriegswirtschaft und (damit) ebenso für die auf der politischen Ebene sehr elastische NS-Herrschaft. Der Umgang der staatlichen Finanzbehörden mit dem DAF-Konzern in Steuerfragen ist symptomatisch dafür, dass (im Unterschied zur politischen Sphäre, in der zahlreiche Sondergerichtsbarkeiten entstanden) selbst Parteinähe kein ökonomisches Sonderrecht konstituierte. Die strukturierende Kraft kapitalistischer Ökonomie blieb zwischen 1933 und 1945 grundsätzlich ungebrochen. Zentrale Elemente nicht zuletzt des überkommenen Steuerrechts blieben weiterhin gültig.45 Selbst gegenüber einem parteinahen Konzern wie dem der Arbeitsfront bestand die Finanzverwaltung, unter dem Strich, erfolgreich auf der Einhaltung der bestehenden Vorschriften, wohl wissend, dass die Weitergeltung der das Unternehmenseigentum betreffenden rechtliche Grundregeln und deren penible Überwachung in einer modernen Industriegesellschaft, auch im Krieg, unabdingbar waren.

45 Die subjektive Motivlage auf Seiten der Akteure der Finanzverwaltung ist dabei sekundär – die Frage also, ob die Akteure schlicht bürokratischen Routinen und Traditionen folgten oder ob sie im Wissen darum handelten, dass die NS-Volkswirtschaft ohne ein entsprechendes Regularium auf Dauer nicht funktionieren würde. Entscheidend ist das strukturelle Phänomen, das Weitergelten (hier) des Steuerrechts und seine Durchsetzung.

Sebastian Teupe

Verhandelte Grenzüberschreitungen Die Entwicklungstrends der deutschen Kartellrechtspraxis am Beispiel der Fernsehgeräteindustrie, 1950 bis 1990 Die letzten Jahre sahen eine Welle an spektakulären Verstößen gegen das Kartellrecht. Zwischen 2004 und 2008 schloss das Bundeskartellamt 16 Verfahren ab. Im gleichen Zeitraum zwischen 2009 und 2013 waren es bereits 61. Allein 2013 verhängte das Bundeskartellamt rund 240 Mio. Euro Bußgelder gegen insgesamt 54 Unternehmen und 52 Privatpersonen.1 Im Visier der Ermittler befanden sich Schienenhersteller, ein Mühlenkartell und eine Reihe von Sanitärgroßhändlern, die von der WELT griffig als „Klo-Kartell“2 bezeichnet wurde. Das Jahr 2014 sah einen neuen Rekord an Bußgeldforderungen. Zum ersten Mal überstiegen sie die Grenze von einer Milliarde Euro.3 Neben einem „Bier-Kartell“ und einem „Wurst-Kartell“ belangte das Kartellamt eine Gruppe von Stahlherstellern, nachdem diese die Deutsche Bahn um viele Millionen geprellt hatte.4 Das seit Jahrzehnten operierende Kartell der Stahlfirmen hatte sich intern „Schienenfreunde“ genannt und seine geheimen Treffen in einer ­Duisburger Pizzeria und ­verschiedenen Bordells abgehalten.5 Die Deutsche Bahn war selbst wiederum in den Blick des Kartellamts geraten, als sie sich 2010 mit einer Konkurrentin heimlich auf den Betrieb eines S-Bahn-Netzes verständigte. Der Deal sollte eine Klage eben dieser Konkurrentin vor dem Bundesgerichtshof abwehren, mit der sie die

1 Das Bundeskartellamt. Jahresbericht 2013, 5, www.­bundeskartellamt.de/DE/UeberUns/Publikationen/Jahresbericht/jahresbericht_node.html [letzter Zugriff: 9.2.2015]. 2 Guido M. Hartmann, Milliardenmarkt. Das Klo-Kartell – Sanitärbranche im Zwielicht. ­Quelle: Die Welt online (16.3.2013), www.welt.de/regionales/duesseldorf/article114478226/. Das-Klo-Kartell-Sanitaerbranche-im-Zwielicht.html [letzter Zugriff: 10.2.2015]. 3 Milliardenbußgelder verhängt. Kartellstrafen auf Rekordhöhe. Quelle: Tagesschau.de (Stand 23.12.2014) www.tagesschau.de/wirtschaft/bundeskartellamt-101.html [letzter Zugriff: 10.2.2015]. 4 Millionenbußgeld gegen Wurstkartell. Quelle: Tagesschau.de (Stand 15.7.2014), www.tagesschau.de/wirtschaft/millionenstrafe-gegen-wurstkartell-100.html [letzter Zugriff: 10.2.2015]; Drastische Strafen für das Bierkartell. Quelle: Handelsblatt online (Stand 2.4.2014), www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/illegale-preisabsprachen-drastische-strafen-fuer-das-bierkartell/9707652.html [letzter Zugriff: 10.2.2015]; Jürgen Dahlkamp/Jörg Schmitt, Immer die Wahrheit, in: Der Spiegel (9.9.2013), 82–83; Jörg Schmitt/Heike Jahberg, Illegale Absprachen, in: Der Spiegel (26.5.2014), 72. 5 Pizza-Connection der Schienenfreunde, in: Der Spiegel (4.7.2011), 63; Martin Murphy, Die ­Rotlicht-Freunde, in: Handelsblatt (11.9.2012) 18.



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Deutsche Bahn ausgerechnet wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens belangen wollte.6 Angesichts der Zunahme an Verstößen warf der Chef der Monopolkommission, Daniel Zimmer, im Jahr 2013 die Frage auf, ob man nicht, wie dies in den USA üblich sei, über Gefängnisstrafen für Kartellsünder nachdenken sollte.7 Es erscheint mittlerweile als Selbstverständlichkeit, dass Unternehmen für Verstöße gegen das Kartellrecht zahlen müssen und dass Konsumenten durch die Verstöße materielle Verluste erleiden. Aus historischer Perspektive ist das weniger selbstverständlich. Unternehmen werden heute für ein Verhalten belangt, das vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs weder illegal war, noch als volkswirtschaftlich schädlich galt.8 Die Geschichte der Bundesrepublik ist daher auch eine Geschichte, in der unter Verweis auf die Bedeutung des Wettbewerbs und die Rechte der Konsumenten die Grenzen der Wirtschaftskriminalität neu vermessen wurden. Auf die Kartellverbote der Alliierten folgte im Jahr 1958 das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Als „Grundgesetz der Marktwirtschaft“ verbot es nicht nur Preisabsprachen unter Unternehmen, sondern bildete ein umfassendes Korsett, das die Spielregeln der deutschen Wirtschaft definierte. Die Schärfe der wettbewerbspolitischen Zäsur und ihre Wirkung auf das Verhalten der Unternehmen werden in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert. Bei allen Differenzierungen zwischen einzelnen Branchen galten die ­ Marktwirtschaft und ihre Wettbewerbsgesetze aber spätestens im Laufe der 1960er Jahre als ein verinnerlichter Wert in den meisten deutschen Unternehmen.9 Die überaus starke Zunahme der geahndeten Kartellrechtsverstöße in den letzten Jahren ist primär wohl auf die 2000 eingeführte Bonusregelung ­(„Kronzeugenregelung“) zurückzuführen, die dem geständigen K ­ artellmitglied eine Strafminderung oder gar einen Straferlass zugesteht.10 Umso mehr wirft der aktuelle Konflikt mit den Kartellgesetzen aber auch die Frage auf, wie es um die vermeintlich gefundene Akzeptanz der Kartellgesetze überhaupt bestellt ist.

6 Andreas Wassermann, Das NRW-Kartell, in: Der Spiegel (6.12.2010), 89–90; Warnung vom Kartellamt, in: Der Spiegel (24.1.2011), 18. 7 Carsten Brönstrup u.a., Das Wurstkartell im Supermarkt, in: Tagesspiegel online (9.9.2013), www. tagesspiegel.de/wirtschaft/illegale-preisabsprachen-das-wurstkartell-im-supermarkt/8764612. html [letzter Zugriff: 10.2.2015]. 8 Jeffrey Fear, Cartels, in: Geoffrey Jones/Jonathan Zeitlin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Business History, Oxford 2008, 268–292. 9 Ulrich Wengenroth, Germany. Competition Abroad – Cooperation at Home, 1870–1990, in: A ­ lfred D. Chandler u.a. (Hrsg.), Big Business and the Wealth of Nations, Cambridge 1997, 139–175, hier 140. 10 Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit in den Jahren 1999/2000, 43 [im Folgenden: Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt]; Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 2001/2002, 45 und Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 2009/10, 38.

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 Sebastian Teupe

Die folgenden Ausführungen sind der Versuch, sich der Frage des Verhältnisses von Unternehmen und Wettbewerbsrecht aus einer historischen Perspektive zu nähern. Der erste Teil zeichnet überblickshaft die Entwicklungslinien und Zäsuren im Verhältnis von Bundeskartellamt und Unternehmen nach. Der zweite Teil verfolgt auf einer mikrohistorischen Ebene die konkreten Auseinandersetzungen der verschiedenen Akteure am Beispiel der vertikalen Preisbindung und ihrer kartellrechtlich problematischen Anwendung im Markt für Fernsehgeräte. Eine langfristige Analyse kartellrechtlicher Grenzüberschreitungen kann erstens einen Beitrag zu der Frage einer möglichen Systematik regelverletzenden Handelns in kapitalistischen Marktgesellschaften leisten, indem die konkreten ­Auswirkungen rechtlicher Rahmenbedingungen und ihrer Veränderungen auf unternehmerische Praktiken in den Blick genommen werden.11 Sie erlaubt zweitens einen differenzierteren Blick auf die Ursachen solcher Veränderungen und die an ihnen beteiligten Akteure. Drittens ermöglicht sie es, die Begriffe der Wirtschaftskriminalität und des kriminellen Unternehmertums historisch zu ­ kontextualisieren und damit zu einer historisch tragfähigen Definition der „Wirtschaftskriminalität“ beizutragen.

Das „Land der Kartelle“ und die Genese des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen Die Bildung von Kartellen war im neunzehnten Jahrhundert in fast allen Ländern eine Begleiterscheinung der Industrialisierung, deren Tendenz sich in der weltwirtschaftlichen Depression zwischen 1873 und 1896 noch verstärkte. Im Unterschied zu den USA, wo der Kongress 1890 den „Sherman Act“ verabschiedete, führte diese Entwicklung in Deutschland nicht zu einem Verbot.12 Statt des ­Gesetzgebers entschied das Reichsgericht über die Zulässigkeit von Kartellverträgen und kam im Jahr 1897 sogar zu dem Ergebnis, dass es den Kartellen erlaubt sei, von abtrünnigen Mitgliedern Strafzahlungen einzufordern.13 Der Erste Weltkrieg förderte die Tendenz der Kartellierung, die teilweise auch von staatlicher

11 Siehe die Einleitung von Thomas Welskopp in diesem Band. 12 Colleen Dunlavy/Thomas Welskopp, Myths and Peculiarities. Comparing German and American Capitalism, in: GHI Bulletin (Fall 2007), 33–64. 13 Klaus W. Richter, Die Wirkungsgeschichte des deutschen Kartellrechts vor 1914, Tübingen 2007, 71ff.; Fritz Blaich, Kartell- und Monopolpolitik im kaiserlichen Deutschland. Das Problem der Marktmacht im deutschen Reichstag zwischen 1879 und 1914, Düsseldorf 1973, 9.



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Seite erzwungen wurde. Die Gesetzgebung der Weimarer Republik untersagte Kartelle durch die „Verordnung gegen Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen“ vom 2. November 1923 zwar, tat dies aber lediglich im Rahmen einer sogenannten Missbrauchsregelung, die eine volkswirtschaftlich sinnvolle Funktion von Kartellen nicht prinzipiell hinterfragte.14 Die Entwicklung nach Verabschiedung des Gesetzes war deshalb nicht durch Kartellverbote, sondern durch eine weitere Kartellierung geprägt, die sich im „Dritten Reich“ fortsetzte.15 Zwischen dem späten neunzehnten Jahrhundert und der Zeit des Zweiten Weltkriegs war Deutschland folglich ein „Land der Kartelle“,16 das teilweise durch direkte politische Maßnahmen, teilweise durch Tolerierung entstanden war. Das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte wettbewerbspolitisch eine Kehrtwende. Aus Sicht der alliierten Besatzungsmächte stellte die starke Verflechtung der deutschen Unternehmen ein Sinnbild des politisch-wirtschaftlichen Bündnisses des Faschismus und ein Hindernis auf dem Weg zur Etablierung einer demokratischen Kultur dar.17 Die 1945 erlassene Direktive „JCS 1067/6“ und die 1947 in den Westzonen verabschiedeten Dekartellierungsgesetze sahen erstmals in der deutschen Geschichte ein Kartellverbot und eine Entflechtung der Wirtschaftsstrukturen vor.18 Diese Maßnahmen markierten eine Zäsur. Sie hatten langfristig aber nur insoweit Bedeutung, wie sich die mit dem Entwurf einer eigenständigen wettbewerbspolitischen Ordnung betrauten Verantwortlichen auch an ihnen ­orientierten.

14 Rüdiger Robert, Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik, Berlin 1976, 67ff.; Klaus J. ­Bremer, Die Kartellverordnung von 1923. Entstehung, Inhalt und praktische Anwendung, in: Hans Pohl (Hg.), Kartelle und Kartellgesetzgebung in Praxis und Rechtsprechung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1985, 111–128, hier 117. 15 Ebd., 120. Siehe auch Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der niederländische Markt 1915–1932, München 2015; Alfred Reckendrees, Das „Stahltrust“Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A.G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926– 1933/34, München 2000, 130ff.; Wilfried Feldenkirchen, Das Zwangskartellgesetz von 1933. Seine wirtschaftliche Bedeutung und seine praktischen Folgen, in: Pohl (Hg.), Kartelle (wie Anm. 14), 145–166. 16 Die Literatur zur Rolle der Kartelle für die deutsche Wirtschaftsgeschichte ist umfassend. Einen neueren Überblick liefert Thomas Jovovic, Deutschland und die Kartelle. Eine unendliche Geschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2012), 237–273. Siehe außerdem Harm G. Schröter, Kartellierung und Dekartellierung. 1890–1990, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4 (1994), 457–493; Gerold Ambrosius, Die Entwicklung des Wettbewerbs als wirtschaftspolitisch relevante Norm und Ordnungsprinzip in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft (1981), 154–201. 17 Lisa Murach-Brand, Antitrust auf deutsch. Der Einfluss der amerikanischen Alliierten auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nach 1945, Tübingen 2004, 2. 18 Zu Inhalt und Entstehung der Direktive „JCS 1067/6“ siehe ebd., 34ff.

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Mit der endgültigen Verabschiedung eines deutschen Kartellgesetzes ließ sich die Bundesregierung indes Zeit. Erste Entwürfe, die im Umkreis ordoliberaler Ökonomen zirkulierten, sahen nicht nur ein striktes Kartellverbot, sondern auch scharfe Sanktionen bis hin zu Gefängnisaufenthalten vor. Das rief Unmut und Widerstand bei der deutschen Unternehmerschaft hervor, die dem alten Kartelldenken verhaftet war.19 Der 1952 dem Bundestag vorgelegte Regierungsentwurf ahndete kartellrechtliche Verstöße nur noch als Ordnungswidrigkeiten ohne drohenden Gefängnisaufenthalt. Die amtliche Begründung lautete, dass „weder in der deutschen Öffentlichkeit noch in den beteiligten Wirtschaftskreisen […] bisher ein lebendiges Gefühl dafür verbreitet (sei), daß wettbewerbsbeschränkende Verträge und Geschäftspraktiken unerlaubt und ethisch verwerflich (seien)“.20 Der Gesetzentwurf wurde aufgrund des Drucks des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) und wegen Vorbehalten auf Seiten verschiedener Politiker erst 1957 verabschiedet. Mit dem „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ (GWB), das am 1. Januar 1958 in Kraft trat, erhielt die Bundesrepublik ihre kartellpolitische Autonomie. Mit der Verabschiedung wurde auch die Gründung des Bundeskartellamtes beschlossen, das unter der Leitung Eberhard Günthers in Berlin seine Arbeit aufnahm.21 Das in der Bezeichnung des Gesetzes ausgedrückte Ziel, Beschränkungen des Wettbewerbs entgegenzuwirken, wurde bereits mit seiner Verabschiedung durch mehrere Einschränkungen kompliziert. Erstens wurden ganze Wirtschaftszweige

19 Siehe die klassische Studie von Volker Berghahn, Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1985 sowie Peter Hüttenberger, Wirtschaftsordnung und Interessenpolitik in der Kartellgesetzgebung der Bundesrepublik 1949–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1976), 287–307. Für die ordoliberale Haltung zur Rolle der Kartellgesetze sei stellvertretend die bereits 1937 verfasste Studie Franz Böhms genannt: Franz Böhm, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart 1937. Zum Ordoliberalismus allgemein Nils Goldschmidt/Bernhard Neumärker, Kapitalismuskritik als Ideologiekritik. Der Freiburger Ansatz des „Ordo-Liberalismus“ als sozialwissenschaftliche Alternative zum LaissezFaire-Approach, in: Hubert Hieke (Hg.), Kapitalismus. Kritische Betrachtungen und Reformansätze, Marburg 2009, 143–166; Hans Besters, Neoliberalismus, in: Roland Vaubel/Hans D. ­Barbier (Hrsg.), Handbuch Marktwirtschaft, Pfullingen 1986, 107–122; Ralf Ptak, Neoliberalism in ­Germany. Revisiting the Ordoliberal Foundations of the Social Market Economy, in: Philip Mirowski/Dieter Plehwe (Hrsg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge, MA 2009, 98–138. 20 BT-Drucksache II/1158, 27f.; zit. nach: Peter Selmer, Verfassungsrechtliche Probleme einer Kriminalisierung des Kartellrechts, Köln 1977, 1. 21 Werner Kurzlechner, Fusionen – Kartelle – Skandale. Das Bundeskartellamt als Wettbewerbshüter und Verbraucheranwalt, München 2008; Klaus Weber, Geschichte und Aufbau des Bundeskartellamtes, in: Karl Schiller (Hg.), Zehn Jahre Bundeskartellamt. Beiträge zu Fragen und Entwicklungen auf dem Gebiet des Kartellrechts, Köln 1968, 263–270.



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wie die Verkehrswirtschaft, die Landwirtschaft, die Banken und die öffentliche Versorgungswirtschaft von den Bestimmungen des Gesetzes ausgenommen. Zweitens genehmigte das Gesetz verschiedene Formen von „Sonderkartellen“ wie Exportkartelle, Rationalisierungskartelle oder Rabattkartelle, die als Ausnahmen des strikten Kartellverbots galten. Drittens erhielt der Bundesminister für Wirtschaft die Erlaubnis, im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung weitere Kartellverträge zu genehmigen. Viertens legalisierte das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen die vertikale Preisbindung der zweiten Hand, bei der ein Händler durch den Hersteller vertraglich verpflichtet werden kann, das Erzeugnis zu einem vorgeschriebenen Preis zu verkaufen.22

Zeit der Toleranz. Die Kartellrechtspraxis der frühen Jahre Da die Bildung von Kartellen auch nach Verabschiedung des GWB keine per se illegale Unternehmenspraxis darstellte, ist es wenig verwunderlich, dass die Unternehmen ihre durch das Gesetz definierte Handlungsfreiheit wahrnahmen und ihre Grenzen austesteten. In den ersten Jahren der Tätigkeit des Bundeskartellamtes wurden Kartelle „angemeldet“, „genehmigt“, „geändert“ oder ihnen wurde „nicht widersprochen“. Einige Kartelle wurden „abgelehnt“ oder „für unwirksam erklärt“, aber so gut wie kein Kartell wurde in den ersten zehn Jahren „aufgedeckt“ oder „bestraft“.23 Dabei wurde nicht geleugnet, dass Kartelle auch eine Erhöhung der Preise bewirkten. Den vom Kartellamt genehmigten Kartellpreis bezeichnete der im Bundeswirtschaftsministerium tätige Ministerialdirektor Roland Risse als „einen Kompromiss zwischen der noch zulässigen Belastung

22 Jan-Otmar Hesse, Abkehr vom Kartelldenken? Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen als ordnungspolitische und wirtschaftstheoretische Zäsur der Ära Adenauer, in: Hans-Günther ­Hockerts u.a. (Hrsg.), Rhöndorfer Gespräche, Bonn (im Druck). 23 Siehe bspw. Tapetenkartell angemeldet, in: Handelsblatt (21.5.1958), 3 (Rabattkartell); KaliIndustrie beantragt Kartell, in: Handelsblatt (9.6.1958), 2 (Rationalisierungs- und Exportkartell); Schleifscheibenkartell neu formuliert, in: Handelsblatt (13./14.2.1959), 3 (­Rabattkartell); ­Baukeramik-Kartell ist wirksam, in: Handelsblatt (16.2.1959), 2; Friseurbedarfs-Kartell ohne Widerspruch, in: Handelsblatt (18./19.12.1959), 3 (Rabatt- und Konditionenkartell); Textilveredler-Kartelle geändert, in: Handelsblatt (1./2.4.1960), 6; „Buko“ soll nicht wiederaufleben, in: Handelsblatt (2.6.1960), 2 (Rationalisierungskartell); Auch Direkthändlerkartell abgelehnt, in: Handelsblatt (14.1.1960), 1 (Rabattkartell).

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des Konsumenten und der vielleicht staatspolitischen Notwendigkeit des zeitweiligen Schutzes für einen Gewerbezweig“.24 Den meisten Entscheidungsträgern der späten 50er Jahre war klar, dass eine nicht nur den etablierten unternehmerischen Praktiken, sondern auch den Bedürfnissen der Unternehmen diametral entgegenstehende Wettbewerbsordnung mit außerordentlichen Problemen zu kämpfen gehabt hätte. Das Handelsblatt stellte 1957 fest: „Eine Ordnung, die Verstöße gegen sich aus wirtschaftlich vernünftigen Gründen geradezu provoziert, wäre keine echte Ordnung.“25 Den entscheidenden Punkt bildeten aber zunächst weniger die inhaltlichen Bestimmungen der neuen Ordnung. Entscheidend war vielmehr die Frage, wie das Bundeskartellamt diese umsetzen und dadurch den Spielraum der Unternehmen in der neu begründeten Marktwirtschaft der Bundesrepublik definieren würde. Wirft man einen Blick auf die Äußerungen der deutschen Unternehmerschaft, schienen das GWB und seine Anwendung durch das Kartellamt ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen. Das Gesetz mache „geschäftliche Gepflogenheiten, die in der Industrie seit Jahrzehnten üblich seien und sich bewährt hätten“, so beschwerte sich der Bundesverband der Industrie 1959, „von einem umständlichen und zeitraubenden Verfahren abhängig, das die Arbeit der Industrie zum Nachteil ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit erschwere“.26 Preisabreden, wie sie etwa im Baugewerbe nicht einmal ein großes Geheimnis waren, sollten nach Meinung der Beteiligten „am besten totgeschwiegen werden, wie man eben den Seitensprung eines Kavaliers mit vornehmem Schweigen übergeht“.27 Günther selbst wurde, wie der Chronist des Bundeskartellamtes die Kritik der Wirtschaft pointiert zusammenfasste, als der „selbstherrliche Chef einer pedantischen Schnüffelbehörde mit übertriebener Strenge“28 gesehen. Das Handelsblatt sah Preisabsprachen in einer für die Zeit typischen Manier als „wirtschaftlich zwar verständlich, aber doch nicht legal“ an.29 Neben der grundsätzlichen Ablehnung eines Kartellverbots – oder besser: einer Kartellkontrolle – ging es in den Auseinandersetzungen auch um Detailfragen von Zuständigkeiten und Verfahrensordnungen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie kündigte frühzeitig eine Klärung der Gesetzesbestimmungen durch die Gerichte an, weil er das Vorgehen des Bundeskartellamtes als einen

24 Risse: Kartellpreis so gut wie Stoppreis, in: Handelsblatt (31.1./1.2.1958), 3. 25 Flucht in den Untergrund, in: Handelsblatt (20.2.1957), 2. 26 „Das Kartellgesetz sollte geändert werden“, in: Handelsblatt (11.3.1959), 1. 27 Flucht in den Untergrund, in: Handelsblatt (20.2.1957), 2. 28 Kurzlechner, Fusionen (wie Anm. 21), 85. 29 Welche Kartellmöglichkeiten hat die Bauindustrie?, in: Handelsblatt (4.6.1958), 4.



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übermäßigen Eingriff empfand.30 Dies schloss auch Fragen der Verfahrenspraxis ein. Als beispielsweise das Bundeskartellamt eine informelle Tatsachenermittlung zur Sammlung von Informationen anstellte und daraufhin der Reifenindustrie untersagte, die Preisbindung weiter anzuwenden, zogen die Unternehmen direkt vor das Kammergericht Berlin. Ihrer Meinung nach seien dem Bundeskartellamt lediglich ein Auskunftsersuchen oder eine formelle Beweisaufnahme gestattet, bei der die betroffenen Unternehmen mit einbezogen werden müssten.31 Der Markenverband hatte noch vor Inkrafttreten des Gesetzes festgestellt, in einer Marktwirtschaft könne es nicht Aufgabe einer Behörde sein, „über die betriebswirtschaftliche Zweckmäßigkeit der Maßnahmen zu befinden, die ein Unternehmen zur Sicherung und Förderung seines Absatzes für erforderlich hält.“32 Günther stellte dagegen klar, dass das Kartellgesetz die Unternehmerfreiheit nicht einschränke, sondern lediglich „eine künstliche Manipulation der Wettbewerbsfreiheit“33 verhindere. Gleichzeitig suchte der Kartellamtspräsident in den ersten Jahren, die durch die Verabschiedung des Kartellgesetzes entstandene Spannung durch einen vorsichtigen Weg der Vermittlung abzumildern. Er stellte fest, dass man „bei der praktischen Antikartellpolitik die mehr als siebzigjährige deutsche Kartelltradition in Rechnung stellen müsse“. Man könne mit einiger Sicherheit annehmen, dass noch zahlreiche „Gentleman‘s-Agreements“ bestünden, von deren Existenz man zunächst nichts wisse könne.34 Die „geistige Verarbeitung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“, so führte er an anderer Stelle aus, erfordere „Zeit und Muße“.35 Das waren keine leeren Worte. Tatsächlich stand die Schärfe der zeitgenössischen Unternehmerkritik am Bundeskartellamt in keinem Verhältnis zu dem

30 Kommt das Kartellproblem vor den Richter?, in: Handelsblatt (29.9.1959), 1. 31 Otfried Lieberknecht, Das Verfahren vor den Kartellbehörden, in: Handelsblatt (26./27.8.1960), 13. 32 Vertikale Preis- und Vertriebsbindungen im Kartellgesetz. Erläuterungen des Markenverbandes zu §§15–18, 25, 26, 34, 38 und 106, in: Der Markenartikel 9 (1957), 425–451, hier 440; zit. nach Carl A. Walther, Kartellrechtliche Probleme bei der Gewährung von Kundenschutz durch Nichtbelieferung von Wettbewerbern, in: Wettbewerb in Recht und Praxis, Februar 1958, 33–35. Der Halbjahresbericht des Bundesverbands der Deutschen Industrie von 1960 stellte fest: „Die Entwicklung scheint eindeutig dahin zu führen, daß die Bewegungsfreiheit für die Zusammenarbeit in Produktion und Absatz in einem Ausmaß beschränkt wird, das sich in einer freien unternehmerischen Wirtschaft nicht verantworten läßt.“ Siehe Hans-Georg Otto, Kartelle können unmodern werden. Bemerkungen zu dem Bericht des BDI, in: Handelsblatt (2.6.1960) 2. 33 „Kartellpreise schaden der ganzen Wirtschaft“, in: Handelsblatt (30.4.1958) 2. 34 Das Kartellgesetz wirkt als Bremse, in: Handelsblatt (29.9.1958), 2. 35 Das Kartellamt fordert Geduld, in: Handelsblatt (9./10.5.1958), 1. Siehe auch Wettbewerb als ordnungspolitische Aufgabe, in: Der deutsche Handel (Handelsblatt), Juni 1959, 1.

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Verhalten der Behörde. Die ersten Jahre der Kartellrechtspraxis zeigten eine geradezu passive Haltung bei der Verfolgung illegaler Kartellabsprachen. Das Amt beschränkte sich im Wesentlichen darauf, angemeldete Kartelle, die den Zielen des Gesetzes widersprachen, zu einer Änderung der Vertragsinhalte zu bewegen. Es zog „den Weg der ‚Umerziehung‘ dem Weg der Strafe […] vor“, wie das Handelsblatt im Mai 1961 die Strategie des Kartellamtes kommentierte.36 Erst im September 1961 kündigte das Kartellamt erstmals ein Zwangsgeld an, nachdem sich ein großes Unternehmen der Automobilindustrie geweigert hatte, einen eigentlich meldepflichtigen Zusammenschluss anzuzeigen. Die Strafe fiel mit 1.000 D-Mark vergleichsweise bescheiden aus.37 Sie stellte auch weniger eine Bestrafung für eine illegale unternehmerische Praxis dar als den Versuch, die nach dem Gesetz vorhandene Meldepflicht tatsächlich einzufordern. Allerdings kündigte der Vizepräsident des Bundeskartellamtes, Gerhard Rauschenbach, nach „zahlreiche[n] handfeste[n] Verletzungen“ des Kartellrechts noch Ende desselben Jahres eine Zunahme der Bußgeldbescheide an.38 Die Zahlen spiegeln diese Haltung nicht wider. Der erste vom Bundeskartellamt verhängte und durch das Berliner Kammergericht bestätigte Bußgeldbescheid erging erst 1963, nachdem ein Hersteller versucht hatte, einen Händler durch eine Liefersperre davon abzuhalten, seine Preise unter die von ihm empfohlene Höhe zu senken.39 Bezeichnenderweise fiel dem Bundeskartellamt die Verhängung von Bußgeldern aber auch deshalb schwer, weil es sich mit „erheblichen Schwierigkeiten beim Nachweis des Unrechtsbewußtseins“40 konfrontiert sah. Als das Bundeskartellamt im Jahr 1964 gegen elf Ziegeleiunternehmen vorging, die ein von der Behörde für unzulässig erklärtes Kartell weitergeführt hatten, bestätigte das Kammergericht Berlin lediglich den vier geschäftsführenden Unternehmen einen „verschuldeten Verbotsirrtum“. Die vier Unternehmen wurden mit einem Bußgeld von je 300 D-Mark belangt (wogegen sie Rechtsbeschwerde einlegten), während das Gericht den anderen Kartellmitgliedern, die meist durch Erbschaft in den Besitz der Gesellschafteranteile gelangt waren, einen „entschuldbaren Verbotsirrtum“ zubilligte.41 Ein scharfes Vorgehen gegen Kartellsünder war in den ersten zehn Jahren des Bundeskartellamtes folglich die Ausnahme, so dass die eigentlichen Konfliktfel-

36 Hans-Georg Otto, Der Bericht aus Berlin, in: Handelsblatt (23.5.1961), 1. 37 Kartellamt droht erstmals Zwangsgeld an, in: Handelsblatt (8./9.9.1961), 2. 38 Vor härterer Bußgeldpraxis, in: Handelsblatt (7.12.1961), 1. 39 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1963, 15. 40 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1968, 23. 41 Die Rechtsbeschwerde der vier Unternehmen wurde 1966 vom Bundesgerichtshof abgewiesen. Siehe Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1966, 29.



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der in dieser Zeit an anderer Stelle lagen. Im Allgemeinen betrafen sie die grundsätzlichen Fragen von Zuständigkeit und Handlungsbefugnis des Kartellamtes, und im Einzelnen entzündeten sich die Konflikte an der Frage, ob das Kartellamt ein beantragtes Kartell genehmigte oder nicht.42 Freilich muss offen bleiben, ob die relative Zurückhaltung des Bundeskartellamtes eher durch die Haltung der Behörde oder durch die Gesetzeskonformität der deutschen Unternehmen zu erklären ist. Die Aussagen Günthers und die Haltung der Unternehmerschaft sprechen aber eher dafür, dass es in erster Linie die dem gesellschaftlichen Klima entsprechende Toleranz der Bundesbehörde war, die höhere Strafzahlungen ­verhinderte. Dafür spricht im Übrigen auch das Verhalten der Landeskartellbehörden, die für die Verstöße der Unternehmen auf Landesebene zuständig waren. Auf dieser Ebene wurden Bußgeldbescheide schon deutlich früher verhängt.43 Bereits 1961 waren 155 Fälle, die laut Landeskartellbehörden gegen Paragraf 1 verstießen, mit einem Bußgeld geahndet und auch gerichtlich bestätigt worden.44 Im September 1961 beispielsweise hatte der Kartellsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichtes in Hamburg ein Bußgeld in Höhe von 5.000 D-Mark für eine Gruppe von Gipser- und Stukkateurunternehmen bestätigt. Die Unternehmen hatten sich telefonisch darüber geeinigt, ihre Preise bei verschiedenen öffentlichen Ausschreibungen gegenseitig nicht zu unterbieten. Den öffentlichen Medien war dieser Fall allerdings lediglich eine Randnotiz wert.45

Kriminalisierte Kartelle. Das Bundeskartellamt seit den späten 1960er Jahren Während die Zahl der insgesamt anhängigen Verfahren relativ stabil blieb, nahmen die vom Kartellamt verhängten und durch die Gerichte bestätigten Bußgeldbescheide seit 1967 zu. Wie hoch die jeweiligen Bußgeldbescheide ausfielen, lässt sich nur mühsam rekonstruieren, da das Bundeskartellamt hierüber erst

42 Siehe auch Kurzlechner, Fusionen (wie Anm. 21), 85. 43 Zu den entsprechenden Zahlen siehe die Statistik in den Berichten des Bundeskartellamtes. Die historische Rolle der Landeskartellämter und ihr Verhältnis zum Bundeskartellamt stellt ein Forschungsdesiderat dar. 44 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1961, 138. 45 Bußgelder für Submissionsabsprachen, in: Handelsblat (22./23.9.1961), 2.

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später standardisierte Angaben gemacht hat. Die in den Berichten aufgeführten Bußgelder wurden zudem häufig noch vor Gericht angefochten und teilweise reduziert oder ganz abgewiesen. Im Jahr 1971 beispielsweise forderte das Kartellamt zwei Hersteller von Fußbodenbelägen und ihre Geschäftsführer zu einer Zahlung von 5.620.000 D-Mark auf.46 Nachdem die Betroffenen gegen das Urteil Einspruch erhoben hatten, wurde das Bußgeld durch das Kammergericht Berlin auf 1.009.500 D-Mark reduziert, da dieses eine andere Berechnung des Mehrerlöses, an dem sich die Höhe des Bußgeldes orientierte, zu Grunde gelegt hatte.47 Insgesamt verhängte das Bundeskartellamt zwischen 1968 und 1977 rechtskräftige Bußgeldbescheide in Höhe von 112 Mio. D-Mark. Davon waren 1.020 Personen und 770 Unternehmen betroffen, wobei sich die einzelnen Fälle nach Zahl der betroffenen Unternehmen und Höhe der Bußgeldforderungen sehr stark unterschieden.48 99 Prozent des Betrags fielen allein auf 26 Verfahren, in denen die Gesamtgeldbuße bei über 100.000 D-Mark lag. Die meisten dieser Verfahren betrafen den Bereich Elektrotechnische Erzeugnisse. Die höchsten Geldbußen wurden bei den Chemischen Erzeugnissen (51,1 Mio. D-Mark) und in der ­Bauwirtschaft (36,6 Mio. D-Mark) verhängt. Hier führte die Ermittlung gegen 343 Bauunternehmen und 483 verantwortliche Personen zu einem Bußgeld in Höhe von 35.800.000 D-Mark.49 Das Ende der Toleranz zeigte sich neben der Zunahme an Bußgeldern aber auch daran, dass die Kartellwächter das durch das GWB geregelte Strafmaß seit den frühen 1970er Jahren auch wirklich ausschöpften. Im Jahr 1971 hatte das Kartellamt erstmals eine Geldbuße in einer Gesamthöhe von über einer Mio.

46 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1971, 23 u. 70. Das Kartell war angemeldet, allerdings nicht zu den Bedingungen, die den tatsächlichen Geschäftspraktiken entsprachen. Die vier ­Geschäftsführer wurden persönlich mit insgesamt 65.000 D-Mark belangt. 47 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1972, 20. Die vom Kartellamt in seinem Bericht von 1985/86 als „unbefriedigend“ empfundene Reduzierung der Bußgeldhöhe durch das Kammergericht bildete auch in der weiteren Folge einen immer wiederkehrenden Punkt der Auseinandersetzung. Siehe Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1985/86, 83. 48 Um nur einige Beispiele zu nennen: Sieben Waschmaschinenhersteller mussten 1970 ein Bußgeld in Höhe von 197.000 D-Mark entrichten. Gegen acht Unternehmen der Zementindustrie wurde 1972 ein Bußgeld in Höhe von insgesamt 928.000 D-Mark verhängt. Drei Hersteller von Körperpflegemitteln wurden 1973 mit einem Bußgeld in Höhe von 28.500 D-Mark belangt. Drei Hersteller von Mülltonnen zahlten ein Jahr später 50.000 D-Mark. Sieben Dortmunder Brauereien traf im selben Jahr eine Strafe in Höhe von 7.024.000 D-Mark. Siehe Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1970, 60; Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1972, 18–19; Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1973, 91; Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1974, 59; Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1974, 72. 49 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1975, 15.



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D-Mark verhängt, ein Jahr später nahm es erstmals die Möglichkeit wahr, Bußgelder in der dreifachen Höhe des durch die gesetzwidrige Handlung erlangten Mehrerlöses einzufordern. Im Kartellbericht von 1971 setzte sich die Behörde mit den Zielen der Strafzahlungen erstmals ausführlich auseinander. Die Höhe der Geldbuße sollte verhindern, dass sich die entsprechende Praxis „für das verbotswidrig handelnde Unternehmen noch als wirtschaftlich vorteilhaft erweist, eine Möglichkeit, die besonders bei Kartellabsprachen umsatzstarker Unternehmen naheliegt“.50 In dieser Feststellung kam nicht nur eine für diese Zeit typische Skepsis gegenüber der Macht großer Unternehmen zum Ausdruck. Sie zeigt auch, dass aus Sicht des Kartellamtes die „Umerziehung“ der deutschen Unternehmen gescheitert war. In ihrem Bericht von 1977 erklärten die Kartellwächter: Nachdem die anfängliche Praxis der Zurückhaltung „von der Wirtschaft trotz abgeschlossenen ‚Gewöhnungsprozesses‘ nicht entsprechend honoriert worden ist, immer wieder gravierende Gesetzesverstöße erfolgten und auch die Bundesregierung auf schärfere Anwendung der Bußgeldvorschriften gedrängt hatte, hat das Bundeskartellamt den gesetzlichen Bußgeldrahmen stärker ausgeschöpft“.51 Zwei Entwicklungen begünstigten die neue Strategie einer durch monetäre Strafen erzielten Abschreckungswirkung und die insgesamt stärkere Kriminalisierung von Kartellrechtsverstößen. Der erste Impuls kam aus dem Bereich des Strafrechts, wo sich unter anderem der Rechtswissenschaftler Klaus Tiedemann seit Ende der 1960er Jahre dafür stark machte, Preisabsprachen einer strafrechtlichen Verfolgung zugänglich zu machen. „Wenn der deutsche Gesetzgeber […] weiter den Kriminalstrafschutz für so grundlegende Institutionen wie das L ­ eistungsprinzip im Wettbewerbsrecht verweigert“, stellte Tiedemann fest, „wird man vergeblich darauf warten, daß die beteiligten Wirtschaftskreise und die Öffentlichkeit jenes ‚lebendige Gefühl‘ für die Verwerflichkeit ­wettbewerbsbeschränkender ­Praktiken entwickeln, welches der Gesetzgeber selbst bei der Schaffung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen noch vermißte“.52 Die Forderung eines strafrechtlichen Zugangs wurde von den Wettbewerbs­ hütern zwar nicht direkt geteilt, weil sie Komplikationen in den praktischen Verfahrensabläufen befürchteten. Sie trug aber dazu bei, die Vergehen der Kartellsünder in ein zunehmend fragwürdiges Licht zu rücken. Der zweite und direktere

50 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1971, 24. 51 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1977, 45. 52 Klaus Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht als Aufgabe, in: ders. (Hg.), Die Verbrechen in der Wirtschaft, Karlsruhe 1970, 9–39, hier 25. Siehe auch Jürgen Baumann/Gunther Arzt, Kartellrecht und allgemeines Strafrecht. Mögliche Beiträge des allgemeinen Strafrechts zur Bekämpfung der Ausnutzung marktbeherrschender Positionen, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 2 (1970), 24–52; Selmer, Verfassungsrechtliche Probleme (wie Anm. 20), 1.

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Impuls war die im Bericht von 1977 erwähnte Haltung der Bundesregierung, die mit dem am 24. Mai 1968 verabschiedeten Gesetz über Ordnungswidrigkeit (OWiG) strengere Regeln zur Festsetzung der Bußgeldforderungen definiert hatte. In dem Gesetz wurde festgeschrieben, was seit Beginn der 70er Jahre vom Kartellamt angewendet wurde, nämlich dass die Geldbuße über dem wirtschaftlichen Vorteil des Vergehens lag. Als Folge dieser Entwicklung verlagerte sich die Tätigkeit des Kartellamtes zunehmend auf Verfahren in Bußgeldsachen, während die Inanspruchnahme der Behörde durch Verfahren in Verwaltungssachen ­zurückging.53 Die Neuorientierung markierte auch eine Zäsur in der praktischen Ermittlungsarbeit der Behörde. Nachdem das Kammergericht und der Bundesgerichtshof eine Reihe von Bußgeldbescheiden zurückgewiesen hatten, weil die ­Beweisgrundlage ihrer Ansicht nach nicht ausreichend für eine Verurteilung war, sah sich die Behörde in einer schwierigen Situation. Einerseits sprachen zahlreiche Indizien für eine Manipulation des Wettbewerbs durch bestimmte Gruppen von Unternehmen. Andererseits hob das GWB, an dem sich die Gerichte orientierten, im Wortlaut die Bedeutung schriftlicher Vereinbarungen hervor, zu denen das Kartellamt keinen Zugang hatte. Auf die Forderung der Gerichte nach einschlägigem Beweismaterial reagierte das Kartellamt, indem es erstmals seine Befugnisse in Anspruch nahm, die denen einer staatsanwaltschaftlichen Behörde entsprachen.54 Mit Unterstützung der Kriminalpolizei ging es dazu über, Unternehmen zu durchsuchen und Beweismittel zu beschlagnahmen, was die Kriminalisierung von Kartellen in der öffentlichen Meinung vermutlich verstärkt hat.55 Die Erfolge der neuen Ermittlungsmethoden waren „beachtlich“, wie der Kartell-Bericht von 1972 begeistert vermerkte.56 Dieser aus gescheiterten „Erziehungsversuchen“, steigenden Bußgeldforderungen, zunehmender Kriminalisierung und verhärteten Fronten gekennzeichnete Verlauf in den Beziehungen zwischen Bundeskartellamt und Unternehmen ist ein zentraler Bestandteil der deutschen Kartellrechtsgeschichte. Die letztlich

53 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1972, 15. Zur Differenzierung zwischen Bußgeldverfahren und Verwaltungsverfahren siehe Ingo Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. Eine interdisziplinäre Einführung, München 92012, 224. 54 „Die Verfolgungsbehörde hat, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, im Bußgeldverfahren dieselben Rechte und Pflichten wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten.“ §46, Abs. 2, in: Bundesgesetzblatt Teil I, 1968, Nr. 33 vom 30.5.1968 (Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG)), 491. 55 Vor diesem Hintergrund ist auch ein von Kurzlechner lebendig geschildertes Vorgehen gegen das süddeutsche Zement-Syndikat im Jahr 1972 zu sehen, das die Qualität eines Wirtschaftskrimis hatte. Siehe Kurzlechner, Fusionen (wie Anm. 21), 157ff. 56 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1972, 15.



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dualistische Perspektive einer strafenden Behörde und den mehr oder weniger gefügigen Unternehmen droht aber auch ein verzerrtes Bild der Gesamtentwicklung zu zeichnen, da sie wesentliche Dynamiken ausblendet. Nähert man sich den Entwicklungstrends der deutschen Kartellrechtspraxis dagegen aus einer mikrohistorischen Perspektive wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen Kartellamt und Unternehmen viel verflochtener, die Probleme der Bestimmung wettbewerbswidrigen Verhaltens viel tiefgreifender und die Einbahnstraße einer sich zuspitzenden Kriminalisierung dieses Verhaltens viel weniger eindeutig waren. Dies soll im folgenden Abschnitt am Beispiel der wechselvollen Geschichte der vertikalen Preisbindung gezeigt werden.

Verhandlungen mit den Wächtern des ­Kartellrechts. Das Fallbeispiel der Preisbindung Die vertikale Preisbindung war ein zentraler Streitpunkt in den Verhandlungen über das GWB während der 50er Jahre. Das auch als Preisbindung der zweiten Hand bezeichnete rechtliche Institut gestattete es Unternehmen, ihren Abnehmern den Endverbraucherpreis verbindlich vorzuschreiben. Die beiden Parteien gingen einen Vertrag ein, bei dessen Nichteinhaltung das preisbindende Unternehmen Strafzahlungen durchsetzen konnte. Die Hersteller erlangten durch die Preisbindung Kontrolle über die Preisgestaltung entlang der Distributionskette. Die Groß- und Einzelhändler wurden vor preispolitischen Wettbewerbsmaßnahmen ihrer direkten Konkurrenten geschützt.57 Die Ansichten über die wettbewerbspolitischen Vor- und Nachteile der Preisbindung gingen vor der Verabschiedung des GWB weit auseinander. Industrie, Einzelhandelsvertreter und Markenhersteller forderten eine Legalisierung, während das Bundeswirtschaftsministerium und ordoliberale Ökonomen für ein Verbot eintraten. Die Unternehmen verwiesen auf eine seit Jahrzehnten etablierte Praxis sowie die Notwendigkeit, einen ruinösen Preiswettbewerb verhindern und die Qualität der Erzeugnisse sichern zu können. Hinter dem Wunsch der Markenartikelhersteller, ihre Preise zu binden, verbarg sich in den Augen ordoliberaler Ökonomen dagegen etwas anderes. In Wahrheit sei dieser nichts anderes

57 Für zwei ausführlichere und gegensätzliche Beschreibungen der Funktionsweise einer Preisbindung siehe Erich Hoppmann, Vertikale Preisbindung und Handel, Berlin 1957 u. Konrad Mellerowicz, Markenartikel. Die ökonomischen Gesetze ihrer Preisbildung und Preisbindung, München 2 1963.

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als ein „Kampf für die Existenz von Kartellen der Markenartikelhersteller“,58 wie sich etwa der Ökonom Fritz W. Meyer äußerte. Als einer der Ausnahmebereiche im Kartellgesetz wurde die Preisbindung unter einer Reihe von Auflagen in der ersten Fassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen legalisiert, mit der zweiten Novelle des Gesetzes im Jahr 1973 aber schließlich doch verboten. Die Alliierten hatten zunächst ein striktes Verbot der Preisbindung vorgesehen, lockerten das Verbot aber bereits im Jahr 1952. Seitdem wurde die Anwendung der Preisbindung strafrechtlich nicht länger verfolgt. Ihre zivilrechtliche Gültigkeit blieb dagegen weiterhin ungeklärt.59 Das GWB legalisierte die Preisbindung schließlich unter strengen Auflagen. Die Markenhersteller waren verpflichtet, ihre Preisbindungen beim Bundeskartellamt anzumelden. Das Bundeskartellamt konnte sie jederzeit für nichtig erklären, wenn es der Meinung war, dass die Preisbindung die Preise künstlich verteuerte, ein Sinken der Preise verhinderte oder auf andere Weise missbräuchlich gehandhabt wurde. Ein weiterer Verbotsgrund lag vor, wenn die Preisbindung die Erzeugung der Produkte oder ihren Absatz beschränkte.60 Mit diesen Einschränkungen, die auf die Sicherstellung „marktgerechter“ Preise zielten, versuchten die Gesetzgeber, den schwierigen Spagat zwischen dem Ideal einer freien Marktwirtschaft und den Zielen der Preisbindung zu bewerkstelligen. Denn während in einer freien Marktwirtschaft die Preise ein automatisches Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage sicherstellen sollen, zielt die Preisbindung auf eine Stabilisierung eben dieser Preise.

58 Fritz W. Meyer, Warum feste Preise für Markenartikel? Auseinandersetzung mit einer Interessentenideologie, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1954), 133–165, hier 164. Siehe auch Heinz Büntig, Kartellersatz durch vertikale Preisbindung, in: Wirtschaft und Wettbewerb 3 (1957), 143–165 und Hoppmann, Preisbindung (wie Anm. 57), 59. Siehe allgemein zur historischen Entwicklung Harm G. Schröter, Konsumpolitik und „Soziale Marktwirtschaft“. Die Koexistenz liberalisierter und regulierter Verbrauchsgütermärkte in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, 113–133. 59 Das „Bronson-Memorandum“ vom 21.6.1948 verbot explizit die Anwendung der vertikalen Preisbindung. Siehe Mikael Budich, Der Geltungsbereich des kartellrechtlichen Preisbindungsverbotes nach § 15 GWB beim Warenabsatz über Verkaufsagenten unter besonderer Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des Bundeskartellamtes und der Gerichte zu den Telefunken-Vertriebsverträgen, Dissertation Uni Saarbrücken 1992, 38; Ursula Beyenburg-Weidenfeld, Wettbewerbstheorie, Wirtschaftspolitik und Mittelstandsförderung, 1948–1963. Die Mittelstandspolitik im Spannungsfeld zwischen wettbewerbstheoretischem Anspruch und wirtschaftspolitischem Pragmatismus, Stuttgart 1992, 217; Burkhardt Röper, Die vertikale Preisbindung bei Markenartikeln. Untersuchungen über Preisbildungs- und Preisbindungsvorgänge in der Wirklichkeit, Tübingen 1955, 87f. 60 §§ 15–17 im GWB (wie Anm. 32).



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Ob die Preisbindung wie von den Gesetzgebern vorgesehen angewandt wurde, blieb zunächst völlig unklar. Über messbare Kriterien für nicht marktgerechte Preise, die ja für die praktische Einforderung der im Gesetz bestimmten Auflagen notwendig waren, verfügten die Kartellhüter zunächst ebenso wenig wie über feste Verfahrensabläufe. Günther selbst bezeichnete die Preisbindung in einer freien Wettbewerbswirtschaft als eine „Entartung, eine Regelwidrigkeit“. Gleichzeitig sah er seine Behörde bei der Bestimmung einer missbräuchlichen Handhabung aber auch „einfach überfordert“.61 So etwas wie eine verbindliche Trennlinie zwischen einer kartellrechtswidrigen und einer durch das Gesetz legitimierten Preisbindung bildete sich daher erst in der konkreten Beschäftigung mit einzelnen Fällen heraus. Konkrete Anwendungsbeispiele gab es genug. Trotz der festgeschriebenen Einschränkungen war die Legalisierung der Preisbindung die für die Markenartikel-Industrie wohl wichtigste Ausnahme im Gesetz, da das Institut seit Ende des 19. Jahrhunderts ein zentrales Element ihrer Preispolitik dargestellt hatte.62 Kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen meldete das Bundeskartellamt bereits an die 20.000 preisgebundene Artikel in der Bundesrepublik. Darunter fielen nicht nur Ersatzteile für Kraftfahrzeuge, die den Löwenanteil ausmachten, sondern auch alltägliche Konsumgüter wie Schokolade, Waschmittel oder Weinbrand sowie langlebige Konsumgüter, also Rasierund Fotoapparate, Waschmaschinen und Fernsehgeräte. In der ­Bevölkerung und bei den meisten Groß- und Einzelhändlern stieß die Preisbindung in den ersten Jahren auf eine relativ weit verbreitete Zustimmung.63 Das bedeutete allerdings nicht, dass viele Konsumenten nicht auch nach Wegen suchten, die durch das Institut zementierten Preise zu durchbrechen, sei es durch individuelle Verhandlungen mit den Einzelhändlern oder durch die Verfolgung alternativer ­Beschaffungswege. Ein anschauliches Beispiel, wie der schwierige Spagat zwischen dem Ideal einer freien Marktwirtschaft und den Zielen der Preisbindung Konflikte zwischen

61 Kartellamtspräsident zur Preisbindung, in: Handelsblatt (3.9.1959), 2. 62 Peter Wörmer, Vertikale Preisbindung, Berlin 1962, 15 und Edgar W. Uherek, Zur Entwicklung der vertikalen Preisbindung, in: Karl Christian Behrens (Hg.), Wandel im Handel, Wiesbaden 1962, 37–58. 63 Unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sprachen sich 68 Prozent der vom Demoskopischen Institut Allensbach befragten Deutschen für gebundene Preise aus. Siehe die aufgrund ihrer Nähe zum Markenartikelverband allerdings mit Vorsicht zu betrachtende Studie Elisabeth Noelle-Neumann/Gerhard Schmidtchen, Verbraucher beim Einkauf. Eine wirtschaftssoziologische Studie über die Rolle des Markenartikels, Allensbach 1968, 71. Zum Einzelhandel: Die meisten Händler sind für Preisbindung, in: Handelsblatt (17.3.1960), 4.

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Konsumenten, Händlern und Konsumenten hervorrief, die dem Bundeskartellamt auch letztlich einen Maßstab für die Bewertung der Legalität der Preisbindung gaben, ist die Geschichte des Marktes für Fernsehgeräte.64 Dieses Beispiel ist auch deshalb gut geeignet, weil die Entwicklung des Marktes zeitlich eng mit der Verabschiedung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zusammenhing. Während eine kleine Anzahl erster Fernsehgeräte bereits 1952/53 vom Band gelaufen war, begann die Massenproduktion dieses für die Entwicklung der bundesdeutschen Konsumgesellschaft entscheidenden Konsumguts erst Mitte der 1950er Jahre. Im Jahr 1958 überschritt die Produktion erstmals die Millionengrenze, 1960 lag sie bereits bei über zwei Millionen Geräten.65 Das Verhalten der deutschen Fernsehgeräte-Hersteller entsprach ganz und gar den Befürchtungen, die ordoliberale Ökonomen mit der Legalisierung der Preisbindung verbunden hatten. Bereits kurz nach Inkrafttreten des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen trafen sich die wichtigsten Vertreter der Industrie im Juli 1958, um eine kollektive Marktordnung zu vereinbaren und die flächendeckende Einführung der Preisbindung zu beschließen. In der Presse wurde die Gruppe, auf die etwa 80 Prozent des Marktanteils an Fernsehgeräten entfielen, schon bald das deutsche „Fernsehkartell“ genannt. Diese Bezeichnung stellte in den Augen ihrer Mitglieder nichts Anrüchiges oder gar Illegales dar. Sie entsprach vielmehr der zeitgenössisch noch weit verbreiteten Sicht der Unternehmer, dass ein geordneter Zusammenschluss die einzige Möglichkeit sei, die unsicheren Marktentwicklungen zu stabilisieren und ruinöse Preiskämpfe ­abzuwehren.66 In dieser Haltung wurde sie von den meisten Vertretern des Groß- und Einzelhandels unterstützt. Diese befürchteten bei einer freien Preisgestaltung einen zunehmenden Wettbewerb, der sie zu Preissenkungen nötigte und ihre Profite

64 Sebastian Teupe, Kontrolldenken. Vertikale Preisbindung, Hersteller-Händler-Beziehungen und die Transformation des Wettbewerbs im Markt für Fernsehgeräte zwischen den 1950er und 80er Jahren, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2014), 47–72. 65 Siehe allgemein zur Entwicklung der Fernsehgeräte-Industrie Kilian J. L. Steiner, Ortsempfänger, Volksfernseher und Optaphon. Die Entwicklung der deutschen Radio- und Fernsehindustrie und das Unternehmen Loewe, 1923–1962, Essen 2005 und Josef Reindl, Wachstum und ­Wettbewerb in den Wirtschaftswunderjahren. Die elektrotechnische Industrie in der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien 1945–1967, Paderborn 2001. 66 Geschäftsbereich Geräte (Nowack) an die GS. Betr.: Marktordnung, 25. Juli 1958, in: Deutsches Technisches Museum Berlin/Bestand AEG-Telefunken [künftig DTMB/AEG], GS 4686. Siehe auch Fernsehindustrie und -handel wünschen Preisbindung und Rabattkartell, in: Fernseh-Informationen, (Februar 1958), 76; Die Rundfunkindustrie hebt die Preisbindung auf. M ­ arktgerechte Preise im freien Wettbewerb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.1.1959) und Rundfunkmarkt noch nicht beruhigt, in: ­Deutsche Zeitung (24.1.1959).



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gefährdete. Die Preisbindung sollte sicherstellen, dass alle Groß- und Einzelhändler für ein und dasselbe Fernsehgeräte-Modell auch einen einheitlichen Preis verlangten, so dass sich der Wettbewerb zwischen ihnen allein auf der Ebene der Qualität abspielte, die Kaufentscheidung also etwa von der angebotenen Beratung oder der Ladenausstattung abhing, nicht aber von unterschiedlichen Preisen. Die Preisbindung stand aus zwei Gründen im Zentrum des deutschen „Fernsehkartells“. Erstens stellte sie eine der wenigen in der Wettbewerbsordnung der Bundesrepublik übrig gebliebenen Möglichkeiten dar, überhaupt so etwas wie eine kollektive Vereinbarung zu treffen. Verbindliche, das heißt rechtlich einklagbare Absprachen über Preise oder Produktionsmengen waren nicht mehr möglich. Mit der Preisbindung war die Hoffnung verbunden, für Disziplin in den Reihen der Industriellen zu sorgen. Gemeint war damit, die Ziele der eigenen Produktion mit der Aufnahmefähigkeit des Marktes zu vereinbaren und bei stagnierenden Absätzen nicht gleich mit den allgemein ungeliebten Preissenkungen zu reagieren.67 Wie sehr die Preisbindung in den 50er und frühen 60er Jahren im Denkhorizont kollektiv vereinbarter Marktordnungen verankert war, zeigt sich auch daran, dass sie im Jahr 1960 durch ein Rabattkartell ergänzt wurde. Das Rabattkartell sollte verhindern, dass sich die Hersteller in den „Rabatten“, in diesem Fall also den Handelsspannen (der Differenz zwischen Einkaufspreis und Verkaufspreis) des Groß- und Einzelhandels, gegenseitig unterboten. Die Vertreter der Industrie legten allgemein verbindliche Rabattsätze fest, deren Einhaltung durch einen Notar überprüft werden sollte.68 Zweitens stand die Preisbindung auch deshalb im Zentrum des „Fernsehkartells“, weil sie eine zentrale Forderung der direkten Abnehmer der Geräte, also des Groß- und Einzelhandels, war. Diese Dimension der Preisbindung wird in historischen Untersuchungen meist ­unterschlagen. Sie war aber schon deshalb entscheidend, weil die H ­ ersteller ohne die Unterstützung des Groß- und Einzelhandels keinen Zugang zum Endverbraucher hatten. Zudem erforderte die Einführung des Fernsehens ein breites Netz an Händlern, die nicht nur Informationen bereitstellen, sondern auch Kredite gewähren und defekte Geräte annehmen konnten. Angesichts dieser Situation hätten die Hersteller die Forderungen der Groß- und Einzelhändler nur schwerlich ignorieren können, auch wenn ihr eigenes Interesse an einer Stabilisierung der Endverbraucherpreise weniger aus-

67 Max Rieger, Die Situation in der Rundfunk- und Fernsehwirtschaft, in: Fernseh-Informationen, November 1958, 707–710, hier 709. 68 Aktennotiz (Nowack) (Sekr. Heymann vorgelegt am 29.4.1960). Betr.: Rabattkartell, in: DTMB/ AEG, GS 1998.

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geprägt gewesen wäre. Die von allen Teilen der Distributionskette geteilte Befürwortung der Preisbindung bedeutete allerdings nicht, dass ihre konkrete Umsetzung harmonisch verlief. Nach Absatzschwierigkeiten und Berichten in der deutschen Presse über anwachsende Lagerbestände hoben sechs Kartellmitglieder bereits im Januar 1959 die Preisbindung wieder auf und hofften in einer gemeinsamen Erklärung auf die Bildung nun „marktgerechter“69 Preise. Nachdem sich allerdings der Rest des Kartells dieser Maßnahme nicht anschloss, gingen die abtrünnigen Mitglieder nur einen Monat später wieder zur Preisbindung über, was ebenfalls auf die normative Bedeutung der Orientierung an kollektiven Verhaltensweisen schließen lässt. Nachdem die Industrie angesichts der stockenden Absätze Preissenkungen vorgenommen hatte, bemerkte das Unternehmen Grundig, die Höhe der neuen Preise habe ihre Funktion als zuverlässige Vermittler von Angebot und Nachfrage wiederhergestellt.70 Von der Bildung „marktgerechter“ Preise konnte aus Sicht der Einzelhändler, die gegenüber den Kunden die Preise der Hersteller einzufordern hatten, aber kaum die Rede sein. Obwohl sie dadurch gegenüber den Herstellern v ­ ertragsbrüchig wurden, gewährten viele Einzelhändler ihren Kunden unter der Hand hohe Preisnachlässe. Im Herbst 1959 entbrannte in Düsseldorf ein regelrechter „Preiskrieg“, nachdem einzelne Händler dazu übergegangen waren, die eigentlich gebundenen Preise selbständig zu senken. Die Industrie traf sofort „Gegenmaßnahmen“, verhängte Liefersperren und erwirkte einstweilige Verfügungen.71 Nach einer zwischenzeitlichen Beruhigung häuften sich Mitte 1960 bereits wieder Meldungen über illegale Preissenkungen und Direktverkäufe der Großhändler an die Endverbraucher, was im Rahmen des „Fernsehkartells“ ebenfalls als vertragswidrige Handlung zu werten war. Allein zwischen Juli und November 1960 gingen die Hersteller gegen 60 vertragsbrüchige Großhändler und 47 Einzelhändler vor.72 Hinter diesen Auseinandersetzungen verbargen sich einerseits Verteilungskonflikte zwischen Herstellern, Groß- und Einzelhändlern, die durch das „Fernsehkartell“ mit Preisbindung und Rabattkartell nur unzureichend kontrolliert

69 Preisbindung der zweiten Hand für Rundfunkgeräte fällt fort, in: Die Welt (19.1.1959); Die Rundfunkindustrie hebt die Preisbindung auf. Marktgerechte Preise im freien Wettbewerb, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.1.1959); Der Preiseinbruch wird breiter, in: Die Welt (20.1.1959) und An Rückkehr zur Preisbindung vorerst nicht zu denken, in: Die Welt (26.1.1959). 70 Rundfunk- und Fernsehwirtschaft in der Interimszeit, in: Fernseh-Informationen (Februar 1959), 119f. 71 Schreiben Hoffmann (GS Düsseldorf). Betr.: Unterrichtung über Preisbindung (29. September 1959), in: DTMB/AEG, GS 2190. 72 Bedenkliche Mittel im Kampf um die Preisbindung, in: Der Tagesspiegel (19.2.1961).



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werden konnten. Der SPIEGEL interpretierte den von den Herstellern für die Saison 1960/61 bestimmten Endverbraucherpreis sogar als „Rachepreis“ am Handel, weil die im Rahmen des Rabattkartells festgelegten Rabatte gesenkt worden waren, der Endverbraucherpreis dagegen kaum. Die Industrie habe sich für die „wilden Preissenkungswellen“73 des letzten Jahres revanchieren wollen, womit das Magazin auf die „Preiskriege“ anspielte, die das Verhältnis zwischen Herstellern und Händlern belastet hatte. Andererseits zeigte sich aber auch die Bedeutung der konkreten Interaktionen zwischen Einzelhändlern und Konsumenten für die Stabilität des „Fernsehkartells“. Das Kartell basierte auf dem Kalkül, dass ein gegebenes Angebot an Fernsehgeräten zu einem festgelegten Preis auch die notwendige Zahl an Abnehmern fand, sofern die Produktionszahlen nur moderat genug und die Verkaufsanstrengungen nur hoch genug waren. Der Konsument war als tendenziell Benachteiligter und als letzter Abnehmer der entscheidende Faktor in dieser Gleichung. Die Meldungen über Preissenkungen und Direktverkäufe trotz Preisbindung und Kartellverträgen spiegeln angesichts einer zunächst eindeutigen Haltung der Groß- und Einzelhändler zu Gunsten der Preisbindung nicht einfach opportunistisches Verhalten in einer nicht lückenlos kontrollierbaren Marktordnung wider. Sie zeigen vielmehr, dass es den Akteuren nicht gelang, den Konsumenten die Bedingungen des „Fernsehkartells“ im Verkaufsgespräch als alternativlos zu ­vermitteln, mag die Mehrheit der bundesdeutschen Konsumgesellschaft der Preisbindung an sich auch wohlgesonnen gewesen sein. Der Presse kam in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu, weil sie über die hohen Lagerbestände der Industrie und die in einzelnen Transaktionen erzielten Preissenkungen berichtete und dadurch den Konsumenten eine stärkere Verhandlungsgrundlage an die Hand gab. Das Bundeskartellamt hatte die Anwendung der Preisbindung von Beginn an skeptisch, wenn auch nicht dogmatisch ablehnend betrachtet. Bei der Gründung des „Fernsehkartells“ war die Behörde in die Entscheidungen direkt eingeweiht und beratend tätig. So lange die Industrie alle durch das GWB vorgeschriebenen Auflagen einhielt, stand einer stabilen Marktordnung nichts im Wege. Diese Rolle eines kritisch begleitenden Beobachters legte das Bundeskartellamt spätestens im Jahr 1960 ab. Für die zunehmend negative wettbewerbsrechtliche Bewertung des „Fernsehkartells“ im Allgemeinen und der Preisbindung im Besonderen bildeten die in der Öffentlichkeit diskutierten Absatzprobleme von Industrie und Handel schließlich die ausschlaggebende Entscheidungsgrundlage. Hohe Lagerbestände, vertragswidrige Preissenkungen und Direktverkäufe waren die ­messbaren Krite-

73 Der Rachepreis, in: Der Spiegel (4.5.1960), 24–27, hier 26.

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rien, anhand derer sich eine Trennlinie zwischen einer kartellrechtswidrigen und einer durch das Gesetz legitimierten Preisbindung ziehen ließ. Ende des Jahres 1960 äußerte das Bundeskartellamt seine Skepsis darüber, ob die durch das „Fernsehkartell“ geschaffene Marktordnung noch in der Lage sei, den für „wirtschaftlich gesunde Verhältnisse“74 notwendigen Ausgleich von Angebot und Nachfrage herzustellen. Angesichts der Weigerung der Behörde, das Rabattkartell für ein weiteres Jahr zu genehmigen, nahm die Industrie schließlich Abstand von der Idee.75 Im März des folgenden Jahres hob das Kartellamt die Preisbindung, an der die Industrie zunächst festgehalten hatte, für die wichtigste Geräteklasse auf. Im April erklärte Grundig seinen Austritt aus dem Fernsehkartell und im Mai löste sich das Fernsehkartell ganz auf. Damit waren die Gestaltung der Rabatte und die Absprachen über die Einführung der Preisbindung keine kollektiven Angelegenheiten mehr.76 Die meisten Unternehmen hielten zunächst an der Preisbindung für die Geräte der aktuellen Saison noch fest, konnten ihre Durchsetzung aber nicht kontrollieren.77 Bis zum Frühjahr 1962 schafften sie die Preisbindung flächendeckend ab.78 Der Versuch einer Marktordnung war auf ganzer Linie gescheitert, obwohl sowohl die Ausnahmebestimmung des Rabattkartells als auch die Preisbindung, den Buchstaben des Gesetzes nach zu urteilen, nach wie vor legal waren. Im Jahr 1973 wurde das GWB novelliert. Seit dem 1. Januar 1974 ist die Preisbindung in der Bundesrepublik, mit Ausnahme von Verlagserzeugnissen und sieht man von einigen neueren Entwicklungen im europäischen Wettbewerbsrecht ab, verboten.79 Die Gesetzesnovelle veränderte die institutionellen Rahmenbedingungen insofern, als die Trennlinie zwischen einer kartellrechtswidrigen und einer durch das Gesetz legitimierten Preisbindung nicht länger existierte. Vereinbarungen über die Endverbraucherpreise, also über die von den Einzelhänd-

74 Aktennotiz Geschäftsbereich GR. Betr.: Besprechung im Bundeskartellamt und mit den Großund Einzelhandelsverbänden in Berlin vom 12.-14.12.1960, 23.12.1960, in: DTMB/AEG, GS 1998. 75 Mahnung an das Rundfunkkartell, in: Deutsche Zeitung (21.1.1961); Abmahnungen, in: Tagesspiegel (12.2.1961). 76 Rundschreiben Nowack. Betr.: Rabattkartell, 1.3.1961, in: DTMB/AEG, GS 1998. Siehe auch AEG Rundfunk-Abteilung. Rundschreiben an den Handel. Betr.: Rabattkartell-­Preisbindung, Juni 1961, in: DTMB/AEG, ALB 034; Nowack an Heyne. Betr.: Rabattkartell / Besprechungen beim Bundeskartellamt vom 12. bis 14.4.1961. 18.4.1961. in: DTMB/AEG, GS 1998. 77 Fernseher im freien Markt, in: Radio-Fernseh-Händler, Februar 1962, 46–48, hier 46. 78 Geschäftsbereich GR. Protokoll Fachgebietsbesprechung am 29.11.1962 in Hannover, in: DTMB/AEG, GS 1052. 79 Für ein zwischenzeitliches „Comeback“ der Preisbindung im Zuge der Einführung des Farbfernsehens und seine historische Einordnung siehe Teupe, Kontrolldenken (wie Anm. 64).



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lern geforderten Preise, waren illegal. Die strukturellen Wettbewerbsprobleme und die gegenseitige Abhängigkeit der Akteure entlang der Distributionskette änderten sich durch die Gesetzesnovelle freilich nicht. Das bedeutete aber auch, dass die prinzipiellen Anreize, die wenigstens phasenweise für eine Anwendung der Preisbindung gesprochen hatten, nach wie vor existierten. Viele Hersteller reagierten auf die neue Situation durch den Aufbau von Vertriebsbindungen, die den Kreis der Abnehmer beschränkten ohne auch die Endverbraucherpreise festzulegen. Andere Hersteller erkämpften sich nach langwierigen juristischen Auseinandersetzungen eine gesetzliche Nische, die ihnen die Vorgabe der Endverbraucherpreise unter eng definierten Vorgaben gestattete. Wieder andere nahmen einen Bruch mit den Kartellgesetzen in Kauf.80

Ausblick und Fazit Welchen Beitrag kann die Geschichte der Kartellrechtspraxis für die Suche nach einer möglichen Systematik regelverletzenden Handelns in kapitalistischen Marktgesellschaften leisten? Der zunächst offenkundige Befund ist, dass in der Geschichte der „sozialen Marktwirtschaft“ der Bundesrepublik nicht die Akzeptanz der Kartellrechte der Regelfall war, sondern der Verstoß gegen sie. Dieser Eindruck wird auch bestätigt, wenn man einen nur kurzen Blick auf die Entwicklung der Kartellrechtspraxis zwischen den 80er Jahren und der Häufung der Verfahren in den letzten Jahren wirft. Mit der vierten Kartellgesetznovelle wurde die Obergrenze des Bußgeldrahmens für Kartellverstöße, der unabhängig von den tatsächlich erzielten Mehrerlösen ausgeschöpft werden konnte, von 100.000 D-Mark auf 1 Mio. D-Mark erhöht.81 Ende der 80er Jahre ging das Kartellamt verstärkt dazu über, Mitglieder der Unternehmensführung „unmittelbar zur Verantwortung“ zu ziehen, während die Gerichte nun immer seltener so etwas wie einen „entschuldbaren Verbotsirrtum“ bei Kartellabsprachen akzeptierten.82 Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 20. August 1997 wurde die Teilnahme an Submissionsabsprachen, also Absprachen bei der Vergabe von Aufträgen zur Sicherung hoher Preise, unter bestimmten Bedingungen zu einer Straftat hochgestuft, was den Kritikern des Kartellrechts in den 60er Jahren als

80 Wegen Preisabsprachen bei Süßigkeiten, Kaffee, Tiernahrung und Kosmetik wurden Hersteller und Handelsketten erst im Juni 2015 mit einer Kartellbuße von 151,6 Mio. Euro abgemahnt. Siehe Kirsten Bialdiga, Planwirtschaft im Supermarkt, in: Süddeutsche Zeitung (19.6.2015), 17. 81 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1978, 14. 82 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1987/88, 28.

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späte Genugtuung erschienen sein dürfte.83 Solche dem Strafrecht zugeordneten Fälle fielen allerdings nicht in den Zuständigkeitsbereich des Bundeskartellamtes, so dass in der Folge zwei parallele und lediglich aufeinander abgestimmte Verfahren die Regel wurden. In seinem Tätigkeitsbericht stellte das Bundeskartellamt dazu fest: „Die Verfolgung der Submissionsabsprachen als Straftat durch die Staatsanwaltschaften gewährleistet den mit einer Kriminalisierung verbundenen Abschreckungseffekt gegenüber den persönlich Handelnden. Die Verfolgung von Submissionsabsprachen durch Geldbußen gegenüber juristischen Personen und Personenvereinigungen durch die Kartellbehörden sichert den Abschreckungseffekt gegenüber den Unternehmen.“84 Im Jahr 2002 wurde die Sonderkommission Kartellbekämpfung (SKK) gebildet, die schon von ihrem Namen her die zunehmende Kriminalisierung der Kartelldelikte demonstriert.85 Im Jahr 2006 wechselte die Berechnungsgrundlage der Bußgelder von einem mehrerlösbezogenen zu einem umsatzbezogenen Bußgeldrahmen, der nicht nur die Höhe der Bußgelder weiter nach oben trieb, sondern auch das Verhalten selbst ungeachtet der rein wirtschaftlichen Vorteile sanktionierte. Die gewünschten Abschreckungseffekte hatten alle diese Neugestaltungen der rechtlichen Rahmenbedingungen nicht. Das Jahr 1999 sah mit etwas über 287 Mio. D-Mark den bis zu diesem Zeitpunkt höchsten Wert an verhängten Bußgeldern. Im Jahr 2000 wurden allein die Hersteller von Transportbeton im bis dato größten Kartellverfahren mit 370 Mio. D-Mark belangt.86 Auch die eingangs zitierten Fälle demonstrieren einen zwar in jedem Jahr stark schwankenden, in der langfristigen Tendenz aber doch steigenden Trend.87 Das Nachdenken über Gefängnisstrafen für Kartellsünder war infolge all dieser Entwicklungen wohl eine naheliegende Konsequenz, die sich im deutschen Kartellgesetz bisher aber nicht niedergeschlagen hat.88

83 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1997/98, 35. 84 Ebd., 35f. 85 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 2001/2002, 43f. 86 Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 1999/2000, 42f. Für den seit Jahrzehnten notorischen Fall der Zementindustrie siehe Roger Pierenkemper, Kartellbußen aus rechtlicher und ökonomischer Sicht. Der Problemfall der Zementkartelle, Tübingen 2012. 87 Im Jahr 2002 betrug die Höhe der verhängten Bußgelder lediglich 4,5 Mio. Euro. Nachdem das Urteil gegen eine Gruppe von Transportbetonherstellern im Jahr 2003 rechtskräftig wurde, schnellte die Statistik auf 717 Mio. Euro hoch, fiel danach allerdings wieder auf 58 Mio. Euro. Siehe Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 2003/04, 37 und Tätigkeitsbericht Bundeskartellamt 2007/08, 35. 88 Dass die gegen die Bestimmungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen begangenen Ordnungswidrigkeiten kein kriminelles Unrecht darstellen gilt bis heute. Siehe Schmidt, Wettbewerbspolitik (wie Anm. 53), 224.



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In der historischen Gesamtschau folgte aus dem Verbot von Kartellabsprachen oder anderen diskriminierenden preis- und vertriebspolitischen Praktiken also alles andere als eine entsprechende Konformität der Unternehmen. Illegale Absprachen und Verträge waren weit verbreitet und die Verschärfung der Gesetze führte lediglich zu einer Verschärfung der Sanktionen, nicht aber – soweit dies allein anhand der bekannten Fälle zu beurteilen ist – zu einer Abnahme der sanktionierten Praktiken. So sehr die teils hohen Bußgeldforderungen die Unsicherheit der Folgen illegaler Absprachen erhöhten, so wenig scheinen sie dazu in der Lage gewesen zu sein, einen stärkeren Anreiz als das zu setzen, was sich die Unternehmen von diesem Verhalten versprachen. Gleichzeitig liefert die historische Analyse keinen Beleg dafür, dass hinter diesen Überlegungen ein simples Kosten-Nutzen-Kalkül wirksam war. Die Berechnung eines durch das illegale Verhalten erzielten Mehrerlöses stellte sich nicht nur für das Kartellamt und die Gerichte als schwierig heraus. Sie war auch für die Unternehmen nicht eindeutig. Es mussten nicht unbedingt kurzfristige Gewinnerwartungen allein ausschlaggebend sein, um die Regeln der wettbewerbspolitischen Ordnung zu durchbrechen. Sie konnten auch eine Strategie sein, durch ein (diskriminierendes) Bündnis entlang der Wertschöpfungskette die Unsicherheiten auf Märkten zu reduzieren. Umgekehrt förderte die Legalisierung bestimmter preis- und vertriebspolitischer Praktiken ihre Verbreitung zwar, wie das Fallbeispiel des „Fernsehkartells“ zeigte. Eine Garantie reibungsloser Geschäftsverhältnisse oder stabiler Kartellverträge lieferten sie dagegen nicht, da an den komplexen Tauschprozessen auf Märkten immer mehr als nur zwei Akteursgruppen beteiligt waren. In diesem Zusammenhang einer komplexeren sozialen Einbettung von Märkten ist auch die bisher völlig unterbelichtete Rolle der deutschen Gerichte bei der Ausbildung der „sozialen Marktwirtschaft“ zu sehen. So wenig die Funktionsweise eines Marktes allein durch die Tauschbeziehungen zwischen Herstellern und Händlern erklärt werden kann, so wenig ergab sich die Auslegung des Kartellrechts allein aus den Beziehungen zwischen Bundeskartellamt und Unternehmen. Da die deutschen Unternehmen den Weg zu den Gerichten immer dann beschritten, wenn sie eine Entscheidung der Behörde infrage stellten, kamen insbesondere dem Kammergericht Berlin und dem Bundesgerichtshof eine zentrale Rolle zu.89 Viele Entwicklungen der Kartellrechtspraxis, wie etwa der Übergang zur Beschlagnahmung von Beweismaterial durch die Polizei, stellten in erster

89 Siehe allgemein die entsprechenden Statistiken sowie Bundeskartellamt siegt nach Punkten. Das Kammergericht begründet die Zurückweisung der Agfa-Beschwerde, in: Handelsblatt (13.4.1961), 2.

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Linie eine Reaktion auf die Entscheidungspraxis der Gerichte dar, keinen autonomen Strategiewechsel des Bundeskartellamtes. Das Kartellamt selbst war gegenüber denjenigen wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen, die kein klassisches Kartell horizontaler Absprachen über Preise und Aufträge bildeten, aufgeschlossener als die zunehmenden Antagonismen und verschärften Sanktionen vermuten ließen. Das Fallbeispiel der Preisbindung zeigt, dass es falsch wäre, das „erziehende“ und das „strafende“ Bundeskartellamt als zwei sich ausschließende Alternativen zu betrachten. Zumindest für den Zeitraum, für den die entsprechenden Quellen vorliegen, ergänzten sich beide. In diesem Zusammenspiel lag die Identität des Bundeskartellamtes begründet. Sie ist als wichtiger Bestandteil der historischen Entwicklung der deutschen Wettbewerbswirtschaft zu sehen, deren Erfolg zum Zeitpunkt der Gründung des Amtes noch alles andere als selbstverständlich war. Die historische Perspektive zeigt aber auch, dass sich die Identität des Bundeskartellamtes zwischen den 1950er und 1980er Jahren stark veränderte. Im Zuge der wirtschaftshistorischen Entwicklung kehrten sich die Schwerpunkte des Kartellamtes geradezu um. Während das Kartellamt seine wettbewerbspolitische Aufgabe in der Zeit der Toleranz vor allem dadurch wahrnahm, dass es kartellrechtlich problematische Fälle wie die vertikale Preisbindung scharf überwachte, gegen horizontale Kartelle aber kaum vorging, gewann seit den späten 60er Jahren die Verfolgung horizontaler Preisabsprachen Priorität. Die ­Fallstudie der Preisbindung zeigt, dass das „Fernsehkartell“ auch ohne die Eingriffe des Bundeskartellamtes höchst instabil gewesen wäre. Die hier vertretene These ist aber, dass das Bundeskartellamt den Zusammenbruch nicht nur forcierte, sondern dass es für die Rollenfindung des Bundeskartellamtes auch entscheidend war, am Zusammenbruch des „Fernsehkartells“ aktiv mitgewirkt zu haben. In den meisten öffentlichen Medien wurde die Preisbindung trotz ihrer Legalität als Fremdkörper in der Marktwirtschaft betrachtet und kritisiert. Das Kartellamt konnte durch seine medial begleitete Darstellung als diejenige Institution, die für „wirtschaftlich gesunde Verhältnisse“ sorgte, an Legitimität gewinnen. Die von verschiedenen Unternehmen kritisierte Selbstherrlichkeit und Pedanterie der Behörde rückte dadurch in ein geradezu vorteilhaftes Licht. Ihre Aufgabe ließ sich nun gerade nicht als Verhinderung tatkräftigen Unternehmertums, sondern als Stärkung des Marktes und des Wettbewerbs auffassen. Insofern waren die von vielen zeitgenössischen Ökonomen kritisierten Ausnahmegenehmigungen wie das Rabattkartell und die Preisbindung ironischerweise hilfreich. Sie ermöglichten einen öffentlichen Verhandlungsraum, in dem sich das Bundeskartellamt relativ leicht positionieren konnte und von den Koordinationsproblemen der deutschen Unternehmen profitierte. Zudem lieferten sie der konsumorientierten Öffentlichkeit greifbare Anschauungsbeispiele für die



Verhandelte Grenzüberschreitungen 

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Vorteilhaftigkeit einer liberalen Wettbewerbsordnung. Die Empörung über Kartelle als klare Verstöße gegen das Recht, deren Zunahme in den letzten Jahren auch die Bedeutung des Kartellamtes unterstrichen hat, wäre dagegen in den 50er und frühen 60er Jahren schon deshalb nicht denkbar gewesen, weil sich das mit ihnen verbundene Unrechtsgefühl noch gar nicht in der dafür notwendigen Weise etabliert hatte.90 Diese Wahrnehmung hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Legitimität wettbewerbswidrigen Verhaltens ist längst nicht mehr so ausgeprägt wie in den ersten Jahren der Bundesrepublik, während die zentrale Rolle des Bundeskartellamtes auch von den deutschen Unternehmen kaum noch bezweifelt wird. Die historische Analyse zeigt allerdings, dass man bei der Frage der Akzeptanz der Kartellrechte durch die deutsche Unternehmerschaft zwischen ihren öffentlichen Äußerungen und ihrem praktischen Verhalten sehr genau unterscheiden muss. Die Gründe für die Akzeptanz im Sinne öffentlich kommunizierter Legitimität waren komplex und sind sicher nicht allein in dem Verhalten und der medialen Präsenz des Bundeskartellamtes suchen. Gleichwohl lassen sich einige Schlüsse dahingehend ziehen, wie sich die Begriffe der Wirtschaftskriminalität und des kriminellen Unternehmertums historisch kontextualisieren lassen. Wie die Ausführungen zeigen, scheint die Marktwirtschaft medial auf relativ einfache Dichotomien zwischen legalem und illegalem Verhalten, Opfern und Tätern angewiesen zu sein. Der Konsument ist eine für diesen Zweck besonders tragfähige Figur, obwohl die von den Kartellrechtsverstößen direkt Betroffenen meist andere Unternehmen wie Einzelhändler oder die Deutsche Bahn waren. Einige Fälle sind eindeutig und gewinnen, wie im Fall der „Schienenfreunde“, durch ihre Assoziation mit dem Besuch in Bordellen noch an kriminellem Tiefgang. Abseits so eindeutiger Fälle verliefen die Trennlinien zwischen Wirtschaftskriminalität und legalem Verhalten wesentlich weniger geradlinig. Die Höhe der vom Kartellamt verlangten Bußgeldforderungen spiegelte daher nicht nur einen Sanktionsmechanismus wider, der letztlich wirkungslos blieb. Sie ermöglichte es vielmehr auch, die Verbrechen der Wirtschaft durch ihre Quantifizierung auf konkrete Weise zu vermitteln. Was bedeutet das für eine wissenschaftlich tragfähige Definition der Wirtschaftskriminalität? Geht man von der medialen Berichterstattung aber auch der Haltung des Bundeskartellamtes in den skizzierten Fallbeispielen aus, scheint der bewusste oder vorsätzliche Konflikt mit den bestehenden Wettbewerbsgesetzen eine kaum hinreichende Definition wirtschaftskrimineller Handlungen zu sein. Ohne klar

90 Auch Kurzlechner betont die „schwindende Bedeutung“ des Problems der Kartelle im engeren Sinne. Kurzlechner, Fusionen (wie Anm. 21), 85.

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 Sebastian Teupe

identifizierbare Opfer, im Verborgenen getroffene Absprachen und hohe Bußgeldforderungen wirken die Regelverletzungen geradezu alltäglich und banal. Um diese Dimension in der Definition zu berücksichtigen, müsste man sich allerdings auf eine relativ feine Differenzierung zwischen einer „illegalen“ und einer „kriminellen“ Handlung einlassen. Dies ist aber nur dann sinnvoll, wenn durch die Einbeziehung des medial vermittelten Empörungspotentials nicht die Systematik der Regelverletzungen und ihre Impulse für Veränderungen aus dem Blickfeld geraten. Ohne die Bedeutung der Medien für die Funktionsweise moderner Marktwirtschaften schmälern zu wollen, spricht für eine breiter aufgestellte Definition von Wirtschaftskriminalität deshalb insgesamt die Möglichkeit, den konfliktfreien Marktmodellen der Ökonomen eine realistischere Alternative entgegenzusetzen. Die Veränderung der Wirtschaft und die gegensätzlichen Interessen der Marktteilnehmer bergen ein beständiges Unsicherheitspotential, das den Ausbruch aus der bestehenden Rechtsordnung provozieren kann. Die daraus resultierenden Konflikte sind keine Anomalien. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Marktwirtschaft.

Steffen Dörre

Wirtschaftskriminalität als psycho- und soziopathologische Erscheinung Der „Täter im weißen Kragen“ 1965 bis 1975

Problemaufriss Der vorliegende Beitrag fragt aus kriminalitätsgeschichtlicher Perspektive danach, wie Wirtschaftsstraftaten in der Bundesrepublik auf die wissenschaftliche Tagesordnung gelangten. Dabei beschränke ich mich auf die Kriminologie der Jahre zwischen etwa 1965 und 1975, beziehe aber auch das ­juristische Feld und die öffentliche Wahrnehmung mit ein. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Phänomene der Wirtschaftskriminalität in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik nur geringe Aufmerksamkeit auf sich zogen. In der als „Wirtschaftswunder“ erlebten Zeit schienen sich Fragen nach der wachstumsreduzierenden Wirkung wirtschaftskrimineller Taten nicht zu stellen. So manche Handlung galt eher als nützliches Schmiermittel, denn als problematisches, geschweige denn als skandalöses oder juristisch zu verfolgendes Verhalten.1 Zwar gab es bereits in den 1950er Jahren erste kriminologische Arbeitstagungen zur Wirtschaftskriminalität, eine überschaubare Anzahl wissenschaftlicher – meist juristischer – Abhandlungen zu e­ inzelnen Deliktformen sowie soziologische Bestandsaufnahmen.2 Die zentralen ­Kriminalitätsdebatten wurden aber eben nicht anhand von Wirtschaftsstraf-

1 An Skandalisierungsversuchen hat es indes auch in den 1950er Jahren nicht gefehlt. Das Skandalpotential war aber noch stark begrenzt. Vgl. Steffen Dörre, Normenkonkurrenz im Wirtschaftswunder. Debatten über Korruption und Wirtschaftskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland 1957–1960, in: Jens Ivo Engels u.a. (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft. Zur Geschichte ethischen Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015, 101–124. 2 Für eine Auflistung der deutschsprachigen Literatur zum Thema Wirtschaftskriminalität aus den 1950er und 1960er Jahren vgl. Friedrich Helmut Berckenhauer, Wirtschaftsdelinquenz. Eine Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminologie und Wirtschaftskriminalistik unter Berücksichtigung einführender wirtschaftsstrafrechtlicher ­Literatur, Freiburg i.B. 1975. Hervorzuheben ist eine Tagung des BKA 1957, deren Vorträge veröffentlicht sind in: Bundeskriminalamt Wiesbaden (Hg.), Wirtschaftsdelikte (einschliesslich der Korruption). Arbeitstagung im Bundeskriminalamt Wiesbaden vom 08.04.-13.04.1957 über ­Bekämpfung der Wirtschaftsdelikte einschliesslich der Korruption, Wiesbaden 1957.

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 Steffen Dörre

taten, sondern unter Bezugnahme auf unterschiedliche Formen jugendlicher Devianz geführt.3 Dies änderte sich Mitte der 1960er Jahre: Wirtschaftskriminalität wurde nun immer sichtbarer, Wissenschaftler beschäftigten sich eingehender mit ihr und auch in den Medien fanden sich in immer kürzeren ­Abständen Berichte über besonders spektakuläre Fälle.4 Im Folgenden wird gefragt, unter welchen Bedingungen das kriminologische Thema „Wirtschaftskriminalität“ in der Bundesrepublik etabliert wurde. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine in diesem Prozess besonders einflussreiche, streitbare und auch kontroverse Person: den Mainzer Kriminologieprofessor und Gründungspräsidenten der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft Armand Mergen (1919–1999). Dieser bemühte sich intensiv darum, die Beschäftigung mit den sogenannten „Tätern im weißen Kragen“ innerhalb der eigenen wissenschaftlichen Disziplin zu verankern. Indem er hierfür auf US-amerikanische Forschungskonzepte – insbesondere auf soziologische Arbeiten zur white-collar crime – zurückgriff, verband er die t­hematische Schwerpunktverschiebung mit Fragen nach dem richtigen Instrumentarium und dem Selbstverständnis der deutschsprachigen Kriminologie.5 Dabei inszenierte er sich medienwirksam als Skandalisierer und griff in einer für die Bundesrepublik neuen Weise in einem eigentlich wissenschaftlichen Disput auf die Ressource Öffentlichkeit zurück. Mergen steht im Folgenden für eine bestimmte Position in einer zugleich wissenschaftlich wie öffentlich geführten Debatte, seine Äußerungen sind aber in vielerlei Hinsicht auch typisch für die zeitgenössisch von Kriminalbeamten und anderen Kriminologen vertretenen Ansichten. Mergen erscheint heutigen Kriminologen als „nachgerade provokant gestrig“ und kaum noch zitierfähig.6 Da die hier vorgenommene Beschränkung auf

3 Vgl. Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur. Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980, Göttingen 2006, insbesondere 117–362. Zeitgenössisch sichtbar etwa bei Wolf Middendorf, Kriminelle Jugend in Europa, Freiburg 1953 und Günther Kaiser, Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten Halbstarken, Heidelberg 1959. Zur Halbstarkendebatte vgl. Thomas Grothum, Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre, Frankfurt a.M. 1994. 4 Zur „Sichtbarkeit“ von Norm- bzw. Gesetzesabweichungen vgl. Elmar J. Koenen, Ältere und neuere Sichtbarkeiten von „Korruption“, in: Thomas Kliche/Stephanie Thiel (Hrsg.), Korruption. Forschungsstand, Prävention, Probleme, Lengerich 2011, 76–92. 5 Vgl. u.a. Armand Mergen (Hg.), Kriminologie – Heute, 2 Bde., Hamburg 1961; ders. (Hg.), Kriminologie – Morgen, Hamburg 1964; ders., Verunsicherte Kriminologie, Hamburg 1975. 6 Franz Streng, Von der „Kriminalbiologie“ zur „Biokriminologie“? – Eine Verlaufsanalyse bundesdeutscher Kriminologie-Entwicklung, in: Justizministerium des Landes NRW (Hg.), ­Kriminalbiologie, Düsseldorf 1998, 213–244, hier 224.



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ihn somit besonders erklärungsbedürftig ist, werden zunächst dessen Werdegang und damalige Bedeutung skizziert. In einem zweiten Analyseschritt wird Mergens täterbezogener Ansatz bei der Erforschung von Wirtschaftskriminalität geschildert. Daraufhin ist zu klären, warum die Argumente Mergens zeitgenössisch plausibel schienen, bei wem sie auf Unterstützung, bei wem auf Ablehnung trafen und wie sie sich in Vorstellungen über Wirtschaftskriminalität langfristig einschrieben.

Armand Mergen: Von der Kriminalbiologie zur Kapitalismuskritik Armand Mergen studierte in Luxemburg Philosophie, Philologie, Rechtswissenschaft und Medizin und war anschließend an den Universitäten in Brüssel und Innsbruck tätig.7 Hier arbeitete er u.a. als Assistent des mit erbbiologischen und psychopathologischen Forschungen beschäftigten Friedrich Stumpfl und promovierte mit einer Arbeit über die „Kriminalität der Geisteskranken“.8 1947 wurde er Gastprofessor für Kriminologie an der Universität Mainz und war dort nach Erteilung der venia legendi von 1953 bis zu seiner Emeritierung 1984 außerplanmäßiger Professor für Kriminologie. Mergen war schnell ein renommierter Vertreter seines Fachs, erfolgreicher Lehrbuchautor, gefragter Tagungsgast sowie beim Bundeskriminalamt geschätzter Experte und Ausbilder.9 Zudem muss er als vergleichsweise früher Rezipient US-amerikanischer Forschungsansätze und -ergebnisse sowie als international gut vernetzter Wissenschaftler gelten. Zahlreiche

7 Diese und folgende Angaben aus o.A., Armand Mergen – 50 Jahre, in: o.A., Aktuelle Kriminologie. Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und dem 50. Geburtstag ihres Präsidenten, Prof. Dr. Dr. Armand Mergen, Hamburg 1969, XXIX–XXXI; Volkmar Sigusch/Günter Grau (Hrsg.), Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt a.M. 2009, 488–494. 8 Armand Mergen, Kriminalität der Geisteskranken, untersucht an 200 Fällen der Universitätsklinik Innsbruck, Luxemburg 1942. Mergens Doktorvater Friedrich Stumpfl (1902–1994) war 1939 der NSDAP beigetreten und im selben Jahr außerordentlicher Professor für Psychiatrie, Kriminologie und Erbcharakterkunde in Innsbruck geworden. Ab 1940 war er zusätzlich Chef des Instituts für Erblehre und Rassenhygiene. Diese und weitere Angaben in Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2005, 613. Mergen selbst wurde während seiner Assistentenzeit in Innsbruck von der Gestapo wegen des „Verdachts auf Deutschfeindlichkeit“ verhaftet. 9 Letzteres veranlasste ihn dazu, später ein vielbeachtetes Buch über das BKA zu schreiben. Vgl. Armand Mergen, Die BKA-Story, München 1987.

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internationale Forschungsaufenthalte in Frankreich, Holland, Italien, England, den Staaten Südamerikas, den USA und Schweden stehen in seiner Vita. Zudem war er Gründungsmitglied zahlreicher in- und ausländischer wissenschaftlicher Gesellschaften. Zunächst ist Mergen durchaus ein relativ typischer Vertreter seiner Zunft und Generation. So hat er sich beispielsweise – wie viele seiner Kollegen – in der Nachkriegszeit nicht sofort von der Kriminalbiologie distanziert.10 Seine Schriften aus den frühen 1950er Jahren berücksichtigten zwar auch soziale Umweltfaktoren, doch fordert er weiterhin, das „Erbbild“ durch Stammbäume zu erheben und „anthropologische Photographien“ zu erstellen.11 Noch in seinem ersten, 1961 erschienenen und später in zahlreichen Auflagen neu aufgelegten Lehrbuch beachtete er „das biologische Moment der kriminogenen Disposition“.12 Zugleich zeigt sich in seinem Werk aber – und auch hier ist er für seine Fachdisziplin typisch – die langsame Abkehr von jeder radikalen Spielart der Kriminalbiologie.13 Immer stärker betonte er, dass es die „dynamischen Wechselwirkungen im Bereich des Biologischen, Psychologischen und Soziologischen“ bei der Kriminogenese zu analysieren gelte.14 Einerseits lag Mergen damit deutlich im kriminologischen Mainstream, andererseits kritisierte er aber schon frühzeitig den seiner Ansicht nach zu großen Einfluss von Juristen und Psychiatern auf die Kriminologie. Anders als die meisten Juristen verstand er sämtliche „asozialen“ und „sozialschädlichen“ Handlungen

10 Mergen selbst hat sich – wie viele seiner Fachkollegen – daher auch mit Kritik an der kriminologischen Forschung während des Nationalsozialismus zurückgehalten. Seine diesbezügliche Einschätzung als zu einseitig auf die Anlage zum Verbrechen hin ausgerichtet blieb daher äußerst knapp. Vgl. Armand Mergen, Die Wissenschaft vom Verbrechen – Eine Einführung in die Kriminologie, Hamburg 1961, 21. Zur Bedeutung der Vererbung bei der Analyse von Tätern und ihrer Persönlichkeit in der deutschsprachigen Kriminologie vgl. Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 214. Zur meist nur sprachlichen Bereinigung von kriminologischen Lehrbüchern in der Nachkriegszeit vgl. Hendrik Schneider, Vom bösen Täter zum kranken System. Perspektivenwechsel in der Kriminologie am Beispiel von Psychoanalyse und Kriminalsoziologie, in: Jörg Requate (Hg.), Recht und Justiz im gesellschaftlichen Aufbruch (1960–1975). Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich im Vergleich, Baden-Baden 2003, 275–293, hier 275f. 11 Armand Mergen, Methodik kriminalbiologischer Untersuchungen, Stuttgart 1953, 40f. Vgl. auch Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 223. 12 Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 18, zitiert nach Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 224. 13 Selbst in seinem Buch zur kriminogenen Wirkung von Chromosomenanomalien grenzt er sich von älteren erbbiologischen Deutungen deutlich ab. Vgl. Armand Mergen, Der geborene Verbrecher. Ein Bericht über Chromosomenforschung und Kriminologie, Hamburg 1968, 7f. 14 Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 21.



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als „kriminell“. Folglich forderte er die Etablierung neuer juristischer Tatbestände, kritisierte die gängige Verbrechensdefinition über das positive Recht15 und wandte sich gegen eine Beschränkung der Kriminologie auf die mit Strafen belegten Verbrechen.16 Zugleich richtete er sich gegen die einseitige Dominanz der Psychiatrie in der kriminologischen Praxis. Sich damit gegen die damals tonangebende stark psychiatrisch ausgerichtete Deutsche Kriminalbiologische Gesellschaft positionierend, gründete er 1959 u.a. zusammen mit Fritz Baur, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die Deutsche Kriminologische Gesellschaft (DKG),17 deren Programm die „empirische, natur- und sozialwissenschaftliche Erforschung der Kriminalität und des kriminellen Menschen“ vorsah.18 Mergen wurde als langjähriger Vorsitzender der DKG nicht nur wichtiger Gegenspieler zum vielleicht einflussreichsten deutschsprachigen Kriminologen der 1960er Jahre, Hans Göppinger,19 sondern auch zentraler Akteur in einem bedeutenden fachinternen Richtungsstreit sowie bei der Etablierung der Kriminologie als eigenständiges Fach. Überdies war Mergen ein erfolgreicher Autor eher populärwissenschaftlicher kriminologischer Schriften, die nicht selten hohe Auflagen erzielten. Insbesondere in diesen Veröffentlichungen hielt er selbst dann noch an älteren Vorstellungen von der sogenannten „Täterpersönlichkeit“ fest, als der „kriminologische Persönlichkeitskult“ längst in Frage gestellt und zugunsten von soziologischen Perspektiven immer deutlicher aufgegeben wurde.20 Grundlegend blieb für ihn, dass nicht die Tat, sondern der Täter bzw. die „Täterpersönlichkeit“ Ausgangs-

15 Also der Vorstellung, dass Verbrechen nur das sei, was das gerade gültige Strafgesetzbuch unter Strafe stelle. 16 Vgl. Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 69. 17 Informationen zu den anderen Gründungsmitgliedern sowie Angaben zur Mitgliederstruktur in Karl Baer, Zehn Jahre Deutsche Kriminologische Gesellschaft, in: o.A., Aktuelle Kriminologie (wie Anm. 7), XIII-XXVIII, hier XIII. Zur 1967 erfolgten Umbenennung der Kriminalbiologischen Gesellschaft in Gesellschaft für die gesamte Kriminologie. Vgl. Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 225f. 18 Die Satzung der DKG abgedruckt bei Baer, Jahre (wie Anm. 17), XIV. 19 Schwind verweist darauf, dass die Deutsche Kriminalbiologische Gesellschaft auch unter dem inoffiziellen Namen „Göppinger-Gesellschaft“ firmierte, während die Deutsche Kriminologische Gesellschaft oft als „Mergen-Gesellschaft“ angesehen wurde. Vgl. Hans-Dieter Schwind, Die „Neue Kriminologische Gesellschaft“ (NKG) und ihre Vorgeschichte. Ein kurzer Überblick 1927–1988, in: Hans-Jürgen Kerner/Günther Kaiser (Hrsg.), Kriminalität. Persönlichkeit, ­Lebensgeschichte und Verhalten. Festschrift für Hans Göppinger zum 70. Geburtstag, Berlin 1990, 633–654, hier 633. 20 Günther Kaiser, Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen, Heidelberg 101997, 100.

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punkt der kriminologischen Analyse sein müsse.21 Dabei versuchte er zu ergründen, wie Persönlichkeitsstrukturen und gesellschaftliche Normen sich gegenseitig verstärken, wobei allerdings auch ältere Vorstellungen von „Asozialität“ und „Entartung“ virulent blieben. Durch sein Festhalten an diesen Begrifflichkeiten und sein Interesse an biologischen und psychologischen Faktoren geriet Mergen im Laufe der 1960er Jahre zunehmend ins Abseits.22 Selbst innovative Forschungsprojekte – etwa zum „Dunkelfeld“ – wurden von der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) nicht mehr genehmigt, eine Berufung Mergens auf einen mit personellen und finanziellen Mitteln ausgestatteten Lehrstuhl nach Frankfurt wurde verhindert.23 Immer stärker von den eigenen Fachkollegen isoliert, konzentrierte er sich daher auf interdisziplinäre und öffentlich sichtbare Themen.24 Insbesondere bei öffentlichen Strafrechtsdebatten nahm er nun immer deutlicher staats-, herrschafts- und kapitalismuskritische Positionen ein.25 Während er sich im Bereich des Sexualstrafrechts für eine umfassende Entkriminalisierung einsetzte, empfand er im hier im Fokus stehenden Zeitraum insbesondere die Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei Straftaten aus dem Bereich der Oberschichtenkriminalität und die geringe Stigmatisierung dieser Tätergruppe als skandalös.

21 „Verbrechen werden von Menschen begangen. Sie sind Ausfluß der Täterpersönlichkeit zur Zeit der Tat.“ Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 120. 22 Da er annahm, dass psychologische Persönlichkeitsmerkmale immer erst in einer spezifischen „soziologischen Konstellation“ auf Akzeptanz hoffen können, betrieb Mergen allerdings keine reine psychiatrische oder biologische Forschung. Zitat in Armand Mergen, Die Persönlichkeit des Verbrechers im weissen Kragen, in: gdi topics. Monatszeitschrift des Gottlieb DuttweilerInstituts 11/12 (1970), 27–31, hier 29. So auch schon ders., Wissenschaft (wie Anm. 10), 26. 23 Vgl. Armand Mergen, Begrüssung, in: o.A., Wirtschaftskriminalität – Sachverständigengutachten. Referate und Diskussionsbeiträge zur Arbeitstagung der Deutschen Kriminologischen ­Gesellschaft 1968 in Frankfurt am Main, Hamburg 1969, 11–13, hier 13; Sigusch/Grau (Hrsg.), Personenlexikon (wie Anm. 7), 491f. 24 Dabei kooperierte er u.a. eng mit dem Soziologen René König, den Sozialphilosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, mit dem Juristen Ulrich Klug und dem einflussreichen ­Sexualforscher Hans Giese. Von immenser Bedeutung war dabei sein Engagement in der Humanistischen Union, einem antiklerikalen, basisdemokratischen Zirkel insbesondere von Intellektuellen, durch den sich zahlreiche persönliche Kontakte ergaben. 25 Vgl. Sigusch/Grau (Hrsg.), Personenlexikon (wie Anm. 7), 490.



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Die Täter im weißen Kragen White-collar crime und Wirtschaftskriminalität Als Mergen in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre versuchte, mit den „Tätern im weißen Kragen“ eine von der Kriminologie bislang kaum beachtete Tätergruppe zu „enttabuisier[en] und [zu] entlarv[en]“, schrieben sich dessen vorherige Erfahrungen mit anderen Tätergruppen und Straftatbeständen in das für ihn neue Themengebiet ein.26 Er wich beispielsweise auch bei der „Oberschichtenkriminalität“ nicht von der Überzeugung ab, dass der kriminologische Ausgangspunkt nicht das Verbrechen, sondern der gefährliche Täter sein müsse, dem man sich in seinen „sozialen Bezügen“ zuzuwenden habe.27 Zentrale Grundlage des von Mergen maßgeblich popularisierten Konzepts der „Täter im weißen Kragen“ stellten dabei Arbeiten US-amerikanischer Soziologen zur white-collar crime dar. Edwin H. Sutherland hatte diesen Begriff bereits Ende der 1930er Jahre als Präsident der American Sociological Society geprägt und damit die Kriminalität von Personen mit hohem Ansehen und hohem sozialen Status in den wissenschaftlichen Fokus gerückt.28 Nach Kriegseintritt der USA aufs engste mit dem Ziel verbunden, die amerikanische Wirtschaft wehrhafter und effektiver zu machen, büßte das Konzept auch nach dem Zweiten Weltkrieg vorerst nicht an Wirkung ein.29 Das lag u.a. auch daran, dass es sich in den USA mit weitverbreiteten monopolkritischen Denktraditionen verbinden ließ und die zeitgenössische Kritik am big business befeuerte. Sutherland kritisierte mit seinen Arbeiten zur white-collar crime vor allem jene US-amerikanischen Kriminologen, die auch weiterhin Erbforschung

26 Armand Mergen, Wirtschaftsverbrechen und Wirtschaftsverbrecher, in: o.A., Aktuelle Beiträge zur Wirtschaftskriminalität, Frankfurt a.M. 1974, 14–27, hier 17. 27 Ebd., 14, 17. 28 Sutherlands Definition von white-collar-crime: „a violation of the criminal law by a person of the upper socio-oeconomic class in the course of his occupational activities“. Edwin H. Sutherland, Crime and Business, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 217 (1941), 112–118, hier 112. Die erstmals 1939 erfolgte Gegenüberstellung von „WhiteCollar-Crime“ und „Blue-Collar-Crime“ neu abgedruckt in Edwin H. Sutherland, White-CollarCriminality, in: Gilbert Geis (Hg.), White-Collar Criminal. The Offender in Business and Professions, New York 1968, 40–51. 29 Zahlreiche staatliche Enqueten, die sich bei der Thematisierung von Korruption, Unterschlagung, Steuerhinterziehung und Verstößen gegen die Antimonopolgesetzgebung auf das Konzept white-collar crime beriefen, zeugen in den 1940er Jahren davon. Vgl. Fritz Bauer, Die Kriminalität der „Weißen Kragen“, in: o.A., Beiträge über Wirtschaftskriminalität, Frankfurt a.M. 1979, 9–25, hier 12f.

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betrieben oder nach Neurosen und Geisteskrankheiten der Kriminellen suchten. Seine Analysen zielten somit auf eine völlig andere Kriminologie, denn: wenn, so seine Annahme, das Verhalten der white-collar criminals sich nicht durch psychologische oder biologische Faktoren erklären lasse, dann ließe sich auch das Verhalten anderer Krimineller so nicht deuten.30 Sutherland ging es folglich nicht allein um die Skandalisierung von Oberschichtenkriminalität. Das Thema diente ihm letztlich vor allem dazu zu zeigen, dass Kriminalität nur soziologisch erklärbar sei, weil kriminelles Verhalten in einem sozialen Umfeld erlernt werde.31 Die Gesellschaft und das kriminelle Milieu, nicht der Täter standen daher im Mittelpunkt seiner Untersuchungen. Damit – und das ist entscheidend – richtete sich Sutherland gegen jedwede biologische, psychologische oder psychiatrische Erklärung für Kriminalität. Aus seiner Perspektive waren Täter nicht länger als minderwertig oder degeneriert beschreibbar. Auf den ersten Blick dominierte auch in den deutschsprachigen Debatten der 1950er und frühen 1960er Jahren eine soziologische Perspektive: Bei Themen der Wirtschaftskriminalität stand vor allem die Frage im Vordergrund, inwiefern die Akzeptanz wirtschaftskrimineller Handlungen auf eine Gesellschaft zurückzuführen sei, die ihr Hauptaugenmerk auf Wachstum und Wohlstand legte. So war 1957 beispielsweise auf einer BKA-Tagung zu vernehmen, dass bei Wirtschaftsstraftaten meistens mit Delinquenten zu rechnen sei, „die normal sind, normal denken und fühlen“.32 Die Täter wurden auch in den Folgejahren mit zahlreichen positiven Attributen belegt: Sie galten als „intelligent, gebildet, berufserfahren und wendig“.33 Nur „das zum Kaufmann gehörige Streben nach Gewinn“, führe bei „passender Gelegenheit“ dazu, „die gesetzlich bestimmten, aber trotzdem flüssigen Grenzen zu überschreiten“.34 Der Ursprung des Fehlverhaltens wurde damit in eigentlich „lobenswerten Eigenschaften“ wie

30 Vgl. Martin Killias, Von „White-Collar Crime“ zur organisierten Kriminalität. Zeitgenössische Inkarnationen des Bösen, in: Jürg-Beat Ackermann u.a. (Hrsg.), Wirtschaft und Strafrecht. Festschrift für Niklaus Schmid zum 65. Geburtstag, Zürich 2001, 71–85, hier 72. 31 Sutherland ging davon aus, dass kriminelles Verhalten in einem sozialpsychologischen ­Bezugsrahmen erlernt wird und sich damit ausschließlich aus dem Normen- und Wertgefüge der jeweiligen peer group heraus erklärt. Vgl. Kaiser, Kriminologie (wie Anm. 20), 285f. 32 Oberstaatsanwalt Dr. Lorenz, Aufklärung und Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten, in: BKA Wiesbaden (Hg.), Wirtschaftsdelikte (wie Anm. 2), 91–98, hier 91. 33 Herbert Schäfer, Zur Täterpersönlichkeit des Wirtschaftsstraftäters, in: BKA Wiesbaden (Hg.), Grundfragen der Wirtschaftskriminalität. Arbeitstagung im Bundeskriminalamt Wiesbaden vom 27. Mai bis 1. Juni 1963 über „Grundfragen der Wirtschaftskriminalität“, Wiesbaden 1963, 117–140, hier 127. 34 Lorenz, Aufklärung (wie Anm. 32), 91.



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­ aufmännischem Wagemut, Dynamik und Entschlossenheit verortet, die nur in k ihrer ­übersteigerten Form als „Skrupellosigkeit, Rücksichtslosigkeit, Begehrlichkeit und Machtgier“ problematisiert wurden.35 Weil man zudem davon ausging, dass der ­Wirtschaftsstraftäter „vielfach über erstklassige Kenntnisse des Wirtschaftslebens [verfüge und] in seiner Branche als Fachmann anzusprechen“ sei,36 galt „das Wissen um das wirtschaftliche Geschehen“ als zentral für die Strafverfolgungsbehörden, nicht die Kriminalpsychologie.37 Während Juristen und Praktiker bei Kriminalpolizei und beim Bundeskriminalamt zur selben Zeit weiterhin davon ausgingen, dass man es bei den „üblichen Straftaten […] in der Mehrzahl der Fälle mit Tätern zu tun [habe], die infolge irgendeiner Veranlagung kriminell werden“, kam bei der Wirtschaftskriminalität der Persönlichkeit des Täters keine besondere ­Bedeutung zu.38 Mergen und andere Fachkollegen wollten Ende der 1960er Jahre dieser Argumentation nicht mehr folgen und richteten sich gegen all jene, die Wirtschaftsverbrecher nicht als „eigentliche“ Verbrecher ansehen wollten.39 Ergebnis war nun aber nicht eine allgemeine Absage an die psychopathologische Ursachenforschung bei Gesetzesverstößen, sondern im Gegenteil die Deutung von Wirtschaftsstraftaten als Ergebnis einer psychischen Störung. Mergen übernahm dabei zwar die Begriffe von Sutherland, lehnte aber dessen Lerntheorie ab.40 Er richtete sich damit dezidiert gegen die Ansicht Sutherlands, dass die „Täter im weißen Kragen“ nicht als pathologisch bezeichnet werden könnten. Sutherlands r­ igorose

35 Schäfer, Täterpersönlichkeit (wie Anm. 33), 129. 36 Günther Bertling, Wirtschaftskriminalität, hg. vom Bundeskriminalamt Wiesbaden, Wiesbaden 1956, 17. Bertling war Kriminalrat in Hamburg und zentraler Akteur bei der Thematisierung von Wirtschaftskriminalität Mitte der 1950er Jahre. 37 Lorenz, Aufklärung (wie Anm. 32), 91. 38 Ebd. 39 Ein erster Schritt in diese Richtung war dabei bereits 1963 eine später immer wieder zitierte Veröffentlichung von Zirpins und Terstegen. Im Selbstverständnis, eine „Pathologie wirtschaftlichen Verhaltens‘ zu schreiben, verwiesen sie darauf, dass eine „stark egozentrische Einstellung“ erforderlich sei, „um überhaupt in die Oberschicht zu gelangen und sich, wenigstens in der industriellen Wettbewerbswirtschaft, dort zu halten“. Auch wenn hier noch der Hang zur Pathologisierung der Täter fehlt, so wird doch bereits deren „seelische Veranlagung“ thematisiert. ­ Walter Zirpins/Otto Terstegen, Wirtschaftskriminalität. Erscheinungsformen und ihre ­Bekämpfung, Lübeck 1963, 84. 40 Zur Absage an die Vorstellung, kriminelles Verhalten sei ausschließlich „im und durch den Kontakt mit Menschen erlernt“ vgl. Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 18f., Zitat 18. Hierzu auch Karl-Ludwig Kunz, Zum Verständnis der Kriminalität des Weissen Kragens. Auf der Spur eines in Verruf geratenen Konzepts, in: Ackermann u.a. (Hrsg.), Wirtschaft (wie Anm. 30), 87–101, hier 100. Zu den subkulturellen Ansätzen in der deutschsprachigen Kriminologie der 1950er Jahre vgl. Kaiser, Kriminologie (wie Anm. 20), 287f.

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Absage an psychologische und biologische Erklärungsansätze verschwand so in der deutschsprachigen Rezeption weitgehend.41 Interessanterweise teilten beide aber eine Grundannahme: Kriminalität müsse unabhängig von der sozialen Schicht, in der sie auftrete, mit dem gleichen Instrumentarium erklärt werden können. Wenn man – wie Mergen annahm – Kriminalität grundsätzlich aus dem Zusammenspiel von Umwelt, Biologie und Persönlichkeit heraus erklären könne, dann müsse dies auch für die „Täter im weißen Kragen“ gelten. Mergen ging folglich bei der Untersuchung von Wirtschaftskriminalität genauso vor, wie er es bei anderen Deliktarten getan hätte: Aufbauend auf einer gründlichen Phänomenologie der Täter suchte er nach begünstigenden sozialen Faktoren. Da in Mergens Perspektive ältere kriminologische Forschungskonzepte ihr Erklärungspotential nicht eingebüßt hatten, konnte er dabei – anders als Sutherland – auch weiterhin auf etablierte kriminologische Deutungsmuster über „Psychopathen“, „Asoziale“ und „Minderwertige“ zurückgreifen.42

Phänomenologie Mergen beschrieb die „Täter im weißen Kragen“ als Menschen, „die einen angesehenen sozialen Status innehaben, der ihnen nicht etwa durch die Qualitäten ihrer Persönlichkeit zukommt, sondern durch die Macht ihres materiellen realen oder vorgetäuschten Besitzes“.43 Auch wenn Mergen selbst seine Untersuchungen stets als ausbaufähig und nicht repräsentativ deklarierte und auf die Notwendigkeit von Kontrollstudien hinwies, so waren seine Äußerungen nicht von

41 So gesehen diente der Verweis auf die soziologischen Arbeiten in den USA Mergen vor allem dazu, die Bedeutung des eigenen Themenfelds zu verdeutlichen und zugleich die eigenen Forschungen zu legitimieren. Dass er dabei nach einer Synthese aus „deutschen“ und „amerikanischen“ Ansätzen suchte, ist geradezu klassisches Kennzeichen von „Amerikanisierungsvorgängen“. Vgl. Bernd Greiner, „Test the West“. Über die „Amerikanisierung“ der Bundesrepublik Deutschland, in: ders./Heinz Bude (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, 16–54, hier 31. 42 Von immenser Bedeutung blieb beispielsweise die Psychopathen-Lehre von Kurt Schneider, die die „psychopathische Persönlichkeit“ als durch erbliche Anlagen, Umweltbedingungen und Sozialisationserfahrung bestimmt sah und ihr das Fehlen von Empathie attestierte. Vgl. Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, in: Gustav Aschaffenburg (Hg.), Handbuch der Psychiatrie, Spezieller Teil, 7. Abt., 1. Teil, Leipzig 1923. Schneiders diesbezügliche Schriften wurden bis in die 1950er Jahre hinein immer wieder neu aufgelegt. Zur Psychopathenlehre in der Kriminologie vgl. auch Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 228f.; Kaiser, Kriminologie (wie Anm. 20), 245ff. 43 Mergen Persönlichkeit (wie Anm. 22), 27.



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einer allzu großen Vorsicht vor Verallgemeinerungen geprägt.44 Insbesondere mit Verweisen auf Kontaktstörungen, sexuelle Auffälligkeiten und neurotische Reaktionen knüpfte er an die damaligen Vorstellungen von antisozialen und psychopathischen Persönlichkeiten an.45 Die „Täter im weißen Kragen“ galten ihm als intelligent, aber nicht gebildet und als materiell, statt ideell ausgerichtet. Sie seien „oftmals Süchtige des Habens und Behaltens“, die zu „Eitelkeit, Narzißmus und infantile[m] Demonstrieren der eigenen Pracht, Geltungsdrang und Leistungsstreben“ neigten.46 Ihre Persönlichkeit sei „primitiv angelegt“, sie seien zudem „in der Regel kontaktgestört“ und „egozentrisch“47; auch sexuelle Auffälligkeiten seien häufig.48 Für die Gesamtgesellschaft problematisch sei, dass die „Täter im weißen Kragen“ sowohl gefahren- als auch wertblind seien. Sie würden daher einerseits Risiken falsch einschätzen und andererseits das „Verwerfliche ihres Tuns“ nicht einsehen.49 Sie hätten kein schlechtes Gewissen, „noch sonstwelche Skrupel“, sondern würden sich im Gegenteil über ihre Erfolge, die auf Kosten der Allgemeinheit gingen, freuen.50 Laut Mergen sei es immer das gleiche Bild, das einem begegne, „das des skrupellosen, egozentrischen, machthungrigen Heuchlers, der in seiner Selbstgefälligkeit so weit entartet ist, daß er seine

44 Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 20. Das lag sicherlich auch daran, dass es sich bei seinen Aufsätzen meist um verschriftlichte Vorträge handelte. Sie stammten beispielsweise von Vortragsreisen, die prominente Juristen und Kriminologen zwischen September 1971 und Frühjahr 1973 unternommen hatten, um in Berlin, Hamburg, Hannover, Mannheim, Nürnberg, Stuttgart, Brüssel und Wien das Thema Wirtschaftskriminalität zu „bewerben“. 45 Dass diese den Geist des 19. Jahrhunderts widerspiegeln, zeigt ein Vergleich mit Peter B ­ ecker, Kriminelle Identitäten. Neue Entwicklungen in der historischen Kriminalitätsforschung, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 142–157. Zentraler Unterschied ist aber, dass Schilderungen der Physiognomie nun keine Rolle mehr spielten. Die hier vorgestellte Debatte um die Pathologisierung der Wirtschaftskriminellen hat damit wenig mit dem von Lombroso gezeichneten Bild eines „geborenen Verbrechers“ zu tun. Vgl. Cesare Lombroso, L’uomo delinquente. In rapporto all‘antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie, Turin 1876. Zur Rezeption Lombrosos in Deutschland vgl. Silviana Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004, 138–168. 46 Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 21. 47 Mergen, Persönlichkeit (wie Anm. 22), 28. Mergen bezieht sich insbesondere in den älteren Veröffentlichungen auf die von Raffaele Garofalo 1885 geäußerte Idee, dass Verbrecher aus einem Mangel an Fremdwertgefühlen – gemeint sind Mitleid, Güte und Gerechtigkeit – zum Verbrecher werden. So etwa schon Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 25. 48 Mergen, Persönlichkeit (wie Anm. 22), 31. 49 Ebd., 28. 50 Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 19.

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eigenen Lügen glaubt und sein asoziales kriminelles Verhalten entweder verdrängt oder mit erfundenen Rechtfertigungen legitimiert“.51 Wie kam Mergen zu diesen drastischen Charakterisierungen? Da Wirtschaftskriminalität sich durch eine erhebliche Dunkelziffer auszeichnet und selbst dann, wenn einmal Anklage erhoben wurde, eine Verurteilung eher unwahrscheinlich war, blieb den Kriminologen der klassische Zugang zu ihren Untersuchungsobjekten verschlossen. Denn so saßen kaum „Verbrecher im weißen Kragen“ in den Gefängnissen und wenn, dann waren die Inhaftierten nicht per se repräsentativ, da sie offensichtlich gerade nicht das nötige soziokulturelle und ökonomische Kapital besessen hatten, um ihrer Bestrafung zu entgehen. Der Kriminologe müsse daher, so Mergen, auf dünn gesätes Aktenmaterial der Gerichte sowie auf Lebenserinnerungen von Wirtschaftskapitänen zurückgreifen.52 Als Material für seine phänomenologische Untersuchung dienten ihm daher anfänglich Selbstzeugnisse erfolgreicher amerikanischer Geschäftsleute wie Andrew Carnegie, John Pierpont und John D. Rockefeller. Diese Personen erschienen ihm als „mächtige [und] hochgeachtete Wirtschaftsverbrecher“, deren Selbstbeschreibungen nur so „triefen von Moralismen, Selbstbeweihräucherung und satter Selbstgefälligkeit“, in denen die „Blindheit für das Eigenverhalten“ und die „ganze Verlogenheit und Hypokrisie“ zum Ausdruck komme.53 Das „Kernsyndrom“ dieser Männer – und aller Verbrecher im weißen Kragen – sei die „unkontrollierbare Gier nach materiellem Gewinn“, ergänzt durch Machtstreben und Narzissmus.54 Im Laufe der Jahre erstellte Mergen zudem eigene Psychogramme.55 Die 48 von ihm eigenhändig „als Wirtschaftsverbrecher diagnostizierten Delinquenten“56 zeigten dabei

51 Armand Mergen, Die Persönlichkeit des Verbrechers im weissen Kragen, in: o.A., (Hg.), Wirtschaftskriminalität, Bern 1972, 27–33, hier 28. 52 In anderen seiner Publikationen, aber etwa auch in zeitgleich erschienenen soziologischen Schriften wird der Quellenbestand sogar auf Schilderungen in der Weltliteratur ausgedehnt. 53 Mergen, Persönlichkeit (wie Anm. 22), 29. 54 Ebd., 30. 55 Darunter verstand er die „kurze Aufzeichnung eines psychischen Habitus“. Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 23. Er bediente sich dabei der Ergebnisse selbst durchgeführter Rohrschach-Tests. Eine genauere Beschreibung der Test-Ergebnisse ebd., 20f. 56 Sie waren insofern zufällig ausgewählt, dass diese selbst „aus den verschiedensten Gründen um Rat oder Hilfe“ seine Praxis aufgesucht hatten. Die von ihm als Rechtsanwalt vertretenen Klienten waren dabei nach außen hin nicht als Wirtschaftskriminelle bekannt und nur 4 der 48 Personen waren vorbestraft. Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 19. Für grundlegende Kritik an der mangelnden empirischen Basis der „Kriminologie der Mächtigen“ vgl. Michael Bock, Kriminalität der Mächtigen. Kritische Anfragen an ein in die Jahre gekommenes Konzept und Seitenblicke auf jüngere Verwandte, in: Günther Kaiser/Jörg-Martin Jehle (Hrsg.), Kriminologische Opferforschung. Neue Perspektiven und Erkenntnisse, Freiburg 1994, 171–186.



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grosso modo deutlich all jene persönlichen Defizite, die Mergen bereits zuvor aus den Selbstzeugnissen von „Wirtschaftskapitänen“ herausgefiltert hatte. Weil er dabei auf der Suche nach einem Typus war, verzichtete er aber darauf, die Taten Einzelner anzuprangern. Auch wenn er folgerichtig nie Vertreter der deutschen Großindustrie namentlich nannte, so stellte sich Mergen damit doch dezidiert gegen das im „Wirtschaftswunder“ weitestgehend positive Unternehmerbild.57 Stattdessen spielte er mit bereits etablierten Vorstellungen von Unternehmern als politischen Gegnern und „Ausbeutern“.58 In der ersten Hälfte der 1970er Jahre hatte sich so ein Beschreibungsmodus eingespielt, der sich um die Begriffe Gier, Macht, Narzissmus und Geltungssucht drehte. Auch wenn Mergen immer wieder die soziale Einbettung der Akteure betonte, so ist das Ergebnis seiner Studien doch eine bis dato unübliche Pathologisierung bürgerlicher Personen. Die „Täter im weißen Kragen“ hätten zwar ökonomischen und sozialen Erfolg, seien hinter einer Fassade der Ehrbarkeit aber moralisch fragwürdige Charaktere. In der Interpretation Mergens zog vor allem die Wirtschaft bestimmte Personen mit biologischen und psychopathologischen Dispositionen zum Verbrechen an.59 Egal, welchen Beruf sie ursprünglich einmal gewählt hätten, sie schienen vor allem hier auf die passenden kriminogenen Milieufaktoren zu stoßen.60 Dadurch erhielt die Suche nach begünstigenden Faktoren im Werte- und Normenhaushalt der peer group der Delinquenten eine neue Bedeutung, in dessen Folge sich seine Theorie von den „Tätern im weißen Kragen“ noch leichter als Gesellschafts- und Kapitalismuskritik formulieren ließ,

57 Zur Kritik an Unternehmen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. u.a. Jörg Osterloh, Die ­Monopole und ihre Herren. Marxistische Interpretationen, in: Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hrsg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur. Göttingen 2010, 36–47. Vgl. auch mit Bezug auf zeitgenössische Umfragen und sozialwissenschaftliche Studien Wilfried Feldenkirchen, Unternehmerfunktion und Unternehmerbild aus historischer Perspektive, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft. Atzelsberger Gespräche 2006, Erlangen 2007, 15–78, hier 64. 58 Insbesondere unter Einfluss der Frankfurter Schule, vor allem der Werke Theodor Adornos, Max Horkheimers und Herbert Marcuses, hatte sich eine am Unternehmertum ansetzende Herrschaftskritik herausgebildet. Zur Frankfurter Schule und deren Kriminalitätsverständnis vgl. Clemens Albrecht u.a. (Hrsg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999. Feldenkirchen geht davon aus, dass diese Vorstellungen erst nach der Ersten Ölkrise auch breitere Bevölkerungsschichten erreichten. Vgl. Feldenkirchen, Unternehmerfunktion (wie Anm. 57), 64f. 59 So schon, allerdings noch allgemein gehalten und nicht allein auf „white-collar-Verbrecher“ bezogen: Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 118. 60 Mergen, Persönlichkeit (wie Anm. 22), 28.

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bei der sich Kritik am aktuellen Strafrecht, an Massenkonsumgesellschaft, Werteverfall und mangelnder Kontrolle von Eliten leicht miteinander verbinden ließen.

Sozialpathologie Kapitalismuskritische Untertöne ganz unterschiedlicher Art – beispielsweise antisemitische, antiamerikanische, antimonopolistische, antikleinbürgerliche  – hatten sich schon in frühere Debatten um Wirtschaftskriminalität eingeschrieben.61 Zudem waren im kriminologischen, juristischen und kriminalpolizeilichen Diskurs Deutungsmuster über das „kriminelle Milieu“ längst etabliert. Zusammen bildeten sie das semantische und konzeptuelle Reservoir, aus dem Mergen sich bediente.62 Im „Täter im weißen Kragen“ vermischte er die älteren Interpretationen und narrativen Muster jedoch mit einem neuen antikapitalistischen „Zeitgeist“, wodurch sich der vormals recht konservative Diskurs ­radikalisierte.63 „Wirtschaftskriminalität“ wurde nun noch einmal stärker als in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik als Ergebnis eines bedrohlich erscheinenden Wertewandels sowie als ein Grundproblem kapitalistischer Gesellschaften wahrgenommen.64 Ausgangspunkt war dabei die kulturpessimistische Annahme, dass Normen in der Gegenwart immer stärker an Allgemeinverbindlichkeit verlören. Insbesondere der Bereich der Ökonomie schien dabei eine Vorreiterrolle zu spielen,

61 Vgl. diesbezüglich für die Weimarer Republik Annika Klein, Hermes, Erzberger, Zeigner. Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, in: Kristin Bulkow/Christer Petersen (Hrsg.), ­Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, 49–65; Stefan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996), 46–65. 62 Auffällig ist dabei, dass nach 1945 antisemitische Stereotype keine bedeutende Rolle mehr spielten. 63 Schon Günther Kaiser hat darauf verwiesen, dass sich bei der Erforschung der Weiße-­KragenKriminalität „Motive der Gerechtigkeit […] mit heftiger Zeitkritik an Establishment und Kapitalismus“ verbanden. Auch Kunz hat auf die Zeitgebundenheit des Konzepts verwiesen. Kaiser, Kriminologie (wie Anm. 20), § 72 N5, zitiert nach: Kunz, Verständnis (wie Anm. 40), 89. Vgl. auch ebd., 92. 64 Zur Verbindung von Kapitalismuskritik und white-collar crime vgl. Andreas Berg, Wirtschaftskriminalität in Deutschland – Ursachen und Bekämpfung von Korruption und Untreue, ­Osnabrück 2001, 10. Kunz hat darauf hingewiesen, dass sich auch in Sutherlands Konzept bereits „Vorstellungen von der Schlechtigkeit des kapitalistischen Systems“ finden lassen, die er auf dessen „Herkunft aus einer streng baptistischen Umgebung im Mittleren Westen“ erklärt. Vgl. Kunz, Verständnis (wie Anm. 40), 97.



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da sich hier mittlerweile ganz eigene Normen ausgeprägt hätten.65 Zum einen wurde diesbezüglich darauf verwiesen, dass die Taten der Wirtschaftskriminellen zu den „von ihnen und ihrer ‚Subkultur‘ angenommenen Normen“ gepasst hätten. Zum anderen wurde hervorgehoben, dass „viele Verhaltensweisen, die innerhalb der Wirtschaftsrealität als konform gelten, als abweichend empfunden werden, wenn sie außerhalb des Wirtschaftslebens vorkommen; und umgekehrt manche sozialpathologischen Syndrome das Merkmal der Normverletzung verlieren, wenn sie innerhalb der Wirtschaft festgestellt werden“. Es sei gerade die fehlende Ächtung der „Standeskollegen“, die beim Wirtschaftsdelinquenten zu einem „Lerneffekt“ führe, der dann weiteres „antisoziale[s] Verhalten“ bedinge. Besonders bedrohlich erschien dies aufgrund einer zweiten Annahme, nämlich, dass die Normen des Wirtschaftslebens immer stärker in die Restgesellschaft diffundierten. Die Wirtschaftskriminalität sei „ansteckend wie eine Epidemie“ und trüge so auch zu einem gesamtgesellschaftlichen „kulturellen Normenwandel“ bei, der in der „Antisozialität“ enden könne. Was gestern noch als „gemeinschädlich und pathologisch“ galt, könne morgen schon als Norm akzeptiert werden.66 Leicht ließ sich eine solche Beobachtung mit der verbreiteten Kritik an der Massenkonsumgesellschaft verbinden: der Materialismus und die Vorstellung vom „Freizeitmenschen“ wurden damit zu Grundbedingungen für die steigende gesellschaftliche Akzeptanz von Wirtschaftskriminalität.67 Mit dieser Sichtweise war Mergen nicht allein. Eher hatte er die Mehrzahl der mit Wirtschaftskriminalität befassten Experten auf seiner Seite, wenn er die Akzeptanz wirtschaftskrimineller Handlungen im Unternehmerlager und in der Gesamtgesellschaft als ­zentrales Problem ausmachte.68 Denn in der zeitgenössischen Vorstellung war

65 Vgl. Armand Mergen, Intensivere Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, in: Deutsche Richterzeitung (August 1972), 271–273, hier 271. 66 Die vorangegangenen Zitate in ihrer Reihenfolge in Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 19, 14, 26, 16, 15. 67 Zu den Topoi der Massenkultur- und Konsumkritik vgl. Dominik Schrage, Auf der Schwelle zur Konsumsoziologie. Aspekte der Konsumkritik in den fünfziger Jahren – ein Prolog, in: Kai-Uwe Hellmann (Hg.), Konsum der Werbung. Zur Produktion und Rezeption von Sinn in der kommerziellen Kultur, Wiesbaden 2004, 13–32 und Nepomuk Gasteiger, Konsum und Gesellschaft. Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 1 (2009), www.zeithistorische-forschungen.de/1–2009/id=4483 [letzter Zugriff: 2.7.2015]. 68 Schon in den 1950er Jahren galt es als besonders problematisch, dass es in der Wirtschaft scheinbar keine Selbstreinigungskräfte gäbe. Vielmehr gelte der Wirtschaftskriminelle in der „Oberschicht“ gerade nicht als ein „asoziales Element, das die Gesamtheit der Wirtschaftsgesellschaft als einen nicht zu ihr gehörigen Fremdkörper empfindet und von selbst abstößt“, sondern ihn weiterhin als „voll anerkanntes Glied der gegenwärtigen Gesellschaft“ behandelt. Felmy

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damit ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der schon in naher Zukunft den Leistungswettbewerb und die eigentlich positiven Leistungswerte der bundesrepublikanischen Gesellschaft zerstören könne. Viele dieser Argumente konnte man bereits in den 1950er Jahren vernehmen, sie waren aber nur selten über den engen Kreis der mit Wirtschaftskriminalität beschäftigten Juristen und Kriminalbeamten hinausgedrungen. Im Konzept des „Täters im weißen Kragen“ erlangten die Argumente und Topoi eines ursprünglich sehr konservativen Diskurses über die Moral der ökonomischen Eliten und der Massenkonsumgesellschaft nun eine neue Qualität. Zentral war dabei die einseitige Deutung der Wirtschaftskriminalität als ausschließliches Oberschichtenphänomen. Dies ließ es zu, die sozialen Möglichkeiten zur Tatverschleierung sowie zur Einflussnahme auf Rechtsprechung, Politik und öffentliche Meinung aufs engste mit dem Themenfeld Wirtschaftskriminalität zu verknüpfen.69 Kapitalismus- und Gesellschaftskritik wurden hier zu Herrschaftskritik, weil in dieser Interpretation der Anstieg der Wirtschaftskriminalität eben auch durch eine habituelle Nähe des Täterkreises zu anderen gesellschaftlichen Teileliten – vor allem Richtern und Politikern – ermöglicht wurde.70 Mit dem Fokus auf statushohe Personen war ein grundsätzlich anderer Schwerpunkt gesetzt als in den Debatten der 1950er und 1960er Jahre, in denen es immer auch die Deutung gegeben hatte, dass Wirtschaftskriminalität vor allem ein Phänomen überforderter sozialer ­Aufsteiger sei.71 Versehen mit einem enormen Bedrohungsszenario bei dem man den Wirtschaftsverbrechern den „kriminologisch höchsten Gefährlichkeitsgrad“ zuwies72

Kriminalität in der Wirtschaft, in: Bundesminister der Finanzen (Hg.), Aktuelle Fragen des materiellen Steuerstrafrechts, Köln 1959, 285ff., hier o.S., zitiert nach: Zirpins/Terstegen, Wirtschaftskriminalität (wie Anm. 39), 84. 69 So bereits Schäfer, Täterpersönlichkeit (wie Anm. 33), 128f. 70 Schon in den 1950er Jahren hieß es: „Wirtschaftsstraftäter verfügen auch oft über Verbindungen zu ersten Kreisen in Staat und Wirtschaft. Sie verstehen es dann ausgezeichnet, diese Beziehungen im Notfalle zu nutzen.“ Bertling, Wirtschaftskriminalität (wie Anm. 36), 17. 71 Beispielsweise in Friedrich Geerds, Die Korruption im Wirtschaftsleben. Ihre Erscheinungsformen und Ursachen unter besonderer Berücksichtigung der Angestelltenkorruption (§ 12 UWG). Vortrag auf der Mitgliederversammlung des Vereins gegen das Bestechungsunwesen e.V., Bonn, am 18. Oktober 1963 in Bonn. 72 Der Wirtschaftsstraftäter der Oberschicht sei der gefährlichste Typus von allen Kriminellen, da er durch eine spezifische und besonders gefährliche Kombination aus „starke[r] Kriminelle[r] Kapazität und starke[r] Anpassungsfähigkeit“ gekennzeichnet sei. So Mergen schon 1961 und ­danach immer wieder. Mergen, Wissenschaft (wie Anm. 10), 116f. Das Zitat im Fließtext aus ­Armand Mergen, Die Kriminologie – Eine systematische Darstellung, Berlin 1967, 386.



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und obendrein die gesamte Gesellschaftsordnung zur Disposition gestellt sah,73 hatte sich die Kriminologie im Konzept der „Täter im weißen Kragen“ kurzfristig ein Themenfeld eröffnet, das sich wahlweise als Gerechtigkeitsproblem, als immens schädliches und bedrohliches Verhalten oder als Gesellschafts- und Kapitalismuskritik öffentlich wirksam adressieren ließ. Die positive Resonanz auf Mergens Konzept war enorm: Vorstellungen von einer spezifischen Tätergruppe im „Weißen Kragen“ waren im kriminologischen Diskurs der späten 1960er und frühen 1970er Jahre „omnipräsent“.74 Mergens Unterstützerkreis ging aber weit über seine eigene Disziplin hinaus. Insbesondere von gesellschaftskritisch engagierten Staatsanwälten, Sozialphilosophen und Sexualforschern sowie von Praktikern in Kriminalpolizei und BKA erhielt er Unterstützung. Letzteren ermöglichte das Konzept der „Täter im weißen Kragen“, an ihrer Täterorientierung festzuhalten und zugleich auf den notwendigen Ausbau ihrer Institutionen im Bereich der Wirtschaftskriminalität zu verweisen. Die erstgenannte Gruppe begrüßte hingegen Mergens Interesse an einer Schnittmengenwissenschaft aus Psychologie, Naturwissenschaften und Soziologie und teilte dessen politische und gesellschaftskritische Stoßrichtung.

Das Verschwinden der „Täter im weißen Kragen“ Nichtsdestotrotz war die wissenschaftliche Kritik am Konzept der „Täter im weißen Kragen“ und an Mergens Methoden, Begrifflichkeiten und Kriterien letztlich vernichtend.75 Soziologen bemängelten, dass Mergen nur Kovarianzen, aber keine Kausalitäten benenne, dass seine Begriffe extrem unpräzise seien und dadurch Mergens Hypothesen empirisch nicht nachgeprüft werden könnten.76 Insbesondere Untersuchungen zum wirtschaftsschädigenden Verhalten der blue-collar worker verstärkten dann noch einmal die Kritik an der Idee von der Wirtschaftskriminalität als typischem Oberschichtenverbrechen. Die mit dem Thema beschäftigten Juristen störten sich vor allem an Mergens täterorientiertem Zugang: Einer am Recht orientierten Betrachtungsweise ginge es „nicht um

73 Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 16. 74 Vgl. Bauer, Kriminalität (wie Anm. 29), 11. 75 Grundlegende Kritik etwa durch den Kölner Professor der Betriebswirtschaftslehre Zybon. Vgl. Adolf Zybon, Wirtschaftskriminalität als gesamtwirtschaftliches Problem, München 1972, 43ff. Mergen selbst setzt sich mit dieser Kritik auseinander in Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 23f. Vgl. auch die Diskussion in o.A., Wirtschaftskriminalität (wie Anm. 23), 113–141. 76 So etwa Karl-Dieter Opp, Soziologie der Wirtschaftskriminalität, München 1975, 115ff.

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die Entdeckung und Inkriminierung von Tätern, sondern von Taten“.77 Mergen reagierte schon in der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf diese Kritik und beschrieb den typischen Wirtschaftsverbrecher fortan wieder als Person, die lediglich sonst ganz normale, und zum Teil unentbehrliche menschliche Eigenschaften besonders stark ausgeprägt besäße.78 Er stellte nun klar, dass er selbst nicht behaupte, dass Wirtschaftskriminelle grundsätzlich „Geisteskranke“ oder „Psychotiker“ seien. Auch zeigten sie nun in der Regel „keine grob pathologischen Symptome“ mehr: Sie seien zwar „Psychopathen“, aber nur in dem Sinne, dass es sich dabei nicht um kranke, sondern um „eine im Bereich der Norm abartige Persönlichkeit“ handele.79 Mergen gab damit die Vorstellung eines spezifischen Täterprofils nicht auf, soziologisierte seine Argumentation aber verstärkt. Damit näherte er sich wieder der in den 1950er Jahren gängigen Interpretation an. Trotz dieser Modifikationen behaupteten die am Diskurs beteiligten Juristen ihre Deutungshoheit. In den entscheidenden Beratungen zur Reform des Wirtschaftsstrafrechts dominierten tatorientierte Ansätze, und in den Verhandlungen zur umfassenden Reform des Wirtschafts- und Vermögensstrafrechts waren Kriminologen und Soziologen keine zentralen Akteure.80 Nichtsdestotrotz verstärkte die Debatte über „Täter im weißen Kragen“ auch den Eindruck des Handlungsbedarfs im juristischen Feld. Diejenigen Juristen, die bereits vor 1970 davon ausgegangen waren, dass „die Sitten im Wirtschaftsleben in mehr oder weniger großem Maße verwildert“ seien, bekamen nun auch in der eigenen Zunft mehr Gehör.81 Im Endeffekt führte dies dazu, dass die in den Strafrechtsreformen zwischen 1969 und 1974 sichtbaren Haupttendenzen „Liberalisierung“ und „Entkriminalisierung“ nicht auf das Wirtschaftsstrafrecht ausgedehnt wurden. Im Gegenteil setzte Mitte der 1970er Jahre eine verstärkte Kriminalisierung auf diesem Gebiet ein.82 Während fast zur gleichen Zeit Verhaltensweisen mit ­geringer ­Sozialschädlichkeit

77 Klaus Tiedemann, Welche strafrechtlichen Mittel empfehlen sich für eine wirksame Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, Gutachten für den 49. Deutschen Juristentag, München 1972, 27. Tiedemann war der damals einflussreichste Jurist bei Fragen der Wirtschaftskriminalität. Angaben zu seinem Lebensweg in: o.A., Aktuelle Beiträge (wie Anm. 26), 11. 78 Mergen, Wirtschaftsverbrechen (wie Anm. 26), 22. 79 Ebd., Zitate 20 und 22. 80 Vgl. Klaus Tiedemann, Einführung in die Lage des Wirtschaftsstrafrechts und der Wirtschaftskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kurt Madlener u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Strafrechtsnorm. Referate und Diskussionen der Alexander von Humboldt-Siftung, Bonn-Bad Godesberg. veranstaltet vom 7. bis 12. Oktober 1973 in Ludwigsburg, Köln 1974, 233–245, hier 244. 81 Ebd., 235. 82 Vgl. Gerhard Dannecker, Die Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts in der Bundesrepublik Deutschland, in: Heinz-Bernd Wabnitz/Thomas Janovsky (Hrsg.), Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, München 42014, 3–78. Einen Überblick über das Reformwerk bietet Tim Busch,



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generell ins Ordnungswidrigkeitenrecht ausgegliedert wurden, wurde aus den verstreuten Strafrechtsnormen im Nebenstrafrecht ein eigenes Wirtschaftsstrafrecht geschaffen.83 Der „Täter im weißen Kragen“ war dabei ein wichtiger verstärkender Faktor in der umfassenden „Neukriminalisierung“ bislang weithin unberücksichtigter Delikte. Dabei nicht mehr von den „Tätern im weißen Kragen“ zu sprechen, sondern von „Wirtschaftskriminalität“ hieß aber nicht nur die Täterfixierung zugunsten der Untersuchung von Taten aufzugeben, sondern verschleierte auch wieder die Dimensionen der sozialen Ungleichheit und verringerte die politische Sprengkraft des Themas. Die häufigen Verweise darauf, dass a) Aufsteiger, b) einfache Angestellte und c) organisierte Kriminelle wichtige Akteure in der Wirtschaftskriminalität seien, rückten diese wieder in den Bereich der „gewöhnlichen Kriminalität“.84 Es gab zwar weiterhin immer wieder Äußerungen über die Täterpersönlichkeit des Wirtschaftsdelinquenten, im Allgemeinen galten diese nun aber als „nichtssagende Banalitäten oder fragwürdige Schematisierungen“.85 So ließ sich Mitte der 1980er Jahre von juristischer Seite ohne Umschweife feststellen, dass „die Rede von der ‚Weiße-Kragen-Kriminalität‘ […] nicht einmal mehr ein Modewort“ sei.86 Auch in der Folgezeit wurde sie vor allem als „parteiischer Kampf-Begriff“ bewertet.87 Die Juristen setzten sich mittelfristig auch selbst insofern durch, dass ab Mitte der 1970er Jahre auch in den kriminologischen Debatten wieder der Verbrechenstatbestand und nicht der Verbrecher im Fokus stand. Die kurzzeitige

Die deutsche Strafrechtsreform. Ein Rückblick auf die sechs Reformen des Deutschen Strafrechts (1969–1998), Baden-Baden 2005. 83 Erstes Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 29.7.1976. Ergänzt bzw. verändert durch das Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 28.3.1980 und dem Zweiten Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986. 84 Vgl. Argumentation und Literaturverweise bei Killias, „White-Collar Crime“ (wie Anm. 30), 72–75. Siehe auch Kunz, Verständnis (wie Anm. 40), 89. Hier auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem tatbezogenen Konzept „Wirtschaftskriminalität“, ebd., 89–101. 85 So etwa, ohne auf Mergen direkt Bezug zu nehmen, der Zürcher Staatsanwalt Niklaus Schmid. Unter „Banalitäten“ fielen für ihn die Verweise auf Habgier, Machtstreben, Egozentrik und der Hang zu extravaganter Kleidung oder Autos. Niklaus Schmid, Zur Täterpersönlichkeit des Wirtschaftsdelinquenten aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden, in: Hans Göppinger/Hans Walder (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität. Beurteilung der Schuldfähigkeit. Bericht über die XIX. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie vom 7. bis 9. Oktober 1977 in Bern, Stuttgart 1978, 67–77, hier 67. 86 Die Idee der „Weiße-Kragen-Kriminalität“ sei vielmehr überwunden. Ellen Schlüchter, Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Kommentar mit einer kriminologischen Einführung, Heidelberg 1987, 4. 87 Kunz, Verständnis (wie Anm. 40), 96f.

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­ ufmerksamkeitskonjunktur für den „Täter im weißen Kragen“ blieb in der A Kriminologie dennoch alles andere als folgenlos. Beispielsweise wurden nun zentrale Kriminalitätsdebatten nicht mehr nur am jugendlichen Delinquenten, sondern auch verstärkt an anderen Tätertypen geführt. Dadurch erweiterte sich der Blick der Kriminologie sozial erheblich. Sie begann, die für sie bis dato typische Konzentration auf stigmatisierte Randgruppen abzulegen.88 Dass dieser Perspektivenwechsel gelang, hatte seine Ursache auch darin, dass mit dem „Täter im weißen Kragen“ auch ganz andere Ziele verfolgt werden konnten. So nutzten ihn Kriminologen, um eine klare Grenze zu anderen wissenschaftlichen ­Disziplinen zu markieren, als der Status der Kriminologie als selbständige wissenschaftliche Disziplin noch alles andere als sicher war89 und sich die Kriminologen – bei allen Tätergruppen und Deliktarten – von Juristen, Psychiatern und (zunehmend) Soziologen eingeengt sahen.90 Der neue Tätertypus diente so zur öffentlichkeitswirksamen Standortbestimmung und half dabei, das eigene Fachprofil zu schärfen. Obendrein etablierte er die Kriminologie als wichtigen Ort der Gesellschaftskritik.91 Das Konzept des „Täters im weißen Kragen“ hatte darüber hinaus auch dazu gedient, die Vorstellung davon, wie man Verbrechen zu analysieren und zu bekämpfen habe zu aktualisieren. Die Brauchbarkeit der gängigen kriminologischen Forschungsmethoden wurde an ihm debattiert und die Frage nach der ­Notwendigkeit neuer wissenschaftlicher Standards gestellt.92 Der damit einhergehende Richtungsstreit war zugleich ein Generationenkonflikt, der insbesondere mit Bezug auf US-amerikanische Forschungen geführt wurde und der so manche Übertreibung, aber auch den Erfolg des Konzepts erklärt.93

88 Zur Bedeutung von Randgruppen für die Humanwissenschaften vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), 165–193, 175. 89 Vgl. Mergen, Begrüssung (wie Anm. 23), 12. 90 Vgl. Schneider, Täter (wie Anm. 10), 278. 91 Bock geht davon aus, dass die Kriminalsoziologie „zu einer sozialen Bewegung wurde, die weit über die Universität hinaus die Öffentlichkeit mobilisierte“. Zugleich verweist er darauf, dass genaue Analysen dieser Wirkungs- und Diffusionsgeschichte noch fehlen. Michael Bock, Kriminalsoziologie in Deutschland. Ein Resümee am Ende des Jahrhunderts, in: Horst Dreier (Hg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Gedächtnissymposium für Edgar Michael Wenz, Tübingen 2000, 115–136, hier 123. 92 Vgl. Mergen, Persönlichkeit (wie Anm. 22), 31. 93 Vgl. Bock, Kriminalsoziologie, (wie Anm. 91), 122–124. Zur Lage der damaligen Kriminologie vgl. auch Fritz Sack, Definition von Kriminalität als politisches Handeln: Der labeling a ­ pproach, in: Kriminologisches Journal 4 (1972), 3–31. Zum Einfluss der US-amerikanischen Konzepte im damaligen vgl. Karl-­Ludwig Kunz, Die Wissenschaft der Kriminologie. Historische Grundlagen der Kriminologie in Deutschland und ihre Entwicklung zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin,



Wirtschaftskriminalität als psycho- und soziopathologische Erscheinung 

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Die Zuspitzung der Wirtschaftskriminalität auf den „Täter im weißen Kragen“ hatte dabei für die Kriminologen unübersehbare Vorteile. Zum einen ließ sich damit die Überzeugungskraft einer Zwischenposition zwischen älteren täterbezogenen Ansätzen und neueren soziologischen Ansätzen ausloten. Dabei ­versprach der neue Tätertypus eine radikale Komplexitätsreduktion, die es ermöglichte, nicht vor der Undurchschaubarkeit einzelner Wirtschaftsstraftaten, ihrem schnellen Formenwandel, den erheblichen Nachweisschwierigkeiten und den Grenzen des traditionellen Strafrechtsinstrumentariums zu kapitulieren. Zum anderen waren stereotypisierte Täterbilder offensichtlich leichter in Popularisierungs- und Skandalisierungsstrategien einzufügen und medial viel leichter vermittelbar als spezifische Delikte oder die sich dazumal überschlagenden Schätzungen zur Gesamtschadenshöhe wirtschaftskrimineller Handlungen.94 Mit dem „Täter im weißen Kragen“ war nun eine Form gefunden, in der sich ein abstrakter und zudem auf den ersten Blick opferloser Normenverstoß skandalisieren ließ. Insbesondere im sogenannten linksalternativen Milieu traf die Idee dabei auf einen für Psychologisierungen und für Antikapitalismus offenen Rezipientenkreis.95 Auch Journalisten und Filmemacher griffen das Konzept auf und verhalfen dem Thema Wirtschaftskriminalität zu einer massiven öffentlichen Aufmerksamkeitssteigerung. Die These einer psychischen Deformation von Eliten und einer ­Negativauslese in der Ökonomie gelangte so beispielsweise nicht nur 1971 in ein Themenheft des SPIEGELs zur Wirtschaftskriminalität,96 sondern auch in

in: ­Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2/3 (2013), 81–114, hier 95ff. Zur starken personellen Kontinuität in der Nachkriegskriminologie – leicht nachvollziehbar an den Personen Franz Exner, Edmund Mezger, Wilhelm Sauer und Ernst Seelig – siehe Streng, „Kriminalbiologie“ (wie Anm. 6), 218–223 sowie Baumann, Verbrechen (wie Anm. 3), 151–174. 94 Veröffentlichungen aus dem Jahr 1973 gingen von einem jährlichen Schaden von 15–50 Mrd. D-Mark durch Wirtschaftsstraftaten aus. Aufgrund der hohen Dunkelziffern waren diese Zahlen aber kaum belastbar. Vgl. Christa Plath, Wirtschaftskriminalität in der Bundesrepublik, in: Robert L. Heilbroner u.a. (Hrsg.), Im Namen des Profits oder Fahrlässigkeit als Unternehmensprinzip. Berichte zur Wirtschaftskriminalität in den USA, Reinbek bei Hamburg 1973, 187–196, hier 187f. Medial aufbereitet u.a. in: o.A., Gangster in Nadelstreifen, in: WdA (01.05.1973), 12. 95 Vgl. Sven Reichardt/Detlef Siegfried, Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform, in: dies. (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, 9–24 und Mark Tändler „Psychoboom“. Therapeutisierungsprozesse in Westdeutschland in den späten 1960er und 1970er Jahren, in: Sabine Maasen u.a. (Hrsg.), Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern, Bielefeld 2011, 59–94. 96 Der Spiegel (2.8.1971), 48f.

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z­ ahlreiche Krimiserien.97 In der öffentlichen Berichterstattung behauptete sich fortwährend die Vorstellung, dass „Wirtschaftskriminelle“ grundlegend anders seien als „normale“ Verbrecher. Es ist so gesehen nicht zuletzt die von Mergen popularisierte semantische Verschiebung von der Wirtschaftskriminalität zu den „Tätern im weißen Kragen“, die um 1970 maßgeblich dazu beitrug, dass der Appell, neben „crime in the streets“ auch „crime in the suites“ zu untersuchen, weithin hörbar war.98 Das Thema Wirtschaftskriminalität beschäftigte fortan nicht mehr nur eine kleine Fachöffentlichkeit aus Juristen, Kriminologen, Psychiatern und Kriminalbeamten. Mergens psycho- und soziopathologische Ursachensuche für Wirtschaftskriminalität lässt sich damit als ein diskursiver Katalysator verstehen, der maßgeblichen Anteil an der wissenschaftlichen Durchsetzung des Themas Wirtschaftskriminalität in der Kriminologie hatte. Die offensichtlich übertriebenen Skandalisierungsstrategien und die Täterfixierung führten allerdings zugleich zu einer Abkopplung der Kriminologen von den Juristen, die das Themenfeld weiter dominieren sollten und spätestens ab Mitte der 1970er Jahre Oberschichtenkriminalität wieder im neutraleren, tatfixierten und sozial befriedeten Begriff der Wirtschaftskriminalität fassten.

97 Insbesondere das Fernsehen dürfte hierzu beigetragen haben. Es produzierte nun vermehrt kriminalisierte Bilder von den sozialen und ökonomischen Eliten des Landes. Die Vorstellung, dass Wirtschaftsverbrechen von Menschen mit hohem Status und Sozialprestige begangen wurden, setzte sich so als maßgebliches Narrativ fest. Beispielhaft lässt sich dies im Bereich der ­Massenkultur an der Fernsehserie „Derrick“ zeigen. Anfänglich noch eine breite Palette von ­Deliktarten und Tätergruppen thematisierend, waren es bald vor allem Verbrecher aus der Oberschicht, die als unter der gutbürgerlichen Fassade verdorben und kriminell dargestellt und gejagt wurden. Die sich in Meinungsumfragen, in der Berichterstattung sowie Fernsehsendungen wie „XY ungelöst“ immer wieder zeigende stark ausgeprägte Täterorientierung plausibilisierte die Vorstellung vom „Täter im weißen Kragen“ dabei anscheinend immer wieder. Vgl. Schneider, Täter (wie Anm. 10), 286 und Ricarda Strobel, Die Entwicklung der deutschen Fernsehkrimiserie, in: Joachim Linder u.a. (Hrsg.), Verbrechen – Justiz – Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart, Tübingen 1999, 475–488. Ich danke Uwe Spiekermann für den ­Hinweis. 98 Vgl. Tiedemann, Einführung (wie Anm. 80), 233.

Cornelia Rauh

„Verhältnisse wie in Kolumbien“? Der Münchner „Klärwerks-Skandal“ 1991 bis 2001 und die Siemens AG Es schien eine Lappalie, die 1991 in Bayern einen der größten Tatkomplexe organisierter Wirtschaftskriminalität in der Geschichte der alten Bundesrepublik ans Licht brachte. Die Steuerhinterziehung eines Mittelständlers enthüllte illegale Geschäftspraktiken eines Unternehmensnetzwerks, die die Gerichte auf Jahre hinaus beschäftigen sollten. Ein Tipp der Finanzbehörde lenkte die Aufmerksamkeit der bayerischen Justiz gleich auf mehrere Branchenkartelle, an denen Elektroindustrie und Klärwerkausstatter des Maschinenbaus beteiligt waren. Jahrzehnte lang hatten sie Preise und Gebote miteinander abgesprochen und einander öffentliche Aufträge zugeschoben.1 Im Bayerischen Landtag war 1994 von „mindestens 85 Kommunen im Freistaat“ die Rede, die mit „Verlusten in Millionenhöhe“ von den Betrügereien betroffen waren, weil Ingenieure und Firmen „die Ahnungslosigkeit in den Rathäusern“ missbraucht hatten.2 Besonders Unternehmen der Elektrobranche hatten „umfassende Absprachen mit Amtsträgern“ getroffen und Aufträge zu ihren Gunsten manipuliert. Es handelte sich, so Britta Bannenberg, um eine besonders schädliche Spielart „­organisierter Wirtschaftskriminalität“, in die „eine Vielzahl von Personen auf Nehmer- und Geberseite über Jahre, teilweise Jahrzehnte involviert“ waren. Die Kriminologie

1 Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle. Eine kriminologisch-strafrechtliche Analyse, Neuwied 2002, 114. 2 Bayerischer Landtag, 12/114 v. 02.02.1994, S. 7591. Die Anfrage ging auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 29.01.1994 zurück. Anmerkung: Alle Informationen dieses Aufsatzes beruhen, soweit nicht anders vermerkt, auf der Auswertung unternehmensinterner Unterlagen zum Klärwerkfall. Die „Siemens-Prozesse“ – wie auch Verfahren anderer Beteiligter am sogenannten „Elektro- bzw. Klärwerkkartell“ – sind jedoch auch in der umfangreichen Überlieferung der bayerischen Justiz dokumentiert. Vgl. das Urteil des Landgerichts München I v. 6.3.1992, 4 KLs 68 Js 18 903/91. Die Aktenzeichen der bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts München I überlieferten Dokumente lauten: 345 Js 10526/93 (verbunden zu 345 Js 22473/92) sowie 345 Js 19779/92 (verbunden zu 345 Js 18969/93), 345 Js 18969/ 93 und 345 Js 21058/92 sowie 563 Js 410139/94. Bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München II handelt es sich um die Akte: 68 Js 18903/91. Für diese Auskunft danke ich Oberstaatsanwalt Weith und Oberstaatsanwältin Wimmer bei der Staatsanwaltschaft München I.

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machte die „Macht der Geberseite“ dafür verantwortlich, dass organisierte Wirtschaftskriminalität sich systematisch verbreitete, um Konkurrenz auszuschalten oder zurückzudrängen.3 Auf der Gehaltsliste des „Elektrokartells“, dem neben Dutzenden mittelständischer und kleiner Unternehmen auch Großunternehmen wie AEG, ASEA, Brown Bovery, Felten & Guilleaume und die Siemens AG angehörten, standen neben den Amtsträgern etlicher bayerischer Kommunen Bedienstete beider Münchner Universitätsbauämter, des Landesbauamts, der Deutschen Bundespost, der Münchner Flughafen GmbH und in einem Fall der Angestellte eines Großkonzerns. Bis Ende der 1990er Jahre wurden mehr als 60 Manager von 41 beteiligten Unterneh-

Abb. 1: Das Klärwerk München II in Dietersheim. © Münchner Stadtentwässerung

3 Britta Bannenberg, Korruption in Deutschland und ihre strafrechtliche Kontrolle, in: Petra ­Kelly-Stiftung (Hg.), Auf dem Weg zur Bananenrepublik? – Korruption und Korruptionsbekämpfung in den Kommunen, München 2003, 1–27, 4, www.petrakellystiftung.de/fileadmin/user_upload/newsartikel/PDF_Dokus/Korruption_Doku.pdf [letzter Zugriff: 23.8.2015]. Die Brauchbarkeit des Begriffs „organisierte Wirtschaftskriminalität“ ist umstritten. Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Welskopp in diesem Band.



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men rechtskräftig verurteilt. Diese erhielten Strafen, die sich zwischen Geldbußen und Haftstrafen bis zu 4 Jahren – teilweise zuzüglich Bußzahlung –, bewegten.4 Was medial zunächst als „Münchner Klärwerkskandal“ und bald auch als „Siemens-Prozess“ verhandelt wurde, reichte also weit über die bayerische Landeshauptstadt und ihren Vorzeigekonzern hinaus. In mehrjähriger Kärrnerarbeit leuchtete die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für Wirtschaftskriminalität am Landgericht München die Dimensionen des Falles aus. Sie verfolgte die Straftaten noch, als der Skandal bereits abgeflaut und das öffentliche Interesse an den zahlreichen Strafverfahren abgeklungen war. Dass bei der Vielzahl an Betrügereien die Unregelmäßigkeiten um die Münchner Klärwerke und den Siemens-Konzern die öffentliche Debatte dominierten, hatte semiotische Gründe, lag aber auch an der ökonomischen Bedeutung des Klärwerkausbaus und am bis dahin mustergültigen Image der deutschen „Weltfirma“ mit Konzernsitz in der bayerischen Metropole. Klärwerke wecken naheliegender Weise Vorstellungen von Schmutz und Schlamm, auch wenn es sich bei heutigen Großanlagen längst nicht mehr um stinkende Kloaken, sondern um elektronisch kontrollierte, computergesteuerte Hygiene-Einrichtungen handelt. Trotzdem bieten sie assoziativ ideale Anknüpfungsmöglichkeiten, wenn öffentlich über unsaubere Geschäfte, ­ Schmiergelder und Korruptionssumpf gesprochen werden soll.5 Bei der Modernisierung des Klärwerks München Dietersheim ging es jedoch auch um ein Halbmilliarden-Projekt, dessen Elektrotechnik alleine 83 Mio. D-Mark (netto) Auftragsvolumen hatte.6 22,2 Mio. D-Mark brutto (+ 3,5 Mio. Nachtragsaufträge) entfielen auf die innovative Prozessleittechnik. Als Referenz für weitere Klärwerksbauten kam ihr aus Unternehmenssicht große Bedeutung zu; ein Kalkül, das aufging: 1990 folgte die Vergabe der Prozessleittechnik für das zweite, ältere Klärwerk in München mit einem Auftragsvolumen von 28,5 Mio. D-Mark.7 Große Aufträge bedeuteten für die Nutznießer des Kartells zugleich hohe Schmiergeldzahlungen, denn abgerechnet wurden sogenannte „Provisionen“ auf Prozentbasis: Zwei Prozent entfielen in der Regel auf die bestochenen Amtsträger, ein Prozent kassierte der Mittelsmann, der die Auftragsvergabe und Zahlungsabwicklung arrangierte. Insgesamt wurde dem städtischen Bauleiter des Klärwerks, Manfred O., ­ estechungsgeldern kassiert nachgewiesen, in 26 Einzelfällen 1,925 Mio. D-Mark an B

4 Bannenberg, Korruption (wie Anm. 3), 116f.; vgl. auch Süddeutsche Zeitung (19.12.1991). 5 Vgl. Schmutzige Geschäfte, in: Stuttgarter Zeitung (22.2.1992); Münchner Schmiergeld-Sumpf, in: Der Spiegel (19.10.1992). 6 Bannenberg, Korruption (wie Anm. 3), 116; Der Spiegel (8.4.1991). 7 Urteil des Landgerichts München vom 6.3.1992, 4 KLs 68 Js 18 903/91, 28, 32 u. 46–48, 52.

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zu haben. Da er – zur Unterstützung seines ­Hausbaus – auch natural entlohnt wurde, ergaunerte er sich binnen sechs Jahren 3,5 Mio. D-Mark.8 Ein wichtiger Grund, weshalb die Korruption beim Bau des Münchner Klärwerks fast alle Aufmerksamkeit absorbierte, war zweifellos der Umstand, dass in die Schiebereien beim Bau dieser Großanlage ausgerechnet die Siemens AG verstrickt war. Kaum einem anderen deutschen Unternehmen haftete damals so sehr das Image von Solidität und geradezu beamtenhafter Korrektheit an, wie dem Münchner Elektroriesen, der weltweit 400.000 Beschäftigte, einen Jahresumsatz von 70 Mrd. D-Mark und eine fast 150-jährige Geschichte vorzuweisen hatte. Die ZEIT sprach von „einer von Deutschlands feinsten Industrieadressen“. Dass nun auch hier, noch dazu vor der Haustür des Konzernsitzes, die Korruption grassierte, nährte den Eindruck, dass in den 1990ern – so der Frankfurter Staatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner – eine „Verwilderung der Geschäfts- und Verwaltungsmoral“ um sich griff.9

Abb. 2: München, Wittelsbacher Platz: Sitz der Konzernleitung der Siemens AG. © www.siemens.com/presse

8 Stuttgarter Zeitung (22.2.1992); Süddeutsche Zeitung (19.12.1991). 9 Zitiert nach: Focus (30.1.1995).



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Doch ein umfassendes Geständnis sowohl des bestochenen Beamten im städtischen Bauamt, wie des Vermittlers der dubiosen Geschäfte, ließ keine Zweifel daran zu, dass Siemens ein wichtiger Mitspieler, wenn nicht Drahtzieher des „Elektrokartells“ war. Dass sich jener rührige Mittelsmann vor seiner Pensionierung 35 Jahre lang, von 1951 bis 1986, als ebenso erfolgreicher wie gegenüber seinem Arbeitgeber loyaler Vertriebsingenieur für Siemens-Anlagetechnik in München betätigt hatte, – „ein richtiger Reißer!“ sollte K. gewesen sein10 – weckte bei Ermittlern wie Journalisten und Richtern Argwohn, „ob Schmiergeldzahlungen eine gewisse Geschäftsstrategie“ bei Siemens waren.11 Außer Frage jedenfalls stand, dass die ehemaligen Vorgesetzten des Mittelsmanns in der Münchner Vertriebszentrale die Schmiergeldzahlungen gedeckt und Leute aus dem mittleren Management sie arrangiert hatten. Erfindungsreich waren – um Bargeld locker zu machen und die Bestechungszahlungen als Betriebsausgaben in den Geschäftsbüchern unterzubringen – angebliche „Auslandsprovisionen“ für vorgebliche Aufträge aus Korea, Algerien und Iran fingiert worden. Insgesamt hatte Siemens 1985 bis 89 im Zusammenhang mit dem Bau des Klärwerks München Dietersheim Ausgänge in Höhe von 9 Mio. D-Mark an sogenannten „Provisionen“ verbucht.12 Schmiergeldzahlungen, um an Auslandsaufträge zu gelangen, waren in Deutschland bis 1998 nicht strafbar, dasselbe galt für Provisionszahlungen im inländischen Geschäftsverkehr – solange sie nicht der Bestechung von Amtspersonen dienten! –, und selbst dann waren sie, wenn der Empfänger benannt wurde, in den 1990ern noch steuerlich anrechnungsfähig! Da es im Falle des Münchner Bauamtsleiters jedoch um die Bestechung eines kommunalen Beamten ging und der wahre Empfänger somit dem Finanzamt nicht genannt werden konnte, musste das Geld über Schweizer Konten geschleust werden. Bar, im Geldkoffer des Mittelsmanns, gelangte es anschließend zurück nach München. Die Leitung der Vertriebszentrale München war über diese Methoden im Bilde und spannte Siemens-Kaufleute mit Auslandszuständigkeit in Karlsruhe und Erlangen für den Geldtransfer ein. Bei der Abwicklung der Bestechungszahlungen für den Klärwerk-Auftrag war demnach bereits das gesamte Handlungsrepertoire anzutreffen, das eineinhalb

10 Zum später eröffneten Prozess gegen den auch als „Mister 3-Prozent“ betitelten Rentner K.: Der größte Elektriker, in: Der Spiegel (19.10.1992). Das Nachrichtenmagazin nannte den ­Beschuldigten mit vollem Namen. 11 Das Zitat gibt die Frage von Richter Bechert an Zeugen im ersten Siemens-Prozess von 1992 wieder. Vgl. den Bericht in: Die Zeit (21.2.1992). 12 Interne Unternehmensunterlagen. Schreiben des Finanzamts München für Körperschaften vom 20.8.1991 und interne Aufstellung für die Jahre 1985/86 bis 1988/89.

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Jahrzehnte später bei Siemens den milliardenschweren Skandal um Auslandskorruption auslöste, über den 2007 fast der komplette Vorstand und fast der gesamte Aufsichtsrat zu Fall kamen. Die Boulevard-Presse reagierte mit Schlagzeilen über die „Elektro-Mafia“;13 im SPIEGEL war von einem „kriminellen Komplott im Stil eines Verbrechersyndikats“ die Rede, und mit dieser Darstellung lag das Blatt nicht weit von den Einschätzungen der leitenden Staatsanwältin entfernt, die vor „Verhältnissen wie in Kolumbien“ warnte.14 Als im Frühjahr 1992 die Bestechungsvorwürfe im Zusammenhang mit den beiden Münchner Klärwerken im ersten einer ganzen Reihe von Strafprozessen vor Gericht kamen, war allgemein vom „Siemens-Prozeß“ die Rede. Betroffen war jedoch nur der Bereich Energie- und Anlagentechnik des weitverzweigten, weltweit tätigen Elektrokonzerns.

Der Prozess vor dem Münchner Landgericht 1992 Nicht das Unternehmen war jedoch angeklagt, denn das deutsche Recht kennt – als eines der wenigen Rechtssysteme weltweit – kein Unternehmensstrafrecht, sondern hebt allein auf Schuld von Individuen ab.15 Die Notwendigkeit, in komplexen Organisationen individuelles Fehlverhalten nachzuweisen, erschwert die Beweisführung ganz erheblich.16 Auf der Anklagebank saßen daher neun

13 Münchner Abendzeitung (15./16.2.1992). 14 Der Spiegel (17.6.1991). Es handelte sich bei der wiedergegebenen Äußerung gewiss um eine wohlkalkulierte Übertreibung, denn die rechtlosen, von Gewalt und Willkür gekennzeichneten Zustände in dem während der 1990er Jahre von einem Drogenkartell beherrschten südamerikanischen Land ließen sich schwerlich mit der BRD vergleichen. 15 Zur Entwicklung des Wirtschaftsstrafrechts in Deutschland vgl. Christian Müller-Gugenberger/Klaus Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht – Handbuch des Wirtschaftsstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts, Köln 1987, 46. 16 Unternehmen als juristische Personen können nach deutschem Recht nicht strafrechtlich belangt werden. Im Falle von Wirtschaftskriminalität sind daher – ggf. auch im Rahmen der ­Organhaftung – nur natürliche Personen belangbar. Eine Sanktionierung von Unternehmen selbst ist nur über das Ordnungswidrigkeitenrecht (§ 30 OWiG) möglich. Doch war in der Vergangenheit die geringfügige Höhe der zulässigen Höchstbuße – bis 2002 eine Mio. D-Mark, seitdem bis 2013 eine Mio. Euro – lange Zeit kaum geeignet, wirksame Maßnahmen der Unternehmen gegen Bestechung und andere Formen der Korruption zu motivieren. Vgl. Klaus Moosmayer, Compliance. Praxisleitfaden für Unternehmen, München 2010, 11f. Allerdings wurde bei Ahndung des großen, 2006 aufgedeckten Siemens-Korruptionsskandals das Instrument der Gewinnabschöpfung ­genutzt, um faktisch weitaus höhere (im hohen dreistelligen Mio.-Euro-Bereich liegende) Strafzahlungen des Unternehmens zu erwirken. Diese Zahlungen waren allerdings – im



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Siemens-Manager: fünf aus der Münchner Vertriebszentrale und vier aus Unternehmenseinheiten in Karlsruhe und Erlangen. Der Ranghöchste, mittlerweile Pensionär, war der ehemalige Leiter der Münchner Siemens-Niederlassung für Mess- und Regeltechnik, der – als Arbeitnehmervertreter – von 1983 bis 1988 sogar dem Aufsichtsrat des Konzerns angehört hatte. Auch ein ehemaliger Technischer Vorstand des umsatzstarken Unternehmensbereichs Energietechnik war angeklagt, also der Leiter einer Konzerneinheit, deren ökonomische Bedeutung die manches DAX-Unternehmens übertraf. Als die Schiebereien stattfanden, war er noch Leiter der Vertriebsniederlassung München gewesen. Ein anderer Angeklagter, inzwischen pensioniert, war dort sein Vorgänger, ein Dritter sein unmittelbarer ­Untergebener und prospektiver Nachfolger. Die offenbar fest im ­Unternehmen etablierten illegalen Praktiken setzten sich demnach über verschiedene Hierarchiestufen und Generationen der Vertriebsabteilung fort und spiegelten die lange Dauer der – strafrechtlich teilweise bereits verjährten – Machenschaften des „Elektrokartells“ wider. Neben den Managern saß der wegen Bestechlichkeit angeklagte „Nehmer“ aus dem Baureferat auf der Anklagebank. Die ZEIT berichtete: „Die Herren der Industrie, die alle gegen Kaution auf freiem Fuß sind, schätzen es sichtlich nicht, neben jemandem Platz nehmen zu müssen, der jeden Tag in Handschellen aus der Untersuchungshaft in den Saal gebracht wird.“ Die angeklagten Siemens-Manager hätten nämlich „keineswegs das Gefühl, zu Recht vor Gericht zu stehen“ und schauten „geringschätzig“ auf den Millionenempfänger und Beamten O., der sich persönlich mit den Schmiergeldern bereicherte, während „sie glauben, zum Wohl ihres Arbeitgebers gehandelt zu haben, und diese Variante des Gesetzesbruchs“ – so nochmals die ZEIT – werde „bei Siemens mit anderen Augen betrachtet“.

Unterschied zu den ­Bußgeldern – als Betriebsausgaben von der Steuer absetzbar. Letztlich war der Fiskus der Geschädigte. Ausführlich zum Korruptionsskandal und den Folgen für das Unternehmen Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh, Die große Transformation. Die Geschichte der Siemens AG im Zeitalter der Globalisierung, 1966–2011, München 2015 (unveröffentlichtes Manuskript). Zu den längerfristigen Ursachen der systemischen Korruption Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh, Siemens 1966–1997. Herausforderungen der Globalisierung, München 2016 (im Druck). Auf Betreiben der OECD wurde die Verbandsgeldbuße für Unternehmen 2013 schließlich allerdings auf 10 Mio. Euro erhöht. Vgl. den OECD-­Bericht vom 17.3.2011, 83, www.oecd.org/daf/anti-bribery/ anti-briberyconvention/48967037.pdf [letzter Zugriff: 19.8.2015] und zur Verzehnfachung der Buße www.123recht.net/Verzehnfachung-der-Verbandsgeldbu%C3%9Fe-fuer-Unternehmen-__ a153496.html [letzter Zugriff: 19.8.2015]. Kartellvergehen unterliegen speziellen Vorschriften und können mit höheren Bußzahlungen belegt werden. Doch waren die Kartelldelikte – zumindest teilweise – bereits verjährt, als der Klärwerkfall aufflog.

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Bei allen Siemens-Angestellten, ob als Angeklagte oder Zeugen vor Gericht zitiert, sei „das Bemühen spürbar [gewesen], keinen Schatten auf den Traditionskonzern fallen zu lassen“. „Lieber hätte es der Konzern gesehen, wenn den Schmiergeldspezis O. und K. zuvor ein eigener Prozeß gemacht worden wäre.“ Dann, so das angebliche Kalkül, wäre das Medien-Interesse schon abgeflaut gewesen, wenn sich die Siemens-Manager hätten verantworten müssen.17 Unternehmensinterne Darstellungen bestätigen den Bericht: Es herrschte großer Unmut über „eine Art Anti-Siemens-Tendenz“, die angeblich die „teilweise populistisch geführte“ Verhandlung prägte. Die Verbindung des Verfahrens mit dem gegen O. habe es dessen Verteidiger gestattet, „den Gegensatz ‚kleiner verführter Beamter‘ und ‚mächtiger Konzern‘“ auszuspielen und O. auch als Opfer des mächtigen Siemenskapitals hinzustellen. Der „von einem Geständniszwang besessene“, als Zeuge bestellte, selbst unter Anklage stehende Mittelsmann K. sei ständig als ehemaliger Siemens-Mann bezeichnet worden. Neben dem Vorsitzenden Richter, „einem Franken (gebürtig in Bayreuth)“, der als „zynisch und moralisierend“, „wenig konziliant“ und „autoritär“ beschrieben wurde, fiel dem von Siemens entsandten Prozessbeobachter „der Berichterstatter [der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts I] … durch inquirierende Fragen auf“.18 Insgesamt vermisste er „einen distanzierten Leitungsstil“. Dieses Verdikt spiegelte „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“19 von Fachanwälten samt ihrer Klienten zu Beginn der 1990er wider, als Rechtsverstöße der Wirtschaft nahezu ausschließlich als Ordnungswidrigkeiten geahndet wurden, „während bis weit in die 1980er Jahre die Materie des Wirtschaftsstrafrechtes, ja selbst die Vokabel, nur wenigen Spezialisten geläufig war“.20 Das noch

17 Das angebliche Kalkül der Angeklagten war eine Spekulation der ZEIT (21.2.1992), www.zeit. de/1992/09/siemens-und-die-krumme-tour [letzter Zugriff: 13.10.2014]. 18 Bericht eines internen Prozessbeobachters vom 11.8.1992; mit gleichem Tenor: Die Zeit, (21.2.1992), www.zeit.de/1992/09/siemens-und-die-krumme-tour [letzter Zugriff: 13.10.2014]. 19 Vgl. Reinhart Koselleck, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische ­Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1989, 349–375. 20 Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftsstrafrecht [letzter Zugriff: 20.8.2014]. Vom plötzlichen Bedeutungszuwachs des Wirtschaftsstrafrechts, das unter ordoliberalen Vorzeichen bis Ende der 1960er Jahre in der BRD eine Kümmerexistenz gefristet hatte, zeugt die Publikationsgeschichte einschlägiger Handbücher zur Wirtschaftskriminalität bzw. zum Wirtschaftsstrafrecht, die seitdem in zahlreichen wesentlich erweiterten Neuauflagen erschien sind. Erst seit Ende der 1970er war es zu intensiven rechtsdogmatischen Auseinandersetzungen gekommen, mit dem Ziel einer „Systematisierung und Neukriminalisierung sozialschädlichen Verhaltens aus der Wirtschaft“. Vgl. Rudolf Müller/Heinz-Bernd Wabnitz/Thomas Janovsky (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität. Eine Darstellung der typischen Erscheinungsformen mit praktischen Hinweisen zur Bekämpfung,



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aus dem Jahre 1954 stammende Wirtschaftsstrafgesetz21 war praktisch von geringer Bedeutung. Es betraf vor allem Preisregulierungen (z.B. Mietpreisüberhöhungen), Wucher und regelte die Marktordnung. Dass es Straftaten gab, die wegen der besonderen Beziehung zum Wirtschaftsleben vor einem Richtergremium mit besonderen Kenntnissen wirtschaftlicher Abläufe und Vorschriften verhandelt werden müssen, war zwar eigens im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt22, doch fanden die Verfahren der Wirtschaftsstrafkammern der Landgerichte – gerade wegen der Komplexität der dort verhandelten Fälle und der unspektakulären Strafen – wenig öffentliche Resonanz. Erst seit Anfang der 1990er – als staatliche Reaktion auf wachsende Schäden durch Wirtschaftskriminalität – änderte sich das. Die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften an etlichen Landgerichten, darunter in den Wirtschaftsmetropolen Frankfurt am Main und München, sensibilisierte für die neue Qualität der Probleme. Vor allem aber steigerten öffentlichkeitswirksam durchgeführte Wirtschaftsprozesse die mediale Aufmerksamkeit und trugen damit dazu bei, dass Korruption und andere Wirtschaftsstraftatbestände seit Beginn der 90er Jahre in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit vordrangen. Prominente Angeklagte oder bekannte Unternehmen, deren Verfehlungen zur Verhandlung anstanden, kamen der Justiz in dem mit ungleichen Waffen ausgetragenen Kampf gegen Korruption und andere Wirtschaftsstraftaten dabei wie gerufen. Denn die Wahrung einer Rechtsordnung benötigt Gerichtsverfahren als performative Akte. Diese dienen nämlich, so der Rechtssoziologe und Richter Theo Rasehorn, zum einen „der Präsentation der Justiz als ‚Repräsentant der Gerechtigkeit im Staat‘ “ – einschließlich der Wirtschaft, ist man versucht, zu ergänzen – sowie zum anderen der „Erlebnisbereicherung für den Bürger“ durch die Inszenierung des Verfahrens als ‚Theater und Show‘ “.23 Rechtsprechung ist – so haben auch neuere kulturwissenschaftliche Studien dargelegt – „Theater und Kampf“. Und dem Richter fällt bei solchen Aufführungen die Rolle des Dramaturgen zu. Seine Adressaten sind niemals nur die Personen im Gerichtssaal oder auf der Anklagebank, sondern immer auch die Öffentlichkeit.24

­ ünchen 1981 sowie das erstmals 1987 erschienene Handbuch für Wirtschaftsstrafrecht, das M mittlerweile in 6. Auflage erschienen ist und eine Vervielfachung seines Umfangs erlebt hat. Vgl. Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht (wie Anm. 17), 50. 21 WiStrG 1954. 22 § 74c Gerichtsverfassungsgesetz. 23 Zitiert nach Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz: Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2008, 192. 24 Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a.M. 2011, 17. Den Hinweis verdanke ich: Sabine Bergstermann, Terrorismus, Recht und Freiheit. Die JVA Stuttgart-Stammheim als Ort der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF, Diss. München 2013.

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Die Richter im Siemens-Prozess füllten diese Rolle nach Kräften aus. Schon die beachtliche Zahl der – im ersten Prozess (1992) zwölf und im zweiten Prozess (1995) gar 51 – Verhandlungstage signalisierte nicht nur, dass es sich um einen komplizierten Prozessgegenstand handelte, sondern auch, dass das Gericht dem Verfahren ein großes öffentliches Interesse beimaß. Die Zeugenliste der Wirtschaftsstrafkammer reichte vom Sohn des früheren Konzernvorstands Gerd Tacke bis hinauf zum aktuellen Konzernvorstandsvorsitzenden Karlheinz Kaske. Letzterer konnte krankheitshalber nicht gehört werden. Ungeniert fragten die Richter jedoch andere Manager im Zeugenstand: „Ist das die Siemens-Geschäftsstrategie?“ Sie bohrten: „Hat Ihnen jemand etwas angeboten, wenn Sie Leute decken?“ Die Angeklagten mussten Auskunft geben, ob „die Fa. Siemens Ihre Kaution gestellt“ habe, eine Frage, die der von Siemens bestellte Prozessberichterstatter offenbar ebenso ungehörig fand, wie die Richter-Äußerung, bei Siemens herrsche ein Kastendenken, dabei sei Siemens „auch nur eine Aktiengesellschaft“, auch wenn man gerne „vom Haus Siemens oder von der Familie“ spreche oder sich „als Siemensianer“ bezeichne. Am 6. März 1992 erging vor dem Landgericht München das erste Urteil im Klärwerkfall. Es traf ausschließlich Siemens-Mitarbeiter und sollte offenkundig eine „Warnfunktion“ haben.25 Erneut nutzte der Vorsitzende Richter die Gelegenheit zu einer geharnischten Rede, in der er auch die Unternehmensleitung schalt, die „ungeheuren Druck“ ausgeübt habe, damit Großaufträge wie für das Vorzeige-Modell des Klärwerks II hereingeholt würden, – wenn nötig „mit Schmiergeldern, die im Firmen-Jargon dezent als ‚Provisionen‘ oder ‚nützliche Aufwendungen‘ umschrieben würden. Man tut gleichsam so, als seien levantinische Methoden nur am östlichen Mittelmeer zu Hause. Während in Wirklichkeit die ‚Electro-Connection‘ der Großfirmen in einem ‚ungeheuren Sumpf‘ stecke.“26 „Hier wurde und wird bewußt Marktwirtschaft pervertiert“, zitierte die Münchner Presse den Vorsitzenden Richter.27 Die verhängten Strafen fielen entsprechend hart aus, markierten jedoch zugleich, welch deutlichen Unterschied das deutsche Strafrecht zwischen Nehmern und Gebern von Bestechungsgeldern zieht. Letzteren wurde vom Gericht zugutegehalten, sie hätten sich „im Wesentlichen vom Interesse ihrer Firma“ leiten lassen.28 Konträr zur Wertung durch die Justiz hatten die Medien die Tendenz, die verurteilten Manager als Repräsentanten wirtschaftlicher Macht

25 Der Spiegel (9.3.1992). 26 Münchner Abendzeitung (7.3.1992). 27 Münchner Merkur (7./8.3.1992). 28 Urteil des Landgerichts München I vom 6.3.1992, 4 KLs 68 Js 18 903/91, 52.



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Abb. 3: „Richter als Dramaturgen“ – Presse als Pranger: Das Urteil im „Klärwerkprozess“ 1992 in der Münchner Abendzeitung. © Abendzeitung München (7./8.3.1992).

und Unmoral anzuprangern. Vor Gericht kamen die Manager jedoch im Vergleich zu dem bestechlichen Baureferenten, der – unter anderem auch wegen Verrat von Amtsgeheimnissen – zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt wurde, weitaus glimpflicher davon.29 Aber alle, bis auf einen, dem lediglich versuchte Strafvereitelung vorgeworfen wurde – um seinen Arbeitgeber vor Schaden zu bewahren, hatte der Jurist aus Erlangen elf Ordner mit Unterlagen kurzerhand geschreddert! –, erhielten wegen Bestechung Haftstrafen.

29 Münchner Abendzeitung (7.3.1992).

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In fünf Fällen lag diese unter zwei Jahren, so dass sie – gegen Geldbußen – zur Bewährung ausgesetzt werden konnte. Die anderen drei, darunter die beiden ehemaligen Leiter der Vertriebsniederlassung München, Männer im Alter von jenseits der 60 Jahre, der eine bereits pensioniert, der andere mittlerweile als Bereichsleiter in exponierter Position, sollten Haftstrafen zwischen zwei Jahren und acht Monaten und drei Jahren und vier Monaten absitzen. Solange das Urteil keine Rechtskraft hatte, blieben sie zunächst auf freiem Fuß.30

 er Umgang der Unternehmensleitung mit den D Rechtsverstößen Noch am Tage der Urteilsverkündung verbreitete die Siemens AG eine Presseerklärung. Darin bedauerte die Leitung „Vorgänge im Zusammenhang mit der Hereinnahme öffentlicher Aufträge in München“, die als „Verstoß gegen die internen Regeln des Hauses Siemens“ bezeichnet wurden.31 Der Konzernvorstand habe „die Vorgänge in München bereits im Juni letzten Jahres zum Anlass genommen, allen Führungskräften […] die strafrechtlichen und unternehmensinternen Folgen eines Fehlverhaltens noch einmal zu verdeutlichen“. Weitere Vorbeugungsmaßnahmen wurden angekündigt. Welche Folgen die – zunächst noch nicht rechtskräftig – Verurteilten beruflich zu gewärtigen hatten, blieb jedoch offen. Siemens stellte eine Prüfung der Konsequenzen in Aussicht. Den Betroffenen attestierte man indessen öffentlichkeitswirksam Verdienste um das Unternehmen und persönliche Integrität: Es handele sich „um langjährige leitende Mitarbeiter, die nicht zu ihrem persönlichen Vorteil gehandelt“ hätten und „durch die Strafen für Handlungen, die sie im vermeintlichen Interesse des Unternehmens glaubten tun zu müssen, schwer betroffen“ seien.32 Ähnlich verständnisvoll klang, was der Vorstandsvorsitzende wenige Tage nach Prozess-Ende vor der Siemens-Hauptversammlung äußerte: „Die Urteile“ erschienen Kaske „im Vergleich zu dem heute üblichen Strafmaß für andere Straftaten […] besonders hart“ und die Mitarbeiter, „die hier erstmals

30 Die gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 500.000 D-Mark gewährte Außervollzugsetzung der U-Haft wurde aufgehoben, als gegen einige der Beschuldigten im Rahmen des Klärwerk-Auftrags neue Vorwürfe wegen Betrugs aufkamen, die dann Gegenstand des zweiten ­Siemens-Prozesses 1994/1995 waren. 31 Interne Unterlagen. 32 Ebd.



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und einmalig gefehlt“ hätten, seien „bislang völlig unbescholtene Bürger und ­Mitarbeiter […], die z.T. über Jahrzehnte dem Hause Siemens engagiert und erfolgreich gedient haben.“33 Eine unmissverständliche Distanzierung war das nicht. Der 1992 neu ins Amt gelangte Nachfolger Kaskes, der Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer, kündigte im selben Jahr jedoch an: „Sie können sicher sein, dass wir alles tun, damit sich die Dinge, wie sie in München passiert sind, nicht wiederholen.“34 Zugleich signalisierte der tone from the top aber weiterhin Solidarität mit den Verurteilten. Ihnen wurde zugutegehalten, dass sie in Wahrnehmung ihrer Dienstaufgaben der Strafverfolgung ausgesetzt waren, woraus eine Fürsorgepflicht des Arbeitgebers abgeleitet wurde. Solange nicht über die Revision entschieden sei und somit noch kein rechtskräftiges Urteil gegen die ­Mitarbeiter vorliege, wolle man an der Unschuldsvermutung festhalten. Das Unternehmen holte die beschuldigten Mitarbeiter mit Kautionen von jeweils bis zu 500.000 D-Mark aus der Untersuchungshaft und stellte ihnen – auch um Revision anzustrengen – bekannte Strafverteidiger zur Seite. Doch auch nachdem die emsig weiter zum „Elektrokartell“ ermittelnde Sonderstaatsanwaltschaft München 1994 gegen die bereits rechtskräftig Verurteilten neue Anklagen vorbrachte, wurden sie von ihrem Arbeitgeber weiter unterstützt. Ihre normale Dienstzeit lief selbst in der Untersuchungshaft weiter, sodass ihnen Gehaltszahlungen, turnusmäßige Gehaltserhöhungen, Pensionsansprüche und auch die Teilfinanzierung der Leasingraten für Dienstwagen weiter zugutekamen. Erst als die Urteile Rechtskraft erlangt hatten, wurden diese Vergünstigungen gestrichen. Aber selbst die Geldstrafen und -auflagen wurden von Siemens übernommen und pauschal versteuert, sodass die Mitarbeiter sie nicht als Einkommen in ihre Steuererklärung ­aufnehmen mussten. Das Unternehmen verschleierte den Grund der Zahlungen, wie die Steuerabteilung mitteilte: „Die Versteuerung erfolgte verdeckt im Rahmen der Lohnsteueranmeldung […], um die Finanzverwaltung nicht auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu machen.“35 Auf diese Weise ließen sich die Beträge unauffällig – und zulasten des Fiskus – als Betriebskosten absetzen.36 Siemens schnürte also eine Art Rundum-sorglos-Paket für seine straffällig gewordenen Mitarbeiter. Einer der Angeklagten lobte seinen ehemaligen Arbeit-

33 Interne Unterlagen; ebenso in Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.3.1992). 34 Handelsblatt (15.12.2006). 35 Interne Unterlagen, Schreiben v. 15.10.1997. Vgl. auch ebd., Schreiben v. 26.11.1999. 36 Auch die Bestechungssummen konnte Siemens — entsprechend der damaligen ­Rechtslage — problemlos voll von der Steuer absetzen. Voraussetzung war, wenn es sich um Inlandsfälle handelte, allein, dass die Empfänger namentlich bekannt waren. Hierzu hatten nicht zuletzt die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft beigetragen. Vgl. Berghoff/Rauh, Die große Transformation (wie Anm. 16).

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geber für die Rechtshilfe öffentlich: Es sei „sehr nobel, dass man mich sogar als Pensionär unterstützt“.37 Keiner wurde entlassen, die Delinquenten – soweit sie nicht bereits im Ruhestand waren – wurden lediglich betriebsintern versetzt. Ihr Abzug aus dem Vertrieb war im Übrigen eine Bedingung der Obersten Baubehörde im Bayerischen Innenministerium, die Siemens 1992 von öffentlichen Aufträgen bis auf weiteres ausgeschlossen hatte.38 Ob die interne Versetzung für die verurteilten Mitarbeiter wirklich einen Karriereknick bedeutete, ist schwer zu beurteilen. Nach außen stellte es das Unternehmen so dar!

Abb. 4: Das Urteil im zweiten Siemens-Prozess in der ARD-Tagesschau: Mediales Verdikt mit hohen Einschaltquoten. Quelle: ARD-aktuell, Tagesschau (18.4.1995). Anmoderation von Dagmar Berghoff zum Beitrag „Urteil Siemens Manager“

Bis 1998 trug Siemens Anwaltskosten der Beschuldigten in Höhe von 4,2 Mio. D-Mark, vermutlich lagen die Gesamtkosten höher. Eine Abwälzung auf die seit Anfang der 1980er Jahre von vielen Unternehmen abgeschlossene Industriestrafrechtsversicherung, die für die Rechtskosten aufkam, wenn Personen einer

37 Zitiert. nach. Der Spiegel (9.3.1992). 38 Die Wiederzulassung erfolgte nach knapp drei Jahren zum 1.1.1995, also noch vor Abschluss des zweiten Prozesses am 18.4.1995. Vgl. Berghoff/Rauh, Siemens 1966–1997 (wie Anm. 16).



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­ traftat zum Vorteil des versicherten Unternehmens beschuldigt wurden, schied S aus, weil es um vorsätzlich begangene Rechtsverstöße ging.39 Seitdem die Ermittlungen der Sonderstaatsanwaltschaft ergeben hatten, dass beim Klärwerkbau in München und andernorts neben Bestechung jahrelang auch sorgsam ausgeklügelter Submissionsbetrug zulasten von Kommunen und anderen öffentlichen Bauträgern betrieben worden war, kam es zu weiteren Prozessen, unter denen abermals derjenige gegen fünf Siemens-Manager 1994/95 die größte Publizität erfuhr. Mehr noch als das erste Verfahren entwickelte sich dieser Prozess zu einem von beiden Seiten unnachgiebig geführten Kampf, der sich bis 2001 und bis zur letzten Instanz, zum Bundesgerichtshof, hinzog. Dieser hob 1997 das Urteil des Landgerichts München I vom 18.4.1995 in Teilen auf beziehungsweise wies es an das Landgericht zurück, das 1998 schließlich ein Urteil gegen die Siemens-Manager fällte, welches das Strafmaß der Verurteilten geringfügig minderte und Rechtskraft erlangte, jedoch kaum noch öffentliche Resonanz fand. Das mediale Interesse am „Siemens-Prozess“ war selbst in München längst erloschen. In der strittigen Kostenregelung des Urteils wurde erst 2001 mit dem Beschluss des Oberlandesgerichts ein später Schlussstrich gezogen. Die – angesichts der hohen Folgekosten40 und des von Siemens erlittenen Imageschadens – bemerkenswert weitreichende Solidarität des Unternehmens beruhte auf Faktoren, die auch die Richter im Urteil von 1995 strafmildernd hervorhoben. Die Beschuldigten waren nicht vorbestraft, „eingebunden in die betriebliche Sphäre“, handelten „in erster Linie im Interesse ihrer Firma, der sie sich besonders verbunden fühlten“. „Sämtliche Angeklagten beabsichtigten“ nach den Feststellungen des Gerichts, „keinen unmittelbaren persönlichen Vorteil“. Allerdings übersah das Gericht nicht, dass auch Karrieredenken im Spiel war, weil sich die Angeklagten als erfolgreiche Mitarbeiter hatten profilieren wollen. Über Siemens, die Arbeitsbedingungen und Geschäftspraktiken im Vertrieb hatte der Prozess wenig Vorteilhaftes ans Licht gebracht. Über die Angeklagten hieß es, sie seien „einem Konformitätsdruck“ unterlegen. Ihnen sei, so der Berichterstatter, auch „zugute zu halten, […] daß ein festes Bestechungssystem bereits vorhanden war“.41 Auch bei der Neuverhandlung des Falles, 1998, hoben

39 Stefanie Werner, Unternehmenskriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Umfang, Merkmale und warum sie sich lohnt, Sigmaringen 2014, 152f. 40 U.a. musste Siemens den durch das Klärwerkkartell geschädigten Kommunen Schadensersatzzahlungen leisten, deren Höhe sich nicht exakt beziffern lässt. 41 Urteilsbegründung Landgericht München vom 21.11.1994.

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die Richter auf den „Interessenkonflikt“ der Beschuldigten ab: „Sie mußten in einem nahezu ruinösen Konkurrenzkampf Aufträge hereinholen in dem Bewußtsein, gegen Gesetze zu verstoßen“.42 Doch im Umgang mit den straffällig gewordenen Mitarbeitern zeigte Siemens sich mustergültig fürsorglich. In gewisser Weise wurden sie für die Unbill, die sie – aufgrund ihres selbstlosen Einsatzes für die Firma – durch die Justiz erlitten, von Siemens belohnt. Denn bei aller expliziten Distanzierung von Gesetzes- und Regelverstößen machte das Unternehmen nach innen klar, dass die verurteilten Mitarbeiter letztlich im Interesse des Unternehmens gehandelt hätten und deshalb nicht fallen gelassen würden. So verfolgte man in der Rechtsabteilung, wie aus den Akten ersichtlich, das Geschick der Häftlinge mit deutlicher Empathie und hielt darüber auch die Unternehmensspitze auf dem Laufenden.43 Auch nachdem die Staatsanwaltschaft 1994 weitere Mitarbeiter in Untersuchungshaft nahm und gegen die bereits rechtskräftig Verurteilten neue Vorwürfe aufkamen, rückte Siemens nicht von ihnen ab. Im Unternehmen rechtfertigte man die Fürsorge unter Hinweis auf beamtenrechtliche Regelungen, die Rechtsschutz in Strafverfahren zur „Sorgfaltspflicht des Dienstherrn“ zählten. Während bei Staatsdienern Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr jedoch mit Rechtskraft des Urteils zwangsläufig zum Ende des Arbeitsverhältnisses führen, erachtete man in der Siemens-Rechtsabteilung diese Regelung auf private Arbeitgeber für „auch nicht annäherungsweise übertragbar“. Staat und Gesellschaft erwarteten von Beamten „zu Recht ein besonderes Maß an Rechts- und Gesetzestreue“ hieß es in einer internen Notiz. Für die Wirtschaft, so scheint es, ging man in der Siemens-Rechtsabteilung in den 1990ern von anderen Anforderungen aus.44 Diese Einstellung ist, wie von Kriminologen gezeigt, typisch für das Umfeld und viele Beteiligte an Wirtschaftskriminalität, welche sich durch die Art der Delikte wie das Sozialprofil ihrer Täter von gewöhnlicher Kriminalität unterscheidet.45 Weil Wirtschaftskriminalität sich häufig „im Rahmen der Konventionali-

42 Süddeutsche Zeitung (16.9.1998). 43 „Erfreulicherweise ist Herr K. […] wieder ‚daheim‘“, wurde die Haftentlassung eines der ­Delinquenten kommentiert. Interne Unterlagen. 44 Interne Notiz der Rechtsabteilung vom 4.3.1992 zum Betreff „Beamtenrechtliche R ­ egelungen“. 45 Auf den privilegierten Sozialstatus von Wirtschaftskriminellen hatte mit seinem sozialkritischen Konzept des white-collar crime bereits 1939 der US-Kriminologe Edwin H. Sutherland hingewiesen. Dieser definierte white-collar crime as „a crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation“; ders., White Collar Crime, New York 1961, 9. Allerdings wurde kritisiert, dass das weite Spektrum von Wirtschaftskriminalität durch eine



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tät illegal“ vollzieht, handelt es sich um vermeintlich legale Handlungen.46 Sie vollziehen sich in der Regel ohne Einsatz von Gewalt und lassen scheinbar keine individuell Geschädigten zurück, weil es nur kollektiv Betroffene gibt, wie die Anleger, den Versicherer, die Konkurrenz und die Gemeinschaft der Steuerzahler oder ganze Volkswirtschaften, deren Schaden sich noch dazu oft kaum genau beziffern lässt.47 Ihre Opfer sind nicht sichtbar, ebenso wenig wie die immensen Schäden, die sie verursachen. Die – in der Regel männlichen – Delinquenten48 befinden sich, weil Vertrauen in ihr spezialisiertes Expertenwissen unabdingbar ist, meist schon im gesetzten Alter und sind in aller Regel ökonomisch gut situiert und sozial angesehen. Werden gegen Personen der genannten Tätergruppe strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, haben sie jedoch „eine hohe soziale Stellung zu verlieren“.49 Für sie hat bereits die Durchführung eines Strafverfahrens – etwa durch den Vollzug von Untersuchungshaft – „neben gravierenden Einschnitten im familiären und sozialen Leben“ oftmals Folgen, die „die Fortsetzung einer vor der Inhaftierung ausgeübten beruflichen bzw. geschäftlichen Tätigkeit unmöglich mach[en]“ und daher „in ihrer Intensität einer möglichen verfahrensbeendenden Sanktion in nichts nachstehen“.50 Dennoch, so Bannenberg, habe das Strafrecht für diese Personengruppe „keine handlungsleitende Kraft“: Für sie gehe es mehr um Anerkennung als um buchstabengetreue Befolgung irgendwelcher Vorschriften.51 Die in der Siemens-Rechtsabteilung artikulierte Einstellung, wonach rigide Sanktionsmaßnahmen, also ein strikter institutioneller Rahmen und seine

derartige Täter-Charakterisierung in unzulässiger Weise verengt werde: Lindemann, Voraussetzungen (wie Anm. 2), 2; vgl. auch Werner, Unternehmenskriminalität (wie Anm. 39). 46 Trutz von Trotha, Recht und Kriminalität. Auf der Suche nach Bausteinen für eine rechtssoziologische Theorie des abweichenden Verhaltens und der sozialen Kontrolle, Tübingen 1982, 68; Lindemann, Voraussetzungen (wie Anm. 2), 7. 47 Es ist etwa von „leisen Strategien der Ausplünderung“ die Rede, wo Wirtschaftsdelikte in der Forschungsliteratur charakterisiert werden. 48 Die bei der Tagung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte zu diesem Sammelband auf dem Podium vertretenen Compliance-Experten, Telekom Chief Compliance Officer Manuela Mackert und Alexander Geschonneck, Forensic, KPMG, berichteten allerdings, dass das Männermonopol bei Compliance-Verstößen bereits im Schwinden begriffen sei. Es handele sich weniger um Geschlechterunterschiede des Verhaltens, etwa eine generell geringere Risikobereitschaft von Frauen, als um eine Folge der Unterrepräsentanz von Frauen in verantwortungsvollen Wirtschaftspositionen, die jedoch mittlerweile immer mehr an Bedeutung verliert. 49 Bannenberg, Korruption (wie Anm. 5), 9. 50 Juristen sprechen daher von „vorweggenommenen Sanktionswirkungen des Strafverfahrens“, Lindemann, Voraussetzungen (wie Anm. 2), 13f. 51 Bannenberg, Korruption (wie Anm. 5), 9.

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unnachsichtige Handhabe, zur wirksamen Durchsetzung von „Rechts- und Gesetzestreue“ in den eigenen Reihen inopportun erschienen, unterschied die Unternehmenskultur des deutschen Elektrokonzerns erkennbar von ComplianceAnforderungen, die zeitgleich in den USA durch gesetzlichen Zwang und eine ­Verschärfung der Verfolgungspraxis auf dem Vormarsch waren.52 In Deutschland standen einem solchen Wandel hohe Hürden im Weg. In allen Funktionseliten gab es eine „moralisch aufgeladene Ablehnung“ institutioneller Bekämpfung von Korruption. Die Annahme, es bedürfe Sanktionsandrohungen, um „Unternehmer […], Beamte oder Politiker zur Zurückweisung korruptiver Angebote zu motivieren“, galt, so die Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff, „selbst als ­Moralverstoß“ und wurde nicht selten als Ausdruck einer angeblich „wirtschaftsfeindlichen Grundhaltung“ fehlinterpretiert. Man pflegte ein „Selbstbild“, wonach Deutschland „für Korruption unanfällig“ war. Gern sah man sich als „Vorbild für andere“.53 Zwar verlangten Juristen, Wissenschaftler und hie und da auch Unternehmer nach wirksamen „institutionellen Stützen“, damit „individuelle Moral […] unter den Wettbewerbsbedingungen der modernen (Welt-)Gesellschaft im Alltag praktizierbar“ sei.54 Doch blieb es – bis zur Compliance Revolution, die der 2006 aufgedeckte, weltumspannende Siemens-Korruptionsskandal schließlich auch in der deutschen Wirtschaft auslöste – im Wesentlichen bei „Moralpredigten gegen die Versuchungen des Wettbewerbs“ ohne wirksame Konsequenzen.55 Erst nachdem die Siemens AG ihre Aktien 2001 an der New Yorker Börse hatte listen lassen und sich damit den strikten Compliance-Vorschriften der ­US-­Börsenaufsicht unterworfen hatte, bahnte sich für Siemens ein Wandel an, der sich jedoch für das Unternehmen wie sein Management 2006/07 zum Desaster entwickeln sollte, weil es – unter Heinrich von Pierer, der 2003 den Vorstandsvorsitz mit dem Aufsichtsratsvorsitz eingetauscht hatte – nach dem US-BörsenListing nicht konsequent und nicht schnell genug gegen die jahrzehntelang eingeübten Korruptionspraktiken in den eigenen Reihen vorging. Als die Münchner Staatsanwaltschaft 2006 erneut Korruptionsvorwürfen nachging, waren

52 Vgl. dazu den Beitrag von Hartmut Berghoff in diesem Band. 53 Gertrude Lübbe-Wolff, Die Durchsetzung moralischer Standards in einer globalisierten Wirtschaft, in: Heinrich v. Pierer u.a., Zwischen Profit und Moral. Für eine menschliche Wirtschaft, München 2003, 73–103, Zitate: 75, 76, 77f. 54 Karl Homann, Grundlagen einer Ethik für die Globalisierung, in: Heinrich von Pierer u.a., Profit (wie Anm. 53), 36. 55 Lübbe-Wolff, Durchsetzung (wie Anm. 53), 73; zur Compliance Revolution bei Siemens als ­Reaktion auf die Aufdeckung systemischer Korruption im Konzern: Berghoff/Rauh, Transformation (wie Anm. 16).



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die alten Schlachten um den Klärwerksfall keineswegs vergessen. Aufgrund von Medienberichten schalteten sich sofort die US-­Strafverfolgungsbehörden ­ S-Börsenaufsicht SEC ein, und die anschließenden Ermittlungen und die U ­US-amerikanischer Fahnder ließen bei Siemens keinen Stein auf dem anderen. Das Unternehmen durchlebte die tiefste Krise seit Kriegsende 1945 und musste für Aufklärung und Strafen rund 1,2 Mrd. Euro zahlen. Es bestand sogar die Gefahr einer Zerschlagung des 1847 gegründeten Traditionskonzerns. Damit war auch in der deutschen Wirtschaft weithin erkennbar geworden: Die Ausweitung des Geltungsbereichs amerikanischer Compliance-Vorschriften auf die globale Wirtschaft war Realität. Für – im Ausland tätige – Unternehmen und ihre Leitungsorgane, die Regelverstößen nicht mit aller Energie und Konsequenz begegneten, schuf solche Duldsamkeit Rechtsrisiken, die sie sehr rasch in den Ruin treiben konnten. Im Falle des Klärwerk-Komplexes, bei dem es im Vergleich mit dem Korruptionsskandal von 2006–2008 um geringfügige Summen und auch nur um relativ wenige Siemens-Beschuldigte ging, hatten zahlreiche Gründe zusammengewirkt, weswegen Siemens in jenen Korruptionssumpf hineingezogen wurde und weshalb das Unternehmen gegenüber den verurteilten Managern so fürsorglich auftrat: Der Unternehmensbereich Energie- und Anlagetechnik, in dem sich die kriminellen Geschäftspraktiken etabliert hatten, war bereits seit Jahrzehnten in Kartellstrukturen eingebunden, die in Deutschland von einer besonders ausgeprägten Kartellmentalität begünstigt wurden, die jedoch auch auf internationaler Ebene nicht zu verhindern schienen. Als die Europäisierung und schließlich die Globalisierung der Märkte, sowie die scharfe Anti-Kartellpolitik der USA Folgen auch für die europäischen Märkte zeitigten, schwenkten die Beteiligten um auf Korruption.56 Lang eingeübte Praktiken wurden offenbar gar nicht mehr hinterfragt. So muss man sich wohl erklären, weswegen der Unternehmensbereich Energie- und Anlagetechnik von Siemens selbst da noch mit Schmiergeldern bei der Auftragsakquise nachhalf, wo Siemens – wie in der Prozessleittechnik für Kläranlagen – eindeutiger Marktführer war und Konkurrenten gegen die Hightech aus München-Erlangen kaum eine ernsthafte Chance hatten.

56 „Ausschreibungsabsprachen“, so 1987 die Erstauflage des Handbuchs für Wirtschaftsstrafrecht, seien in Deutschland „seit langem eine weit verbreitete Erscheinung, insbesondere – aber keineswegs nur – in der Bauwirtschaft“. Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht (wie Anm. 17), 876f. Vgl. Franz Jürgen Säcker, Das Kartellverbot und seine Umgehung – ein Rückblick auf 50 Jahre Kartellgeschichte, in: Studienvereinigung Kartellrecht (Hrsg.), Kartellrecht in Theorie und Praxis. Festschrift für Cornelis Canenbley zum 70. Geburtstag, München 2012, 397–410.

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Als es Mitte der 1980er um die Auftragsvergabe für jene Prozessleittechnik ging, handelte es sich darüber hinaus um ein Prestigeprojekt am Standort der eigenen Konzernzentrale, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Es wurde Druck auf die Männer im Vertrieb ausgeübt, diesen wichtigen Auftrag unter allen Umständen einzuholen. Die Verkaufsleute waren dann in der Wahl ihrer Mittel nicht kleinlich und scheuten selbst vor der Bestechung von ­Amtsträgern nicht zurück, wie sie bei Geschäften mit vielen Entwicklungs- und Schwellenländern bei Siemens – wie anderen international tätigen deutschen und ­europäischen Unternehmen – seit Jahrzehnten üblich war. Das Wissen um die Üblichkeit derartiger Praktiken bei vielen Auslandsgeschäften, die in Deutschland bis 1997 nicht strafbar waren, während sie in den Ländern der Auftraggeber sehr wohl einen Rechtsverstoß bedeuteten, dürfte die Indolenz der Siemens-Täter gegenüber dem deutschen Strafrecht noch gefördert haben. Dass die Verantwortlichen über das notwendige Wissen verfügten, in welcher juristischen Grauzone viele Auslandsgeschäfte bei Siemens abgewickelt wurden, steht außer Frage. Anders wäre nicht verständlich, weswegen sie Geschäfte in Korea, Algerien und Iran vortäuschten, um unbemerkt Bestechungsgeld für den Münchner Bauamtsleiter aus schwarzen Kassen in der Schweiz abzweigen und die Auslagen von der Steuer absetzen zu können. Auch in der Siemens-Rechtsabteilung und bis hinauf zum Konzernvorstand dürften diese Aporien, denen die eigenen Vertriebsmitarbeiter in besonderer Weise ausgesetzt waren, erkannt worden sein. Die demonstrative Solidarität mit den straffällig gewordenen Managern, nicht zuletzt Karlheinz Kaskes empathische Vertrauenserklärung für die Beschuldigten, die er als scheidender Vorstandsvorsitzender vor der Siemens-Hauptversammlung 1992 formulierte, könnte teilweise hierin ihren Grund gehabt haben. Im Übrigen jedoch war Fürsorge für die eigenen Mitarbeiter in der Unternehmenskultur von Siemens tief verankert. Sie wurde durch oft lebenslange Betriebszugehörigkeit vieler Beschäftigter und generationsübergreifende, teilweise verwandtschaftliche Netzwerke fundiert, beruhte – wie gerade die Beweismittelvernichtung jenes im Klärwerk-Prozess Mitangeklagten zeigte – auf Gegenseitigkeit und machte, soweit sie nicht aus Eigennutz, sondern im – vermeintlichen – Interesse des Unternehmens gehandelt hatten, auch vor verurteilten Straftätern nicht Halt. Es hatte durchaus seine sehr reale Grundlage, wenn mit Blick auf das Unternehmen vom „Haus Siemens oder von der Familie“ gesprochen wurde. Wie eine richtige Familie sich von ihren schwarzen Schafen nicht trennt, hielt auch Siemens denjenigen Mitarbeitern die Treue, deren Einsatz für das Unternehmen sie mit dem Gesetz in Konflikt gebracht hatte. Die überaus schädliche Signalwirkung, die hiervon für die Unternehmenskultur ausging, wurde jedoch – ebenso wie der Wandel der Compliance-Standards – von der Unternehmensleitung



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unterschätzt. Die Chance, ein wirkungsvolles Zeichen im Sinne einer kompromisslosen Korruptionsbekämpfung zu setzen, verstrich beim „Klärwerk-­Skandal“ ungenutzt, während die Compliance Revolution auf dem Vormarsch war. Die Folgen kamen das Unternehmen wie seine Manager nach 2006 teuer zu stehen.

Die Autorinnen und Autoren Hartmut Berghoff ist Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen. Von 2008 bis 2015 hat er das Deutsche Historische Institut in Washington D.C. geleitet. Er war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und hat Gastprofessuren in Harvard und Paris wahrgenommen. Er ist Autor des Lehrwerkes Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, 2. Aufl., München 2016 und Koautor einer bislang noch nicht erschienenen Studie zur Geschichte der Siemens AG: Die große Transformation. Die Geschichte der Siemens AG im Zeitalter der Globalisierung, 1966–2011, München 2015. Steffen Doerre hat Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert. Er war Teaching Assistent an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg. Aktuell arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. In seiner Promotion beschäftigt er sich mit dem Wissen von „Übersee“ in der Bundesrepublik Deutschland. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Wissensgeschichte der Ökonomie. Rüdiger Hachtmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und apl. Prof. an der TU Berlin. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Industriearbeit im Dritten Reich (1989); Berlin 1848 (1997); Wissenschaftsmanagement im ‚Dritten Reich‘ (2007); Tourismus-Geschichte (2007); Das Wirtschaftsimperium der Deutschen Arbeitsfront (2012). Volker Köhler ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der TU Darmstadt. Davor promovierte er ebenda in einem von DFG und ANR geförderten Projekt zur „Korruption in der Moderne“ (2011–2015). Cornelia Rauh ist Professorin für deutsche und europäische Zeitgeschichte an der Leibniz-Universität Hannover. Zusammen mit Hartmut Berghoff hat sie eine – bislang unveröffentlichte – Geschichte der Siemens AG (1966–2011) verfasst. Der Nationalsozialismus und seine Bewältigung in Unternehmen zählt ebenso zu ihren weit gesteckten Forschungsschwerpunkten, wie die Geschichte des Wirtschaftsbürgertums im 20. Jahrhundert. Uwe Spiekermann ist Max Weber Foundation Fellow an der Universität Göttingen, wo er ebenfalls als Privatdozent lehrt. Vor seiner Rückkehr nach Deutschland war er stellvertretender Direktor des German Historical Institute Washington, DC, wo er noch die Co-Leitung des Forschungsprojektes “Immigrant Entrepreneurship: German American Business Biographies, 1720 to the Present” wahrnimmt. Seine Forschungsinteressen gelten der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa und den USA, insbesondere der Geschichte des Konsums, des Distributionssektors, der Ernährung sowie der Geschichte von Wissenschaft und Wissen.

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 Die Autorinnen und Autoren

Sebastian Teupe ist seit Mai 2015 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Wirtschaftsund  Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth. Von 2011-2015 war er wissenschaftlicher ­Mitarbeiter im Arbeitsbereich Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld und Doktorand der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS). Im März 2015 promovierte er dort mit der Arbeit: „Die Gesetze des Marktes. Preispolitik, Wettbewerb und der Handel mit Fernsehgeräten in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, 1945–1985“. Thomas Welskopp ist Professor für die Geschichte moderner Gesellschaften an der Universität Bielefeld und Direktor der Bielefeld Graduate School in History and Sociology. 2003/04 Fellow am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences, Stanford, Kalifornien, 2008/09 Forschungsstipendiat am Historischen Kolleg in München. Aktuelle Publikationen: Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn 2010; Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014.